Völkermord im Parlament: Der schlichte Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern als Problem zwischen Verfassung und Politik [1 ed.] 9783428557936, 9783428157938

»On Genocide in Parliament. The Recognition of the Armenian Genocide by the German Bundestag as a Problem of Politics an

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German Pages 228 [229] Year 2020

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Völkermord im Parlament: Der schlichte Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern als Problem zwischen Verfassung und Politik [1 ed.]
 9783428557936, 9783428157938

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Beiträge zum Parlamentsrecht Band 78

Völkermord im Parlament Der schlichte Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern als Problem zwischen Verfassung und Politik

Von

Tatjana Holter

Duncker & Humblot · Berlin

TATJANA HOLTER

Völkermord im Parlament

Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Professor Dr. Horst Risse, Berlin Professor Dr. Utz Schliesky, Kiel Professor Dr. Christian Waldhoff, Berlin

Band 78

Völkermord im Parlament Der schlichte Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern als Problem zwischen Verfassung und Politik

Von

Tatjana Holter

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Deutschen Bundestages, der Konrad-Redeker-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 978-3-428-15793-8 (Print) ISBN 978-3-428-55793-6 (E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit wurde im Sommersemester 2018 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen und berücksichtigt Literatur und Entwicklungen bis zum Sommer 2019. Der Druck wurde vom Deutschen Bundestag, der Konrad-Redeker-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung finanziert, denen ich für ihre Förderungen sehr danke. Ich danke zuvorderst meinem Doktorvater Prof. Dr. Christian Waldhoff für seine unschätzbare Unterstützung bei der Erstellung dieser Arbeit. Seine Begleitung und die Gespräche mit ihm haben mich fachlich, darüber hinaus aber auch persönlich immer wieder bereichert. Prof. Dr. Alexander Blankenagel danke ich für die zügige Zweitbegutachtung. Besonderer Dank gilt Prof. Dr. Gerhard Wagner, LL.M. (Chicago). Er hat es mir ermöglicht, in einem behaglichen und komfortablen Umfeld zu arbeiten und mich mit Zuspruch und Humor über manche Hürde getragen. Dem Lehrstuhl danke ich für viele liebe Freundschaften und eine sehr vergnügliche Promotionszeit. Ich danke Prof. Dr. Christoph Möllers, LL.M. (Chicago), Prof Dr. Wolfgang Zeh und Prof. Dr. Florian Meinel für wertvolle Anregungen und Hinweise. Prof. Dr. Eva Inés Obergfell danke ich dafür, dass sie mich Fähigkeiten gelehrt hat, auf die ich bis heute baue. Dr. Oliver Fleischmann, LL.M. (Chicago), und Dr. Stefan Ohlhoff, LL.M. (London), danke ich für die Ermutigung in der Planungsphase dieses Projektes. Mein herzlicher Dank gilt meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden. Meinen Eltern, Karina und Helmut Holter, danke ich für ihr bedingungsloses Vertrauen in dieses und jedes weitere Projekt meines Lebens. Meiner Schwester Elena HolterSterz danke ich in tiefer Verbundenheit dafür, dass sie stets unverzagt an meiner Seite steht. Meinem Schwager Dr. Jan Sterz danke ich dafür, dass auch er meine Wege mit mir geht und mir dabei häufig den richtigen weist. Ihr Einfluss ist für mich von unschätzbarem Wert. Ich danke Dr. Nina Elisabeth Herbort, Dr. Matthias Roßbach, LL.M. (Yale), und Dr. Patrick Zurth für eine Freundschaft, wie ich sie mir immer gewünscht habe. Von akademischen Vorbildern sind sie zu meinen Vertrauten geworden – der größte Gewinn meines Promotionsstudiums. Ich danke Dr. Giuliana Schreck für jeden einzelnen Schritt, den wir gemeinsam vom ersten Tag unseres Studiums bis heute gegangen sind. Dr. Marcus Bsaisou danke ich dafür, dass er mir ein ausgemacht verlässlicher Kollege war und ein ebenso verlässlicher Freund geblieben ist. Schließlich danke ich Dr. Peter McColgan für seine unermüdliche Unterstützung

6

Vorwort

bei der Erstellung des Manuskripts, sowie seine ungeteilte Aufmerksamkeit und seinen steten Optimismus für dieses und allerlei weitere Wagnisse meines Lebens. Berlin, im Oktober 2019

Tatjana Holter

Inhaltsübersicht 1. Teil Einleitung

15

A. Aghet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Der Völkermord an den Armeniern als deutsches Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Anerkennung als Ende des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 B. Der Völkermord an den Armeniern als Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft 21 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2. Teil Die Causa Aghet A. Völkermordgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Geopolitische und historische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Grundlagen der historischen Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern und seiner Rezeption in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ablauf des Völkermordes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Deutsche Bezüge zum Völkermord an den Armeniern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Entwicklungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – Die Bedeutung des Völkermords an den Armeniern für Recht und Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . VI. Der Aghet und die Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermorden der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Anerkennungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Historische Vorarbeit zur rechtspolitischen Auseinandersetzung mit dem Aghet – Zeitzeugenberichte und ihre Aufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Außerparlamentarische Vorarbeit zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rechtlicher und rechtspolitischer Umgang mit dem Aghet von 1915 bis 2015 in deutschen Parlamenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Anerkennung des Völkermords am armenischen Volk durch Parlamentsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Außenpolitische Erwägungen gegen eine Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Aghet vor dem OVG Berlin/Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Internationaler Umgang mit dem Aghet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 25 25 29 37 48 52 54 60 61 61 66 68 90 96 101 103 104

8

Inhaltsübersicht 3. Teil Parlamentarische Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

108

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform . . . . . . . . . . I. Schlichte Parlamentsbeschlüsse aus juristischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Rezeption schlichter Parlamentsbeschlüsse in der Staatsrechtswissenschaft . . . . IV. Schlichte Parlamentsbeschlüsse – Hoheitsakte sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Parlamentspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109 110 110 117 121 122 127

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages zum Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse . I. Schlichte Parlamentsbeschlüsse in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsgrundlage aus ungeschriebenem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grenzen der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127 128 131 140 150

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einigkeit bezüglich politischer Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Eindeutig rechtsverbindliche Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eindeutig nicht rechtsverbindliche schlichte Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . IV. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

151 151 152 153 154 166

D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Potential des schlichten Parlamentsbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Hierarchieverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Politischer Inhalt – rechtliche Konsequenzen: Wahlfreiheit des Parlaments . . . . IV. Politische Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse im Fokus . . . . . . . . . . . . . .

167 167 169 171 173

4. Teil Parlamentarischer Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

176

A. Historische Argumentationsmuster im Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vergangenheitspolitik im Spannungsfeld der Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Aufarbeitung durch Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Aufarbeitung jenseits des Gerichtssaals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

182 183 186 190 192

C. Causa Aghet und Faktor Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 D. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Einleitung

15

A. Aghet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 I. Der Völkermord an den Armeniern als deutsches Thema . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 II. Anerkennung als Ende des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 B. Der Völkermord an den Armeniern als Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft 21 C. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2. Teil Die Causa Aghet

25

A. Völkermordgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Geopolitische und historische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Christliche Identität des armenischen Volkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Das armenische Volk in der heutigen Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3. Armenisch-türkische Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Grundlagen der historischen Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern und seiner Rezeption in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Stand der historischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2. Völkermord-Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Rechtslage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 4. Keine Subsumtion unter heute geltendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 5. Aufarbeitung in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 III. Ablauf des Völkermordes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Vorgeschichte zum Völkermord an den Armeniern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 a) Ein zerworfenes Volk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 b) Die Armenier im Osmanischen Reich des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . 40 c) Unmittelbarer Vorlauf zum Beginn des Völkermords an den Armeniern im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 aa) Erste Massaker 1894/95 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 bb) Machtergreifung durch die Jungtürken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

10

Inhaltsverzeichnis 2. Der Völkermord an den Armeniern im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Aghet – Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts in Europa . . . . . . . . . . . 48 IV. Deutsche Bezüge zum Völkermord an den Armeniern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Hitlers Funktionalisierung des Aghet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Deutsches Kaiserreich und Osmanisches Reich gegen die Triple Entente . . . 50 3. Deutsche Wirtschaft und der Aghet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 4. Flucht der Hauptverantwortlichen nach Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 V. Entwicklungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – Die Bedeutung des Völkermords an den Armeniern für Recht und Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . 52 1. Vertrag von Sèvres . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Vertrag von Lausanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Kriegstribunale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 VI. Der Aghet und die Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermorden der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Talaats Tod und Prozess gegen Tehlirian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2. Ein neues Völkerstrafrecht für ein altes Verbrechen – Raphael Lemkins Genozidkonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Aghet – Triebfeder für Lemkins Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 b) Dem Verbrechen einen Namen geben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 c) Partus des Straftatbestandes Völkermord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 d) Keine Subsumtion unter die Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

B. Anerkennungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I. Historische Vorarbeit zur rechtspolitischen Auseinandersetzung mit dem Aghet – Zeitzeugenberichte und ihre Aufbereitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 1. Berichterstattung über den Aghet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Johannes Lepsius und der Völkermord an den Armeniern . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Außerparlamentarische Vorarbeit zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 III. Rechtlicher und rechtspolitischer Umgang mit dem Aghet von 1915 bis 2015 in deutschen Parlamenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 1. Erste Anerkennungsbestrebungen 2002 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. 90 Jahre Genozid – Anträge aus dem Jahr 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Antrag der Fraktion CDU/CSU vom 22. Februar 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . 70 b) Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP vom 15. Juni 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 3. 95 Jahre Genozid – Begriffsdebatte und neue Eskalationsstufe . . . . . . . . . . . 73 a) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 10. Februar 2010 . . . . . . . 73 b) Antwort der Bundesregierung vom 25. Februar 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 c) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 19. Mai 2010 (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/824) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

Inhaltsverzeichnis

11

d) Antwort der Bundesregierung vom 4. Juni 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 4. 99 Jahre Genozid – Ein Jahrhundert im Nacken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 9. Dezember 2014 . . . . . . 79 b) Antwort der Bundesregierung vom 13. Januar 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 5. Februar 2015 . . . . . . . . 82 d) Antwort der Bundesregierung vom 23. Februar 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 5. 100 Jahre Genozid – Keine Anerkennung trotz offener Worte . . . . . . . . . . . . 84 a) Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 18. März 2015 . . . . . . . . . . . . . . . . 84 b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD vom 21. April 2015 . . . . . . . . 85 c) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 22. April 2015 86 d) 101. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. April 2015 . . . . . . . . . . . 87 e) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 25. Februar 2016 87 IV. Anerkennung des Völkermords am armenischen Volk durch Parlamentsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Anerkennungsbeschluss vom 2. Juni 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 2. Stellungnahme der Bundesregierung vom 2. September 2016 . . . . . . . . . . . . 91 3. Folgen des Dementi – Kritik aus Deutschland, Lob aus der Türkei . . . . . . . . 94 4. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2016 (Az. 2 BvR 1383/16) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 5. Armenische Reaktion auf die Anerkennung des Aghet als Völkermord . . . . . 96 V. Außenpolitische Erwägungen gegen eine Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Befürchtete Folgen der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 2. Tatsächliche Folgen der Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 VI. Der Aghet vor dem OVG Berlin/Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 VII. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 VIII. Internationaler Umgang mit dem Aghet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 1. Internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern . . . . . . . . . 104 a) Anerkennung in Gesetzesform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Anerkennung durch Parlamentsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 c) Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 d) Vatikan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

3. Teil Parlamentarische Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

108

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform . . . . . . . . . . 109 I. Schlichte Parlamentsbeschlüsse aus juristischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

12

Inhaltsverzeichnis II. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 1. Lösungsmodelle für eine Kategorisierung schlichter Parlamentsbeschlüsse

111

2. Begriffspaare – Ungeeignete Form für die Systematisierung . . . . . . . . . . . . . 113 3. Enges Begriffsverständnis trotz weiter Begriffsbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . 114 4. Kreationsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 III. Rezeption schlichter Parlamentsbeschlüsse in der Staatsrechtswissenschaft . . . . 117 IV. Schlichte Parlamentsbeschlüsse – Hoheitsakte sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 V. Parlamentspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 B. Kompetenz des Deutschen Bundestages zum Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse 127 I. Schlichte Parlamentsbeschlüsse in der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Art. 42 GG als abstrakte Kompetenzzuweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 2. Keine Ermächtigung aus der Verbandskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3. Keine generelle Ermächtigung aus der Geschäftsordnung des Bundestages 130 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 II. Rechtsgrundlage aus ungeschriebenem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 1. Zuständigkeit aus institutioneller Ausformung des Parlaments – Schlichte Parlamentsbeschlüsse im Lichte der Aufgaben des Deutschen Bundestages 133 2. Kompetenz aus Verfassungsgewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 III. Grenzen der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Schlichte Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . 140 2. Schlichte Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Schlichte Parlamentsbeschlüsse im innenpolitischen Bereich . . . . . . . . . . 141 b) Schlichte Parlamentsbeschlüsse im außenpolitischen Bereich . . . . . . . . . . 144 c) Im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes – Schlichte Parlamentsbeschlüsse als Teil der Staatsleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 I. Einigkeit bezüglich politischer Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 II. Eindeutig rechtsverbindliche Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Eindeutig nicht rechtsverbindliche schlichte Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . 153 1. Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Keine Bindungswirkung gegenüber dem Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 IV. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Schlichte Parlamentsbeschlüsse wirken nur politisch-faktisch . . . . . . . . . . . . 155 2. Parlamentsbeschlüsse als rechtsverbindliche Weisungen an die Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 3. Bindungswirkung aus Zielrichtung des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 4. Bindungswirkung aus Vorhandensein eines Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

Inhaltsverzeichnis

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5. Bindungswirkung aus zeitlicher Nähe sowie keine Bindungswirkung im Bereich zustimmungsbedürftiger Gesetze – Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Januar 1961 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 6. Bindungswirkung aus dem Grundsatz der Organtreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 7. Bindungswirkung aus parlamentarischer Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 8. Keine Bindungswirkung ohne konkrete Grundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 a) Anforderung an die verfassungsrechtliche Grundlage – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Einfluss der Europäisierung auf die verfassungsrechtlichen Rechte des Parlaments – Neuer Art. 23 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 I. Potential des schlichten Parlamentsbeschlusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 II. Hierarchieverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 III. Politischer Inhalt – rechtliche Konsequenzen: Wahlfreiheit des Parlaments . . . . 171 IV. Politische Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse im Fokus . . . . . . . . . . . . . . 173

4. Teil Parlamentarischer Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

176

A. Historische Argumentationsmuster im Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 I. Vergangenheitspolitik im Spannungsfeld der Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 II. Aufarbeitung durch Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 III. Aufarbeitung jenseits des Gerichtssaals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 C. Causa Aghet und Faktor Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 D. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

1. Teil

Einleitung Trotz ihrer großen Bedeutung für die parlamentarische Praxis rücken schlichte Parlamentsbeschlüsse in der Regel nicht in den Fokus der Weltöffentlichkeit, nicht einmal in den Fokus der nationalen Öffentlichkeit und regelmäßig auch nicht in den Fokus der Rechtswissenschaft. Dies änderte sich am 2. Juni 2016. Am 2. Juni 2016 fasste der Deutsche Bundestag einen Beschluss mit ungeahnten Folgen. Freude, Dankbarkeit und Lob begleiteten diesen Beschluss ebenso wie Kritik, Ablehnung und Drohungen. An diesem Tag entschied der Deutsche Bundestag auf parlamentarischer Ebene einen über 100 Jahre anhaltenden Streit. Am 2. Juni 2016 erkannte der Deutsche Bundestag den Völkermord an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches offiziell an. Für sein Vorhaben wählte der Deutsche Bundestag unter den verschiedenen parlamentarischen Handlungsformen den schlichten Parlamentsbeschluss aus. Zunächst scheint daran nichts besonders; Beschlüsse sind das täglich Brot des Abgeordneten. Anträge zur Beschlussfassung sind neben Gesetzesinitiativen das parlamentarische Gestaltungselement mit dem größten Spielraum. Ein Antrag ist die formelle Aufforderung an das Parlament, eine bestimmt bezeichnete Entscheidung zu treffen.1 Die Entscheidung, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, vollzog sich anhand von insgesamt sechs Anträgen, von denen schließlich am 2. Juni 2016 der Antrag BT-Drs. 18/8613 vom 31. Mai 2016 zur Beschlussfassung gelangte.2

A. Aghet Aghet. Katastrophe. So bezeichnet die armenische Sprache die Ereignisse, die Gegenstand des Parlamentsbeschlusses vom 2. Juni 2016 sind. Eine Katastrophe 1

Kabel, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, S. 883. Unzutreffend insoweit die Annahme Staudts, Strategien des Gehörtwerdens, S. 28, der Deutsche Bundestag habe sich im Gegensatz zum französischen Parlament lediglich ein einziges Mal mit dem Aghet beschäftigt. Zusätzlich zu den hier genannten sechs Anträgen wurden vier Kleine Anfragen zum Thema gestellt, auf die die Bundesregierung antwortete, siehe im Einzelnen unten 2. Teil B. III. Darüber hinaus gab es zahlreiche nur mittelbar mit der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern zusammenhängende Kleine Anfragen und Anträge, die aufgrund ihrer vorrangig auf andere Umstände bezogenen Inhalte an dieser Stelle und in dieser Arbeit keine Rolle spielen. 2

16

1. Teil: Einleitung

(altgriechisch jatastqov^ – Umwendung) bezeichnet ein folgenschweres Unglück, das Eintreten eines Verhängnisses.3 Zum Verhängnis wurde der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich insbesondere ihre Religion. Als älteste christliche Nation der Welt sind die Armenier tief mit dem christlichen Glauben verwurzelt. Doch nicht nur das armenische Volk wurde Opfer der Aghet; betroffen waren auch andere christliche Minderheiten wie Assyrer, Aramäer und Griechen. Richtigerweise kann deshalb nur die Formulierung „Völkermord an den Armeniern, Assyrern, Aramäern und anderen christlichen Minderheiten“ als vollständig bezeichnet werden. Besonders stark werden die Ereignisse jedoch mit dem armenischen Volk assoziiert. Aufgrund der Ansiedlung der Armenier in den großen Städten berichteten die dort stationierten Diplomaten oft explizit von der Vernichtung der Armenier; zudem hatten die Armenier in sehr kurzer Zeit extreme Opferzahlen zu beklagen.4 Wenngleich das armenische Volk zeitlebens unter Fremdeinfluss stand und häufig in fremde Kriege und Eroberungen involviert war, ist der Aghet das das Volk am stärksten prägende Ereignis. Er ist jedoch nicht nur Teil der armenischen, sondern auch der türkischen Identität. Der Blick auf Armenien bestimmt die Betrachtung des Aghet und seiner Anerkennung deshalb regelmäßig wenig. So war die Debatte um den sogenannten Armenier-Beschluss5 vom inhaltlichen Konflikt zwischen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer NATO-Bündnispartnerin der Türkei dominiert. Die politischen Spannungen entluden sich auch deshalb in diversen Folgekonflikten zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, tangierten die Republik Armenien aber bis auf die symbolische Komponente der Anerkennung allenfalls mittelbar. Im direkten Zusammenhang mit der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern standen mehrere (welt-)politische Vorfälle, die das tatsächliche politische Gewicht des Völkermords an den Armeniern unterstreichen. Seine Nachwirkungen auf diese insbesondere für Deutschland und die Türkei bedeutenden Folgen zu begrenzen, griffe jedoch zu kurz. Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist ein politisches Projekt, dessen Ausmaß bei reiner Betrachtung des Anerkennungsbeschlusses vom 2. Juni 2016 verborgen bleibt. In insgesamt nahezu dreißig Jahren Arbeit wurde die Thematik auf die parlamentarische Agenda gehoben, im Parlament diskutiert, in Rechtsform und in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit gebracht.6 Schon der Völkermord an den Armeniern selbst hat Bezug zu vielen 3

Vgl. Herkunftswörterbuch, S. 221, mit Verweis auf die Wortbestandteile jat\ – „gänzlich, völlig“ und stq]veim – „drehen, wenden, kehren“; ebenso Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 635. 4 So Hofmann im Interview mit dem Deutschlandfunk, Der unbekannte Völkermord, abrufbar unter http://www.deutschlandfunk.de/voelkermord-an-den-aramaeisch-sprachigen-chris ten-der.886.de.html?dram:article_id=324152, letzter Abruf 19. Februar 2018, 17.05 Uhr. 5 Der Beschluss erging aufgrund eines Antrags mit dem Titel „Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915/ 16“, BT-Drs. 18/8613. Er wird in dieser Arbeit, wie es allgemein üblich ist, kurz als „ArmenierBeschluss“ bezeichnet. 6 Zu den Einzelheiten dieses Prozesses siehe unten 2. Teil B.

A. Aghet

17

juristischen Entwicklungen, seine Anerkennung tangiert darüber hinaus viele – teils unerwartete – Disziplinen. Soziale, gesellschaftspolitische, ethische und moraltheologische Probleme auf der einen Seite stellen den Deutschen Bundestag vor ebenso große Aufgaben wie die außenpolitische, diplomatische Dimension des Problems die Bundesregierung. Die Geschichte der rechtspolitischen Debatte um die Anerkennung lässt dabei darauf schließen, dass es nicht um die Frage nach richtig oder falsch, Tatsache oder Meinung ging. Die historische Bewertung wurde im Parlament nie in Frage gestellt. Im Gegenteil hielten sich die Dokumente erstaunlich nah an den Tatbestandsvoraussetzungen der heute für die rechtliche Bewertung von Völkermorden zentralen Norm, Art. II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes (UN-Völkermordkonvention). Dennoch blieb es lange bei der Formulierung „Vertreibungen und Massaker“. Der Weg zur Anerkennung am 2. Juni 2016 illustriert, wie politisch geprägt im Kern juristische Handlungen des Parlaments sein können. Darüber hinaus steht die Anerkennungsgeschichte auch exemplarisch für die Auseinandersetzung des Deutschen Bundestages nicht nur mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Vorgängerstaaten selbst, sondern auch mit der Geschichte eines anderen Staates und ehemaligem Kriegsverbündeten. Die befürchtete Reaktion der Türkei, hielt die Anerkennung in öffentlich (-rechtlicher) Form zurück. In Anbetracht der realpolitischen Folgen des Bundestagsbeschlusses mag man in Frage stellen, ob eine moralbezogen richtige Entscheidung, die außenpolitische Umsicht erforderte, auch faktisch betrachtet einwandfrei ist. Eine solche Differenzierung ex ante führte jedoch zu einem Erwartungsdenken, dem ex post kein parlamentarisches Handeln, dessen Konfliktpotential sich später realisiert, ohne Vornahme einer Folgenabschätzung zu entsprechen vermag.7 Empirische Folgenbefunde als Bewertungsmaßstab parlamentarischen Handelns ließen die normative Kraft parlamentarischer Entscheidungen unverhältnismäßig weit in den Hintergrund treten. Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hat jedoch Folgen ausgelöst, die nicht in Gänze außer Verhältnis zu den erwarteten Folgen standen. Doch weshalb die Mühe für ein Bekenntnis zu einem nunmehr über 100 Jahre zurückliegenden Ereignis in einem fremden Staat?

I. Der Völkermord an den Armeniern als deutsches Thema Die deutsche Geschichte ist enger mit dem Völkermord an den Armeniern verknüpft, als es auf den ersten Blick scheint. Zwar spielte sich der Völkermord nicht auf deutschem Boden ab, doch das Deutsche Kaiserreich war Kriegsverbündeter des Osmanischen Reiches. Nicht nur ist zweifelsfrei nachgewiesen, dass die deutsche Regierung umfassend über die Ereignisse informiert war. Im Osmanischen Reich 7 Zur Konsequenz für zukünftige politisch brisante Parlamentsbeschlüsse siehe unten 4. Teil C.

18

1. Teil: Einleitung

stationierte Soldaten sollen auch aktiv an den Vertreibungen und Tötungen mitgewirkt haben.8 Dieser Mitverantwortung zeigen sich Bundestag sowie Bundesregierung verschieden bewusst. Die Bundesregierung räumt zumindest ein, dass es bedauerlich ist, dass von deutscher Seite nichts zur Verhinderung beigetragen wurde, sieht sich jedoch in der Gegenwart nicht als zuständig an. Daneben beruht die Deflektion der Verantwortung seitens der Bundesregierung aber vornehmlich darauf, dass sie das Problem nicht als Rechtsproblem begreift.9 Stattdessen wird auf die historiographische Forschung verwiesen. Dies impliziert jedoch, die Ereignisse 1915 seien geschichtswissenschaftlich nicht hinreichend aufgearbeitet oder abschließend bewertet worden. Dies ist freilich unzutreffend; an dieser Stelle kann nur auf die Aufklärungsarbeit namhafter Historiker, Theologen und Juristen wie Johannes Lepsius, Karl Liebknecht, Eduard Bernstein, Georg Ledebour und Georg Gradnauer verwiesen werden. Irving Louis Horowitz bezeichnete den Genozid an den Armeniern 1980 als Prototypen des Genozids im 20. Jahrhundert.10 Die historische Bewertung des Aghet ist weitgehend abgeschlossen und insoweit keine ungeklärte historische Frage. Die rechtliche und rechtspolitische Bewertung hingegen erscheint bis heute defizitär und ist entsprechend umstritten. Insbesondere fehlt es an einer objektiven, wissenschaftlichen Forschung, die außerhalb der Verfolgung politischer Ziele vorgenommen wird.11

II. Anerkennung als Ende des Verbrechens Ein Tätigwerden des Bundestages ist in der Regel zukunftsorientiert.12 Hierin ist ein Grund zu sehen, weshalb die intensive Beschäftigung des Bundestages mit einem Thema wie dem Völkermord an den Armeniern nicht intuitiv als in das Parlament gehörig verstanden wird.13 Die Funktionen und Einsatzmöglichkeiten schlichter Parlamentsbeschlüsse im Allgemeinen verdeutlichen jedoch, dass die Befassung des Bundestags mit vermeintlich in die Vergangenheit gewandten Fragestellungen durchaus legitim sein kann.14 Die Vergangenheitsgewandtheit ist insofern nur eine vermeintliche, da auch die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern eine zukunftsorientierte Entschließung ist. Lediglich die Ursache für die Notwendigkeit 8

Siehe dazu ausführlich unten 2. Teil A. IV. BT-Drs. 16/10074, S. 6. 10 Horowitz, Taking Lives. Genocide and State Power, New Brunswick/London 1980. 11 So auch Barth, Genozid, S. 63. 12 Ähnlicher Fokus bei Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 117 f. Vgl. auch Husserl, Recht und Zeit, S. 42 ff.; Kirchhof, Verwalten und Zeit, in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, passim; Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, FS Isensee, 325, 333. Siehe dazu auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 90 ff. 13 Siehe zur Kritik unten 2. Teil B. V. und 3. Teil A. 14 Siehe zum schlichten Parlamentsbeschluss allgemein unten 3. Teil. 9

A. Aghet

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eines Tätigwerdens eines Staatsorgans ist auf Ereignisse in der Vergangenheit zurückzuführen. Insofern zielt Geschichtspolitik gerade nicht auf das vergangene Ereignis selbst, sondern darauf, gegenwärtige Erzählungen und Interpretationen dieses Ereignisses durch bestimmte Vergangenheitsnarrative zu beeinflussen.15 Geschichte ist nicht lediglich die Summe von Geschehnissen, sondern setzt auch ein Wissen um diese Geschehnisse voraus; was nicht in das gesellschaftliche Wissen übergeht, ist, als wäre es nicht geschehen.16 Die Cause Aghet illustriert, wie die Sorge um ein Vergessen aufgrund von Leugnung dem Ziel des Vergessens durch Leugnung gegenüberstehen kann. Die Leugnung eines Völkermordes gilt als letzte Stufe dieses Verbrechens.17 Die Nicht-Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist jedoch unabhängig von einer strafrechtlichen Relevanz des Leugnens problematisch. Ob man eine Rechtspflicht des Einzelnen zur Redlichkeit oder Wahrhaftigkeit in diesem Zusammenhang annimmt oder ablehnt18 – die Anerkennung auf staatlicher Ebene hat eine starke symbolische Wirkung, die regelmäßig in Meinungsbildung und auch Steuerung mündet. Von einem einzelnen Genozidleugner ist zum Diskurs über Völkermord nichts zu erwarten.19 Dem Trend des kollektiven Vergessens aber entgegenzuwirken und somit dafür Sorge zu tragen, dass es bei einzelnen Leugnungen bleibt, ist im Wege der Prägung der öffentlichen Meinung auch oder gerade außerhalb von Strafgerichten willkommen.20 Geschichtsbewusstsein als erstrebenswertes Gut bewegt sich aber auch am kritischen Rand der Instrumentalisierung. Ziel der Auseinandersetzung ist dann nicht mehr die Rezeption der Vergangenheit, sondern eine bestimmte kollektive

15 Schmid, Konstruktion, Bedeutung, Macht, Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik, in: Heinrich/Kohlstruck (Hrsg.), Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, S. 75, 76. 16 Droysen, Grundriss der Historik, § 1. Ähnlich auch C. Grimm, Bilder als „Spiegel ihrer Zeit“, Wahrnehmung unterliegt historischem Wandel, in Geschichte als Argument, Berichtsband 41. Deutscher Historikertag 1996, S. 58. 17 Die Unterteilung von Völkermorden in acht Stufen geht zurück auf ein Briefing Paper von George Stanton, welches er dem US State Department 1996 vorlegte und das das erste Working Paper des Yale Program in Genocide Studies wurde, Stanton, The 8 Stages of Genocide, abrufbar unter http://www.genocidewatch.org/aboutgenocide/8stagesofgenocide.html, letzter Abruf 21. Februar 2018, 11.00 Uhr. Vgl. außerdem Vest, Gerechtigkeit für Humanitätsverbrechen? Nationale Strafverfolgung von staatlichen Systemverbrechen mit Hilfe der Radbruchschen Formel, S. 145, der in der Leugnung zudem auch die Gefahr weiterer Angriffe auf die Rechtsgüter der Opfer des Völkermords sieht. 18 Vgl. die Rspr. des VI. Zivilsenats des BGH, Urteil vom 18. September 1979, VI ZR 140/ 78, NJW 1980, 45, der das Bestreiten des Völkermords als Solches, unabhängig vom konkreten Inhalt und der konkreten Form der Leugnung für ehrverletzend hält; so auch OLG Celle, Beschluss vom 17. Februar 1982, 1 Ss 616/81, NJW 1982, 1545 f.; a.A. Köhler, NJW 1985, 2389, der lediglich eine moralische Wahrheitspflicht annimmt. 19 Salomon, ZRP 2012, 48, 49. 20 Ausdrücklich für eine „Zuständigkeit des Gerichts der öffentlichen Meinung“ Salomon, ZRP 2012, 48, 50.

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1. Teil: Einleitung

Identität.21 Politische Ziele haben den Weg zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern lange begleitet. Die armenische Diaspora sieht sich teilweise dem Vorwurf ausgesetzt, den Völkermord an den Armeniern gezielt dazu einzusetzen, sich selbst politische und wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen und im gleichen Zuge anderen Staaten Nachteile verschaffen zu wollen.22 Eine politische Einflussnahme armenischer Interessenverbände ist dabei nicht von der Hand zu weisen.23 Die armenische Interessenvertretung in Deutschland hat den für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern notwendigen Politikwandel maßgeblich beeinflusst.24 Ihre Ziele sind jedoch differenzierter zu betrachten. Aus Erinnerung erwächst Verantwortung. Das Leugnen des Völkermords an den Armeniern hat folgende Völkermorde beeinflusst.25 Auch in der Gegenwart hat die Leugnung des Völkermords an den Armeniern immer noch politische Konsequenzen, die eine Vielzahl von Menschen vor reale wirtschaftliche, aber auch psychologische Hindernisse stellt.26 Sprachliche wie begriffliche Klarheit, sachliche Informiertheit, Vorurteilslosigkeit und Rollentauschbereitschaft sind die Bedingungen für die rationale Entscheidbarkeit einer Frage.27 Die Realisierbarkeit dieser Idealgegebenheiten ist generell schwierig. Vergangenheitsbewältigung kann jedoch einen Beitrag dazu leisten, dass das kollektive Gedächtnis sich diesem Idealbild nähert.28 Dabei fällt auf, dass unter zahlreichen verschiedenen Akteuren eine ungewöhnlich geschlossene Ansicht von der Einordnung der Ereignisse zu verbuchen ist. Es herrscht Konsens über die Zahlen und Fakten29, Aufspaltungen in Untergruppen sind kaum zu verzeichnen. Die Form der Gruppierungen variiert dabei natürlich von Vereinen über Verbände und nicht rechtlich organisierten Interessengruppen sowie auch Einzelpersonen.30 Der inhaltliche Konsens erleichtert aber die Arbeit dieser Gruppen insgesamt. Aktionsvermögen wächst durch gute Handlungs- und Kommunikationsstrukturen; öffentliche Kampagnen mobilisieren die Öffentlichkeit und 21 Steinbach, Politik und Geschichte – mehr als nur ein wissenschaftliches Verhältnis, APuZ B 28/2001, 3, 7. Vgl. auch Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 345 ff. 22 Etwa Cannon, Legislating Reality and Politicizing History, Ch. 4, p. 3. 23 Ausführliche Analyse der Arbeit dieser Interessenverbände bei Fleck, Machtfaktor Diaspora?, passim; ebenfalls bei Staudt, Strategien des Gehörtwerdens, S. 37 ff., allerdings insgesamt mit starkem Fokus auf die Rolle armenischer Interessenvertreter auf die französische Politik der frühen 2000er Jahre. 24 Siehe dazu auch unten 2. Teil B. II. 25 Ausführlich dazu unten 2. Teil A. IV. 1. 26 Zur wirtschaftlichen Situation Armeniens siehe unten 2. Teil A. I. 3. 27 R. Dreier, ZG 1993, 300, 303; vgl. auch ders., Recht und Moral, in: ders. (Hrsg.), Recht – Moral – Ideologie, S. 180, 204 ff. 28 Zur Abgrenzung des kollektiven Gedächtnisses vom individuellen Gedächtnis im kulturwissenschaftlichen Forschungszusammenhang siehe Staudt, Strategien des Gehörtwerdens, S. 37 ff. m.w.N. 29 Siehe zu den historischen Fakten unten 2. Teil A. III. und zu den Zahlen auch 2. Teil A. II. 30 Ausführlich Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 34 ff.

B. Der Völkermord an den Armeniern

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haben insbesondere bei großer medialer Aufmerksamkeit das Potential, schließlich von Politikern und Politikerinnen wahrgenommen zu werden und auf die politische Agenda der primär handlungsfähigen und handlungslegitimierten Akteure zu gelangen.31 Bestenfalls wird diese Mobilisierung der Öffentlichkeit zur Information und Erreichung der Adressaten, im Falle der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern also der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, von den gleichgesinnten Interessengruppen kollektiv und koordiniert angestoßen.32 Nicht zu verwechseln ist dieses Vorgehen mit Lobbying; Interessenvertretung bezeichnet eine unspezifische Repräsentation von Interessen im politischen Raum,33 Lobbying dagegen bezeichnet eine spezifische Form der Politikberatung, die meist informell und punktuell durch Informationsaustausch mit einzelnen Parlamentariern oder Ministerialbeamten auf die Umsetzung konkreter Interessen zielt.34 Der Deutsche Bundestag spielt in der Praxis der Interessenvertreter zwar eine im Vergleich zur Ministerialbürokratie deutlich geringere Rolle.35 Art. 38 GG schützt Abgeordnete auch vor (druckvoller) Einflussnahme durch Interessenvertreter.36 Praktisch ist die völlige Lösung von Parlament und Interessenvertretern jedoch nicht umsetzbar.37 Ihr Einfluss ist auch in der Causa Aghet nicht von der Hand zu weisen.

B. Der Völkermord an den Armeniern als Forschungsgegenstand der Rechtswissenschaft Die Rezeption des Aghet in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ist in Deutschland insbesondere im Unterschied zu den USA nur rudimentär ausgeprägt. Der Völkermord an den Armeniern ist zwar von der Geschichtswissenschaft umfangreich aufgearbeitet worden, in Deutschland jedoch noch immer ein Nischenthema. Darüber hinaus wird die rechtshistorische Dimension des Völkermords an den Armeniern bis heute in den meisten Fällen ausgeklammert. Dies verkennt seine prägende Bedeutung für die Rechtsentwicklung. Der Begriff des Völkermords oder 31

Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 36 f. Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 37. 33 Leif/Speth, Die fünfte Gewalt – Anatomie des Lobbyismus in Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Die fünfte Gewalt, Lobbyismus in Deutschland, S. 13 f. Bezüglich der armenischen Interessenvertretung ausdrücklich von Lobby sprechend, aber den Begriff als weniger negativ konnotiert darstellend Staudt, Strategien des Gehörtwerdens, S. 4. 34 Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 38; Leif/Speth, Die fünfte Gewalt – Anatomie des Lobbyismus in Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Die fünfte Gewalt, Lobbyismus in Deutschland, S. 13, 14. 35 Jüngst Schörner, Public Affairs, Government Relations and Lobbying, S. 126 mit zahlreichen wN. 36 Epping/Hillgruber/Butzer, GG, Art. 38 Rn. 98 f. 37 Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 47. So i.E. auch Epping/Hillgruber/Butzer, GG, Art. 38 Rn. 98 f. 32

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1. Teil: Einleitung

Genozids als Rechtsbegriff geht unmittelbar auf den Völkermord an den Armeniern zurück.38 Durch die Schaffung der UN-Völkermordkonvention nach dem Zweiten Weltkrieg und die deutsche Nähe zum Holocaust, ist in Deutschland jedoch ein deutlich größeres Geschichtsbewusstsein in diese Richtung als in Richtung Aghet auszumachen.39 Die juristische Aufarbeitung mag zwar noch nicht abgeschlossen sein, verfehlt ist es jedoch, ein Scheitern derselben anzunehmen.40 Ziel einer juristischen Betrachtung aber soll es nicht sein, die Ereignisse im Ersten Weltkrieg unter heute geltendes Recht zu subsumieren. In der Vergangenheit hatte die Bundesrepublik Deutschland zwar häufig mit der Frage zu tun, wie staatliches Unrecht, das im Zeitpunkt seines Geschehens durch das in diesem Zeitpunkt geltende Recht legitimiert schien, zu behandeln ist.41 Die juristische Betrachtung des Völkermords an den Armeniern konzentriert sich aber weniger auf die rechtliche Einordnung der Ereignisse als solche, sondern stellt die Rechtswissenschaft vor ganz aktuelle Fragen, die sich unmittelbar aus der Anerkennung des Aghet als Völkermord selbst ergeben. Zunächst ist das gewählte Mittel zur Anerkennung, der schlichte Parlamentsbeschluss, eine in der Rechtswissenschaft ohnehin schon wenig behandelte Handlungsform des Parlaments. Dies ist aus mehreren Gründen erstaunlich. Schlichte Parlamentsbeschlüsse werfen eine Fülle dogmatischer Fragen auf. Ihre allgemeine Zulässigkeit wird regelmäßig nicht in Frage gestellt.42 Woraus sich eine solche Zulässigkeit allerdings rechtsdogmatisch ergibt, ist bis heute nicht einhellig untersucht worden, wenngleich sich vereinzelte Lösungsansätze ausmachen lassen.43 Gleichermaßen unterschiedlich werden die Grenzen der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse betrachtet.44 Diese Fragen hat die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ebenso berührt wie die Frage nach ihrer Verbindlichkeit. Wenn sich das Parlament schlichter Parlamentsbeschlüsse als Handlungsform bedient, gehen diese häufig mit einer Aufforderung an die Bundesregierung, dem Inhalt des Beschlusses gerecht zu werden, einher. Im Falle der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist die Bundesregierung dieser Aufforderung nicht nach-

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Im Einzelnen unten 2. Teil A. VI. 2. Vgl. Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, S. 813, zur Entstehungsgeschichte des Völkermordverbots unter Hinweis auf Lemkin und den Holocaust, jedoch ohne Hinweis auf den Aghet; die 3. Aufl. des MüKoStGB nimmt im Gegensatz zur Vorauflage seit 2018 mittelbar Bezug auf den Aghet und erwähnt Lepsius, ohne jedoch auch die Verbindung zwischen dem Aghet und der Arbeit Lemkins, auf die explizit verwiesen wird, herzustellen, vgl. MüKoStGB/ Kreß, VStGB, 2. Aufl. 2013, § 6 Rn. 22 und ebenda, 3. Aufl. 2018, § 6 Rn. 22 mit Fn. 70. 40 So aber Paul, Kritische Analyse und Reformvorschlag zu Art. II Genozidkonvention, S. 20. 41 Siehe dazu ausführlich unten 4. Teil B. II. 42 Siehe unten 3. Teil B. 43 Siehe unten 3. Teil B. 44 Siehe unten 3. Teil B. III. 39

C. Gang der Untersuchung

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gekommen. Im Gegenteil hat sie die Unverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse öffentlich betont. Solche und zahlreiche weitere Vorkommnisse, die die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nach sich zog, muten in erster Linie nicht als Rechtsprobleme an. Darin offenbart sich die größte Besonderheit des schlichten Parlamentsbeschlusses. Losgelöst von seiner Entstehung und seinen Folgen erscheint der schlichte Parlamentsbeschluss als für den rechtswissenschaftlichen Diskurs wenig ergiebige Materie. Losgelöst von seiner rechtlichen Dimension wiederum erscheint der schlichte Parlamentsbeschluss als politisch möglicherweise unbequemes, aber nicht weiter bedeutungsvolles Phänomen politischer Arbeit. Dies ist eine mögliche Erklärung für die stiefmütterliche Behandlung schlichter Parlamentsbeschlüsse in der Rechtswissenschaft.

C. Gang der Untersuchung Betrachtungsgegenstand ist nach alledem die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern als staatsrechtliches Phänomen der heutigen Zeit. Ein Hauptaugenmerk der Betrachtung ist das im Armenier-Beschluss gewählte Instrument des schlichten Parlamentsbeschlusses. Der Aghet dient somit als Anlass zu einer staatsrechtlichen Untersuchung. Der Armenier-Beschluss eröffnet darüber hinaus auch den Blick auf Problemfelder vergangenheitsbezogener Politik. Dabei sind sowohl die Aghet-Geschichte selbst, als auch die Anerkennungsgeschichte eng mit der zwischenkrieglichen beziehungsweise jüngeren Rechtsgeschichte verknüpft. Daher beginnt die Arbeit mit der Darstellung der Beschlussmaterie des Armenier-Beschlusses, insbesondere der historischen Einordnung des Aghet. Aus dieser ergeben sich zum einen die deutschen Bezüge zum historischen Geschehen, die den modernen Diskurs zur Anerkennung mitprägen. Zudem treten auch spezifisch rechtsgeschichtliche Aspekte zutage. Namentlich ist der Aghet Schlüsselereignis in der Konzeption des modernen Völkerstrafrechts. Auch dies determiniert die heutige Debatte um Anerkennung und Verantwortung. Insofern wird das geschichtliche Grundverständnis vermittelt, das Rückschlüsse auf die intensive Auseinandersetzung mit der Thematik in Deutschland zulässt. Ohne die geschichtlichen Hintergründe ist die politische Dimension des Beschlusses nicht verständlich, ohne die politische Dimension aber die staatsrechtliche Brisanz nicht erkennbar. Vor diesem Hintergrund wird sodann der Umgang des Deutschen Bundestags mit dem Aghet betrachtet. Der Anerkennungsbeschluss des Deutschen Bundestages vom 2. Juni 2016 ist das Ergebnis eines über zehnjährigen politischen Prozesses. Die Aufbereitung der einzelnen Schritte zum Armenier-Beschluss erläutert an einem konkreten Fall die politische Stellung des schlichten Parlamentsbeschlusses im parlamentarischen System. Auch seine rechtliche Stellung ist bis heute nur wenig

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1. Teil: Einleitung

erforscht. Die Untersuchung der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist daher insbesondere Anlass zu einer allgemeinen Untersuchung schlichter Parlamentsbeschlüsse. Diese werfen zunächst begriffliche Fragestellungen auf. Nach einer Abgrenzung schlichter Parlamentsbeschlüsse von anderen parlamentarischen Handlungsformen werden ihre verfassungsrechtlichen Grundlagen untersucht. Von besonderem Gewicht ist dabei die Untersuchung der Rechtsfolgen schlichter Parlamentsbeschlüsse, insbesondere ihrer Verbindlichkeit für andere Verfassungsorgane. Außerdem werden schlichte Parlamentsbeschlüsse mit der Parlamentspraxis abgeglichen, indem aus den Statistiken des Deutschen Bundestages alle schlichten Parlamentsbeschlüsse des 18. Deutschen Bundestages herausgefiltert werden. Anhand dieser Zahlen wird sodann die Quantität des schlichten Parlamentsbeschlusses mit anderen parlamentarischen Handlungsformen verglichen, um Rückschlüsse auf die praktische Relevanz des schlichten Parlamentsbeschlusses für die Parlamentspraxis des Deutschen Bundestages zu ziehen. Der Armenier-Beschluss des Bundestages ist nach dieser Betrachtung historisch geprägt. Der letzte Teil der Arbeit entwickelt Bezüge dieser Erkenntnisse zur bisherigen vergangenheitsbezogenen Politik des Deutschen Bundestages. Dabei wird zwar auch die vergangenheitsbezogene Politik beleuchtet und analysiert. Kernanliegen ist es aber, vor dem vergangenheitspolitischen Hintergrund eine Einordnung des Armenier-Beschlusses als Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte zu unternehmen. Dabei wird erkennbar, dass die parlamentarische Auseinandersetzung mit Geschichte sich maßgeblich von der gerichtlichen Aufarbeitung historischen Unrechts unterscheidet. In diesem Rahmen werden die Besonderheiten der parlamentarischen Bekräftigung einer historischen Realität als Form staatlicher Vergangenheitsbewältigung untersucht.

2. Teil

Die Causa Aghet A. Völkermordgeschichte Der Völkermord an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs während des Ersten Weltkriegs 1915/16 ist ein Ereignis, das die historiographische wie auch die moderne Rezeption des armenischen Volkes stark prägt. Obwohl seit dem Aghet über 100 Jahre vergangen sind, ist der Völkermord an den Armeniern auch aktuell Thema in den Medien, in Parlamenten, Regierungen und nun auch in der Rechtswissenschaft. Der Aghet ist dabei nicht nur Teil der armenischen, sondern auch der türkischen Identität. So entluden sich die enormen politischen Spannungen im Zusammenhang mit der Anerkennung des Aghet als Völkermord auch in diversen Konflikten der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei. Für die Auseinandersetzung mit den zahlreichen juristischen Fragestellungen, die die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern aufwirft, ist es zunächst notwendig, das Ereignis selbst und seine Hintergründe zu beleuchten. Der Völkermord an den Armeniern geht maßgeblich auf die Geschichte des armenischen Volkes zurück. Ebenso ist zudem die jüngere Geschichte des armenischen Volkes sehr eng mit dem Völkermord verknüpft, der bis heute insbesondere schwere wirtschaftliche Auswirkungen auf die Republik Armenien hat.

I. Geopolitische und historische Grundlagen 1. Christliche Identität des armenischen Volkes Die Geschichte des armenischen Volkes ist die Geschichte eines Volkes, das Opfer seiner hybriden Stellung zwischen Orient und Okzident wurde. Sie ist die Geschichte eines Volkes, das durch zahllose Übergriffe minimiert und zerschlagen wurde. Sie ist aber auch die Geschichte eines Volkes, dessen jahrtausendealte Kultur die Widrigkeiten überlebt hat und bis heute einen substanziellen Teil der Identität eines kleinen Staates und einer großen Diaspora ausmacht. Wiewohl die armenische Geschichte untrennbar mit dem Aghet verbunden ist, besteht sie doch aus mehr. Schon 3.000 v. Chr. erhob sich eine armenische Hoch-

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2. Teil: Die Causa Aghet

kultur.1 Besondere Bekanntheit hat das Volk jedoch erst deutlich später in einem kirchlichen Kontext erlangt. Im Jahr 301 haben die Armenier das Christentum als erstes Staatsvolk der Welt zur Staatsreligion erhoben.2 Die armenisch-apostolische Kirche ist die älteste Kirche sui juris.3 Der heilige Stuhl der armenisch-apostolischen Kirche befindet sich in Etschmiadsin, wobei es jedoch weitere Amtsbereiche in Antilias, Jerusalem und Konstantinopel gibt, denen die jeweils in den umliegenden Gebieten Gläubigen unterstehen. Der christliche Glaube ist tief im armenischen Volk verwurzelt und stark identitätsstiftend für die Angehörigen der armenischen Diaspora. Der christliche Glaube der Armenier, die sich immer in überwiegend muslimisch geprägten Siedlungsgebieten aufhielten, war unter anderen Grund für den Aghet. 2. Das armenische Volk in der heutigen Zeit Der Aghet hat bis heute Einfluss auf das armenische Volk, denn seine geographische Entwicklung sowie Selbstwahrnehmung sind maßgeblich von den Ereignissen im Ersten Weltkrieg geprägt. Das armenische Volk lebt heute zum Teil in der Republik Armenien, ist jedoch durch wiederholte Angriffe zu einem Diasporavolk erwachsen.4 Armenien stand schon immer unter dem Einfluss sowohl Russlands als auch der heutigen Türkei. Das ehemalige armenische Siedlungsgebiet erstreckte sich auf Teile des heutigen Georgiens, der Türkei und Russlands. Die heutige Republik Armenien besteht lediglich noch aus dem ursprünglichen Ost-Armenien. Aufgrund der Annexion dieses Teils durch Russland im Jahr 1828 ist die Republik Armenien traditionell Russland nah. Die heutige Republik Armenien liegt umschlossen von Georgien im Norden, Aserbaidschan im Osten, Iran im Süden und der Türkei im 1 Brentjes, Drei Jahrtausende Armenien, S. 26; Payaslian, The History of Armenia, S. 3 ff. Zur Ur- und Frühgeschichte Armeniens siehe auch Abeghian, Geschichte Armeniens, S. 16, 18 ff.; Chamich, History of Armenia, S. 4 ff.; Hovannisian, The Armenian People from Ancient to Modern Times; Lehmann-Haupt/van Berchem, Materialien zur älteren Geschichte Armeniens und Mesopotamiens, passim. 2 Ausführlich zur Missionslegende und der Gründung der armenischen Staatskirche Hage, Das orientalische Christentum, S. 229 ff. Siehe auch Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 20. Brentjes verweist auf neuere Forschungen, nach denen erst das Jahr 314 das Jahr für die Annahme des Christentums sei, jedenfalls aber Armenien der älteste christliche Staat der Welt ist, da erst 313 die maßgebliche Vereinbarung – Mailänder Abkommen über die Duldung des Christentums – in Kraft getreten sei, Drei Jahrtausende Armenien, S. 70. 3 Tamcke, Das orthodoxe Christentum, S. 29. 4 Der Begriff der Diaspora stammt vom griechischen Wort diaspoq\ (diaspora) – Zerstreuung bzw. diaspe_qeim (diaspeirein) – verteilen, verbreiten ab, Herkunftswörterbuch, S. 100, unter Verweis auf die Wortbestandteile di\ – „auseinander“ und spe_qeim – „ausstreuen, zerstreuen“; ebenso Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 223. Er hat seine wissenschaftliche Prägung jedoch erst in den 1980er Jahren erhalten, Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 67. Siehe vertieft auch Hettlage, Diaspora: Umrisse zu einer soziologischen Theorie, in: Dabag/Platt (Hrsg.), Identität in der Fremde, S. 75 ff.; Cohen, Global Diasporas, An introduction, passim.

A. Völkermordgeschichte

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Westen im südlichen Kaukasus.5 Der Ararat, Nationalberg der Armenier und als Landepunkt der Arche Noah bekannt,6 erhebt sich an dieser südlichen Grenze in über 5.000 Metern Höhe, liegt jedoch heute aufgrund territorialer Umbrüche im Staatsgebiet der Türkei. Die Republik Armenien ist sowohl flächenmäßig als auch nach der Bevölkerungsdichte ein kleiner Staat. Auf einer Fläche von 29.743 km2 leben nur etwa 3.060.000 Millionen Einwohner.7 Der Weg der Armenier zu einem dauerhaft eigenständigen Staatsgebiet war lang und beschwerlich. Das Volk ist bis heute durch Trennung gekennzeichnet. Die Spyurk, wie die Armenier ihre Diaspora nennen, lebt über die ganze Welt verstreut und macht über zwei Drittel der armenischen Weltbevölkerung aus. In Deutschland leben zwischen 35.000 und 40.000 Armeniern. Die weltweite „Dunkelziffer“ liegt jedoch höher, denn Nachfahren armenischer Kinder, die in türkische Familien untergebracht wurden, leben als sogenannte Kryptoarmenier – das heißt Armenier, die sich öffentlich zum Islam bekennen, jedoch im Verborgenen ihre armenische Identität durch christliche Traditionen und Zeremonien leben – in der heutigen Türkei.8 Die Zerstreuung des armenischen Volkes in der Diaspora hat Einfluss auf seine Selbst-, aber auch Fremdwahrnehmung. Intensive soziologische und politikwissenschaftliche Forschung hat den Begriff der Diaspora stetigem Wandel und Entwicklungen unterworfen.9 Unter anderem aber ist die Diaspora identitätsstiftend für ihre Mitglieder und dabei auch von einer gewissen Mythologisierung10 der eigenen 5 Zur Geographie und Umgebung Armeniens siehe statt aller Adalian, Historical Dictionary of Armenia, S. 2 ff. 6 Genesis, Kapitel 8, Vers 4. 7 Auswärtiges Amt, Länder A–Z, Armenien, abrufbar unter http://www.auswaertigesamt. de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/01Nodes_Uebersichtsseiten/Armenien_node.html, letzter Abruf 25. November 2015. Die Republik Armenien ist die ärmste Volkswirtschaft des Kaukasus und der angrenzenden Gebiete. Das monatliche Durchschnittseinkommen liegt umgerechnet bei etwa 369 USD. Die Türkei hat aufgrund des Konflikts um den Völkermord eine Wirtschaftsblockade gegen Armenien verhängt. Armenien ist Mitglied der Vereinten Nationen (1992), der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE, 1992, des Europarats (2001), der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUS, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit OVKS, der Weltbank (1992), des Internationalen Währungsfonds IWF (1992), der Welthandelsorganisation WTO (2003), der Organisation der Vereinten Nationen für Industrielle Entwicklung UNIDO, der Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur UNESCO, des Schwarzmeer-Kooperationsrats und der Frankophonie (Vollmitglied seit 2012). 8 Tamcke, Koexistenz und Konfrontation, S. 235; Jacob; Minderheitenrechte in der Türkei, S. 106. Ausführlich zu den zum Islam konvertierten Überlebenden des Aghet auch Singer/ Neumann/Somel, Untold Histories of the Middle East, S. 1 ff. 9 Eine Übersicht der Begriffsentwicklung findet sich etwa bei Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 67 ff. 10 „Mythos“ meint dabei die „zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit“, Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und Identität und politische Identität in frühen Hochkulturen S. 78; so auch Staudt, Strategien des Gehörtwerdens, S. 38. Blanke-

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2. Teil: Die Causa Aghet

Herkunft und des Herkunftslandes geprägt.11 Als hauptsächlich identitätsstiftendes Element der armenischen Diaspora gilt der Aghet, der als wichtigstes Symbol der armenischen Diasporakultur in Form des Erinnerns und Gedenkens durch Veranstaltungen und Rituale immer wieder bekräftigt wird und damit auch die Solidarität innerhalb der Gruppe immer wieder aktualisiert.12 Somit erhält die Vergangenheit einen wirkkräftigen Fluchtpunkt in der Gegenwart, der wesentlicher Faktor für die Gruppenidentität ist.13 3. Armenisch-türkische Beziehungen Die Beziehung zwischen Armenien und der Türkei ist bis heute angespannt. Diesbezüglich spielen neben der gemeinsamen Geschichte auch aktuelle Konflikte eine Rolle. Insbesondere die widerstreitenden Gebietsansprüche um die Region Bergkarabach sind ein wiederkehrendes Streitthema mit Auswirkungen auf die armenisch-türkische Beziehung.14 Aufgrund des Konflikts um Bergkarabach schloss die Türkei im Jahre 1993 die Grenze zu Armenien, brach alle diplomatischen Beziehungen ab und verhängte eine Wirtschaftsblockade gegen Armenien.15 Immer wieder gibt es zudem Streit um die Grenzen. Die Grenze zwischen Armenien und der Türkei wurde im Jahr 1922 im Vertrag von Kars festgelegt.16 Sie wird nagel umschreibt dies nach Berger/Luckmann, The Social Construction of Reality, S. 128, als „Darstellung einer Welt, die insgesamt aus dem gleichen Stoff gemacht ist“, Tradition und Verfassung, S. 366. 11 Umfassend Mayer, Diaspora, Eine kritische Begriffsbestimmung, S. 13 f. 12 Kokot, Diaspora und transnationale Verflechtungen, in: Hauser-Schäublin/Braukämper (Hrsg.), Ethnologie der Globalisierung, Perspektive kultureller Verflechtungen, S. 95, 103; Shirinian, The Republic of Armenia and the Rethinking of the North-American Diaspora in Literature, S. 14. Dass der Symbolkontext belegen kann, dass auch Symbole der gesellschaftlichen Wirklichkeit folgen und insgesamt zur Kategorisierung, Wirkung, Geltungsdauer von Symbolen siehe ausführlich Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 357 ff. 13 Vgl. Kühner, Trauma und kollektives Gedächtnis, S. 24. 14 Bergkarabach ist ein Gebiet auf einem Teil des früheren Gebiets der Azerbaidschanischen SSR, das heute überwiegend von Armeniern bewohnt ist und sowohl von Armenien als auch von Azerbaidschan für sich beanprucht wird, sich selbst jedoch für unabhängig erklärt hat. Der Zerfall der Sowjetunion löste einen militärischen Konflikt um die Region aus, der in unterschiedlicher Intensität bis heute anhält. 2017 war die Region wieder härter umkämpft; der aktuelle Krieg brach im Frühjahr 2016 aus. Aus der neueren Literatur zum Konflikt bspw. Kipke, Das armenisch-azerbaidschanische Verhältnis und der Konflikt um Berg-Karabach, 2012; Rau, Der Berg-Karabach-Konflikt zwischen Armenien und Azerbaidschan – Ein kurzer Blick in die Geschichte, 2007; Ausführlich zur juristischen Perspektive auf den Konflikt Krüger, Der Berg-Karabach-Konflikt – Eine juristische Analyse, 2009. 15 Casny, Europäische Energie- und Sicherheitspolitik im Südkaukasus, S. 107 f.; Hale, Turkish Foreign Policy 1774 – 2000, S. 273; Minasyan, Die energiepolitischen Interessen der EU im Südkaukasus, S. 225. 16 Ausführlich Kipke, Konfliktherd Südkaukasus, S. 69 f.; Meißner, Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien: Bausteine für eine internationale Ethik des Protestantismus, S. 250 f.; Stöger, Ethnische Konflikte im Transkaukasus, S. 27 ff.

A. Völkermordgeschichte

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von Armenien jedoch nicht anerkannt. Um die Grenze gab es erbitterten Streit schon 1945, als Josef Stalin die Abtretung der türkischen Provinzen Ardahan und Kars als Entschädigung für den Aghet forderte.17 Im Jahr 1991, als Armenien nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig geworden war, erklärte es den Vertrag von Kars für ungültig. Armenien selbst habe dem Vertrag nur zugestimmt, weil die armenische Delegation aus russischen Sowjetdelegierten zusammengesetzt war. Die Gebiete Ardahan, Batum, Kars und Nachitschewan, die im Vertrag von Kars unter Azerbaidschan, Georgien und der Türkei aufgeteilt wurden, seien armenische Länder.18 Diese Fürnichtigerklärung blieb jedoch völkerrechtlich folgenlos. Aktuell hat der Vertrag von Kars in der internationalen Politik wieder Bedeutung erlangt. Auch Abgeordnete der russischen Staatsduma wollen den Vertrag für nichtig erklären.19 Dass dies im Februar 2016 auf der Tagesordnung stand, zeigt – insbesondere mit Blick auf den Abschuss des russischen Kampfjets im November 201520 – jedoch einmal mehr, dass Armenien noch immer als Behelf dient, außenpolitische Konflikte zwischen Russland und der Türkei mittelbar auszutragen.21 Die Anerkennung des Genozids an den Armeniern ist ein wichtiges Ziel der Außenpolitik Armeniens. Die Identifikation mit dem Aghet ist ein großer Teil der individuellen wie kollektiven und politischen armenischen Identität. Kritiker behaupten sogar, diesen Teil ihrer Identität dürfe man den Armeniern durch eine Anerkennung des Völkermords nicht nehmen.22

II. Grundlagen der historischen Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern und seiner Rezeption in Deutschland 1. Stand der historischen Forschung Die wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas ist aus historischer Perspektive abgeschlossen. Zahlreiche namhafte nationale und internationale Historiker haben sich der historischen Aufarbeitung des Aghet gewidmet und sind sich über die Einordnung als Völkermord weitgehend einig. Nur noch vereinzelt wird bestritten, 17

Quiring, Pulverfass Kaukasus, S. 102. Ausführlich Quiring, Pulverfass Kaukasus, S. 102 f. 19 Russisches Außenministerium soll Verträge mit Türkei überprüfen, Telepolis vom 11. Februar 2016, abrufbar unter https://www.heise.de/tp/features/Russisches-Aussenministeri um-soll-Vertraege-mit-Tuerkei-ueberpruefen-3378231.html, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.00 Uhr. 20 Siehe zum Zusammenhang zwischen dem Abschuss des Jets und dem Völkermord an den Armeniern unten 4. Teil C. 21 Siehe dazu ausführlich unten 4. Teil C. 22 Göral, Turkish-Armenian Issue: Victimization and Large-Group Identity, Review of Armenian Studies, Vol. 3, No. 9, 61, 72 f. 18

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2. Teil: Die Causa Aghet

dass es sich um einen Völkermord gehandelt habe. Die Ereignisse sind umfangreich dokumentiert. Die im Osmanischen Reich stationierten Botschafter und Diplomaten des Deutschen Kaiserreiches, aber auch der Vereinigten Staaten von Amerika dokumentierten die Geschehnisse in Berichten. Eine große Sammlung von Akten steht im Archiv des Auswärtigen Amts zur Verfügung. Insbesondere die Berichtsammlung von Johannes Lepsius „Deutschland und Armenien“ stellt eine der ersten und wichtigsten Quellen für die historische Forschung zum Völkermord an den Armeniern dar.23 Die Rolle des deutschen Kaiserreiches erklärt, weshalb so viele deutsche Quellen, historische Untersuchungen und aktuelle politische Dokumente zu einem Völkermord vorliegen, der von einem anderen Staat auf dessen Staatsgebiet begangen wurde. Durch die Türkei selbst und einige private Organisationen wird das Vorliegen eines Völkermords bestritten.24 Zum Völkermord an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs bestehen somit gewissermaßen zwei Forschungsstände.25 2. Völkermord-Debatte Der Grund für die politische Sprengkraft jeglicher Auseinandersetzung mit dem Aghet ist so offensichtlich wie brisant: Die Türkei bestreitet, dass es sich bei den Ereignissen um einen Völkermord gehandelt habe. Die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der historischen Ereignisse durch Armenien und durch die Türkei führt zwischen den beiden Staaten schon immer, seit dem Armenier-Beschluss des Deutschen Bundestages aber auch zwischen Deutschland und der Türkei, zu außenpolitischen Spannungen. Die Darstellung des Aghet durch die Türkei ist äußerst vielschichtig und soll hier ebenfalls nur anhand der Kernargumente in Grundzügen dargestellt werden. Die Türkei räumt ein, dass es im Zuge des Ersten Weltkriegs zahlreiche armenische Todesopfer gab. Im Gegensatz zu den restlichen historiographischen Schätzungen von etwa 1, 5 Millionen Todesopfern, geht die türkische Forschung von 300.000 bis 500.000 Opfern aus.26 Diese seien keiner planmäßigen Vernichtung erlegen, sondern Kollateralschäden des Ersten Weltkrieges. Die Intention, das armenische Volk bis zur Bedeutungslosigkeit zu dezimieren oder gar auszulöschen, streitet die Türkei aus-

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Zur Rolle Lepsius’ siehe unten 2. Teil B. I. 2. Die Ansicht der Türkei ist bspw. offiziell dargestellt auf der Webseite des türkischen Außenministeriums, abrufbar unter http://www.mfa.gov.tr/the-armenian-allegation-of-genoc ide-the-issue-and-the-facts.en.mfa, letzter Abruf 23. August 2017, 16.00 Uhr. 25 Siehe dazu unten 2. Teil A. II. 2. 26 Ausführlich unter tabellarischer Aufstellung der internationalen Schätzungen und Abgleich mit den Bevölkerungszahlen aus offiziellen Osmanischen Dokumenten Yildirim, Armenische Behauptungen und die Wahrheit, S. 23 ff. m.w.N. 24

A. Völkermordgeschichte

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drücklich ab.27 Zudem betont sie die allgemeine hohe Sterblichkeitsrate der Jahre 1915/16. Aufgrund bürgerkriegsähnlicher Kämpfe und einer Ernährungskrise seien ebenso viele Tote auf türkischer wie auf armenischer Seite zu verzeichnen.28 Die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern fällt unter Art. 301 des türkischen Strafgesetzbuches und ist dementsprechend mit Strafe bedroht. Ein berühmter Verurteilter nach dieser Norm ist beispielsweise der Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk. Besondere mediale Aufmerksamkeit erreichte in diesem Zusammenhang aber die Ermordung des armenischstämmigen türkischen Journalisten Hrant Dink. Dink wurde wegen Beleidigung des Türkentums nach Art. 159 TürkStGB a.F. (heute Art. 301 TürkStGB) aufgrund einer Reihe von Zeitungsartikeln am 8. Oktober 2005 zu sechs Monaten Haft verurteilt.29 Gegen das Urteil zog er nach Durchlaufen des Instanzenzugs vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, wurde jedoch am 19. Januar 2007 vor dem Redaktionsgebäude der Zeitung Agos auf offener Straße ermordet,30 bevor der Gerichtshof zu einer Entscheidung gelangt war. Die Ermordung Dinks hatte in der Türkei eine große Protestwelle ausgelöst. Während einer Kundgebung in Istanbul skandierten Demonstranten „Wir sind alle Hrant Dink! Wir sind alle Armenier!“31

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Die Ansicht der Türkei ist bspw. offiziell dargestellt auf der Webseite des türkischen Außenministeriums, abrufbar unter http://www.mfa.gov.tr/the-armenian-allegation-of-genoc ide-the-issue-and-the-facts.en.mfa, letzter Abruf 23. August 2017. 28 Ausführlich zur insgesamt anderen Ansicht zum historischen Ablauf Yildirim, Armenische Behauptungen und die Wahrheit, passim m.w.N. zu den verschiedenen politischen Stadien des Bestreitens eines Genozids seitens der Türkei Göcek, Reconstructing the Turkish Historiography on the Massacres and Deaths of 1915, in: Hovannisian (Hrsg.), Looking Backward, Moving Forward, S. 209 ff. 29 Ausführlich zum Leben und zur Geschichte Dinks Bilgen-Reinart, Hrant Dink: forging an Armenian identity in Turkey, abrufbar unter https://www.opendemocracy.net/democracy-tur key/dink_3246.jsp, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 19.40 Uhr. Siehe auch „Ich bin wie eine Taube“, Der Tagesspiegel vom 23. Januar 2007, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/kul tur/ich-bin-wie-eine-taube/802006.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 19.45 Uhr. 30 Jugendlicher gesteht Mord an Hrant Dink, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Januar 2007, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/tuerkei-jugendlichergesteht-mord-an-hrant-dink-1409450.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 19.45 Uhr. 31 Umgekehrt hat der türkische Politiker Dog˘ u Perinçek gegen eine Entscheidung des Schweizer Bundesgerichts, die durch ihn vorgenommene Völkermordleugnung unter Strafe zu stellen, unter Berufung auf seine Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK erfolgreich Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt, EGMR Urteil vom 15. Oktober 2015, Az. 27510/08 – Swiss vs. Perinçek. Siehe dazu im Zusammenhang mit der Pönalisierung der Völkermordleugnung in Deutschland auch oben 2. Teil A. II. 3.

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2. Teil: Die Causa Aghet

Die 1990er Jahre brachten einen gewissen Umbruch in die türkische Wissenschaft. Der strenge Nationalismus Atatürks war im Zusammenhang mit dem kurdischen Konflikt und dem Putsch 1984 zunehmend in Kritik geraten. Der Völkermord an den Armeniern ist in den letzten etwa fünfundzwanzig Jahren vermehrt Thema in der Wissenschaft und Öffentlichkeit geworden, sodass auch die Türkei sich öffentlich stärker mit dem Thema auseinandersetzte. Am 24. April 2014 etwa sprach Recep Tayyip Erdog˘ an allen Armeniern in der Türkei und weltweit sein Mitgefühl aus. Dies ist jedoch nicht als Anerkennung des Völkermords zu begreifen. Im Juli 2017 etwa hat die Türkei einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der die Verwendung der Bezeichnung „Völkermord an den Armeniern“ im türkischen Parlament verbietet.32 3. Rechtslage in Deutschland Üblich ist es, in diesem Zusammenhang von der „Leugnung“ des Völkermords an den Armeniern zu sprechen. Dies ist schon sprachlich auffällig. Das Wort „leugnen“ ist verwandt mit mittelhochdeutsch löugenen, lougenen, althochdeutsch louganen und etymologisch verwandt mit dem Wort „lügen“.33 Der Duden gibt in zwei von drei genannten Wortbedeutungen an, etwas zu leugnen habe auch zum Inhalt, dass wider besseren Wissens die Unwahrheit gesagt werde oder eine allgemeine Weltanschauung nicht gelten zu lassen.34 Eine wertungsneutrale Bezeichnung für die Auffassung der Türkei wäre daher die Bezeichnung als andere Ansicht oder als Bestreiten. Die Debatte um rechtliche Konsequenzen setzt jedoch voraus, dass die historische Bewertung gerade nicht in Frage gestellt wird.35 Die Leugnung des Völkermords an den Armeniern durch einzelne Akteure hat die Gerichte und Parlamente der Welt in einigen wenigen Fällen beschäftigt. Insbesondere die Kollision derartiger Äußerungen mit Verbotstatbeständen machen die Leugnung des Völkermords an den Armeniern zum Grundrechtsproblem. Geschichtsbezogene Normen sind auch eine Herausforderung für das Verfassungsrecht. Die Erfahrung anderer Staaten, insbesondere Frankreichs und der Schweiz, hat gezeigt, dass insbesondere Strafrechtsvorschriften mit historischem Bezug an den nationalen bzw. internationalen Grundrechtsvorgaben scheitern können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht die Leugnung des Völkermords an den Armeniern als von der Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 10 EMRK geschützt an.36 32 Türkei verbietet Begriff „Völkermord an Armenier“ per Gesetz, Haypress vom 31. Juli 2017, abrufbar unter https://haypressnews.wordpress.com/2017/07/31/tuerkei-verbietet-begriffvoelkermord-an-armenier-per-gesetz/, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.00 Uhr. 33 Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, S. 795. 34 Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/leugnen, letzter Abruf 12. März 2018, 11.30 Uhr. 35 Siehe zum Stand der historischen Forschung unten 2. Teil A. II. 36 EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015, Az. 27510/08, NJW 2016, 3353, 3359 – Swiss vs. Perinçek mit Anm. Ladewig/Petzold.

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Hintergrund dieser Entscheidung war es, dass der türkische Politiker Dogu Perinçek den Vorwurf des Völkermordes als „internationale Lüge“ bezeichnet hatte, woraufhin die Schweizer Gerichte ihn zu einer Geldstrafe verurteilten. Nach der Rechtsprechung des EGMR sind das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und die Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 10 EMRK miteinander in Einklang zu bringen. Die Würde der damaligen Opfer und die armenische Identität unterfielen dem Schutzbereich des Art. 8 EMRK. Die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern durch Perinçek sei jedoch im Zusammenhang mit einer Frage des öffentlichen Interesses erfolgt, nicht aber als Aufruf zu Hass oder Intoleranz zu werten.37 Ähnlich urteilte das französische Verfassungsgericht, als es das Genozidleugnungsverbot ebenfalls als Verstoß gegen die Meinungsfreiheit für verfassungswidrig erklärte.38 Das Urteil stieß teilweise auf Unverständnis. Die Meinungsäußerungsfreiheit finde ihre Grenzen dort, wo Geschichte neu geschrieben werde; die Leugnung und Rechtfertigung eines Völkermords könne nicht durch Art. 10 EMRK gerechtfertigt werden.39 Beide Fälle weisen Parallelen zur Rechtslage in Deutschland auf. Die Leugnung von Völkermorden steht in Deutschland grundsätzlich nicht unter Strafe. Eine Ausnahme hat der deutsche Gesetzgeber in § 130 Abs. 3 StGB geschaffen, der die Leugnung des Holocaust unter Strafe stellt. Auch die Leugnung des Völkermords an den Armeniern kann jedoch – trotz der expliziten Beschränkung des § 130 Abs. 3 StGB auf die Leugnung des Holocaust – strafrechtlich relevant sein. Insbesondere die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener nach § 189 StGB soll nach Ansicht der Bundesregierung und auch des Oberverwaltungsgerichts Berlin erfüllt sein können, wenn die Einordnung des Aghet als Völkermord öffentlich als Lüge bezeichnet wird.40 Im strafrechtlichen Bereich hat die Norm jedoch größere Auswirkungen im Bereich der Holocaustleugnung und ist darüber hinaus überwiegend im außerstrafrechtlichen Bereich relevant, wenn es etwa um die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Versammlungsverboten41 oder Disziplinarmaßnahmen42 geht.43 Eine 37 EGMR, Urteil vom 15. Oktober 2015, Az. 27510/08, NJW 2016, 3353, 3359 – Swiss vs. Perinçek mit Anm. Ladewig/Petzold. 38 Conseil Constitutionnel, Décision no 2012-647 DC vom 28. Februar 2012. 39 BLICK, Affäre Perinçek, Gesellschaft Schweiz-Armenien kritisiert Urteil im Fall Perinçek, abrufbar unter https://www.blick.ch/news/schweiz/affaere-perincek-gesellschaftschweiz-armenien-kritisiert-urteil-im-fall-perincek-id4262143.html, letzter Abruf 23. Februar 2018, 10.30 Uhr; vgl. auch NZZ, Zwischen Meinungsfreiheit und Menschenwürde, abrufbar unter https://www.nzz.ch/schweiz/anhoerung-zur-armenien-frage-1.18470774, letzter Abruf 23. Februar 2018, 10.30 Uhr. 40 Nach Ansicht des OVG Berlin, Beschluss vom 17. März 2006, Az. 1 S 26/06 Rn. 10, zitiert nach juris, unterliegt die Möglichkeit der Verwirklichung des Tatbestandes des § 189 StGB „[…] keinen ernstlichen Zweifeln.“; zur Einschätzung der Bundesregierung BT-Drs. 17/1956, S. 3. Ebenso ist theoretisch denkbar, dass die Voraussetzungen des § 185 StGB in bestimmten Konstellationen einschlägig sind, wobei derartige Fälle nicht bekannt sind. 41 So im Zusammenhang mit der Leugnung des Aghet OVG Berlin, Beschluss vom 17. März 2006, Az. 1 S 26/06, juris.

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2. Teil: Die Causa Aghet

unmittelbare Strafbarkeit aus der Leugnung selbst ergibt sich jedoch nach deutschem Recht grundsätzlich nicht. Die rechtliche Bewertung des Themenkomplexes Holocaust steht in einem deutlichen Kontrast zur Bewertung der Leugnung des Völkermords an den Armeniern. Es stellt sich an dieser Stelle jedoch nicht die Frage der historischen Vergleichbarkeit von Holocaust und Aghet.44 Die Bundesrepublik Deutschland kann sich aber – und darin liegt auch der wesentliche Unterschied zu Frankreich und zur Schweiz – in der juristischen Behandlung von Völkermorden nicht losgelöst von ihrer Geschichte verhalten.

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Etwa BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2008, 2 WD 1/08, BVerwGE 132, 179; VG Ansbach, Urteil vom 22. Mai 2000, AN 6 D 98.00754, juris. 43 Leipold/Tsambikakis/Zöller/Rahmlow, Heidelberger Kommentar Anwaltskommentar StGB, § 189 Rn. 2. 44 Die Debatte um die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern war teilweise auch eine Debatte um die Einzigartigkeit des Holocaust. Diese Debatte ist nicht neu; Überblick und Kritik etwa bei Schaller, „La question arménienne n’existe plus“, Der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs und seine Darstellung in der Historiographie, in: Wojak/Meinl (Hrsg.), Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 99, 109 ff. mit zahlreichen wN. Öffentlich äußerte sich diesbezüglich der damalige Außenminister Steinmeier besonders kritisch, der in der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern eine implizite Geringschätzung des Holocausts erblickte. Kritisch dazu Broder, Herr Steinmeier, Sie haben von nichts eine Ahnung!, DIE WELT vom 25. April 2015, abrufbar unter https://www.welt.de/debatte/kommentare/article140082537/Herr-Steinmeier-Sie-haben-vonnichts-eine-Ahnung.html, letzter Abruf 18. Januar 2018, 17.35 Uhr. Den Vergleich von anderen Ereignissen wie dem Irakkrieg wird von der Historikerin und Holocaustforscherin Deborah Lipstadt, als „soft-core-Holocaust-Leugnung“ bezeichnet, vgl. Jikeli/Stoller/Allouche-Benayoun (Hrsg.), Umstrittene Geschichte, Ansichten zum Holocaust unter Muslimen im internationalen Vergleich, S. 195. Übersicht zum Meinungsstand zur Abgrenzung wechselseitiger Bürgerkriegsgemetzel und Völkermorde anhand des Völkermords an den Armeniern bei Jahn, Politische Streitfragen, S. 85 ff., die Definition des Völkermords in Art. II UN-Völkermordkonvention ist demnach „sehr weit“, ebenda, S. 86. Ernsthafte Bemühungen, den Völkermord an den Armeniern in die Nähe des Holocaust zu rücken, sind insbesondere von armenischen Forschern zahlreich unternommen worden. Dadrian, The Role of the Turkish Physicians in the World War I Genocide of Ottoman Armenians, Holocaust and Genocide Studies, Vol. I (1986), Nr. 2. 169, 182 etwa stellt die osmanischen Behörden als Erfinder der Gaskammer dar; Annäherungen in der Benennung auch bei Hovannisian (Hrsg.), The Armenian Holocaust. A Bibliography Relating to the Deportation, Massacres and Dispersion of the Armenian People 1915 – 1923. Krit. Schaller, „La question arménienne n’existe plus“, Der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs und seine Darstellung in der Historiopraphie, in: Wojak/Meinl (Hrsg.), Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 99, 112. Besonders einflussreich für die Wahrnehmung der Armenier in diesem Zusammenhang Melson, Revolution and Genocide, On the Origins of the Armenian Genocide and the Holocaust, der auch einen konkreten Vergleich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem Holocaust und dem Aghet zieht, ebenda, S. 247 ff.

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Die mögliche Pönalisierung der Leugnung des Völkermords an den Armeniern ist auch in Deutschland thematisiert worden.45 Die Verfassungsmäßigkeit einer solchen Pönalisierung wäre jedoch mit Blick auf Art. 5 Abs. 1 GG mehr als nur fraglich. In der Wunsiedel-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des § 130 Abs. 3 StGB zwar bejaht.46 Für die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Verbotsnorm für die Leugnung von Völkermorden sind dabei insbesondere die Ausführungen zu durch Art. 5 Abs. 2 GG adressiertem Sonderrecht fruchtbar zu machen. Ein Indiz für Sonderrecht – in Abgrenzung zum allgemeinen Gesetz im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG – ist es, „wenn sich eine Norm als Antwort auf einen konkreten Konflikt des aktuellen öffentlichen Meinungskampfes versteht oder anknüpfend an inhaltliche Positionen einzelner vorfindlicher Gruppierungen so formuliert ist, dass sie im Wesentlichen nur gegenüber diesen zur Anwendung kommen kann.“47 Zudem ist auch die Anknüpfung an bestimmte historische Deutungen von Geschehnissen ein Indiz für Sonderrecht.48 Vor diesem Hintergrund ist eine Pönalisierung der Leugnung des Aghet verfassungsrechtlich auch in Deutschland nicht haltbar. Darüber hinaus besteht aber auch kein Bedarf für eine solche rechtliche Bewertung. Ob ihres absolut zwingenden Charakters bilden Strafvorschriften die Spitze der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten.49 Eine Notwendigkeit, eine derartige Verhaltensnorm zu schaffen, lässt sich in der Causa Aghet nicht erkennen. Der Bundestag hat durch die Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses eine außerhalb von Sanktion angesetzte Reaktionsmöglichkeit gewählt, die der (rechts-) politischen Forderung nach Anerkennung gerecht wird. Diese Forderung war eine Forderung nach Gerechtigkeit gegenüber den Opfern des Aghet, weniger aber eine Forderung nach Sühne oder Vergeltung. Zudem würde eine generelle Verbotsnorm, wie sie das Schweizer Recht in Art. 261 StGB (Schweiz) enthält, nicht automatisch auch sichern, dass die Leugnung des Völkermords an den Armeniern strafbar wäre. Soweit die Norm der Auslegung zugänglich wäre – wenn sie nämlich der Völkermord an den Armeniern seinen Weg nicht in den Wortlaut fände – bliebe die Frage nach der Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern offen und bedürfte gegebenenfalls einer gerichtlichen Antwort. Damit wäre in der Causa Aghet jedoch nicht erreicht, was durch den schlichten Parlamentsbeschluss vom 2. Juni 2016 erreicht worden ist. Wie schon der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert in 45

BT-Drs. 17/1798, S. 4; dazu und zur Antwort der Bundesregierung, BT-Drs. 17/824, S. 7, ausführlich unten ab 2. Teil B. III. 46 BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300 – Wunsiedel. 47 BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300, 324 – Wunsiedel. 48 BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300, 324 – Wunsiedel. 49 So auch ausdrücklich die abweichende Meinung im BVerfG, Urteil vom 25. Februar 1975, 1 BvF 1 bis 6/74, BVerfGE 39, 1, 70 = NJW 1975, 573, 582.

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2. Teil: Die Causa Aghet

seiner Ansprache zum 100. Jahresgedenken des Aghet zutreffend äußerte, gehört die abschließende Klärung dieser Frage ins Parlament.50 An dieser Stelle tritt das Element der Leugnung in den Hintergrund. Der Bundestag hat für die Anerkennung des Völkermords die Form des schlichten Parlamentsbeschlusses gewählt und damit Fragen im Zusammenhang mit offiziellen politischen Äußerungen des Bundestages in den Vordergrund treten lassen. 4. Keine Subsumtion unter heute geltendes Recht Eine ernsthafte juristische Einordnung des Aghet in Form einer Subsumtion unter geltendes Recht ist bis heute ausgeblieben. Dies ist jedoch keinesfalls bedauerlich, sondern zeugt von einem allgemein korrekten Verständnis der Anwendbarkeit von Normen. Der Begriff des Völkermords ist ein juristischer Tatbestand, der in den fünfziger Jahren in Art. II der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (UN-Völkermordkonvention) Eingang in das positive Recht gefunden hat und heute auch in nationalen Vorschriften (§ 6 VStGB) kodifiziert ist. Die Subsumtion unter Art. II UN-Völkermordkonvention mag sachlich möglich sein. Da die Konvention jedoch erst 1948 konzipiert wurde und für Deutschland erst 1955 in Kraft getreten ist, fällt der Völkermord am armenischen Volk aus ihrem zeitlichen Anwendungsbereich heraus.51 Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass sie keine Rolle für ein umfassendes Bild des rechtlichen Kontextes, in dem der Völkermord am armenischen Volk steht, spielte. Im Gegenteil ist die Geschichte der UN-Völkermordkonvention so eng mit dem Völkermord an den Armeniern verknüpft, dass sie Teil der juristischen Aufarbeitung der Materie sein sollte.52 Denn im Rahmen einer historischen Kontextualisierung von Aghet, UN-Völkermordkonvention und Anerkennung wird sich herauskristallisieren, dass die Referenz zur UN-Völkermordkonvention aufgrund rechtshistorisch geprägter sprachlicher Entwicklungen keinen Versuch darstellt, einen historischen Fall nach den rechtlichen Maßstäben der Gegenwart zu lösen. Diese Bestrebungen gibt es zwar durchaus. Teilweise werden Versuche unternommen, die Ereignisse unter juristische Tatbestände zu fassen.53 Dabei ist über den Vorwurf des Völkermords nach Art. II der UN-Völkermordkonvention54 durch die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches auch von Mittäterschaft oder Beihilfe zum Völkermord55 durch das Deutsche Kai50

Siehe dazu unten 2. Teil B. III. 5. d). A.A. Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 14/9857, S. 1; BT-Drs. 17/1798, S. 3; BT-Drs. 18/ 4335, S. 1. 52 Siehe zum Zusammenhang zwischen der Konzeption der UN-Völkermordkonvention und dem Völkermord an den Armeniern unten 2. Teil A. VI. 2. 53 So etwa Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 114 ff. 54 BT-Drs. 17/1798, S. 3. 55 So die Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 18/4335, S. 1. Vgl. auch BT-Drs. 17/1798, S. 3, in der es jedoch „[…] nach der UN-Völkermordkonvention strafrelevanten, politischen Mitschuld durch Billigung, Beihilfe, Mittäter- und Nutznießerschaft […]“ heißt, sodass auch hier eine 51

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serreich die Rede. Die UN-Völkermordkonvention ist entgegen solcher Vorstöße jedoch vorrangig rechtshistorisch relevant.56 5. Aufarbeitung in Deutschland Der Völkermord am armenischen Volk beschäftigt seit einem Jahrhundert die deutsche Politik und Wissenschaft. Die große Aufmerksamkeit, die diesem für die Bundesrepublik Deutschland externen Ereignis zukommt, findet ihre Ursache in der Rolle des deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg. Das Deutsche Kaiserreich war Verbündeter des Osmanischen Reiches und hat einen signifikanten Beitrag zur Umsetzung des Völkermords geleistet.57 Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung empfinden eine Verantwortung zur Aufarbeitung dieses Teils unserer Geschichte. Dazu gehört es nach Ansicht des Bundestages auch, auf aktuelle Spannungsfelder einzuwirken und sich beispielsweise um die Aufhebung der Grenzund Wirtschaftsblockade Armeniens seitens der Türkei zu bemühen sowie Einfluss auf den politischen Diskurs in Deutschland zu nehmen.58 Dieser Verpflichtung kommt die Bundesrepublik Deutschland in weiten Teilen auch nach. Insbesondere hat aber zumindest der Deutsche Bundestag durch die Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs einen Beitrag zu dieser Aufarbeitung geleistet. An den politischen Konsequenzen der Anerkennung hatte die Bundesrepublik Deutschland anschließend zu nagen.59 Wie ein für die Bundesrepublik Deutschland extraterritorialer Völkermord rechtspolitisch und rechtsdogmatisch für so viel Aufsehen sorgen konnte, lässt sich am besten anhand der historischen Hintergründe und der rechtspolitischen Debatte um die Anerkennung des Aghet nachvollziehen. Die sich aus dem Anerkennungsbeschluss ergebenden rechtsdogmatischen Probleme sind im Anschluss zu untersuchen.

III. Ablauf des Völkermordes Nach den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft trugen sich die Ereignisse wie folgt zu. Am 24. April 1925 kam es zur Verhaftung und anschließender Ermordung armenischer Intellektueller in Konstantinopel. Der 24. April markiert untechnische Verwendung der Begriffe nicht ausgeschlossen ist. Siehe dazu auch Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 203 ff., der eine strafrechtliche Staatenverantwortlichkeit heutiger Staaten konstruiert, die faktisch eine Anwendung der UN-Völkermordkonvention ist. 56 Siehe dazu ausführlich unten 2. Teil A. VI. 2. 57 Zur Rolle des Deutschen Kaiserreichs siehe ausführlich unten 2. Teil A. IV. 58 Etwa BT-Drs. 18/8613, S. 1 und 3 f. Siehe zur Ansicht der Fraktionen ausführlich unten 2. Teil B. III. 59 Siehe dazu unten 2. Teil A. VI.

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2. Teil: Die Causa Aghet

deshalb den Beginn des Völkermords am armenischen Volk ist in vielen Ländern Gedenktag an den Aghet.60 Gemeinhin werden unter dem Völkermord am armenischen Volk die Ereignisse in den Jahren 1915 und 1916 verstanden. Die Ereignisse in diesen Jahren waren für das armenische Volk im Osmanischen Reich die intensivsten und werden als Völkermord an den Armeniern im engeren Sinne bezeichnet.61 Der historische Vorlauf reicht allerdings bis in die Anfänge Armeniens zurück. Etwa 20 Jahre vor dem Völkermord im engeren Sinne begann zudem auch sein politischer Vorlauf. Beide sollen zur Erleichterung des Verständnisses der Zusammenhänge kurz dargestellt werden soll.

1. Vorgeschichte zum Völkermord an den Armeniern a) Ein zerworfenes Volk Der Völkermord an den Armeniern reiht sich in die Geschichte des armenischen Volkes ein, denn es befand sich Zeit seiner Existenz zwischen diversen Großmächten.62 Die stark westliche Orientierung Armeniens, die auf die hohe Bildung und den christlichen Glauben zurückgeführt wird,63 gepaart mit der Lage zwischen Orient und Okzident führten zu einer starken Prägung der armenischen Geschichte von den Interessen der sie umgebenden Großmächte, insbesondere der heutigen Türkei und Russlands. Die Stellung Armeniens als Scheitelpunkt zwischen verschiedenen territorialen und religiösen Interessen entwickelte sich dabei schon deutlich vor dem 20. Jahrhundert. Alexander der Große hatte das armenische Siedlungsgebiet im Jahr 334 v. Chr. seinem Großreich unterworfen.64 Das Land wurde jedoch weiterhin durch armenische Könige regiert.65 Versuche, die damals noch vier armenischen Königreiche unter direkte Herrschaft zu stellen, scheiterten wiederholt. Nach kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Römern66 erklärte im Jahr 188 v. Chr. der römische Senat – das wichtigste Organ der römischen Republik – schließlich die Unabhängigkeit des damaligen Siedlungsgebietes.67 Bis zum Ende des antiken Staates Armenien kam es jedoch weiterhin immer wieder zu Kämpfen 60

Zum internationalen Umgang mit der Causa Aghet siehe unten 2. Teil B. VIII. Begriff nach Albrecht, Völkermord(en), S. 34. 62 Koutcharian, Der Völkermord an den Armeniern (1915 – 1917), in: Hofmann (Hrsg.), Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912 – 1922, S. 63, 65. 63 Bauer, Armenien, Geschichte und Gegenwart, S. 95. 64 Bauer, Armenien, Geschichte und Gegenwart, S. 54; Nalbandian, The Armenian Revolutionary Movement, S. 5 f.; Payaslian, The History of Armenia, S. 11. 65 Bauer, Armenien, Geschichte und Gegenwart, S. 54. 66 Zur Geschichte Armeniens und Roms ausführlich Bauer, Armenien, Geschichte und Gegenwart, S. 60 ff. 67 Erdkamp, A Companion to the Roman Army, S. 239. 61

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und darauffolgenden Umbrüchen in der Staatsorganisation Armeniens. Schon im 4. Jahrhundert n. Chr. wurden die Armenier Opfer der allgemeinen Christenverfolgung durch das römische Reich. Insbesondere das römische und persische Reich hatten stets Interesse an Armenien, das sie im Jahr 387 untereinander aufteilten. Die vier Fünftel des Landes, die Persien zugesprochen wurden, werden auch als Persarmenien bezeichnet.68 Seine christliche Identifikation musste Armenien auch im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder verteidigen. Im 7. Jahrhundert n. Chr. fiel das zu diesem Zeitpunkt byzantinische Armenien zum ersten Mal unter arabische Herrschaft. Die strategisch noch heute günstige Lage Armeniens als Zwischenebene zwischen Orient und Okzident und damit auch Christentum und Islam motivierte Byzanz dazu, sich Armenien als christlichen Verbündeten zu sichern. Die Eigenständigkeit wollte Byzanz jedoch nicht anerkennen, sondern die Armenier zur Unterzeichnung des Konzils von Chalcedon bewegen. Der armenische Stolz bezüglich ihres Glaubens und ihrer Konfession ging jedoch soweit, dass der armenische Adel sich gegen das Konzil von Chalcedon durchsetzte und stattdessen freiwillig die politische Herrschaft der Araber über Armenien anerkannte.69 Im Laufe der folgenden Jahrhunderte etablierte sich ein anerkanntes armenisches Königreich. Bis in das 11. Jahrhundert n. Chr. existierte dieses friedlich neben dem arabischen Kalifat und dem byzantinischen Kaiserreich, die sich zuvor noch heftig um die Vorherrschaft auf armenischem Gebiet gestritten hatten.70 Erst, als die von 1040 bis 1194 herrschende türkische Dynastie der Seldschuken im Jahr 1064 in die armenische Hauptstadt Ani einfiel und diese unter massiven Verwüstungen eroberte, waren die Armenier zur Flucht gezwungen. Sie gründeten in Kilikien (Südosten der heutigen Türkei) das Königreich Kleinarmenien, das von 1080 bis 1375 unabhängig war.71 Im Jahr 1515 fiel das Königreich Kleinarmenien schließlich an das Osmanische Reich,72 wo sich 400 Jahre später auch der Völkermord an den Armeniern ereignete. Übriggeblieben ist bis heute das Katholikat von Kilikien, ein eigenständiger Teil der armenisch-apostolischen Kirche. Die im Nordosten verbliebenen Armenier gerieten unter wechselnde georgische und turkmenische und auch mongolische Herrschaft.73 Der für seine grausamen Eroberungsfeldzüge bekannte Feldherr Timur Leng brachte unter seiner Tyrannei in Kleinasien auch das Kernland

68 Ausführlich Greatrex, The Background and Aftermath of the Partition of Armenia in A.D. 387, The Ancient History Bulletin 14.1-2 (2000), 35. 69 Das Konzil von Chalcedon setzte dem Dogmenstreit ein Ende und verankerte unter anderem die Trinität. 70 Bauer, Armenien, S. 99 ff. 71 Ausführlich dazu Bauer, Armenien, S. 120 ff. 72 Hitti, History of the Arabs, S. 703. 73 Ausführlich zu den einzelnen Unterwerfungen Bauer, Armenien, S. 139 f.

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Armeniens unter seine Herrschaft.74 Die nach den Vertreibungen, Umsiedlungen und der Flucht bis ins 15. Jahrhundert noch übrig gebliebene armenische Minderheit wurde durch die Teilung ihres Gebietes zwischen dem Iran und dem Osmanischen Reich noch weiter zerworfen.75 b) Die Armenier im Osmanischen Reich des 19. und 20. Jahrhunderts Im Osmanischen Reich war das armenische Volk im heutigen Ost-Anatolien angesiedelt. Durch die Einteilung der Bevölkerung nach der religiösen Zugehörigkeit – dem sogenannten Millet-System76 – lagen die Armenier gemeinsam mit anderen Christen und auch Juden in der Gesellschaftshierarchie zwar unter den Muslimen, jedoch noch über den „Ungläubigen“.77 Sie durften aufgrund ihres Status als Dhimmi (Schutzbefohlene) ihre Religion zwar frei ausüben, womit auch Eigenheiten des Familien- und Erbrechts sowie ein autonomes Schulwesen gewährleistet wurden.78 Deutliche Diskriminierungen der christlichen Armenier gegenüber den Muslimen zeigten sich jedoch in ihrer Besteuerung und der Nichtgleichstellung in rechtlicher, sozialer und politischer Hinsicht.79 Wie alle Nichtmuslime unterlagen die Armenier einer Kopfsteuer, die ihre rechtliche und soziale Zurückstellung in einen für das Osmanische Reich nicht unerheblichen monetären Vorteil umwandelte.80 Zudem mussten sie eine Befreiungssteuer vom Militärdienst zahlen, obwohl 74 Ausführlich Payaslian, The History of Armenia, S. 103 f. Siehe allgemein zu den Eroberungszügen Timur Lengs statt aller etwa Beier, Neue Chronik der Weltgeschichte, S. 275 ff.; Neuhold, Die großen Eroberer, S. 1336 ff. 75 Ausführlich Greatrex, The Background and Aftermath of the Partition of Armenia in A.D. 387, The Ancient History Bulletin 14.1-2 (2000), 35. Eine ausführliche Untersuchung der armenischen Frühgeschichte in ihrer Gesamtheit findet sich bei Hofmann, Annäherung an Armenien, S. 14 ff. 76 Millet (Türk.) bedeutete urspr. „Religion“, „Religionsgemeinschaft“, seit dem 19. Jhr. auch „Nation“, „Nationalität“; Günzel, Religionsgemeinschaften in Israel, S. 7 Fn. 20. Zu den Einzelheiten des Millet-System und den Auswirkungen auf die ihm unterworfenen Minderheiten siehe Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 60 ff.; Levy, Christians, Jews and Muslims in the Ottoman Empire, S. 1; Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, S. 151 ff.; Günzel, Religionsgemeinschaften in Israel, S. 7 ff. 77 Bassa, Der Völkermord an den Armeniern, S. 20; umfassend zur Stellung (christlicher) Minderheiten im Osmanischen Reich Shirinian, The Background to the Late Ottoman Genocides, in: ders. (Hrsg.), Genocide in the Ottoman Empire: Armenians, Assyrians, and Greeks 1913 – 1923, S. 19 ff. Kritisch zum „Mythos Milletsystem“ Jacob, Minderheitenrecht in der Türkei, S. 82 ff. 78 Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 66; Hesemann, Der Völkermord an den Armeniern, S. 58; Jacob, Minderheitenrecht in der Türkei, S. 86. 79 Umfassend zu den Beschränkungen im Einzelnen Jacob, Minderheitenrecht in der Türkei, S. 86 f. und 88 ff. m.w.N. 80 Feigel, Das evangelische Deutschland und Armenien, S. 16 m.w.N.; vgl. auch Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 59.

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ihnen dieser rechtlich untersagt war.81 Auch unterlagen sie Kleidervorschriften, durften keine Pferde reiten oder Waffen tragen.82 Die Armenier sollen als überdurchschnittlich lernfähigkeit und intelligent gegolten haben.83 Im Osmanischen Reich übten sie aufgrund der Zugangssperre zum Militär und zum oberen Staatsdienst für Nichttürken überwiegend freie Berufe aus – der ganz überwiegende Teil der Ärzte, Apotheker und Rechtsanwälte waren Armenier – und galten als „Hauptträger des türkischen Wirtschaftslebens“.84 Häufig werden die Armenier im Osmanischen Reich daher auch mit den Juden im Europa der dreißiger Jahre verglichen.85 c) Unmittelbarer Vorlauf zum Beginn des Völkermords an den Armeniern im engeren Sinne aa) Erste Massaker 1894/95 Bereits zwanzig Jahre vor dem Völkermord an den Armeniern im engeren Sinne kam es zu Massakern gegen die Armenier, die als eine Art Vorlauf zum Aghet betrachtet werden.86 Das durch die weltweite Wirtschaftskrise der 1870er Jahre geschwächte Osmanische Reich stand seit 1881 faktisch unter europäischer Finanzhoheit.87 Zu den allgemeinen Religionsrivalitäten trat die Angst vor Europa und 81

Vgl. Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 58. Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 58. 83 Shirinian, The Background to the Late Ottoman Genocides, in: ders. (Hrsg.), Genocide in the Ottoman Empire, S. 19, 22 f. 84 Bericht des deutschen Botschafters von Bernstorff, Archiv des Auswärtigen Amts, PAAA/R 13200, A 8402, Anlage, zitiert nach Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 564. Siehe auch Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 60. 85 Eindrucksvoll auch die Parallele Werfels, der mit seinem Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ auch vor dem sich anbahnenden Holocaust warnen wollte und die Armenier zu diesem Zwecke als „Ersatzjuden“ nutzte, Kreutner, Deutsche Juden und der Völkermord an den Armeniern, Die Reaktion der deutschen Juden auf die Verfolgung der Armenier von 1896 bis 1939, in: Kieser/Plozza (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern, die Türkei und Europa, S. 133, 142. Siehe dazu auch Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 57; Ihrig, Justifying Genocide: Germany and the Armenians from Bismarck to Hitler, S. 1 ff. und 299 ff.; Schmidinger, Zum Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs, Hagalil Context XXI 5 – 6/2005, abrufbar unter http://www.hagalil.com/archiv/contextxxi/armenier. htm, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.15 Uhr. Krit. Schaller, „La question arménienne n’existe plus“, Der Völkermord an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs und seine Darstellung in der Historiopraphie, in: Fritz Bauer Institut/Wojak/Meinl (Hrsg.), Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 99, 112. Beachte aber auch zu den deutlichen Unterschieden zwischen beiden Bevölkerungsgruppen Melson, Revolution and Genocide, On the Origins of the Armenian Genocide and the Holocaust, S. 247 ff. 86 Details zu den einzelnen Massakern finden sich bspw. in den in Hosfeld, Tod in der Wüste zusammengetragenen Berichte, S. 28 ff. 87 Ursache dafür war der zweite Staatsbankrott des Osmanischen Reichs, Nienhaus, Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung: Islamische Tradition als Ursache wirtschaftlicher Unterentwicklung?, in: Paraskewopoulos (Hrsg.), Wirtschaftsordnung und wirt82

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Russland.88 Der europäische Einfluss löste eine allgemeine Sorge vor einer Machtübernahme durch die Christen aus.89 Aufgrund ihrer hohen Bildung, ausgeprägten Kultur und den typischerweise von Armeniern besetzten Berufen werden die Armenier im Osmanischen Reich sehr häufig nicht nur mit den Juden in Europa im Allgemeinen, sondern speziell auch vor dem Zweiten Weltkrieg verglichen.90 Der zunehmende Antisemitismus in Europa fand sein Gegenstück im Osmanischen Reich im Antiarmenischen. Die in Europa gängigen Verschwörungstheorien über das Welt- und Finanzjudentum kursierten in gleicher Form über die Armenier im Osmanischen Reich.91 Dadurch kam es in den Jahren 1894/95 zu zahlreichen Massakern gegen die armenische Bevölkerung. Besondere Erwähnung findet häufig das letzte Massaker des Jahres 1895 in Urfa, bei dem schätzungsweise 10.000 Menschen getötet wurden. Nach Berichten Lepsius’ sei in Urfa das erste Mal aus Zwecken der Unterhaltsamkeit mit besonders grausamen Methoden getötet worden.92 bb) Machtergreifung durch die Jungtürken Hauptverantwortliche für den Völkermord an den Armeniern waren die sogenannten Jungtürken, die im Jahr 1908 nach einer Revolution93 die Macht im Osmanischen Reich ergriffen. Diese muslimische Oppositionsbewegung war schon 1889 gegründet worden94 und verfolgte im Wesentlichen das Ziel, eine Osmanische schaftliche Entwicklung, S. 361, 366; ausführlich auch Gencer, Bildungspolitik, Modernisierung und kulturelle Interaktion, Deutsch-türkische Beziehungen, S. 238 ff. Vgl. auch Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 36; Schmidinger, Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches, Fn. 1, Hagalil Context XXI 5 – 6/2005, abrufbar unter http://www.hagalil.com/ archiv/contextxxi/armenier.htm, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.15 Uhr; Shirinian, The Background to the Late Ottoman Genocides, in: ders., Genocide in the Ottoman Empire, 19, 31 f. 88 Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 51, 53 f. 89 Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 36; Kieser, Nearest East, S. 51; Lewis, The Emergence of Modern Turkey, S. 342. 90 Siehe dazu auch oben 2. Teil A. III. 1. b). Schmidinger, Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches, Hagalil Context XXI 5 – 6/2005, abrufbar unter http://www.hagalil.com/archiv/contextxxi/armenier.htm, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.15 Uhr. 91 Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 37 f.; Kieser, Nearest East, S. 51; Schmidinger, Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches, Hagalil Context XXI 5 – 6/2005, abrufbar unter http://www.hagalil.com/archiv/contextxxi/armenier.htm, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.15 Uhr. 92 Lepsius, Armenien und Europa, S. 24. 93 Zum detaillierten Ablauf der Revolution siehe Dadrian, The History of the Armenian Genocide: Ethnic Conflict from the Balkans to Anatolia to the Caucasus, S. 179 ff. und Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 52 ff. 94 Bassa, Der Völkermord an den Armeniern, S. 27; Shirinian, The Background to the Late Ottoman Genocides, in: ders. (Hrsg.), Genocide in the Ottoman Empire, S. 19, 38.

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Verfassung einzuführen und die Einhaltung dieser Verfassung als von der Regierung unabhängiges Komitee zu überwachen.95 Es bildete sich eine Partei namens Ittihad ve Terakki – Einheit und Fortschritt, aus der auch das Zentralkomitee für Einheit und Fortschritt hervorging, welches später zum Hauptverantwortlichen für den Aghet werden sollte. Das Komitee wurde von Talaat96 Pascha97, Mehmet Nazim und Bahaeddin Schakir Bey gegründet. Gemeinsam mit den späteren Regierungsmitgliedern des Osmanischen Reiches Enver Pascha98 und Cemal Pascha99 waren sie die Hauptangeklagten der Kriegsprozesse 1919. Die von den Jungtürken angestrebte Verfassung ging auf das Tanzimat, einer von Reformen geprägten Zeit des Umbruchs zwischen 1839 und 1876, zurück.100 Ursprünglich sollte die despotische Herrschaft des Sultans durch ein parlamentarischkonstitutionelles Regierungssystem abgelöst werden, in dem auch christliche Minderheiten mit Rechten ausgestattet werden sollten.101 Elementarer Bestandteil dieser Reformen war die Einführung einer Verfassung, die unter anderem Gleichheit und Religionsfreiheit aller Staatsbürger des Osmanischen Reiches vorsah. Die Machtergreifung der Jungtürken versprach daher zunächst eine Besserung der Lage der Armenier im Osmanischen Reich.102 Die Jungtürken hegten jedoch die Idee eines türkischen Zentralstaates. Die Umsetzung dieser Idee ging mit einem ausgeprägten Nationalismus einher. Der sogenannte Türkismus sah eine Art Säuberung des Os-

95 So jedenfalls wohl die öffentliche Zweckbestimmung des Komitees, Dadrian, The History of the Armenian Genocide, S. 30. 96 Auch Talât. 97 Talaat Pascha war Anführer der Jungtürken, Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reiches und gab unter anderem die Befehle zur Verhaftung der armenischen Intellektuellen am 24. April 1915, sowie zur Enteignung und Deportation der Armenier im Mai 1915. Seine Bedeutung für den Aghet illustriert der Bericht des Botschafters Wolff-Metternich, PA-AA/R 14089, A 36184 zitiert nach Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 394: „Die Seele der Armenierverfolgung ist Talaat Bey.“ 98 Kriegsminister des Osmanischen Reiches, schloss das Kriegsbündnis mit dem deutschen Kaiserreich und führte das Osmanische Reich 1914 in den Ersten Weltkrieg, ausführlich dazu Kramer/Reinkowski, Die Türkei und Europa, S. 85 ff. Enver ist nicht nur als Namensgeber für die Zigarettenmarke Enver Bey bekannt, sondern insbesondere, weil er bis zu seinem Tod als ernsthafte Alternative zu Mustafa Kemal (Atatürk) galt, ausführlich zum Verhältnis Envers zu Kemal Gülbeyaz, Mustafa Kemal Atatürk, S. 36 ff. 99 Marineminister des Osmanischen Reiches, Hosfeld, Operation Nemesis, S. 304. 100 Ausführlich Shirinian, The Background to the Late Ottoman Genocides, in: ders. (Hrsg.), Genocide in the Ottoman Empire, S. 19, 27 f. 101 Umfassend zur (Vor-)Geschichte der jungtürkischen Revolution Hanioglu, The Young Turks in Opposition; Turfan, The Young Turks: Politics, The military and Ottoman Collapse. 102 Siehe dazu auch Kieser, Nearest East, S. 47 ff. Hesemann schreibt zum 3. August 1908, den Tag der Machtübernahme durch die Jungtürken: „Am Abend des 3. August 1908 hatte fast jeder in Smyrna (heute: Izmir) die Gräueltaten vor zwölf Jahren vergessen. Es war ein Tag der Freude […]“, Völkermord an den Armeniern, S. 110 f.

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2. Teil: Die Causa Aghet

manischen Reiches von allem Nichttürkischen vor.103 An die Stelle des Vielvölkerstaates, den das Osmanische Reich seit jeher bildete, sollte ein Nationalstaat treten, dessen Führung und Identität rein türkisch sein sollte. Die Idee eines Nationalstaats im türkischen Sinne lebte insbesondere vom Ausschluss jeglicher Diversität.104 Eine Sprache, eine Kultur und eine Religion waren die zwingenden Merkmale der echten türkischen Nation.105 Minderheiten – insbesondere christliche Minderheiten – hatten somit noch größere Diskriminierungen zu erwarten, als die, denen sie ohnehin schon ausgesetzt waren. Da der Islam prägender Teil der türkischen Kultur geworden war, gab es für Nichtmuslime im Wesentlichen zwei Optionen: Emigration oder Assimilierung. Die Situation verschärfte sich im Laufe des Ersten Weltkrieges. Größtenteils kämpfte die armenische Zivilbevölkerung an der Seite des Osmanischen Reiches. Der russisch-türkische Konflikt im Kaukasus weckte jedoch in den dort ansässigen Armeniern die Hoffnung auf einen unabhängigen Staat, weshalb einige nationalistische armenische Splittergruppen an der Seite Russlands für die Entente kämpften.106 Dies nahmen die Jungtürken zum Anlass, der gesamten armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich eine Kollaboration mit Russland vorzuwerfen.107 Dies erklärt die Argumentation der Türkei, man habe sich gegen diese feindliche Kollaboration verteidigt und es sei zu Kollateralschäden durch die Kriegswirren gekommen, nicht jedoch zu einem Völkermord.108 2. Der Völkermord an den Armeniern im engeren Sinne Der 24. April 1915 markiert den Beginn des Völkermords an den Armeniern im engeren Sinne. Mit der Verhaftung der armenischen Führungsriege in Konstantinopel an diesem Tag ging auch der Beginn der Deportationen der Armenier nach Syrien und Mesopotamien einher.109 Die Verhaftungen der armenischen Intelligenz110 wurden 103

Akçam, The Young Turks’ Crime Against Humanity: The Armenian Genocide and Ethnic Cleansing in the Ottoman Empire, S. 29; Chuter, War crimes, S. 36; du Preez, Genocide, S. 22; Shirinian, The Background to the Late Ottoman Genocides, in: ders. (Hrsg.), Genocide in the Ottoman Empire, S. 19, 38 ff. 104 Chuter, War crimes, S. 36; Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 121. 105 du Preez, Genocide, S. 22. 106 Albrecht, Völkermord(en), S. 35. 107 Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 52 f. In Gusts Darstellung handelt es sich um Teile einer größeren Verschwörungstheorie. Den Glauben der Türken an eine Verschwörungstheorie nimmt auch Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 37, an. 108 Siehe dazu auch oben 2. Teil A. II. 2. 109 Albrecht, Völkermord(en), S. 35; Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 180 f. Zu den einzelnen Etappen und den Beschwerlichkeiten auf den sog. Todesmärschen siehe ebenda, S. 196 ff. 110 Siehe dazu ausführlich Balakian, Oxford Journals, Holocaust and Genocide Studies 27, no. 1, 57, 63 ff.

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mit einem Aufstand der Armenier in Van begründet, bei dem zwischen 120.000 und 180.000 Türken von Armeniern umgebracht worden sein sollen,111 wobei nach anderen Angaben nicht annähernd so viele Türken dort gelebt haben sollen.112 Der Völkermord an den Armeniern nahm etwa ein Jahr in Anspruch und forderte Millionen Opfer. Die geplante Vernichtung der Existenz des armenischen Volkes wurde auf mehreren Ebenen umgesetzt. Nachdem durch Edikt vom 16. Mai 1915 die Enteignung der Armenier angeordnet worden war, wurde am 27. Mai 1915 ein Deportationsgesetz erlassen, das die Zwangsumsiedlung der Armenier, die Errichtung von Konzentrationslagern und die Durchführung von Massakern vorsah.113 Das festgelegte Verschickungsziel war – wörtlich – das Nichts.114 In der Kaukasusregion des Osmanischen Reichs lebten zu diesem Zeitpunkt insgesamt etwa zwei Millionen Armenier, die von dem Deportationsgesetz betroffen waren.115 Insbesondere anhand des Berichts Lepsius’ über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei lassen sich der detaillierte Verlauf, die Routen und die einzelnen Gräueltaten nachvollziehen.116 Danach sollen eineinhalb Millionen von ihnen auf diesen Todesmärschen, aber auch durch zahlreiche Massaker und Zwangsarbeit ihr Leben gelassen haben, davon 1,1 Millionen im ersten Jahr.117 Teilweise wurden Mädchen und Frauen in Harems verschleppt oder als

111 Bericht über eine Enver bekannte „Veschwörung“ bei Humanns, Archiv des Auswärtigen Amtes, PA-AA/BoKon/170, A 53a, zitiert nach Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 234 f. Ausführlich zum genauen Ablauf auch Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 170 f. 112 Laut Bericht aus den Archiven der päpstlichen Kongregation für die Evangelisierung der Völker lebten in Van im Jahr 1914 nur 25.000 Muslime, A.C.O., Armeni des Patriarcato 1891 – 1926, rbr. 105, 3, Nr. 37804, zitiert nach Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 171. Eine ausführliche Zusammenfassung des Akteninhalts des Archivs des Auswärtigen Amtes ist zu finden bei Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 23 ff. in seiner Einleitung zur Arbeit mit den von ihm zusammengestellten Dokumenten aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes. 113 Bericht des italienischen Generalskonsuls in Trapezunt, Giacomo Guerrini, A.S. V., Segr. Sato, Guerra (1914 – 1918), rubr. 244, fasc. 110, S. 165 f., zitiert nach Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 211 f. Beachte dort auch die Korrektur des Datums durch Hesemann vom 23. Juni 1915 auf den 27. Mai 1915. Schmidinger, Zum Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs, Hagalil Context XXI 5 – 6/2005, abrufbar unter http://www.hagalil.com/archiv/contextxxi/armenier.htm, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.15 Uhr. 114 Erlass Talaats zitiert nach Lehmann-Haupt, Armenien einst und jetzt, S. 18 Anm. 8. 115 Albrecht, Völkermord(en), S. 35; Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 196 ff.; Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 8. 116 Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, passim. 117 Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 12. Durch die verschiedenen Betrachtungsweisen bezüglich der konkreten Zusammenhänge und Ereignisse existieren jedoch zahlreiche Schätzungen, die von 300.000 bis eineinhalb Millionen Todesopfern reichen. Siehe zu den divergierenden Zahlen auch oben 2. Teil A. II. 2.

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Kebsfrauen gehalten.118 Kinder, die jung genug waren, um sich nicht mehr an ihre Herkunft zu erinnern, wurden in türkische Haushalte oder Unterbringungen überführt, und wuchsen dort als Türken auf.119 Die übrigen Armenierinnen und Armenier erlagen häufig auf den langen Todesmärschen in Richtung der syrischen Wüste ihrem Schicksal.120 Ziel war in der Regel Aleppo, das auch heute im Zusammenhang mit dem Syrienkrieg wieder zum Gegenstand der Zeitgeschichte geworden ist. Wer den Weg überlebt hatte, wurde in der Regel später getötet.121 So kam es beispielsweise im August 1916 bei Deir al-Sor, ebenfalls im heutigen Syrien, zu einem Massaker, bei dem die restlichen Überlebenden der Todesmärsche getötet wurden. Alle Pogrome gegen die Armenier fanden laut Historikern in Absprache mit den Behörden statt.122 Nach den Berichten der Zeitzeugen waren auch die Methoden, mit denen man der armenischen Bevölkerung im Einzelnen begegnete, äußerst grausam. Berichte von Stockschlägen auf die Fußsohlen, Ausreißen von Wimpern, Barthaaren, Fingernägeln und Zähnen123 finden sich ebenso wie ausführliche Beschreibungen der verschiedenen Tötungsmethoden.124 Auch gibt es Berichte über das Pfählen, das Verschließen aller Körperöffnungen mit Zement, sodass die betroffene Person an ihren eigenen Ausscheidungen starb, oder das Zusammenbinden einer Gruppe von Armenierinnen und Armeniern, um dann in das entstandene Menschenbündel zu schießen oder es von einer Klippe zu werfen,125 sowie darüber, dass Menschen zusammengetrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden.126 118

Bericht des österreichischen Paters Norbert Hofer an den Heiligen Stuhl, A.S. V., Segr. Sato, Guerra (1914 – 1918), rubr. 244, fasc. 110, S. 245 f., zitiert nach Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 212 f. Augenzeugenbericht in Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, S. 12 f. 119 Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 25; Tamcke, Koexistenz und Konfrontation, S. 235; Jacob; Minderheitenrecht in der Türkei, S. 106. Ausführlich zu den zum Islam konvertierten Überlebenden des Aghet auch Singer/Neumann/Somel, Untold Histories of the Middle East, S. 1 ff. Zu den Folgen für die armenische Diaspora heute siehe oben 2. Teil A. I. 2. 120 Bericht des österreichischen Paters Norbert Hofer an den Heiligen Stuhl, A.S. V., Segr. Sato, Guerra (1914 – 1918), rubr. 244, fasc. 110, S. 245 f., zitiert nach Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 212 f. 121 Schmidinger, Zum Genozid an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs, Hagalil Context XXI 5 – 6/2005, abrufbar unter http://www.hagalil.com/archiv/contextxxi/arme nier.htm, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 15.15 Uhr. 122 Koutcharian, Der Siedlungsraum der Armenier unter dem Einfluss der historisch-politischen Ereignisse seit dem Berliner Kongress 1878. Eine politisch-geographische Analyse und Dokumentation. (= Abhandlungen des geographischen Instituts, Anthropogeographie, Band 43) Berlin 1989, S. 102. 123 Bspw. Johansson, Eigenhändiger Bericht über die Massaker in Armenien 1915, Archiv des Auswärtigen Amtes, PA-AA/R 14089; A 22915, Anlage 1, zitiert nach Gust, Der Völkermord an den Armeniern, S. 372 ff. 124 Bspw. Berichte der Krankenschwestern des Roten Kreuzes Wedel und Elvers, Archiv des Auswärtigen Amtes, PA-AA/R 14093, A 24663, Anlage 2; zitiert nach Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 488 ff. 125 Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, S. 14.

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Berichten zufolge war auch das Kruzifix Symbol während des Aghet127 und neben Kreuzigungen wurden kleine, spitze Kruzifixe zum Pfählen und zur Vergewaltigung von Frauen eingesetzt.128 Ebenso wurden viele Tötungen und Vergewaltigung in oder vor armenischen Kirchen vorgenommen129 und die meisten der Kirchen zerstört. Die wenigen von ursprünglich 2.538 armenische Kirchen auf dem Gebiet des Osmanischen Reiches, zudem aber auch 1.996 Schulen und 451 Klöstern übriggebliebenen Kirchen wurden zu Moscheen umgewandelt.130 Die Zerstörung der armenischen Kulturgüter bildete einen elementaren und besonders nachhaltigen Bestandteil der Säuberungen. Insbesondere die Kirchen sind in der armenischen Kultur Zentrum des gesellschaftlichen kulturellen Lebens. Sie waren Aufbewahrungsorte für alle Arten von armenischen Artefakten: Gold, Silber, Bücher, Wandteppiche, Gebetsteppiche, Ikonen – allerlei Schätze verwahrte das armenische Volk in seinen Kirchen. Diese, einmal zerstört, können nicht durch eine nachfolgende Generation ersetzt werden und sind – anders als beispielsweise der christliche Glaube oder politische Ideen – für immer verloren.131 Es ist gerade dieser Einfluss auf die armenischen Kulturgüter, der von rechtshistorischer Bedeutung ist. Nach dem Verständnis Raphael Lemkins, dem Schöpfer des Begriffs und Tatbestands des Völkermords, kann ein kultureller Völkermord durch die Zerstörung auf der geistlichen oder intellektuellen Führungsebene eines Volkes begangen werden, da diesem dadurch die Weitergabe einer Kultur durch sowohl religiöse als auch intellektuelle Überlieferungen nahezu unmöglich gemacht wird.132 Die Zerstörung der Gebäude und ihres Inhalts und damit auch des Gruppenlebens war ein Element des Auslöschens einer kollektiven Identität, die Lemkin später als wesentliches Merkmal eines Genozids in seinen Tatbestand einbetten sollte.133

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Statt aller Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, S. 172 Balakian spricht diesbezüglich sogar von einer „Obsession der Türken“, Balakian, Oxford Journals, Holocaust and Genocide Studies 27, No. 1, 57, 68. Vgl. zur Bewertung der Symbolik des Kreuzes durch das Bundesverfassungsgericht BVerfG, Urteil vom 16. Mai 1995, 1 BvR 1087/91, BVerfGE 93, 1; zum Unterschied zwischen christlicher Symbolik als Kulturgut und Religionszeichen Waldhoff, Neue Religionskonflikte und staatliche Neutralität, Gutachten zum 68. Deutschen Juristentag, D 1, D 122 ff. m.w.N. 128 Mardiganian, Ravished Armenia and the Story of Aurora Mardiganian, S. 6. 129 Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, S. 126. 130 Vgl. Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, S. 262. 131 Cribb, Genocide in the Non-Western World: Implications for Holocaust Studies, in: Jensen (Hrsg.), Genocide: Cases, Comparisons and Contemporary Debates, S. 123, 132. 132 Lemkin, Genocide as a Crime under International Law, S. 1. Siehe dazu auch unten 2. Teil A. VI. 2. 133 Siehe zur juristischen Umsetzung dieser Vorstellung unten 2. Teil A. VI. 2. 127

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3. Aghet – Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts in Europa Der Aghet wird häufig als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts bezeichnet.134 Kritisch kann dieser Wertung der Völkermord an den Herero in den Jahren 1904 bis 1908 entgegengehalten werden.135 Auch dieser Völkermord leidet an der fehlenden Anerkennung durch die Bundesrepublik Deutschland.136 Richtigerweise sollte mit Blick auf den Völkermord an den Herero im Zusammenhang mit dem Völkermord am armenischen Volk vom ersten Genozid des 20. Jahrhunderts auf europäischem Boden gesprochen werden.

IV. Deutsche Bezüge zum Völkermord an den Armeniern Der Völkermord an den Armeniern ist ein wiederkehrendes Thema in deutschen Parlamenten. Die rechtspolitische Auseinandersetzung mit dem Thema erscheint auf den ersten Blick sehr umfangreich. Der Völkermord an den Armeniern ist jedoch aus mehreren Gründen auch eine deutsche Angelegenheit.

134 So bspw. Albrecht, Armenozid – Der historische „Armeniermord“ als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts; Kuyumciyan, The First Genocide of the 20th Century: The Return of the Armenian Memory, 2012; Lanne, Armenien: Der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts, 1977; Nazer, The first Genocide of the 20th Century: The Story of the Armenian Massacres in Text and Pictures, 1968; Meißner, Martin Rades „Christliche Welt“ und Armenien, S. 210 m.w.N. 135 Umfassend zum Völkermord an den Herero Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages, Der Aufstand der Volksgruppen der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (1904 – 1908), Völkerrechtliche Implikationen und haftungsrechtliche Konsequenzen, WD 2 – 3000 – 112/16. 136 2016 hat die Bundesregierung die Ereignisse im heutigen Namibia allerdings in einer Antwort auf eine parlamentarische Frage der Fraktion DIE LINKE als Völkermord bezeichnet, BT-Drs. 18/9152. Siehe zur Geschichte des Völkermords an den Herero, aber insbesondere zu seiner Erinnerungs- und Anerkennungsgeschichte bis 2016 Gentner, der Genozid an den Herero, Eine Herausforderung für kultursensiblen Geschichtsunterricht, Geschichte für heute 2017, S. 26 ff.; Kößler/Melber, Völkermord und Gedenken, Der Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika 1904 – 1908, in: Fritz Bauer Institut/Wojak/Meinl (Hrsg.), Völkermord und Kriegsverbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, S. 37 ff. Siehe zu den Konsequenzen der Causa Aghet für die Anerkennung des Völkermords an den Herero 4. Teil D.

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1. Hitlers Funktionalisierung des Aghet Am 22. August 1939 begründete Adolf Hitler in einer Rede auf dem Obersalzberg seine Furchtlosigkeit vor Sanktionen im Zuge des Angriffs auf Polen mit der Ungesühntheit der Verbrechen an den Armeniern im Ersten Weltkrieg.137 „Unsere Stärke ist unsere Schnelligkeit und unsere Brutalität. Dschingis Khan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt, bewußt und fröhlichen Herzens. Die Geschichte sieht in ihm nur den großen Staatengründer. Was die schwache westeuropäische Zivilisation über mich behauptet, ist gleichgültig. Ich habe den Befehl gegeben – und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert – daß das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“138

Admiral Wilhelm Canaris hatte eine Mitschrift der Ansprache angefertigt und diese über die Presse der britischen Botschaft in Berlin zukommen lassen.139 Der Wortlaut der Rede ist zwar unter Historikern umstritten, wird jedoch überwiegend für glaubhaft gehalten.140 Der Rechtfertigungsperversion Hitlers steht rechtshistorisch die Entwicklung des Völkermordstraftatbestands durch Lemkin diametral entgegen.141 Beide Elemente verdeutlichen die historische Bedeutung des Aghet nicht nur als Einzelereignis, sondern als Proto-Völkermord im 20. Jahrhundert.142 137

Albrecht, Völkermord(en), S. 41; Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 15; vgl. auch Barth, Genozid, S. 77. Eine ausführliche Darstellung des Geheimtreffens auf dem Obersalzberg findet sich bei Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 16 ff. Der Anfang der Ansprache ist abrufbar unter http://www.ns-archiv.de/krieg/1939/22-08-1939.php, letzter Abruf 3. Dezember, 10.30 Uhr. 138 Zitiert nach Albrecht, „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Adolf Hitlers zweite Rede vor den Oberkommandierenden auf dem Obersalzberg am 22. August 1939, S. 4. 139 Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 17 f. 140 Für eine unwahre Darstellung Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, Eine quellenkritische Untersuchung, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Jg. 16 (1968), Heft 2, 120. Siehe auch Boehm/Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Jg. 19 (1971), Heft 3, 294. Boehm bezweifelte allerdings auch die nachgewiesene Anwesenheit Canaris’, Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 18. Für die Glaubhaftigkeit aber Albrecht, „Wer redet denn heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ Adolf Hitlers zweite Rede vor den Oberkommandierenden auf dem Obersalzberg am 22. August 1939, passim; ebenso Balakian, Dankesrede zur Verleihung des Raphael-Lemkin-Preises für sein Werk The Burning Tigris: The Armenian Genocide and America’s Response, 2005 (Der Raphael-LemkinPreis wird zweijährlich für die beste wissenschaftliche Monographie zu den Themen Völkermord und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit verliehen, Preisträgerin im Jahr 2003 Power für A Problem from Hell: America in the Age of Genocide, für das Power 2003 auch den Pulitzerpreis gewann.). Siehe zum Meinungsstand auch Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 16 ff. 141 Dazu siehe ausführlich unten 2. Teil A. VI. 2.

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2. Deutsches Kaiserreich und Osmanisches Reich gegen die Triple Entente Die Vielzahl deutschsprachiger Dokumente und die intensive Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern seitens der Bundesrepublik Deutschland hat ihren Ursprung in der deutschen Mitverantwortung am Völkermord an den Armeniern. Das Deutsche Kaiserreich war durch den deutsch-türkischen Bündnisvertrag vom 2. August 1914 Hauptverbündeter des Osmanischen Reiches gegen die Triple Entente des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Russlands. Seine Führung war von Anfang an über die Verfolgungen, Deportation und Ermordung der Armenier informiert.143 Auch deutsche Offiziere beteiligten sich am Aghet. Zahlreiche historische Quellen belegen, dass das deutsche Kaiserreich beteiligt war.144 Das türkische Militär war auch mit Deutschen besetzt. Aufgrund des Bündnisses zwischen dem deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich wurden türkische Offiziere von deutschen Offizieren ausgebildet. Die Leitung des Generalstabs und den Kommandanten der Armee stellten immer jeweils ein Deutscher und ein Türke.145 Bestrebungen, das Schicksal der Armenier durch ein Einschreiten der Deutschen zu wenden, wurden sowohl von deutscher als auch türkischer Seite abgewehrt. Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg fand deutliche Worte für die Situation: „Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht.“

Er zog den deutschen Botschafter Paul Graf Wolff Metternich von seinem Posten ab, nachdem dieser wiederholt versucht hatte, die deutsche Öffentlichkeit über den gerade stattfindenden Völkermord aufzuklären und die osmanische Regierung zur Einstellung der Deportationen und einer Abkehr von ihrer Armenierpolitik zu bewegen.146 Die türkische Regierung behandelte die Maßnahmen gegen die Armenier als innertürkische Angelegenheiten, in die sich andere Staaten nicht einmischen

142 Drastisch Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 19, der den Aghet als „Vorbild“ für die Völkermorde der Hutu an den Tutsi in Burundi (1972) oder der Tutsi an den Hutu in Ruanda (1994), aber auch der Christenvertreibungen im Irak und der Fortführung durch den IS betrachtet. 143 BT-Drs. 15/4933, S. 2. 144 Ausführliche Darstellungen der deutschen Rolle am Aghet finden sich in Dadrian, German Responsibility in the Armenian Genocide; Dinkel, German Officers and the Armenien Genocide, Armenian Review, 44 (1991), 77; Gottschlich, Das deutsche Kaiserreich und der Völkermord an den Armeniern. Aufschlussreich auch an dieser Stelle die Aktensammlung aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, passim. 145 Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 87. 146 Gottschlich, Das deutsche Kaiserreich und der Völkermord an den Armeniern, S. 213 ff.

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dürften.147 Das Deutsche Kaiserreich stimmte dem in einem Memorandum auch zu.148 Die enge Verknüpfung von Deutschem und Osmanischem Reich zeigt sich auch darin, dass die zahllosen historischen Quellen wesentlich von Deutschen in deutscher Sprache verfasst wurden.149 3. Deutsche Wirtschaft und der Aghet Deutsche Unternehmen, die im Osmanischen Reich tätig waren, profitierten wirtschaftlich vom Völkermord an den Armeniern. Einesteils nutze man durch die Zerstörungen und Plünderungen frei gewordene Rohstoffe. Anderenteils wurde auch die Arbeitsleistung der armenischen Bevölkerung in Form von Zwangsarbeit zum deutschen Nutzen verwendet.150 Besonders unrühmlich ist die Rolle des deutschen Kaiserreiches im Zusammenhang mit einem in großen Teilen durch die Deutsche Bank und die Philipp Holzmann AG finanzierten Großprojekts: Dem Bau der Bagdadbahn.151 Diese verläuft von Konya nach Bagdad und gilt als Glanzstück des Ingenieurwesens und eines der arbeitsintensivsten Infrastrukturprojekte seiner Zeit. Ein Großteil des immensen Arbeitsaufwandes wurde durch armenische Zwangsarbeiter geleistet, von denen viele schon während der Arbeit am Projekt Bagdadbahn an Hunger, den klimatischen Bedingungen und Erschöpfung starben.152 Groteskerweise sollen die Überlebenden der Zwangsarbeit mit Hilfe selbiger Bahn deportiert worden sein.153 4. Flucht der Hauptverantwortlichen nach Deutschland Nach der Kapitulation des Osmanischen Reichs am 31. Oktober 1918 flohen die Hauptverantwortlichen für die Ereignisse Talaat, Enver und Cemal mit Hilfe von Kapitänleutnant Hermann Balzer über die Sommerresidenz der deutschen Botschaft in Therapia (Istanbul) auf die Krim, von wo aus sie nach Berlin weiterreisen sollten. Die Flucht wurde vom deutschen Kaiserreich, das erst am 11. November 1918 ka147

Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 82. Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16, S. 456. 149 Vgl. die umfangreiche Berichterstattung von Johannes Lepsius; sowie Der Botschafter in Konstantinopel an das Auswärtige Amt, in: Gust, Der Völkermord an den Armeniern, S. 154; Der Konsul in Aleppo an den Reichskanzler, 12. April 1915, in: ebenda, S. 129 f. 150 Siehe statt aller Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, S. 140 ff. 151 Zur wirtschaftlichen Bedeutung der Bagdadbahn im Einzelnen siehe Müller, Die wirtschaftliche Bedeutung der Bagdadbahn, passim. 152 Hovannisian, The Armenian Genocide in Perspective, S. 102 ff. Siehe zu den Arbeitsbedingungen im Einzelnen auch Bericht eines deutschen Beamten von der Bagdadbahn, in: Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei, S. 140 ff. 153 BT-Drs. 18/3533, S. 1 f. 148

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pitulierte, organisiert und durchgeführt.154 Die von den Briten angestrebte Strafverfolgung scheiterte deshalb;155 Talaat und Enver konnten nur noch in Abwesenheit zum Tode verurteilt werden. Die Urteile wurden nicht vollstreckt.156

V. Entwicklungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – Die Bedeutung des Völkermords an den Armeniern für Recht und Rechtswissenschaft Nach dem Ende des ersten Weltkrieges sollten die Kriegsverbrechen, die im Osmanischen Reich an der armenischen Bevölkerung begangen worden waren, vor Kriegstribunalen geahndet werden. Verschiedene Ereignisse verhinderten dies jedoch. Dass die Täter nie zur Verantwortung gezogen wurden, ist aus Perspektive einer strafhistorischen Aufarbeitung unbefriedigend und damit symptomatisch für die Anerkennungsschwebelage, die den Diskurs über den Völkermord am armenischen Volk in den vergangenen einhundert Jahren gekennzeichnet hat. Zudem hat der Abbruch der Tribunale eine Kette von Umständen ausgelöst, die in die Kodifikation des Völkermordes mündeten. 1. Vertrag von Sèvres Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, aus dem das Osmanische Reich als Verlierernation hervorging, wurde Armenien durch den Vertrag von Sèvres157 wieder unabhängig.158 Allerdings blieb das Staatsgebiet sehr klein; Ostanatolien – das ursprüngliche Siedlungsgebiet der Armenier – verblieb der sich bildenden heutigen Türkei. Die Grenzen des von den Armeniern geforderten Staates wurden unabhängig von ethnischen Bevölkerungsverteilungen bestimmt.159 Durch den Vertrag von Sèvres hatte sich das Osmanische Reich in den Art. 226 bis 230 des Vertrages auch dazu verpflichtet, die Kriegsverbrechen, die während des Ersten Weltkriegs begangen wurden, durch eigens dafür eingerichteten Militärgerichte zu ahnden.160 154 Gottschlich, Das deutsche Kaiserreich und der Völkermord an den Armeniern, S. 257 f.; Hesemann, Völkermord an den Armeniern, S. 303 f.; Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 222 f. 155 BT-Drs. 18/3533, S. 2. 156 Dazu siehe unten 2. Teil A. V. 3. 157 Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920, Originaltext abgedruckt in: Carnegie Endowment for International Peace (Hrsg.), Treaties of Peace 1919 – 1923, Vol. II, S. 789 ff. 158 Siehe ausführlich zum Vertrag von Sèvres Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, Eine völkerrechtliche Untersuchung zur Beendigung des Ersten Weltkrieges und zur Auflösung der sogenannten „Orientalischen Frage“ durch die Friedensverträge zwischen den alliierten Mächten und der Türkei, passim. 159 Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 88 f. Siehe zur Planung des Gebiets im Einzelnen und zu den planerischen Fehlleistungen der Alliierten ebenda. 160 Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 301 f.

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Aufgrund des Machtwechsels durch die Nationalbewegung unter Mustafa Kemal und der Auflösung des Parlaments wurde der Vertrag jedoch nie ratifiziert.161 Zwar hatte man auch nationale Militärgerichte bestellt162, diese wurden jedoch nachträglich verboten, sodass es auch national nie zu einer Verurteilung der Verantwortlichen für den Völkermord an den Armeniern kam. 2. Vertrag von Lausanne Im Vertrag von Lausanne163 wurden die meisten der Zugeständnisse, die das Osmanische Reich machen musste, wieder rückgängig gemacht. Die wohl bekannteste und historisch am stärksten einschneidende Regelung des Vertrages war die Umsiedlung der christlichen Türken nach Griechenland und der muslimischen Griechen in die Türkei. Dies betraf etwa zwei Millionen Menschen.164 Darüber hinaus entfiel jedoch die Pflicht, die Kriegsverbrechen anzuklagen, sodass es endgültig über die abgebrochenen Prozesse von 1920 hinaus zu keiner juristischen Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern kam. 3. Kriegstribunale Die Anklage der Alliierten gegen die Führungsriege des Osmanischen Reiches erfolgte vor Kriegsgerichten, da nur so eine Verantwortlichkeit der natürlichen Personen und nicht der Amtsträger möglich war. Hauptangeklagte des Hauptverfahrens waren Talaat, Enver, Cemal, Nazim und Schakir. Sie alle wurden neben zwölf weiteren Angeklagten zum Tode verurteilt; vollstreckt wurden jedoch nur drei der Todesurteile.165

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Zum Widerstand Kemals und seiner Anhänger gegen einen unabhängigen armenischen Staat siehe Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 153 ff. 162 Nach Kriegsende wurden in etwa siebzig Verfahren vor eigens dafür eingerichteten Sondergerichtshöfen gegen am Völkermord Beteiligte geführt, von denen zwanzig Todesurteile hervorbrachten. Jedoch wurden nur drei der Urteile vollstreckt, Guttstadt/Zarakolu, Die „Geschichtslücke“ – die Türkei und die Aufarbeitung des Völkermords, in: Guttstadt (Hrsg.), Wege ohne Heimkehr, S. 186, 187. 163 Friedensvertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923, Originaltext in: Carnegie Endowment for International Peace (Hrsg.), Treaties of Peace 1919 – 1923, Vol. II, S. 959 ff. 164 Ausführlich zum Griechisch-türkischen Abkommen über den sog. Bevölkerungsaustausch Banken, Die Verträge von Sèvres 1920 und Lausanne 1923, S. 539 ff. 165 Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 239.

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VI. Der Aghet und die Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Völkermorden der Vereinten Nationen 1. Talaats Tod und Prozess gegen Tehlirian Das Todesurteil gegen Talaat gehörte zu den Urteilen, die nicht vollstreckt wurden. Der Tod Talaats ist jedoch dennoch in die Geschichte eingegangen. Am 15. März 1921 erschoss der junge Armenier Soghomon Tehlirian ihn in der Hardenbergstraße Ecke Fasanenstraße in Berlin. Der Fall ist durch den Prozess gegen Tehlirian vor dem Moabiter Landgericht Teil der Berliner Rechtsgeschichte.166 Nach einem kurzen Prozess wurde Tehlirian von dem Geschworenengericht freigesprochen. Die zwölf Geschworenen nahmen eine Tat im Affekt an. Tehlirians gesamte Familie sei Opfer des Völkermords an den Armeniern geworden. Als er Talaat am 15. März 1921 auf der Hardenbergstraße sah, habe das gesamte erlebte Grauen sein Handeln bestimmt. Tehlirian schilderte die Einzelheiten des Völkermords an den Armeniern. Auch Lepsius sagte in diesem Prozess aus.167 Das Geschworenengericht wurde so überzeugt, Tehlirian freizusprechen. Das Gericht fällte seine Entscheidung nicht alleinig aufgrund einer Wortlautapplikation des Strafrechts, sondern berücksichtigte umfassend die Umstände und Motive, aus denen Tehlirian gehandelt hatte. Es säte darin den Grundgedanken, dass eine intra-staatliche Strafverfolgung nicht von vornherein an der staatlichen Souveränität scheitern müsse. Insofern überkam die Entscheidung eine wichtige Hürde für die spätere Konzeption der völkerrechtlichen Strafverfolgung.168 Auch die deutsche Regierung hatte außerdem ein Interesse an einem Freispruch. Laut Tehlirians Verteidiger Theodor Niemeyer stand die Verantwortung Deutschlands für den Aghet außer Frage.169 Ein Schuldspruch und ein langer Prozess und eine 166 Stenographischer Bericht über die Verhandlung vor dem Schwurgericht des Landgerichts III zu Berlin am 2. und 3. Juni 1921, Az. C.J. 22/21, in: Der Prozeß Talaat Pascha, Deutsche Verlagsgesellschaft für Politik und Geschichte, Berlin 1921 abgedruckt in und zitiert nach Fuchs/Lüdemann, Mördermord. 167 Peterson, Starving Armenians, America and the Armenian Genocide 1915 – 1930 and After, S. 120. Zur Rolle Lepsius’ siehe unten 2. Teil B. I. 2. 168 Kempner, Vor sechzig Jahren vor einem deutschen Schwurgericht: Der Völkermord an den Armeniern, Recht und Politik 1980, 167, 169. Dass Tehlirian auf Seiten Russlands gekämpft hatte und Teil einer Geheimorganisation – der Operation Nemesis – auf Rachefeldzug war, kam erst Jahrzehnte später ans Licht, Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 234 ff. Die Operation Nemesis – benannt nach der griechischen Rachegöttin Nemesis – war ein Sonderkommando der Partei Armenische Revolutionäre Föderation (auch bekannt als Daschnaken), die eigenmächtig den Völkermord an den Armeniern durch Ermordung der Verantwortlichen sühnen wollten, da diese zwar verurteilt, der Großteil der Urteile aber nicht vollstreckt wurde. Talaat war lediglich das erste von zahlreichen Opfern der Operation Nemesis, die die Verantwortlichen für den Aghet durch die ganze Welt verfolgte. Eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Operation Nemesis liefert Hosfeld, Operation Nemesis, passim. Siehe auch Gottschlich, Das deutsche Kaiserreich und der Völkermord an den Armeniern, S. 272 f.; Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 230 ff. 169 Kempner, Recht und Politik 1980, 167, 169.

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damit verbundene noch größere mediale Aufmerksamkeit um die Ermordung Talaats und ihre Hintergründe wollte die Regierung vermeiden. Die Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs soll ebenfalls zu einem kurzen und diskreten Prozess beigetragen haben.170 2. Ein neues Völkerstrafrecht für ein altes Verbrechen – Raphael Lemkins Genozidkonvention a) Aghet – Triebfeder für Lemkins Werk Die Geschichte Tehlirians ist rechtshistorisch auch deshalb von Bedeutung, weil sie prägend auf Raphael Lemkin, den späteren Schöpfer des Begriffs und Tatbestandes des Völkermordes, wirkte. Lemkin hatte von dem Gerichtsprozess gegen Tehlirian erfahren.171 Der Mord an Talaat Pascha war dem Umstand geschuldet, dass dieser, obgleich der türkische Gerichtshof die Todesstrafe gegen ihn verhängt hatte, dem Vollzug der Strafe entkommen konnte, indem er nach Berlin floh. Da die Strafverfolgung damals noch ausschließlich national möglich war, konnte Talaat Pascha in Deutschland nicht angeklagt und verurteilt werden. Auslieferungsgesuche wurden abgelehnt. Lemkin erkannte, dass Tehlirian nur die Wahl zwischen sühnelosem Vergessen und Selbstjustiz geblieben war. Damit war dem Einzelnen die strafrechtliche Sühne eines ganzen Volkes aufgebürdet, was Lemkin für falsch hielt. Grund dafür war nach der Erkenntnis Lemkins die nicht ausreichende straftatbestandliche und begriffliche Konzeption derartiger Ereignisse. Souveränität könne nicht als das Recht verstanden werden, Millionen Menschen umzubringen. Ebenso wenig sei es dann richtig, dass ein solches Verbrechen durch die Opfer ebendieses bestraft werde und nicht durch ein staatliches Gericht.172 Zweck der Souveränität einzelner Staaten könne es nicht sein, dass diese ungesühnt ganze Bevölkerungsteile vernichten können.173 Lemkin war mit diesen Umständen so unzufrieden, dass er sein Linguistikstudium an der Universität Lwiw (Lemberg) aufgab und zum Studienfach Rechtswissenschaft 170

I.d.S. etwa Soghomon Tehlirian und der Völkermord, Der Rächer von Armenien tötete in Berlin, Der Tagesspiegel vom 24. April 2017, abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/ weltspiegel/sonntag/soghomon-tehlirian-und-der-voelkermord-der-raecher-von-armenien-toete te-in-berlin/11653472.html, letzter Abruf 7. März 2018, 15.30 Uhr; LG Berlin, Urteile vom 2. und 3. Juni 1921, C. J. 22/21, Kaiser, Denying the Armenian Genocide: The German Connection, Journal of the Society of Armenian Studies 1999, 37, 52. 171 Bechky, Lemkin’s Situation: Toward a Rhetorical Understanding of Genocide, 77 Brooklyn Law Review, 551, 558 und 566. Zum Fall Tehlirian siehe oben 2. Teil A. VI. 1. 172 Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 236. 173 Lemkin, Totally Unofficial. The Flight. Unveröffentlichte autobiographische Fragmente, S. 18 f., zitiert nach Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 236 mit Anm. 73 zum 10. Kapitel. Siehe zum Zusammenhang von Souveränität und der Entscheidung Lepsius’, sich für die Armenier einzusetzen Aschke, Das menschenrechtliche Vermächtnis von Johannes Lepsius, in: Hosfeld (Hrsg.), Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme, S. 258, 265 ff.

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wechselte.174 Dass staatliche Souveränität Menschen, die ein ganzes Volk vernichten wollten, vor der Strafverfolgung schützen konnte, wollte Lemkin nicht hinnehmen.175 Schon vor dem Holocaust kämpfte Lemkin deshalb für einen Völkermordtatbestand. Er rechtfertigte dessen Notwendigkeit insbesondere auch aus der Machtergreifung durch Adolf Hitler, die er als eine Art Vorboten des Holocaust begriff.176 Tatsächlich war Lemkin selbst nach Hitlers Einmarsch in Polen 1939 zur Flucht gezwungen gewesen.177 Seine Eltern fielen beide dem Holocaust zum Opfer.178 Lemkins Zeit als Flüchtling führte ihn über Vilnius zunächst nach Stockholm, dann über Moskau in das japanische Tsuruga und schließlich im Jahr 1941 über Vancouver in die USA, wo er an der Duke University Völkerrecht unterrichten konnte.179 Seiner Ansicht nach hätten die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft mit einem bestehenden Straftatbestand des Völkermords strafrechtlich verfolgt und damit möglicherweise sogar unterbunden werden können.180 b) Dem Verbrechen einen Namen geben Lemkin prägte den Begriff Genozid, übersetzt ins Deutsche Völkermord.181 Er arbeitete in englischer Sprache und schuf den Begriff genocide182, der sich aus dem griechischen Wort c]mor (genos – Rasse, Stamm) und dem lateinischen Wort caedere (töten) zusammensetzt.183 Damit sollte nicht nur ein bekanntes Phänomen juristisch erfasst und pönalisiert werden. Einhergehen sollte auch ein neues Bewusstsein für den Unrechtsgehalt derartiger Vorgänge durch die Konzeption eines gänzlich neuen 174

Power, A Problem from Hell, S. 17. Power, A Problem from Hell, S. 19, die selbst aus Lemkin, Totally Unofficial: The Autobiography of Raphael Lemkin, Kap. 1, der (unveröffentlichten) Autobiographie von Lemkin zitiert. 176 Bechky, Lemkin’s Situation: Toward a Rhetorical Understanding of Genocide, 77 Brooklyn Law Review, 551, 558. 177 Power, A Problem from Hell, S. 23; Tams/Berster/Schiffbauer, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, A Commentary, Introduction Rn. 8. 178 Siehe zu Lemkins Biographie umfassend Cooper, Raphael Lemkin and the Struggle for the Genocide Convention, passim. Siehe ebenda auch die minutiöse Rekonstruktion des Entstehens der UN-Völkermordkonvention. 179 Bechky, Lemkin’s Situation: Toward a Rhetorical Understanding of Genocide, 77 Brooklyn Law Review, 551, 559; Schabas, Genozid im Völkerrecht, S. 43. 180 Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposels for Redress, S. 92; Schabas, Genozid im Völkerrecht, S. 45. 181 Erste Verwendungen des deutschen Begriffes „Völkermord“ sind allerdings bereits im 19. Jahrhundert dokumentiert, vgl. Wippermann, Der Deutsche Drang nach Osten, S. 93. 182 Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposels for Redress, S. XI, 79. 183 Bechky, Lemkin’s Situation: Toward a Rhetorical Understanding of Genocide, 77 Brooklyn Law Review, 551, 595; Schabas, Genozid im Völkerrecht, S. 43; Tams/Berster/ Schiffbauer, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, A Commentary, Introduction Rn. 8. 175

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Delikts.184 Angriffe auf die physische Existenz sollten ebenso wie solche auf die biologische und rein kulturelle Existenz vom Tatbestand des Genozids erfasst werden. Die Schaffung eines gänzlich neuen Konzept unter einem eigens dafür entwickelten Begriff hielt Lemkin für notwendig, weil seine Bemühungen, bereits existierende Wörter zu Tatbestandsmerkmalen für die vom Osmanischen Reich verübten Taten zu machen, daran gescheitert waren, dass die von ihm gewählten Begriffe barbarity (Barbarei) und vandalism (Vandalismus) durch ihre vorherige Existenz im juristische Kontext mit Konnotationen belegt waren, die auch anderes Verhalten als die Begehung eines Völkermordes im modernen Wortsinn umschrieben.185 Erst der Begriff Völkermord fasste in einem Tatbestand die von Lemkin für entscheidend gehaltenen Kategorien des physischen (Töten der Mitglieder einer Gruppe), biologischen (Verhinderung von Geburten innerhalb einer Gruppe) und kulturellen Völkermords (Zerstörung der kulturellen Grundlagen des Gruppenlebens) zusammen.186 Die Aufnahme des kulturellen Völkermords in den Tatbestand war Lemkin dabei besonders wichtig. Symbole stellten in seinen Augen einen existenziellen Teil für jedwede Art von Kultur dar; somit war die Zerstörung solcher Symbole in Lemkins Augen als eine Bedrohung der Existenz einer Gruppe prägend für das Verständnis von einem Genozid in seinem Sinne.187 c) Partus des Straftatbestandes Völkermord Nachdem Lemkin die einzelnen Voraussetzungen des Tatbestands entwickelt und sie 1944 in seinem Werk Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposels for Redress veröffentlicht hatte,188 entwarf er 1947 auch die UN-Völkermordkonvention. Bereits am 11. Dezember 1946, zwei Jahre vor Verabschiedung der Konvention, hatte die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Völkermord in einer Resolution189 als Verbrechen nach internationalem Recht bewertet und damit die Völkermordkonvention auf den Weg gebracht.190 184 Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposels for Redress, S. XI, 79. 185 Bechky, Lemkin’s Situation: Toward a Rhetorical Understanding of Genocide, 77 Brooklyn Law Review, 551, 558 f.; Lemkin, Akte der Barbarei und des Vandalismus als delicta juris gentium, Internationales Anwaltsblatt (19) 1933, 117 ff.; Lemkin, Genocide as a Crime under International Law, AJIL 1947, 41, 145. 186 Lemkin, Tams/Berster/Schiffbauer, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, A Commentary, Art. II Rn. 12; MüKoStGB/Kreß, VStGB § 6 Rn. 22. 187 Balakian, Oxford Journals, Holocaust and Genocide Studies 27, no. 1, 57, 69. Zu der konkreten Form der Zerstörung der Symbole siehe oben 2. Teil A. III. 2. c). 188 MüKoStGB/Kreß, VStGB § 6 Rn. 22. 189 UN Doc. A/RES/1/96 (1946). 190 Werle/Jeßberger, Völkerstrafrecht, Rn. 813 m.w.N.

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Der Völkermord an den Armeniern hatte Lemkin zur Erarbeitung des Konzepts des Völkermordes inspiriert, jedoch erst der Holocaust weckte das internationale Bewusstsein über die von ihm schon viel früher erkannte Notwendigkeit einer völkerrechtlichen Sanktion für Völkermorde. Angesichts der engen sachlichen, persönlichen und insbesondere auch zeitlichen Verknüpfung mit dem Holocaust rückt der historische Zusammenhang zwischen dem Straftatbestand des Völkermords zum Völkermord an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs häufig in den Hintergrund.191 Lemkins Ziel, ein internationales Strafrecht zu schaffen, dem er sich anlässlich des Völkermords an den Armeniern verschrieben hatte, war mit Inkrafttreten der UN-Völkermordkonvention erreicht. In Art. II der Konvention lautet: In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a. Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c. vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d. Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e. gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.

Alle Merkmale, die Lemkin über die Tötung von Mitgliedern der Gruppe im Sinne von Art. II lit. a UN-Völkermordkonvention hinaus auch als wesentliche Tatbestandsverwirklichung betrachtet hatte, haben ihren Weg in die Konvention gefunden.192 Heute ist der Völkermord ein international anerkannter Straftatbestand, dessen völkerrechtliche Hauptrechtsquelle die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes der Vereinten Nationen193 aus dem Jahr 1948 ist. Deutschland ist der Konvention 1954 beigetreten, seit 1955 ist sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft.194 Eingang in das nationale Recht fand der Straftatbestand des Völkermords in diesem Zuge zunächst im Jahr 1954 in § 220a StGB195, 191 Vgl. etwa bei MüKoStGB/Kreß, VStGB § 6, Rn. 22, der die Entstehungsgeschichte des Tatbestandes ausschließlich auf Lemkins Beziehung zum Holocaust zurückführt und die Arbeit an der Norm in der Zwischenkriegszeit lediglich in einem Halbsatz erwähnt. 192 Tams/Berster/Schiffbauer, Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide, A Commentary, Art. II Rn. 8. 193 Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide (CPPCG), Resolution 260 A (III) der Vereinten Nationen vom 9. Dezember 1948, in Kraft seit dem 12. Januar 1951, UN Doc. A/RES/3/260 (1948). 194 BGBl. 1954 II S. 729; siehe dazu auch MüKoStGB/Kreß, VStGB § 6 Rn. 26 mit Fn. 91. 195 BGBl. 1954 II S. 729, aufgehoben durch das Gesetz zur Einführung des Völkerstrafgesetzbuches vom 26. 06. 2002, BGBl. 2002 I S. 2254.

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der die Bestrafungspflicht aus Art. V der UN-Völkermordkonvention umsetzte.196 Im Jahr 2002 wurde § 220a StGB durch den inhaltsgleichen § 6 VStGB197 ersetzt.198 d) Keine Subsumtion unter die Konvention Für die Bundesrepublik Deutschland ist die UN-Völkermordkonvention 1955 in Kraft getreten.199 Der Völkermord an den Armeniern fällt somit aus dem zeitlichen Anwendungsbereich der Norm heraus.200 Wie oben bereits erläutert, ist eine Subsumtion unter die UN-Völkermordkonvention jedoch ohnehin nicht zweckdienlich und darüber hinaus für den (rechts-)politischen sowie rechtlichen Umgang mit der Thematik auch nebensächlich. Die Entstehungsgeschichte der UN-Völkermordkonvention illustriert jedoch anschaulich, wie vielschichtig nicht nur die historischpolitischen, sondern auch die juristischen Hindernisse waren, die der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern so lange Zeit im Wege standen. Ebenso wie die deutsche (Mit-)Verantwortung heute nur noch faktisch nachzuvollziehen, nicht jedoch nachträglich unter die rechtlichen Kategorien des Strafrechts zu subsumieren sind, ist die vielfach gestellte Frage, ob es sich beim Völkermord an den Armeniern um einen Völkermord im Sinne der UN-Völkerrechtskonvention handelt, an dieser Stelle also mit Nein zu beantworten. Rechtshistorisch ist die Geschichte des Völkermords an der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich auch die Geschichte einer der Errungenschaften des modernen (Völker-) Strafrechts. Die nachträgliche Einordnung in Kategorien vermag es jedoch sicher nicht, aus einem historischen Ereignis einen Völkermord oder keinen Völkermord zu machen. Die Bundesregierung hat im Zuge der Anerkennung des Völkermords an den Herero – im Gegensatz zu der deutlichen Verneinung jeglichen Einflusses der Konvention auf die Betrachtung des Völkermords am armenischen Volk – einen ähnlichen Standpunkt vertreten, als sie feststellte, dass zwar auch der Völkermord an den Herero aus dem zeitlichen Anwendungsbereich der Konvention falle, jedoch die rechtlich nicht bindende Präambel auf die historische Dimension des Völkermordbegriffs verweise.201 In einer historisch-politischen Debatte kann die UN-Völkermordkonvention zur Einschätzung der Ereignisse in der Tat herangezogen werden, wenn auch eine rechtliche Subsumtion fehlginge.202 Insofern weist die UN-Völkermordkonvention in der Causa Aghet die Besonderheit auf, dass der Inhalt ihres 196

MüKoStGB/Kreß, VStGB § 6 Rn. 26. BGBl. 2002 I S. 2254 ff. 198 MüKoStGB/Kreß, VStGB § 6 Rn. 27; siehe dazu auch Werle, JZ 2001, 885, 892. 199 BGBl. 1954 II S. 729. 200 So im Ergebnis auch Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 137, allerdings unter trotz dieser Erkenntnis vorgenommener Subsumtion unter den Tatbestand mit dem Ergebnis, dieser sei nachweisbar erfüllt, vgl. S. 114 ff. 201 BT-Drs. 18/8859, BT-Drs. 18/9152, S. 3. 202 BT-Drs. 18/8859, BT-Drs. 18/9152, S. 3. A.A. insoweit Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 114 ff. 197

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2. Teil: Die Causa Aghet

Tatbestands zur Beschreibung der Ereignisse im Ersten Weltkrieg herangezogen wird, ohne dass damit auch die strafrechtlichen Rechtsfolgen adressiert werden.203 Neben dem Verständnis von Völkermord als juristischem Tatbestand steht also die Verwendung des Begriffs als historische Kategorie. Diese knüpft nicht an die Rechtsfolgen des Art. II der UN-Völkermordkonvention, sondern lediglich an die Vorgehensweise, das heißt den Tatbestand der Norm, an. Der Völkermordtatbestand zeichnet sich dadurch aus, dass mit seiner Schaffung das Phänomen erstmals konzeptionalisiert und damit begrifflich erschlossen wurde. Dies sieht man am deutlichsten an Lemkins Neologismus. Insofern sind Begriff und juristischer Tatbestand derartig verknüpft, dass ein laienhaftes Verständnis sich nicht ausgebildet hat. Der Begriff des Völkermords ist also auch bei laienhafter Verwendung immer Fachbegriff. Wenn also die Subsumtion unter den juristischen Völkermordbegriff unterbleibt, so verbleibt nur noch die Diskussion einer nicht strafrechtlichen Völkermordkonzeption. Aufgrund ihrer gemeinsamen Genese sind die Umrisse dieses Völkermordbegriffs jedoch mit dem Tatbestand begrifflich identisch, was seine Verwendung außerhalb der juristischen Subsumtion erschwert. Die verschiedenen Diskussionsebenen zwischen Parlament und Regierung illustrieren diese Diskrepanz. Während die Regierung das formaljuristische Verständnis zu Grunde legt, strebt die Fraktion DIE LINKE eine inhaltliche Diskussion an. Mangels Alternativbegriff lieferte sie damit jedoch entgegen ihrer Intention die Vorlage gerade zu einer Entfernung von einer offiziellen historischen Einordnung.

VII. Fazit Die Geschichte des Völkermords an den Armeniern hat ihre Ursprünge in der geopolitischen Stellung des armenischen Volks zwischen mehreren Großmächten. Die historische Einordnung des Völkermordgeschehens ist weitgehend einstimmig. Der Ablauf dieses Geschehens lässt sich in grundlegende Vorgeschichte und unmittelbares Vorausgehen und den Ablauf des Völkermords selbst einteilen. Durch die engen Verbindungen des Deutschen Kaiserreichs zum Osmanischen Reich und die vorrangig deutsche Quellenlage ist die deutsche Perspektive auf den Aghet von besonderer Relevanz. Der Aghet prägte maßgeblich das moderne Konzept dessen, was unter Völkermord verstanden wird. Seine ungenaue Bezeichnung als erster Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts steht angesichts seiner Bedeutung in der Genese des Völkermordstraftatbestands einer Einordnung als Proto-Völkermord des zwanzigsten Jahrhunderts nicht entgegen. Der Völkermord an den Armeniern ist daher nicht nur rechtspolitisch, sondern auch rechtshistorisch relevant.

203 Unzutreffend daher die Annahme bei Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 83 Fn. 88, die Anerkennung seitens der Türkei würde nicht nur eine historische Tatsache, sondern auch einen juristischen Tatbestand schaffen. Bezüglich der ebenda adressierten Reparationszahlungen in Folge einer Anerkennung durch die Türkei siehe unten 2. Teil B. IV. 2.

B. Anerkennungsgeschichte

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B. Anerkennungsgeschichte 100 Jahre nach den ersten Forderungen nach einem Tätigwerden des Deutschen Kaiserreiches204 entschloss sich der Deutsche Bundestag zu einer offiziellen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern.205 Diese hat sich in zahlreichen Einzelschritten vollzogen. Die politische Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte ist ohne die vorangegangene historische Aufarbeitung undenkbar. Die Vorgeschichte zur politischen Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern soll im Folgenden dargestellt werden.

I. Historische Vorarbeit zur rechtspolitischen Auseinandersetzung mit dem Aghet – Zeitzeugenberichte und ihre Aufbereitung Der Aghet ist ausführlich dokumentiert. Einige der zahlreichen Berichterstatter spielten schon in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geschichte des Aghet selbst eine Rolle, darunter in erster Linie Johannes Lepsius.206 Zahlreiche weitere zeitgenössische Berichte und historiographische Arbeiten zum Aghet dienten als Grundlage für die umfassende historische Aufarbeitung des Aghet. Diese kann heute als abgeschlossen betrachtet werden.207 Gleichwohl geht dies nicht mit einer abgeschlossenen Anerkennungsgeschichte einher. Der Völkermord an den Armeniern wird bis heute von der Republik Türkei geleugnet.208 Der Streit um seine Anerkennung hat dem Völkermord an den Armeniern zu internationaler Bekanntheit verholfen – erst kürzlich ist die Debatte auch in Deutschland wieder verstärkt geführt worden. Das Gedenken an den Aghet nahm mit jedem Jahr zu. Das armenische Volk empfindet gleichwohl Schmerz und Frustration. Ein Völkermord prägt nicht nur die Einstellung der unmittelbaren Opfer, sondern wirkt sich auch negativ auf das Weltbild Angehöriger nachfolgender Generationen aus, die häufig mehr als nicht Betroffene unter Ängsten und Misstrauen gegenüber der Welt im Allgemeinen leiden.209 Die Leugnung des zugrundeliegenden Ereig204

Anfrage Karl Liebknechts vom 11. Januar 1916, PA-AA R 14086. BT-Drs. 18/8613. 206 Siehe zur Rolle Lepsius’ sogleich unter 2. Teil B. I. 2. 207 Siehe dazu auch oben 2. Teil A. II. 1. 208 Umfassend zur Leugnung des Völkermords an den Armeniern durch die Türkei etwa Adalian, The Armenian Genocide: Revisionism and Denial, in: Dobkowski/Wallimann (Hrsg.), Genocide in Our Time, Ch. 5; Housepian Dobkin, What Genocide? What Holocaust? News from Turkey, 1912 – 1923 – A case Study, in: Hovannisian (Hrsg.), The Armenian Genocide in Perspective, S. 102 ff. Zur pseudohistorischen Ansicht zum Völkermord an den Armeniern siehe oben 2. Teil A. II. 2. 209 Hovannissian, Remembrance and Denial: The Case of the Armenian Genocide, S. 17. Zu den psychologischen Folgen der Genozidleugnung für Angehörige der Volksgruppe und der Armenier im Speziellen siehe Staub, Overcoming Evil, Genocide, Violent Conflict, and Ter205

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2. Teil: Die Causa Aghet

nisses verhindert, dass das Vertrauen in eine übergeordnete Gerechtigkeit, Richtigkeit und Ordnung wiederhergestellt wird.210 1. Berichterstattung über den Aghet Schon während des Ersten Weltkrieges gab es zahlreiche Berichte von Privaten und offizielle Dokumente über das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich.211 Sie dokumentieren den Völkermord an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs und auch die Rolle des deutschen Kaiserreiches.212 Diplomaten, Politiker, Juristen und weitere Entsandten erstatteten ausführlich Bericht über die Lage der Armenier im Osmanischen Reich. Auch der Weltöffentlichkeit blieb nicht verborgen, was sich im vor Ort abspielte. Allein im Jahr 1915 waren beispielsweise 145 Artikel über die Ereignisse in der New York Times zu lesen.213 rorism, S. 282 ff. Vgl. auch Simon, The Banality of Denial: Israel and the Armenian Genocide, passim. 210 Hovannisian, Remembrance and Denial: The Case of the Armenian Genocide, S. 17. 211 Die Sammlung, die im Archiv des Auswärtigen Amtes zur Verfügung steht und den Völkermord an den Armeniern umfangreich dokumentiert, umfasst zahlreiche Dokumente. Eine umfangreiche Zusammenstellung der Originalquellen findet sich bei Gust (Hrsg.), Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Eine Aufarbeitung der sich außerdem im Archiv des Vatikans befindlichen Dokumente liefert Hesemann, Der Völkermord an den Armeniern. 212 In dieser Arbeit sei nur den (rechts-)politisch relevanten Dokumenten ein eigener Teil gewidmet, ohne damit die Bedeutung der weiteren Berichte schmälern zu wollen. Für eine umfassende Darstellung siehe Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16: Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts, 2005. 213 Guttstadt/Zarakolu, Die Geschichtslücke – die Türkei und die Aufarbeitung des Völkermords, in: Guttstadt (Hrsg.), Wege ohne Heimkehr, S. 186, 187. Beispielhaft siehe folgenden Artikel aus dem New York Herald, European Edition vom 9. Oktober 1915 „NEW YORK – Further revelations of horrors perpetrated by the Turks in Armenia are coming to hand through American missionary societies. Miss Emily Wheeler, secretary of the National Armenian Relief Association, declares that Enver Pasha boasts that he killed more Armenians in thirty days than Abdul Hamid did in thirty years. The missionaries accuse German officers not only of winking at these massacres, but of encouraging them, and in some cases of assisting. It is estimated that 800,000 Armenians have been killed or deported.“ (dt.: NEW YORK – Weitere Enthüllungen über die Gräuel, die von den Türken in Armenien begangen werden, kommen durch amerikanische Missionsgesellschaften ans Licht. Miss Emily Wheeler, Schriftführerin der Nationalen Vereinigung zur Befreiung Armeniens, behauptet, dass Enver Pascha damit prahlt, mehr Armenier in 30 Tagen getötet zu haben als Abdul Hamid [der türkische Sultan, der durch die jungtürkische Revolution abgesetzt wurde] in 30 Jahren. Die Missionare beschuldigen deutsche Offiziere nicht nur, vor diesen Massakern die Augen zu verschließen, sondern zu diesen sogar anzuspornen und in einigen Fällen mitzuhelfen. Schätzungsweise 800.000 Armenier wurden getötet oder deportiert., Übersetzung durch die Verfasserin), zitiert nach The New York Times, Retrospective vom 8. Oktober 2015, abrufbar unter https://iht-retrospective. blogs.nytimes.com/2015/10/08/1915-armenians-being-massacred/?rref=collection%2Ftimesto pic%2FArmenian%20Genocide&action=click&contentCollection=world®ion=stream& module=stream_unit&version=latest&contentPlacement=21&pgtype=collection, letzter Abruf 1. Dezember 2017, 17.30 Uhr.

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2. Johannes Lepsius und der Völkermord an den Armeniern Eine Beschäftigung mit den Geschehnissen selbst, aber auch mit der deutschen Verantwortung am Völkermord an den Armeniern ist ohne die Berücksichtigung der Arbeit von Johannes Lepsius nicht vorstellbar. Im Juli und August 1915 führte Lepsius eine umfangreiche Recherche in Istanbul durch, die in eine ausführliche Dokumentation des Völkermords an den Armeniern mündete. Mit dem Ziel, die Reichsregierung dazu zu bewegen, sich intervenierend einzuschalten, erstatte er am 7. Oktober 1915 in der Pressevereinigung im Deutschen Reichstag umfassend Bericht über die Gräuel, die den Armeniern zustießen.214 Entgegen diesem Ziel kam es jedoch zu einer durchgängigen Zensur des sogenannten Armenier-Themas im deutschen Kaiserreich. Das im Juli 1916 erschienene Werk Lepsius’ „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“ wurde am 7. August 1916 von der deutschen Militärzensur beschlagnahmt und verboten.215 Lepsius wurde am 15. Dezember 1858 in Berlin geboren und war u. a. Theologe und Orientalist. Er war Mitbegründer der Deutsch-Armenischen-Gesellschaft (DAG)216, die sich bis heute für die Wahrung der Belange der Armenier und Armenierinnen einsetzt, die in Deutschland leben. Schon 1897 wurden von Lepsius gesammelte Zahlen und Fakten über die Massaker von 1894/95217 in dem Werk „Armenien und Europa“ veröffentlicht.218 Die Leugnungspolitik des Deutschen Kaiserreiches griff er in zahlreichen Beiträgen für Zeitungen und Vorträgen an; die Veröffentlichung von „Armenien und Europa“ bildete den Abschluss der ersten Reihe von Beiträgen Lepsius’ bezüglich des armenischen Volkes.219 Besondere Bekanntheit im Zusammenhang mit dem Aghet erlangte er jedoch vorwiegend durch sein Buch „Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei“, das eines der umfangreichsten Werke der Dokumentation des Aghet ist.220 Als Gründer humanitärer Hilfswerke für die armenische Bevölkerung war Lepsius vor Ort, als die Armenier zunehmenden Verfolgungen ausgesetzt waren und es schließlich zum Aghet kam. Er sammelte Augenzeugenberichte und beschrieb selbst die Lage der Armenier im Osmanischen Reich. Die Dokumentation wurde 1916 zensiert, erschien jedoch 1919 in zweiter Auflage unter dem geänderten Titel „Der Todesgang des armenischen Volkes“ neu.221 Ebenfalls 1919 erschien „Deutschland und Armenien 214

Zur persönlichen Motivation Lepsius‘ siehe ausführlich Aschke, Christliche Ethik und Politik, in: Hosfeld (Hrsg.), Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme, S. 69. 215 BT-Drs. 15/4933, S. 2. 216 Die DAG hatte bei ihrer Gründung 1914 das Ziel, angesichts der angespannten Lage der Armenier im Osmanischen Reich die Unabhängigkeit des armenischen Volkes zu erreichen. 217 Siehe dazu oben unter 2. Teil A. III. 1. c) aa). 218 Lepsius, Armenien und Europa, Eine Anklageschrift. 219 Hosfeld, Tod in der Wüste, S. 32 ff. 220 Lepsius, Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei. 221 Lepsius, Der Todesgang des armenischen Volkes. Siehe zur Umbenennung der Zweitauflage Lepsius, Deutschland und Armenien 1914 – 1918, Vorwort S. V.

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1914 – 1918, Sammlung diplomatischer Akten“, in der Lepsius durch eine Zusammenstellung von Originalquellen die Haltung der deutschen Regierung in der armenischen Frage darstellte. Zudem setzte er sich aktiv dafür ein, dass deutsche sowie türkische Politiker das Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich positiv beeinflussen. Seine Verhandlungen mit Enver Pascha im Jahr 1915 wurden in „Der Todesgang des armenischen Volkes“ veröffentlicht; insofern ist die Zweitauflage der Dokumentation Lepsius’ erweitert.222 Seine Bemühungen blieben jedoch ergebnislos. Die Führungsriege des Osmanischen Reiches ließ sich von Lepsius nicht umstimmen und das Deutsche Kaiserreich verfolgte die Politik des Schweigens, um seinen Bündnispartner nicht zu verlieren.223 Das Gespräch zwischen Lepsius und Enver ist eindrucksvoll in Franz Werfels berühmtem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh nacherzählt.224 In Potsdam befindet sich heute das Lepsiushaus, das 2011 von Kulturstaatsminister Bernd Neumann eröffnet wurde.225 Das Lepsiushaus war zuvor Anlass für politische Konflikte zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei gewesen; die Türkei setzte sich gegen das Gedenken an Lepsius ein.226 Es überrascht daher nicht, dass Lepsius in der rechtspolitischen Debatte im Deutschen Bundestag eine große Rolle spielt. Teils wird das Werk Lepsius’ jedoch auch zum Anlass für Kritik genommen. Die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag steht der ihres Erachtens zu einseitigen Betrachtung Lepsius’ kritisch gegenüber. In mehreren Anfragen an die Bundesregierung kritisiert sie die Vernachlässigung weiterer Akteure, die sich ebenfalls armenierfreundlich verhielten.227 Die mangelnde Berücksichtigung von Persönlichkeiten wie Eduard Bernstein, Adolf von Harnack, Karl Liebknecht oder

222

Lepsius, Der Todesgang des armenischen Volkes, Vorwort, S. V f. Zur deutschen Haltung während des Ersten Weltkrieges siehe oben 2. Teil A. IV. 2. 224 Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh. Beachte in diesem Zusammenhang auch die hohe Symbolkraft der Zahl 40 im Christentum, bspw. die 40-tägige Sintflut, der 40-jährige Gang des Volkes Israels durch die Wüste oder die (ausschließlich der Sonntage) 40-tägige Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern. 225 Lepsiushaus wird in Potsdam eröffnet, Der Tagesspiegel vom 2. Mai 2011, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/themen/brandenburg/tabulose-forschung-lepsiushaus-wird-inpotsdam-eroeffnet/4123904.html, letzter Abruf 1. Dezember 2017, 17.54 Uhr. Zur rechtspolitischen Dimension der Eröffnung des Lepsiushauses siehe sogleich. 226 Bspw. hatte der türkische Generalkonsul nach der Ankündigung der Eröffnung des Lepsiushauses im Jahre 2002 noch damit gedroht, man werde mit 100.000 Türken aus Berlin nach Potsdam marschieren, Johannes Lepsius – Schutzengel der Armenier in Glaube in der 2. Welt 2004, 21 ff. Siehe auch Lepsiushaus wird in Potsdam eröffnet, Der Tagesspiegel vom 2. Mai 2011, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/themen/brandenburg/tabulose-for schung-lepsiushaus-wird-in-potsdam-eroeffnet/4123904.html, letzter Abruf 1. Dezember 2017, 17.54 Uhr. 227 BT-Drs. 16/9956. 223

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Armin T. Wegner,228 um nur einige der Unterstützer der Armenier zu nennen, mag bedauerlich sein. Die Bedeutung des Werkes Lepsius’ erfährt jedoch durch die Beiträge weiterer Personen keine Minderung. In der Geschichtswissenschaft ist zudem von der Vernachlässigung der zahlreichen Quellen nichts zu verzeichnen. Besonders kritisch setze sich die Fraktion DIE LINKE mit Lepsius in einer kleinen Anfrage vom 31. Juli 2008 auseinander.229 In der Anfrage geht es vordergründig um Bundesmittel, die für das Lepsiushaus und die Völkermordgedenkstätte zur Verfügung gestellt wurden. Lepsius’ Rolle für das Bewusstsein über den Umgang mit den Armeniern im Osmanischen Reich schmälert die Fraktion DIE LINKE in ihrer Anfrage nicht. Im Gegenteil bezeichnet sie ihn sogar als einzigen Deutschen, der versucht hat, die Deutschen „aufzurütteln“.230 Kritisch sieht die Fraktion DIE LINKE jedoch die Arbeit Lepsius’ für das Deutsche Kaiserreich. Er soll auf Auftrag des Auswärtigen Amtes die Dokumente Deutschland und Armenien 1914 – 1918 im Jahr 1919 mit derartigen Auslassungen veröffentlicht haben, dass die deutsche Verantwortung am Aghet nicht tatsachengetreu dargestellt wurde. Die Fraktion DIE LINKE bezeichnet das Vorgehen sogar als Manipulation zur Vertuschung.231 Wolfgang Gust, Journalist und einer der bekanntesten Autoren zum Völkermord an den Armeniern, deckte die Veränderungen in den Dokumenten durch einen Vergleich mit den Originalen im Jahr 2000 auf.232 Zudem soll Lepsius rechten Kreisen angehört haben und rechte Ideologien vertreten haben.233 Die Fraktion DIE LINKE warnt im Sinne des Andenkens an die Armenier schließlich die Bundesregierung vor einer Instrumentalisierung dieser insbesondere aus linker Perspektive bedenklichen Aspekte der Person Lepsius’ durch Völkermordleugner.234 Die folgenden Fragen plädieren vor allen Dingen für ein differenziertes Lepsiusbild und die Ehrung weiterer Akteure wie Armin T. Wegner oder Karl Liebknecht, die sich ebenfalls für die Armenier eingesetzt hatten. Dass beide dem politisch linken Spektrum zuzuordnen sind, verwundert nicht. Im Zuge der Anfrage hätten jedoch auch weitere Deutsche genannt werden können, die ebenfalls ihren Beitrag dazu geleistet haben, dass das Schicksal der Armenier nicht ungesehen bleibt.235

228 Siehe dazu auch Anderson, Helden in Zeiten eines Völkermords?, in: Hosfeld (Hrsg.), Johannes Lepsius – Eine deutsche Ausnahme, S. 126. 229 BT-Drs. 16/9956. 230 BT-Drs. 16/9956, S. 1. 231 BT-Drs. 16/9956, S. 2. 232 W. Gust/S. Gust (Hrsg.), A Documentation of the Armenian Genocide in World War I, abrufbar unter www.armenocide.de; letzter Abruf 1. März 2017, 10.30 Uhr. 233 BT-Drs. 16/9956, S. 1 f. 234 BT-Drs. 16/9956, S. 2. 235 Dies belegen die zahlreichen historischen Quellen aus dem Archiv des Auswärtigen Amts, abgedruckt bei Gust, Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 wie auch die Quellen aus dem Vatikan, aufbereitet bei Hesemann, Völkermord an den Armeniern.

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2. Teil: Die Causa Aghet

II. Außerparlamentarische Vorarbeit zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern fand im Bundestag zwischen 2005 und 2016 statt. Dieser voran gingen 16 Jahre intensiver Vorbereitung der parlamentarischen Aufmerksamkeit für die Thematik durch armenische Interessenvertreter. Die armenische Interessenvertretung setzt sich aus diversen Gruppierungen zusammen, die sich insgesamt trotz der Heterogenität der einzelnen Gruppenmitglieder bezüglich ihres Herkunftslandes, des Migrationsgrundes und des sozialen Status durch eine hohe inhaltliche Homogenität auszeichnet.236 Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist neben dem Konflikt um das Gebiet Bergkarabach, um das seit den 1990er Jahren Krieg mit Azerbaidschan herrscht und der die vollständige Schließung der armenischen Grenzen zur Folge hatte, ein Kernthema armenischen Interesses.237 Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ist wider Erwarten aber nicht seit jeher ein Kernthema der armenischen Diaspora in ihrer Gesamtheit, sondern wurde erstmals 1983 von der nordamerikanischen und kanadischen Diaspora gefordert.238 Seitdem gab es zahlreiche internationale Anerkennungsakte sowohl von Staaten als auch von internationalen Organisationen und der EU.239 Die deutsche Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern folgte auf eine schon intensive internationale Auseinandersetzung mit der Thematik.240 Die Arbeit an einer öffentlichen Wahrnehmung der Anerkennungsproblematik des Völkermords an den Armeniern in Deutschland hat ihre Anfänge in den späten 1960er, vorwiegend aber in den 1970er Jahren, in denen armenische Gemeinden, Vereine und Verbände entstanden.241 Durch ein schweres Erdbeben im Jahr 1988, den Zerfall der Sowjetunion und den Konflikt um Bergkarabach kam es vor allem in den 1990er Jahren zur Emigration über einer halben Millionen Armenier nach Russland, in die USA, aber auch nach Deutschland.242 Einige der wichtigsten und größten Akteure im Bestreben um die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern waren der Zentralrat der Armenier in Deutschland (ZAD), die Diözese der Armenisch-Apostolischen Kirche, die Gruppe 236

Dreusse, Die armenische Diaspora in Deutschland, Ihr Beitrag zur Entwicklung Armeniens, in: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (Hrsg.), Migration und Entwicklung, S. 15; Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 113. 237 Siehe dazu auch oben 2. Teil A. I. 3. 238 Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 82. 239 Siehe im Einzelnen unten 2. Teil B. VIII. 240 Siehe dazu im Einzelnen unten 2. Teil B. VIII. 241 Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 110. 242 Der Flüchtlingskommissar schätzt die Zahl der emigrierten Armenier sogar mehr als doppelt so hoch ein; Dreusse, Die armenische Diaspora in Deutschland, Ihr Beitrag zur Entwicklung Armeniens, in: Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (Hrsg.), Migration und Entwicklung, S. 5. Vgl. dazu auch Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 110.

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24. April, die in Deutschland etwa 40 aktiven armenischen Gemeinden, sowie die berufsspezifischen Vereine armenischer Akademiker (AAV 1860), Mediziner, Unternehmer (AUV). Zudem gibt es auch nennenswerte deutsch-armenische Organisationen wie die Deutsch-Armenische Gesellschaft (DAG), das Institut für Armenische Fragen, die Stiftung armenischer Studien oder das Lepsiushaus Potsdam.243 Darüber hinaus existieren zahlreiche weitere Interessengruppen, die sich für die armenischen Interessen einsetzen. Während die Anfänge der Arbeit für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern noch in nur sehr geringem Maße die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen vermochten,244 war die aktuelle Debatte um den schlichten Parlamentsbeschluss vom 2. Juni 2016 schwer zu ignorieren. Die Wahrnehmung und Relevanz eines gesellschaftlichen Problems hängt entscheidend von seiner Darstellung durch die Massenmedien ab.245 Die Beeinflussung der Medien hin zu einer größeren Aufmerksamkeit für die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern richtete sich seitens armenischer Interessenvertreter hauptsächlich an deutsche Medien, eine anerkennungsfeindliche Berichterstattung dagegen war auf Seiten türkischer Medien zu verzeichnen, die laut Fleck die Adressaten der Interessenvertreter der türkischen Interessen waren.246 Den ersten Entwurf für einen Bundestagsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern legte 1999 Gunnar Heinsohn vor.247 Heinsohn war bis 2009 Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen und Gründer des Raphael-Lemkin-Instituts für Xenophobie und Genozidforschung. Die Bemühungen der späten neunziger und frühen 2000er Jahre, die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern auf die parlamentarische Agenda zu setzen, gestalteten sich jedoch mühsam; Versuche, sowohl die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN als auch die Fraktion der SPD und CDU zur Aufmerksamkeit und öffentlichen Teilnahme an Informationsveranstaltungen zu bewegen, scheiterten.248 Die Fraktion der PDS sagte schließlich ihre Unterstützung zu dem Projekt Anerkennung zu und die damalige Vorsitzende des Petitionsausschusses Heidemarie Lüth nahm im Frühjahr des Jahres 2000 eine Petition249 des ZAD in Kooperation mit dem Informations- und Dokumentationszentrums Armenien, dem Institut für Armenische Fragen und der Koordinationsgruppe Armenien der Gesellschaft für bedrohte Völker sowie eine Petiti243

Siehe ausführlich zur Geschichte, Zusammensetzung und Organisation der einzelnen Gruppen Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 126. 244 Vgl. Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 164 zu den Anfängen der Wahrnehmung ab 1999. 245 Siefken, Expertenkommissionen im politischen Prozess, S. 102. 246 Vgl. Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 165. 247 Entwurf einsehbar unter http://www.deutscharmenischegesellschaft.de/?page_id=304, letzter Abruf 31. Januar 2018, 15.45 Uhr. 248 Siehe zu allen Einzelheiten der Vorbereitung des Parlamentsbeschlusses zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 171 ff. 249 Petition 4-14-05-08-019260.

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2. Teil: Die Causa Aghet

on250 des Vereins der Völkermordgegner e.V. Frankfurt am Main entgegen. Diese Petitionen gaben den Anstoß zur parlamentarischen Auseinandersetzung mit der Thematik, die naturgemäß auch eine Auseinandersetzung der Bundesregierung mit der Frage nach der Anerkennung zur Folge hatte.251

III. Rechtlicher und rechtspolitischer Umgang mit dem Aghet von 1915 bis 2015 in deutschen Parlamenten Die Bemühungen um die Anerkennung des Aghet als Völkermord in Deutschland hatten sich lange als fruchtlos erwiesen. Dabei ist die sogenannte Armenienfrage zumindest rechtspolitisch seit Jahrzehnten ein wiederkehrendes Thema in deutschen Parlamenten. Die Auseinandersetzung mit der Anerkennung des Aghet als Völkermord reicht bis in das Jahr 1915 zurück. Damals brachte Karl Liebknecht die im Zeitpunkt seiner Anfrage aktuelle weltpolitische Thematik im Rahmen seines sogenannten Anfragenfeldzugs unter anderem in einer kleinen Anfrage vom 18. Dezember 1915 auf die Tagesordnung. Er erhielt jedoch keine Antwort.252 Ähnlich erging es ihm im Folgejahr, als er den Reichskanzler fragte, ob diesem die Berichte Lepsius’ bekannt seien.253 Liebknecht versuchte im Ergebnis vergeblich, eine Diskussion im Parlament über den Aghet anzuregen. Die Vorstöße Liebknechts unterscheiden sich maßgeblich von modernen Bemühungen zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern in der jüngeren und jüngsten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Schon lässt sich der Reichstag des Kaiserreiches nicht mit dem Deutschen Bundestag gleichsetzen. Doch entscheidender ist, dass es sich bei den Anfragen Liebknechts um Anfragen zum Zeitgeschehen handelte, die moderne Anerkennungsdebatte jedoch eine zumindest historisch orientierte Frage betrifft. Insofern ist eine Periode nach 1916 auszumachen, während derer die Causa Aghet hinter Ereignissen deutscher Zeitgeschichte verdrängt wurde. Neben der Betrachtung des Aghet als Rechtsphänomen, besteht der politische Wille zur Auseinandersetzung also – freilich in durchaus unterschiedlichen Formen – seit über 100 Jahren. Die Forderung nach einer Anerkennung des Aghet durch die Bundesrepublik Deutschland selbst und nicht lediglich durch die Türkei geriet allerdings erst im Jahr 2005 ernsthaft in den Blick der Deutschen Bundestages. Dieser 250 Die Petition wurde ursprünglich der türkischen Nationalversammlung vorgelegt, aufgrund der Erfolglosigkeit aber dann zum 24. April 2000 dem Deutschen Bundestag. 251 Siehe ausführlich zur parlamentarischen Auseinandersetzung mit der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern unten 2. Teil B. III. 252 Der Anfragenfeldzug Liebknechts führte schließlich zu seinem Ausschluss aus der SPD am 12. Januar 1916, siehe dazu insgesamt Laschitza/Keller/Liebknecht (Hrsg.), Karl Liebknecht, Eine Biographie in Dokumenten, S. 290 ff. 253 Anfrage Karl Liebknechts vom 11. Januar 1916, PA-AA R 14086.

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stand ab diesem Zeitpunkt vor der Herausforderung, der Forderung nach Anerkennung mit geschickten Formulierungen unter geringstmöglichen außenpolitischen Konsequenzen nachzukommen. Mit Blick auf die realpolitischen Konsequenzen darf bezweifelt werden, ob es ihm durch den Armenier-Beschluss gelungen ist, diese Herausforderung zu meistern.254 Die Debatte illustriert dabei nicht nur die intensive Auseinandersetzung der Bundesrepublik Deutschland mit einem historischen Ereignis, sondern veranschaulicht auch die intensive politische Arbeit, die notwendig ist, um den nötigen Konsens im Parlament zu erreichen, der für einen schlichten Parlamentsbeschluss notwendig ist.255 Dieser zehnjährige Prozess lässt sich in einzelne Phasen einteilen. 1. Erste Anerkennungsbestrebungen 2002 Während in verschiedenen Anfragen in den Jahren 2000 und 2001 noch anhand von Einzelfällen, die die strafrechtliche Verfolgung von Äußerungen bezüglich des Völkermordes in der Türkei betrafen, nach der Auffassung der Bundesregierung zur Einordnung des Aghet gefragt wurde,256 stellte die Fraktion der PDS am 12. August 2002 die erste Anfrage mit dem Titel Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern.257 In dieser Anfrage setzte sich die Fraktion der PDS erstmalig mit der Leugnung des Völkermordes an den Armeniern durch die Türkei auseinander. Sie ist aufgrund dieses Zuschnitts als Initialzündung für die Anerkennungsdebatte im Bundestag zu sehen. Schon an dieser Stelle wird der Einfluss auswärtiger Ereignisse auf die politische Arbeit des Bundestags gegenwärtig. Denn Hintergrund der Anfrage der PDSFraktion war der Zerfall der TARC (Turkish Armenian Reconciliation Commission).258 Diese zur Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit von Armenien und der Türkei einberufene Kommission war unter anderem mit sechs türkischen Diplomaten a.D., als auch mit vier armenischen Mitgliedern besetzt gewesen. Sie beeinflusste den Antrag insofern, als die PDS-Fraktion feststellte, dass sich die türkischen Entsandten weigerten, der Einberufung einer Forschungskommission des ICTJ (International Center for Transnational Justice) zur Untersuchung der Frage, ob es sich beim Aghet um einen Völkermord im juristischen Sinne handele und ob die UN-Völkermordkonvention auf ihn anwendbar sei, zuzustimmen. Die TARC zerfiel durch nun bekundetes mangelndes Vertrauen der armenischen Seite.259

254 Zu den realpolitischen Folgen der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den Deutschen Bundestag am 2. Juni 2016 siehe ausführlich unten 2. Teil B. V. 2. 255 Umfassend zu schlichten Parlamentsbeschlüssen siehe unten 3. Teil. 256 BT-Drs. 14/4488; BT-Drs. 14/4725; BT-Drs. 14/5366; BT-Drs. 14/5540. 257 BT-Drs. 14/9857. 258 BT-Drs. 14/9857, S. 2. 259 BT-Drs. 14/9857, S. 2.

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2. Teil: Die Causa Aghet

Für die PDS-Fraktion war das Scheitern insofern brisant, als die Versöhnungskommission von türkischer Seite mit ehemaligen Staatsbeamten besetzt wurde. Die Bundesregierung wurde zu diesem Faktum, sowie nach einem Einwirken auf die Anerkennung des Aghet seitens der Türkei befragt. In dieser frühen Phase der Anerkennungsdebatte wurde hingegen die Anerkennung durch die Bundesregierung selbst nicht gefordert; von einer eigenen Anerkennung des Bundestages ganz zu schweigen. Deutlich wird, dass zu diesem Zeitpunkt weniger die innerstaatliche Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern im Vordergrund stand, sondern die außenpolitische Arbeit der Bundesregierung in die Verantwortung genommen wurde.260 Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass der Antrag nicht von dem später auftretenden Ringen um Formulierungen und Wortwahl geprägt ist. Gleichwohl war die Anfrage wegweisend für die folgende, über zehnjährige Anerkennungsdiskussion. Denn die PDS-Anfrage rezipierte die „besondere historische Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland […] aus der Unterstützung und wissentlichen Duldung des Genozides durch die Regierungsbeamten und Offiziere des Deutschen Kaiserreiches.“261 Der Schluss der PDS, dass die Politik der Bundesregierung dieser Mitverantwortung gerecht werden müsse, erlangte in der Folge parteiübergreifende Resonanz. 2. 90 Jahre Genozid – Anträge aus dem Jahr 2005 Die zweite Phase der Anerkennungsdebatte konzentrierte sich um mehrere Anerkennungsanträge anlässlich des 90. Jahrestages des Aghet am 24. April 2005. Zu diesem reichte die Fraktion CDU/CSU einen kritischen Beschlussantrag ein, um dem Völkermord an den Armeniern zu gedenken.262 a) Antrag der Fraktion CDU/CSU vom 22. Februar 2005 Dieser Antrag ist insofern symptomatisch für die Anerkennungsdiskussion, als er erstmalig die Frage der Anerkennung mit einem Wortlaut verband, der einen bewusst gewählten politischen Kompromiss berücksichtigte. Der Antrag öffnet mit einigen historischen Fakten über den Aghet. Neben dem historischen Kontext, Opferzahlen und der Vorgehensweise zitiert die Fraktion aus dem Buch Acquaintances von Arnold J. Toynbee. Es sei eine der gewollten Folgen der Deportationen gewesen, „[…] so viele Leben wie nur möglich en route zu vernichten“.263 Die Fraktion äußert sich kritisch zur „[…] ablehnenden Haltung […] bezüglich der Planmäßigkeit der Vorgänge der Republik Türkei und macht deutlich, dass der von der Türkei angestrebte 260

Ausführlich BT-Drs. 14/9857, S. 2 f. BT-Drs. 14/9857, S. 2. 262 Der Antrag trägt den Titel Gedenken anlässlich des 90. Jahrestages des Auftakts zu Vertreibungen und Massakern an den Armeniern am 24. April 1915 – Deutschland muss zur Versöhnung zwischen Türken und Armeniern beitragen, BT-Drs. 15/4933. 263 BT-Drs. 15/4933, S. 1. 261

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Beitritt zur Europäischen Union (auch) an der Leugnung des Völkermords an den Armeniern scheitert.264 Die schon in früheren Anträgen betonte Rolle des Deutschen Reiches wird kritisch rezipiert. Die politische und militärische Führung des Deutschen Reiches habe Kenntnis von der planmäßigen Durchführung der Vertreibungen und Massaker gehabt. Aus der Rolle des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg, aber auch aus der Stellung Deutschlands in der Europäischen Union ergebe sich eine besondere Verantwortung für Armenien.265 Es sei notwendig, „einen Beitrag dazu zu leisten, dass die Aufarbeitung der Geschichte ethnischer Konflikte im 20. Jahrhundert auch in Deutschland erfolgt.“266 Obwohl der Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte ausdrücklich adressiert wurde, spielte die Rolle der Bundesrepublik Deutschland in der Causa Aghet eine nachgeordnete Rolle. Die Bundesrepublik Deutschland steht in einer helfenden, beistehenden Rolle; es solle ein „Beitrag“ geleistet werden zu einer Angelegenheit, die vordergründig türkisch sei.267 Der Antrag wurde insofern auch dazu genutzt, die aktuellen Probleme, mit denen sich die Republik Armenien heute konfrontiert sehen muss, aufzugreifen. Die angespannte Beziehung zwischen Armenien und der Türkei, die noch immer die wirtschaftliche Isolierung Armeniens durch die Grenzblockade zur türkischen Grenze zur Folge hat,268 wird neben dem Konflikt um Bergkarabach thematisiert.269 Die Bundesrepublik Deutschland sieht die Fraktion dabei in einer vermittelnden Position zwischen dem armenischen und dem türkischen Volk. Der Antrag schließt erstmals mit einer konkreten Aufforderung an die Bundesregierung, bezüglich ihrer Haltung zum Aghet aktiv auf die Türkei einzuwirken und die Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern in Deutschland zu unterstützen.270 Eine ausdrückliche Anerkennung des Völkermords an den Armeniern in Form einer Bezeichnung als Völkermord enthält der Antrag nicht. Das Geschehen wird jedoch auch nicht verharmlost oder ein Völkermord abgestritten. Dieser hybride Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern ist bezeichnend für die Geschichte seiner Anerkennung. Ohne den Völkermord zu leugnen, erkennt die Fraktion der CDU/CSU ihn auch nicht ausdrücklich an. Diese diplomatische Finesse liegt in außenpolitischen Zusammenhängen begründet, die an späterer Stelle dieser Arbeit beleuchtet werden.271 Die statt des Begriffs „Völkermord“ verwendete Umschreibung „Vertreibungen und Massaker an den Armeniern“ wurde in den elf Jahren, die 264

BT-Drs. 15/4933, S. 2. Zum Zusammenhang zwischen der Leugnung des Völkermords an den Armeniern und dem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union siehe unten 2. Teil B. VIII. 1. c). 265 BT-Drs. 15/4933, S. 2 f. 266 BT-Drs. 15/4933, S. 3. 267 BT-Drs. 15/4933, S. 3. 268 Siehe dazu ausführlich 2. Teil A. I. 3. 269 Siehe dazu ausführlich 2. Teil A. I. 3. 270 BT-Drs. 15/4933, S. 3. 271 Zu den außenpolitischen Erwägungen gegen eine Anerkennung siehe unten 2. Teil B. 2. Teil B. V.

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2. Teil: Die Causa Aghet

bis zur ausdrücklichen Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Jahr 2016 vergingen, weiter von Bundestagsfraktionen wie auch der Bundesregierung verwendet. Doch schon 2005 wurde die Diskussion auf ein wesentliches Merkmal für die Einordnung des Aghet als Völkermord gelenkt: Die Planmäßigkeit der Vorgänge.272 Diese Feststellung ist von besonderer Bedeutung, da die subjektive Komponente, die auch den Tatbestand des Völkermords im Sinne von Art. II UNVölkermordkonvention maßgeblich prägt, seitens der Türkei verneint wird und im Mittelpunkt der Diskussion um die historischen Tatsachen des Aghet steht.273 Die Kritik wird deshalb auch an die Türkei adressiert, die diese Planmäßigkeit leugnet.274 Einen Rückschluss auf die Einordnung des Aghet als Völkermord durch den Deutschen Bundestags lässt diese Kritik jedoch nicht unbedingt zu. b) Antrag der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP vom 15. Juni 2005 Wenig später folgte ein gemeinsamer Beschlussantrag der Fraktionen der SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP, der dem Antrag der Fraktion CDU/CSU vom 22. Februar 2005 im Wesentlichen gleicht.275 Ganz im Geiste der neuen diplomatischen Umschreibungen werden die Geschehnisse gleicherweise als „Vertreibungen und Massaker an den armenischen Untertanen des Osmanischen Reiches“276 oder auch kurz als „Deportationen und Massaker“277 bezeichnet. Ebenso ist Adressatin einer Handlungspflicht bezüglich der Anerkennung zumindest der Planmäßigkeit der Ereignisse die Türkei.278 Bei der Überwindung der „[…] Gräben der Vergangenheit […]“ solle Deutschland unterstützend tätig werden.279 Die besondere Verantwortung Deutschlands in der Gegenwart wird nahezu wortgleich zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion vom 22. Februar 2005 begründet. Unterschiede ergeben sich jedoch bezüglich der Rolle des deutschen Kaiserreichs in der Vergangenheit. Die deutsche Verantwortung beschränke sich nach diesem Antrag auf einen Beitrag „zur Verdrängung der Verbrechen am armenischen Volk“.280 Diesbezüglich also bleibt der Antrag vom 15. Juni 2005 hinter dem Antrag vom 22. Februar 2015 zurück. Jedoch solle sich Deutschland seiner eigenen Verantwortung stellen.281 Eine „[…] ehrliche Aufarbeitung der Geschichte […]“282 sei dafür 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281

BT-Drs. 15/4933, S. 2. Siehe oben 2. Teil A. II. 2. BT-Drs. 15/4933, S. 2. BT-Drs. 15/5689. BT-Drs. 15/5689, S. 1. BT-Drs. 15/5689, S. 3. BT-Drs. 15/5689, S. 1. BT-Drs. 15/5689, S. 2. BT-Drs. 15/5689, S. 2. BT-Drs. 15/5689, S. 2.

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notwendig. Dazu gehöre es auch, zur Versöhnung und Verständigung zwischen Türken und Armeniern beizutragen.283 Die Antragsbegründung mahnt, dass die „[…] fast vergessene Verdrängungspolitik des Deutschen Reiches zeigt, dass dieses Kapitel [die Mitverantwortung des Deutschen Reiches] der Geschichte auch in Deutschland bis heute nicht befriedigend aufgearbeitet wurde.“284 Der Antrag lässt in die Entwicklungslinien des Anerkennungsdiskurses einreihen. Denn auch hier war Impulsgeber der türkisch-armenische Aghet-Diskurs gewesen. So sollte im Mai 2005 an der Bosporus-Universität in Istanbul ein Historikertreffen stattfinden, welches durch den türkischen Justizminister Cemil Cicek schon im Vorfeld als „[…] Dolchstoß in den Rücken der türkischen Nation, die nur der armenischen Diaspora in die Hände arbeitet“ bezeichnet worden war.285 Diesen Verrat und diese Propaganda gelte es zu beenden. Die Armenier-Konferenz wurde kurz darauf von der Bosporus-Universität abgesagt. Ministerpräsident Erdog˘ an selbst hatte die Einberufung einer türkisch-armenischen Historikerkommission öffentlich vorgeschlagen, wobei der angestrebte Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sicherlich eine Rolle spielte. Schließlich war die Auseinandersetzung der Türkei mit dem Aghet eine der Bedingungen, die die Europäische Union für die türkischen Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 gestellt hatte. Der Beschlussantrag vom 15. Juni 2005 der Fraktionen SPD, CDU/CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP enthält den Begriff Völkermord nicht. Er wurde vom Deutschen Bundestag einstimmig verabschiedet. Insofern ist diese Phase der Anerkennungspolitik davon geprägt, sich zwar thematisch mit dem Völkermordtatbestand zu befassen, aber die Formulierung Völkermord nicht zu verwenden. Ein Zustand, der einige Jahre andauern sollte. 3. 95 Jahre Genozid – Begriffsdebatte und neue Eskalationsstufe a) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 10. Februar 2010 Fünf Jahre nach dem Parlamentsbeschluss zum 90. Jahresgedenken des Aghet befasste sich die Fraktion DIE LINKE erneut mit dem Thema. In einer kleinen Anfrage vom 10. Februar 2010 an die Bundesregierung nimmt die Fraktion insbesondere die Umsetzung des gemeinsamen Antrags der Fraktionen der SPD, CDU/ CSU, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP286 vom 15. Juni 2005 in den Blick.287 282

BT-Drs. 15/5689, S. 1. BT-Drs. 15/5689, S. 2. 284 BT-Drs. 15/5689, S. 4. 285 Armenien-Konferenz in Istanbul abgesagt, Die ZEIT Nr. 22/2005, Archiv vom 26. Mai 2005, abrufbar unter http://www.zeit.de/2005/22/historikerkonferenz, letzter Abruf 8. Februar 2017, 15.30 Uhr. 286 BT-Drs. 15/5689. 287 BT-Drs. 17/687. 283

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2. Teil: Die Causa Aghet

Nach den schon in den vorangegangenen Anfragen enthaltenen einleitenden Darstellungen der historischen Ereignisse kritisiert der Antrag die aktuelle Leugnung des Völkermordes durch die Türkei. Gleichzeitig wird angemerkt, dass „[…] auf zivilgesellschaftlicher Ebene, in intellektuellen Kreisen und in den türkischen Medien […] in den letzten Jahren jedoch deutliche Fortschritte hinsichtlich einer kritischeren Geschichtsbetrachtung festzustellen“ seien.288 Die auf die Ermordung des Journalisten Hrant Dink im Jahr 2008 gefolgte Petition289 wird als bemerkenswertes Beispiel dieser Fortschritte genannt. Im Antrag finden sich erstmalig auch dezidiert innenpolitische Belange der Bundesrepublik Deutschland – ein Novum in der Aghet-Diskussion, die sich bis dahin allenfalls mit historischen Bezügen befasst hatte.290 Der nun genuin innenpolitische Bezug wird dadurch hergestellt, dass der Antrag eine Folgebilanz zum Beschluss aus dem Jahr 2005 fordert. Die Fraktion DIE LINKE kritisiert ihrer Meinung nach ungenutzt gebliebene konkrete Umsetzungsmöglichkeiten. Etwa sei der Völkermord mit Ausnahme Brandenburgs noch immer kein Teil der Lehrpläne im Fach Geschichte, obwohl dies durch die allseits anerkannte deutsche Verwicklung angezeigt sei. Zum 95. Jahrestag des Aghet geriet außerdem die rechtliche Bewertung des Völkermordes zunehmend in das Zentrum der Betrachtung. Der Bundestagsbeschluss von 2005 sei insofern missverständlich formuliert, als er lediglich darauf verweise, dass andere die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord bezeichneten.291 Es entstehe der Eindruck, im Gegensatz zu den genannten unabhängigen Historikern, Parlamenten und internationalen Organisationen, sei der Deutsche Bundestag gerade nicht der Meinung, dass es sich um einen Völkermord handle.292 Dies nimmt die Fraktion DIE LINKE zum Anlass, nach der Haltung der Bundesregierung zum Völkermord an den Armeniern zu fragen. In elf Fragen ersuchte die Fraktion DIE LINKE um Auskunft zunächst darüber, ob und wie die Bundesregierung auf die türkische Regierung eingewirkt habe, um die Meinungsfreiheit in der Türkei zu stärken. Die Frage bezieht sich auf die strafrechtliche Verfolgung von Kritikern der Leugnung des Völkermordes durch die Türkei.293 Ebenfalls möchte die Fraktion DIE LINKE erfahren, wie die Bundesregierung die Rolle des Konfliktes für den EU-Beitritt der Türkei bewertet und ob sie auf die Länder eingewirkt hat oder noch einwirken wird, damit diese den Aghet zum Gegenstand der Geschichtslehrpläne machen.294 Erneut lässt sich die Verbindung der Aghet-Debatte mit den Belangen der türkischen Zivilgesellschaft beobachten. Die 288 289 290 291 292 293 294

BT-Drs. 17/687, S. 1. Zur Ermordung Dinks siehe 2. Teil A. II. 2. BT-Drs. 17/687, S. 2. BT-Drs. 15/5689, S. 3 f. BT-Drs. 17/687, S. 2. BT-Drs. 17/687, S. 3. BT-Drs. 17/687, S. 3.

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rechtspolitische Debatte wurde jedoch durch die letzte Frage der Fraktion DIE LINKE um einen entscheidenden Faktor ergänzt: Erstmalig nämlich wurde die Bundesregierung explizit nach ihrer eigenen rechtlichen Bewertung der historischen Ereignisse gefragt: „11. Vertritt die Bundesregierung die Auffassung, dass es sich bei den Massakern an den Armeniern 1915/16 um einen Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948 handelt? a) Falls ja, hat sie ihre Sichtweise in der Vergangenheit auch der tu¨ rkischen Regierung expressis verbis vermittelt? b) Falls nein, wie ist die Rechtsauffassung der Bundesregierung in dieser Frage, und wie begründet sie diese?“295

Diese Forderung stellte eine neue Intensitätsstufe der Anerkennungsdiskussion dar. Erstmalig wurde die Bundesregierung zur Stellungnahme gebeten, die direkt darauf zielt, eine inoffensive Umschreibung, wie sie noch im Jahr 2005 vereinbart worden war, zu verhindern. Ein Bestreben, das man angesichts der Antwort der Bundesregierung als gescheitert verstehen muss. Denn die Bundesregierung antwortete, neben Ausführungen zur Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen, Erwägungen zu Art. 301 des türkischen Strafgesetzbuches sowie zur Rolle Lepsius’ in der Kernfrage wie folgt. b) Antwort der Bundesregierung vom 25. Februar 2010 „Die Bundesregierung begrüßt alle Initiativen, die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/16 dienen. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Forschungen sollte Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern vorbehalten bleiben. Dabei ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Aufarbeitung der tragischen Ereignisse von 1915/16 in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien ist. Vor diesem Hintergrund zollt die Bundesregierung sowohl der türkischen als auch der armenischen Seite Respekt für die mutigen Schritte, die sie bereits zur Normalisierung ihrer bilateralen Beziehungen unternommen haben. Sie ermutigen beide Seiten in ihren Gesprächen regelmäßig, den laufenden Annäherungsprozess, der auch die Bildung einer Historikerkommission einschließt, beharrlich fortzusetzen. a) Auf die Antwort zu Frage 11 wird verwiesen. b) Auf die Antwort zu Frage 11 wird verwiesen.“296 Die Bundesregierung drückt in dieser Antwort aus, was sich vorher schon als Besonderheit der Causa Aghet abgezeichnet hatte und durch Regierungssprecher

295 296

BT-Drs. 17/687, S. 4. BT-Drs. 17/824, S. 7.

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Steffen Seibert im Jahr 2016 nach dem Armenier-Beschluss bestätigt wurde.297 Die Causa Aghet ist wie Schrödingers Katze: Dass es einen Völkermord gab, wird auch seitens der Bundesregierung nicht geleugnet, jedoch gleichzeitig auch nicht ausdrücklich anerkannt.298 c) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 19. Mai 2010 (Nachfrage zu Bundestagsdrucksache 17/824) Angesichts der Zielsetzung der Anfrage konnte diese Antwort nicht zufrieden stellen. Deshalb reagierte die Fraktion DIE LINKE im Mai 2010 mit einer Nachfrage in Form einer weiteren kleinen Anfrage an die Bundesregierung.299 Die Rückfrage zeichnet sich durch eine ganze Reihe relevanter Fragestellungen aus. Für die juristische Aufarbeitung der Anerkennung ist sie daher ein besonders ertragreiches Dokument. Zunächst wirft die Anfrage die Frage auf, ob der Bundestag in seinem Beschluss aus dem Jahr 2005 den Genozid nicht bereits anerkannt habe. Zwar seien die Wörter Völkermord und Genozid in dem Bundestagsbeschluss vermieden worden. Dies würde jedoch nicht bedeuten, dass der Bundestag den Völkermord nicht anerkannt habe. Vielmehr beschreibe er die Geschehnisse „im Einklang mit den Kriterien der UN-Völkermordkonvention“.300 Darin sah die Fraktion DIE LINKE eine implizite Anerkennung nach der erst 1955 in Kraft getretenen Konvention.301 Es folgt eine erhebliche Kritik an der Antwort der Bundesregierung vom 25. Februar 2010. Die Bundesregierung falle sprachlich hinter den Bundestagsbeschluss zurück, wenn sie von „tragischen Ereignissen“302 spreche und blende die deutsche Verantwortung aus.303 Es ist diese früher schon erkennbare Diskrepanz zwischen der formalen und deskriptiven Verwendung des Begriffes Völkermord, die auch die Auseinandersetzung zwischen der Fraktion DIE LINKE und der Bundesregierung maßgeblich prägt. Der Fraktion gelingt es jedoch nicht, den Kern des Problems zu artikulieren, sodass sie der Regierung durch ihre Bezugnahme auf die UN-Völkermordkonvention inklusive ihrer Rechtsfolge der Bundesregierung gerade die Vorlage für einen eleganten Ausweg aus der Anerkennungsdebatte liefert, obwohl sie das Gegenteil anzustoßen versucht hatte.

297 298 299 300 301 302 303

Siehe dazu ausführlich unten 2. Teil B. IV. 2. Zu den außenpolitischen Hintergründen siehe unten 2. Teil B. V. BT-Drs. 17/1798, S. 2. BT-Drs. 17/1798, S. 2. Siehe dazu oben 2. Teil A. VI. 2. d). BT-Drs. 17/824, S. 6 f. BT-Drs. 17/1798, S. 2.

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Die Anfrage nimmt außerdem einen weiteren juristisch interessanten Aspekt in den Blick, der im Zusammenhang mit der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern schließlich wieder in den Fokus der rechtspolitischen Debatte geraten ist: Die Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse.304 Ob und wann schlichte Parlamentsbeschlüsse Bindungswirkung entfalten und ob diese lediglich politischer oder auch rechtlicher Natur ist, ist in der Rechtswissenschaft umstritten.305 Spätestens seit der Stellungnahme von Regierungssprecher Seibert am 2. September 2016 ist zumindest die Einschätzung der Bundesregierung zu dieser Frage eindeutig klargelegt.306 An dieser Stelle entwickelte die Aghet-Debatte erstmalig nicht nur bundesinnenpolitische, sondern staatsrechtliche Bedeutung. Anstoß gab die Anfrage außerdem zur Auseinandersetzung mit der deutschen Rolle im Aghet.307 In Frage Nr. 2 lit. a fragt die Fraktion DIE LINKE explizit, ob die Bundesregierung Deutschland als Mittäterin oder Gehilfin im strafrechtlichen Sinne oder zumindest als Nutznießerin sehe. Die haftungsrechtlichen Konsequenzen eines Eingeständnisses einer solchen Mitschuld werden dabei ebenfalls angesprochen. Auch im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Herero in Namibia ist diese Dimension der Völkermordanerkennung durch die Bundesrepublik Deutschland immer wieder Thema.308 Dass die Erfassung der Ereignisse in (völker-)strafrechtliche Kategorien aber weder notwendig noch zweckdienlich ist, wurde an anderer Stelle schon erörtert.309 Dennoch wollte die Fraktion DIE LINKE von der Bundesregierung wissen, welche Ansicht diese zur Anwendbarkeit der UN-Völkermordkonvention vertrete und wie sie die „Deportationen und Massaker an den Armeniern 1915/16 aus juristischer Sicht“ beurteile.310 Eine Frage, auf die nie eine explizite Antwort der Bundesregierung gegeben worden ist und mit großer Wahrscheinlichkeit auch niemals gegeben werden wird. Schließlich fragt die Fraktion DIE LINKE in Frage Nr. 10 nach einem eigenständigen Tatbestand der allgemeinen Pönalisierung der Völkermordleugnung, um ausreichenden Opferschutz vor der Genozidleugnung zu gewährleisten. Ähnliche Tatbestände gibt es in anderen Rechtsordnungen, beispielsweise in Frankreich und der Schweiz. Im Zusammenhang mit diesen Normen ist auch der Völkermord an den Armeniern häufig thematisiert worden.311 Die Rückfrage der Fraktion DIE LINKE ist von einer gewissen Provokation geprägt, die einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Aghet, das ins304

BT-Drs. 17/1798, S. 2. Siehe unten 3. Teil C. 306 Siehe dazu ausführlich unten 3. Teil C. 307 BT-Drs. 17/1798, S. 3. 308 Siehe zu den Zusammenhängen unten 4. Teil D. 309 Oben 2. Teil A. II. 4. und 2. Teil A. VI. 2. d). 310 BT-Drs. 17/1798, S. 4. 311 Siehe zum internationalen Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern unten 2. Teil B. VIII. 305

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2. Teil: Die Causa Aghet

gesamt unter den vielen konfligierenden Interessen leidet, abträglich ist. So fragt die Fraktion DIE LINKE in Frage Nr. 1, ob die Bundesregierung die Dokumente über den Aghet, die in den Archiven des Auswärtigen Amtes gelagert werden, für echt halte. In Frage Nr. 1 lit. a spezifiziert die Fraktion zudem den Zusammenhang auf die Antwort zu Frage Nr. 11 in der Bundestagsdrucksache 17/824, in der die Bundesregierung ausweichend auf die Frage, ob der Aghet ein Völkermord im juristischen Sinne war, antwortet. Dass die Bundesregierung die Echtheit ihrer eigenen Dokumente ernsthaft anzweifeln würde, ist wohl ausgeschlossen. Vielmehr scheint die kleine Anfrage die Widersprüchlichkeit der Aussagen der Bundesregierung aufzeigen zu wollen, ohne dies ausdrücklich zu sagen. d) Antwort der Bundesregierung vom 4. Juni 2010 Die Antwort der Bundesregierung ist zwar vollständig, lässt jedoch Interpretationsspielräume offen und Rückschlüsse auf die Einschätzung der Lage durch die Bundesregierung zu. Auf den Hintersinn in den Fragen der Fraktion DIE LINKE geht die Bundesregierung nicht ein; die Antworten bleiben auf der Primärebene und sind sachlich. Anlass zu Zweifeln an der Echtheit der Dokumente in den Archiven des Auswärtigen Amtes bestehe nicht. Eine Bewertung der vorliegenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zur deutschen Verantwortung nehme sie jedoch nicht vor.312 Es ist dieser Stil, der den Umgang der Bundesregierung mit dem Aghet kennzeichnet. Diese Entwicklung kann insofern auch als Kernveränderung der Debatte im Jahr 2010 verstanden werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich nicht etwa die Sprache der Bundesregierung änderte, sondern diese im Jahr 2010 erstmals mit dem zuvor nur parlamentsintern diskutierten Thema konfrontiert war. Der strafrechtliche Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit der Genozidleugnung wird seitens der Bundesregierung anhand des geltenden Strafrechts behandelt. Ihrer Ansicht nach seien die §§ 140 Nr. 2, 185 ff., 189 und 130 Abs. 1 StGB gegebenenfalls einschlägig; zumindest würden sie den Unrechtsgehalt der Völkermordleugnung im Allgemeinen erfassen.313 Lediglich für die Leugnung des Holocausts sei 1994 mit § 130 Abs. 3 StGB eine spezielle Strafvorschrift geschaffen worden; darüber hinaus sieht die Bundesregierung keinen Handlungsbedarf auf strafrechtlicher Ebene.314 Dies mag mit Blick auf die in Art. 5 GG geschützte Meinungsfreiheit auch durchaus einleuchten, insbesondere wenn man den Begründungsaufwand für die Verfassungsmäßigkeit von § 130 Abs. 3 GG bedenkt.315 Die Bundesregierung begründet ihre Einschätzung jedoch anders. Die Einführung eines 312

BT-Drs. 17/1956, S. 3. Siehe zu der Auseinandersetzung in der Rechtsprechung mit der Subsumtion der Völkermordleugnung unter die §185 ff., 189 und 130 Abs. 1 StGB auch unten 2. Teil B. VI. und allgemein oben 2. Teil A. II. 3. 314 BT-Drs. 17/1956, S. 5. 315 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. November 2009, 1 BvR 2150/08, BVerfGE 124, 300 – Wunsiedel. Siehe dazu auch oben 2. Teil A. II. 3. 313

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allgemeinen Straftatbestands der Völkermordleugnung könnte die Strafgerichte vor die kaum lösbare Aufgabe stellen, zu bewerten, ob aktuelle oder historische Ereignisse Völkermord im Sinne des § 6 VStGB seien.316 Diese Begründung lässt insbesondere im Zusammenhang mit der Einschätzung der Bundesregierung zur Anwendbarkeit des Art. II UN-Völkermordkonvention Raum für Verwunderung.317 Weshalb ein Strafgericht historische Ereignisse unter § 6 VStGB, der sogar erst 2002 in Kraft getreten ist und somit auf noch weniger Fälle Anwendung findet als Art. II UN-Völkermordkonvention, subsumieren sollte, bleibt unklar.318 Einen Rückschluss auf die rechtliche Einordnung der Geschehnisse durch die Bundesregierung ließ diese Antwort noch nicht zu. Noch immer leugnet die Bundesregierung nicht, dass es einen Völkermord am armenischen Volk gegeben hat, wiederum schafft sie es aber, den Völkermord auch nicht anzuerkennen, sondern sich irgendwo dazwischen zu bewegen. Im Kontext mit den weiteren Antworten und den nachgegangenen Ereignissen und Stellungnahmen durch die Bundesregierung kann man ein Bild von einer Bundesregierung zeichnen, die sich durch diplomatische Finesse von allen Seiten unangreifbar macht. Dies ist mithin ein Grund dafür, dass die Bundesregierung weiterhin der Kritik von Unterstützern der Völkermordanerkennung ausgesetzt ist. Die Fraktion DIE LINKE beispielsweise kritisierte in einer kleinen Anfrage vom 9. Dezember 2014, die Antworten der Bundesregierung fielen hinter dem Parlamentsbeschluss aus dem Jahr 2005 zurück.319 4. 99 Jahre Genozid – Ein Jahrhundert im Nacken Nach der Auseinandersetzung der Fraktion DIE LINKE mit der Bundesregierung im Jahr 2010 verstummte die rechtspolitische Debatte zunächst. Erst, als sich das 100. Jahresgedenken im Jahr 2015 näherte, bekam die Diskussion neuen Wind. a) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 9. Dezember 2014 Die erste Anfrage anlässlich des 100. Jahresgedenkens des Aghet stellte die Fraktion DIE LINKE im Dezember 2014 schon über vier Monate vor dem offiziellen Jahrestag am 24. April 2015. Es handelt sich um eine umfangreiche Anfrage, die viele Einzelaspekte realpolitischer Ereignisse anspricht,320 aber auch erneut die großen Fragen im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern stellt. Die

316

BT-Drs. 17/1956, S. 6. BT-Drs. 17/1956, S. 5. Allgemein zur Anwendbarkeit der UN-Völkermordkonvention auf den Aghet siehe oben 2. Teil A. VI. 2. d). 318 Vgl. auch unten 4. Teil B. 319 BT-Drs. 18/3533, S. 2. 320 Darunter einige Projekte wie das Lepsiushaus oder einem vom Auswärtigen Amt geforderten Versöhnungsprojekt „Speaking to One Another“ und der Umgang mit Gedenkstätten. 317

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2. Teil: Die Causa Aghet

vorangegangene Fraktionsarbeit wurde 2014 erstmals zu einem Dokument zusammengetragen und im Wege einer weiteren Anfrage erneut aufs Tapet gebracht. Wie schon in den vorangegangenen Anfragen stellt die Fraktion DIE LINKE die Ereignisse und den Bezug zur deutschen Geschichte in einer Einleitung kurz dar.321 Weiterhin nimmt sie die Auseinandersetzung mit der Bundesregierung über den interfraktionellen Parlamentsbeschluss aus dem Jahr 2005 kritisch in den Blick. Die Bundesregierung erntet dabei mehr Kritik als der Bundestag. Wie schon in der Nachfrage322 zur Antwort der Bundesregierung im Jahr 2010323 erkennt die Fraktion DIE LINKE eine implizite Anerkennung des Völkermords im Parlamentsbeschluss aus dem Jahr 2005. Kritischer betrachtet sie immer noch, dass die Bundesregierung hinter dem Parlamentsbeschluss aus dem Jahr 2005 zurückbleibt und von „tragischen Ereignissen“ spricht.324 In diesem Zusammenhang sind erneute Bemühungen erkennbar, die Bundesregierung zu einer rechtlichen Bewertung des Aghet zu veranlassen. Wieder schlägt die Fraktion DIE LINKE dabei den Weg ein, die UN-Völkermordkonvention zur Bewertungsgrundlage zu machen, und fragt, ob die Bundesregierung der Meinung sei, der Aghet sei ein Völkermord im Sinne der UN-Völkermordkonvention gewesen und ob sie vorhabe, dies anzuerkennen bzw. welche anderweitige Rechtsauffassung sie diesbezüglich vertrete.325 Außerdem fragt die Fraktion DIE LINKE nach der Bewertung der Rolle des Deutschen Kaiserreichs durch die Bundesregierung.326 Auch der weitere strafrechtliche Umgang mit dem Aghet in der Bundesrepublik Deutschland sowie in anderen Staaten ist Gegenstand der Anfrage.327 Auch die außenpolitische Dimension der Leugnung des Völkermords am armenischen Volk nimmt die Fraktion DIE LINKE in den Blick. Die Bedeutung für die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union, die zum Zeitpunkt der Anfrage noch nicht so stark in der Kritik standen wie heute, thematisiert die Fraktion DIE LINKE ebenfalls.328 Es fällt auf, dass neue Ansätze sich der Anfrage nicht entnehmen lassen. Gerade darin liegt aber die immer größer werdende Bestimmtheit offen, mit der die Causa Aghet im Laufe der Jahre verfolgt wurde. Die Kontextualisierung einer stark komprimierten Sachverhaltsdarstellung mit aktuellen innen- und außenpolitischen Fragen in Kombination mit der Forderung nach einem staatlichen Tätigwerden offen-

321

BT-Drs. 18/3533, S. 1. BT-Drs. 17/1798. 323 BT-Drs. 17/824. 324 BT-Drs. 17/1798. 325 BT-Drs. 18/3533, S. 2. 326 BT-Drs. 18/3533, S. 3. 327 BT-Drs. 18/3533, S. 7 f. Dazu auch schon BT-Drs. 17/1798, S. 4. Siehe dazu auch unten 2. Teil B. VIII. 328 BT-Drs. 18/3533, S. 4 f. 322

B. Anerkennungsgeschichte

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baren, dass nicht die historische Einordnung des Aghet die Motivation für die Anerkennungsbestreben bilden, sondern Fragen von Macht und Verantwortung. b) Antwort der Bundesregierung vom 13. Januar 2015 Die Antwort der Bundesregierung eröffnet kaum neue Erkenntnisse. Die Frage nach der Einordnung des Aghet als Völkermord beantwortete die Bundesregierung größtenteils mit Verweisen auf die oben dargestellten Antworten auf die Anfragen vom 25. Februar 2010329 und 4. Juni 2010330. Dieser Umgang mit der Anfrage war im Zusammenhang mit der oben dargestellten Problematik des Völkermordbegriffs und der UN-Völkermordkonvention zu erwarten. Durch die Betonung der Nichtanwendbarkeit der UN-Völkermordkonvention, muss die Bundesregierung in der Sache keine Antwort geben, kommt ihrer Antwortpflicht jedoch nach.331 Die Versöhnung zwischen der Türkei und Armenien begrüßt sie zwar weiterhin ausdrücklich, positioniert sich jedoch darüber hinaus nicht zu den politischen Konflikten der beiden Staaten. Ausführlicher fiel die Antwort bezüglich der eigenen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland aus. Worin sie die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches am Aghet sehe, beantwortet die Bundesregierung mit einem Zitat von Bernd Neumann. Der damalige Kulturstaatsminister hatte zur Eröffnung des Lepsiushauses im Mai 2011 gesprochen und war dabei auf die deutsche Verantwortung eingegangen. Über die Deportationen und Massenmorde sei die damalige Reichsregierung von Anfang an umfassend informiert gewesen und habe aufgrund des Bündnisses mit dem Osmanischen Reich darüber geschwiegen und Veröffentlichungen verboten. Laut Neumann müsse „dieses Verhalten […] uns noch heute mit Scham erfüllen“.332 Zudem – und dies ist interessant – nimmt die Bundesregierung indirekten Bezug auf den Parlamentsbeschluss von 2005. Neumann führte nämlich weiter aus, der Bundestag habe 2005 die unru¨ hmliche Rolle des Deutschen Reiches bedauert und der Opfer des armenischen Volkes ein Gedenken gewidmet.333 Die Bundesregierung scheint also zumindest bezüglich der deutschen Verantwortung am Aghet mit der Auffassung des Bundestages übereinzustimmen, jedenfalls aber nicht gegenteiliger Ansicht zu sein. Ein Gedenken an den Völkermord war zunächst nicht vorgesehen; eine Gedenkveranstaltung zum 24. April 2015 sei zu diesem Zeitpunkt nicht in Planung.334

329

Siehe oben 2. Teil B. III. 3. b). Siehe oben 2. Teil B. III. 3. d). 331 Vgl. BT-Drs. 18/3722, S. 2. Zur Anwendbarkeit der UN-Konvention siehe oben 2. Teil A. VI. 2. d). 332 BT-Drs. 18/3722, S. 5 f. 333 BT-Drs. 18/3722, S. 6. 334 BT-Drs. 18/3722, S. 3. 330

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2. Teil: Die Causa Aghet

Die späteren Entwicklungen führten jedoch dazu, dass schließlich doch eine Gedenkveranstaltung stattfand. Die für die Debatte wenig markanten Antworten der Bundesregierung sind keineswegs überraschend. Sie belegen aber, dass die Sachlichkeit, mit der die Bundesregierung 2014 noch arbeiten konnte, nur eine oberflächliche Auseinandersetzung mit der Causa Aghet zur Folge hatte. Die Antworten der Bundesregierung stehen auch 2014 noch in einem starken Kontrast zu den Anfragen, da sie die immer im Hintergrund brennende Frage nach der politischen Einordnung des Aghet hinter phrasenhaften Sentenzen unbeantwortet lassen. Vielleicht war es aber auch gerade dieser Umgang mit der Causa Aghet, der dazu führte, dass sich relativ zu der vorangegangenen jahrzehntelangen Diskussion in kurzer Zeit die offizielle Haltung des Deutschen Bundestages ändern sollte. c) Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE vom 5. Februar 2015 Nur etwas über drei Wochen nach der Antwort der Bundesregierung auf ihre letzte Anfrage stellte die Fraktion DIE LINKE eine weitere kleine Anfrage zum gleichen Thema.335 Im Gegensatz zu den vorangegangenen Anfragen, die keine zufriedenstellende Antwort nach sich gezogen hatten, ging die Fraktion nun einen leicht veränderten Weg und nahm ausschließlich sehr konkrete Einzelfragen in den Blick. Auf erneutes Nachfragen nach der generellen Rechtsauffassung der Bundesregierung zum Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Völkermordes, verzichtete sie. Stattdessen konzentrierte sie sich zunächst auf die außenpolitischen Probleme und Beschränkungen, mit denen die Republik Armenien bis heute zu kämpfen hat. Die Beziehung zur Türkei und zu Azerbaidschan etwa schätzte die Fraktion DIE LINKE als „[…] schwer belastet […]“ ein.336 Der Konflikt um die Region Bergkarabach337 und die Grenzblockade durch die Türkei338 legten den Fokus auf aktuelle Fragen.339 Die Antwort der Bundesregierung auf die vorangegangene Anfrage war von größerer Offenheit für die deutsche Verantwortung am Aghet geprägt. Ausführlicher als in den vorangegangenen Anfragen setzte sich die Fraktion DIE LINKE in der Folge mit ihr auseinander.340 Die Formulierung, Deutschland habe eine „unrühmliche Rolle“341, empfindet sie vor den historischen Tatsachen als zu geringes Eingeständnis.342 Zur Unterstützung ihrer eigenen Argumentation wird der Umgang Schwedens mit dem Völkermord als Beispiel angeführt. Schweden hätte im März 335 336 337 338 339 340 341 342

BT-Drs. 18/3970. BT-Drs. 18/3970, S. 1. Siehe dazu oben 2. Teil A. I. 3. Siehe dazu oben 2. Teil A. I. 3. BT-Drs. 18/3970, S. 1. BT-Drs. 18/3970, S. 2. Zur deutschen Verantwortung siehe oben 2. Teil A. IV. BT-Drs. 15/5689, S. 1. BT-Drs. 18/3970, S. 2.

B. Anerkennungsgeschichte

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2010 den Aghet als Völkermord i.S.d. UN-Völkermordkonvention anerkannt und sei damit weitergegangen als die Verbündeten des Osmanischen Reiches Deutschland, Österreich, Ungarn und Bulgarien.343 Dass Schweden als Positivbeispiel ausgewählt wurde, ist jedoch irreführend, da Schweden sich im Ersten Weltkrieg zwar teilweise pro-deutsch positioniert hatte, jedoch grundsätzlich militärisch neutral geblieben war und damit aufgrund seiner Distanz zu den Ereignissen eine historisch weniger belastete Rolle einnimmt. Zahlreiche weitere Staaten haben den Völkermord an den Armeniern in Form eines Parlamentsbeschlusses anerkannt und werden nicht genannt.344 Die Strafbarkeit der Genozidleugnung in Griechenland, der Slowakei und der Schweiz wird jedoch erwähnt.345 Auch den nahenden Gedenktag an den Aghet, der die erneut aufgekommene Debatte überhaupt erst befeuert hatte, sah die Fraktion DIE LINKE in der Verantwortung der Bundesregierung, obwohl diese sich im Gegensatz zum Deutschen Bundestag in der Causa Aghet immer zurückhaltend verhalten hatte. Bezüglich des 100. Jahresgedenken wollte die Fraktion dennoch wissen, welche Veranstaltungen die Bundesregierung im In- sowie im Ausland durchführen wird und ob Bundeskanzlerin Angela Merkel, einzelne Bundesminister oder der damalige Bundespräsident Joachim Gauck an diesen Veranstaltungen teilnehmen werden346 – in der Retrospektive ein Fokus, der die diplomatischen Feinheiten, die auch die spätere Debatte prägen sollten, erkennt. d) Antwort der Bundesregierung vom 23. Februar 2015 Die Antwort der Bundesregierung folgte am 23. Februar 2015. Die Bundesregierung bezeichnet ihre Beziehungen zur Republik Armenien als „gut und vertrauensvoll“347 und trotz der Zurückhaltung der Bundesregierung, den Aghet als Völkermord anzuerkennen, ist dies auch das Bild, das die Republik Armenien und die Bundesrepublik Deutschland vermitteln und immer vermittelt haben. Bezüglich des 100. Jahresgedenkens äußerte die Bundesregierung im Gegensatz zu ihrer letzten Antwort348 nun Pläne für das Gedenkjahr. Dabei nahm sie Bezug auf die Bundestagsdrucksache 15/5689, den interfraktionellen Entschließungsantrag zum 90. Jahresgedenken des Völkermords an den Armeniern.349 Einige Workshops, kulturelle Veranstaltungen und Reisen sollten über das gesamte Gedenkjahr 2015 stattfinden.350 Auch legte die Bundesregierung offen, wie viele Mittel die Länder zum 343 344 345 346 347 348 349 350

BT-Drs. 18/3970, S. 2. Zu den einzelnen Anerkennungsakten siehe unten 2. Teil B. VIII. Siehe zum internationalen Umgang mit dem Aghet unten 2. Teil B. VIII. BT-Drs. 18/3970, S. 3 f. BT-Drs. 18/4085, S. 2. BT-Drs. 18/3722. Siehe oben 2. Teil B. III. 4. b). Siehe dazu oben 2. Teil B. III. 2. b). BT-Drs. 18/4085, S. 6.

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2. Teil: Die Causa Aghet

Gedenkjahr 2015 veranschlagt hatten.351 Zu der konkreten Frage der Fraktion DIE LINKE nach eigens von der Bundesregierung geplanten und durchgeführten Veranstaltungen und der Anwesenheit der Bundeskanzlerin, Bundesminister oder des Bundespräsidenten äußerte sich die Bundesregierung jedoch nicht und verwies lediglich auf die Antwort zu den allgemeinen Veranstaltungen im Gedenkjahr 2015. Für die rechtlich relevanten Aspekte hat auch diese Antwort keinen eigenständigen Erkenntniswert. Auf diese letzte Antwort der Bundesregierung folgte nunmehr eine Reihe von Anträgen aller im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen. 5. 100 Jahre Genozid – Keine Anerkennung trotz offener Worte Das 100. Jahresgedenken des Völkermords am armenischen Volk ging mit einer Vielzahl von Anträgen einher. Zu diesem Zeitpunkt dachte man bereits, der Höhepunkt der Debatte sei erreicht. Zahllose Meldungen über die sich überschlagenden Ereignisse erschwerten es, den Überblick über den aktuellen (rechts-)politischen Stand zu behalten. Dass im nächsten Jahr eine noch größere und folgenreichere Flut von Ereignissen bevorstand, war im Jahr 2015 nicht zu erahnen. a) Antrag der Fraktion DIE LINKE vom 18. März 2015 Am 18. März 2015, etwa sechs Wochen vor dem 100. Jahrestag des Aghet, reichte die Fraktion DIE LINKE den Antrag zum „100. Jahresgedenken des Völkermords an den Armenierinnen und Armeniern 1915/16 – Deutschland muss zur Aufarbeitung und Versöhnung beitragen“ beim Deutschen Bundestag ein.352 Der Deutsche Bundestag sollte nach diesem Antrag feststellen, dass es sich beim Aghet um einen Völkermord gehandelt hat. Dabei wollte die Fraktion DIE LINKE wieder eine Subsumtion unter geltendes Recht erreichen; der Bundestag sollte den Aghet in juristischer Terminologie erfassen und als Völkermord im Sinne der UN-Völkermordkonvention bewerten.353 Auch die Mitverantwortung des Deutschen Kaiserreichs als Bündnispartner des Osmanischen Reiches sollte der Bundestag anerkennen und bedauern. Zudem forderte die Fraktion DIE LINKE erneut die tatsächliche Umsetzung des Parlamentsbeschlusses aus dem Jahr 2005354. Die strafrechtliche Verfolgung in der Türkei von „[…] Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler[n], Journalistinnen und Journalisten, Ku¨ nstlerinnen und Ku¨ nstler[n] sowie Filmschaffende[n] […]“, die sich „[…] mit dem Vo¨ lkermordverbrechen o¨ ffentlichkeitswirk351 Das Ministerium fu¨ r Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg stellte für die Jahre 2015 und 2016 je 45.000 Euro zur Verfügung, die dem Lepsiushaus in Potsdam zuflossen. Das Land Sachsen-Anhalt stellte 2015 Mittel in Höhe von 26.800 Euro zur Verfügung, BT-Drs. 18/4085, S. 7. 352 BT-Drs. 18/4335. 353 18/4335, S. 1. Zur Subsumtion unter die UN-Völkermordkonvention siehe oben 2. Teil A. VI. 2. d). 354 BT-Drs. 15/5689.

B. Anerkennungsgeschichte

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sam bescha¨ ftigen“ sollte der Bundestag durch Betonung der Rolle der Meinungsfreiheit diplomatisch kritisieren.355 Auch die Bundesregierung wurde adressiert. Diese solle sich zur Mitverantwortung des Deutschen Reiches bekennen356 und innen- sowie außenpolitisch tätig werden. Die Aufnahme des Aghet in die Lehrpläne der Länder war erneut ein großes Anliegen der Fraktion DIE LINKE.357 Auch zur Einflussnahme auf die türkische Regierung bezüglich der Strafbarkeit wegen Äußerung über den Aghet sollte die Bundesregierung durch den Beschluss aufgefordert werden.358 Es folgte eine Begründung des Antrages, die inhaltlich wieder im Wesentlichen den vorangegangenen Anfragen und Anträgen der Fraktion DIE LINKE und auch dem Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2005 gleicht.359 Dies verdeutlicht erneut, dass die der Causa Aghet zu Grunde liegenden Fragen lange geklärt waren und die Auseinandersetzung nicht auf Tatsachen- sondern auf Wertungsebene stattfand. Der Antrag wurde vom Deutschen Bundestag abgelehnt. Stattdessen gab es eine Reihe weiterer Anträge und eine öffentliche Diskussion über die parlamentarische Anerkennung des Völkermords an den Armeniern, die fast weitere eineinhalb Jahre in Anspruch nahmen. Die Ablehnung des Antrags hatte naturgemäß innen- wie außenpolitische Gründe.360 Darüber hinaus hat der Antrag der Fraktion DIE LINKE aber erneut Art. II der UN-Völkermordkonvention in den Vordergrund der Diskussion gerückt, der – wie oben bereits erläutert wurde361 – der falsche Anknüpfungspunkt für die Anerkennung des Völkermords am armenischen Volk ist.362 Dieser wesentliche Aspekt des Antrages hat es schließlich auch nicht in den am 2. Juni 2016 gefassten Beschluss des Deutschen Bundestages geschafft. b) Antrag der Fraktionen CDU/CSU und SPD vom 21. April 2015 Kurz vor dem 100. Jahresgedenken nahm die Causa Aghet so weit Gestalt an, dass eine Anerkennung erstmals ernsthaft möglich erschien. Am 21. April 2015 reichten zunächst die Fraktionen der CDU/CSU und SPD einen Antrag mit dem Titel „Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern vor 100 Jahren“ ein.363 Der Koalitionsantrag war großer öffentlicher Aufmerksamkeit ausgesetzt. Streitpunkt der mittlerweile zu großen Teilen auch außerparlamentarisch

355 356 357 358 359 360 361 362 363

BT-Drs. 18/4335, S. 2. BT-Drs. 18/4335, S. 2. BT-Drs. 18/4335, S. 3. BT-Drs. 18/4335, S. 3. BT-Drs. 18/4335, S. 3 f. Siehe dazu unten 2. Teil B. V. Siehe oben 2. Teil A. II. 4. und 2. Teil A. VI. 2. d). Siehe dazu oben 2. Teil A. II. 4. BT-Drs. 18/4684.

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2. Teil: Die Causa Aghet

geführten Debatte war das Wort Völkermord.364 In Frage stand, ob das Wort überhaupt in dem Antrag stehen dürfe und wenn ja, ob es auch in den Antragstitel aufgenommen werden sollte oder nicht. Mehrere verschiedene Versionen des Antrags kursierten durch die Medien, bis schließlich das Wort Völkermord in einem Nebensatz in dem Beschlussantrag untergebracht wurde: „Im Auftrag des damaligen jungtürkischen Regimes begann am 24. April 1915 im osmanischen Konstantinopel die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischen Armeniern. Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist.“365

Trotz des Gebrauchs des Begriffs Völkermord war noch immer Auslegungsspielraum darüber bestehen geblieben, wie deutlich die Fraktionen CDU/CSU und SPD die historischen Ereignisse als Völkermord bewerten wollten. Der lange Vorlauf und die aufgeladene Debatte um den Begriff, sowie ex post auch der diplomatische Nachgang zum Parlamentsbeschluss von 2016 verdeutlichen das Bild vom „diplomatischen Eiertanz“, dem sich der Bundestag jedoch 2015 erstmals zu stellen bereit schien.366 c) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 22. April 2015 Schließlich stellte auch die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 22. April 2015 einen Antrag mit dem Titel „Gedenken an den 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern – Versöhnung durch Aufarbeitung und Austausch fördern“.367 Sie fand deutlichere Worte für die Einordnung des Aghet: „Bei den Massakern an den und Todesmärschen der ArmenierInnen ab 1915 handelt es sich um einen Völkermord.“368

364 Statt aller siehe Steinmeier will nicht „Völkermord“ sagen, Spiegel Online vom 17. April 2015, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/voelkermord-an-den-arme niern-frank-walter-steinmeier-weicht-aus-a-1029078.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 16.00 Uhr; Steinmeier: Das Wort vom Völkermord ist verständlich, Süddeutsche Zeitung Online, arufbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/armenien-steinmeier-haelt-das-wortvom-voelkermord-fuer-verstaendlich-1.2442625, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 16.00 Uhr. 365 BT-Drs. 18/4684, S. 1. 366 Vgl. zum diplomatischen Eiertanz statt aller Armenien-Resolution: Der unwürdige Eiertanz der Bundesregierung, Stern Online vom 2. September 2016, abrufbar unter https:// www.stern.de/politik/andreas-petzold/armenien-resolution-angela-merkel-und-der-unwuerdigeeiertanz-der-regierung-7038886.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 16.20 Uhr; ebenso Steckt ein neuer Bundeswehr-Einsatz hinter dem Eiertanz der Bundesregierung?, Focus Online vom 4. September 2016, abrufbar unter http://www.focus.de/politik/deutschland/tauwetternach-tuerkei-eiszeit-steckt-ein-neuer-bundeswehr-einsatz-hinter-dem-eiertanz-der-bundesregie rung_id_5893729.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 16.20 Uhr. 367 BT-Drs. 18/4687. 368 BT-Drs. 18/4687, S. 3.

B. Anerkennungsgeschichte

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Erstmals in der parlamentarischen Anerkennungsdebatte adressierte eine Fraktion das Problem der Subsumtion unter die UN-Völkermordkonvention. Die Konvention verwende den Begriff des Völkermords auch im Hinblick auf historische Geschehnisse. Abgesehen von der Frage der Geltung der Völkermordkonvention sei jedenfalls der Tatbestand des Völkermords gemäß Artikel II der UN-Völkermordkonvention erfüllt ist.369 Eine Begründung dieser Behauptung blieb zwar aus. Sie zeugt jedoch von einem ersten richtigen Verständnis der Unterschiede zwischen historischen und rechtlichen Kategorien.370 d) 101. Sitzung des Deutschen Bundestages am 24. April 2015 Am 24. April 2015 standen die drei Anträge schließlich auf der Tagesordnung der 101. Sitzung des Deutschen Bundestages.371 Obwohl der damalige Präsident des Deutschen Bundestages Norbert Lammert in seiner Rede zur Gedenkveranstaltung von Völkermord sprach und am Vorabend auch der damalige Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Rede zum kirchlichen Gedenken im Berliner Dom ausdrücklich die gleichen Worte gewählt hatte, schaffte es keiner der drei Anträge zur Beschlussfassung. Die Debatte um die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ebbte mit dem Verstreichen des 100. Jahresgedenkens vorläufig ab. Ex post wird der Zeitraum von 90 Jahren vor dem Bundestagsbeschluss als „[…] Sprachlosigkeit angesichts des Schicksals der osmanischen Armenier […]“372 bezeichnet. Mit Verstreichen des Gedenktages geriet die Causa Aghet zunächst wieder aus dem parlamentarischen und auch aus dem öffentlichen Fokus. Die Geschichte der bisherigen Debatte legte zu diesem Zeitpunkt die Annahme nahe, dass die Frage nun erneut bis zu einem großen Datum ruhen und allenfalls in unregelmäßigen Nachfragen einzelner Fraktionen auf der parlamentarischen Agenda stehen würde. e) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 25. Februar 2016 Am 21. Februar 2016 wurde bekannt, dass die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für den 25. Februar 2016 eine Debatte zum Gedenken des Völkermordes angesetzt hatte.373 Der Völkermord an den Armeniern sollte nun nachdrücklich durch einen schlichten Parlamentsbeschluss ausdrücklich anerkannt werden.374 Zugpferd

369

BT-Drs. 18/4687, S. 3. Siehe dazu oben 2. Teil A. VI. 2. d). 371 Plenarprotokoll 18/101, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 101. Sitzung, I. 372 Plenarprotokoll 18/101, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 101. Sitzung, 9656 (D). 373 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. Februar 2016, Nr. 7. 374 BT-Drs. 18/7648. 370

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2. Teil: Die Causa Aghet

des Ansinnens war Cem Özdemir, der das Wohl der Armenier zeitnah zur anstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg auf seine Agenda gesetzt hatte.375 Im Vorfeld der Debatte hatte sich Özdemir gegenüber der Presse über die Hintergründe der Entscheidung der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, einen eigenen Beschlussantrag einzureichen, geäußert. Die Vehemenz, mit der die Türkei jeder Äußerung jeglicher Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland begegnete, dürfe das Handeln des Deutschen Bundestages nicht bestimmen. Der Verzicht auf eine Erklärung des Deutschen Bundestages sei eine „Morgengabe an Erdog˘ an“. Die Berücksichtigung der Türkei in der Frage der Anerkennung des Völkermords am armenischen Volk gehe zu weit, sei sogar unterwürfig.376 Einigkeit über diese Einschätzung innerhalb der Fraktion bestand jedoch im Vorfeld der Debatte nicht. Laut der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung wollten sich „führende Grünen-Politiker aus Schleswig-Holstein, Baden-Württemberg und Hessen nicht zu dem Armenien-Antrag äußern und verwiesen auf aktuelle Wahlkampfverpflichtungen oder eine generelle Zurückhaltung bei allgemeinpolitischen Fragen.“377 Auch außerhalb der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN waren die Auffassungen geteilt. Während Union und SPD den Zeitpunkt grundsätzlich für ungünstig hielten, äußerten sich einige Abgeordnete doch zugunsten einer Erklärung. Ebenso teilte der Sprecher des Bundestagspräsidenten mit, die Position des Bundestagspräsidenten sei unverändert.378 Trotz aller Verwirrungen fand am 25. Februar 2015 die Bundestagsdebatte statt, bei der zwar erwartungsgemäß der Völkermord an den Armeniern nicht ausdrücklich anerkannt wurde, im Ergebnis aber zumindest eine medienwirksame Einigung über das weitere Vorgehen des Bundestages erreicht wurde. Angesetzt worden waren 45 Minuten Debatte und eine anschließende namentliche Abstimmung. Der Deutsche Bundestages und die Bundesregierung sahen sich Kritik für ihre Untätigkeit ausgesetzt. Der Blick auf außenpolitische Belange dürfe nicht das Handeln der nationalen Verfassungsorgane bestimmen; deutsche Politik habe ausschließlich in Deutschland zu erfolgen. Die Türkei habe insbesondere über den Inhalt der Beschlüsse des Deutschen Bundestages nicht zu entscheiden.379 Die Divergenz zwischen den unterschiedlichen Verständnismöglichkeiten des Begriffs Völkermord trat wieder deutlich hervor. Durch die zahlreichen vorangegangenen Debatten, insbesondere aber die Debatte zum 100. Jahresgedenken des 375 Siehe zum Zeitpunkt der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern auch unten 4. Teil C. 376 Grüne zwingen Bundestag zu Armenien-Debatte, Frankfurter Allgemeine Zeitung Net vom 20. Februar 2016, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/voelkermord-gruenezwingen-bundestag-zu-armenien-debatte-14081608.html, letzter Abruf 22. Februar 2016, 11.55 Uhr; Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. Februar 2016, Nr. 7. 377 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. Februar 2016, Nr. 7. 378 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21. Februar 2016, Nr. 7. 379 Plenarprotokoll 18/158, Stenografischer Bericht, 158. Sitzung, 15556 (C) bis 15557 (A).

B. Anerkennungsgeschichte

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Aghet am 24. April 2015 sei der Völkermord doch schon anerkannt. Die Verschriftlichung durch einen Beschluss könne deshalb lediglich noch klarstellende Wirkung entfalten. Zudem bestehe die Gefahr, ein Beschluss zum aktuellen Zeitpunkt könne von der Türkei einseitig als türkeikritisches Signal interpretiert werden. Angesichts der angespannten Lage in der Flüchtlingskrise sei dies nicht der richtige Weg, vielmehr sei Diplomatie gefragt. Die Fraktion der CDU/CSU hat dem Antrag aus diesen Gründen nicht zugestimmt.380 Brüskiert reagierte die Fraktion DIE LINKE, denn sie habe jahrelang auf einen Parlamentsbeschluss hingearbeitet, sei aber bei der Fassung des aktuellen Antrages ausgeschlossen worden; beraten hatte man sich lediglich mit der Koalition. Die weitere Untersuchung wird zeigen, dass eine solche Entwicklung für schlichte Parlamentsbeschlüsse im Allgemeinen üblich ist.381 Auch inhaltlich sei darüber hinaus der Antrag nicht derart ausgestaltet, dass die Fraktion DIE LINKE ihm zustimmen könne. Auch an dieser Stelle offenbarte sich die der Diskussion in großen Teilen zu Grunde liegende Begriffsproblematik. Die Einordnung der Geschehnisse im Ersten Weltkrieg sei unklar. Zwar tauche der Begriff des Völkermordes in der Überschrift auf, der folgende Antragstext bliebe in seiner Deutlichkeit jedoch dahinter zurück. Zudem werde die Rolle des Deutschen Kaiserreiches verharmlost. Das Kaiserreich habe sich der Beihilfe zum Völkermord strafbar gemacht. Zwar möchte sich auch die Fraktion DIE LINKE einem „Diktat aus Ankara, welche Anträge eingebracht werden“ nicht unterwerfen. Aus den zuvor genannten Gründen verweigerte aber auch sie ihre Zustimmung zum Antrag.382 Der Mut zum Wort war in der Debatte allgegenwärtig. „Es war Völkermord!“, hieß es von Seiten einzelner Abgeordneter aller Fraktionen. Lediglich nach außen sei dies eben noch nicht kommuniziert worden. Ebenfalls einstimmig war jedoch die Kritik am von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewählten Antragszeitpunkt. Die diplomatischen Beziehungen zur Türkei dürften aktuell nicht belastet werden, sodass eine Zustimmung zum Antrag nicht möglich sei.383 Auch wurde der Vorwurf des Missbrauchs der Sache für Parteipolitik geäußert. Ziel sei es gerade, die diplomatischen Beziehungen zur Türkei zu belasten. Nach Lukas Kapitel 4, dritter Vers könne „Gutes, das in böser Absicht vorgeschlagen“ keinesfalls eine Zustimmung zur Folge haben. Ein Beschluss durch den Deutschen Bundestag sei zudem der Versöhnung zwischen Armenien und der Türkei nicht zuträglich.384 Auf die Kritik des Zeitpunkts folgte die Gegenfrage, welcher Zeitpunkt denn günstig sei – immerhin sei in 100 Jahren kein Zeitpunkt günstig gewesen. Ein baldiges Handeln wurde allgemein befürwortet. Die Koalition habe vor, den interfraktionellen Beschlussantrag, der schon am 24. April 2015 ins Parlament eingebracht wurde, tatsächlich 380 381 382 383 384

Plenarprotokoll 18/158, Stenografischer Bericht, 158. Sitzung, 15557 (D) bis 15559 (A). Siehe unten 3. Teil A. 3. Teil A. V. Plenarprotokoll 18/158, Stenografischer Bericht, 158. Sitzung, 15559 (A) bis 15561 (A). Plenarprotokoll 18/158, Stenografischer Bericht, 158. Sitzung, 15561 (A) bis 15563 (A). Plenarprotokoll 18/158, Stenografischer Bericht, 158. Sitzung, 15563 (A) bis 15564 (A).

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2. Teil: Die Causa Aghet

„innerhalb der nächsten Wochen“ zum Beschluss zu bringen. Auf Nachfrage von Özdemir konnte zwar nicht versichert werden, dass dies zum 24. April 2016 und damit noch im 100. Gedenkjahr des Aghet passieren würde. Das Versprechen, den Beschluss zu beschließen, konnte der Koalition jedoch abgenommen werden.385 Der Antrag wurde schließlich wieder zurückgezogen. Die namentliche Abstimmung fand somit nicht statt. Dennoch zeichnet sich die Debatte durch größere Offenheit mit dem Umgang mit dem Aghet aus. Alle Abgeordneten, die sich in der Debatte äußerten, sprachen das Wort Völkermord aus. Im Vergleich zur Debatte am 24. April 2015 war der Umgang mit diesem Begriff betont natürlich. Insbesondere die Wortmeldungen seitens der CDU/CSU und SPD vermittelten eine solche Selbstverständlichkeit, dass der Eindruck entstehen konnte, innerparlamentarisch habe es nie verschiedene Auffassungen darüber gegeben, was zu tun sei. Die Diskussion wurde dadurch in gewisser Weise ehrlicher. Zwar mag man – wie im Falle des Russischen Gesetzesentwurfs zur Pönalisierung der Leugnung des Völkermords an den Armeniern386 – kritisieren können, dass die Armenienfrage nur zum diplomatischen Spielball gereicht.387 Dennoch ist ein offener Umgang mit den wahren Gründen, die gegen einen öffentlichen Akt der Bundesrepublik Deutschland sprechen positiv.

IV. Anerkennung des Völkermords am armenischen Volk durch Parlamentsbeschluss 1. Anerkennungsbeschluss vom 2. Juni 2016 Am 2. Juni 2016 wurde der Aghet vom Deutschen Bundestag schließlich als Völkermord anerkannt. Beschlossen wurde ein Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN.388 Die Fraktion DIE LINKE wurde am gemeinsamen Antrag nicht beteiligt, obwohl sie sich – wie oben dargestellt wurde – intensiv für die Anerkennung des Völkermords am armenischen Volk eingesetzt hatte.389 Die Debatte drehte sich nach den vorangegangenen Protesten seitens der Türkei überwiegend um die notwendige Selbstbehauptung des Parlaments und weniger darum, ob ein Völkermord stattgefunden habe oder nicht. Über Letzteres waren sich vielmehr alle Redner und Rednerinnen einig. Der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnete die Debatte mit Bezug zu den aktuellen Ereignissen. Die 385

Plenarprotokoll 18/158, Stenografischer Bericht, 158. Sitzung, 15564 (A) bis 15565 (A). Siehe dazu unten 4. Teil C. 387 Siehe zum Zeitpunkt der Anerkennung unten 4. Teil C. 388 BT-Drs. 18/8613. 389 Gregor Gysi sprach in diesem Zusammenhang von einer „pathologischen Ausschließeritis“ der Union, BT-Plenarprotokoll 18/173, 17028. 386

B. Anerkennungsgeschichte

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Debatte solle Handlungswillen und –fähigkeit des Deutschen Bundestages demonstrieren, nicht jedoch sei das Parlament eine „[…] Historikerkommission und ganz gewiss kein Gericht“.390 An dieser Stelle tritt das politische Element der Causa Aghet besonders deutlich hervor, stand doch schon lange nicht mehr in Frage, wie die Ereignisse zu bewerten seien, sondern viel mehr, wie weit das Parlament mit seinen Äußerungen gehen konnte. Der Beschluss ist inhaltlich das Ergebnis der jahrzehntelangen Anerkennungsgeschichte, denn er ist ein Konglomerat aus Formulierungen und Inhalten verschiedener Stadien der Anerkennung. Er enthält den weit überwiegenden Teil der in die Debatte eingeflossenen Punkte. Der Völkermord am armenischen Volk stehe beispielhaft für „[…] die Massenvernichtungen, ethnischen Säuberungen, Vertreibungen, ja [die] Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist.“391 Die besondere deutsche Verantwortung392 und die Aufnahme des Schicksals des armenischen Volkes in die Lehrpläne an deutschen Schulen393 finden ebenso ihren Platz in dem Beschluss wie der Beitrag, den die Bundesrepublik Deutschland auch mit Hilfe der Bundesregierung zur Versöhnung der Türkei und Armenien leisten kann und soll.394 Die Beschlussfassung ging schließlich ohne besondere Vorkommnisse vonstatten. Dieser Umstand illustriert, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse häufig das Ende des Kampfes um parlamentarischen Konsens bilden, die interessanten politischen Fragen vorher jedoch schon in anderer Form, insbesondere den jeweiligen Vorlagen gestellt worden sind. Der Antrag wurde ohne eine größere Diskussion mit einer Gegenstimme und einer Enthaltung beschlossen. Die wichtigsten Regierungsmitglieder Bundeskanzlerin Merkel, der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel und der damalige Außenminister und heutige Bundespräsident Frank Walter Steinmeier nahmen zwar nicht an der Sitzung teil. Dennoch schien der Parlamentsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern zu diesem Zeitpunkt der Schlusspunkt zu einer über ein Jahrhundert andauernden rechtspolitischen Debatte gewesen zu sein. 2. Stellungnahme der Bundesregierung vom 2. September 2016 Die Diskussion um die Causa Aghet war jedoch entgegen der Erwartungen nicht beendet. Nach einigen unruhigen Monaten395 gab die Bundesregierung am 2. September 2016 eine Stellungnahme zum Armenier-Beschluss des Bundestages ab. Hintergrund war eine Meldung, in der Spiegel Online behauptete, die Bundesre390 391 392 393 394 395

Plenarprotokoll 18/173, Stenografischer Bericht, 173. Sitzung, 17028. BT-Drs. 18/8613, S. 1. BT-Drs. 18/8613, S. 1 f., 4. BT-Drs. 18/8613, S. 2. BT-Drs. 18/8613, S. 2 f. Siehe zu den außenpolitischen Folgen der Anerkennung unten 2. Teil B. V. 2.

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2. Teil: Die Causa Aghet

gierung wolle sich vom Armenier-Beschluss des Bundestages distanzieren.396 Dies sei Voraussetzung für die Aufhebung des Besuchsverbots bei den in der Türkei stationierten Bundeswehrsoldaten.397 Nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung des Artikels folgte das Dementi der Bundesregierung durch Regierungssprecher Steffen Seibert. Von einer Distanzierung könne keine Rede sein, die Berichterstattung von Spiegel Online sei falsch. Gleichzeitig erklärte Seibert jedoch, das Vorliegen eines Völkermords könne nur von einem Gericht festgestellt werden.398 Der Bundesregierung gelang mit dieser Erklärung das scheinbar Unmögliche: Sie distanzierte sich politisch vom ArmenierBeschluss des Bundestages, in dem sie ebendies dementierte. Außerdem sprach Seibert dem Parlamentsbeschluss die Bindungswirkung ab. Dass schlichte Parlamentsbeschlüsse in Form von sogenannten Entschließungen keine rechtliche Bindung entfalten würden, stehe auch auf der Homepage des Deutschen Bundestages.399 Der Bundestag äußere lediglich seine Auffassung zu politischen Fragen und in dieses Entschließungsrecht wolle die Bundesregierung keinesfalls eingreifen. Dass schlichte Parlamentsbeschlüsse lediglich politische Äußerungen und somit für die Bundesregierung unverbindlich seien, betonte auch Bundeskanzlerin Merkel in einem Interview mit n-tv.400 Der Türkei gegenüber sei diese Einschätzung deutlich mitgeteilt worden.401 Auch zwei Jahre nach der parlamentarischen Anerkennung übte Merkel Zurückhaltung in der Causa Aghet. Im August 2018 besuchte sie im Rahmen einer Reise nach Armenien auch die Aghetgedenkstätte Zizernakaberd, vermied es jedoch von „Völkermord“ zu sprechen.402 Im Geiste habe sie jedoch an den Armenier-Beschluss gedacht.403

396

Armenien Resolution – Merkel geht auf Erdog˘ ans Forderung ein, Spiegel Online vom 2. September 2016, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/armenien-resolutionangela-merkel-geht-auf-erdogans-forderung-ein-a-1110505.html; letzter Abruf 6. September 2016, 11.41 Uhr. 397 Armenien Resolution – Merkel geht auf Erdog˘ ans Forderung ein, Spiegel Online vom 2. September 2016, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/armenien-resolutionangela-merkel-geht-auf-erdogans-forderung-ein-a-1110505.html; letzter Abruf 6. September 2016, 11.41 Uhr. Zum Besuchsverbot siehe sogleich. 398 Zusammenfassung der Erklärung abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/Con tent/DE/Artikel/2016/09/2016-09-02-seibert-armenien.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 17.10 Uhr. 399 http://www.bundestag.de/service/glossar/E/entschl_antrag/245394, letzter Abruf 14. September 2016, 15.27 Uhr. 400 Zusammenfassung des Interviews durch die Regierung abrufbar unter https://www.bun desregierung.de/Content/DE/Artikel/2016/09/2016-09-02-seibert-armenien.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 17.10 Uhr. 401 Ibid. 402 Statt aller Merkels Grenzerfahrungen im Kaukasus, Süddeutsche Zeitung Online vom 24. August 2018, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/bundeskanzlerin-merkelsgrenzerfahrungen-im-kaukasus-1.4103371, letzter Abruf 29. August 2018, 19.50 Uhr.

B. Anerkennungsgeschichte

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Die deutsche Presselandschaft hat zunächst überwiegend einheitlich mit Empörung gegenüber der Falschmeldung von Spiegel Online reagiert. Bei näherer Betrachtung der Erklärung Seiberts ist die Wahrnehmung einer Distanzierung der Bundesregierung gerade durch das Dementi ebendieser erklärbar. Indem sie die fehlende Bindungswirkung herausstellt, die Zuständigkeit zur Subsumtion den Gerichten zuweist und vernachlässigt, dass Entschließungen neben der Äußerung der Auffassung des Bundestages auch Aufforderungen an die Bundesregierung zu einem bestimmten Verhalten enthalten können, rückt sie sich aus dem Feld des Beschlusses, der jedoch gerade auch den Bereich der Regierung tangiert.404 Seibert sprach dem Parlamentsbeschluss außerdem nicht nur die Bindungswirkung ab, sondern bezweifelte schon die Zuständigkeit des Deutschen Bundestages für die Auseinandersetzung mit der Materie. Die rechtliche Bewertung falle in den Zuständigkeitsbereich der Gerichte. Mit dem gleichen Argument begegnete die Türkei den meisten parlamentarischen Anerkennungsakten. Die Türkei hat die Bestätigung dieser Ansicht positiv aufgenommen.405 Die Aussagen der Bundesregierung zur gerichtlichen Überprüfbarkeit des Falles sind von Widersprüchlichkeit geprägt. Einerseits wird die Möglichkeit einer juristischen Bewertung unter Verweis auf die Nichtanwendbarkeit der UN-Völkermordkonvention zunächst – richtigerweise – ausgeschlossen und die Bewertung im Zuständigkeitsbereich der Wissenschaft gesehen406, in einer offiziellen Stellungnahme aber die Subsumtionslast den Gerichten zugeschrieben.407 Ob der Bundestag tatsächlich kompetenzüberschreitend tätig geworden ist, als er den Völkermord an den Armeniern im Wege des schlichten Parlamentsbeschlusses anerkannt hat, ist im Zusammenhang mit der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse zu betrachten.408 Mangels laufenden Verfahrens stellt sich das Problem des Eingriffs in den Bereich der Judikative durch den Armenier-Beschluss zumindest praktisch nicht. An die Rechtsauffassung des Deutschen Bundestages wäre ein deutsches Gericht jedenfalls aber nicht gebunden.409 Als Auslegungshilfe könnte der Armenienbeschluss im Falle einer Schadensersatzklage möglicherweise herange403 Statt aller Merkels Grenzerfahrungen im Kaukasus, Süddeutsche Zeitung Online vom 24. August 2018, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/bundeskanzlerin-merkelsgrenzerfahrungen-im-kaukasus-1.4103371, letzter Abruf 29. August 2018, 19.50 Uhr. 404 Siehe zu schlichten Parlamentsbeschlüssen im Bereich der Regierung unten 3. Teil B. III. 2. und 3. Teil C. und ihrer Wirkung 3. Teil D. 405 Statt aller Türkei begrüßt Stellungnahme der Bundesregierung, ZEIT Online vom 3. September 2016, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-09/tuerkischebotschaft-reaktion-stellungsnahme-bundesregierung-armenien-resolution, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 17.30 Uhr. 406 BT-Drs. 17/824, S. 7. 407 Siehe zur Problematik des schlichten Parlamentsbeschlusses im Bereich der Judikative unten 3. Teil B. III. 1. 408 Siehe unten 3. Teil B. 409 Siehe dazu unten 3. Teil C. III. 1.

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2. Teil: Die Causa Aghet

zogen werden. Eine solche Klage ist jedoch nicht zu erwarten; weder bestehen vertragliche Grundlagen für Reparationszahlungen, noch hat die Republik Armenien je die Absicht erkennen lassen, etwaige Reparationsansprüche zu verfolgen, sei es gegen die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches oder die Bundesrepublik Deutschland.410 Dennoch sind die Auswirkungen der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern auf eine hypothetische Schadensersatzklage interessant. Einen ähnlichen Fall stellt der Völkermord an den Herero dar, der ebenfalls erst im Jahr 2016 von der Bundesrepublik Deutschland anerkannt wurde. Im Januar 2017 reichten Vertreter der Volksgruppen der Herero und Nama in New York City eine Sammelklage gegen die Bundesrepublik Deutschland ein, um Entschädigungen für den Völkermord im Jahr 1904 zu erlangen.411 3. Folgen des Dementi – Kritik aus Deutschland, Lob aus der Türkei Der diplomatische Spagat, den die Bundesrepublik Deutschland bezüglich der Anerkennung des Aghet zu absolvieren versuchte, wurde unterschiedlich aufgenommen. Es gab Enttäuschung und Entrüstung, häufig jedoch auch blankes Unverständnis und Spott für den politischen „Eiertanz“412 um einen ein ganzes Jahrhundert zurückliegenden Fall. Die Stellungnahme der Bundesregierung wurde auch im Parteienspektrum unterschiedlich beurteilt. Rainer Arnold (SPD) betrachtete die Äußerungen der Bundesregierung nicht als Distanzierung. Die Bundesregierung könne sich nämlich inhaltlich gar nicht vom Bundestag distanzieren. Lediglich habe die Bundesregierung „[…] erklärt, dass eine Resolution die Funktion einer Resolution hat und die Meinung des Parlaments wiedergibt.“413 Florian Hahn, Verteidigungsexperte der CSU, sah die rechtliche 410 Eine Befreiung für Alle, taz vom 21. April 2015, abrufbar unter http://www.taz.de/!5011 654/, letzter Abruf 17. Oktober 2017, 12.25 Uhr; siehe zum vergleichbaren Fall der Klage gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen des Völkermords an den Herero sowie der Erwartbarkeit einer solchen Klage seitens Armenien oben 2. Teil A. II. 2. A.A. Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 203 ff. unter Entwicklung eines umfassenden Katalogs mit Wiedergutmachungsforderungen. 411 Herero und Nama verklagen Deutschland, ZEIT Online vom 6. Januar 2017, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/2017-01/kolonialverbrechen-entschaedigung-deutschland-here ro-nama-klage-verhandlungen, letzter Abruf 17. Oktober 2017, 18.23 Uhr. 412 So bspw. Warum die Koalition nicht von Völkermord spricht, Die Welt vom 5. April 2015, abrufbar unter https://www.welt.de/politik/deutschland/article139138385/Warum-die-Ko alition-nicht-von-Voelkermord-spricht.html, letzter Abruf 27. Juli 2017, 11.15 Uhr; Steckt ein neuer Bundeswehr-Einsatz hinter dem Eiertanz der Bundesregierung?, Focus vom 4. September 2016, abrufbar unter http://www.focus.de/politik/deutschland/tauwetter-nach-tuerkei-eis zeit-steckt-ein-neuer-bundeswehr-einsatz-hinter-dem-eiertanz-der-bundesregierung_id_589372 9.html, letzter Abruf 27. Juli 2017, 10.30 Uhr. 413 Luftwaffenbasis Incirlik, Abgeordnete reisen erstmals wieder zu deutschen Soldaten in die Türkei, Spiegel Online vom 4. Oktober 2016, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/

B. Anerkennungsgeschichte

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Einordnung durch die Bundesregierung als Brücke für die türkische Regierung, die sich seines Erachtens ein Stück weit verrannt habe.414 Extremer reagierte DIE LINKE. Jan van Aken, außenpolitischer Sprecher, sprach von knallharter Erpressung und hielt es für beschämend, dass die Bundesregierung sich auf diese eingelassen habe.415 Die Türkei reagierte zunächst positiv und bekundete ihre Zustimmung zu der Auffassung, dass nicht das Parlament, sondern Gerichte zuständig seien sowie die Bundesregierung nicht immer der gleichen Meinung sein müsse wie der Deutsche Bundestag.416 Die deutschen Medien kehrten nach der Stellungnahme teilweise zur Bezeichnung „Massaker“ zurück, wofür andere diese wiederum kritisierten.417 Die Beruhigung der Lage, die die Bundesregierung mit der Erklärung wahrscheinlich angestrebt hatte, trat jedoch nicht ein. Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern wurde im Gegenteil in der Presse wie auch in der Politik präsenter denn je. Der außenpolitische Konflikt mit der Türkei spitzte sich nach der Regierungserklärung weiter zu.418 Vereinzelte Kritik am Handeln der Bundesregierung regte sich auch in der juristischen Literatur. So wurde in der Regierungserklärung eine „[…] Desavouierung des Bundestages […]“ durch die Bundesregierung gesehen.419 Die prononcierte Feststellung der Unverbindlichkeit des Parlamentsbeschlusses habe aus einer Frage des guten Tons eine verfassungsrechtliche Frage gemacht und verstoße gegen die verfassungsrechtliche Bindung der Organtreue.420

deutschland/incirlik-bundestagsabgeordnete-reisen-zu-deutschen-soldaten-a-1115024.html, letzter Abruf 5. Oktober 2016, 15.17 Uhr. 414 Besuch der Bundestagsdelegation in Incirlik: Was wirklich hinter Erdogans Kurswechsel steckt Huffington Post vom 5. Oktober 2016, abrufbar unter http://www.huffingtonpost. de/2016/10/05/incrilik-besuch-bundestag_n_12352630.html, letzter Abruf am 6. Oktober 2016, 15.41 Uhr. 415 Phoenix Presseportal vom 5. Oktober 2016., abrufbar unter http://presse.phoenix.de/ news/pressemitteilungen/2016/10/20161005_vanAken/20161005_vanAken.phtml, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 16.50 Uhr. 416 Türkei lobt Seiberts Äußerung zur Armenien-Resolution, Die Welt vom 3. September 2016, abrufbar unter https://www.welt.de/politik/deutschland/article157940530/Tuerkei-lobtSeiberts-Aeusserung-zur-Armenien-Resolution.html, letzter Abruf 27. Juli 2017, 14.20 Uhr. 417 Gott und die Welt, Feinsinnige Unterscheidungen, abrufbar unter http://www.taz.de/!533 7097/, letzter Abruf 14. September 2016, 17.11 Uhr. 418 Siehe dazu ausführlich unten 2. Teil B. V. 2. 419 Degenhart, NJW-aktuell 2016, 7. 420 Degenhart, Resolutionen des Bundestags – ein staatsrechtliches Nullum?, NJW-aktuell 2016, 7.

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2. Teil: Die Causa Aghet

4. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2016 (Az. 2 BvR 1383/16) Gegen den Beschluss des Parlaments wurden acht Verfassungsbeschwerden erhoben. Diese wurden vom Bundesverfassungsgericht wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen.421 Der Beschwerdeführer habe die Möglichkeit einer Verletzung seiner Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte nicht ausreichend dargelegt. Im Übrigen sei eine solche auch nicht ersichtlich.422 Ob die Beschwerdeführer den Fall vor den EGMR tragen werden, bleibt aktuell noch abzuwarten. 5. Armenische Reaktion auf die Anerkennung des Aghet als Völkermord Aus Armenien gibt es neben Dank für die Anerkennung weiterhin Kritik. Denn der deutsche Parlamentsbeschluss hat in den Augen einiger Armenier und Armenierinnen nichts mit Armenien zutun. Vielmehr gehe es um Probleme zwischen Deutschland und der Türkei.423 Dem gleichen Vorwurf war das russische Parlament ausgesetzt, als nach dem Abschuss des russischen Kampfjets über türkischem Staatsgebiet ein Gesetzesentwurf zur Pönalisierung der Leugnung des Aghet in die Duma eingebracht wurde.424

V. Außenpolitische Erwägungen gegen eine Anerkennung Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern stellt Staaten regelmäßig vor das Problem außenpolitischer Konflikte mit der Türkei. Aufgrund der NATOMitgliedschaft der Türkei425 üben sich viele Staaten in Zurückhaltung bezüglich der Armenienfrage. Die Bundesrepublik Deutschland hat – wohl auch aufgrund ihrer engen Verbindung zur Türkei – am stärksten erleben müssen, welchen negativen Einfluss die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern auf die Beziehungen zur Türkei haben kann. Die aufgrund der Flüchtlingskrise sowie des im Juni 2016 gescheiterten Militärputsches in der Türkei ohnehin schon angespannten Beziehungen standen nach dem Armenier-Beschluss endgültig vor der Eskalation. Die Debatte um die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern war geprägt von Befürchtungen, die über viele Jahre den Schritt des Bundestages zum Parlamentsbeschluss verhindert hatten. 421

BVerfG, Beschluss der vom 7. Dezember 2016 – 2 BvR 1383/16, zitiert nach juris. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2016 – 2 BvR 1383/16, zitiert nach juris. 423 Ausführlich unten 4. Teil C. 424 Vgl. unten 4. Teil C. 425 Aktuell sei laut taz! ein Ausstieg der Türkei aus der NATO aufgrund des Konflikts der Türkei mit den USA nicht mehr ausgeschlossen, Der Streit eskaliert, taz! Vom 11. Oktober 2017, abrufbar unter http://www.taz.de/!5452378/, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 18.45 Uhr. 422

B. Anerkennungsgeschichte

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1. Befürchtete Folgen der Anerkennung Dass außenpolitische Erwägungen eine Rolle bei der Vermeidung eines Tätigwerdens der Bundesrepublik Deutschlands spielen, wurde im Parlament im Zusammenhang mit der Rücknahme des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN offen zugegeben.426 Schon als das Land Brandenburg im Jahr 2005 den Völkermord an den Armeniern in den Lehrplan aufgenommen hatte, war eine hitzige Debatte entbrannt. Der damalige Ministerpräsident Matthias Platzeck ließ den Verweis auf den Völkermord am armenischen Volk wieder streichen, nachdem es zu Protesten türkischer Diplomaten gekommen war.427 Auch die Rede Joachim Gaucks zum 100. Jahrestag des Aghet hatte zu scharfer Kritik aus Ankara geführt. Das türkische Außenministerium erklärte, das türkische Volk werde dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussagen nicht vergessen und nicht verzeihen.428 Am Beispiel anderer Staaten, die den Völkermord an den Armeniern im Wege schlichter Parlamentsbeschlüsse anerkannt hatten, konnte man auch in Deutschland beobachten, welche Reaktion seitens der Türkei zu erwarten war. Bei Bekanntwerden bevorstehender Benennung der Ereignisse als Genozid, droht die Türkei bis heute regelmäßig mit diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Sanktionen. Insbesondere die NATO-Mitgliedschaft der Türkei ist dabei ein Druckmittel.429 Auf diplomatischer Ebene macht die Türkei ihre Drohungen immer wieder wahr, indem sie ihre Botschafter für einen gewissen Zeitraum aus dem betreffenden Land abzieht und die Botschafter des betreffenden Landes einberuft.430 Jüngste Beispiele vor dem Armenier-Beschluss des Deutschen Bundestages waren der Abzug des Botschafters aus Österreich und aus dem Vatikan im April 2015, nachdem das österreichische Parlament beziehungsweise Papst Franziskus den Aghet als Völkermord bezeichnet hatten.431 Beide Botschafter sind jedoch nach einigen Monaten wieder auf ihre Posten zurückgekehrt. Die zeitliche Begrenzung dieser diplomatischen Maßnahmen ließ den Schluss zu, dass auch die deutsch-türkischen Beziehungen nicht dauerhaft geschädigt bleiben würden.

426

Siehe oben 2. Teil B. III. 5. e). Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. August 2009, Nr. 181 S. 31. 428 Statt aller Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. April 2015, abrufbar unter http:// www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei-zeigt-ihren-zorn-ueber-gauck-rede-13558138.html, letzter Abruf 22. August 2017. 429 Zur außenpolitischen Dimension der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern siehe 2. Teil B. V. 430 Dazu sogleich 2. Teil B. V. 2. 431 Statt aller Türkei beruft Botschafter aus Österreich zurück, Spiegel Online vom 23. April 2015, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/voelkermord-debatte-tuerkei-beruftbotschafter-aus-oesterreich-zurueck-a-1030094.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 19.00 Uhr; bzw. Türkei holt Botschafter aus dem Vatikan zurück, Die Welt vom 12. April 2015, abrufbar unter https://www.welt.de/politik/ausland/article139427931/Tuerkei-holt-Botschafteraus-dem-Vatikan-zurueck.html, letzter Abruf 4. Dezember 2017, 19.00 Uhr. 427

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2. Teil: Die Causa Aghet

2. Tatsächliche Folgen der Anerkennung Wie erwartet regierte die Türkei mit großer Empörung auf den Armenier-Beschluss des Deutschen Bundestages. Sie rief umgehend ihren Botschafter aus Deutschland zurück und bestellte den deutschen Botschafter zu einem Gespräch ein. Erdog˘ an kündigte eine ernsthafte Beeinflussung der deutsch-türkischen Beziehungen an.432 Türkische Medien stellten Bundeskanzlerin Merkel in Naziuniform und mit Hitlerbart dar.433 Schon im Vorfeld des Beschlusses hatten Abgeordnete des Deutschen Bundestages E-Mails mit Drohungen erhalten. Tausende E-Mails warnten vor der Vergiftung der türkisch-deutschen Beziehungen durch die Resolution.434 Auch Journalisten waren von der Nachrichtenflut betroffen.435 Nach dem Beschluss berichteten zahlreiche Abgeordnete von Drohungen. Besonders heftig traf es Cem Özdemir, dem Verrat vorgeworfen, der heftig beschimpft und sogar mit dem Tode bedroht wurde.436 Von elf weiteren türkischstämmigen Abgeordneten wurden vom Oberbürgermeister in Ankara Steckbriefe verbreitet.437 Eine der am meisten beachteten Reaktionen der Türkei auf den Armenienbeschluss war das Besuchsverbot für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages bei den deutschen Soldaten auf der Luftwaffenbasis Incirlik. Von dort aus unterstützen die Tornados, Aufklärungsjets der Bundeswehr, den Krieg gegen den IS in Syrien und im Irak. Das Besuchsverbot wurde seitens der Türkei als Reaktion auf die Anerkennung des Aghet als Völkermord durch den Deutschen Bundestag verhängt.438 Im

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Focus vom 3. Juni 2016, abrufbar unter http://www.focus.de/politik/ausland/nach-bundes tags-beschluss-ist-hitler-etwa-tuerke-erdogan-und-seine-gefolgsleute-geisseln-armenien-resolu tion_id_5590775.html, letzter Abruf 27. Juli 2017, 15.05 Uhr. 433 Der Tagesspiegel vom 3. Juni 2016, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/politik/ nach-armenier-resolution-die-tuerkische-seele-kocht-schaemen-sie-sich/13686486.html, letzter Abruf 27. Juli 2017, 15.03 Uhr. 434 Spiegel Online vom 31. Mai 2016, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutsch land/bundestag-vor-armenien-resolution-drohmails-an-abgeordnete-a-1094944.html, letzter Abruf 28. Juli 2017, 11.50 Uhr. 435 Spiegel Online vom 31. Mai 2016, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutsch land/bundestag-vor-armenien-resolution-drohmails-an-abgeordnete-a-1094944.html, letzter Abruf 28. Juli 2017, 11.50 Uhr. 436 Todesdrohungen gegen Özdemir nach Armenien-Resolution, Die Welt vom 5. Juni 2016, abrufbar unter https://www.welt.de/newsticker/news1/article155971715/Todesdrohun gen-gegen-Oezdemir-nach-Armenien-Resolution.html, letzter Abruf 28. Juli 2017, 11.52 Uhr. 437 Drohungen nach Armenien-Resolution, Özcan Mutlu: „Wir wurden alle angeklagt“, Der Tagesspiegel vom 13. Juni 2016, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/berlin/drohungennach-armenien-resolution-oezcan-mutlu-wir-wurden-alle-angeklagt/13723220.html, letzter Abruf 28. Juli 2017, 12.00 Uhr. 438 Statt aller Bundestagsabgeordnete dürfen nicht nach Incirlik reisen, ZEIT Online vom 15. Mai 2017, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-05/tuerkei-bundestagsab geordnete-luftwaffenstuetzpunkt-incirlik-besuch-verbot, letzter Abruf 28. Juli 2017, 11.53 Uhr.

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Dezember 2016 musste über die Fortführung des Einsatzes erneut abgestimmt werden. Die Bundesregierung reagierte mit der Regierungserklärung vom 2. September 2016.439 Die Stellungnahme Seiberts hatte den Konflikt der Bundesrepublik Deutschland mit der Türkei zunächst soweit entspannt, dass ein Besuch im Oktober 2016 möglich war. Ziel der Reise nach Incirlik war es laut dem Leiter der Delegation Karl Lamers (CDU), Normalität in die Beziehung der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei einkehren zu lassen. Auch mit schwierigen Partnern müsse man umgehen, daher sei die Türkei zum Erhalt der Partnerschaft weiter einzubinden, sagte Arnold.440 Alexander Neu (DIE LINKE) zeichnete ein anderes Bild vom tatsächlichen Reiseverlauf. Den deutschen Abgeordneten seien ob des Armenier-Beschlusses seitens des türkischen Verteidigungsausschusses „gewissermaßen die Leviten gelesen“ worden.441 Die türkische Regierung habe der deutschen Delegation zudem ein Treffen verweigert, weshalb Neu nicht den Eindruck gehabt habe, „[…] dass wir so willkommen waren, wie meine Kollegen aus der Delegation das teilweise wahrgenommen haben“.442 Lamers hatte den Parlamentsbeschluss vor der Reise noch verteidigt. Zwar habe er keine Bindungswirkung, der Bundestag habe jedoch das Recht, sich zu allen wichtigen Fragen zu äußern. Dazu, dass man dies bezüglich des Völkermordes am armenischen Volk getan habe, stehe man auch.443 Der Streit um das Besuchsverbot setzte sich jedoch fort. Zusätzlich zu den Streitigkeiten um den Armenier-Beschluss hatten auch die Versuche, vor dem Verfassungsreferendum in der Türkei durch türkische Politiker Wahlkampf in Deutschland zu machen, für Streit zwischen Deutschland und der Türkei gesorgt. Ebenso schädigten zahlreiche Verhaftungen deutscher Staatsbürger in der Türkei das Verhältnis weiter.444 Seitens der Bundesregierung gab es Deeskalationsversuche 439

Siehe dazu oben 2. Teil B. IV. 2. Abgeordnete verteidigen vor Türkeibesuch Armenien-Resolution, ZEIT Online vom 4. Oktober 2016, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-10/bundestag-ar menien-resolution-tuerkei-incirlik, letzter Abruf 6. Oktober 2016, 15.42 Uhr. 441 Nach Incirlik-Besuch: Abgeordnete sehen „Ende der Eiszeit“ mit der Türkei, Süddeutsche Zeitung Online vom 5. Oktober 2016, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/poli tik/nach-armenier-resolution-abgeordnete-sehen-entspannung-in-incirlik-1.3192377, letzter Abruf 6. Oktober 2016, 17.30 Uhr. 442 Nach Incirlik-Besuch: Abgeordnete sehen „Ende der Eiszeit“ mit der Türkei, Süddeutsche Zeitung Online vom 5. Oktober 2016, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/poli tik/nach-armenier-resolution-abgeordnete-sehen-entspannung-in-incirlik-1.3192377, letzter Abruf 6. Oktober 2016, 17.30 Uhr. 443 Abgeordnete verteidigen vor Türkeibesuch Armenien-Resolution, ZEIT Online vom 4. Oktober 2016, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/deutschland/2016-10/bundestag-ar menien-resolution-tuerkei-incirlik, letzter Abruf 6. Oktober 2016, 15.42 Uhr. 444 „Grenze des Erträglichen erreicht“, Tagesschau vom 17. Mai 2017, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/incirlik-159.html, letzter Abruf 22. August 2017; Der Tagesspiegel vom 5. Juni 2017, abrufbar unter http://www.tagesspiegel.de/politik/streit-um-bun deswehr-stuetzpunkt-incirlik-tuerkei-beharrt-auf-besuchsverbot-gabriel-spricht-von-abzug/1 440

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2. Teil: Die Causa Aghet

sowohl durch Außenminister Sigmar Gabriel als auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, die jedoch fruchtlos blieben. Am 21. Juni 2017 stimmte der Deutsche Bundestag schließlich mit großer Mehrheit für den Abzug der deutschen Soldaten aus der Türkei.445 Die Truppen wurden im Juli 2017 von Incirlik zum NATOStützpunkt Konya verlegt. Der Besuch der Truppen in Konya wurde von der Türkei jedoch ebenfalls verwehrt. Der Streit mit der Türkei ist an diesem Punkt derart entwickelt, dass sogar die NATO ihre Besorgnis über die deutsch-türkischen Beziehungen äußerte.446 Seit dem Armenier-Beschluss des Deutschen Bundestages von Juni 2016 hat sich nicht nur die deutsch-türkische Beziehung ausschließlich verschlechtert. Der gescheiterte Putschversuch in der Türkei im Juli 2016 und das anschließende Verfassungsreferendum im April 2017 hatten dem Europaparlament schon ausgereicht, um durch Beschlussempfehlung zum Aussetzen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu raten.447 Deutschland hatte sich entgegen der Forderungen einiger anderer Mitgliedstaaten bis zum Juli 2017 noch dafür eingesetzt, die Verhandlung weiterzuführen. Der deutsch-türkische Konflikt erreichte jedoch am 5. Juli 2017 seinen Höhepunkt, als Peter Steudtner bei einem Amnesty-International-Workshop wie vor ihm schon Deniz Yücel und viele weitere deutsche Staatsangehörige in der Türkei in Untersuchungshaft genommen wurden.448 Als Reaktion kündigte Außenminister Gabriel eine Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik an. Die Reiseempfehlungen für die Türkei wurden verschärft, ebenso die Bedingungen für die Erweiterung Zollunion mit der Europäischen Union.449 Die Beitrittsverhandlungen scheinen heute zumindest inoffiziell gescheitert, die Türkei wirbt jedoch derzeit weiter mit einem angestrebten Beitritt zur Europäischen Union.

9892456.html, letzter Abruf 22. August 2017; Besuchsverbot für deutsche Abgeordnete bleibt bestehen, Sueddeutsche Zeitung vom 5. Juni 2017, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/ politik/incirlik-incirlik-besuchsverbot-fuer-deutsche-abgeordnete-bleibt-bestehen-1.3534540, letzter Abruf 22. August 2017. 445 BT-Drs. 18/12779. 446 Nato fordert Beilegung des deutsch-türkischen Streits, Frankfurter Allgemeine Zeitung Net, 16. Juli 2017, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/tuerkei/nato-ruft-deutsch land-und-tuerkei-zur-ordnung-15108756.html, letzter Abruf 18. Juli 2017, 10.29 Uhr. 447 EU-Parlament gegen Beitrittsgespräche mit der Türkei, ZEIT Online vom 6. Juli 2017, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-07/europaparlament-tuerkei-eu-beitritts verhandlungen-aussetzung, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 17.00 Uhr. 448 Siehe statt aller Die Chronik der Haft, Die Welt Online vom 16. Februar 2018, abrufbar unter https://www.welt.de/politik/ausland/article173678067/Deniz-Yuecel-ist-frei-Die-Chronikder-Haft.html, letzter Abruf 29. August 2018, 12.30 Uhr und Bundesregierung erleichtert, Peter Steudtner aus Haft entlassen, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Arti kel/2017/10/2017-10-25-lage-in-der-tuerkei.html, letzter Abruf 29. August 2018, 12.30 Uhr. 449 Unrettbar, ZEIT Online vom 20. Juli 2017, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/aus land/2017-07/tuerkei-streit-sigmar-gabriel-reisehinweise-recep-tayyip-erdogan, letzter Abruf 26. Juli 2017, 17.30 Uhr.

B. Anerkennungsgeschichte

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3. Fazit Im Ergebnis ist zu verzeichnen, dass die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den Deutschen Bundestag im internationalen Vergleich noch schwerere Konsequenzen für die Beziehung zur Türkei zur Folge hatte, als ohnehin zu erwarten waren.450 Die unmittelbare Reaktion der Türkei auf die Anerkennungsbeschlüsse anderer Staaten folgte häufig dem diplomatischen Protokoll der Sanktion eines missbilligten Verhaltens, ging jedoch darüber auch nicht hinaus.451 Der Anerkennungsbeschluss des Deutschen Bundestages dagegen hatte zusätzliche Folgen zum Abzug des türkischen Botschafters und seine anschließende Rückkehr und die Androhung erschwerter militärischer Zusammenarbeit.452 Dies illustriert die Brisanz des Armenier-Beschlusses des Deutschen Bundestages im internationalen Kontext.453

VI. Der Aghet vor dem OVG Berlin/Brandenburg Deutsche Gerichte waren nur vereinzelt mit dem Völkermord an den Armeniern befasst. In einem Fall, den das OVG Berlin-Brandenburg im Jahr 2006 zu entscheiden hatte, ging es jedoch um die Leugnung des Völkermords an den Armeniern. Der Verband der Vereine zur Förderung der Ideen Atatürks in Deutschland hatte in Berlin eine Kundgebung zum „Andenken an die Ermordung Talaat Paschas“454 und einen Aufzug unter dem Motto „Protest gegen die Stigmatisierung des türkischen Volkes und Geschichtsverfälschung der Ereignisse im Jahr 1915 zwischen Armeniern und Muslimen im Osmanischen Reich“ angemeldet. Der Veranstalter hatte zum Aufruf zu den Veranstaltungen Flugblätter verteilt, in denen er im Zusammenhang 450 Siehe zum Vorschlag einer dezidierten Folgenabschätzung für schlichte Parlamentsbeschlüsse unten 4. Teil C. 451 Vgl. auch Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 92 zu den Folgen der Anerkennung durch Schweden im Jahr 2010. 452 Ausführlich oben 2. Teil B. V. 2. Zu beachten ist jedoch, dass der Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages zu einem Zeitpunkt erging, an dem die weltpolitische Lage ohnehin schon angespannt war, insbesondere deutlich angespannter als 2007, als der ebenfalls von langem Ringen geprägte Parlamentsbeschluss des Kongresses der USA erging. Nicht untersucht werden kann im Rahmen dieser Arbeit, ob und inwiefern die große türkische Gemeinde in Deutschland den Konflikt beeinflusst hat. 453 Der am 22. Februar 2018 vom Niederländischen Parlament erlassene Beschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hat jedoch interessanterweise ähnliche rechtspolitische Fragen aufgeworfen wie der Beschluss des Deutschen Bundestages, da die niederländische Regierung sich sofort inhaltlich vom Beschluss des Parlaments distanziert hat, siehe statt aller FAZ, Streit mit Türkei, Niederländisches Parlament erkennt Völkermord an den Armeniern an, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/niederlaendisches-parlament-erkenntvoelkermord-an-armeniern-an-15463464.html?GEPC=s9, letzter Abruf 23. Februar 2018, 11.00 Uhr. 454 Einem Hauptverantwortlichen am Armenozid, siehe dazu oben 2. Teil A. III. 1. c) bb).

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2. Teil: Die Causa Aghet

mit dem Völkermord an den Armeniern von der „Genozid-Lüge“ sprach. Die Versammlung sollte Mitgliedern der „Talaat-Pascha-Bewegung“ die Gelegenheit zum Halten von Reden geben. Der Polizeipräsident hatte die Versammlung im Wege einer einstweiligen Anordnung unter der Begründung, es sei mit der Verwirklichung einer Straftat nach § 189 StGB zu rechnen, unter Anordnung der sofortigen Vollziehung verboten.455 Sowohl das pauschale Leugnen der „[…] Pogrome und Massaker gegenüber der armenischen Bevölkerung sowie die glorifizierende Darstellung des seinerzeitigen Hauptverantwortlichen, des damaligen Innenministers Talat Pascha […]“ begründeten einen Anfangsverdacht.456 Das Verherrlichen, Billigen oder Rechtfertigen der „[…] damaligen Maßnahmen […]“ erfülle den Tatbestand des Verunglimpfens im Sinne von § 189 StGB.457 Das Verwaltungsgericht Berlin beschloss aufgrund des Betreibens des Versammlungsveranstalters im Eilverfahren die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Veranstalters. Das Verwaltungsgericht differenzierte zwischen der Leugnung der Massentötungen als solcher und der Qualifizierung der Ereignisse als Völkermord.458 Mit Ausnahme von Tathandlungen nach § 130 Abs. 3 StGB, deren Strafbarkeit den besonderen Gegebenheiten der jüngeren deutschen Geschichte geschuldet sei, könne angesichts des besonderen Gewichts der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG das Verneinen eines Völkermordes nicht generell eine Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener im Sinne von § 189 StGB darstellen.459 Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hatte als Beschwerdeinstanz des Antragstellers darüber zu entscheiden, ob der Beschluss des Verwaltungsgerichts rechtmäßig gewesen war und kam zu einer differenzierenden Entscheidung, in der es recht ausführlich zum historischen Stand der Bewertung des Armenozids Stellung nahm.460 Das Verbot der Versammlung selbst hielt das Oberverwaltungsgericht für unverhältnismäßig, nicht so jedoch das Verbot der Bezeichnung „Lüge“ für den Völkermord an den Armeniern. Art. 5 Abs. 2 GG beschränke Meinungsäußerungen auch bezüglich Völkermordes, wenn diese Äußerungen in einer anderen Norm mit Strafe bedroht seien. Da § 189 StGB keine Meinung als solche verbiete, komme es auch auf das Verhältnis zur sogenannten AuschwitzLüge im Ergebnis nicht an. Das Gericht stellte nicht auf die Genozidleugnung als 455

VG Berlin, Beschluss vom 14. März 2006, Az. 1 A 68/06. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006, Az. 1 S 26/06 Rn. 2, zitiert nach juris. 457 Sachverhalt nach VG Berlin, Verbot von Demonstrationen türkischer Nationalisten vorläufig aufgehoben, Pressemitteilung Nr. 4/2006 vom 14. März 2006. 458 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006, Az. 1 S 26/06 Rn. 3, zitiert nach juris. 459 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006, Az. 1 S 26/06 Rn. 3, zitiert nach juris. 460 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006, 1 S 26/06 Rn. 8 ff., zitiert nach juris. 456

B. Anerkennungsgeschichte

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solche ab, sondern darauf, dass Befürworter einer Einordnung der Ereignisse als Genozid der Lüge bezichtigt würden.461 Zwar sei die historische Forschung möglicherweise noch nicht abgeschlossen, die Beschlüsse der UNO und des Europäischen Parlaments462 würden jedoch auf eine Einordnung als Völkermord hindeuten. Auf eine neue oder andere Bewertung der historischen Ereignisse komme es dem Veranstalter aber weniger an als auf den Ausdruck einer insgesamt nationalistischen und europafeindlichen Haltung.463 Das Oberverwaltungsgericht ließ den Aufzug unter der Auflage, dass weder „[…] auf Transparenten, noch in Reden oder in anderen Wort- und Schriftbeiträgen […]“ der Völkermord an den Armeniern als Lüge bezeichnet werde.464

VII. Fazit Die Beschäftigung mit dem Völkermord am armenischen Volk geschieht aufgrund historischer Gegebenheiten zwangsläufig durch das Prisma der vornehmlich deutschen Quellenlage. Die Anerkennung in Deutschland brauchte viele Anläufe, da viele Anfragen auf taube Ohren gestoßen waren. Insofern überraschend kam es am 2. Juni 2016 doch noch zur Anerkennung durch den Bundestag in Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses. Dabei zeigt die Entwicklung der rechtspolitischen Debatte deutlich, dass die Frage danach, welche Entscheidung die richtige ist, sich zumindest im Bundestag nicht stellte. Keine/r der Anträge, Anfragen und Beschlüsse stellte die historische Bewertung der Ereignisse in Frage. Durch die Anerkennung setzte sich der Bundestag über realpolitische Bedenken hinweg, in deren Schatten die Anerkennungsdiskussion seit jeher gestanden und die die Anerkennung in öffentlicher Form zurückgehalten hatten. Als Konsequenz kam es – wie zu erwarten war – zu außenpolitischen Spannungen, die im Besuchsverbot in Incirlik gipfelten und aktuell auch die Bundesregierung intensiv beschäftigen. Daneben beschäftigen der Aghet und die damit zusammenhängenden Kontroversen aber u. a. mit dem OVG Berlin/Brandenburg auch deutsche Gerichte. Die Masse parlamentarischer Beschäftigung mit dem Aghet ist Ergebnis der vielen Facetten seiner Problematik. Die diffizilen außenpolitischen Implikationen führten zur immer wiederkehrenden Suche nach dem richtigen Ton sowie dem richtigen Zeitpunkt.

461 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006, 1 S 26/06 Rn. 8 ff., zitiert nach juris. 462 Dazu siehe unten 2. Teil B. VIII. 463 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006, 1 S 26/06 Rn. 8 ff., zitiert nach juris. 464 OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2006, 1 S 26/06, Orientierungssatz, zitiert nach juris.

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2. Teil: Die Causa Aghet

VIII. Internationaler Umgang mit dem Aghet 1. Internationale Anerkennung des Völkermords an den Armeniern Nach dem Armenier-Beschluss des Deutschen Bundestages ist die Anzahl der Länder, die den Aghet als Völkermord anerkannt haben, auf 29 gestiegen. Zunächst zählt zu Staaten, die den Aghet als Völkermord bezeichnen, Armenien. Darüber hinaus sind insbesondere europäische und südamerikanische Staaten die Causa Aghet in Form eines formalen Aktes beigekommen. Die Erscheinungsformen reichen dabei vom schlichten Parlamentsbeschluss bis zur Pönalisierung der Leugnung des Völkermords, wobei der schlichte Parlamentsbeschluss die häufigste Anerkennungsform ist.465 a) Anerkennung in Gesetzesform Der Völkermord an den Armeniern wurde von einigen Ländern im Zuge eines Gesetzesbeschlusses anerkannt. Besondere Bekanntheit haben die Pönalisierung der Völkermordleugnung in Frankreich und der Schweiz erlangt.466 Die Leugnung des Völkermordes an den Armeniern wurde 2003 von der Schweiz und von Frankreich implizit im Rahmen eines abstrakten Völkermordleugnungstatbestands unter Strafe gestellt. Die konkrete Leugnung des Völkermords am armenischen Volk wurde in beiden Staaten von den Gerichten für strafbar nach der jeweiligen Norm befunden. Beide Normen hielten jedoch einer Überprüfung durch dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bzw. den Conseil constitutionnel nicht stand und wurden für EMRK- beziehungsweise verfassungswidrig erklärt.467 Aktuell liegt zudem ein Gesetzesentwurf gleichen Inhalts in der russischen Duma.468 1998 und erneut 2001 hatte Frankreich den Völkermord an den Armeniern bereits in Gesetzesform anerkannt; die Gesetze ordneten jedoch im Unterschied zum späteren abstrakten Leugnungsverbot noch keine Rechtsfolge an. Da der Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse in Frankreich erst seit 2008 möglich ist,469 war die Anerkennung in Gesetzesform zu diesem Zeitpunkt die einzige Möglichkeit, den Völkermord an den Armeniern parlamentarisch anzuerkennen. Im außereuropäischen Ausland hat Argentinien eine erstaunliche Vielzahl von gesetzesförmigen sowie Beschlüssen in der Causa Aghet erlassen. Argentinien hat neben der Erklärung des 24. April zum offiziellen Gedenktag des Aghet zwei Parlamentsbeschlüsse zur Anerkennung des Aghet und ein Gesetz, das die Aufnahme 465

Im Einzelnen siehe sogleich 2. Teil B. VIII. 1. b). Siehe dazu 1. Teil B. 467 Siehe dazu ausführlich 2. Teil A. II. 3. 468 Siehe dazu ausführlich 4. Teil C. 469 Zur diesen Umstand ändernden Verfassungsreform Niquége, Les résolutions parlementaires de l’article 34-1 de la Constitution, Revue française de droit constitutionnel no 84 (2010), 865. 466

B. Anerkennungsgeschichte

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des Aghet in die Lehrpläne anordnete, erlassen.470 2007 hat es den Völkermord an den Armeniern außerdem zum Anlass genommen, den 24. April per Gesetz zusätzlich zum Tag für Toleranz und Respekt zwischen den Völkern zu erklären und allen armenisch stämmigen Beamten, Angestellten im öffentlichen Dienst, Studenten und Schüler von ihrem Dienst bzw. ihrer Anwesenheitspflicht zu befreien, um an Veranstaltungen, die im Zusammenhang mit dem Völkermord an den Armeniern stattfinden, teilnehmen zu können. Die intensive Auseinandersetzung Argentiniens mit dem Völkermord an den Armeniern hat ihre Ursache mit großer Wahrscheinlichkeit in der besonders großen armenischen Diaspora, die in Argentinien lebt. Allein in Buenos Aires leben etwa 80.000 Armenier und Armenierinnen.471 b) Anerkennung durch Parlamentsbeschluss Weitaus häufiger haben sich Parlamente auf der ganzen Welt in der Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses zur Causa Aghet verhalten. Jüngst für Diskussionen hat die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch das Niederländische Parlament am 22. Februar 2018 gesorgt.472 Resolutionen des Parlaments gab es außerdem in Zypern (1982),473 im Europaparlament (1987 und 2001),474 in Argentinien (seit 1993),475 Russland (1995),476 Griechenland (1996),477 Belgien (1998),478 Schweden (2000),479 dem Libanon (2000 nach einer Bekundung des Gedenkens der Leiden der libanesischen Armenier im Jahr 1997),480 Schweiz (2003),481 Kanada (2004 nach offiziellem Bedauern der „armenischen Tragödie“ 1996),482 Slowakei (2004),483 Niederlande (2004),484 Polen (2005),485 Venezuela (2005),486 470 Resolution 1554/92 vom 5. Mai 1993; Deklaration 664/03 vom 20. August 2003; Projekt 51/04 vom 18. März 2004; Deklaration vom 20. April 2005; Deklaration vom 19. April 2006. 471 Zenian, Home of the Extendend Armenian Family, AGBU 1992. 472 Statt aller FAZ, Streit mit Türkei, Niederländisches Parlament erkennt Völkermord an den Armeniern an, http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/niederlaendisches-parlament-er kennt-voelkermord-an-armeniern-an-15463464.html?GEPC=s9, letzter Abruf 23. Februar 2018, 11.00 Uhr. 473 Resolution vom 29. April 1982. 474 Resolution vom 18. Juni 1987, A2-33/87, Official Journal of the European Communities, C 190/119 und Deklaration vom 24. April 2001, Doc. 9056, 320. 475 Resolution 1554/92 vom 5. Mai 1993. 476 Resolution vom 14. April 1995. 477 Resolution 2397/1996 vom 24. April 1996. 478 Resolution 1-736/3 vom 26. März 1998. 479 Bericht vom 29. März 2000. 480 Resolution vom 11. Mai 2000 und Resolution vom 3. April 1997. 481 Resolution 02.3069 vom 16. Dezember 2003. 482 Resolution vom 21. April 2004 nach Antragstellung am 12. Juni 2002 und Vertagung der Abstimmung um fast zwei Jahre; Resolution vom 23. April 1996. 483 Resolution 1754/2004, 1341 vom 30. November 2004.

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2. Teil: Die Causa Aghet

Chile (2007),487 den USA (2007)488, Schweden (2010),489 Bolivien (2014 und 2015),490 Bulgarien (2015),491 Luxemburg (2015),492 Österreich (2015), Brasilien (2015),493 Paraguay (2015),494 Deutschland (2016),495 Dänemark (2017)496 und der Tschechischen Republik (2017)497. Russland ist dabei das einzige Land, das den Aghet ausdrücklich als Völkermord i.S.v. Art. II der UN-Völkermordkonvention betrachtet.498 Litauen verabschiedete 2005 eine Resolution, in der es die Türkei aufforderte, den Völkermord an den Armeniern als historische Tatsache anzuerkennen.499 Bulgarien und Uruguay erklärten – wie die meisten der anerkennenden Staaten – den 24. April zum Gedenktag für die Opfer des Aghet, beschränkten sich jedoch auf die Bezeichnung als Massenvernichtung.500 c) Europäische Union Die Europäische Union hat schon früh Stellung zum Völkermord am armenischen Volk bezogen. 1987 hat das Europaparlament den Völkermord an den Armeniern in Form einer Resolution anerkannt.501 Der von der Türkei gewünschte Beitritt zur Europäischen Union war auf europäischer Ebene immer auch eine Frage der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern seitens der Türkei. Im Jahr 2000 äußerte sich das Europaparlament zur Bewerbung der Türkei um Aufnahme in die Europäische Union und forderte die Türkei auf, den Völkermord an den Armeniern 484

Antrag 270/2004 vom 21. Dezember 2004. Resolution 2005-07-13 vom 19. April 2005. 486 Resolution vom 14. Juli 2005, Official Gazette No. 38.230/2005. 487 Resolution vom 5. Juni 2007. 488 Resolution H. Res. 106 vom 30. Januar 2007. 489 Antrag vom 11. März 2010. 490 Resolution D.C. Nr. 019/2014-2015 vom 27. November 2014 und Deklaration Nr. 122/ 2014-2015 vom 3. Juni 2015. 491 Beschluss vom 24. April 2015. 492 Resolution vom 15. April 2015. 493 Antrag Nr. 550/2015 vom 21. Mai 2015. 494 Deklaration vom 29. Oktober 2015. 495 Beschluss vom 2. Juni 2016, BT-Drs. 18/8613. 496 Beschluss vom 26. Januar 2017. 497 Beschluss vom 25. April 2017. 498 Resolution vom 14. April 1995. Zum Zusammenhang mit dem Aghet und zur Anwendbarkeit der Konvention siehe 2. Teil A. VI. 2. d). 499 Resolution vom 15. Dezember 2005. 500 Uruguayisches Gesetz Nr. 13.326 vom 20. April 1965. 501 Resolution vom 18. Juni 1987, Doc. A2-33/87, Official Journal of the European Communities C 190/119. 485

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anzuerkennen.502 2005 machte es die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern sogar offiziell zur Aufnahmebedingung für die Türkei.503 Zum 100. Jahresgedenken hat das Parlament der Europäischen Union die Türkei erneut dazu aufgefordert, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen.504 d) Vatikan Der Völkermord an den Armeniern wurde 2000 von Papst Johannes Paul II. in einer gemeinsamen Erklärung mit Karekin II, Oberster Patriarch und Katholikos aller Armenier, anerkannt. Am 26. Juni 2016 gaben auch Papst Franziskus und Karekin II eine gemeinsame Erklärung zum Gedenken an den Aghet in Etschmiadsin, dem Sitz des Oberhaupts der armenisch-apostolischen Kirche, ab. Schon 2015 hatte Papst Franziskus bei einer Gedenkmesse für armenische Katholiken von Völkermord gesprochen und damit Proteste seitens der Türkei ausgelöst.505 2. Fazit Die Causa Aghet hat mit 30 von 194 Staaten ca. 15 Prozent der Staaten der Welt so intensiv beschäftigt, dass diese sich in Form eines Hoheitsaktes zur Sache geäußert haben. Angesichts der inhaltlichen Ferne der meisten Staaten zu den Ereignissen im Ersten Weltkrieg sowie der langen Zeitspanne zwischen dem Aghet und den jeweiligen Hoheitsakten – die Resolution des Repräsentantenhauses der USA aus dem Jahre 1984 ist die erste moderne Anerkennung des Völkermords an den Armeniern und erfolgte 69 Jahre nach dem Aghet – eine beachtliche Quote. Untersuchungen zu den Hintergründen aller einzelnen Parlamentsbeschlüsse sind leider nicht vorgenommen worden, sodass ein möglicher Schluss von der Größe der Diaspora in den jeweiligen Staaten auf eine hoheitliche Anerkennung nicht empirisch belegt ist.506

502

COM(1999) 513 – C5-0036/2000 – 2000/2014(COS). RC-B6-0484/2005. 504 Statt aller siehe Papst nennt Massaker an Armeniern Völkermord, ZEIT Online vom 12. April 2015, abrufbar unter http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/papst-franziskus-ar menien-voelkermord, letzter Abruf 5. Dezember 2017, 17.00 Uhr. 505 Siehe dazu schon oben 2. Teil B. V. 506 Siehe nur zur Geschichte der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern in den USA und Frankreich aber Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 90 ff. 503

3. Teil

Parlamentarische Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses Die Anerkennung des Aghet als Völkermord durch den Deutschen Bundestag ist auf Widerstand gestoßen. Ob die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern überhaupt eine Frage ist, die ins Parlament gehört, wurde schon im Vorfeld von verschiedenen Akteuren und Beobachtern unterschiedlich beurteilt. Die Türkei wirft Parlamenten, die den Völkermord an den Armeniern anerkannt haben, regelmäßig Unzuständigkeit vor. Die Einordnung solle – wenn sie überhaupt in den juristischen Diskurs gestellt wird – den Gerichten überlassen werden.1 Auch die Bundesregierung sieht die Organe der Bundesrepublik Deutschland nicht als zuständig an. Ihrer Meinung nach müsse eine Bewertung durch die Wissenschaft erfolgen.2 Die außenpolitische Dimension der Armenienfrage legt für den juristischen Betrachter wiederum die Annahme nahe, die Bundesregierung sei zuständig, immerhin handelt es sich um eine Frage mit starker außenpolitischer Dimension, womit sie klassischerweise in den Zuständigkeitsbereich der Bundesregierung, also der Exekutive fallen könnte. Ausschließlich das Parlament, so scheint es, war der Ansicht, es handele sich um eine Frage, die auch ins Parlament gehört.3 Tatsächlich hat sich der Bundestag am 2. Juni 2016 dazu entschlossen, in Form des sogenannten schlichten Parlamentsbeschlusses tätig zu werden. Wenig überraschend folgten unmittelbar auf den Beschluss nicht nur rege Kritik seitens der Türkei und der Versuch diplomatischer Wogenglättung durch die Bundesregierung.4 Teil dieses Beschwichtigungsprogramms war es insbesondere auch, die Unverbindlichkeit des schlichten Parlamentsbeschlusses im Allgemeinen zu betonen. Auch die durch den Bundestag Repräsentierten waren teilweise mit der Initiative ihres Repräsentationsorgans nicht einverstanden. Über historische Wahrheiten habe die Geschichtswissenschaft zu entscheiden, nicht Parlamentsmehrheiten in einem „hirnrissigen“ Beschluss des Bundestages, äußerte sich beispielweise Hans-Chistian Günther, Professor für Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.5 Die grobe Wortwahl ver1

Siehe dazu ausführlich oben 2. Teil A. II. 2. BT-Drs. 17/824, S. 7. 3 Ausdrücklich dafür der ehemalige Bundestagspräsident Lammert, Rede zum 100. Jahresgedenken, Plenarprotokoll 18/101, Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 101. Sitzung, I, 9653. 4 Siehe zu allen Einzelheiten oben 2. Teil B. IV. 2. 5 Günther, Hirnrissiger Beschluss des Bundestages, in: Briefe an die Herausgeber, Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 132 vom 9. Juni 2016, S. 14. 2

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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deutlicht das Spannungsfeld, in dem der Armenier-Beschluss steht; die scheinbare Exklusivität politischer Meinungs- und Willensbildung und historischer Tatsachen überträgt sich in eine allgemeine Kritik am Handeln des Bundestages. Um die Frage, ob die Anerkennung dieses und auch jedes anderen Völkermords in das Parlament gehört, zu beantworten, ist es zunächst notwendig, die gewählte Handlungsform des schlichten Parlamentsbeschlusses zu untersuchen.

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform Alltag in der Politik, Rätsel für die Rechtswissenschaft – wohl kaum ein Gegenstand im Parlamentsrecht der Bundesrepublik Deutschland wurde in der Rechtswissenschaft trotz seiner Praxisrelevanz so selten wie vieldeutig aufbereitet wie der schlichte Parlamentsbeschluss. Dogmatisch unterbelichtet fristen schlichte Parlamentsbeschlüsse trotz ihrer Bedeutung für das tägliche Geschäft des Deutschen Bundestages ein Schattendasein in der deutschen Rechtswissenschaft. Insbesondere im Verhältnis zu ihrem Pendant dem Parlamentsgesetz sind sie verfassungsrechtlich wie auch in der Rechtswissenschaft vernachlässigt. Dies stand schon 1979 fest.6 40 Jahre später ist der Befund unverändert. Im Zusammenhang mit dem Völkermord am armenischen Volk hat der schlichte Parlamentsbeschluss jüngst wieder für Diskussionen gesorgt. Sowohl (rechts-)politisch als auch rechtswissenschaftlich hat der Parlamentsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords am armenischen Volk vom 2. Juni 20167 in besonders hohem Maß die Fragen wieder an die Oberfläche getragen, die im Zusammenhang mit schlichten Parlamentsbeschlüssen seit jeher das Interesse der Rechtswissenschaft geweckt haben, jedoch häufig als Randerscheinung anderer Diskussionen lediglich mitdiskutiert wurden8. Dies mag zum Teil an der politischen Sprengkraft und der damit verbundenen Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dieses Beschlusses liegen.9 Auch die rechtsdogmatischen Fragen aber, die schlichte Parlamentsbeschlüsse aufwerfen, treten im Zusammenhang mit außenpolitischen Äußerungen des Bundestages besonders deutlich hervor.

6 7 8 9

Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 212. BT-Drs. 18/8613; ausführlich zum Beschluss siehe oben 2. Teil B. IV. 1. Dazu siehe unten 3. Teil A. III. Siehe dazu oben 2. Teil B. IV.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

I. Schlichte Parlamentsbeschlüsse aus juristischer Sicht Schlichte Parlamentsbeschlüsse haben – wie jedes Parlamentshandeln – eine politische Komponente. Der schlichte Parlamentsbeschluss jedoch findet im Gegensatz zu anderen parlamentarischen Handlungsformen kaum Anknüpfungspunkte im Grundgesetz. Dadurch ergibt sich ein paradoxes Bild: Entweder tritt die politische Komponente angesichts der rechtlichen Dimension eines Beschlusses in den Hintergrund; die politische Wirkung des schlichten Parlamentsbeschlusses wird lediglich erwähnt. Häufig scheint wiederum die politische Komponente dem teils rechtlichen Kern des Parlamentsbeschlusses derart vorgelagert, dass sie schlichte Parlamentsbeschlüsse aus ihrem verfassungsrechtlichen Kontext entrückt. Den ohnehin schon großen Unsicherheiten im Zusammenhang mit schlichten Parlamentsbeschlüssen wird häufig mit bloßen Feststellungen begegnet. Mit teilweise ungewöhnlich großem Begründungsaufwand wird zudem der Weg für die rechtliche Betrachtung schlichter Parlamentsbeschlüsse freigemacht.10 Dabei wird jedoch fälschlich die Frage nach den Rechtswirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse mit der Zulässigkeit der rechtlichen Betrachtung schlichter Parlamentsbeschlüsse verknüpft.11 Sein politisches Wesen entzieht den schlichten Parlamentsbeschluss jedoch keinesfalls der rechtlichen Bewertung.12 Die rechtliche Auseinandersetzung mit schlichten Parlamentsbeschlüssen wiederum ist von einer gewissen Distanz zu seinem politischen Kern geprägt,13 obwohl gerade der Kontext von rechtlicher Handlungsform im politisch-parlamentarischen Raum den schlichten Parlamentsbeschluss ausmacht.

II. Begriffsbestimmung Der Begriff des schlichten Parlamentsbeschlusses wird verschieden weit aufgefasst und uneinheitlich gebraucht.14 Zumindest eine verfahrensbezogene Definition unter geringfügiger Inhaltseinschränkung hat sich jedoch herauskristallisiert. Schlichte Parlamentsbeschlüsse sind solche Hoheitsakte des Parlaments, die nicht im Gesetzgebungsverfahren ergehen und auf außerhalb der parlamentarischen

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Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn 30 f. Vgl. Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 31; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 215 f. 12 So auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 35; Luch, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10, Rn 31. A.A. Grewe, VVDStRL 12 (1954), 129, 260, Schneider, VVDStRL 12 (1954), 248; Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 36; Partsch, VVDStRL 16 (1958), 74, 100. 13 Die Auseinandersetzung erschöpft sich in der Regel mit der Feststellung, schlichte Parlamentsbeschlüsse seien rein politisch; der Inhalt dieses Politischen wird nicht betrachtet, dazu ausführlich unten 3. Teil D. 14 Siehe dazu ausführlich sogleich 3. Teil A. II. 1. 11

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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Rechtsverhältnisse liegende Fragen Bezug nehmen,15 d. h. nicht nur innere Angelegenheiten des Parlaments regeln.16 Formal lässt sich der schlichte Parlamentsbeschluss zunächst im System der parlamentarischen Handlungsformen erfassen. Der Deutsche Bundestag handelt durch Beschlüsse. Dies bildet Art. 42 Abs. 2 GG ab. Beschlüsse des Parlaments können dabei verschiedene Formen annehmen. Der Gesetzesbeschluss einerseits steht neben dem Wahlbeschluss und anderen Parlamentsbeschlüssen andererseits. Auch Gesetze kommen durch Beschlüsse des Parlaments zustande. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Gesetzen und schlichten Parlamentsbeschlüssen ist aber das Verfahren, in dem schlichte Parlamentsbeschlüsse ergehen. Sie unterliegen nicht den besonderen Verfahrensvorschriften der Art. 70 ff. GG, sondern ergehen in einem einfachen Verfahren.17 Eine Lesung ist ausreichend. Besondere Verfahrensvorschriften sind weder verfassungsrechtlich noch einfachgesetzlich oder in der GOBT konkret festgelegt, sodass schlichte Parlamentsbeschlüsse den allgemeinen Abstimmungsregeln folgen. Ihr Zustandekommen zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse immer ohne die Beteiligung anderer Verfassungsorgane ergehen. Die Feststellungen über die verfahrensrechtlichen Anforderungen an den schlichten Parlamentsbeschluss schließen die unumstrittenen Momente des schlichten Parlamentsbeschlusses im Grunde schon ab.18 Große dogmatische Uneinigkeit besteht bezüglich der Zulässigkeit und Verbindlichkeit der schlichten Parlamentsbeschlüsse. Dass schlichte Parlamentsbeschlüsse in der Verfassung unternormiert sind, fördert die Unsicherheit zusätzlich. Zudem erschweren begriffliche Unstimmigkeiten die Erfassung des Gegenstandes. 1. Lösungsmodelle für eine Kategorisierung schlichter Parlamentsbeschlüsse Der Begriff des schlichten Parlamentsbeschlusses unterlag Wandlungen. Die Vielfältigkeit, in der schlichte Parlamentsbeschlüsse im täglichen Geschäft des Parlaments vorkommen, führt zu dem Bedürfnis nach Abstrahierung auf der einen und Konkretisierung auf der anderen Seite. Die Lösungsansätze für ihre Einteilung sind zahlreich. Eine einheitliche Terminologie hat sich bis heute nicht herausgebildet. Um die Fragen nach der Rechtsnatur, der Legitimation und dem Bereich und Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse beantworten zu können, ist es zunächst notwendig, die Begrifflichkeiten klarzulegen.

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Achterberg, Parlamentsrecht, S. 738. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 738 m.w.N. 17 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 13. 18 Clemens/Umbach/Dicke, GG, Art. 42 Rn. 45 Fn. 36, geht dabei sogar so weit, das Vorhandensein einer Definition generell in Frage zu stellen. Die Definition wird teilweise um einen Ausschluss des Tätigwerdens des Parlaments als Wahlorgan ergänzt, Luch, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 10 f. Siehe dazu sogleich 3. Teil A. II. 4. 16

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Ein Überblick über die Kategorisierungen, die in den letzten siebzig Jahren angeboten wurden, verdeutlicht die große Breite an Modellen. Angeboten wurden einfache Parlamentsbeschlüsse19, verbindliche und unverbindliche Parlamentsbeschlüsse, verbindliche und unverbindliche Parlamentsbeschlüsse mit den Unterkategorien objektiv und subjektiv verbindliche Parlamentsbeschlüsse.20 Teilweise werden verbindliche Parlamentsbeschlüsse aus dem Begriff des schlichten Parlamentsbeschlusses ausgenommen, also nur unverbindliche Parlamentsbeschlüsse als schlichte Parlamentsbeschlüsse bezeichnet.21 Daneben werden andererseits nur verbindliche Parlamentsbeschlüsse als schlichte Parlamentsbeschlüsse bezeichnet und unverbindliche Parlamentsbeschlüsse Entschließungen, Resolutionen oder Stellungnahmen genannt, wobei diese Begriffe sich teilweise nur auf adressatenlose Parlamentsbeschlüsse beziehen sollen, an die Regierung gerichtete Parlamentsbeschlüsse dann aber Ersuchen, Aufforderungen oder Weisungen genannt werden.22 Auch werden beide, also verbindliche und unverbindliche Parlamentsbeschlüsse, unter den Begriff der schlichten Parlamentsbegriffe gefasst,23 die verbindlichen Parlamentsbeschlüsse dann aber als „echte“ Parlamentsbeschlüsse bezeichnet.24 Teilweise werden unverbindliche und verbindliche Parlamentsbeschlüsse getrennt, rechtlich unverbindliche Parlamentsbeschlüsse aber in rechtserhebliche und rechtsunerhebliche Parlamentsbeschlüsse unterteilt.25 In eine ähnliche Richtung gehen Bestrebungen, schlichte Parlamentsbeschlüsse von Vornherein auf ihre Wirkung zu untersuchen und in rechtlich wirkende, tatsächlich wirkende und politisch wirkende Parlamentsbeschlüsse zu unterteilen.26 Zwangsläufig – dies ergibt sich aus dem politischen Wesen dieser rechtlichen Handlungsform – überschneiden sich diese Wirkungen. Allen Kategorisierungen ist zudem eine gewisse Inkonsistenz gemein. Die Ebenenvermischung trägt ebenfalls nichts zum Verständnis bei. Besondere Bekanntheit dürfte in diesem Zusammenhang der Begriff des konstitutiven Parlamentsbeschlusses haben, der vom Bundesverfassungsgericht in seiner 19

Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 13. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 38 ff. 21 Sester, Der Parlamentsbeschluss, S. 2 ff. Ausdrücklich auch Clemens/Umbach/Dicke, GG, Art. 42 Rn. 45 Fn. 36. 22 Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 213. 23 Kretschmer, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 9 Rn. 64 unter Verweis auf eine mögliche Begründung von Rechtsverbindlichkeit durch schlichte Parlamentsbeschlüsse. 24 Stern, Staatsrecht, 26 II 2 c, S. 48. Verbindliche Beschlüsse zunächst anhand dieser Kategorien besprechend Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 13 ff., später jedoch eben diese Kategorisierung ablehnend, ebenda Rn. 27. 25 Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 213. Ähnlich auch Lerche, NJW 1961, 1758; Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 31. 26 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 37 ff. Kritisch gegenüber einer strikten Trennung der Wirkungen aber Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 213 Fn. 257 im Anschluss an F. Klein, JuS 1964, 189 f.; dem folgend auch Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 30 f. 20

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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Entscheidung zum Zustimmungsvorbehalt des Parlaments für Auslandseinsätze der Bundeswehr im Inneren aufgegriffen wurde,27 jedoch auf eine Arbeit von Böckenförde aus den sechziger Jahren zurückzuführen ist.28 Auch wurde schon der Gedanke geäußert, den Begriff des konstitutiven Parlamentsbeschluss neu zu konnotieren.29 Dafür wird jedoch eine Lösung von der insoweit zuvor zu Grunde gelegten Systematisierung in echte und unechte Beschlüsse nach Stern30 notwendig. Richtigerweise müsse vom konstitutiven Parlamentsbeschluss gesprochen werden, sei doch im angloamerikanischen Rechtskreis „constitution“ im Sinne von Verfassung zu verstehen.31 Die Neukonnotierung eines besetzten Rechtsbegriffs ist jedoch lediglich weiterer Nebel auf einen Bereich, der ohnehin schon von größter sprachlicher Verwirrung geprägt ist. 2. Begriffspaare – Ungeeignete Form für die Systematisierung Die zahlreichen Systematisierungsversuche haben eine Gemeinsamkeit. Herausgebildet hat sich die Übung, eine Systematisierung schlichter Parlamentsbeschlüsse anhand von Begriffspaaren vorzunehmen – verbindlich/unverbindlich, echt/ unecht, einfach/besonders. Zum Verständnis tragen diese jedoch ob ihrer Austauschbarkeit und der vielen Ausnahmen kaum bei. Schlichte Parlamentsbeschlüsse kranken gewissermaßen an einer für juristisch versierte Menschen schwer zu ertragenden Systemlosigkeit. Möglicherweise ist dies ein Grund für die häufige Einteilung schlichter Parlamentsbeschlüsse in Paare. Mit dem System des Paares lässt sich bei oberflächlicher Betrachtung alles in eine Ordnung zusammenführen, (1): A und (2): nicht A. Die Dichotomisierung ist nicht ohne Grund der Stil der Juristen. In vielen Fällen der juristischen Dogmatik führt es zu befriedigenden Ergebnissen, Zweierkategorien zu bilden und auch im Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse führt dieses System bezüglich Einzelfragen zum Ziel. In Bezug auf Folgeannahmen jedoch ist die Kategorisierung in Paare ungeeignet. Eine solche Systematik ist also lediglich zur Beantwortung einer konkreten Frage geeignet, beispielsweise welche Parlamentsbeschlüsse Rechtsverbindlichkeit für Dritte entfalten und welche nicht. Für eine Gesamtschau jedoch ist eine vorgelagerte Einteilung schlichter Parlamentsbeschlüsse denkbar ungeeignet. Deshalb sollte auf sie verzichtet werden.

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BVerfG, Urteil vom 7. Mai 2008, 2 BvE 1/03, BVerfGE 121, 135. Böckenförde, Eingliederung der Streitkräfte, in: Böckenförde/Dürig/von der Heydte/ Scherübl (Hrsg.), Stellvertretung im Oberbefehl, S. 43, 48 und 58. 29 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 13 ff. 30 Stern, Staatsrecht, § 26 II 2 c, S. 48. 31 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 13 ff. 28

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

3. Enges Begriffsverständnis trotz weiter Begriffsbedeutung Der Zusatz „schlicht“ verleitet zu einem verengten Verständnis vom schlichten Parlamentsbeschlusses; nur diejenigen Beschlüsse des Parlaments, die nicht auf der Grundlage einer Norm ergehen, scheinen unter den Begriff zu fallen, wobei insbesondere das Fehlen einer verfassungsrechtlichen Grundlage begriffsbestimmend zu sein scheint. Dies zeugt von einem gewissen Problembewusstsein. Kern der Frage ist jedoch, ob der schlichte Parlamentsbeschluss ein eigenständig konturiertes Rechtsinstitut ist oder ob er eine Sammelkategorie für all diejenigen Parlamentsbeschlüsse bildet, die nicht im besonderen Gesetzgebungsverfahren ergehen. Der Ursprung des Begriffs „schlichter Parlamentsbeschluss“ allerdings ist verfahrensbezogen. Er geht zurück auf einen Vorschlag Richard Thomas aus dem Jahr 1932.32 Thoma gab mit dem Begriff „schlichter Parlamentsbeschluss“ allen Beschlüssen des Parlaments einen Namen, die nicht im förmlichen Gesetzgebungsverfahren ergehen.33 Das Wort „schlicht“ bezog sich zu diesem Zeitpunkt lediglich auf die geringeren Verfahrensanforderungen, nicht jedoch auf Kompetenzfragen oder etwaige Rechtsfolgen. Zur Kompetenz des Parlaments, auch unverbindliche Beschlüsse zu erlassen, äußerte er sich – die mögliche politische Tragweite solcher Beschlüsse er- und anerkennend – ausschließlich in einer Fußnote. Juristisch unverbindliche schlichte Beschlüsse dürfe das Parlament jederzeit fassen.34 Eine Aussage darüber, ob und wenn ja, wann schlichte Parlamentsbeschlüsse Bindungswirkung entfalten, traf Thoma jedoch noch nicht.35 Seine Idee war es lediglich, einen Begriff für alle Entscheidungen des Parlaments, die nicht im Gesetzgebungsverfahren zustande kommen, zu wählen.36 Die von Thoma geschaffene Einfachheit ließ viele Fragen offen, die er jedoch auch gar nicht zu beantworten, gar zu stellen suchte. Das Kapitel des Handbuchs des Deutschen Staatsrechts, in dem Begriff des schlichten Parlamentsbeschlusses 1932 erstmals Erwähnung findet, beschäftigt sich mit dem Vorbehalt der Legislative und dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Rechtsprechung37 – nicht mit 32 So Stern, Staatsrecht, § 26 II 2 c, S. 48 bezüglich Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 221. 33 Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, S. 221. 34 Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, S. 221 Fn. 1. 35 A.A. F. Klein, JuS 1964, 181, 188, der Thomas Anmerkung dahingehend versteht, alle schlichten Parlamentsbeschlüsse hätten lediglich politische, nicht aber rechtlich Bindungswirkung. Weder aus dem Textabschnitt selbst, noch aus dem Kontext liegt jedoch diese Interpretation nahe. Diese Annahme geht insofern fehl, als sich Thoma lediglich zur Zulässigkeit unverbindlicher Parlamentsbeschlüsse äußert, nicht jedoch über ihre allgemeine (Un-)Verbindlichkeit, wenn er schreibt: „Juristisch unverbindliche schlichte Beschlüsse (die politisch von großer Bedeutung sein können) darf ein Parlament immer fassen […].“ Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 221 Fn. 1. 36 Butzer, AöR 119 (1994), 61 m.w.N. 37 Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 221. A.A. F. Klein, JuS 1964, 181, 188; vgl. Fn. 35.

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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schlichten Parlamentsbeschlüssen im engeren Sinne. Für Thoma waren damit auch Parlamentsbeschlüsse „schlicht“, die rechtsverbindlich sind, ebenso auch alle Beschlüsse, die eine verfassungsrechtliche oder einfachgesetzliche Rechtsgrundlage haben. Schlichte Parlamentsbeschlüsse wären demnach lediglich eine Sammelkategorie für jegliches Parlamentshandeln, das nicht im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens erfolgt ist. Die Untersuchung der bisher vorgenommenen Einteilungen der schlichten Parlamentsbeschlüsse38 offenbart den oben schon angesprochenen Wandel, dem der Begriff „schlichter Parlamentsbeschluss“ unterlag. Denn der schlichte Parlamentsbeschluss hat sich im Laufe der Zeit als eigenständiges Rechtsinstitut herausgestellt, das eigenen Regeln folgt und eigene Folgen auslöst.39 Das Konzept der Sammelkategorie ist insofern von dem Gedanken eines eigenständigen Rechtsinstituts abgelöst. Verloren sind damit aber auch die Vorteile einer rein verfahrensbezogenen Abgrenzung, wie sie in der Thoma’schen Konzeption gegeben ist. So böte eine rein verfahrensbezogene Abgrenzung den Vorteil, dass weder über die Zulässigkeit noch über die Rechtsverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse etwas vorweggenommen würde. Zudem kranken einige spätere Einteilungen wie echt und unecht daran, dass sprachlich der Eindruck entstehen kann, der schlichte Parlamentsbeschluss sei hierarchisch untergeordnet oder gar unbedeutend.40 Dennoch vermag nur die Kombination von Verfahren und Inhalt das Rechtsinstitut des schlichten Parlamentsbeschlusses vollständig zu beschreiben, da anders kein konkret umrissenes eigenes Rechtsinstitut erfasst werden kann. Für dieses Rechtsinstitut ausschlaggebendes Kriterium sollte dann die Rechtsfolge des Parlamentsbeschlusses sein. Ein Parlamentsbeschluss ist dann nicht mehr schlicht, wenn er nicht nur eine politische Wirkung entfaltet, sondern eine Rechtsfolge setzt. Der Begriff „schlicht“ ist damit ebenso zu verstehen wie im Bereich schlichten Verwaltungshandelns, das ebenfalls keine unmittelbaren Rechtsfolgen nach sich zieht. Dies wird besonders deutlich, hält man sich noch einmal das System parlamentarischer Handlungsformen vor Augen. Weil das Parlament durch schlichten Beschluss keine Rechtsfolge setzen kann, haben sich im Laufe der Zeit einige wenige verfassungsrechtlich normierte Parlamentsbeschlüsse entwickelt. Sie bilden eine weitere parlamentarische Handlungsform neben den ebenfalls rechtsfolgenorientierten Gesetzesbeschlüssen und Wahlen. 4. Kreationsakte Diese Unterscheidung zeigt sich insbesondere in der Frage des Verhältnisses schlichter Parlamentsbeschlüsse zu parlamentarischen Kreationsakten. Umstritten ist, ob der Bundestag auch durch schlichten bzw. überhaupt durch Parlamentsbe38

Siehe oben 3. Teil A. II. 1. Siehe allgemein zur Eigenart des Parlamentsrechts, dass Parlamentspraxis zu Parlamentsrecht erstarken kann Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, I. Teil, § 10. 40 Zum Hierarchieverständnis der Normen siehe unten 3. Teil D. II. 39

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

schluss handelt, wenn er als Wahlorgan tätig wird. Teilweise werden auch Kreationsakte aus der Definition ausgenommen und als eigenständige Handlungsform neben Beschlüssen eingeordnet.41 Anhand der verfassungsrechtlichen Vorgaben ist es durchaus überzeugend, Kreationsakte als eigenständige Handlungsform des Parlaments zu betrachten. Die verfassungskonzeptionelle Differenzierung erlaubt dabei jedoch nur bedingt Rückschlüsse. Zwar unterscheidet Art. 42 Abs. 2 GG selbst Beschlüsse nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG und Wahlen nach Art. 42 Abs. 2 S. 2 GG. Art. 42 Abs. 2 S. 2 GG ist jedoch in Bezug auf Satz 1 zu lesen und besagt lediglich, dass für Wahlen eine Abweichung von der in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG bestimmten Mehrheitsverteilung möglich sind. Die Regelung in Satz 2 der Norm, die sich zu den Verfahrensvorgaben von Parlamentsbeschlüssen verhält, ergibt jedoch nur dann einen Sinn, wenn Wahlen unter Absatz 2 zu fassen sind.42 Inhaltlich mag sich für Wahlen die Besonderheit der Personalbezogenheit ergeben. Sie (entgegen der soweit auch eindeutigen Bestimmung des Art. 42 Abs. 2 S. 2 GG) aber deshalb überhaupt nicht als Beschlüsse zu betrachten, ist nicht überzeugend. Ebenso verhält es sich mit dem Verweis auf die generelle Verbindlichkeit von Wahlergebnissen und der Umsetzungsbedürftigkeit von Parlamentsbeschlüssen. Die grundsätzliche Verbindlichkeit eines Hoheitsaktes des Parlaments enthebt ihn nicht seiner Eigenschaft als Parlamentsbeschluss, wie andere in der Verfassung vorgesehene Parlamentsbeschlüsse belegen.43 Insbesondere die Begründung der Unterscheidung des konstruktiven Misstrauensvotums von der Vertrauensfrage leuchtet in diesem Zusammenhang nicht ein. Das konstruktive Misstrauensvotum sei ein Kreationsakt und deshalb kein Beschluss, die Vertrauensfrage als Sachfrage werde in Form eines Beschlusses beantwortet.44 Art. 67 Abs. 2 GG sieht vor, das zwischen dem Antrag und der Wahl 48 Stunden liegen müssen. Zur Begründung der Eigenschaft als anderer Hoheitsakt als der Beschluss wird aber gerade herangezogen, Abstimmungen zur Beschlussfassung setzten Anträge, Wahlen hingegen Wahlvorschläge voraus.45 Dieses Unterscheidungskriterium ist von sprachlicher Willkür geprägt und findet keine verfassungsrechtliche Bestätigung. Die Antwort liegt auch hier im Blick auf die Rechtsfolge: Wahlen entfalten eine in der Regel unmittelbar eintretende harte Rechtsfolge. Sie sind deshalb nicht als schlichte Parlamentsbeschlüsse zu qualifizieren, sind aber der allgemeinen Kategorie des Parlamentsbeschlusses zuzuordnen.

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Vgl. Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 10 f.; Sester, Der Parlamentsbeschluss, S. 1; Pegatzky, Parlament und Verordnungsgeber, S. 79. A.A. Butzer, AöR 119 (1994), 61, 67. 42 So auch Maunz/Dürig/Klein, GG Art. 42 Rn. 80; A.A. Luch, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 10, allerdings unter Verweis auf Art. 42 Abs. 2 S. 3 GG, wohl zitiert nach Pegatzy, Parlament und Verordnungsgeber, S. 79 Fn. 64. 43 Zu den einzelnen verfassungsrechtlich vorgesehenen Parlamentsbeschlüssen siehe unten 3. Teil B. 3. Teil B. I. 44 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 12. 45 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 10, 14.

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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III. Rezeption schlichter Parlamentsbeschlüsse in der Staatsrechtswissenschaft Die verstärkte Rezeption schlichter Parlamentsbeschlüsse koinzidiert mit den Anfängen des Bonner Grundgesetzes, wobei sich schon zuvor vereinzelte Auseinandersetzungen mit der Materie finden.46 Eine intensive Auseinandersetzung in der Rechtswissenschaft mit schlichten Parlamentsbeschlüssen als parlamentsrechtliches Problem im Gegensatz zu einer rein phänomenologischen Beschreibung des Gegenstands ist überwiegend ab den 1950er Jahren zu beobachten. Noch kurz vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erschienene Beiträge scheinen die Existenz und Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ebenso mühelos anzunehmen, wie es schon bei Thoma zu beobachten war.47 An der Aufbereitung der Thematik nach dem Grundgesetz fällt auf, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse als solche zwar vereinzelt Gegenstand von Monographien waren, in der Regel jedoch immer wieder im Zusammenhang mit einer ganz konkreten Fragen Eingang in die rechtswissenschaftliche Diskussion gefunden haben, insbesondere nach dem Verhältnis von Legislative und Exekutive beziehungsweise von Parlament und Regierung, insbesondere im Bereich auswärtiger Gewalt.48 Die Relevanz des schlichten Parlamentsbeschlusses im Bereich der Auswärtigen Gewalt ist zudem kein ausschließlich deutsches Phänomen. In den Kammern des französischen Parlaments etwa waren schlichte Parlamentsbeschlüsse in den vierziger und fünfziger Jahren ein gebräuchliches Mittel zur Beteiligung an der Außenpolitik und der Stärkung ihrer eigenen Stellung gegenüber der Regierung, wurden jedoch 1958 aus der von de Gaulle eingeführten Verfassung als unzulässig verbannt.49 Die deutsche Staatsrechtswissenschaft hat sich im Bereich auswärtiger Gewalt indirekt auch immer ein Stück weit am schlichten Parlamentsbeschluss abgearbeitet, denn Hauptanlass für die Staatsrechtswissenschaft zur Beschäftigung mit schlichten Parlamentsbeschlüssen waren Fragen zum Verhältnis des Parlaments und der Regierung. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die Kompetenzprobleme im Rahmen der Artt. 59 und 65 GG fanden sie erstmalig Eingang in die rechtswissenschaftliche Diskussion nach 1949. Im Rahmen der Erörterung der Mitwirkungsformen des Parlaments an der auswärtigen Gewalt wurden neben dem Abschluss von Verträgen in Gesetzesform (Artt. 24, 59 GG) und Ent-

46

Vgl. oben 3. Teil A. II. 3. und 3. Teil A. V. Bspw. Arendt, DRZ 1949, 29, der die Willensäußerung der Legislative in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse im Sinne Thomas mit Verweis auf die Möglichkeit ihre rechtliche Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit nachweislos feststellt. 48 Insb. auf diversen Staatsrechtslehrertagungen, VVDStRL 12 (1954); VVDStRL 16 (1958); VVDStRL 56 (1997); Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 210 ff. und 219 ff. Ausführlich auch Grupp, Die parlamentarische Kontrolle der auswärtigen Gewalt in Form von Entschließungen, passim. 49 Grupp, Die parlamentarische Kontrolle der auswärtigen Gewalt in Form von Entschließungen, S. 1. Dies ist auch ein Grund für die Behandlung der Causa Aghet in Form einer Sanktionsnorm, dazu siehe oben 2. Teil B. VIII. 1. a). 47

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

scheidungen über „hochpolitische Akte“50 auch Entschließungen des Bundestags als Fall einer parlamentarischen Handlungsform, die sich nicht aus dem Wortlaut des Grundgesetzes ergebe, genannt. Die schlichten Parlamentsbeschlüsse seien in der Verfassung gemessen an ihrem tatsächlichen Vorkommen unterrepräsentiert.51 Aus dieser faktischen Ausübung auswärtiger Gewalt durch den Bundestag sei zu schließen, ihre Ausübung sei keineswegs lediglich eine exekutive Angelegenheit; der moderne Staat zeichne sich durch die Ausübung der auswärtigen Gewalt in Form einer „kombinierten Gewalt“ aus.52 Teilweise wurde das Parlament sogar als berechtigt betrachtet , im Bereich „hochpolitischer Fragen“ „Weisungen an die Exekutive“ in Form von Entschließungen des Bundestages zu erteilen.53 Diese Annahme erntete deutliche Kritik. Die Entschließungen des Bundestages seien nicht verbindlich, lediglich könne das Parlament bei Nichtbefolgung durch die Regierung den Kanzler im Wege des konstruktiven Misstrauensvotums stürzen.54 Art. 65 GG genieße Vorrang und allenfalls gehe eine moralische Bindung von Entschließungen aus; das System der Gewaltenteilung setze aber die rechtliche Unverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse voraus.55 Dass schlichte Parlamentsbeschlüsse oftmals nur als Randthema zu anderen Debatten besprochen wurden, illustriert auch der Beitrag Ernst Friesenhahns zu ihnen in einer Fußnote.56 Er unterschied verfassungsrechtliche und damit auch klagbare Pflichten von politischen Pflichten. Die Nichtbefolgung politischer Pflichten werfe Fragen auf, mit der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse habe dies jedoch nichts zu tun. Die Notwendigkeit, diese beiden Ebenen auseinanderzuhalten mahnte später auch Norbert Achterberg an.57 Eine verfassungswidrige Einmischung in die Bereiche des jeweils anderen Organs sei weder in schlichten Parlamentsbeschlüssen noch in Rechtssetzungsbefugnissen des Parlaments zu sehen; die Staatsleitung „zur gesamten Hand“ erfordere lediglich, dass die Befugnisse durch entsprechende Kontrollmechanismen ausreichend abgesichert würden. Durch das Rechtsstaatsprinzip sei dies für schlichte Parlamentsbeschlüssen auf etwaig exe50 D. h. beispielsweise die Entscheidung über Krieg und Frieden oder Gebietsveränderungen; Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 196. 51 Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 200. 52 Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 197 und 200. Die gleiche Idee beschreibt die später von Friesenhahn gewählte Formulierung der „Staatsleitung zur gesamten Hand“. 53 Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 219; ders., AöR 79 (1953), 326, 348 f., hier allerdings mit Vergleich zum US-amerikanischen Verfassungsrecht mit der Frage, ob die Exekutive Willensbekundungen des Parlaments als nicht existent betrachten darf. Krit. Grewe, VVDStRL 12 (1954), 129 ff.; ders., Völkerrecht und Außenpolitik im Grundgesetz, in: 40 Jahre Grundgesetz, S. 21, 25 f. Siehe auch Baade, Das Verhältnis von Parlament und Regierung im Bereich der auswärtigen Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, S. 118 ff. 54 Schneider, VVDStRL 12 (1954), 248. 55 Grewe, VVDStRL 12 (1954), 260. 56 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 36 Fn. 70. 57 Achterberg, Parlamentsrecht, 741.

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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kutivem Terrain gewährleistet.58 Friesenhahn warb für ein System, in dem Parlament und Regierung weitest möglich und am Gemeinwohl orientiert zusammenarbeiten.59 Dem Parlament kämen dabei aber weiterreichende Befugnisse zu, da der Regierung durch die Verfassung kein parlamentsfreier Raum gewährt werde.60 Meinungsäußerungen und Einflussnahme auf die Regierung in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse seien daher grundsätzlich verfassungsrechtlich zulässig.61 Im gleichen Zusammenhang entwickelten sich auch erste Vorstöße zur Erfassung des schlichten Parlamentsbeschlusses im Kontext konkreter Funktionen und Befugnisse des Parlaments. Entschließungen, durch die das Parlament im Nachgang zu internationalen Vereinbarungen Einfluss auf die Regierung zu nehmen versuche, seien zwar lediglich politisch bindend, jedoch Ausübung eines dem Parlament zustehenden Kontrollrechts.62 Kern der Überlegungen waren schlichte Parlamentsbeschlüsse jedoch auch hier nicht. Es handelt sich lediglich um eine weitere Randnotiz zur Frage des Machtbereiches von Parlament und Regierung. Das Schattendasein, das schlichte Parlamentsbeschlüsse neben den großen staatsrechtlichen Fragen fristen, belegt auch der Fall, in dem sie im Rahmen der Debatte um das Verhältnis von Parlament und Regierung vergessen wurden. Ein in einem Diskussionsbericht veröffentlichter Beitrag von Merk hatte keinen Eingang in die Diskussion gefunden; Merk hatte laut eigener Angabe diesen Punkt vor Ort versehentlich nicht erwähnt.63 Im Diskussionsbericht warf er Friesenhahn jedoch einen Verstoß gegen die in Art. 20 GG normierte Gewaltentrennung vor, wenn dieser Weisungen des Parlaments an die Regierung als zulässig erachte.64 In eine ähnliche Richtung gingen Hinweise darauf, die Annahme einer Bindungswirkung sei gefährlich.65 Friesenhahn konkretisierte jedoch später sein Verständnis des Wortes Weisungen; diese seien mehr als eine politische Nützlichkeit zu verstehen als als klagbare Vorgabe.66 Er betonte die verfassungsrechtliche Zulässigkeit politischer Äußerungen über die politische Führung in Form von Parlamentsbeschlüssen ausdrücklich als Aufgabe des Parlaments.

58

Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 38 f. Dies wird besonders deutlich in den Leitsätzen zu seinem Bericht. Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 66 f. 60 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 67 f. 61 Eindrücklich dazu das Schlusswort, Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 149. Gesondert wies Friesenhahn außerdem darauf hin, dass seine Unterscheidung bewusst die zwischen Parlament und Regierung im Gegensatz zu Legislative und Exekutive war. Organe und Funktionen seien zu trennen, Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 148. 62 Partsch, VVDStRL 16 (1958), 74, 100. 63 Merk, VVDStRL 16 (1958), 128 Fn. 1. 64 Merk, VVDStRL 16 (1958), 128 f. 65 Kordt, VVDStRL 16 (1958), 136. 66 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 149. 59

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Am Rande der Diskussion um die Kontrolle der auswärtigen Gewalt wurde schließlich die verstärkte Parlamentarisierung der auswärtigen Gewalt als Aufwertung schlichter Parlamentsbeschlüsse betrachtet.67 Anhand von Art. 23 Abs. 3 GG wurde eine Systematisierung in Stellungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 GG, konstitutive Parlamentsbeschlüsse und schlichte Parlamentsbeschlüsse vorgenommen.68 Schlichte Parlamentsbeschlüsse seien aufgrund ihrer hohen Flexibilität gegenüber dem Parlamentsgesetz in einigen Bereichen die besser geeignete Handlungsform. Die parlamentarische Kontrolle durch schlichte Parlamentsbeschlüsse auszuüben, biete sich im Bereich der Außenpolitik an.69 Die verschiedenen Parlamentsbeschlüsse in eine Beziehung zu setzten, fiel auch im weiteren Verlauf der Rezeption noch schwer. Ein grobes System zeichnete sich jedoch ab: Schlichte Parlamentsbeschlüsse im weiteren Sinne auf der einen Seite, konstitutive Parlamentsbeschlüsse auf der anderen und irgendwo dazwischen die Beschlüsse nach Art. 23 Abs. 3 GG.70 Erneut stellte sich das Gewaltentrennungsproblem. Klaus Stern betrachtete die Zuständigkeitsproblematik interessanterweise nicht aus der Perspektive eines Zuviel im Sinne einer Kompetenzüberschreitung, sondern sah in einer unzureichenden Abgrenzung im Gegenteil die Gefahr eines Zuwenig durch Verantwortungsdiffusion, wenn nämlich aufgrund kombinierter Zuständigkeit im Sinne kombinierter Verantwortung niemand mehr die Verantwortung tatsächlich trage.71 Dass das Parlament durch Parlamentsbeschlüsse an der auswärtigen Gewalt mitwirkt und dies auch darf, schien in den 1990er Jahren durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr belegt.72 Die Figur des konstitutiven Parlamentsbeschlusses wurde zunehmend zum Betrachtungsgegenstand.73 Die Debatte um den Themenkomplex der auswärtigen Gewalt kann keinesfalls als Debatte, die den schlichten Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform zu untersuchen wollte, betrachtet werden. Eine vertiefte andauernde Beschäftigung mit schlichten Parlamentsbeschlüssen fand ohnehin nie statt. Dennoch sind es gerade die Anfänge der Debatte um den Bereich des Parlaments im Bereich der auswärtigen Gewalt, die sich für die Untersuchung schlichter Parlamentsbeschlüsse als besonders ertragreich erwiesen haben. Mit jeder Verlagerung der Fragen zur auswärtigen Gewalt hat sich daher auch die Perspektive auf schlichte Parlamentsbeschlüsse verändert. 67

R. Wolfrum, VVDStRL 56 (1997), 38, 63. R. Wolfrum, VVDStRL 56 (1997), 38, 63 ff. 69 R. Wolfrum, VVDStRL 56 (1997), 38, 66. 70 Stern, VVDStRL 56 (1997), 100. 71 Stern, VVDStRL 56 (1997), 100. In eine ähnliche Richtung geht die Auseinandersetzung mit dem Zunehmenden Machtverlust des Parlaments, siehe dazu unten 3. Teil D. I. 72 BVerfG Urteil vom 12. Juli 1994, 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93, BVerfGE 90, 286. So auch R. Wolfrum, VVDStRL 56 (1997), 38, 44. 73 Siehe dazu unten 3. Teil C. IV. 8. a). 68

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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IV. Schlichte Parlamentsbeschlüsse – Hoheitsakte sui generis Die Handlungsform des schlichten Parlamentsbeschlusses steht im System der parlamentarischen Handlungsformen außerhalb ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Anhaltspunkte zu ihrer Zuordnung. Die Antwort auf die Frage nach der Rechtsnatur schlichter Parlamentsbeschlüsse könnte in der Zuordnung schlichter Parlamentsbeschlüsse zu einer bereits bestehenden rechtlichen Kategorie liegen. In Betracht kommen eine Art interne Maßnahme des Parlaments, Verwaltungsakte und Gesetze im materiellen Sinn. Der Versuch der Zuordnung zu einer bereits umfassend erschlossenen Handlungsform hat sich jedoch im Ergebnis als fruchtlos erwiesen. Besonders deutlich wird dies bei einem möglichen Versuch der Zuordnung zum Verwaltungsakt. Zwar könnte möglicherweise auch der Deutsche Bundestag Hoheitsakte erlassen, die dem Verwaltungsrecht zuzuordnen wären. Das Parlament wird beim Erlass eines schlichten Parlamentsbeschlusses jedoch nicht als Verwaltungsbehörde tätig. Schlichte Parlamentsbeschlüsse haben verfassungsrechtlichen Charakter und sind schon daher keine Verwaltungsakte.74 Bereits aus diesem Grund versagt eine derartige Zuordnung. Näher liegt die Zuordnung schlichter Parlamentsbeschlüsse zu Gesetzen im materiellen Sinne. Doch auch diese überzeugt im Ergebnis nicht. Mag für einige Parlamentsbeschlüsse eine derartige Zuordnung tauglich sein, krankt sie jedoch – wie der weit überwiegende Teil der Systematisierungsversuche – daran, dass das Ergebnis eine Regel mit mehr Ausnahmen als Regelfällen ist.75 Es wird sich nämlich unter anderem zeigen, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse im Gegensatz zu materiellen Gesetzen nicht regeln (sollen) und keine allgemeine Verbindlichkeit entfalten.76 Freilich ist es nicht zwingend, alle schlichten Parlamentsbeschlüsse nur einer Kategorie zuzuordnen. Funktional bietet es sich jedoch an, den Kreis aus Regeln und Ausnahmen, in dem schlichte Parlamentsbeschlüsse so häufig gefangen sind, zu durchbrechen und sie losgelöst von bereits bestehenden Rechtskategorien zu erfassen. Schlichte Parlamentsbeschlüsse sind somit als Staatshoheitsakte eigener Art einzuordnen.77 Dies bietet zum einen den Vorteil, die Untersuchung vornehmen zu können, ohne der Dogmatik der in großen Teilen von schlichten Parlamentsbeschlüssen völlig verschiedenen Handlungsformen verhaftet zu sein. Andererseits trägt es auch dem Umstand Rechnung, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse eine eigene Bedeutung in der Parlamentspraxis haben. Unabhängig von der Forderung nach der Schaffung einer eigenen Handlungsform durch das Parlament,78 ist ein74 75 76 77 78

Achterberg, Parlamentsrecht, S. 741. So auch kritisch Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Rn. 20. Siehe unten 3. Teil C. Vgl. auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 741. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 741. Dazu ausführlich siehe unten 3. Teil D. I.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

zugestehen, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse keine Variation der einen oder anderen parlamentarischen Handlungsform sind, sondern ein autonomes Gebilde, dessen Dogmatik nicht aus der Übertragung verschiedener an anderer Stelle entwickelten Grundsätze zusammengeklöppelt werden sollte.

V. Parlamentspraxis Die Unsicherheit über die Kompetenzzuweisung und das Mandat des Bundestages für schlichte Parlamentsbeschlüsse spiegelt die Parlamentspraxis in keiner Weise wider. Ein Blick in den parlamentarischen Alltag zeigt, dass der Deutsche Bundestag sich der Möglichkeit, in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse zu politisch bedeutsamen Themen zu äußern, vielfach bedient. Schlichte Parlamentsbeschlüsse treten in verschiedenen Ausgestaltungen auf. Einerseits ersucht der Bundestag in vielen Beschlüssen die Bundesregierung um ein Tun oder Unterlassen, etwa um die Vorlage eines Gesetzesentwurfs, die Einstellung eines Betrages in den Haushaltsplan, den Erlass, die Aufhebung oder Änderung einer Rechtsverordnung.79 Diese Beschlüsse können den innenpolitischen oder auch den außenpolitischen Bereich betreffen. Auch Auskunftsersuchen an die Regierung sind denkbar. Darüber hinaus erlässt der Bundestag schlichte Parlamentsbeschlüsse auch ohne konkrete Adressaten.80 Die Rechtsauffassung des Bundestages scheint demnach die Interpretation der Ansicht des Verfassungsgesetzgebers von einer allenfalls mitgeregelten, aber umfassend anzuwendenden Handlungsform zu bestätigen, wobei die Rechtsauffassung eines Verfassungsorgans über seine eigenen Kompetenzen natürlich nicht maßgeblich sein kann. Schlichte Parlamentsbeschlüsse bilden heute also einen festen Bestandteil der parlamentarischen Arbeit, sind jedoch kein Phänomen moderner Parlamente. Erste Impulse für die Entwicklung des schlichten Parlamentsbeschlusses können schon im Mittelalter ausgemacht werden, ohne dass sich die Entwicklung dieser Handlungsform jedoch nahtlos bis in die Moderne zurückverfolgen lassen könnte.81 In der 79

Im Einzelnen Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 37 ff. Grupp, Die parlamentarische Kontrolle der auswärtigen Gewalt in Form von Entschließungen, S. 18, bezeichnet solche adressatenlosen Beschlüsse als „Bekenntnisse vor aller Welt“. 81 Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 21, der in den auf den sog. Hofversammlungen geäußerten Bitten und Vorstellungen der Reichtstage keinen Vorläufer zum schlichten Parlamentsbeschluss sieht, jedoch Parallelen auch nicht von der Hand weist. Für eine Vorläuferstellung dieser Bitten und Vorstellungen aber Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden, S. 2 f. Schlichte Parlamentsbeschlüsse waren schon zu Weimarer Zeiten Teil des politischen Alltags, vgl. Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, S. 221 Fn. 1. Besonders häufig waren bis zum Jahr 1949 Parlamentsbeschlüsse im Bereich von Verordnungen, die unter einem nachträglichen Genehmigungsvorbehalt des Reichstages standen, ausführlich Arendt, DRZ 1949, 29 ff.; siehe auch Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, S. 302 f. Im Gegensatz zur späteren Übung wurden zu Weimarer Zeiten solche Beschlüsse des 80

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

123

Literatur ist angenommen worden, es handle sich bei schlichten Parlamentsbeschlüssen um die am häufigsten eingesetzte parlamentarische Handlungsform.82 Diese Annahme führt zu dem Schluss, schlichte Parlamentsbeschlüsse seien verfassungsrechtlich unterrepräsentiert. Ein Blick in die statistischen Daten über die Arbeit des Bundestags zeichnet jedoch ein anderes Bild. Diesen Datensätzen können Aufschlüsse über den Einsatz schlichter im Vergleich zu anderen Parlamentsbeschlüssen nicht ohne Weiteres entnommen werden. Denn im Mittelpunkt der Parlamentspraxis steht, anders als es der juristische Fokus auf Parlamentsbeschlüsse nahelegt, nicht das Ergebnis eines Parlamentsvorgangs, sondern der Vorgang selbst. Der Fokus zeigt sich schon in den Bundestagsstatistiken, die nicht nach Abstimmungsergebnissen, sondern nach den dazugehörigen Vorlagen gegliedert sind.83 Daher kann eine quantitative Einordnung schlichter Parlamentsbeschlüsse nur mit Blick auf die Vorlage als Ausgangspunkt vorgenommen werden. Schlichte Parlamentsbeschlüsse ergehen wie auch Gesetzesbeschlüsse auf der Grundlage von Anträgen. Diese bildet die offizielle Statistik des Bundestages im Datenhandbuch quantitativ ab.84 Zur Betrachtung konkreter Zahlen wird an dieser Stelle die letzte abgeschlossene Legislaturperiode (18. Wahlperiode) exemplarisch herangezogen. Ein Überblick zeigt darüber hinaus, dass die Ergebnisse dieser Betrachtung auch für die vorangegangenen Legislaturperioden 12 bis 17 typisch sind. In der 18. Wahlperiode wurden 1.080 selbstständige Anträge im Bundestag gestellt.85 Davon wurden 201 angenommen. Die angenommenen Beschlüsse sind aufgrund des soeben dargestellten verschobenen Fokus jedoch im Datenhandbuch des Bundestages nicht einzeln ausgewiesen. Ein Eindruck von der Menge der tatsächlich zustande gekommenen Beschlüsse ergibt sich nur durch eine Einzelrecherche über das Dokumentations- und Informationssystem für parlamentarische Reichstages im Reichsgesetzblatt verkündet, Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, S. 303. Auch das Staatsrecht des Norddeutschen Bundes kannte (schlichte) Beschlüsse des Reichstages. Abschnitt IVArt. V §§ 98 bis 103 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 28. März 1849 sahen vor allem für budgetrechtliche Entscheidungen ein Handeln des Reichstages durch Beschlüsse, die keine Gesetzesbeschlüsse sind, vor, abgedruckt in Glaser (Hrsg.), Archiv des Norddeutschen Bundes, Sammlung aller Gesetze, Verträge und Actenstücke, die Verhältnisse des Norddeutschen Bundes betreffend, I. Band, S. 11 f. Mit der Gründung des Deutschen Bundes 1815 waren zuvor vor allem in den Verfassungen im Süden den Landesvertretungen Rechte eingeräumt worden – etwa das Recht zur Zustimmung zum Erlass von Gesetzen, die Befugnis zur Steuerbewilligung oder Bitt- und Beschwerderechte – die spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer Wahrnehmung der Parlamente weg von bittenden Untertanen hin zu auch resolutionsberechtigten Organen geführt hatte, Bornhak, AöR 16 (1929), 403 ff.; Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 24. 82 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, §10 Rn. 5. 83 Die zur Erhebung der hier zugrundegelegten Daten verwendete Suchmaske mit der an dieser Stelle beschriebenen Filteroption findet sich unter https://dipbt.bundestag.de/dip21.web/ searchProcedures/advanced_search.do, letzter Abruf 9. Juli 2018, 17.20 Uhr. 84 DHB, Kap. 7.10. 85 DHB, Kap. 7.10, S. 2.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Vorgänge (DIP).86 Eine Aussage über die Quantität schlichter Parlamentsbeschlüsse ist insoweit jedoch noch nicht getroffen, als sich innerhalb dieser 201 angenommenen Anträge sowohl schlichte als auch andere auf Antrag ergehende Parlamentsbeschlüsse mit Ausnahme von Gesetzesbeschlüssen befinden. Erneut wird der Fokus auf die Vorlage erkennbar, da eine weitere Abschichtung nur möglich wird, indem zunächst nach dem vorlegenden Organ beziehungsweise Organteil gefiltert wird. Dabei ergibt sich, dass es sich bei 53 Beschlüssen um Parlamentsbeschlüsse auf Betreiben der Bundesregierung zur Fortsetzung von Einsätzen der Bundeswehr, die verfassungsrechtlich vorgesehen und verbindlich sind, handelt.87 Insofern ist das Ergebnis erkennbar, dass die Bundesregierung nur insoweit das Verfahren zum Erlass eines Parlamentsbeschlusses anregt, soweit dieser eine verfassungsrechtlich vorgeschriebene Voraussetzung für ihr Handeln darstellt. Dieses Ergebnis ist zusätzlich dadurch belegt, dass der historisch erste Antrag der Bundesregierung auf einen Parlamentsbeschluss aus dem Jahr 1994 stammt und der einzige Antrag in der 12. Wahlperiode ist.88 Es handelt sich um den Antrag zur Zustimmung zur deutschen Beteiligung an Maßnahmen der NATO und WEU zur Durchsetzung von Beschlüssen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen in Bosnien-Herzegowina vom 19. Juli 1994, der eine Woche nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zur Zustimmungsbedürftigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr gestellt wurde.89 Eine inhaltliche Auswertung der 148 verbleibenden angenommenen selbstständigen Anträge ergibt, dass in der 18. Wahlperiode 141 schlichte Parlamentsbeschlüsse auf Antrag von Fraktionen zustande gekommen sind.90 Aufschluss über die Stellung der schlichten Parlamentsbeschlüsse gibt ein Vergleich mit den dazugehörigen Vorlagen, denn diese bieten einen Überblick über die Urheberschaft der abgelehnten und angenommenen schlichten Parlamentsbeschlüsse. Von den 1080 selbstständigen Anträgen stellte 62 die Bundesregierung. Darüber hinaus waren 873 Anträge reine Oppositionsanträge, von denen 468 von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, 388 von der Fraktion DIE LINKE und 17 von beiden Oppositionsfraktionen gemeinsam stammen. Dazu kommen weitere 28 Anträge unter Oppositionsbeteiligung, konkret 18 gemeinsame Anträge der Frak86 Die zur Erhebung der hier zugrunde gelegten Daten verwendete Suchmaske findet sich unter https://dipbt.bundestag.de/dip21.web/searchProcedures/advanced_search.do, letzter Abruf 9. Juli 2018, 17.20 Uhr. 87 Siehe dazu auch unten 3. Teil B. I. und 3. Teil B. III. 2. 88 BT-Drs. 12/8303. 89 BVerfG, Urteil vom 12. Juli 1994, 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93, BVerfGE 90, 286. 90 Die übrigen Vorlagen waren ebenfalls Anträge zur Einholung zustimmender Beschlüsse des Bundestages, allerdings durch einzelne Bundesministerien. Sie betrafen insbesondere die Stabilisierungshilfe für Griechenland. Das Bundesministerium der Finanzen stellte Zustimmungsanträge nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 StabMechG, § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 2 StabMechG, zur Zustimmung nach § 4 Abs. 1 Nr. 2 ESMFinG und zur Zustimmung zu einem Memorandum of Understanding nach Art. 13 Abs. 4 ESM-Vertrag, sowie Art. 13 Abs. 2 ESM-Vertrag zur vorsorglichen Finanzhilfe für Griechenland. Das Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie stellte außerdem einen Antrag nach § 6 Abs. 3 ERP-Verwaltungsgesetz.

A. Der schlichte Parlamentsbeschluss als parlamentarische Handlungsform

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tionen CDU/CSU, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, sowie zehn gemeinsame Anträge aller in der 18. Wahlperiode vertretenen Fraktionen. Bei den restlichen 115 Anträgen handelt es sich um gemeinsame Anträge der Fraktionen CDU/CSU und SPD. Eigene Anträge der CDU/CSU beziehungsweise SPD wurden in der 18. Wahlperiode nicht gestellt. Zwei Anträge wurden von einzelnen Abgeordneten gestellt, einer von einzelnen Abgeordneten der Fraktionen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE und einer von einzelnen Abgeordneten aller in der 18. Wahlperiode vertretenen Fraktionen. Unter den 141 angenommenen dieser Anträge ist im Ergebnis aber kein Antrag ohne Beteiligung der Koalitionsparteien mehr zu finden. Im Gegenteil sind von insgesamt 143 solcher Anträge nur zwei abgelehnt worden. Von den 875 verbleibenden Anträgen ohne Koalitionsbeteiligung dagegen sind alle Anträge abgelehnt worden, sodass ein schlichter Parlamentsbeschluss auf alleiniges Betreiben der Opposition nicht zustande gekommen ist. Aufgrund der Mehrheitsentscheidung, auf der auch der schlichte Parlamentsbeschluss basiert, auf den ersten Blick kein überraschendes Ergebnis. Der Vergleich mit der Gesetzgebungsstatistik zeigt, wie sich schlichte Parlamentsbeschlüsse statistisch zum Gesetzgebungsverfahren verhalten. In der 18. Wahlperiode gab es 731 Gesetzesentwürfe und 555 Gesetzesbeschlüsse.91 488 Vorlagen kamen dabei von der Bundesregierung. Somit übersteigt die Anzahl der Anträge die Gesetzesvorhaben. Die Gesetzesbeschlüsse übersteigen jedoch die schlichten Parlamentsbeschlüsse. Auch die Erfolgsaussichten von schlichtem Parlamentsbeschluss und Gesetz unterscheiden sich stark. Ca. 75 % der Gesetzesentwürfe führten in der 18. Wahlperiode zum Gesetzesbeschluss, lediglich 13 % der Anträge aber zum schlichten Parlamentsbeschluss. Ein Blick in die vorangegangenen Wahlperioden bestätigt dieses Bild, denn die Annahmerate für schlichte Parlamentsbeschlüsse auf Fraktionsantrag bewegt sich in den Wahlperioden 12 bis 17 zwischen zwölf und 23 %, wohingegen Gesetzesentwürfe bei einer Annahmerate zwischen 61 % und 68 % liegen.92 Angesichts der geringeren Verwendung des Instruments durch die Koalitionsparteien ist dies auch nicht verwunderlich. Anders gesagt ist ein Beschlussantrag ohne Koalitionsbeteiligung aus Sicht der Opposition genauso aussichtslos wie eine Gesetzesvorlage. Auf den ersten Blick erscheint die Bewertung des schlichten Parlamentsbeschlusses als häufigste Handlungsform des Parlaments anhand dieser Zahlen ob des quantitativen Rückstands zum Gesetzesbeschluss des Parlaments falsch. Der Blick auf die Stellung, die der Parlamentsbeschluss in der Parlamentspraxis als potentielles Ergebnis des Antrags tatsächlich einnimmt, offenbart jedoch, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse gemessen an der Initiative Haupthandlungsinstrument des Parlaments sind. Dass in der 18. Wahlperiode 1080 selbstständige Anträge in das Parlament eingebracht wurden, illustriert zunächst, wie der Deutsche Bundestag in der Parlamentspraxis zu einer Aussprache zu jedem denkbaren politischen Thema be91 92

DHB, Kap. 10.1, S. 4 f. Die hier zugrundeliegenden Zahlen finden sich im DHB, Kap. 10.1.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

wegt wird. Nicht aber muss das Ergebnis dieses Prozesses dann auch ein schlichter Parlamentsbeschluss sein. Im Vordergrund steht das diskursive Element, das die Relevanz der Mehrheitsentscheidung im Bereich politischer Fragen in den Hintergrund treten lässt. Ein Antrag auf einen im Ergebnis erfolglosen schlichten Parlamentsbeschluss erfüllt damit in gleichen Teilen die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages wie ein angenommener Antrag. Der schlichte Parlamentsbeschluss ist daher nicht zwingend auf Erfolg ausgerichtet, sondern soll Aufmerksamkeit erregen und dient dabei insbesondere der Opposition zur Mobilisierung in Angelegenheiten, die im Rahmen eines Gesetzes von vornherein keinen Erfolg versprechen oder für die ein Gesetz nicht das richtige Handlungsinstrument darstellt, weil eine Rechtsfolge von vornherein nicht intendiert ist.93 Anders ist nicht zu erklären, dass die Opposition Beschlussanträge stellt, obwohl auch sie weiß, dass diese im Ergebnis ohnehin nicht zum Beschluss führen werden. Verfälscht wird der Vergleich von Parlamentsbeschluss und Parlamentsgesetz zusätzlich durch die Beteiligung der Regierung, denn die Bundesregierung ist für 488 der Gesetzesbeschlüsse als Urheberin verantwortlich. Dass die Bundesregierung jedoch jenseits der verfassungsrechtlichen Zustimmungspflichten keine schlichten Parlamentsbeschlüsse initiiert, ist evident und durch die Bundestagsstatistik belegt. Berücksichtigt man als Konsequenz aber schließlich nur die Gesetze aufgrund parlamentarischer Initiative, so entsteht das Verhältnis von 62 Gesetzesbeschlüssen zu 141 schlichten Parlamentsbeschlüssen. Damit ist festzuhalten, dass der schlichte Parlamentsbeschluss die dominante Handlungsform aufgrund reiner Parlamentsinitiativen ist. Soweit man also in der quantitativen Bemessung der schlichten Parlamentsbeschlüsse rein auf die Organe beziehungsweise Organteile abstellt, ist die Annahme, schlichte Parlamentsbeschlüsse seien die häufigste Handlungsform des Parlaments, im Ergebnis daher zwar insoweit richtig. Im Kontext der Parlamentspraxis und angesichts der „Personalunion“ von Bundesregierung und Koalition bildet sie jedoch die Bedeutung der einzelnen parlamentarischen Handlungsformen im Ergebnis nicht zutreffend ab. Diese statistische Betrachtung erlaubt es, zu vermuten, dass die oben dargestellte Genese des Armenier-Beschlusses für den parlamentspraktischen Prozess verallgemeinerbar ist. Ein Oppositionsantrag führt nicht zum schlichten Parlamentsbeschluss. Bei politisch argumentativer Überzeugung der Mehrheitsfraktionen wird allenfalls ein inhaltsgleicher gemeinsamer Antrag gestellt. Schon die parlamentarische Aufmerksamkeit für konkrete politische Fragen erfüllt also den Zweck des Hinarbeitens der Opposition auf einen schlichten Parlamentsbeschluss. Er ermöglicht im Diskurs die oppositionelle Überzeugungsarbeit. Die Mehrheit muss im Gegensatz dazu die Opposition zur Beschlussfassung weder argumentativ noch politisch überzeugen. Der schlichte Parlamentsbeschluss ist, wenn die Metamorphose vom Oppositions- zum Koalitionsantrag abgeschlossen ist, als Ergebnis des argumentativ-politischen Diskurses insbesondere Ausdruck erfolgreicher Oppositionsarbeit. Somit wird erkennbar, dass der Oppositionsantrag re93

Siehe zur Auswahl der Handlungsform für bestimmte Zwecke unten 3. Teil D. III.

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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gelmäßig nur Impulsgeber für die Meinungsbildung im Parlament ist, der schlichte Parlamentsbeschluss selbst aber in der Regel den Schlusspunkt derselben bildet.94

VI. Fazit Der schlichte Parlamentsbeschluss ist eine Handlungsform des Parlaments, die angesichts ihrer häufigen Nutzung durch Parlamente als verfassungsrechtlich unternormiert bezeichnet werden kann. Entgegen verbreiteter Annahme sind sie auch bei quantitativer Betrachtung aber nicht Haupthandlungsform des Parlaments. Im Gegensatz zu Gesetzesbeschlüssen kommen jedoch mehr schlichte Parlamentsbeschlüsse ohne Regierungsinitiative zustande. Sie sind also die Handlungsform, derer sich das Parlament regelmäßig bei Eigeninitiative bedient. Dennoch kommt ein schlichter Parlamentsbeschluss faktisch nicht ohne Beteiligung der Koalitionsparteien zustande. Instrument der Opposition sind schlichte Parlamentsbeschlüsse daher nur insoweit, wie sie den parlamentarischen Diskurs ermöglichen. Die verstärkte verfassungsrechtliche Auseinandersetzung mit schlichten Parlamentsbeschlüssen ist ein Phänomen der Bundesrepublik. Sie ist von begrifflichen Unklarheiten geprägt, die auf die Entwicklung des Begriffs weg von einer Sammelkategorie unter rein formaler Abgrenzung hin zu einer eigenständig konturierten Handlungsform zurückzuführen ist.

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages zum Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse Beginnt man diese Untersuchung mit Thomas Aussage zum schlichten Parlamentsbeschluss, so sind deutsche Parlamente ausnahmslos kompetent, schlichte Parlamentsbeschlüsse zu erlassen. Dabei kann die Fragestellung nicht auf den Begriff des Parlamentsbeschlusses verengt werden, da schon semantisch sicher kein anderes Organ die Kompetenz für den Erlass von Parlamentsbeschlüssen haben kann. Für Parlamentsbeschlüsse, die in der Verfassung vorgesehen sind, ergeben sich insoweit ohnehin keine Besonderheiten. Zweifellos ist das Parlament befugt, die Parlamentsbeschlüsse zu erlassen, welche in der Verfassung vorgesehen sind.95 In Frage steht somit nicht, wer für den Erlass von Parlamentsbeschlüssen zuständig ist – dies kann naturgemäß ausschließlich das Parlament sein. Kern der Frage ist vielmehr, ob Parlamente ein Entschließungsrecht allgemein politischen Zuschnitts haben und wo ein solches seine Grenzen findet. 94

Siehe zu den Funktionen schlichter Parlamentsbeschlüsse ausführlich unter 3. Teil B. 3. Teil B. II. 95 Vgl. auch Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 100 Fn. 2.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

I. Schlichte Parlamentsbeschlüsse in der Verfassung Ausgangspunkt für die Untersuchung dieser sachlichen Zuständigkeit für allgemeinpolitische Erklärungen sind dabei die Normen des Grundgesetzes, das jedoch, wie bereits erwähnt, keine abstrakte Regelung schlichter Parlamentsbeschlüsse enthält. Dennoch haben Parlamentsbeschlüsse im weiteren Sinne an verschiedenen Stellen Eingang in die Verfassung gefunden, sodass in der Folge nicht festgestellt werden kann, dass es sich beim schlichten Parlamentsbeschluss um ein verfassungsfremdes Element handelte. Viel eher entsteht der Eindruck, der Verfassungsgesetzgeber habe das Instrument des schlichten Parlamentsbeschlusses gedanklich vorausgesetzt und in zahlreichen Fällen darauf zurückgegriffen.96 Rückschlüsse auf die Gesamtheit aller Parlamentsbeschlüsse lässt die Existenz dieser fragmentarisch versprengten Einzelregelungen jedoch nicht zu. Zwar lässt sich grob bestimmen, dass es sich bei diesen Vorschriften um solche handelt, die sich im inneren Bereich des Bundestages, dem Verhältnis von Bundestag und anderen Verfassungsorganen und besonderen Situationen, die ein Tätigwerden des Bundestages notwendig machen. Ein übergeordnetes System, das der Auswahl des Verfassungsgesetzgebers zugrunde läge, ist jedoch nicht erkennbar.97 Es handelt sich lediglich um Einzel-

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Im Einzelnen handelt es sich um Art. 39 Abs. 3 GG – Bestimmung des Beginns und Endes von Sitzungen, Art. 40 Abs. 1 S. 1 GG – Wahl des Präsidenten, seiner Stellvertreter und Schriftführers, Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG – Erlass der Geschäftsordnung, Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG – Wahlprüfung, Art. 41 Abs. 1 S. 2 GG – Ausschluss von Abgeordneten, Art. 42 Abs. 1 S. 2 GG – Ausschluss der Öffentlichkeit bei den Verhandlungen, Art. 43 Abs. 1 GG – Verlangen der Anwesenheit von Mitgliedern der Bundesregierung, Art. 44 GG – Einsetzung von Untersuchungsausschüssen, Art. 45a Abs. 1 und 45c Abs. 1 GG – Bestellung des Auswärtigen und Verteidigungsausschusses, Art. 45b S. 1 GG – Berufung des Wehrbeauftragten, Art. 45 c Abs. 1 GG – Bestellung des Petitionsausschusses, Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG – Aufhebung der Immunität, Art. 53a S. 2 GG – Bestimmung der Mitglieder des Gemeinsamen Ausschusses, Art. 60 Abs. 4 i.V.m. Art. 46 Abs. 2 bis 4 GG – Aufhebung der Immunität des Bundespräsidenten, Art. 61 Abs. 1 GG – Anklage des Bundespräsidenten, Art. 63 Abs. 1 GG – Wahl des Bundeskanzlers, Art. 66 GG – Zustimmung zu Nebentätigkeiten des Bundeskanzlers und der Bundesminister, Art. 67 Abs. 1 GG – Konstruktives Misstrauensvotum, Art. 68 Abs. 1 GG – Vertrauensfrage, Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG – Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts, Art. 95 Abs. 2 GG – Wahl der Richterwahlausschüsse für die obersten Gerichtshöfe, Art. 80a Abs. 1 GG – Feststellung des Eintritts des Spannungsfalls, Art. 80a Abs. 2 und 3 GG – Verfahren zur Aufhebung des Spannungsfalls, Art. 115a Abs. 1 GG – Feststellung des Verteidigungsfalles, Art. 115 l Abs. 1 und 2 GG – Verfahren zur Aufhebung des Verteidigungsfalls, Art. 87 a Abs. 4 S. 2 GG – Verlangen, Einsatz der Streitkräfte im Innern einzustellen, Art. 87 Abs. 3 S. 2 GG – Errichtung bundeseigener Mittel- und Unterbehörden, Art. 23 Abs. 3 GG – Berücksichtigungspflicht der Regierung in Angelegenheiten der Europäischen Union. Aufzählung einschließlich der Wahlen betreffenden Normen. Zum Verhältnis von Wahlen zu schlichten Parlamentsbeschlüssen siehe oben 3. Teil A. II. 4. 97 Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 247; vgl. auch Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 4 ff. Teilweise ist zutreffend angemerkt worden, dass es sich um Fragen besonderer Dringlichkeit oder Bedeutung und um Personalfragen handelt, Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 14 f., jedoch ebenfalls unter Anerkennung des zerstreuten Gesamtbildes.

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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fallregelungen in bestimmten Bereichen von ganz unterschiedlicher Natur und Bedeutung.98 1. Art. 42 GG als abstrakte Kompetenzzuweisung In Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG findet sich eine Regelung, die – wenn auch nur indirekt – schlichten Parlamentsbeschlüssen abstrakt einen gewissen Rahmen verleiht. Eine allgemeine Bestimmung der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ist Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG aber nicht zu entnehmen. Nach Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG ist zu einem Beschluss des Bundestages grundsätzlich die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich. Auch schlichte Parlamentsbeschlüsse sind vom Anwendungsbereich des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG umfasst, da dieser lediglich konstatiert, wann ein Beschluss des Parlaments vorliegt.99 Erkenntnisse über ihre Zulässigkeit oder gar Rechtsverbindlichkeit lassen sich aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG indes nicht gewinnen, da dieser den Beschluss als solchen schon voraussetzt.100 Vielmehr handelt es sich um eine rein verfahrensrechtliche Bestimmung. Ebenso wenig wie Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG den Bundestag zum Erlass von Gesetzesbeschlüssen, die unstreitig in den Anwendungsbereich der Norm fallen, ermächtigt, ergibt sich eine Ermächtigung zum Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG. Auch ein außerhalb einer geschriebenen Kompetenz des Bundestages ergangener Beschluss ist daher ein – gegebenenfalls rechtswidriger – Beschluss im Sinne von Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG; die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse lässt sich daraus indes nicht ableiten.101 2. Keine Ermächtigung aus der Verbandskompetenz Teilweise wird die Befassungskompetenz des Bundestages im Zusammenhang mit den Verbandskompetenzen der Artt. 72 und 74 GG gesehen.102 Fehlerhaft wäre es jedoch, anzunehmen, die durch die Verfassung festgelegten verbandskompetenzi98 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 42. Ausführlich zu den Einzelheiten einzelner auch hier aufgeführter geregelter schlichter Parlamentsbeschlüsse Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 25 ff. 99 Dreier/Morlok, GG, Art. 42 Rn. 32; Epping/Hillgruber/Brocker, BeckOK GG, Art. 42 Rn. 17 f.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 42 Rn. 3; Maunz/Dürig/Klein, Kommentar GG, Art. 42 Rn. 80; Sachs/Magiera, GG, Art. 42 Rn. 8. 100 Epping/Hillgruber/Brocker, BeckOK GG, Art. 42 Rn. 17; Maunz/Dürig/Klein, Kommentar GG, Art. 42 Rn. 80. 101 BVerfG, Urteil vom 7. März 1953, 2 BvE 4/52, BVerfGE 2, 143, 161; Dreier/Morlok, GG, Art. 42 Rn. 32; Epping/Hillgruber/Brocker, BeckOK GG, Art. 42 Rn. 17 f.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 42 Rn. 3; Maunz/Dürig/Klein, Kommentar GG, Art. 42 Rn. 80; Sachs/Magiera, GG, Art. 42 Rn. 8; Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 108 f. A.A. aber noch die Vorauflage von Maunz/Dürig, GG, Art. 42 Rn. 14. 102 Vgl. Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz, S. 134; Luch, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 10 Rn. 47. Der Fokus liegt allerdings auf einer Zulässigkeitsbegrenzung.

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ellen Vorgaben seien nicht lediglich Begrenzung, sondern Erweiterung des Handlungsradius des Parlaments. Die Artt. 72, 74 GG sind daher dazu geeignet, die Unzulässigkeit einzelner schlichter Parlamentsbeschlüsse zu begründen, beispielsweise die Befassung mit der allgemeinen kulturpolitischen Situation in einem der Bundesländer durch den Bundestag.103 Umgekehrt folgt jedoch aus den Artt. 72, 74 GG keineswegs die Zulässigkeit aller Parlamentsbeschlüsse, die sich inhaltlich im Rahmen der dem Bund übertragenen Kompetenzen bewegen. Die organkompetenzrechtliche Komponente der Zulässigkeit steht in Frage. Nur aber, wenn die Organkompetenz zunächst überhaupt besteht, kann anhand von Verbandskompetenzen der Bereich der zulässigen Parlamentsbeschlüsse eingegrenzt werden. In großen Teilen werden sich diese Bereiche jedoch überschneiden. Ebenso wenig wie aus den in den Artt. 72, 74 GG konkretisierten Kompetenzbereichen für die Bundesgesetzgebung lässt sich aus den ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen Kraft Natur der Sache oder als Annex zu einer bereits bestehenden Kompetenz etwas für die Zuständigkeit zum Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse gewinnen. Insbesondere ist er kein Weniger zum formellen Gesetz, das einen Schluss auf seine Zulässigkeit rechtfertigen könnte.104 3. Keine generelle Ermächtigung aus der Geschäftsordnung des Bundestages Auch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) enthält einzelne Bestimmungen, die unter anderem schlichte Parlamentsbeschlüsse zum Gegenstand haben. § 75 Abs. 2 c GOBT nennt Entschließungsanträge, die eine besondere Art des Parlamentsbeschlusses nach sich ziehen können, § 78 Abs. 1 S. 1 letzter HS bestimmt, dass Vorlagen zu schlichten Beschlüssen lediglich einer Beratung bedürfen, § 88 GOBT konkretisiert das Abstimmungsverfahren. Die Geschäftsordnung reagiert damit auf die Tatsache, dass der Bundestag außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens tätig wird. Teilweise wird angenommen, Art. 75 Abs. 2 c F. 1 GOBT gebe dem Bundestag nicht nur das Recht, ein konkretes Ersuchen bezüglich eines bereits vorhandenen Gesetzes an die Bundesregierung zu richten, sondern darüber hinaus auch das Recht, reine Meinungsäußerungen zu tätigen.105 Die in § 75 Abs. 2 c GOBT adressierten Entschließungen sind jedoch immer akzessorisch und werden deshalb auch als unselbstständige Verhandlungsgegenstände nach § 75 Abs. 2 GOBT geführt.106 Erkenntnisse für nicht akzessorische schlichte Parlamentsbeschlüsse lassen sich darüber hinaus aus der Geschäftsordnung jedoch nicht gewinnen. § 75 GOBT unterscheidet zudem schon nicht zwischen den Handlungssubjekten der einzelnen 103

Beispiel nach Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 57. Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 122. Siehe zum Hierarchieverständnis der Normen unten 3. Teil D. 3. Teil D. II. 105 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 739; Roll, GOBT Kommentar, § 88 Rn. 3. 106 Roll, GOBT Kommentar, § 88 Rn. 2. 104

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Handlungsformen, sondern legt ausschließlich fest, welche bereits etablierten Handlungsformen Teil der Tagesordnung werden können.107 Aufschluss über nicht akzessorische schlichte Parlamentsbeschlüsse gibt § 75 Abs. 2 c GOBT indes nicht.108 4. Fazit Rückschlüsse auf eine allgemeine Zulässigkeit oder Unzulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse, etwa in Form eines Umkehrschlusses,109 lässt der Verfassungstext mangels eines erkennbar abschließenden Regelungskonzepts nicht zu.110 Aus der vereinzelten Verwendung des Instruments durch den Verfassungsgesetzgeber können keine Rückschlüsse auf eine allgemeine Systematik dieser Handlungsform gezogen werden. Insbesondere lässt das Fehlen einer einschlägigen Norm ohnehin nicht ohne Weiteres den Schluss zu, das Grundgesetz sehe eine Entschließungsbefugnis des Bundestags in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse überhaupt nicht vor.111 Die Annahme, nur diejenigen Parlamentsbeschlüsse seien zulässig, die die Verfassung ausdrücklich nennt, liegt auch ob der Fülle an ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen fern. Insofern ist auf Grundlage des reinen Verfassungstextes noch keine Erkenntnis über eine kompetenzbasierte Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse erreicht.

II. Rechtsgrundlage aus ungeschriebenem Verfassungsrecht Die Normen, die sich zumindest mit dem schlichten Parlamentsbeschluss ohne ausdrückliche Ermächtigung in Zusammenhang bringen lassen, sind also für die Ausgangsfrage nach der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse unergiebig. Der Verfassungsgesetzgeber geht wie selbstverständlich von der Existenz dieses Instruments, zumindest der Bundestag seiner Praxis nach zu urteilen auch von seiner allgemeinen Zulässigkeit aus. Auch der Literatur wird die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse häufig ebenfalls ohne eine Begründung vorausgesetzt.112

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Roll, GOBT Kommentar, § 75 Rn. 1. So im Ergebnis auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 739. Man bedenke jedoch, dass die Geschäftsordnung wiederum auch keine Beschränkung der Inhalte möglicher Anträge enthält; dazu siehe auch oben 3. Teil B. I. 3. 109 Siehe dazu im Allgemeinen Larenz, Methodenlehre, S. 285 f., 295 f.; Dahm, Recht, S. 50. 110 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 42. 111 Schröder, JuS 1967, 321, 322. 112 So schon Thoma, Handbuch des deutschen Staatsrechts, S. 221. Ebenfalls Maunz/Dürig/ Klein, Kommentar GG, Art. 42 Rn. 80; Scheuner, FS Smend, 285; Wagner, Parlamentsvorbehalt und Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 109. Kritisch dazu Obermeier, Die schlichten 108

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Teilweise wird sogar angenommen, schlichte Parlamentsbeschlüsse bedürften immer dann keiner Rechtsgrundlage, wenn eine solche nicht vorhanden ist, könnten wiederum in geregelten Bereichen jedoch nicht außerhalb der zugrundeliegenden Norm ergehen. Diese Lösung überzeugt jedoch bei näherer Betrachtung nicht. Zunächst führt sie zu dem eigentümlichen Ergebnis, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse immer soweit einer Rechtsgrundlage bedürfen, wie eine solche vorhanden ist. Über die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ohne positive Rechtsgrundlage ist dadurch jedoch ebenso wie in der Ausgangsfrage keine Aussage getroffen. Ob und insbesondere warum daraus nämlich umgekehrt auch folgt, dass alle anderen schlichten Parlamentsbeschlüsse zulässig sind, bleibt nach diesem Modell offen. Die Kompetenzfrage ist außerdem von der Frage nach der Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse zu trennen. Vermischungstendenzen dieser Ebenen sind in der Literatur schon häufig kritisch angemerkt worden und weiter zu rügen.113 Mögen sich Zulässigkeit und Verbindlichkeit auch teilweise überschneiden, bedingen sie einander nicht.114 Dies würde zu dem merkwürdigen Ergebnis führen, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse entweder immer zulässig wären, weil sie unverbindlich sind und nicht verbindlich sind, weil sie immer zulässig sind oder aber umgekehrt ihre rechtliche Unverbindlichkeit auch zu ihrer Unzulässigkeit führte115. Diesem Zirkelschluss entgegenwirkend sind die Zulässigkeit und die Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse auf je eigene Füße zu stellen.116 Die weitere Untersuchung wird zeigen, dass die rechtliche Unverbindlichkeit keinesfalls die Unzulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse zur Folge hat, denn dann könnte das Parlament überhaupt nur rechtswidrige schlichte Parlamentsbeschlüsse erlassen, da schlichte Parlamentsbeschlüsse sich gerade auch durch ihre rechtliche Unverbindlichkeit von anderen parlamentarischen Handlungsformen unterscheiden. Die Kluft zwischen Parlamentspraxis und Gesetzestext ist durch dogmatisch Rückbindung im Verfassungsrecht zu überbrücken. Dabei hat die Literatur, vermutlich ob der eindeutigen Parlamentspraxis, nur vereinzelt derartige Vorstöße unternommen. Dass jedoch der Bundestag sich auch ohne eine konkrete verfas-

Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 100 m.w.N.; ebenso Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 214 Fn. 262, ohne jedoch seinerseits eine Begründung anzubieten. 113 Vgl. jüngst Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, § 10 Rn. 32; zwischen Verbindlichkeit und Kompetenz springend auch Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 384. Davor schon treffend Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 212 ff. unter Kritik Thomas. 114 A.A. Böckenförde, JuS 1968, 375, 379; Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 75. 115 So Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 75. 116 Daran ändert es auch nichts, wenn das Ergebnis der Untersuchung zu dem gleichen Schluss bezüglich der Zulässigkeit und Verbindlichkeit des schlichten Parlamentsbeschlusses kommt. Insofern mag Böckenförde bezüglich der Einzelfragen richtigliegen, der Kausalzusammenhang ist jedoch mehr als zweifelhaft.

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sungsrechtliche Ermächtigung mit allen Fragen befassen darf117 und dies zur Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie auch muss, ist keine Erkenntnis, die außerhalb verfassungsrechtlicher Vorgaben läge. Tatsächliche Macht sollte idealerweise nicht ohne rechtliche Macht ausgeübt werden dürfen.118 Der Bundestag wird beim Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse zwar nicht unmittelbar dem Bürger gegenüber als Staatsgewalt tätig, ein organschaftliches Handeln ist ihm aber auch im Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses nicht abzusprechen.119 Eine Kompetenzbildung außerhalb der verfassungsrechtlichen Zuweisung ist daher auch im Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses nicht möglich120 und er ist deshalb an das Grundgesetz rückzubinden. Die Tätigkeit des Bundestages wird damit dann nicht nur ermöglicht, sondern spiegelbildlich auch beschränkt. Somit ist nicht nur zu bestimmen, auf welche verfassungsrechtliche Grundlage schlichte Parlamentsbeschlüsse zurückzuführen sind. Es ist darüber hinaus zu untersuchen, welchen Grenzen das Parlamentshandeln unterliegt. Möglicherweise hat der Bundestag den politischen Raum verlassen und die Grenze zum rechtlich Relevanten überschritten, als er den Armenier-Beschluss erlassen hat. 1. Zuständigkeit aus institutioneller Ausformung des Parlaments – Schlichte Parlamentsbeschlüsse im Lichte der Aufgaben des Deutschen Bundestages Die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ist mit Blick auf die vom Deutschen Bundestag wahrgenommenen Aufgaben zu erklären. Dass der alleinige Fokus auf die gesetzgebende Funktion des Bundestages an der Realität parlamentarischer Arbeit vorbeigeht, ist bereits dargelegt worden.121 Dass der Bundestag neben der Gesetzgebung auch andere Aufgaben wahrnimmt, ist unbestritten, man denke etwa an Kreation und Kontrolle. Unabhängig von der Frage, ob Kreationsakte in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse ergehen,122 bedarf das Parlament zur Ausübung seiner Funktionen der richtigen rechtlichen Mittel.123 Für die Kreation stellt sich insofern kein Problem, da das Grundgesetz zahlreiche Vorschriften zur Wahl bereithält. Diverse Anfragen (schriftliche und mündliche Anfragen einzelner Abgeordneter, kleine und große Anfragen), aktuelle Stunden, Untersuchungsaus117

Kritisch im Bereich der Gesetzgebung Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugriffrechts, S. 9 ff., 88 ff., 185 ff. 118 Vgl. Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 79. 119 Vgl. BVerfG, Urteil vom 30. Juli 1958, 2 BvF 3 6/58, BVerfGE 8, 104, 114. 120 Vgl allgemein H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 1. 121 Siehe oben 3. Teil A. V. 122 Siehe zum Meinungsstand oben 3. Teil A. II. 4. 123 Ausdrücklich bezüglich schlichter Parlamentsbeschlüsse Stefani, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 49 Rn. 16 a.E.

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schüsse und nicht zuletzt das konstruktive Misstrauensvotum (Art. 67 GG) gewährleisten auch die Ausübung der Kontrolle durch das Parlament. Wie fügen sich nun schlichte Parlamentsbeschlüsse in diese Reihe ein, scheinen doch ausreichend Handlungsoptionen für das Parlament zur Verfügung zu stehen? Das Grundgesetz trifft keine allgemeine Regelung über die Rechtsstellung, Funktionen und Befugnisse des Deutschen Bundestages124 und enthält somit auch keine allgemeine Zuweisung der Kompetenz, sich mit allen möglichen Fragen auseinanderzusetzen. Eine Gesamtschau der Einzelbestimmungen im Zusammenhang mit Ziel und Zweck der Verfassung zeichnet jedoch ein Bild vom Deutschen Bundestag, das die Annahme der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse fast schon banal erscheinen lässt. Legt man zusätzlich noch die Parlamentspraxis zugrunde,125 wird dieses Ergebnis umso deutlicher. Dies ist möglicherweise der Grund für die so häufig schlicht vorausgesetzte Zulässigkeit in der Literatur. Die Untersuchung der Parlamentspraxis hat den Fokus auf die Vorlage als ein wesentliches Merkmal zu Tage gefördert. Dieser ist auch dort zu beobachten, wo parlamentarisches Handeln juristische Vorgaben gefunden hat. Die Handlungsformen etwa, die in der Geschäftsordnung konkret vorkommen, sind Spiegelbild der Dokumentation parlamentarischer Arbeit und fokussieren ebenso die Handlungsmöglichkeiten insbesondere der Fraktionen. Die politische Willens- und Meinungsbildung findet jedenfalls theoretisch zu großem Teil in Beratungen des Parlaments statt.126 Dass diese Beratungen auf das Ziel, das Beratene auch in Form von Beschlüssen festzuhalten, gerichtet sind, ist notwendig, um die Handlungsfähigkeit des Bundestags zu gewährleisten. Andernfalls reagieren andere Organe, namentlich die Bundesregierung, nur auf ein diffuses Meinungsbild der politischen Diskussion im Bundestag. Da jedoch anzunehmen ist, dass die Bundesregierung ohnehin aufmerksam den politischen Diskurs verfolgt, wäre damit wohl kaum etwas gewonnen. Der Beschluss konkretisiert also die staatliche Willensbildung in eindeutige Forderungen.127 Wie die Auswertung der Bundestagsstatistik gezeigt hat, ist der Mehrheitswille immer auch mit einer Verlagerung reiner Oppositionsforderungen hin zu einem überoppositionellen Konsens verbunden. Ohne die Möglichkeit, sich in Form einer Mehrheitsentscheidung zu äußern, bliebe dem Bundestag als politisches 124

Sachs/Magiera, GG, Art. 38 Rn. 1 f. Sachs/Magiera, Art. 38 Rn. 21. Zur Problematik der im Plenum durch strikte Reglements der Redezeiten in dem später veröffentlichten Umfang nicht stattfindenden politischen Auseinandersetzung siehe von Beyme, Der Gesetzgeber, Der Bundestag als Entscheidungszentrum, S. 244. 126 Vgl. dazu BVerfG, Urteil vom 5. November 1975, 2 BvR 193/74, BVerfGE 40, 296, 327; BVerfG, Urteil vom 14. Januar 1986, 2 BvE 14/83 und 4/84, BVerfGE 70, 324, 355; BVerfG, Urteil vom 16. Juli 1991, 2 BvE 1/91, BVerfGE 84, 304, 329; BVerG, Beschluss vom 8. Dezember 2009, 2 BvR 758/07, BVerfGE 125, 104, 123. 127 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 54 nennt diesen Prozess „Formung der ungeformten Willensrichtung“ und sieht in diesem Prozess die Grundlage staatlicher Legitimität. 125

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Organ kein Mehrwert gegenüber einer allgemeingesellschaftlichen politischen Diskussion oder allgemeiner Oppositionsarbeit. Die Stellung des Bundestags als zentrales politisches Organs des gesamten Staates ist jedoch als Verfassungsprinzip erkennbar. Seine politisch hervorgehobene Stellung wird schon durch die Verortung des Bundestages im Grundgesetz betont.128 Der dritte Abschnitt des Grundgesetzes (Art. 38 bis 48 GG) stellt den Bundestag den anderen Verfassungsorganen voran. Eine rechtliche Vorrangstellung ergibt sich daraus nicht; der Bundestag ist in das System von Gewaltentrennung und Gewaltenbegrenzung ebenso eingebunden wie die anderen Verfassungsorgane.129 Das Parlament ist jedoch Hauptforum des politischen Diskurses und bietet somit einerseits die Plattform für Diskussionen auch über gegensätzliche Positionen und reintegriert gleichzeitig über die äußere Dimension der Öffentlichkeit im Sinne eines Veröffentlichens das Volk.130 Die Artikulation dieser Meinungen ist eine Notwendigkeit für das Funktionieren des parlamentarischen Systems. Politische Fragen müssen politisch beantwortet werden können. Eine vollständige Depolitisierung politischer Fragen hin zu einer mehr technischen Ausgestaltung ist gerade im Fall der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern undenkbar. Erst die Abstimmung über die Vorlage aber führt zur Transformation in einen Mehrheitsbeschluss, der auch nach außen eine Befassung des Parlaments und nicht nur seiner Teile darstellt, und damit einen gefassten Willen sowohl festhält als auch kundgibt. Mit einem solchen Beschluss erfüllt das Parlament gleich mehrere ihm verfassungsrechtlich zugewiesene Funktionen. Einerseits bewegt sich der schlichte Parlamentsbeschluss dabei häufig im Bereich parlamentarischer Kontrolle, wenn er im Bereich der Regierung, insbesondere der auswärtigen Gewalt ergeht.131 Zählen zu den klassischen Funktionen des Bundestages nach der juristischen Literatur daneben auch die Repräsentations-, Gesetzgebungs-, Kreationsfunktion,132 eröffnet der Blick aus einer politikwissenschaftlich orientierten Perspektive eine weitere entscheidende Funktion: Die Öffentlichkeitsfunktion.133 Diese ist nicht unbedingt als eigenständige Funktion des Bundestages zu begreifen, sondern als Mittel, das die Ausübung der anderen Funktionen erst er-

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Sachs/Magiera, GG, Art. 38 Rn. 1. Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 170 f.; H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 2; Stern, Staatsrecht, § 26 I 2 c, S. 42 f.; Sachs/ Magiera, GG, Art. 38 Rn. 1 und 13 f. Siehe zu schlichten Parlamentsbeschlüssen im System der Gewaltentrennung unten 3. Teil B. III. 130 Brenner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 44 Rn. 39 und 41. Ausdrücklich auch Kissler, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 36 Rn. 6 ff. 131 Siehe konkret zu den Besonderheiten und Grenzen solcher Beschlüsse unten 3. Teil B. III. 2. 132 Epping/Hillgruber/Butzer, GG, Art. 38 Rn. 18 ff.; Sachs/Magiera, GG, Art. 38 Rn. 20 ff. 133 BeckOK GG/Butzer, GG, Art. 38 Rn. 19; in diese Richtung auch H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 42 f. Siehe insgesamt Kissler, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 36. 129

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möglicht.134 Ihrer Bedeutung tut dies jedoch keinen Abbruch; sie ist Querschnittsfunktion,135 die alle Bereiche gleichermaßen beeinflusst. Schlichte Parlamentsbeschlüsse ergehen auf Grundlage dieser Parlamentsfunktionen, indem sie ihre Ausübung auch im Bereich nicht ausdrücklich zugewiesener Befassungskompetenzen ermöglicht. Repräsentative Demokratie zeichnet sich durch einen hohen Grad an kommunikativen Elementen aus.136 Auch alle Kontrollmittel, derer sich der Bundestag bedient, sind politisch und kommunikativ geprägt, seien sie ex ante oder ex post eingesetzt.137 Hauptmodus des Parlaments ist daher die Öffentlichkeit.138 Schlichte Parlamentsbeschlüsse können in diesem Rahmen als Mittel der Kontrollausübung eingesetzt werden.139 Die Kontrollfunktion zieht dabei keinesfalls beliebig viele Kontrollinstrumente nach sich.140 Der schlichte Parlamentsbeschluss ist jedoch kein verfassungsfremdes Handlungsinstrument und insoweit ein notwendiges und geeignetes Mittel, um einem allgemeinen Trend der Entmachtung des Parlaments entgegenzuwirken.141 Wenn der politische Diskurs schließlich in eine Meinung mündet, ist dies in allen Fällen Ausdruck einer Meinung einer parlamentarischen Mehrheit.142 Diese Mehrheit staatsorganschaftlich festzustellen, kann nur im Wege eines parlamentarischen Beschlusses geschehen. Art. 42 GG sieht dies auf der Verfahrensebene vor. Materiell ist es aber der schlichte Parlamentsbeschluss, der das Ende der Meinungsbildung im 134 Eindringlich Kotzur, BK, GG, Vorbem. z. Art. 38 – 49 Rn. 57. Ausführlich MüllerTerpitz, BK, GG, Art. 42 Rn. 26 ff. Auch Brenner, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, § 44 Rn. 39 f.; Dreier/Morlok, GG, Art. 38 Rn. 32; i.d.S. auch Maunz/Dürig/Klein, GG, Art. 38 Rn. 56. 135 Maunz/Dürig/Klein, GG, Art. 38 Rn. 56. 136 H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 42; Kissler, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 36 Rn. 6, 9 f.; Maunz/Dürig/Klein, GG, Art. 38 Rn. 56; Oberreuter, APuZ B 2/1983, 19, 29. 137 Gusy, JA 2005, 395. 138 Dies gilt auch in der parteienstaatlichen Demokratie und ist somit anders als bei Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 189 mehr als eine reine Rückführung der Befassungskompetenz auf eine umfängliche Selbstherrschaft des Volkes. Kritisch dazu auch Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts, S. 258 ff., insb. S. 261. 139 Gusy, JA 2005, 395, 396; Ismayr, Der deutsche Bundestag im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, S. 211 ff., 330 ff.; Maunz/Dürig/Klein, GG, Art. 38 Rn. 55; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 385. 140 Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 385. 141 Dazu siehe ausführlich unten 3. Teil D. I. Kritisch Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 8 ff., der im Gegenteil die Notwendigkeit der Eindämmung einer „Gesetzesflut“ sieht. 142 Brenner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 44 Rn. 39. Die Mehrheit kann sich auch gegen den Inhalt des Beschlusses aussprechen, sodass insoweit auch das Gegenteil des Beschlusses mehrheitsfähig ist, BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2009, 2 BvR 758/07, BVerfGE 70, 366, 368; vgl. auch MüllerTerpitz, BK, GG, Art. 42 Rn. 81.

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Parlament markiert. Der Beschluss gewährleistet die verfassungsrechtlich vorgesehene Teilhabe des Bundestages an der Staatsleitung.143 Zwangsläufig stößt auch dieses Instrument an verfassungsrechtliche Grenzen.144 Dennoch muss der Bundestag mit einer Handlungsform ausgestattet sein, die es ihm ermöglicht, eine solche Mehrheitsentscheidung zu treffen und diese nach außen mitzuteilen und gegebenenfalls auch an die Bundesregierung zu adressieren.145 Die politische Auseinandersetzung auf der Diskussionsebene stehenzulassen und die Formulierung von Ergebnissen des Diskurses nicht zu ermöglichen, widerspräche der Öffentlichkeitsund Artikulationsfunktion des Bundestages im, aber auch außerhalb des Rahmens parlamentarischer Kontrolle. Die innerparlamentarische Konsensbildung kann jedoch nicht nur das Ende zuvor im öffentlichen Raum geführter Debatten markieren,146 sondern solche Debatten auch erst anstoßen. Dann handelt das Parlament nicht aufgrund einer Fremdeinwirkung, sondern setzt Punkte auf die Tagesordnung der öffentlichen Meinungsbildung, die aus einer intrinsischen Motivation des Bundestages heraus zum Gegenstand der gesellschaftlichen Konsensbildung erwachsen sollen.147 Die regelmäßig mit schlichten Parlamentsbeschlüssen verbundenen Aufforderungen an die Bundesregierung, sich dem Inhalt des Beschlusses entsprechend zu verhalten oder zu positionieren, verdeutlichen den Einfluss schlichter Parlamentsbeschlüsse auf den Beginn einer (gesamt-)staatlichen Willensbildung. Schlichte Parlamentsbeschlüsse fungieren damit als Handlungselemente aus zwei Richtungen.148 Der über ein Jahrzehnt lange Diskurs um den Armenier-Beschluss illustriert, inwiefern der schlichte Parlamentsbeschluss als Handlungsform notwendig ist, um parlamentarische Repräsentation zu gewährleisten. An einer politischen Debatte nur um ihrer selbst willen ist grundsätzlich nichts auszusetzen. Das Treffen einer Ent143 H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 14; in diesem Sinne auch Stefani, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 49 Rn. 16 a.E. 144 Siehe unten 3. Teil B. III. und 3. Teil C. III. 145 Allg. Müller-Terpitz, BK, GG, Art. 42 Rn. 26. In diesem Sinne auch ausdrücklich Gusy, JA 2005, 395, 399. 146 Die Übereinstimmung von parlamentarischem Handeln und öffentlicher Meinung belegt Brettschneider, Öffentliche Meinung und Politik, Eine empirische Studie zur Responsivität des Deutschen Bundestages zwischen 1949 und 1990, in einer empirischen Studie zum Verhältnis öffentlicher Meinung und Sachfragen, vgl. insb. die ab S. 223 dargestellten Untersuchungsergebnisse. 147 Diesen Zusammenhang weist Brettschneider, Öffentliche Meinung und Politik, Eine empirische Studie zur Responsivität des Deutschen Bundestages zwischen 1949 und 1990, S. 226, ebenfalls empirisch nach. Parlamentarisches Handeln führe demnach eher zu einem Meinungswandel, als dass eine Veränderung von Bevölkerungspräferenzen dem parlamentarischen Handeln vorausgehe. Eine Feststellung der Entwicklung nur in die eine oder andere Richtung konnte Brettschneider jedoch nicht nachweisen, weshalb richtigerweise beide Verläufe als politische Realität wahrzunehmen sind. Vgl. zu den Besonderheiten bei außenpolitischen Meinungen zudem ebenda, S. 233 ff. 148 Vgl. Kotzur, BK, GG, Vorbem. z. Art. 38 – 49 Rn. 56.

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scheidung zeugt jedoch von Handlungswillen und -fähigkeit und signalisiert, dass die Mehrheitsfindung auch bezüglich politischer Fragen, die keiner technischen, sondern lediglich politischen Klärung bedürfen, funktioniert. Die Entkopplung von gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildung ist in der modernen, pluralistischen Gesellschaft regelmäßig stärker bedroht, je mehr Interessengruppen aufeinandertreffen und je mehr Foren für die politische Willensbildung zur Verfügung stehen. Der schlichte Parlamentsbeschluss ist ein geeignetes Mittel, diese Willensbildung in das Parlament zurückzuholen und damit die Rückkopplung einer möglicherweise uneinigen Gesellschaft an den Staat zu gewährleisten, wie es der rein mediale Diskurs nicht vermöchte. Der tatsächliche Wille des Volkes und der schließlich im schlichten Parlamentsbeschluss formulierte Staatswille müssen nicht ständig übereinstimmen.149 Die Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs hat jedoch ihren Vorlauf nicht nur in der parlamentarischen, sondern auch in der medialen Debatte erlebt.150 Was in der deutschen Medienlandschaft schon Jahre lang Konsens war, wurde durch die Fassung eines mehrheitlichen Parlamentswillens zum Teil des politischen Willens. Der schlichte Parlamentsbeschluss holt somit die Willensbildung auch aus dem weniger transparenten Bereich der Parteigremien wieder auf das Parkett des Parlaments zurück, indem ein in der Regel von solchen Parteigremien ausgearbeiteter Antrag die mehrheitliche Zustimmung des Parlaments erhält.151 Der schlichte Parlamentsbeschluss krankt also nicht etwa an einer Divergenz zwischen Staatsrecht und Staatspraxis, sondern bildet eine Schnittschnelle, an der sich die einander überschneidenden Funktionen des Bundestages in einer Handlungsform des Parlaments vereinen.152 Er ist damit auch die Handlungsform, die ganz im Sinne des parlamentarischen Systems das Einvernehmen zwischen Parlament und Regierung auf den Weg bringen kann. Gerade in Bereichen, in denen das aufwendige Gesetzgebungsverfahren zu mühsam oder langwierig erscheint oder auch die eine abstrakt-generelle Verbindlichkeit ob der inhaltlichen Begrenzung auf ein nicht unmittelbar nach außen gerichtetes Ziel schlicht überflüssig wäre, ist der schlichte Parlamentsbeschluss geeignet, im richtigen Rahmen Einfluss auszuüben.153 149 Badura, Staatsrecht, E 11; H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 4. 150 Ausführlich oben 2. Teil B. 151 Vgl. allgemein H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 6. 152 Dies steht in Kongruenz zum Funktionenverständnis bei Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 16 f., der Gegenstände, die nicht Wirklichkeit werden können, der Rechtsforschung gänzlich zu entziehen sucht. Vgl. auch Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 32. 153 So im Ergebnis auch Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 53, der die Zulässigkeit des schlichten Parlamentsbeschlusses auf verfassungsgewohnheitsrechtliche Füße innerhalb des parlamentarischen Systems stellt. Vgl. auch Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 165 f. In diesem Zusammenhang vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 8. August 1978, 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89, 137 zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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2. Kompetenz aus Verfassungsgewohnheitsrecht Teilweise wurde die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse auf eine verfassungsgewohnheitsrechtliche Grundlage gestützt. Die Kompetenz des Bundestages, sich zu Gegenständen zu äußern, die außerhalb der ihm ausdrücklich durch das Grundgesetz zugewiesenen Bereichs liegen, sei verfassungsgewohnheitsrechtlich montiert.154 Die Möglichkeit von Verfassungsgewohnheitsrecht wird kontrovers betrachtet. Das Bundesverfassungsgericht hat in diversen Entscheidungen Verfassungsgewohnheitsrecht als der jeweiligen Sache entgegenstehend verneint,155 hatte jedoch darüber hinaus nie zu prüfen, ob ein Handeln des Bundestages verfassungsgewohnheitsrechtlich gerechtfertigt sei.156 Ohne sich in die Debatte, ob es Verfassungsgewohnheitsrecht überhaupt geben könne,157 zu begeben, lässt sich feststellen, dass eine verfassungsrechtliche Herleitung der Kompetenz zum Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse überflüssig ist. Die Konfusion von Gewohnheitsrecht und ungeschriebenem Recht ist insgesamt weit verbreitet.158 Der schlichte Parlamentsbeschluss ist eine in der Verfassung vorgesehene Handlungsform und kein Instrument, dessen sich der Bundestag oder vorangegangene deutsche Parlamente so lange bedient hätten, dass sie heute als zulässig betrachtet werden müssten. Vielmehr ist eine Vorbestimmtheit der Handlungsform erkennbar. Dies belegen die Stellen, an denen ehemals schlichte Parlamentsbeschlüsse konkreten Eingang in das Verfassungsrecht gefunden haben ebenso wie ihre ausdrückliche Erwähnung in früheren Verfassungstexten sowie der Literatur.159 Darüber hinaus ist die Annahme der notwendigen opinio iuris zumindest zweifelhaft. Es war auch gerade die Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung, die die vehemente Kritik an (außen-)politischen Äußerungen des Bundestages wiederbelebt hat. Mag auch der Bundestag davon überzeugt sein, schlichte Parlamentsbeschlüsse seien zulässig und damit sogar Recht haben, kann von einer allgemeinen Überzeugung, dass der Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse rechtmäßig sei, keine Rede sein.160 Das Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen wird in diesem Zusammenhang richtigerweise als „ein ewiges

parlamentarische Lösungen außergesetzlicher Art für Situationen, in denen der Erlass einer Regelung in Gesetzesform unpraktikabel, die Alternative aber ein Untätigbleiben wäre. 154 Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 46 ff., 53. 155 BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 1970, 1 BvR 302/68, BVerfGE 29, 221, 234 = NJW 1971, 365, 366. 156 Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, S. 77. 157 Umfassend zur Thematik Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, passim. 158 Ausführlich Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 45 f. m.w.N. 159 Siehe dazu auch oben 3. Teil A. 3. Teil A. III. und 3. Teil A. V. 160 Ebenso Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, S. 79. Kritisch zur Ablehnung der opinio iuris allein aus einer gewissen Unbeständigkeit Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 48.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Kämpfen und Ringen“ bezeichnet.161 Die daraus möglicherweise entstandene „politische Ethik“ mag das Verhältnis der Gewalten untereinander bestimmen, über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Parlamentsäußerungen sagt sie jedoch nicht mehr, als dass diese in einem gewissen Rahmen üblich sind und seitens der Regierung toleriert werden.

III. Grenzen der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse Wie gezeigt wurde, ist der Bundestag grundsätzlich nicht darin beschränkt, sich in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse umfassend zu äußern. Dennoch ist auch der schlichte Parlamentsbeschluss verfassungsrechtlichen Grenzen unterworfen. Diese ergeben sich insbesondere im Bereich der anderen Gewalten. Zu untersuchen ist zunächst die Zulässigkeit eines schlichten Parlamentsbeschlusses im Bereich der Judikative. Sodann ist auch der schlichte Parlamentsbeschluss im Bereich der Regierung, insbesondere im Bereich auswärtiger Gewalt zu betrachten. 1. Schlichte Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Judikative Das Grundgesetz enthält keine Regelungen zu schlichten Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Judikative. Dies ist mit Blick auf die in Art. 97 Abs. 1 GG festgeschriebene richterliche Unabhängigkeit auch nicht verwunderlich. Art. 97 Abs. 1 GG setzt schlichten Parlamentsbeschlüssen eine klare Grenze; eine Einflussnahme auf laufende Verfahren in dieser Form ist untersagt.162 Die richterliche Unabhängigkeit nach Art. 97 Abs. 1 GG setzt dies eindeutig voraus.163 Der Bundestag ist somit nicht befugt, schlichte Parlamentsbeschlüsse in diesem Bereich überhaupt zu erlassen; solche Beschlüsse sind unzulässig.164 In der Praxis ist dieser Fall allerdings ohnehin noch nie vorgekommen.165 Einfluss auf ein allgemeines Debattierrecht des Parlaments entfaltet Art. 97 Abs. 1 GG zwar noch nicht unbedingt, solange eine Vermittlung möglicher Konsequenzen unter-

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Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 50 nach Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, S. 36 f. 162 Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 97 Rn. 25; Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 41; Sachs/Detterbeck, GG, Art. 97 Rn. 12. Differenzierend, aber im Ergebnis übereinstimmend Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, S. 110. 163 H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 14; vgl. auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 142. 164 Dazu siehe oben 3. Teil B. III. 1. 165 Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 97 Rn. 25; Jarass/Pieroth, GG, Art. 97 Rn. 8; bzgl. Ersuchen des Parlaments an die Gerichte ebenso Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 58.

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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bleibt.166 Die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse im Bereich laufender Verfahren ist davon aber nicht tangiert.167 Nicht zu verwechseln ist die Äußerung zu einem laufenden Verfahren mit der nachträglichen parlamentarischen Befassung mit Urteilen und der Urteilsschelte, die im Rahmen der verfassungsrechtlichen Grenzen zulässig sind.168 Mangels laufenden Verfahrens stellt sich das Problem des Eingriffs in den Bereich der Judikative durch den Armenier-Beschluss praktisch nicht. An die Rechtsauffassung des Deutschen Bundestages wäre ein deutsches Gericht jedenfalls aber nicht gebunden. Als Auslegungshilfe könnte der Armenier-Beschluss im Falle einer Schadensersatzklage möglicherweise herangezogen werden. Eine solche Klage ist jedoch nicht zu erwarten; weder bestehen vertragliche Grundlagen für Reparationszahlungen, noch hat die Republik Armenien je die Absicht erkennen lassen, etwaige Reparationsansprüche zu verfolgen, sei es gegen die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches oder die Bundesrepublik Deutschland.169 2. Schlichte Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Regierung Anders als im Verhältnis zur Judikative haben schlichte Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Regierung erheblichen Raum. Zum einen können schlichte Parlamentsbeschlüsse das Verhältnis zur Regierung im Inneren zum Gegenstand haben. Zudem kann ein schlichter Parlamentsbeschluss sich im außenpolitischen Bereich, insbesondere im Bereich der auswärtigen Gewalt bewegen. a) Schlichte Parlamentsbeschlüsse im innenpolitischen Bereich Schlichte Parlamentsbeschlüsse im innenpolitischen Bereich können zum einen den Bereich der Verwaltung tangieren. Die laufende Verwaltung könnte sich insofern 166

Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, S. 110. Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 41; i.d.S. auch Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 16 f.; a.A. Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, S. 102 ff. 168 Ausführlich Boewe, Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz, S. 108; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Art. 97 Rn. 25; Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 41; siehe auch Mishra, Zulässigkeit und Grenzen der Urteilsschelte, S. 248 und 407, der sogar einen Schutz nicht nur vor vermeidbaren Einflüssen durch die Regierung, sondern auch durch das Parlament sieht. Zur Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse im Hinblick auf Art. 114 Abs. 2 S. 1 GG bezüglich laufender Prüftätigkeiten des Rechnungshofes siehe statt aller Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 42. 169 Eine Befreiung für Alle, taz vom 21. April 2015, abrufbar unter http://www.taz.de/!5011 654/, letzter Abruf 17. Oktober 2017, 12.25 Uhr. Dennoch sind die Auswirkungen der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern auf eine hypothetische Schadensersatzklage interessant; siehe auch oben 2. Teil B. 2. Teil B. V. Ein umfassendes Reparationskonzept entwickelt Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 203 ff. 167

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

der Einflussnahme durch schlichten Parlamentsbeschluss entziehen, als durch Einzelanweisungen die Grenze des Kontrollrechts überschritten wäre.170 Die Zulässigkeit des schlichten Parlamentsbeschlusses ist jedoch auch im Bereich der Verwaltung regelmäßig nicht tangiert. Die parlamentarische Kontrolle ist nicht auf abgeschlossene Sachverhalte beschränkt, sondern kann sich auch durch lenkendes oder inspirierendes Handeln des Bundestages auszeichnen.171 Die Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ist jedoch auch in dieser Frage noch nicht berührt.172 Brisanter als im Bereich der Verwaltung können schlichte Parlamentsbeschlüsse im innenpolitischen Bereich jedoch im Falle von Missbilligungen der Regierung durch das Parlament, sogenannte schlichte Misstrauensvoten sein. Ebenfalls in den inneren Bereich fallen schlichte Parlamentsbeschlüsse zu sogenannten hochpolitischen Fragen.173 Die Zulässigkeit solcher Voten könnte unter dem Gesichtspunkt der Destabilisierung der Regierung abgelehnt werden. Missbilligungsbeschlüsse könnten einem Vertrauensentzug gleichkommen und unzulässig sein, weil sie den Bundeskanzler in Frage stellen.174 Die Unzulässigkeit ergäbe sich insofern aus Art. 67 GG, der ein Misstrauensvotum lediglich gegenüber dem Bundeskanzler und lediglich in konstruktiver Form vorsehe. Daher könnten auch schlichte Parlamentsbeschlüsse gegen einzelne Minister unzulässig sein.175 Auch bezüglich solcher Beschlüsse hat sich ein Spektrum von Differenzierungen entwickelt. Gängige Unterscheidungen differenzieren nach dem Grad des kritischen Inhalts und unterscheiden danach, ob lediglich Kritik, Missbilligung oder Tadel geäußert werden oder es sich um eine „förmliche Misstrauensbekundung“ handelt.176 Diese Unterscheidungen führen jedoch nur bedingt weiter. Die Form des Beschlusses vermag über einen unzulässigen Inhalt ebenso wenig hinwegzuhelfen wie umgekehrt ein zulässiger Inhalt durch eine quasi abgeschwächte Form zulässig wird.177 Parlamentarische Kritik ist zum Bestandteil des politischen Alltags er170 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 36 ff. und Fn. 70; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 387; Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 155; Sester, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 57 f. Ausführlich zu den gesetzgeberischen Grenzen in diesen Bereichen, insbesondere im Haushaltsrecht und im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts, S. 88 ff. 171 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 106, 109 f.; Luch, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 43. 172 Dazu siehe unten 3. Teil C. 173 Dreier/Hermes, GG, Art. 67 Rn. 19. 174 Münch, Die Bundesregierung, S. 178 ff. 175 Brandt, Die Bedeutung parlamentarischer Vertrauensregelungen: dargestellt am Beispiel von Art. 54 WRV und Art. 67, 68 GG, S. 78. 176 Sachs/Oldiges, GG, Art. 67, Rn. 29. 177 Wobei auch unklar bleibt, anhand welcher Kriterien die Abgrenzung zwischen „förmlichem“ und „nicht förmlichem“ Beschluss zu vollziehen ist, Dreier/Hermes, GG, Art. 67 Rn. 19 ff. Treffend auch Epping/Hillgruber/Pieper, GG, Art. 67 Rn. 8. A.A. Maunz/Dürig/

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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wachsen. Die Befürchtung der Destabilisierung der Regierung durch Parlamentskritik, die den parlamentarischen Rat noch zu entschiedenem Widerstand gegen jegliche Form des schlichten Misstrauensvotums motiviert hatte, mag gemessen am Scheitern der Weimarer Republik zu einem gewissen Grad nachvollziehbar sein. Zu einer generellen Überschätzung der Auswirkungen von Art. 54 WRV auf die Stabilität der Regierung178 ist heute weder dem Wortlaut von Art. 67 GG eine Unzulässigkeit politischer Kritik durch das Parlament zu entnehmen, noch hat die Erfahrung mit gängiger Regierungskritik Anhaltspunkte dafür gezeigt, dass ein Scheitern der Bundesrepublik wie der Weimarer Republik zu befürchten wäre.179 Die eigentlich ausschlaggebende Frage ist auch an dieser Stelle ohnehin die Verbindlichkeit beispielsweise eines etwaigen Entlassungsvotums des Parlaments gegen einen Bundesminister oder auch einer allgemeinen Missbilligung.180 An missbilligenden Parlamentsbeschlüssen gehindert ist das Parlament jedenfalls nicht.181 Das Parlament ist Zentrum des politischen Lebens und zu diesem gehört grundsätzlich auch die Erörterung des Verhaltens der Regierungsmitglieder.182 Missbilligung und Kritik sind ebenso verfassungsrechtlich zulässig wie Befürwortungen und als Teil der politischen Meinungsbildung auch aus dem Parlamentsalltag nicht wegzudenken. An die Grenzen des Art. 67 GG stoßen sie regelmäßig nicht.183 Herzog, GG, Art. 67 Rn. 42; v. Münch/Kunig/Mager, GG, Art. 67 Rn. 13 f.; Sachs/Oldiges, GG, Art. 67 Rn. 29. 178 Art. 54 WRV lautete: „Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muss zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluss sein Vertrauen entzieht.“ Zur negativen Bewertung des sog. destruktiven Misstrauensvotums durch den parlamentarischen Rat siehe der Verweis das Misstrauensvotum nach Art. 54 WRV, „das sich in der Vergangenheit so zum Nachteil ausgewirkt habe.“ Katz, 49. Sitzung am 9. Februar 1949, Stenographisches Protokoll S. 644. Beachte in diesem Zusammenhang auch die abgelehnten Anträge von von Mangoldt in der gleichen Sitzung, Sten. Prot. S. 644 f., sowie der Sitzungen am 8. Januar, Sten. Prot. S. 33 und 5. Mai 1949, Sten. Prot. S. 754. Siehe zu Zweifeln an der Maßgeblichkeit des Art. 54 WRV für das Scheitern der Weimarer Republik Glum, Kritische Bemerkungen zu Art. 63, 67, 68, 81 des Bonner Grundgesetzes, FG Kaufmann, S. 47 ff. Vgl. auch Böckenförde, AöR 92 (1967), 253 f. Mangoldt/Klein/Stark/Epping, GG II, Art. 67 Rn. 29 lehnt eine Heranziehung der Entstehungsgeschichte von Art. 67 GG gänzlich ab. 179 Dreier/Hermes, GG, Art. 67 Rn. 20; Epping/Hillgruber/Pieper, GG, Art. 67 Rn. 6 und 9. 180 A.A. Schenke, BK, GG, Art. 67 Rn. 120 m.w.N. Dazu siehe allgemein unten 3. Teil C. 181 Dreier/Hermes, GG, Art. 67 Rn. 19 ff.; Epping/Hillgruber/Pieper, GG, Art. 67 Rn. 6; Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 67 Rn. 44 und 56; so i.E. auch Sachs/Oldiges, GG, Art. 67, Rn. 28 und 30. 182 Epping/Hillgruber/Pieper, GG, Art. 67 Rn. 7. 183 Anders könnte es sich allenfalls darstellen, wenn der politische Druck etwa in Form von Drohungen so groß wird, dass die Bundeskanzlerin faktisch in ihrer Handlungs- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt ist, Epping/Hillgruber/Pieper, GG, Art. 67 Rn. 9. Der Armenier-Beschluss im Speziellen hat offenkundig einen so hohen Druck nicht zu erzeugen vermocht, vgl. bspw. die Regierungserklärung vom 2. September 2016; siehe dazu ausführlich oben 2. Teil B. IV. 2. Diff., i.E. aber bzgl. politischer Entscheidungen zustimmend Schenke, in: BK, GG, Art. 67 Rn. 120 f.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

b) Schlichte Parlamentsbeschlüsse im außenpolitischen Bereich Der Armenier-Beschluss hat in der Tradition der bisherigen Debatte um schlichte Parlamentsbeschlüsse seit 1949 die Frage nach dem Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse erneut angestoßen. Die außenpolitischen Konsequenzen haben insbesondere die Frage, inwiefern der Deutsche Bundestag an einer Einflussnahme im Wege schlichter Parlamentsbeschlüsse auf die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland gehindert ist, wiederbelebt.184 Eine solche Hinderung kann zunächst rechtlichen Ursprungs sein, muss sich in diesem jedoch nicht erschöpfen. Der später zu untersuchende politische Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse spielt in diesem Zusammenhang eine ebenso große Rolle.185 Wie auch im innenpolitischen Bereich stellt sich die Frage nach der Aufgabenzuweisung an die Verfassungsorgane durch die Verfassung. Der Armenier-Beschluss ist ein Beschluss, der auch die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschlands berührt hat.186 Die Kompetenzfrage stellt sich jedoch keinesfalls ausschließlich bei diesem Beschluss. Auch andere schlichte Parlamentsbeschlüsse tangieren die auswärtigen Beziehungen. Die ob ihrer politischen Tragweite in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in der Rechtswissenschaft prominentesten Beispiele sind die Gemeinsame Entschließung von 1972187 oder die Beschlüsse zur Saarfrage.188 Zu untersuchen ist deshalb, ob und in welchem Umfang der Deutsche Bundestag im Bereich der auswärtigen Beziehungen tätig werden darf. Wie oben bereits angedeutet wurde, ist die Debatte um schlichte Parlamentsbeschlüsse in vielen Fällen im Rahmen der Bestimmung der Bereiche des Parlaments und der Regierung geführt worden. Die begriffliche Unterscheidung von Parlament und Legislative, sowie Regierung und Exekutive bietet sich im Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse an, da sie sich gerade im Parlamentsbereich außerhalb von Rechtssetzung im Wortsinne bewegen können. Vor dem Hintergrund der Feststellung, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse immer dann zum Rechtsproblem werden, wenn sie die Bereiche anderer Gewalten tangieren,189 ist es nicht weiter verwunderlich, dass gerade Parlamentsbeschlüsse im Bereich auswärtiger Gewalt immer

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Zu den außenpolitischen Konsequenzen siehe ausführlich oben 2. Teil B. V. 2. Siehe dazu unten 3. Teil D. 186 Siehe dazu oben 2. Teil B. V. 2. 187 BT, Verlangen vom 2. Juli 1958, StenProt. S. 2201 A. 188 Insb. BT, Entschließung vom 2. Juli 1953, StenProt. S. 13938 B. Siehe zu weiteren Beispielen etwa Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 36 f. oder Grupp, Die parlamentarische Kontrolle der auswärtigen Gewalt in Form von Entschließungen, S. 26. Ebenda findet sich auch eine Übersicht aller Parlamentsbeschlüsse, die der Bundestag in den ersten sechs Wahlperioden im Bereich auswärtiger Angelegenheiten an die Bundesregierung gerichtet hat. Thematisch außerhalb dieses Bereiches liegende sowie adressatenlose Parlamentsbeschlüsse untersucht Grupp nicht. 189 In diese Richtung auch Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 213 f. 185

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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wieder das Interesse der deutschen Rechtswissenschaft geweckt haben. Der Blick in die oben dargestellte Debatte bietet sich auch an dieser Stelle zur Illustration an.190 c) Im Lichte des Gewaltenteilungsgrundsatzes – Schlichte Parlamentsbeschlüsse als Teil der Staatsleitung Die rechtswissenschaftliche Debatte um schlichte Parlamentsbeschlüsse hat verdeutlicht, dass diese auch im Bereich der auswärtigen Gewalt den Gewaltenteilungsgrundsatz tangieren. Eine Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes durch sie wäre jedoch allenfalls dann denkbar, wenn die auswärtige Gewalt ausschließlich der Exekutive zuzuordnen wäre. Die umstrittenen Befugnisse des Parlaments im Bereich von Art. 59 Abs. 2 GG191 verdeutlichen die Problematik im Bereich der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse. Aber auch außerhalb des Bereichs von Art. 59 GG kann man ein Recht des Bundestages, schlichte Parlamentsbeschlüsse zu erlassen und damit mittelbar Einfluss auf die Bundesregierung zu nehmen, diskutieren.192 Auch Art. 65 GG scheint in eine Richtung zu weisen, die den Raum für den schlichten Parlamentsbeschluss verkürzt. Dieser weist dem Bundeskanzler die Richtlinienkompetenz zu. Der schlichte Parlamentsbeschluss stellt jedoch keinen Eingriff in die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin dar. Dies wird zum Teil mit seiner rechtlichen Unverbindlichkeit begründet.193 Diese ist jedoch, wie oben bereits dargestellt, zur Begründung der Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ungeeignet.194 Die allgemeine Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse auch im Bereich der auswärtigen Gewalt ergibt sich vielmehr schon aus dem Verhältnis von Parlament und Regierung, das dem Grundgesetz zugrunde liegt. Art. 65 GG, der eine Bindungswirkung lediglich zwischen Bundeskanzlerin und Bundesministern konstatiert (konkretisiert durch § 1 Abs. 1 S. 2 GOBReg),195 ist ungeeignet, um eine Beschränkung der Kompetenzen des Parlaments zu begründen.196

190

Ausführlicher oben 2. Teil B. Siehe dazu statt aller Möllers, Gewaltengliederung, S. 362 ff. und BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1984, 2 BvE 13/83, BVerfGE 68, 1. 192 Unerheblich ist dabei die Intention bezüglich der Verbindlichkeit des Parlaments. So im Ergebnis auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 80. Siehe zum Einfluss des Parlamentswillens auf die Verbindlichkeit des Parlamentsbeschlusses im Allgemeinen auch unten 3. Teil C. IV. 3. 193 Schröder, JuS 1967, 321, 324. 194 Siehe oben. 195 Dreier/Hermes, GG, Art. 65 Rn. 25; Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 65 Rn. 18. 196 In diesem Sinne auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 60 ff., der jedoch auch in diesem Zusammenhang seinen Fokus auf die Rechtsverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse legt. Vgl. dazu auch Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 173 f. 191

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Das parlamentarische Regierungssystem ist durch eine ständige Überlappung der Kompetenzen gekennzeichnet. Das Grundgesetz lässt politischen Prozessen Raum, indem sie lediglich einen äußeren Rahmen der Entscheidungsbefugnisse und damit auch der Verantwortung vorgibt.197 Staatsleitende Entscheidungen sind nicht ausschließlich vom Bundeskanzler zu treffen, sondern das Parlament wirkt an der Staatsleitung mit.198 Die im Grundgesetz angelegten Entscheidungen staatsleitender Art (Wahl des Bundeskanzlers, Feststellung des Eintritts des Verteidigungsfalls) bestätigen dies.199 Dies bedeutet konkret, dass die durch die Verfassung begründeten Aufgaben aus den Bereichen der Planung, Festlegung und Durchführung der Ziele des Staates alle Verfassungsorgane treffen und somit auch allen Verfassungsorganen zugänglich sind.200 Gerade dies ist Ausdruck des parlamentarischen Regierungssystems.201 Zwar ist die Gewaltentrennung tragendes Organisationsprinzip des Grundgesetzes, hat jedoch nicht das Ziel, die Gewalten scharf voneinander abzugrenzen, sondern die Staatsgewalt durch funktionsgerechte Zuordnung zu mäßigen.202 Überschneidungen der Funktionen und Einflussnahmen der einen Gewalt auf die andere sind gängig und gewährleisten eine ausgewogene politische Machtverteilung.203 Der Bundestag ist deutlich mehr als bloß Gesetzgeber; das Handeln in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse ist nicht nur gängige Handlungsform des Bundestages, sondern auch konstitutiv für die parlamentarische Regierungsform der Bundesrepublik Deutschland.204 Dies kann sich auch in Form von Meinungsäußerungen erschöpfen.205 Die strikte Trennung der Legislative und Exekutive ist nicht 197

Dies gilt ebenso für die Bundesregierung, vgl. Dreier/Hermes, GG, Art. 65 Rn. 14. Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9 ff.; Magiera, Parlament und Staatsleitung, passim; Sachs/Magiera, GG, Art. 38 Rn. 24 f.; H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 4 Rn. 13; Badura, FS Scholz 2007, 3 ff., 14; Sinner, ZParl 43 (2012), 313 ff.; Stern, Staatsrecht, § 22 III 4., S. 1002 ff. 199 Löwenstein, Verfassungslehre, S. 42 f.; Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 65. 200 Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 83; Sachs/Magiera, GG, Art. 38 Rn. 24. 201 Vgl. zum parlamentarischen Regierungssystem allgemein Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 25; Brenner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 44; H. Meyer, VVDStRL 33 (1975), 69 ff.; Oppermann, VVDStRL 33 (1975), 8 ff.; Schneider, Das parlamentarische System, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 13, S. 537 ff.; insg. Stern, Staatsrecht, § 22, S. 946 ff. m.w.N. 202 BVerfG, Urteil vom 18. Dezember 1953, 1 BvL 106/53, BVerfGE 3, 225, 247; BVerfG, Beschluss vom 17. Juni 2009, 2 BvE 3/07, BVerfGE 67, 100 130 Rn. 57; Sachs/Magiera, GG, Art. 38 Rn. 14; H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 4 Rn. 3. 203 BVerfG, Beschluss vom 17. Juni 2009, 2 BvE 3/07, BVerfGE 67, 100, 130 Rn. 57. 204 Pegatzky, Parlament und Verordnungsgeber, S. 80. 205 Bzgl. Billigungen Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 80, der die Befugnis jedoch aus einem Weniger zur Befugnis zum Erlass verbindlicher Parlamentsbeschlüsse herleitet und nicht aus einer allgemeinen Zulässigkeit politischer Meinungsäußerungen des Bundestags. 198

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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Ziel und nicht Folge der Gewaltenteilung, im Gegenteil ist eine solche strikte Trennung der deutschen Tradition fremd.206 Der schlichte Parlamentsbeschluss schlägt genau in diese Kerbe, wenn er die politische Auseinandersetzung im Parlament anbelangt und ist insofern punktuelle Ausübung eines allgemeinen parlamentarischen Mitgestaltungsrecht.207 Wie gezeigt hat sich vor allen Friesenhahn, der den Begriff der „Staatsleitung zur gesamten Hand“ geprägt hat, kritisch zur Einflussnahme des Parlaments auf Gebieten im Rahmen von eindeutigen Regierungskompetenzen verhalten.208 Die (auch nur politische) Einbindung des Parlaments in Regierungsentscheidungen berge zudem auf die Gefahr, dass parlamentarische Kontrolle ex post unmöglich wird, wenn das Parlament ex ante an der Entscheidung mitgewirkt hat.209 Eine zeitliche Beschränkung der Kontrolltätigkeit des Parlaments lässt sich jedoch verfassungsrechtlich nicht begründen und ist allenfalls ein verfassungspolitisches Argument.210 Die Sensibilität für aktuelle Themen ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe des Bundestages; dass Erwartungen des Volkes, die aus der politischen Meinungsbildung erwachsen, sich idealiter im Regierungshandeln niederschlagen, kann nur gewährleistet werden, wenn das Parlament sich (repräsentierend) im Bereich der Regierung zu äußern vermag.211 Die politische Meinungs- und Willensbildung, die sich im schlichten Parlamentsbeschluss manifestiert, auf den Bereich außerhalb jeglicher Regierungszuständigkeit zu beschränken, liegt fern.212 Mag man außenpolitisches Handeln auch überwiegend der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten zuschreiben, ist die Willensbildung im Inneren gleichermaßen Sache des Bundestages.213 Der Bundestag greift somit durch schlichte Parlamentsbeschlüsse nicht in die Entscheidungsgewalt der Bundesregierung ein.214 Der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung kann ohnehin erst durch einen Beschluss tangiert werden, der eine Verpflichtung der Bundesregierung zum Handeln oder Unterlassen auszulösen

206

D. Grimm, ZParl 1 (1970), 448. So auch Tomuschat, Parliamentary Control over Foreign Policy in the Federal Republic of Germany, in: Cassese (Hrsg.), Parliamentary Control over Foreign Policy, S. 25, 34 f. Vgl. Auch Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, S. 335, der im schlichten Parlamentsbeschluss ein Einzelfallgesetz zu sehen scheint. 208 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 38. 209 Vgl. Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 157 f. Siehe dazu auch grundlegend schon Dobiey, Politische Planung, S. 122 ff., 127 ff.; Vitzhum, Parlament und Planung, S. 335 ff., 379 ff., 388 f. 210 Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 158. 211 H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4 Rn. 15. Zur demokratischen Legitimation von Kontrolle im Bereich politischer Planung siehe ausführlich Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 175 ff. m.w.N. 212 In diesem Sinne auch Epping/Hillgruber/Butzer, GG, Art. 38 Rn. 19.1. 213 Mosler, FS Bilfinger, 243, 251, 263 f., 292 f., 295; Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 71. 214 A.A. Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 163. 207

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

vermag.215 Im Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse stellt sich dieses Problem jedoch regelmäßig nicht.216 Die Zuständigkeiten der obersten Staatsorgane stehen also keineswegs ausnahmslos in einem so strengen Exklusivitätsverhältnis, wie es in der Literatur im Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse teilweise zugrunde gelegt wird.217 Eine Zuständigkeit des Bundestages für Parlamentsbeschlüsse wie den Armenier-Beschluss zu bejahen, ist mehr eine Frage nach einem Auch als nach einem Oder. Zwar ist die Kompetenzbeschränkung des einen Trägers in der Regel die Kehrseite der Kompetenzzuweisung zu einem anderen Träger.218 Dies gilt jedoch gerade auf Ebene der Befassungskompetenz nicht, beschäftigen sich doch schon aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben häufig verschiedene Organe mit den gleichen Materien; prominentestes Beispiel dürfte die Beteiligung von Bundestag, Bundesregierung und Bundesrat an Teilen der Gesetzgebung nach Art. 76 GG sein.219 Ein Herübergreifen des Bundestages in typischerweise durch die Bundesregierung dominierte Bereiche kann durchaus zulässig sein, ohne dass die Bundesregierung dadurch Kompetenzverluste verbuchen muss. Das osmotische Verhältnis220 zwischen Bundesregierung und Bundestag zeichnet sich an der Vielfalt der wechselseitig verflochtenen Aufgabenbereiche beider Staatsorgane ab.221 Die unterschiedlichen Beiträge, die beide Verfassungsorgane zum gleichen Gegenstand leisten können, führen im Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses zu einer größeren Legitimität und Akzeptanz eines etwaigen Regierungshandelns.222 Die Einführung von Art. 23 Abs. 2 und 3 GG war ein Versuch, das Parlament zumindest auf Ebene der Willensbildung in Angelegenheiten der Europäischen Union wieder stärker miteinzubeziehen.223 Dafür wurde der Bundesregierung sogar eine Berücksichtigungspflicht des schlichten Parlamentsbeschlusses nach Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG 215 Dies erkennt auch Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 75, vertritt dabei jedoch die Auffassung, der Erlass unverbindlicher Parlamentsbeschlüsse sei nicht rechtmäßig oder umgekehrt der Erlass eines unzulässigen Parlamentsbeschlusses führte zu seiner Unverbindlichkeit. Ausdrücklich wegen dieses Zusammenhangs die Kontrollbefugnis des Parlaments auch für eine solche vorweggenommene Kontrolle bejahend Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 160. 216 Siehe dazu unten 3. Teil C. 217 Etwa Leibholz, Strukturprobleme der modernen Demokratie, S. 163. Wie hier im Ergebnis auch Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, S. 335. 218 Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 60; ausführlich zur dahinterstehenden Theorie Krüger, Allgemeine Staatslehre, § 10 II 2. b), S. 108 ff. 219 Vgl. Sachs/Magiera, GG Art. 38 Rn. 14. 220 Scholz, Staatsleitung im parlamentarischen Regierungssystem, in FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 665, 689. 221 H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 8. 222 H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 9. 223 H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 10. Vgl. auch Herdegen, Das Grundgesetz und die Europäische Union, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre Bonner Grundgesetz – eine geglückte Verfassung?, S. 139, 144.

B. Kompetenz des Deutschen Bundestages

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auferlegt.224 Die Vorstellung von einer ideologischen Gewaltentrennung, in der keinerlei Öffnungen zwischen Parlament und Regierung vorstellbar sind, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Ist dies zwar nicht im Sinne eines umfassenden Parlamentsvorbehalts zu begreifen, lässt sich doch festhalten, dass der schlichte Parlamentsbeschluss Ausfluss einer Gewaltenaufteilung ist, in der das Parlament zumindest über ein umfassendes Äußerungsrecht verfügt.225 Der schlichte Parlamentsbeschluss ist dabei auch das öffentliche Kernkommunikationsmittel zwischen Bundestag und Bundesregierung. Dass es dieser Kommunikation bedarf, ist nachvollziehbar. Dazu stelle man sich nur vor, ein Arbeitgeber hätte keine andere Möglichkeit, als dem Arbeitnehmer die Kündigung auszusprechen, um auf dessen Verhalten einzuwirken. Die Möglichkeit, bereits vor der Kündigung diverse Gespräche verschiedener Deutlichkeit zu führen, wäre damit verloren. Zwar ist die Bundesregierung selbstverständlich nicht Angestellte des Bundestages, jedoch sind Bundesregierung und Bundestag nicht nur politisch, sondern auch rechtlich in ihrer Funktion und ihrem Bestehen verknüpft. Dies zeigt einerseits das konstruktive Misstrauensvotum, andererseits aber auch die Möglichkeit zu Neuwahlen bei gescheiterter Regierungsbildung, die kürzlich in der Folge der Wahlen zum 19. Deutschen Bundestag im Fokus stand. Das ändert nichts an vorangegangener Vergleichbarkeit der Situation, sondern bedeutet nur, dass Kommunikationsmöglichkeiten auch der Bundesregierung in Form von Stellungnahmen oder gar Distanzierung in diesem Verhältnis von besonderer Bedeutung sind. An diesem Punkt zeigt sich besonders deutlich, dass kommunikative Elemente parlamentarischer Arbeit auch die Ausübung parlamentarischer Kontrolle wesentlich prägen.226 Schlichte Parlamentsbeschlüsse können vom Parlament demnach zum Gegenstand eigener politischer Willensbildung gemacht werden. Dies gilt auch auf Ebene der auswärtigen Gewalt. Auch eine politische Einflussnahme auf die Regierung kann man dem Parlament nicht versagen, spiegelt doch der schlichte Parlamentsbeschluss den Mehrheitswillen des Parlaments und damit auch den Mehrheitswillen des Volkes wider.227 Gerade, wenn das Parlament sich der Möglichkeit der Willensbildung durch Beschluss bedient, nimmt es den ihm zukommenden Anteil an der Staatsleitung wahr.228 Unabhängig davon, ob die Staatsleitung als gubernative vierte Gewalt,229 die 224

Zu den Wirkungen von Art. 23 Abs. 3 GG im Einzelnen Wichmann, Die Bindungswirkung von Stellungnahmen des Deutschen Bundestages in Rahmen der Zusammenarbeit mit der Bundesregierung in EU-Angelegenheiten, ZParl 43 (2012), 278. 225 Insgesamt kritisch zur Frage der Reichweite Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts, passim, allerdings mit Fokus auf den Gesetzesvorbehalt, siehe insb. S. 32. 226 Zur Notwendigkeit des schlichten Parlamentsbeschlusses als Kommunikationsmittel des Bundestages im Allgemeinen siehe oben 3. Teil B. II. 1. 227 Vgl. Sachs/Mann, GG, Art. 76 Rn. 5. 228 H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 3. 229 Etwa Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 46.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

sich gewissermaßen um das System der drei Gewalten nach Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG bewegt oder innerhalb der Gewalten Parlament und Regierung „zur gesamten Hand“230 zusteht, ist das Ergebnis für schlichte Parlamentsbeschlüsse das Gleiche: Der Deutsche Bundestag ist befugt, an der politischen Leitung der Bundesrepublik Deutschland mitzuwirken.231 Der Parlamentsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern weist die zusätzliche Besonderheit auf, dass er sich zumindest indirekt auch an einen auswärtigen Staat, nämlich die Türkei wendet. Eine Kompetenzbeschränkung ist auch für diese Fälle – andere Beispiele aus der Geschichte sind die zahlreichen Parlamentsbeschlüsse zur Saarfrage232 – aus den oben genannten Gründen nicht anzunehmen. Die Frage danach, ob das Parlament Beschlüsse mit Bezug zu den auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erlassen darf, ist somit mit einem klaren Ja zu beantworten. Dass solche Beschlüsse politisch unbequem sein können, betrifft die rechtliche Dimension der Beschlüsse insofern noch nicht. Nichts gesagt ist damit jedoch darüber, wie die Exekutive mit derlei Beschlüssen umgehen darf und muss. Viele Versuche, die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse zu begrenzen, laufen im Ergebnis ohnehin darauf hinaus, ihre Unverbindlichkeit zu verdeutlichen.233

IV. Fazit Der schlichte Parlamentsbeschluss ist, bis auf wenige Ausnahmen, grundsätzlich zulässig. Die Zulässigkeit ist dabei dem Zusammenspiel der verschiedenen Aufgaben des Bundestages im parlamentarischen System geschuldet. Die gegenseitige Loyalität der Verfassungsorgane unter gegenseitigen Mitwirkungs- und Entscheidungsbefugnissen ist ein kennzeichnendes Merkmal moderner Demokratie.234 Nur eine umfassende Beschlusskompetenz vermag die Ausübung dieser Aufgabe des Mitlenkens des Bundestages überhaupt zu ermöglichen. Weder hat Zuständigkeit der Bundesregierung eine allgemeine Unzuständigkeit des Bundestages zur Folge, noch verhält es sich andersherum. Ausnahmen dieses Grundsatzes, finden sich allenfalls dort, wo die Kompetenzbereiche anderer Organe beginnen. So sind schlichte Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Judikative nach Art. 97 Abs. 1 GG generell un230

Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 37 f., 69 f.; Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 36; Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 186; Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 65. 231 Die Bundesregierung ist aber wiederum auch nicht darauf angewiesen, dass das Parlament im Bereich auswärtiger Gewalt tätig wird und Anregungen (in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse) beispielsweise bezüglich der Aufnahme von Vertragsverhandlungen nach Art. 59 GG ausspricht, Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 74. 232 Etwa BT-Drs. 1/2114; BT-Drs. 1/2347; BT-Drs. 2/493. 233 Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 29. 234 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 36.

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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zulässig. Für das Verhältnis zur Regierung lässt sich eine derartige Norm jedoch vergeblich suchen. Schlichte Parlamentsbeschlüsse sind im Verhältnis zur Regierung als Ausdruck der Teilhabe des Parlaments an der Staatsleitung zulässig. Eine Differenzierung zwischen innenpolitischen und außenpolitischen Fragen, ist dabei aus der Verfassung nicht erkennbar und daher abzulehnen. Jedoch findet diese Zulässigkeit ihre Grenze dort, wo nicht länger Staatsleitungskompetenzen der Regierung der Grund zur Frage nach der Zulässigkeit des Beschlusses geben. Die Prinzipien der Staatsleitung zur gesamten Hand können so nur die Grundlage für derartige Parlamentsbeschlüsse geben, die auch im Bereich der Staatsleitung ergehen. Zur Herleitung einer darüber hinaus gehenden, allgemeinen Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse sind diese Prinzipien jedoch zu vage, um konkrete Schlüsse aus ihnen zu ziehen.235 Die allgemeine Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ist darüber hinaus auf die konkrete Aufgabenstellung des Bundestages zurückzuführen.

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse Die Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse zu begründen, bereitet im Gegensatz zu ihrer Zulässigkeit deutlich größere Schwierigkeiten. Die zahlreichen Systematisierungsversuche236 machen deutlich, dass die Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse einerseits als Abgrenzungskriterium genutzt wird, andererseits aber zur Begründung der (Un-)Zulässigkeit herangezogen wird. Die inhärente Zirkularität derartiger Vorstöße wurde oben bereits herausgearbeitet.237 Dies bedeutet jedoch nicht, dass, ob schlichte Parlamentsbeschlüsse Bindungswirkung entfalten können oder nicht, keine Auswirkungen hätte. Die Folgen eines rechtswidrig erlassenen Parlamentsbeschlusses sind ebenso davon abhängig wie die Folgen einer Nichtbefolgung des schlichten Parlamentsbeschlusses durch andere Verfassungsorgane. Die rechtshistorische Betrachtung der Diskussion um schlichte Parlamentsbeschlüsse hat die Frage nach der Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse schon teilweise beleuchtet.238 Im Einzelnen lassen sich jedoch einige weitere Lösungsansätze unterscheiden.

I. Einigkeit bezüglich politischer Wirkung Bezüglich eines Punktes herrscht in der Rechtswissenschaft sowie in der juristischen und politischen Praxis Konsens. Schlichte Parlamentsbeschlüsse entfalten eine Wirkung, die mit Hilfe juristischer Kategorien nicht ausreichend erfasst werden 235 236 237 238

Achterberg, Parlamentsrecht, S. 742. Siehe oben 3. Teil A. II. 1. Siehe oben 3. Teil B. II. Siehe dazu oben 3. Teil A. III.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

kann; eine Wirkung, die gleichzeitig mehr als etwas rein Faktisches und weniger als rechtliche Verbindlichkeit ist. Diese Wirkung kann gering sein, sie kann aber auch politische Sprengkraft entfalten und eine Kette von Ereignissen mit politischer Bedeutung auslösen. Für letzteren Fall ist der Armenier-Beschluss des Bundestages ein eingängiges Beispiel,239 politisch von Bedeutung waren aber beispielsweise auch die oben bereits erwähnten Beschlüsse zur Saarfrage und die Gemeinsame Entschließung von 1972.240 Die rechtliche Dimension der schlichten Parlamentsbeschlüsse zu erfassen, ist aber nicht nur angesichts ihrer faktischen Auswirkungen von Bedeutung. Erst das Abstecken des rechtlichen Rahmens ermöglicht das Aussieben und die anschließende Untersuchung des verbleibenden Elements schlichter Parlamentsbeschlüsse.241

II. Eindeutig rechtsverbindliche Parlamentsbeschlüsse Erlässt der Deutsche Bundestag Beschlüsse nach den Vorschriften des Grundgesetzes, sind diese selbstredend allgemein gültig und verbindlich.242 Bei Wahlen wird dies besonders deutlich.243 Wie bereits angedeutet, lässt sich aber ein System im Hinblick auf schlichte Parlamentsbeschlüsse aus den verfassungsrechtlichen Vorschriften nicht ableiten, sodass auch ein Regel-Ausnahme-Verhältnis nicht gebildet werden kann. Dem Parlamentarischen Rat und auch dem Bundestag ist in diesem Zusammenhang eine gewisse Beliebigkeit der Regelungen vorgeworfen worden.244 Auch aus der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages können Aussagen über die Rechtsverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse nicht abgeleitet werden.245 Zwar sind auch diese rechtlich zulässig.246 Allgemein rechtsverbindlich sind Beschlüsse im Sinne der Geschäftsordnung jedoch nicht. Dies ergibt sich schon daraus, dass die Vorschriften der Geschäftsordnung keine Außenrechtsquelle sind. Aufgrund ihrer Natur parlamentarischer Innenrechtssätze sind sie von vornherein ungeeignet, Rechtswirkungen nach außen zu entfalten.247

239

Siehe oben 2. Teil B. V. 2. Siehe oben 3. Teil B. III. 2. b). 241 Siehe unten 3. Teil D. 242 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 14. 243 Trotz vorheriger Ablehnung der Einordnung von Wahlen als schlichte Parlamentsbeschlüsse dann Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 14 und i.E. auch Rn. 28. 244 Butzer, AöR 119 (1994), 61, 67. 245 Zur Zulässigkeit aufgrund der GOBT ergangener Parlamentsbeschlüsse siehe oben 3. Teil B. I. 3. 246 Siehe dazu ausführlich oben 3. Teil B. I. 3. 247 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 741; Roll, Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Kommentar, § 88 Rn. 3. 240

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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III. Eindeutig nicht rechtsverbindliche schlichte Parlamentsbeschlüsse Bevor die allgemeine Frage nach der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse beantwortet werden kann, kann auch ein Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse ausgemacht werden, in dem die Annahme einer Verbindlichkeit von vornherein nicht ernsthaft in Betracht kommt. 1. Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Judikative Zunächst kommt schlichten Parlamentsbeschlüssen keine Bindungswirkung gegenüber der Judikative zu. Da diese im Bereich der Judikative aufgrund von Art. 97 Abs. 1 GG schon unzulässig sind,248 kann von ihnen naturgemäß auch keine Bindungswirkung gegenüber der Judikative ausgehen. Diese Annahme wäre im Gegensatz zu einer politischen Einflussnahme in Form eines unverbindlichen Parlamentsbeschlusses ein noch stärkerer Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit. Nicht nur ist der schlichte Parlamentsbeschluss im Bereich der Judikative also unverbindlich, weil keine Norm im Grundgesetz seine Verbindlichkeit anordnet, sondern Art. 97 Abs. 1 GG ordnet sogar seine Unverbindlichkeit ausdrücklich an. Die Bindung auch der Judikative an den Inhalt schlichter Parlamentsbeschlüsse wird häufig im Zusammenhang mit der authentischen Interpretation von Gesetzen thematisiert.249 Möchte das Parlament ein Gesetz authentisch interpretieren, d. h. eine allgemein verbindliche Auslegung eines Gesetzes erklären, könnte es dies im Wege eines schlichten Parlamentsbeschlusses tun, statt die Gesetzeskonkretisierung im Wege eine Gesetzesänderung vorzunehmen.250 Im Falle des Armenier-Beschlusses liegt diese Dimension jedoch fern, da der Beschluss nicht im Zusammenhang mit einem Gesetz erlassen wurde, dessen Ausführung er konkretisieren könnte. Die abstrakte Betrachtung des hoch umstrittenen Problems der authentischen Interpretation im Wege schlichter Parlamentsbeschlüsse würde jedoch wohl zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass die Gerichte den Parlamentsbeschluss als Auslegungshilfe heranziehen könnten, jedoch nicht eine vom Parlament vorgegebene Auslegung berücksichtigen müssten.251 2. Keine Bindungswirkung gegenüber dem Einzelnen Schlichte Parlamentsbeschlüsse entfalten darüber hinaus keine unmittelbaren Rechtswirkungen gegenüber Individualrechtsträgern. Dies liegt schon in ihrer Natur 248

Dazu siehe oben 3. Teil B. III. 1. Vgl. unten 3. Teil C. IV. 5. 250 So Lerche, NJW 1961, 1758; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 743. 251 Siehe dazu Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 143. Luch, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 36. Zur Einschätzung der Frage durch das Bundesverwaltungsgericht siehe unten 3. Teil C. IV. 5. 249

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

begründet. Sie ergehen nicht im Verhältnis Staat und Bürger, sondern bewegen sich im verfassungsrechtlichen Innenverhältnis, meistens zwischen Parlament und Regierung.252 Außenwirkung entfalten sie grundsätzlich nicht. Daraus ergibt sich auch, dass faktisch ein Bedürfnis nach Rechtsschutzmöglichkeiten gegen schlichte Parlamentsbeschlüsse regelmäßig nicht besteht.253 Dies deckt sich im Übrigen auch mit der Praxis des Bundesverfassungsgerichts. So wurden die im Dezember 2016 gegen den Armenier-Beschluss erhobene Verfassungsbeschwerde vom Bundesverfassungsgericht wegen Unzulässigkeit nicht zur Entscheidung angenommen.254 Ebenso wenig wäre eine Klage auf Vollziehung des schlichten Parlamentsbeschlusses erfolgreich. Aus einer rein politischen Äußerung des Parlaments ergeben sich ebenso wenig wie Pflichten Rechte für den Einzelnen.255

IV. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse Schwierigkeiten bereiten auf der Ebene der Verbindlichkeit die nicht verfassungsrechtlich konkretisierten schlichten Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Regierung. Mangels unmittelbar einschlägiger Norm ist eine Bestimmung der rechtlichen Reichweite schlichter Parlamentsbeschlüsse nur im Wege einer Gesamtschau auf den schlichten Parlamentsbeschluss im System des Grundgesetzes denkbar. Die wissenschaftliche Bearbeitung der Frage nach der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ist durch eine gewisse Pauschalität geprägt, wenn die Verbindlichkeit unabhängig vom rechtlichen und tatsächlichen Kontext teils mit und teils ohne Begründung bejaht oder verneint wird.256 Unterschiedliche Lösungsansätze für dieses Problem haben sich jedoch herausgebildet.

252

Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 143. Ausführlich zur fehlenden Grundrechtsrelevanz schlichter Parlamentsbeschlüsse Butzer, AöR 119 (1994), 61, 87 ff. In diesem Sinne auch Achterberg, der als einzig denkbaren Fall eine Klage gegen den Petitionsbescheid sieht, diesen jedoch richtigerweise dem Verwaltungsrecht zuordnet, Parlamentsrecht S. 774 ff.; Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 143. 254 BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2016, 2 BvR 1383/16, BeckRS 2016, 55985. Ebenso wurde die Verfassungsbeschwerde von Gliederungen der Scientology Kirche gegen einen Beschluss der Hamburger Bürgschaft als unzulässig abgewiesen, allerdings mangels Rechtswegerschöpfung, BVerfG, Beschluss vom 28. August 1992, 1 BvR 632/92, NVwZ 1993, 357. Siehe zur Verfassungsbeschwerde gegen den Armenier-Beschluss auch ausführlich oben 2. Teil B. IV. 4. 255 Siehe zu der grundsätzlichen Frage nach der Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der politischen Motivation des Parlaments im Bereich der Gesetzgebung ausführlich Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 188 ff. m.w.N. 256 In diesem Sinne auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 743. Die Verbindlichkeit ohne Angaben von Gründen verneinend Maunz/Dürig/Klein, GG, Art. 38 Rn. 55. 253

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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1. Schlichte Parlamentsbeschlüsse wirken nur politisch-faktisch Teilweise wird schlichten Parlamentsbeschlüssen keinerlei rechtliche, sondern eine ausschließlich „politisch-faktische“ Bindungswirkung zugesprochen.257 Die Regierung könne sich über schlichte Parlamentsbeschlüsse aber kaum hinwegsetzen, da dem Parlament andere Mittel zur Verfügung ständen, seinen Willen durchzusetzen.258 Das konstruktive Misstrauensvotum soll also wie ein Damoklesschwert bei jedem Fehltritt gegenüber dem Parlament über der Regierung schweben. Die bisherige Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat jedoch gezeigt, dass das konstruktive Misstrauensvotum im Bereich politischer Einzelfragen – in dem sich schlichte Parlamentsbeschlüsse naturgemäß regelmäßig bewegen – gelinde gesagt nicht das erste Mittel des Parlaments ist, sich mit einem gegen den Parlamentswillen gerichteten Verhalten auseinanderzusetzen. Trotz dieser Ferne von der parlamentspolitischen Realität wird bei derartigen Vorstößen größtenteils das Fehlen einer rechtlichen Bindungswirkung lediglich festgestellt und für alle Staatsorgane verallgemeinert.259 Die Auseinandersetzung bleibt dann an diesem Punkt stehen und stellt auch die politisch-faktische Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse lediglich fest, obwohl es gerade dieser Bereich des schlichten Parlamentsbeschlusses ist, der ihn eben häufig doch gar nicht so schlicht macht.260 2. Parlamentsbeschlüsse als rechtsverbindliche Weisungen an die Bundesregierung Dem diametral entgegengesetzt steht die Einschätzung, schlichte Parlamentsbeschlüsse seien rechtsverbindliche Weisungen an die Bundesregierung und sogar eine Einschränkung des Rechtes des Bundeskanzlers, die Richtlinien der Politik zu bestimmen (Art. 65 GG).261 Jedoch ist im Hinblick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung ein Vorrang schlichter Parlamentsbeschlüsse vor Art. 65 GG abzulehnen262 und wird heute auch nicht mehr vertreten. Ohnehin sind nur wenige Parlamentsbeschlüsse geeignet, die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers zu tan257 Böckenförde, JuS 1968, 375, 379; Sachs, GG, Art. 76 Rn. 5; Stern, Staatsrecht, § 26 II 2 c, S. 48, der unter Verweis auf Thoma schlichte Parlamentsbeschlüsse ausschließlich als Beschlüsse ohne Rechtsgrundlage begreift. 258 Stern, Staatsrecht, § 26 II 2 c, S. 48 und § 34 V 4b c, S. 456. 259 Stern, Staatsrecht, § 26 II 2 c, S. 48. Achterberg aber konzentriert sich auf das Verhältnis zur Regierung, Parlamentsrecht, S. 747. 260 Kritisch auch Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, S. 335. Siehe zu den Konsequenzen der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern ausführlich oben 2. Teil B. V. 2. 261 Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 195 f., 219. In diese Richtung auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 74 ff.; Grupp, Die parlamentarische Kontrolle der auswärtigen Gewalt in Form von Entschließungen, S. 141 ff. Kritisch dazu Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, S. 335. 262 So schon Grewe, VVDStRL 12 (1954), 259 f.; Schröder, JuS 1967, 321, 322 ff.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

gieren.263 Ebenso wenig wie schlichte Parlamentsbeschlüsse im Bereich von Art. 65 GG aber geeignet sind, die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers zu beschränken, ist Art. 65 GG als Norm zu verstehen, die die Beschlusskompetenz des Bundestages beschränkt.264 Ohnehin sind die Richtlinien verbindlich für die Minister, nicht aber für das Parlament (§ 1 Abs. 1 S. 2 GOBReg).265 Der Beobachtung, dass das Grundgesetz die Parlamentspraxis, im Wege schlichter Parlamentsbeschlüsse zu politischen Fragen Stellung zu nehmen, nicht ausreichend berücksichtigt und schlichte Parlamentsbeschlüsse im Vergleich zu ihrer Bedeutung für die Parlamentspraxis verfassungsrechtlich unterrepräsentiert sind, ist aber teilweise zuzustimmen.266 3. Bindungswirkung aus Zielrichtung des Parlaments Somit ist jenseits einer Rahmenbestimmung durch die beiden Extrempositionen immer verbindlich – nie verbindlich wenig gewonnen. Zu einer weiter differenzierteren Beurteilung kann an das subjektive Handlungselement des Bundestages angeknüpft, welches zuvor schon auf Zulässigkeitsebene angesprochen worden ist.267 Dieses Element verdient auch in seiner Verkopplung mit der etwaigen Rechtsverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse näherer Betrachtung.268 So ist der Vorschlag unterbreitet worden, die Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse am Willen des Parlaments festzumachen.269 Es gebe also objektiv und subjektiv verbindliche Parlamentsbeschlüsse.270 Unverbindlich gewollte Beschlüsse seien unverbindlich, verbindlich gewollte Beschlüsse aber nur dann auch tatsächlich verbindlich, wenn sich dies auch auf eine verfassungsrechtliche Legitimation stützen ließe. Zu unterscheiden seien Weisungen, die der Regierung konkrete Handlungsvorgaben machen und Richtlinien, die lediglich einen Handlungsrahmen vorgeben. Beide Formen seien jedoch im Ergebnis subjektiv verbindlich, da das Parlament die Regierung zu einem vorher festgelegten Verhalten veranlassen wolle. Im Gegensatz dazu seien Empfehlungen und Stellungnahmen nicht subjektiv verbindlich, sondern sollen die Regierung nur zu einem bestimmten Verhalten anregen.271 Um für die jeweiligen Beschlüsse den Parlamentswillen zu erforschen, sollen 263

Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 60. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 61. 265 Siehe etwa Dreier/Hermes, GG, Art. 65 Rn. 25; Maunz/Dürig/Herzog, GG, Art. 65 Rn. 18. 266 Menzel, VVDStRL 12 (1954), 179, 195 f., 219. Siehe zur Parlamentspraxis oben 3. Teil A. 3. Teil A. V. 267 Vgl. dazu oben 3. Teil A. II. 1. 268 Zur allgemeinen Verzichtbarkeit auf die begriffliche Unterscheidung schlichter Parlamentsbeschlüsse siehe oben 3. Teil A. II. 269 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 38 f. 270 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 39. 271 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 38 f. 264

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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diese wie Gesetze ausgelegt werden, wobei dem Wortlaut eine besondere Bedeutung zukomme.272 Es sei jedoch in der überwiegenden Anzahl der Fälle nicht möglich, den Willen des Parlaments mit Hilfe des Wortlauts zu bestimmen. Anhand einer Zweifelsregel solle die Entscheidung deshalb immer zugunsten des verbindlich gewollten Beschlusses ausfallen.273 Konsequenzen für die objektive Verbindlichkeit hat diese Unterscheidung jedoch im Ergebnis nicht, wenn sie alle subjektiv verbindlichen Beschlüsse auf ihre verfassungsrechtliche objektive Verbindlichkeit überprüft.274 Dies alles gelte jedoch ohnehin nur soweit, wie das Parlament verfassungsmäßiger Weise auf die Exekutive einwirken könne. Allein die Tatsache, dass das Parlament die Verbindlichkeit einer Maßnahme will, kann jedoch nicht Grundlage der Begründung ihrer Verbindlichkeit sein. Das Parlament kann sich nicht durch die Intention seines Handelns mit Möglichkeiten ausstatten, andere Organe zu binden; dies kann es allein mit Hilfe der Verfassung.275 Die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse ist dadurch nicht tangiert – zulässig sind alle erdenklichen Arten der Willensäußerung durch das Parlament.276 Das Auseinanderfallen des Willens des Bundestages mit der Rechtswirklichkeit hat danach zudem immer zur Folge, dass das Verfassungsrecht obsiegt.277 Dies bedeutet im Ergebnis vor allem, dass die Unterscheidung der schlichten Parlamentsbeschlüsse nach der Zielrichtung des Parlaments bei ihrem Erlass, für die Bestimmung ihrer Rechtswirkungen schlicht überflüssig ist. Auch die Parlamentspraxis ist zur tatsächlichen Bestimmung unergiebig; der Bindungswille des Bundestages ist aus der weit überwiegenden Zahl schlichter Parlamentsbeschlüsse nicht eindeutig erkennbar. Zwar ließen sich der Wortlaut der Parlamentsbeschlüsse ebenso wie die gewählte Bezeichnung auslegen,278 die Unterscheidung zwischen Weisungen und Richtlinien als verbindlich gewollte und Empfehlungen und Stellungnahmen als unverbindlich gewollte Parlamentsbeschlüsse kann jedoch auch bei gleichem Wortlaut ebenso wie Ersuchen, Aufträge oder Aufforderungen abweichend ausgelegt werden.279 Überschrieben ist die Drucksache ohnehin immer mit „Antrag“, da das Parlament seine Beschlüsse nicht neu als solche veröffentlicht, sondern auch nach der Beschlussfassung weiterhin die Vorlage fokussiert.280 So könnten beispielsweise Empfehlungen durchaus als verbindlich gewollte Beschlüsse, die im Rahmen politischer 272

Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 43. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 43 f. 274 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 39 und 67 f. 275 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 744 ff. 276 Ausführlich oben 3. Teil B. 277 Sellman, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 40. 278 So auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 43 f. 279 So im Ergebnis dann auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 44 selbst. Die von Sellmann vorgeschlagene Zweifelsregelung, Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 43 f., nach der Beschlüsse immer verbindlich gewollt sind, soweit sie verfassungsrechtlich zulässig sind, ist damit im Ergebnis verzichtbar. 280 Siehe dazu ausführlich oben 3. Teil A. V. 273

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Höflichkeit unter einem auslegungsfähigen Namen gefasst werden, verstanden werden. Die begriffliche Unterscheidung schlichter Parlamentsbeschlüsse erweist sich auch in diesem Zusammenhang als unergiebig. 4. Bindungswirkung aus Vorhandensein eines Adressaten Abzulehnen ist auch der Vorschlag, schlichte Parlamentsbeschlüsse nach dem Vorhandensein eines Adressaten zu beurteilen.281 Rückschlüsse auf die Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse lässt dies in der Tat nicht zu.282 Im Ergebnis ist es insoweit überzeugend, dass auch adressierte schlichte Parlamentsbeschlüsse nicht dazu in der Lage sind, eine verfassungsrechtliche, klagbare Pflicht zur Befolgung für den jeweiligen Adressaten zu erzeugen.283 Erkenntnisse für die Beurteilung der Rechtsverbindlichkeit lassen sich in der Tat aus dem vom Bundestag gewählten Empfänger des Parlamentsbeschlusses nicht gewinnen. Leuchtet es möglicherweise noch ein, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse, die keinen unmittelbaren Adressaten erkennen lassen, auch niemandem gegenüber unmittelbar rechtlich verbindlich sein können,284 ist es nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, die Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse ohne eine verfassungsrechtliche Rückkopplung zu legitimieren. Dies hätte nämlich zur Folge, dass der Bundestag durch die Zugabe beliebig vieler Adressaten Bindungswirkung in diverse Verhältnisse hinein erzeugen könnte. Kern des Problems, das dieser Ansatz zu lösen suchte, war es aber ohnehin nicht, eine rechtliche Bindung im Sinne einer justiziablen Rechtspflicht zu begründen. Im Ergebnis kommt auch dieser Vorstoß nämlich wieder auf die „politischen Pflichten“, die aus einem schlichten Parlamentsbeschluss erwachsen können, zurück.285 Für die Rechtsverbindlichkeit im klassisch-juristischen Sinn ist das Vorhandensein eines Adressaten des Beschlusses jedoch unerheblich. Eine Abgrenzung nach Adressaten führte zudem dazu, dass eine ganze Reihe von Parlamentsbeschlüssen begrifflich überhaupt nicht mehr umfasst würden, nämlich alle die Beschlüsse, die gar keinen Adressaten haben. Zudem zeigt die Gesetzgebungspraxis, dass auch formelle Gesetze an die Regierung adressiert sein können (beispielsweise beim Maßnahmegesetz).286 Mit der Parlamentspraxis hat diese Abgrenzung jedenfalls nichts mehr zu tun, sind doch auch nicht adressierte Parlamentsbeschlüsse Teil des parlamentarischen Alltags.

281

F. Klein, JuS 1964, 181. Achterberg, Parlamentsrecht, S. 745. 283 F. Klein, JuS 1964, 181, 189. 284 F. Klein, JuS 1964, 181, 187. 285 F. Klein, JuS 1964, 181, 190. 286 F. Klein, FS Weber, 105, 114. Umfassend zur Verfassungsmäßigkeit des Maßnahmegesetzes Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts, S. 235 ff. 282

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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5. Bindungswirkung aus zeitlicher Nähe sowie keine Bindungswirkung im Bereich zustimmungsbedürftiger Gesetze – Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Januar 1961 Eine zeitliche Perspektive auf die Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse nahm das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil aus dem Jahr 1961 ein. In dem Rechtsstreit ging es um die Gewährung von Subventionen für die (Fahrgast-) Binnenschifffahrt in Form vergünstigten Dieselkraftstoffs. Der Bundestag hatte am 26. April 1951 das Gesetz zur Aufhebung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Mineralölwirtschaft (MinÖlG) verabschiedet, in dessen § 2 Abs. 2 er die Bundesregierung oder den Bundesminister der Finanzen dazu ermächtigte, durch Rechtsverordnung Vorschriften über die Verbilligung von Dieselkraftstoff für u. a. die Binnenschifffahrt zu erlassen.287 Die daraufhin vom Bundesfinanzminister erlassene Verordnung über die Verbilligung von Dieselkraftstoff für unter anderem die Binnenschifffahrt umfasste jedoch nicht die Fahrgastschifffahrt. Die Fahrgastbinnenschifffahrt war bis zum 31. März 1951 noch subventioniert worden. Das Problem bestand darin, dass der Bundestag im Zug des Erlasses des Mineralölwirtschaftsgesetzes auch einen Parlamentsbeschluss fasste, in dem er die Bundesregierung ersuchte „in Ausführung des § 2 Absatz 2 Ziffer 1 mit Wirkung vom 1. April 1951 Verbilligungen zu gewähren, die dem Stand vom 31. März 1951 entsprechen, solange sich nicht die zu diesem Zeitpunkt bestehenden wirtschaftlichen Verhältnisse und die Wettbewerbsbedingungen wesentlich verändern.“288 Der Bundesfinanzminister hielt eine Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse und Wettbewerbsbedingungen für einschlägig, der Bundestag indes nicht. Die Entscheidung des Bundesfinanzministers, die Fahrgastbinnenschifffahrt von der Subventionierung auszuschließen, führte zu so starker Kritik im Bundestag, dass dieser sich dazu entschloss, einen weiteren Parlamentsbeschluss zu erlassen, in dem er die Bundesregierung ausdrücklich ersuchte, auch die Fahrgastbinnenschifffahrt zu subventionieren.289 Der Bundesfinanzminister erstreckte daraufhin durch eine Änderungsverordnung vom 1. April 1952 die Subventionierung auch auf die Fahrgastbinnenschifffahrt, jedoch weder mit Rückwirkung zum 1. April 1951 noch zu dem im Parlamentsbeschluss ersuchten Preis von DM 28,50 je 100 kg. Daraufhin erhoben die Fahrgastbinnenschifffahrtsunternehmen Klage beim Verwaltungsgericht, die auf eine Verletzung von Art. 3 GG und auf einen Verstoß gegen die Parlamentsbeschlüsse gestützt war.290 287

§ 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Aufhebung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Mineralölwirtschaft (MinÖlG). Dieser lautete: Die Bundesregierung oder der Bundesminister der Finanzen hat durch Rechtsverordnung Vorschriften über die Verbilligung von Dieselkraftstoff für die Landwirtschaft und zum Betrieb von Schiffsmotoren in der Binnen-, Küsten-, Hochseefischerei und der Binnen-, Küsten-, Hochseeschiffahrt zu erlassen. 288 BT-Drs. 1/2193, S. 1. 289 BT-Drs. 1/3090, S. 1. 290 BVerwG, Urteil vom 20. Januar 1961, VII C 202/59, BVerwGE 12, 16 = NJW 1961, 1785, 1786.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Das Bundesverwaltungsgericht musste sich daher mit der Frage auseinandersetzen, ob die Entschließungen des Bundestages die Bundesregierung derart binden können, dass der Bundesfinanzminister keine von dem Ersuchen des Bundestages abweichende Verordnung erlassen durfte. Das Handeln des Finanzministers beurteilte das Gericht angesichts beider Entschlüsse als rechtmäßig. Unterschiedlich jedoch fiel die Begründung aus, bei der das Bundesverwaltungsgericht zwischen dem Beschluss, der zusammen mit dem MinÖlG ergangen war, und dem Beschluss, den das Parlament nachträglich gefasst hatte, unterschied. Nur den zweiten Beschluss stufte das Verwaltungsgericht überhaupt als schlichten Parlamentsbeschluss ein, hielt aber den ersten Beschluss für ein Gesetz. Auf Bundesebene seien schlichte Parlamentsbeschlüsse jedenfalls dann nicht verbindlich, wenn sie Materien beträfen, die gesetzlich nur im Wege eines zustimmungsbedürftigen Gesetzes geregelt werden könnte.291 Die Unterscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nach dem Zeitpunkt des Zustandekommens der Parlamentsbeschlüsse ist verwunderlich und in der Literatur auf heftige Kritik gestoßen.292 Inhaltlich dienten nämlich beide Beschlüsse gleichermaßen dazu, die Ausführung des § 2 Abs. 2 MinÖlG zu konkretisieren. Dennoch finden sich vereinzelte Übernahmen der Abgrenzung nach der Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes gleichen Inhalts.293 Zuzustimmen ist dem Bundesverwaltungsgericht insofern, dass der Bundestag nicht mit einer Handlungsmöglichkeit ausgestattet ist, die es ihm ermöglicht, die Bundesregierung unter Umgehung verfassungsmäßig zu beteiligender Organe rechtlich zu binden. Dies gilt jedoch für zustimmungsbedürftige Regelungsbereiche gleichermaßen wie für nicht zustimmungsbedürftige Regelungsbereiche.294 6. Bindungswirkung aus dem Grundsatz der Organtreue Ebenfalls kann sich eine Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse nicht aus dem Grundsatz der Organtreue ergeben bzw. stellt die Nichtbeachtung des Inhalts eines Parlamentsbeschlusses keinen Verstoß gegen diesen Grundsatz dar.295 Der Grundsatz der Organtreue entfaltet lediglich kompetenzschützende Wirkung.296 Im Rahmen der Kompetenzen, die einem Verfassungsorgan zweifelsfrei zustehen, ist es 291

BVerwG, Urteil vom 20. Januar 1961, VII C 202/59, BVerwGE 12, 16 = NJW 1961, 1785, 1786 in Anlehnung an BayVerfG, Urteil vom 30. September 1959, Vf. 86 VI 58, VerwRspr 1960, 385. 292 R. Wolfrum, VVDStRL 56 (1997), 38, 63; F. Klein, JuS 1964, 181; Lerche, NJW 1961, 1758. 293 3. Teil D. II. 294 Zur Wahlfreiheit des Parlaments siehe unten 3. Teil D. III. 295 Umfassend dazu Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, passim. Zum Verhältnis von Exekutive und Legislative in dieser Hinsicht ebenda, S. 500 ff., 518. 296 ThVerGH, Urteil vom 2. Februar 2011, Az. VerfGH 20/09, III. 2. a, zitiert nach juris; SächsVerfGH, Urteil vom 29. Februar 2008, Az. Vf. 87/I/06, zitiert nach juris Rn. 97.

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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verpflichtet, auf die Interessen der anderen Organe Rücksicht zu nehmen.297 Sinn und Zweck dieses Grundsatzes ist jedoch die Wahrung der im Grundgesetz festgelegten Gewaltenteilung. Diese würde gerade ins Gegenteil verkehrt, nähme man die Fähigkeit des Bundestages an, die Bundesregierung bezüglich seines politischen Willens umfassend zu binden.298 Eine kompetenzbegründende Funktion, mit Rechtsverbindlichkeit ausgestattete Rechtsakte zu erlassen, lässt sich dem Grundsatz der Organtreue aber gerade nicht entnehmen.299 7. Bindungswirkung aus parlamentarischer Kontrolle Die parlamentarische Kontrolle ist, wie oben dargestellt, das Element im Zusammenspiel der Aufgaben des Bundestages, welches es dem Bundestag erlaubt, schlichte Parlamentsbeschlüsse zu erlassen.300 Der größtmögliche Kontrolleffekt wäre durch eine Bindung der Bundesregierung an schlichte Parlamentsbeschlüsse gewährleistet. Eine solche könnte sich jedoch allenfalls dann ergeben, wenn das Parlament die Regierung zu rechtmäßigem Exekutivverhalten verpflichten wollte, eine Nichtbefolgung des Beschlusses also ein Rechtsverstoß wäre. Der Inhalt eines schlichten Parlamentsbeschlusses müsste dafür jedoch in erster Linie überhaupt Recht sein. Mögen schlichte Parlamentsbeschlüsse auch eine auf Recht beruhende Handlung sein, ist ihr Inhalt jedoch nicht rechtlicher, sondern lediglich politischer Natur.301 Daran ändert sich auch nichts, wenn Parlamente versuchen, in Form schlichter Parlamentsbeschlüsse die Regierung zur Einhaltungen geltender Rechtsnormen anzuhalten.302 Die Regierung ist zwar an Recht und Gesetz gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG), hält sie sich jedoch nicht an dasselbe, führt dies nicht dazu, dass ein Parlamentsbeschluss, der die Regierung zu rechtmäßigem Verhalten auffordert, verbindlich ist. Eine Bindung ergibt sich im Gegenteil schon aus der konkret in Rede 297 St. Rspr. BVerfG, Urteil vom 12. Juli 1994, 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93, BVerfGE 90, 286, 337. 298 So im Ergebnis auch Lorz, Interorganrespekt im Verfassungsrecht, S. 500 ff. unter Berücksichtigung der Besonderheiten im Bereich der auswärtigen Gewalt, S. 502, jedoch unter Fokus auf die gesetzgeberische Funktion des Parlaments, vgl. S. 511. 299 A.A. die Antragstellerin Fraktion DIE LINKE im Organstreitverfahren ThVerfGH, Urteil vom 2. Februar 2011, Az. VerfGH 20/09 gegen die Landesregierung Thüringen, Antrag vom 20. Juli 2009 (nicht veröffentlicht) und Erwiderung auf die Stellungnahme der Landesregierung (Thüringer Justizministerium) vom 27. Januar 2010 (nicht veröffentlicht) und vom 26. März 2010 (nicht veröffentlicht). 300 Siehe oben 3. Teil B. II. 1. 301 In diesem Sinne wohl auch Stefani, in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 49 Rn. 16 a.E., allerdings äußerst uneindeutig bzgl. der Bindungswirkung aus der Kontrollfunktion, Parlamentsbeschlüsse seien „mehr oder weniger verbindlich“. 302 A.A. die Antragstellerin Fraktion DIE LINKE im Organstreitverfahren ThVerfGH, Urteil vom 2. Februar 2011, Az. VerfGH 20/09 gegen die Landesregierung Thüringen, Antrag vom 20. Juli 2009 (nicht veröffentlicht) und Erwiderung auf die Stellungnahme der Landesregierung (Thüringer Justizministerium) vom 27. Januar 2010 (nicht veröffentlicht) und vom 26. März 2010 (nicht veröffentlicht).

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

stehenden Norm selbst. Weder ist also die Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse für solche Fälle notwendig für das Parlament, um seiner eigenen Pflicht zum rechtmäßigen Handeln nachzukommen, indem es die Einhaltung desselben durch die Regierung gewährleistet, noch ist sie dogmatisch haltbar. Die Einhaltung geltenden Rechts wird präventiv durch die ausführende und repressiv durch die rechtsprechende Gewalt gewahrt. Das Parlament hat durch den Erlass der einzuhaltenden Bestimmungen sein Notwendiges bereits beigetragen. Eine zusätzliche Verpflichtung der Regierung, quasi ein Doppelt-hält-besser, in Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses ist auch im Rahmen parlamentarischer Kontrolle nicht anzunehmen. Diese ist kein Überwachungsinstrument im Sinne einer rechtlichen Weisungsabhängigkeit der Regierung vom Parlament. Das Zusammenspiel der Staatsgewalten findet seine Grundlagen im Grundgesetz. Das Fehlen einer allgemeinen Regelung zum schlichten Parlamentsbeschluss ist deshalb nicht als Versehen des Verfassungsgesetzgebers zu begreifen, sondern entspringt der Natur des schlichten Parlamentsbeschlusses als genuin politisches Handlungsinstrument. Dies bedeutet insbesondere auch im Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Verwaltung, dass diese keine Befolgungspflicht auszulösen vermögen. Sie sind somit lediglich impulsgebend, können für Einzelfälle jedoch keine Bindungswirkung erzeugen.303 Auch eine Begrenzung des Inhalts schlichter Parlamentsbeschlüsse auf das für die Adressatin rechtlich Mögliche ist mangels Bindungswirkung von schlichten Parlamentsbeschlüssen obsolet.304 8. Keine Bindungswirkung ohne konkrete Grundlage Schlichte Parlamentsbeschlüsse entfalten nach diesen Ausführungen aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt rechtliche Bindungswirkung. Der Grundsatz der Organtreue verpflichtet die Regierung auch nicht dazu, bei Abweichen von einem in einem schlichten Parlamentsbeschluss zum Ausdruck gebrachten Willen sachliche Gründe für ein solches Abweichen vorzuweisen. Das Kontrollrecht des Bundestages ist nicht im Sinne einer umfassenden Kompetenz zu begreifen, jegliches Regierungshandeln zu determinieren und im Sinne einer Rechtsaufsicht, wie sie beispielsweise in den Landesparlamenten gegenüber Kommunen anerkannt ist, tätig zu werden.305 Eine umfassende Rechtskontrolle obliegt ausschließlich den Gerichten. Trotz der nicht scharf abgegrenzten Bereiche von Bundestag und Bundesregierung, setzt der Grundsatz der Gewaltenteilung voraus, dass die Regierung mehr als

303 So auch Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 160. Siehe auch ebenda, S. 262 zur Kritik der a.A. von Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 384 f., der jedoch Zulässigkeit und Verbindlichkeit nicht trennt. Vgl. auch Luch, in: Morlok/Schliesky/ Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 43 m.w.N. 304 So aber Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 49. 305 ThVerGH, Urteil vom 2. Februar 2011, Az. VerfGH 20/09, III. 2. a., zitiert nach juris.

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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ein reiner Vollzugsausschuss des Bundestages ist.306 Zwar ist die Regierung an Recht und Gesetz gebunden. An Politik ist die Bundesregierung jedoch nicht auf gesetzlicher Grundlage gebunden, wenn auch der Bundestag nicht daran gehindert ist, sich auch im Bereich der Regierung politisch zu äußern.307 Pflichten für die Bundesregierung begründen schlichte Parlamentsbeschlüsse somit grundsätzlich nicht.308 Dies hat auch zur Folge, dass ein Sanktionsmittel gegen die Nichtbefolgung schlichter Parlamentsbeschlüsse nicht zur Verfügung steht. Mangels einklagbarer Pflicht scheitert daher auch in der Regel ein Organstreitverfahren, in dem die Durchsetzung eines schlichten Parlamentsbeschlusses in Frage steht.309 Parlamentsbeschlüsse können auf Ebene der Verfassungsorgane also allenfalls insoweit Rechtsverbindlichkeit entfalten, wie dies auch verfassungsrechtlich vorgesehen ist.310 Eine weitere Unterteilung der Beschlüsse nach der vom Bundestag verfolgten Zielrichtung bei ihrem Erlass stellt einen durchaus geeigneten Weg dar, einzelne Erscheinungsformen schlichter Parlamentsbeschlüsse begrifflich voneinander zu trennen.311 Auf das Ergebnis der Frage nach der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse hat der Wille des Bundestages jedoch keinen Einfluss.312 Dies bedeutet jedoch nicht, dass Parlamentsbeschlüsse, die außerhalb einer rechtsnormativen Bestimmung ergehen, sich auch außerhalb ihres eigenen Bereiches bewegen.313 Dieser Bereich ist zwar von vornherein normdeterminiert, ändert jedoch nichts an den begrifflichen Grundlagen. Für schlichte Parlamentsbeschlüsse, die aufgrund der Geschäftsordnung des Bundestages ergehen, ist demnach der rechtliche

306

juris. 307

So auch ThVerGH, Urteil vom 2. Februar 2011, Az. VerfGH 20/09, III. 2. a., zitiert nach

Siehe oben 3. Teil B. III. 2. Dreier/Morlok, GG, Art. 42 Rn. 32 f.; H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 13 f.; Mangoldt/Klein/Starck/Achterberg/Schulte, GG, Art. 42 Rn. 30 f.; Münch/Kunig/Versteyl, GG, Art. 43 Rn. 16; Sachs/Mann, GG, Art. 76 Rn. 5; Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein, AK-GG, Art. 42 Rn. 13; Stern, Staatsrecht, § 26 II 2 c, S. 48; Umbach/Clemens/Dicke, GG, Art. 42 Rn. 45 und Art. 43 Rn. 13. 309 Auf Landesebene so das Verfahren der Fraktion DIE LINKE im Thüringer Landtag gegen die Thüringer Regierung, ThVerfGH, Urteil vom 2. Februar 2011, Az. VerfGH 20/09; zitiert nach juris. 310 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 747; H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 13 f.; Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 21; Pegatzy, Parlament und Verordnungsgeber, S. 116; Wiefelspütz, ZParl 38 (2007), 3, 5; i.E. auch Lerche, NJW 1961, 1758 f. Siehe zur konkreten Ausgestaltung auch sogleich 3. Teil C. IV. 8. a). 311 Dazu im Einzelnen siehe oben 3. Teil C. IV. 3. 312 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 744; Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 21; im Ergebnis auch Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 39 f., auf den die Unterscheidung nach subjektiven Kriterien zurückgeht. 313 So aber Achterberg, der solche Parlamentsbeschlüsse dem Bereich des „innerparlamentarischen Rechtsakts“ zuordnet, Parlamentsrecht, S. 747 ff. 308

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

Wirkbereich richtigerweise auf das innerparlamentarische Verhältnis zu begrenzen.314 Festzuhalten ist somit für die Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse im Bereich der Exekutive, dass sie eine solche nur insoweit entfalten können, wie das Grundgesetz sie ihnen ausnahmsweise ausdrücklich zuerkennt.315 Allein die Rechtsquelle, auf die der Parlamentsbeschluss gestützt ist, ist daher maßgeblich für seine Verbindlichkeit.316 Auf der Verfassung oder einfachem Gesetz beruhende Parlamentsbeschlüsse entfalten rechtliche Verbindlichkeit auch gegenüber der Regierung; Parlamentsbeschlüsse auf Grundlage der Geschäftsordnung des Bundestages erlassene Beschlüsse dagegen binden die Regierung nicht.317 Alle Parlamentsbeschlüsse, die ohne eine geschriebene Rechtsgrundlage ergehen, entfalten somit keine rechtliche Bindungswirkung gegenüber der Regierung. Dies deckt sich auch mit dem Befund, dass das Parlament nicht dazu in der Lage ist, die Judikative im Wege schlichter Parlamentsbeschlüsse zu binden – eine Norm, die eine solche Bindungswirkung anordnen würde, wird man vergeblich suchen.318 Die mangelnde Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse, also von sogenannten Resolutionen, Entschließungen und Stellungnahmen des Parlaments bedeutet jedoch nicht auch ihre Unerheblichkeit. Wie bereits an früherer Stelle dieser Arbeit angedeutet, haben auf den Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse gerichtete Anfragen nicht nur eine beachtliche Frequenz in der Parlamentspraxis, sondern auch beachtliche tatsächliche Folgen.319 Auch kann das Parlament schlichte Parlamentsbeschlüsse dazu nutzen, sich von Regierungshandeln zu distanzieren, um zu verhindern, dass ihm das Handeln der Bundesregierung politisch zugerechnet wird.320 Diese Möglichkeit steht jedoch beiden Organen gleichermaßen offen, da sie nicht in einem Über-Unterordnungsverhältnis, sondern gleichrangig nebeneinanderstehen. a) Anforderung an die verfassungsrechtliche Grundlage – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Juli 1994 Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr hat neues Licht auf die Debatte über schlichte Parlamentsbeschlüsse mit Bindungswirkung geworfen. Dass sich schlichte Parlamentsbeschlüsse nach und nach zu 314

So auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 747 f. H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatrechts, § 50 Rn. 13 f. 316 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 747. 317 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 747. Siehe zum Sonderfall Auslandseinsätze der Bundeswehr sogleich 3. Teil C. IV. 8. a). 318 Zum vermeintlichen Sonderfall der Zustimmung zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr siehe sogleich 3. Teil C. IV. 8. a). 319 Siehe oben 2. Teil B. V. 2. 320 ThVerfGh, Urteil vom 2. Februar 2011, Az. VerfGH 20/09, III. 2. a, zitiert nach juris = LVerfGE 22, 537 ff. 315

C. Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse

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einem festen Bestandteil des deutschen Parlamentsalltags entwickelt hatten, stellte auch das Bundesverfassungsgericht nicht in Frage. Aufschluss gibt das Urteil deshalb insbesondere über die Voraussetzungen, die das Grundgesetz an rechtsverbindliche Parlamentsbeschlüsse stellt. Wenn auch ein Initiativrecht des Bundestages vom Bundesverfassungsgericht verneint wurde, der Bundestag also die Bundesregierung lediglich von einem schon beschlossenen Verhalten abhalten kann, sie jedoch nicht zu einem Verhalten verpflichten,321 ist doch bemerkenswert, dass durch Auslegung aus einem schlichte Parlamentsbeschluss im engeren Sinne ein schlichter Parlamentsbeschluss mit verfassungsrechtlicher Grundlage geworden zu sein scheint. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt jedoch, dass der schlichte Parlamentsbeschluss nur dann rechtliche Bindungswirkung für die Bundesregierung entfalten kann, wenn ein Gesetz dies vorsieht. Der Erlass des Parlamentsbeteiligungsgesetzes im Jahre 2005, insbesondere § 1 Abs. 2 ParlBG hat dies bestätigt. Die Herleitung im Fall aus der Wehrverfassung schien die Betrachtung vor das Problem zu stellen, die Anforderungen an die verfassungsrechtliche Grundlage insofern auszuweiten, als entgegen der Systematik der übrigen Normen, die verbindliche Parlamentsbeschlüsse ausdrücklich vorsehen, auch durch Auslegung ermittelte Grundlagen eine Verbindlichkeit des schlichten Parlamentsbeschlusses begründen können.322 Vereinzelte Inhalte schlichter Parlamentsbeschlüsse wurden in diesem Sinne auch für verbindliche Weisungen an die Bundesregierung oder den Bundesrat gehalten.323 Solche Auslegungen führen jedoch zu weit. Das Zustimmungsverfahren, das durch das Parlamentsbeteiligungsgesetz für Auslandseinsätze der Bundeswehr gesetzlich festgelegt wurde, hat die Systemunterschiede zum schlichten Parlamentsbeschluss stark verdeutlicht. Der Bundestag ist auch im Bereich eines Auslandseinsatzes nicht daran gehindert, sich im Wege eines schlichten Parlamentsbeschlusses zu einem Auslandseinsatz zu äußern; Bindungswirkung entfalten jedoch nur Beschlüsse im Sinne des Parlamentsbeteiligungsgesetzes.324 Möchte umgekehrt aber die Bundesregierung im Bereich des Parlamentsvorbehalts handeln, braucht sie dazu die Mitwirkung des Parlaments in Form eines Beschlusses. An dieser Stelle offenbart sich erneut, inwiefern auch der Fokus auf die Vorlage in der Betrachtung schlichter Parlamentsbeschlüsse relevant ist.325 321 Konkret sind möglich die Nichtgenehmigung eines bereits beschlossenen Einsatzes oder der Abbruch bereits ohne Genehmigung begonnener Einsätze; BVerfG, Urteil vom 12. Juli 1994, 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93, BVerfGE 90, 286. 322 Vgl. Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 21 ff. m.w.N. 323 Für eine Prüf- und Antwortpflicht auf parlamentarische Ersuchen Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 109; Sester, Parlamentsbeschluß, S. 30. Für ein Weisungsrecht in Bundesratsangelegenheiten Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 130 f. Vgl. dazu auch Mangoldt/Klein/Starck/Korioth, GG, Art. 51 Rn. 25 m.w.N. Im Bereich des Haushaltsrechts siehe ebenfalls Criegee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung, S. 103; Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 151 f. 324 Leider kurz, aber insgesamt zutreffend Wagner, Parlamentsvorbehalt und Parlamentsbeteiligungsgesetz, S. 109 ff. 325 Siehe dazu ausführlich oben 3. Teil A. V.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

b) Einfluss der Europäisierung auf die verfassungsrechtlichen Rechte des Parlaments – Neuer Art. 23 Abs. 3 GG Schließlich spricht für die Unverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse auch die Schaffung von Art. 23 Abs. 3 GG. Art. 23 Abs. 3 GG regelt, dass die Bundesregierung Stellungnahmen des Bundestages zur Mitwirkung der Bundesregierung an Rechtssetzungsakten der Europäischen Union berücksichtigt. Ohne den umstrittenen Umfang der Bindungswirkung der Stellungnahmen des Bundestages nach Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG zu bestimmen,326 ist die Implementierung einer Pflicht zur Berücksichtigung der Stellungnahmen ein Anhaltspunkt zur Bestimmung des Umfangs, in dem schlichte Parlamentsbeschlüsse ergehen. Die Bestimmung, die Bundesregierung berücksichtige die Stellungnahmen des Bundestages, wäre überflüssig, wenn Stellungnahmen des Bundestages ohnehin zu berücksichtigen wären. Die Regelung des Art. 23 Abs. 3 S. 2 GG bestätigt somit, dass Stellungnahmen des Bundestages grundsätzlich von der Bundesregierung nicht zu berücksichtigen, also unverbindlich sind.327

V. Fazit Die Debatte um schlichte Parlamentsbeschlüsse ist in ihrem Kern meist zugleich eine Debatte um das Verhältnis von Parlament und Regierung im Bereich der auswärtigen Gewalt. Auch die Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs ist ein Beispiel für einen schlichten Parlamentsbeschluss, der an den Randbereichen der Kompetenzen der Verfassungsorgane kratzt. Das Parlament ist nicht mit einem umfassenden Beschlussrecht ausgestattet, das so weit reicht, dass es die Handlungs- und Beschlussfreiheit der Exekutive von vornherein derart beschränkt, dass de facto alle Exekutiventscheidungen durch das Parlament getroffen werden.328 Will der Bundestag die Regierung verbindlich verpflichten, muss er dies in Form eines Gesetzes tun.329 Die Rechtsprechung und rechtswissenschaftliche Debatte lassen sich nicht nahtlos auf die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern übertragen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zum Auslandseinsatz der Bundeswehr auch für konstitutive Parlamentsbeschlüsse klargestellt, dass der Parlamentsvorbehalt keine Initiativbefugnis des Parlaments umfasst. Die Frage, ob das Parla326 Dazu siehe statt aller Brand, Europapolitische Kommunikation zwischen Bundestag und Bundesregierung, S. 106 ff. 327 Vgl. auch Schorkopf, BK, GG, Art. 23 Rn. 151, der die lediglich politische Einwirkung auf die Exekutive zusätzlich in systematischen Zusammenhang zu Art. 23 Abs. 5 GG stellt. 328 Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 48. 329 Noch nichts gesagt ist damit jedoch über den umgekehrten Fall, in dem der Bundestag in Fällen, in denen er keine Rechtsfolge anordnen möchte, in Form eines Gesetzes handelt. Dazu siehe unten 3. Teil D. III.

D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse

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ment die Regierung in Form von Parlamentsbeschlüssen rechtlich zu einem Verhalten binden kann, ist damit negativ zu beantworten. Das Parlament kann die Regierung nicht verbindlich dazu auffordern, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen. Ebenso wenig verpflichtet der Beschluss zur Anerkennung des Völkermords die Regierung dazu, sich nicht gegenteilig dazu zu äußern. Dies ergibt sich schon aus der Rechtsnatur schlichter Parlamentsbeschlüsse. Wieder gerät die Untersuchung schlichter Parlamentsbeschlüsse jedoch an ihre Grenzen, wenn man die Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse auf Individuen allein mit Dogmatik zu erklären sucht. Die zahlreichen Verfassungsbeschwerden, die gegen den Armenier-Beschluss erhoben worden sind, belegen ebenso wie der Aufruhr, der auch in öffentlichen Äußerungen Privater Niederschlag gefunden hat, dass die Annahme, schlichte Parlamentsbeschlüsse entfalteten keine Wirkungen nach außen nicht das richtige Ergebnis sein kann. Zu verorten sind diese jedoch nicht im Bereich der rechtlichen Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse.330

D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse I. Potential des schlichten Parlamentsbeschlusses Die parlamentarische Praxis stellt nicht das Ergebnis, sondern den Antrag in den Fokus. Aus Sicht des Bundestages ist für die Einordnung der parlamentarischen Handlungsformen die Vorlage maßgeblich, sodass die Anfrage den Ausgangspunkt der Betrachtung bildet und weniger das Zustandekommen oder nicht Zustandekommen des angestrebten Beschlusses.331 Teilweise wird deshalb vorgeschlagen, eine neue parlamentarische Handlungsform zu schaffen, die die Bundesregierung verpflichten würde. Angeregt wird die Schaffung „untergesetzliche Parlamentsbeschlüsse in Form verbindlicher Weisungen an die Regierung“, denn diese seien „wegweisendes parlamentarisches Instrumentarium“.332 Diese Handlungsform solle das Parlament selbst schaffen. Darüber hinaus solle das Recht zu verbindlichen Weisungen zur Mitwirkung in auswärtigen Angelegenheiten in das Grundgesetz aufgenommen werden.333 Grundlage dieser Überlegung ist einerseits der tatsächliche Einfluss des Parlaments in außenpolitischen Fragen. In diesem Zusammenhang wird auch der oben ausführlich behandelte Antrag der Fraktion CDU/CSU von 2005334 als Beispiel des Einflusses parlamentarischer Beschlüsse auf die auswärtigen Bezie330

Zur „politischen“ Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse siehe unten 3. Teil D. IV. Siehe dazu im Einzelnen oben 3. Teil A. V. 332 Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mitwirkung des Parlaments in der auswärtigen und internationalen Politik, S. 139. 333 Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mitwirkung des Parlaments in der auswärtigen und internationalen Politik, S. 140. 334 Ausführlich zu diesem Beschluss siehe oben 2. Teil B. III. 2. 331

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

hungen der Bundesrepublik Deutschland herangezogen.335 Begründet wird die Forderung nach verbindlichen untergesetzlichen Parlamentsbeschlüssen aber auch mit dem „zunehmenden Machtwillen des Parlaments“.336 Die Verrechtlichung des vorwiegend politischen Handlungsinstruments des schlichten Parlamentsbeschlusses durch Implementierung einer abstrakten Regelung im Grundgesetz durch eine Verfassungsänderung birgt das Risiko einer unnötigen Verkomplizierung eines in der Regel politisch akzeptierten und wirksamen Handlungsinstruments. Darüber hinaus zeugen Bestrebungen, einen zu großen Teilen nicht rechtlichen Vorgang rechtlich zu regeln, von einem zu engen Verständnis der Charakteristik des schlichten Parlamentsbeschlusses.337 Zu befürworten ist jedoch die allgemeine Stärkung des Parlaments gegenüber der Regierung in Form einer stärkeren tatsächlichen Ausformung des schlichten Parlamentsbeschlusses.338 Der schlichte Parlamentsbeschluss birgt politisches Potential, dessen sich der Deutsche Bundestag noch nicht ausreichend bedient. Die Komplexität der parlamentarisch zu regelnden Sachverhalte ist vom Bundestag kaum zu bewältigen und sieht sich einer Bundesregierung mit enormen technokratischen Vorsprung gegenüber.339 Der schlichte Parlamentsbeschluss ist ein besonders geeignetes Mittel, um den Kern materieller Entscheidungen wieder in die Hand des Bundestages zurückzuholen, ohne dabei die – teilweise auch optimierten Arbeitsprozesse – bei der Entstehung allgemeinverbindlicher Entscheidungen des Staates vollends in die Parlamente zu verlagern. Damit könnte der Bundestag im Wege fortlaufender Kontrolle ex ante ankündigend und richtungsweisend für die Bundesregierung tätig werden, statt sich auf eine Kontrolle der Ergebnisse ex post zu beschränken.340 Als hauptsächlich politische Instrumente sind schlichte Parlamentsbeschlüsse in dieser Hinsicht auch nur politischen Zwängen unterworfen und unterliegen somit nicht den sprachlichen Beschränkungen, die sich für Gesetze aus ihrer rechtswissenschaftlichen Rezeption ergeben. Darüber hinaus bietet der schlichte Parlamentsbeschluss ein Handlungsinstrument, das der zunehmenden Verlagerung der politischen Diskussion in Polit-Talkshows entgegenzuwirken vermag. Die öffentliche Diskussion politischer Vorhaben und Richtungsentscheidungen, die gerade den Kern des parlamentarischen Aufgabenkreises bildet, findet Aufmerksamkeit größtenteils außerhalb des Parlaments und 335 Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mitwirkung des Parlaments in der auswärtigen und internationalen Politik, S. 117 ff. 336 Pilz, Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages und die Mitwirkung des Parlaments in der auswärtigen und internationalen Politik, S. 139. 337 Siehe zum politischen Kern des schlichten Parlamentsbeschlusses unten 3. Teil D. IV. 338 Ermutigend in diese Richtung auch Butzer, AöR 119 (1994), 61, 80. 339 Butzer, AöR 119 (1994), 61, 80; auch Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 241; A.A. Maunz/Dürig/Klein, GG, Art. 38 Rn. 57. 340 Vgl. zur „Ergebniskontrolle“ Kewenig, Staatsrechtliche Probleme parlamentarischer Mitregierung am Beispiel der Arbeit der Bundestagsausschüsse, S. 29, 31.

D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse

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innerhalb des Fernsehstudios.341 Dies bietet zweifellos den Vorteil, dass die Repräsentierten in leichteren Formaten erreicht werden, hatte jedoch vor dem Zeitalter der Digitalisierung wohl noch eine größere Legitimation als heute. Dass PolitTalkshows eine Modeerscheinung sein könnten, liegt angesichts der medialen Wirklichkeit eher fern.342 Der Parlamentsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hat deutlich gemacht, welches Potential auch für die mediale Berichterstattung und Diskussion schlichte Parlamentsbeschlüsse bergen. Allein die nahezu echtzeitige Übernahme des direkten Begriffs des Völkermords im Zusammenhang mit dem Aghet belegt den enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung, den schlichte Parlamentsbeschlüsse entfalten können.

II. Hierarchieverständnis Eine Diskussion über parlamentarische Handlungsformen scheint nicht ohne Verweis auf die besondere Bedeutung des Parlamentsgesetzes auszukommen. Besonders im Zusammenhang mit der in den neunziger Jahren verstärkt geführten Debatte um den Bereich des Parlamentsgesetzes kam die Frage auf, ob das Parlament das vereinfachte Verfahren, in dem schlichte Parlamentsbeschlüsse ergehen, zurückgreifen könne, um sich selbst zu entlasten.343 Diesbezüglich findet sich der Einwand, das Parlament könne sich seiner Verantwortung nicht durch Ausweichen auf schlichte Parlamentsbeschlüsse entziehen.344 Stets schwingt die Besorgnis mit, das Parlament könnte das falsche Regelungsinstrument wählen. Bei näherer Betrachtung wird jedoch die Bedeutung des Parlamentsgesetzes, die zu einer zumindest gefühlten Überlegenheit gegenüber allen anderen Handlungsformen des Parlaments erwachsen ist, relativiert. Die Sanktionsmöglichkeiten für die Zuwiderhandlung gegen einen schlichten Parlamentsbeschluss sind gering. Art. 67 GG sieht mit dem konstruktiven Misstrauensvotum eine harte Sanktionsmöglichkeit vor, die in der Geschichte der Bundesrepublik lediglich zweimal eingesetzt wurde und dabei nur einmal zum Regierungswechsel führte. Die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund der Nichtbefolgung eines schlichten Parlamentsbeschlusses ein Regierungswechsel angestrebt wird, ist – realistisch betrachtet – niedrig, wobei die Datenlage zugegebenermaßen begrenzt ist. Das Parlament hat mithin in der Rechtswirklichkeit keinen politisch handhabbaren Durchsetzungsmechanismus für schlichte Parlamentsbeschlüsse zur Hand. Dies könnte die Unterlegenheit des schlichten Parlamentsbeschlusses gegenüber dem Parlamentsgesetz erklären. Die Statistik der erlassenen schlichten Parlamentsbeschlüsse zeigt jedoch deutlich, weshalb solche Durchset341

Böckenförde, Handbuch des Staatsrechts, § 34 Rn. 43. Vgl. auch Kissler, in: Schneider/ Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 36 Rn. 10. 342 So aber Maunz/Dürig/Klein, GG, Art. 38 Rn. 63. 343 Fokus u. a. darauf bei Butzer, AöR 119 (1994), 61; jüngst auch wieder Luch, in: Morlok/ Schliesky/Wiefelspütz, § 10 Rn. 54 ff. 344 Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, § 10 Rn. 58.

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

zungsmechanismen gegenüber der Regierung faktisch zudem nicht notwendig sind. Schlichte Parlamentsbeschlüsse ohne Koalitionsbeteiligung kommen in der Parlamentspraxis nicht vor.345 Im Vergleich zum schlichten Parlamentsbeschluss steht dem Parlament auch für die Durchsetzung von Gesetzen gegenüber der Bundesregierung kein Mittel zur Verfügung. Dass Gesetze zu befolgen sind, spielt zunächst einmal im Verhältnis Staat zu Bürger eine Rolle, nicht jedoch im Verhältnis der Verfassungsorgane untereinander. In der Rechtswirklichkeit halten sich die Verfassungsorgane untereinander grundsätzlich freiwillig an die Vorgaben der jeweils anderen Organe. Auf diese Freiwilligkeit ist jedoch das Parlament auch angewiesen, wenn es Gesetze erlässt, die die Exekutive ausführen soll.346 Ein anderer Durchsetzungsmechanismus, als in Art. 67 GG vorgesehen ist, existiert auch für Parlamentsgesetze nicht. Die Verwaltung mag durch Art. 20 Abs. 3 GG durch Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes gebunden sein und ein Handeln entgegen einem Parlamentsgesetz mag auch rechtswidrig sein. Für die Durchsetzbarkeit des eigenen Willens gibt Art. 20 Abs. 3 GG dem Parlament aber nichts an die Hand. In der Durchsetzung unterscheiden sich schlichte Parlamentsbeschlüsse von Parlamentsgesetzen jedoch ausschließlich dadurch, dass die Bundesregierung die Parlamentsgesetze als verbindlich betrachtet und freiwillig befolgt und dies im Falle schlichter Parlamentsbeschlüsse teilweise anders sieht, zumindest im Zusammenhang mit dem Armenier-Beschluss die allgemeine Unverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse gesondert herausgestellt hat.347 Der politische Inhalt schlichter Parlamentsbeschlüsse kann insofern theoretisch auch rechtliche Konsequenzen entfalten, wenn nämlich die (politische) Nichtbefolgung durch die Regierung das Parlament dazu veranlasst, ein konstruktives Misstrauensvotum zu betreiben. Angesichts der Möglichkeit des konstruktiven Misstrauensvotums hat der schlichte Parlamentsbeschluss aber insbesondere Signalwirkung. Zum einen ergeht jeder Beschluss des Parlaments im Schatten des Misstrauensvotums, zum anderen erfordert das konstruktive Misstrauensvotum faktisch eine Staatskrise besonderen Ausmaßes. Dass eine einzelne Nichtbefolgung eines schlichten Parlamentsbeschlusses, der nicht vom Verfassungsgesetzgeber in das Grundgesetz implementiert wurde und damit ohnehin rechtsverbindlich wirkt, eine solche auszulösen im Stande wäre, ist nicht ausgeschlossen, ob der bisherigen Erfahrung mit dem konstruktiven Misstrauensvotum in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland aber doch in höchstem Maße unwahrscheinlich. 345

3. Teil A. V. Butzer, AöR 119 (1994), 61, 96. 347 Regierungssprecher Seibert, Erklärung vom 2. September 2016, siehe oben 2. Teil B. IV. 2. Dass es auch Fälle gibt, in denen Bundestagsdebatten und schlichte Parlamentsbeschlüsse durchaus politischen Einfluss, der dem Einfluss eines Gesetzes in nichts nachsteht, haben können, illustriert Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 163 ff. am Beispiel der Kalkar-Debatte, sowie der Debatte um das Projekt Gorleben, allerdings im Verhältnis von Bundestag zu Landesregierungen. 346

D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse

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Auch die Legitimation schlichter Parlamentsbeschlüsse steht derjenigen von Parlamentsgesetzen in nichts nach. Ebenso wie Parlamentsgesetze, sind sie lückenlos auf den Bürger zurückzuführen und damit demokratisch legitimiert.348 Lediglich die Bekanntgabe unterscheidet den schlichten Parlamentsbeschluss beachtenswert von Parlamentsgesetzen und auch Verordnungen oder Satzungen. Dies bietet in der Parlamentspraxis natürlich genauso wie die Beschränkung auf nur eine Lesung den Vorteil einer großen Zeitersparnis. Zugänglich sind schlichte Parlamentsbeschlüsse jedoch durch die Veröffentlichung in den Bundestagsdrucksachen durchaus, was im Zeitalter der Digitalisierung zunehmend gilt.349 Trotz mangelnder Rechtsverbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse, sind sie also kein Weniger zum formellen Gesetz. Der schlichte Parlamentsbeschluss ist eine eigenständige Handlungsform des Parlaments, die auf die Verfassung zurückzuführen und somit gleichsam legitimiert ist. Der schlichte Parlamentsbeschluss ist ein Aliud zum Gesetz.350 Die Kritik, eine Aufwertung schlichter Parlamentsbeschlüsse gehe immer auch mit einer Abwertung des Gesetzes einher, ist daher verfehlt.351

III. Politischer Inhalt – rechtliche Konsequenzen: Wahlfreiheit des Parlaments Der Bundestag könnte sich theoretisch auch dazu entschließen, den politischen Inhalt des schlichten Parlamentsbeschlusses zu verrechtlichen, indem es ein Gesetz gleichen Inhalts erlässt. Dies wirft die Frage nach der Wahlfreiheit des Parlaments bezüglich seiner Handlungsformen auf. Im Verhältnis der Gewalten untereinander ist verfassungsrechtlich vorgezeichnet, dass das Parlament zur Wahrung der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung Wesentliches selbst regeln muss und eine untergesetzliche Normierung in diesen Fällen ausscheidet.352 Anders liegt der Fall jedoch beim schlichten Parlamentsbeschluss, der, dies hat die Untersuchung gezeigt, schon konzeptionell nicht dazu geeignet ist, irgendeine Form einer Regelung zu treffen. Eine allgemeine systematische Ordnung, die dem Bundestag vorgäbe, sich bezüglich eines bestimmten Inhalts auf nur eine Handlungsform zu beschränken, lässt sich aus dem Grundgesetz jedoch kaum her348

Butzer, AöR 119 (1994), 61, 105. Siehe etwa oben 3. Teil A. V. 350 Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem Bonner Grundgesetz, S. 122. 351 So aber Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 58. 352 St. Rspr.; BVerfG Beschluss vom 9. Mai 1972, 1 BvR 518/62 und 308/64, BVerfGE 33, 125, 152 ff.; BVerfG, Urteil vom 18. Juli 1972, 1 BvL 32/70 und 25/71, BVerfGE 33, 303; BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 1977, 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75, BVerfGE 47, 46, 78 f.; BVerfG, Beschluss vom 8. August 1978, 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89; BVerfG, Urteil vom 12. Juli 1994, 2 BvE 3/92, 5/93, 7/93, 8/93, BVerfGE 90, 286. Siehe zu den Folgen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für den Gesetzesvorbehalt Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugrifssrechts, S. 40 ff. 349

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

leiten, sodass auch eine allgemeine Beschränkung des schlichten Parlamentsbeschlusses nicht zu erkennen ist.353 Der Bundestag ist zwar im Verhältnis zur Exekutive im Bereich untergesetzlicher Normsetzung im Rahmen der Wesentlichkeitstheorie zur Gesetzgebung verpflichtet, unterliegt dadurch jedoch nicht zugleich einer allgemeinen Äußerungsbeschränkung im betroffenen Bereich. Außerhalb des Bereichs solcher eindeutigen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist das Parlament aber gehalten, die Entscheidung, ob es durch schlichten Parlamentsbeschluss oder Gesetz tätig werden will, von der Zielrichtung der Maßnahme abhängig zu machen. Der schlichte Parlamentsbeschluss ist also immer dann die richtige Handlungsform, wenn das Parlament nicht unmittelbar rechtsfolgenorientiert tätig werden möchte. Insoweit kann ein Konflikt im Bereich des Wesentlichen schon aus dem Grund nicht aufkommen, dass in diesem Bereich das Parlamentsgesetz in Konkurrenz zur untergesetzlichen Normsetzung steht, zu der schlichte Parlamentsbeschlüsse ihrer Natur nach nicht zählen. Die Frage nach der Wahlfreiheit setzt voraus, dass konzeptionell eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Parlamentsbeschluss und Gesetz besteht. Diese ist jedoch nicht gegeben. Wie gezeigt, sind schlichte Parlamentsbeschlüsse rechtlich unverbindlich, Gesetze aber rechtlich verbindlich. Die Frage nach einer Wahlfreiheit kann also sinnvoller Weise nur auf politisch-faktischer Ebene gestellt werden. Dem Parlament sind mit Gesetz und schlichtem Parlamentsbeschluss zwei vollständig eigenständige Handlungsformen an die Hand gegeben, bezüglich derer es Handlungsfreiheit hat. Die Frage, welches Instrument es wählen muss, hängt somit nur von der Frage ab, welche Wirkungen es hervorrufen will. Dabei sind die Möglichkeiten des Gesetzgebers, die Regierung zu binden, in keiner Weise von den Möglichkeiten des Parlaments, die Regierung durch Parlamentsbeschluss zu binden, abhängig.354 Dies zeigen allein schon die verfassungsrechtlich vorgesehenen Parlamentsbeschlüsse. Eine unmittelbar rechtsfolgenorientierte Entscheidung kann das Parlament in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses nicht treffen. Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gleichen Inhalts hängt von Voraussetzungen ab, denen ein schlichter Parlamentsbeschluss im Einzelfall nicht genügen muss. Eine Wahlfreiheit kann zudem überhaupt nur konzeptionalisiert werden, wenn juristische und politische Ebenen vermischt werden. Juristisch kann der Bundestag alleine keine Gesetze erlassen, sondern ist zu ihrem Erlass auf die Mitwirkung mehrerer anderer Verfassungsorgane angewiesen. Wie kann aber dann von einer Wahl des Bundestages gesprochen werden, wenn der schlichte Parlamentsbeschluss alleine, Gesetze jedoch nur im Zusammenwirken erzielt werden können? Die verfassungsrechtlichen Grenzen für die gesetzliche Regelung einer Meinung mit einer konkreten Rechtsfolge tragen ihr Übriges dazu bei, dass in der Causa Aghet der schlichte Parlamentsbeschluss die einzige verfassungsmäßige Handlungsalternative war. 353

Luch, in: Morlok/Schliesky/Wiefelspütz, Parlamentsrecht, § 10 Rn. 54. Vgl. insgesamt zur Frage, inwieweit Gesetzgebung gegenüber der Exekutive zulässig ist und welchen Grenzen sie unterliegt Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts, S. 67 ff. 354

D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse

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IV. Politische Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse im Fokus Der schlichte Parlamentsbeschluss ist zulässig und entfaltet keine rechtliche Bindungswirkung. Dies gilt für den Armenier-Beschluss ebenso wie für alle anderen schlichten Parlamentsbeschlüsse, die außerhalb einer verfassungsrechtlichen Grundlage ergehen. Besonders deutlich wird aber am Falle des Armenier-Beschlusses, dass schlichte Parlamentsbeschlüsse eine extrajuristische Dimension haben, die die Einordnung in juristische Kategorien erschwert. Der Armenier-Beschluss hat in besonderem Umfang eine solche Wirkung entfaltet. Als Reflexion dieser Wirkung ist es, angesichts der obigen juristischen Erkenntnisse überraschend, erneut zur Eröffnung juristischer Fragestellungen gekommen.355 So hat der in Frage stehende Parlamentsbeschluss deutliche Spuren in der aktuellen Zeitgeschichte hinterlassen. Es spricht für die Bedeutung des Deutschen Bundestags, dass ein Handeln des Parlaments innerhalb der Grenzen des rechtlich Möglichen und Erlaubten, das keine Handlungspflichten und keine Unterlassungspflichten begründen zu vermag, eine derart starke Wirkung hat, dass nicht nur die realpolitische, sondern auch die rechtspolitische und sogar rechtsdogmatische Diskussion Aufschwung erfahren hat. Dies verdeutlicht, dass die Bedeutung schlichter Parlamentsbeschlüsse über ihre akut verrechtlichten Elemente hinaus auf weiteren Elementen fußt. Im Zusammenhang mit der Debatte um schlichte Parlamentsbeschlüsse im Konkreten sind diese Zusammenhänge immer wieder erkannt und mit verschiedenen Begriffen belegt worden; die tatsächliche Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse356 oder die politische Wirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse357 ist gängig. Ebenso wird die Rechtserheblichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse in Abgrenzung zur Rechtsverbindlichkeit in den Vordergrund gestellt.358 Inhaltlich meinen jedoch all diese Ausführungen das gleiche Element des schlichten Parlamentsbeschlusses. Stünde diese Wirkung außerhalb des Rechts, beständen schlichte Parlamentsbeschlüsse aus einem Teil, der der rechtlichen Bewertung entzogen wäre. Dabei muss in jeder Betrachtung schlichter Parlamentsbeschlüsse im Zentrum stehen, dass die politische Wirkung das wesentliche Element des schlichten Parlamentsbeschlusses ist. Es ist genau diese Tatsache, die für die rechtswissenschaftliche Betrachtung zwangsläufig zu Schwierigkeiten führt, da die Untersuchung aus Rechtsperspektive den schlichten Parlamentsbeschluss nicht hinreichend zu erfassen vermag. Die Betrachtung politischer Akte ist dabei der rechtswissenschaftlichen Betrachtung nicht fremd. Schließlich ist jedes Recht immer auch Ergebnis ausgeführter Politik. Die Problematik bei der Betrachtung des schlichten Parlamentsbeschlusses mit juristischem Fernstecher ist jedoch, dass dieser auf rechtlich Wirkungen kalibriert ist und bleiben muss und so politische Wirkungen nur als eine 355

Vgl. dazu Degenhart, NJW-aktuell 2016, 7. Allgemein siehe auch oben 3. Teil A. Sellmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß, S. 44. 357 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 747; Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 221 Fn. 1. 358 Lerche, NJW 1961, 1758. 356

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3. Teil: Anerkennung in Form des schlichten Parlamentsbeschlusses

unfokussierte Randerscheinung erfasst. Trotzdem wäre es verfehlt, bei der Auseinandersetzung mit dem schlichten Parlamentsbeschluss Recht und Politik in ein kontradiktorisches Verhältnis zu setzen.359 Mag dies in juristischer Retortensicht zur Klarheit der Betrachtung nützlich sein, widerspricht es der Verfassungswirklichkeit. Die fehlende Bindungswirkung schlichter Parlamentsbeschlüsse macht diese nicht zu einem rechtlichen Nullum.360 Der schlichte Parlamentsbeschluss ist nicht auf die Erzeugung von Recht gerichtet. Er bewegt sich auf dem Spektrum der rechtlichen Bindungswirkung hoheitlicher Handlungsformen in einem Bereich juristischer Unverbindlichkeit, aber politischer Autorität. Wie unzureichend dabei das juristische Vokabular zur Beschreibung der politischen Vorgänge ist, zeigt die Betonung der Unverbindlichkeit. So lässt sich mit dem Begriffspaar verbindlich – unverbindlich nur eine binäre Unterscheidung treffen.361 Versucht man jedoch, die politische Realität des Armenier-Beschlusses, die von nachdrücklicher Aufforderung des Parlaments gefolgt von Distanzierung in der Sprache einer Nichtdistanzierung durch die Bundesregierung gezeichnet ist, mit der juristisch-binären Terminologie abzubilden, baut man für den Parlamentsbeschluss ein Prokrustesbett. Zwangsläufig ist damit nicht nur der Verlust an politischer Bedeutung verbunden, sondern auch die Fehldeutung des Kernelements des schlichten Parlamentsbeschlusses. Wie windschief die rechtliche Einordnung zur politischen Wirklichkeit hängt, zeigt allein zuletzt die Tatsache, dass der schlichte Parlamentsbeschluss seine politischen Wirkungen auch bei seiner Rechtswidrigkeit entfalten würde. Der schlichte Parlamentsbeschluss lebt deshalb auch weniger im Bereich juristischer Kompetenzverteilung – wie oben ausführlich erläutert, bewegen sich schlichte Parlamentsbeschlüsse in aller Regel im Bereich parlamentarischer Kompetenzen. Der Machtfrage enthoben ist der schlichte Parlamentsbeschluss jedoch keineswegs. Im Gegenteil ist es vor allem das politische Kräfteringen auf diplomatischem Parkett, das insbesondere die Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs zu dem oben dargestellten Politkrimi werden lassen konnte. Das politische Spannungsfeld zwischen der Entscheidung des Bundestages trotz über zehnjähriger Verhaltungen der Bundesregierung auf der einen Seite und der als Folge faktisch problematischen Lage des Gesamtstaates gegenüber der Türkei, das die Bundesregierung handhaben musste, 359

Butzer, AöR 119 (1994), 61, 91. IdS. auch Degenhart, NJW-aktuell 2016, 7. Am Beispiel der Debatte im Bundestag über den Bau des „Schnellen Brüters“ (ein Kernkraftwerk) in Kalkar illustriert Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 163 f. anschaulich, wie sich ein schlichter Parlamentsbeschluss auch auf Fragen im Bereich landesrechtlicher Kompetenzen auswirken kann, ohne dabei der zuständigen Landesregierung die Verantwortung für die konkrete Entscheidung zu nehmen. Siehe dazu auch BVerfG, Beschluss vom 8. August 1978, 2 BvL 8/77, BVerfGE 49, 89. 361 Zur Bildung von Begriffspaaren im Bereich schlichter Parlamentsbeschlüsse im Allgemeinen siehe oben 3. Teil A. II. 2. 360

D. Tatsächliche Wirkungen schlichter Parlamentsbeschlüsse

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zeichnet ein paradoxes Bild: Die historisch richtige Entscheidung wirkt im politischen Kontext zu anderen Staaten ob der die erwarteten Konsequenzen deutlich übersteigenden tatsächlichen Konsequenzen sogar unsouverän. Jenseits binärer Betrachtungen bietet das politische Wesen des schlichten Parlamentsbeschlusses aber auch Chancen. Durch den schlichten Parlamentsbeschluss steht dem Parlament eine Handlungsoption zur Verfügung, die der Regierung vorab den politischen Mehrheitswillen signalisieren kann.362 Die Reaktion der Bundesregierung auf die Wahrnehmung des Bundestages seiner Kompetenz durch den Armenier-Beschluss kann zwar zum verfassungsrechtlichen Problem stilisiert werden, weil die Bundesregierung sich auf der Ebene der Staatsleitung vom Bundestag distanziert hat. Die Betrachtung des politischen Widerspruchs zwischen dem konfligierenden staatlichen Innenwillen zwischen den Verfassungsorganen und der Wahrnehmung des staatlichen Willens nach außen, wird dadurch jedoch verkürzt. Seine Grenzen erreicht die juristische Betrachtung auch, weil sie sich auf Konfliktregelungen wie den lex posterior Grundsatz verlässt, um eine Pluralität der Quellenlage zu betrachten. So aber presst man zehn Jahre parlamentarischer Arbeit in eine Anerkennungs-Nichtanerkennungs-Dichotomie, die verkennt, welchen Willen der Bundestag zu der Frage vor dem endgültigen Anerkennungsbeschluss geäußert hat. Das Parlamentsrecht zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass es in weiten Teilen lex de iure imperfecta, de politicis perfecta ist.363 Handlungen des Parlaments können in der politischen oder auch metajuristischen Sphäre verbleiben, ohne dass dies ihre Unzulässigkeit zur Folge hätte. Mögen sie auch keine rechtliche Verbindlichkeit erzeugen, kann jedoch die gesellschaftliche Verbindlichkeit in den Vordergrund treten und dadurch Handeln auch der Regierung entgegen einer Parlamentsentscheidung seltsam anmuten lassen. Gerade diese Distanzierung illustriert, wie unvollständig und widersprüchlich die juristische Einschätzung ist. Wenn sich die Bundesregierung vom Handeln des Bundestags distanziert, kann dies aus juristischer Perspektive unproblematisch sein, gleichzeitig aber politisch bedenklich.

362

H. H. Klein, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, § 50 Rn. 14. Achterberg, DVBl 1974, 689, 701; ders., Parlamentsrecht, S. 747; ders., Das rahmengebundene Mandat, S. 18; ders., DÖV 1975, 833, 837. 363

4. Teil

Parlamentarischer Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte Mit der Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs ist der Deutsche Bundestag einer 100 Jahre alten Forderung nachgekommen und hat gleichzeitig eine genauso lange, aber insbesondere in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten intensiv geführte Debatte um ein offizielles Ergebnis angereichert. Der Umgang mit historischen Ereignissen ist für die Bundesrepublik Deutschland kein Novum und zeichnet die deutsche Nachkriegsrechtsgeschichte aus. Die parlamentarische Anerkennung des Aghet fügt sich daher in eine bundesdeutsche Tradition vergangenheitsbezogener Politik ein. Insofern stellt sich die Frage, wie die Anerkennung des Aghet den Fundus vergangenheitsbezogener Politik ergänzt. Die Besonderheit dieses Falles ist evident. Bis dato war die Reflexion historischen Unrechts in der Bundesrepublik Deutschland stets auf die Bewältigung der deutschen Geschichte fokussiert. Die Anerkennung des Aghet dagegen hat mit der Auseinandersetzung mit einem in weiten Teilen externen Völkermord ein neues Kapitel aufgeschlagen.1 Dies bewirkt, dass im Gegensatz zur Betrachtung des Unrechts der deutschen Diktaturen nicht lediglich eine historische deutsche Realität politisch anerkannt wurde. Gegenstand der „parlamentarischen Geschichtsschreibung“ ist in der Causa Aghet primär das Handeln eines anderen Staates. Insofern unterscheidet sich diese „Geschichtsschreibung“ qualitativ von der staatlichen Deutung eigener Geschichte. Die Kritik an diesem Eingriff in die Historiographie hat sich einerseits auf das geschichtlich geprägte Vorgehen des Bundestags selbst bezogen, andererseits aber auch auf den Zeitpunkt, zu dem der Bundestag schließlich tätig geworden ist.2 Dies ist von besonderer Bedeutung, weil die in Frage stehende Geschichte bei der Behandlung deutschen Unrechts nie in dem Umfang und vor allen Dingen nie auf staatlicher Ebene streitig gewesen ist. Es geht daher zumindest aus Sicht der Türkei mehr als sonst um echte Geschichtsschreibung als um eine Rezeption unstreitiger Geschichte im Jetzt. Geschichte als Argumentations- und Begründungstopos für das eigene Handeln spielt im Deutschen Bundestag jedoch gleichsam und im Allgemeinen eine nicht zu unterschätzende Rolle.

1 Im Einzelnen zum Verhältnis des Deutschen Kaiserreichs zum Aghet siehe oben 2. Teil A. IV. 2 Siehe dazu gleich unten 4. Teil C.

A. Historische Argumentationsmuster im Deutschen Bundestag

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A. Historische Argumentationsmuster im Deutschen Bundestag Historische Argumentationsmuster können als Teil des politischen Alltags bezeichnet werden.3 Legitimation sowie Nützlichkeit solcher Argumentationsmuster sind insbesondere von der Geschichtswissenschaft immer wieder kritisch hinterfragt worden.4 Der Anerkennung der positiven Wirkung historischen Wissens in der Politik5 begegnet die Befürchtung, historische Erkenntnisse seien in der Hand geschichtswissenschaftlicher Laien dazu verdammt, aufgrund des unwissenschaftlichen Umgangs mit Geschichte Schaden zu nehmen.6 Eine umfassende Darstellung aller historisch beeinflussten Debatten im Bundestag ist ob der Fülle der Debatten selbst und der unterschiedlichen Themen in diesem Rahmen nicht möglich und bisher auch in anderem Rahmen nicht erfolgt.7 Bestimmte Argumentationsmuster zur Handlungsorientierung anhand vergangener Erfahrungen können jedoch durchaus herausgefiltert werden, wenngleich aus ge-

3

Langeloh, Erzählte Argumente, weist nach, dass historische Argumentation schon im antiken Griechenland, antiken Rom und im Mittelalter alltäglicher Teil politischer Arbeit war. 4 Etwa Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, 26 ff. 5 Etwa Kosthorst, Zeitgeschichte und Zeitperspektive, in: ders. (Hrsg.), Zeitgeschichte und Zeitperspektive, Nationalsozialismus – Widerstand – Einheit der Nation im Geschichtsbewusstsein der Bundesrepublik Deutschland, S. 11, 14 f. 6 Eich, Die mißhandelte Geschichte, Historische Schuld und Freisprüche, passim. Siehe insgesamt zur Kritik der Interdisziplinarität zwischen Rechts-, Politik- und Geschichtswissenschaften unten 4. Teil C. 7 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 4, mit kritischen Bemerkungen zur Ableitung eines allgemeinen Konsensstrebens des Bundestages aus beispielhaft gewählten einzelnen Debatten, S. 5. Punktuelle Untersuchungen gibt es jedoch durchaus, die Untersuchung von G. Meyer, Offizielles Erinnern und die Situation der Sinti und Roma in Deutschland, etwa beschreibt die parlamentarische Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Einfluss auf die Lage der Sinti und Roma in der Bundesrepublik Deutschland, kann einen direkten Zusammenhang ob der Fülle weiterer Faktoren jedoch im Ergebnis lediglich vermuten, ebenda, S. 303. Für eine spezielle Analyse mit Blick auf die Weimarer Republik siehe außerdem Ullrich, Der Weimar-Komplex, passim. Ebenfalls politikwissenschaftlich untersucht sind die Veränderungen von Systemen im Laufe der Geschichte, Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 12. Vgl. zu den verschiedenen Verständnissen von „politischer Geschichte“, Eichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation, Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, S. 32 f. m.w.N. Krit. Hübinger Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit: eine Intellektuellengeschichte, S. 48; einige systematische, aber unvollständige Untersuchungen sind bei Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, 2001, zu finden. Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit: eine Intellektuellengeschichte, S. 48 Fn. 9, vermisst jedoch in dieser Untersuchung die Arbeiten von Gervinus und Webers Vorlesung über Allgemeine Staatslehre und Politik von 1920.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

schichtswissenschaftlicher Perspektive weitgehende Unkenntnis über die konkreten Mechanismen der Verarbeitung vergangener Erfahrungen besteht.8 Geschichte zeigt sich im Deutschen Bundestag im Wesentlichen auf zwei Arten. Historische Ereignisse als solche sind Gegenstand der politischen Debatte – um diesen Fall handelt es sich bei der Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs. Geschichte wird im Bundestag jedoch auch mit aktuellen Ereignissen und Fragen in einen narrativen Zusammenhang gebracht. Wird Geschichte als Argumentationsgrundlage genutzt, ist Zweck nicht die Begründung historischer Plausibilität, sondern diese wird vorausgesetzt.9 Zur Sinnbildung werden narrative Strukturen und vergangene Inhalte derartig miteinander in Verbindung gebracht, dass ein historischer und damit argumentativ nutzbarer Zusammenhang entsteht.10 Die vier Idealtypen historischen Erzählens nach Rüsen sind anhand zahlreicher Beispiele auch in der einschlägigen Argumentationsstruktur des Bundestages wiederfindbar.11 Rüsen unterscheidet zwischen (1) traditionellem Erzählen, (2) exemplarischem Erzählen, (3) kritischem Erzählen und (4) genetischem Erzählen. Während Ursprung und Tradition die dominierenden Ordnungs- und Deutungsmuster des traditionellen Erzählens bilden, welches ein Bewahren priorisiert, sucht das exemplarische Erzählen nach überzeitlichen Handlungsanleitungen.12 Beide Erzähltypen orientieren sich an der Vergangenheit mit dem Ziel von Kontinuität und Universalität; für die Zukunft wird also ebendas erwartet, was aus der Vergangenheit bereits bekannt ist.13 Das kritische Erzählen dagegen formuliert ein „klares ,Nein‘“ zu Traditionen, die vormals noch identitätsstiftend waren.14 Das genetische Erzählen schließlich sieht stets Chancen; die Zukunft hat das Potential die Vergangenheit zu überbieten, die wiederum das nötige Grundmaterial für eine solche Formung bildet.15 Kritisches und genetisches Erzählen bilden somit die Erzähltypen für Veränderung, Revolten, Revolutionen durch Denken in neue Richtungen und

8

Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 9. 9 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 37. 10 Rüsen, Historisches Erzählen, in: Bergmann/Fröhlich/Kuhn (Hrsg.), Handbuch der Geschichtsdidaktik, S. 44 ff. 11 Zahlreiche Beispiele finden sich in der Zusammenstellung von Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 59 ff. 12 Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders., Zeit und Sinn, S. 148, 153. 13 Krameritsch, Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, Zeithistorische Forschungen 2009 (3), 1, 4. 14 Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders., Zeit und Sinn, S. 148, 153. Krameritsch, Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, Zeithistorische Forschungen 2009 (3), 1, 4. 15 Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: ders., Zeit und Sinn, S. 148, 153.

A. Historische Argumentationsmuster im Deutschen Bundestag

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Forschung.16 Auch der Bundestag erzählt im Sinne eines argumentativen Debattierens im Sinne aller dieser vier Arten. Das kritische und genetische Erzählen sind dabei die Erzähltypen, die typischerweise beim Ringen in parlamentarischen Debatten auszumachen sind. Die Zielrichtung parlamentarischen Handelns ist zukunftsorientiert und damit zwangsläufig auf Veränderung ausgerichtet.17 Weniger charakteristisch für das Bild eines stetig nach Optimierung strebenden Parlaments, aber nicht weniger häufig sind die Erzähltypen, die den status quo als erhaltenswert voraussetzen. Beispielhaft für das traditionelle Erzählen steht etwa die Rede Helmut Kohls vom 17. Dezember 1976 anlässlich der Aussprache über die Regierungserklärung der neuen Bundesregierung:18 „Ich stelle mich bewusst in die Tradition des ersten Oppositionsführers im Deutschen Bundestag, in die Tradition Kurt Schumachers. Er sagte 1949 in seiner ersten Erwiderung auf die Regierungserklärung Konrad Adenauers, dass die Überbewertung der Regierung und die Abwertung der Opposition obrigkeitsstaatlichem Denken entspringe, dass Opposition – [sic!]19 Die Opposition ist nicht dann staatserhaltend, wenn sie durch die Regierung wohlwollend beurteilt wird. – Ich weiß nicht, warum Sie sich über diese Sätze Kurt Schumachers aufregen. Das sind doch keine parteipolitischen Sätze. Das sind staatspolitisch uns alle verbindende Sätze.“20

Kohl empfindet die ursprüngliche Aussage Schumachers als bis in die Gegenwart hineinreichende Norm des politischen Lebens, die die von 1949 bis 1976 vergangenen 27 Jahre unbeschadet überdauert hat.21 Das exemplarische Erzählen kann zahlreiche unterschiedliche Formen annehmen und in unzähligen Zusammenhängen auftreten.22 Der Bundestag nutzt solche Beispiele häufig mit Bezug auf Ereignisse 16

Krameritsch, Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, Zeithistorische Forschungen 2009 (3), 1, 5. 17 Vgl. zu den Zeitdimensionen der Gewaltenteilung Vgl. auch Husserl, Recht und Zeit, S. 42 ff.; Kirchhof, Verwalten und Zeit, in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, passim; Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, FS Isensee, 325, 333. Siehe dazu auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 90 ff. 18 Rede vom 17. Dezember 1976, 6. Sitzung des Deutschen Bundestages, abgedruckt in Teltschik (Hrsg.), Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente, S. 156 ff. Beispiel nach Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 59 f. 19 Kohl wurde durch einen Zuruf Wehners unterbrochen, der sagte: „Wenn Ihre Vorfahren Sie jetzt sehen würden!“, worauf Kohl erwiderte: „Aber, Herr Wehner, wir brauchen nicht unsere Ahnen. Uns genügt, wenn wir Sie sehen, wenn ich das so deutlich sagen darf.“ 20 Rede vom 17. Dezember 1976, 6. Sitzung des Deutschen Bundestages, abgedruckt in Teltschik (Hrsg.), Helmut Kohl: Bundestagsreden und Zeitdokumente, S. 156 ff. 21 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 59. 22 Es ist seit der Antike als rhetorische Argumentationshilfe gebräuchlich, Langeloh, Erzählte Argumente, passim; Beispiele für exemplarisches Erzählen finden sich insbesondere auch im Kirchenrecht, wenn der kanonische Text zur Ableitung allgemeiner Lebensdirektiven interpretiert wird, vgl. Krameritsch, Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, Zeithistorische Forschungen 2009 (3), 1, 4.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

oder Persönlichkeiten, ohne diese näher zu erläutern. Historische Ereignisse werden dabei häufig als Chiffren eingesetzt, die den Empfängern den Inhalt miterzählen, ohne dass er ausdrücklich miterzählt werden muss.23 Begriffe wie „Weimarer-Republik“24, „Drittes Reich“, „Korea-Krise“, Namen historischer Persönlichkeiten oder bestimmte Daten wie „20. Juli“ oder „17. Juni“ haben einen eindeutigen Bezugspunkt, der das gesellschaftlich verankerte Wissen um den Inhalt der zugrundeliegenden Geschichte nutzt und darüber hinaus in der Regel auch eine bestimmte Deutung über diesen Inhalt voraussetzt, der sich als gesellschaftlicher Konsens etabliert hat.25 Auch in der Debatte um die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern wurde jede der historischen Erzählformen genutzt. Naturgemäß lassen sich jedoch weniger allegorische Formen des historischen Erzählens ausmachen als direkte Bezüge zum Beschlussthema selbst. Der Bundestag bekräftigt etwa seinen Beschluss aus dem Jahre 200526 und greift damit auf ein klassisch traditionelles Erzählen zurück, das das Ergebnis des Beschlusses von 2005 auch für das Jetzt, zu diesem Zeitpunkt das Jahr 2016, für weiterhin richtig erklärt. Weiterhin nimmt der Bundestag exemplarisch Bezug auf die „[…] Mitschuld des Deutschen Reichs […]“27, „[…] die Gräben der Vergangenheit […]“28, „[…] die eigene historische Vergangenheit Deutschlands […]“29. „Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches […]“30. Weitere, auf Dritte bezogene kritische Äußerungen sind überwiegend positiv und dadurch zurückhaltend formuliert. Ihr kritischer Kern ist 23 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 131 f. Vgl. auch van Norden, Was machst Du für Geschichten, Didaktik eines narrativen Konstruktivismus, S. 233, der den Gegenwartsbezug des exemplarischen Erzählens durch „Ich erzähle von gestern für heute“ äußerst zugänglich beschreibt. Narrativisierung ist grundsätzlich ein Mittel zur Sinnstiftung, das zudem in literarischen Werken naturgemäß sehr häufig eingesetzt wird und im literaturwissenschaftlichen Bereich besonders konkret erforscht ist, vgl. etwa die Arbeiten von Speth, Dimensionen narrativer Sinnstiftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman; oder Lambrecht, Erzählen ist Macht. Als besonders prägend darf in diesem Zusammenhang auch das sinnstiftende Erzählen der Bibel angeführt werden, vgl. etwa Taschner, Die Mosereden im Deuteronomium, die sogar konkrete Handlungsanleitungen bereit halten. Krit. zur poetologischen Metatheorie der Geschichtsschreibung Whites, Die Bedeutung der Form, Erzählstrukturen in der Geschichtsschreibung; und interdiskursiven Verflechtungen im Bereich Historik, Kriminalistik und Kriminalliteratur Saupe, Der Historiker als Detektiv – Der Detektiv als Historiker, Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, S. 25 f. 24 Umfassend zum Einfluss der „Lehren aus Weimar“ auf die Politik der Bundesrepublik Deutschland Ullrich, Der Weimar-Komplex. 25 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 131 f. 26 BT-Drs. 15/5689. 27 BT-Drs. 18/8613, S. 1. 28 BT-Drs. 18/8613, S. 2. 29 BT-Drs. 18/8613, S. 1. 30 BT-Drs. 18/8613, S. 1.

A. Historische Argumentationsmuster im Deutschen Bundestag

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nur durch Auslegung zu extrahieren. Die Beispiele weisen somit auch exemplarische Elemente auf. Der Bundestag „[…] begrüßt die Zunahme von Initiativen in den Bereichen Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur auch in der Türkei […]“31 und kritisiert damit konkludent die davor und insgesamt mangelnde Aufarbeitung durch die Türkei. Auch richtet sich der Bundestag an die Bundesregierung und „[…] ermutigt die Bundesregierung weiterhin, dem Gedenken und der Aufarbeitung […] Aufmerksamkeit zu widmen“32 und kritisiert gleichsam die mangelnde Aufmerksamkeit der Bundesregierung für die Causa Aghet. Diese Aussagen formulieren zudem auch schon Visionen, die in der folgenden Aufforderung an die Bundesregierung konkretisiert werden, jedoch ihren Fixpunkt in dem in dem Beschluss angelegten Konsens finden sollen. Von einem gesellschaftlichen Konsens bezüglich der Deutung der oben ausführlich dargestellten Ereignisse schien man bei Lektüre historischer Fachliteratur ausgehen zu können, jedoch offenbart die Untersuchung der Causa Aghet auch das asymmetrische Meinungsbild zwischen informierter Fachöffentlichkeit, medialer Berichterstattung, Leugnung und Desinteresse. Der Deutsche Bundestag hat den Völkermord an den Armeniern nicht einfach nur als solchen anerkannt, sondern seine Geschichte in allen Debatten und Anträge ausführlich erzählt. Damit – und das ist der springende Punkt in der Causa Aghet – hat er aber auch gleichzeitig darauf hingearbeitet, die gerade nicht unbewusst mit dem reinen Wahrnehmen des Begriffs mitgedachte Geschichtsdeutung zum über den gesellschaftlichen Konsens hinaus ebenso verankerten gesellschaftlichen Wissen zu erklären. Dies offenbart die oben schon dargestellte Widersprüchlichkeit des Aghet, der immer wieder ausdrücklich gegen das Bestreiten abgesichert wird, gleichzeitig aber wissenschaftlich nicht ernsthaft bezweifelt wird.33 Debatten im Bundestag sind also in zahlreichen Fällen von historischen Argumentationsmustern gekennzeichnet, die zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden. Das Bewusstsein für die eigene Geschichte, also die Geschichte des Bundestages selbst ist dabei ebenso erkennbar wie das Bewusstsein für parteipolitische Geschichte aber auch der Geschichte der Bundesrepublik in Gänze. In ihrem Ausgangspunkt inhaltlich davon losgelöst in der Methode der Auseinandersetzung wiederum aber von den klassischen Erzähltypen geprägt, ist der Umgang des Bundestages mit historischen Ereignissen, insbesondere wenn dieser sich zu diesen ausdrücklich verhält.

31 32 33

BT-Drs. 18/8613, S. 2. BT-Drs. 18/8613, S. 2. Siehe ausführlich oben 2. Teil A. II.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik Die Bewältigung von Vergangenheit durch den Deutschen Bundestag berührt nicht nur rechtliche Zuständigkeitsfragen, sondern bewegt sich schon auf Ebene der involvierten Disziplinen im Spannungsfeld von Geschichtswissenschaft, Politik und Recht. Der politische Umgang mit historischen Ereignissen ist regelmäßig von rechts- wie geschichtswissenschaftlicher Forschung getragen, hängt jedenfalls aber immer mit diesen zusammen.34 Geschichte – Politik – Recht bilden den Dreiklang der in Vergangenheitsbewältigung involvierten Disziplinen. Alle drei Bereiche orientieren sich dabei an denselben Zielvorgaben: Wahrheit – Legitimität – Gerechtigkeit.35 Jede der Disziplinen folgt aber eigenen Annahmen und Methoden. Ihre Überschneidungen sind deshalb auf deutliche Kritik gestoßen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive wird die „diffuse Selbstverständlichkeit“ kritisiert, mit der Geschichte und Politik in Zusammenhang wahrgenommen werden.36 Auch einer Einmischung der Geschichte in die Rechtsprechung wird zum Teil ablehnend begegnet.37 Insbesondere Kritik an Historikern, die im Rahmen ihrer Forschung juristische Bewertungen vornahmen und somit quasi wie Richter tätig wurden, aber auch an Richtern, die ihre eigenen Vorstellungen von Geschichte zur Grundlage ihrer Tätigkeit machten, erklärt die Forderung nach klaren Abgrenzungskriterien.38 Die Abgrenzung stößt dabei regelmäßig auf das Problem, dass Schnittpunkte der drei Disziplinen Geschichte, Politik und Recht immer wieder auftreten.39 Die Untersu34 Schulze Wessel, Geschichte vor Gericht, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 9, 13. 35 van Laak, Widerstand gegen die Geschichtsgewalt, Zur Kritik an der „Vergangenheitsbewältigung“, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 11. 36 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 1. Insgesamt zum Meinungsstand zu politischer Wissenschaft im Historismus Hübinger, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit: eine Intellektuellengeschichte, S. 46 ff. Außerdem, für diese Arbeit jedoch nicht relevant, sind auch Stimmen zu verzeichnen, die aus der entgegengesetzten Perspektive den Rückgriff auf Gerichtsakten und Urteile zum Verständnis historischer Ereignisse insofern kritisieren, als diese weder ein realistisches Bild von der Vergangenheit zu zeichnen geeignet sind noch an die stilistischen Vorstellungen der Geschichtswissenschaft heranzureichen vermögen, Bloch/Schöttler, Apologie der Geschichtswissenschaft oder der Beruf des Historikers, S. 182 ff. Vgl. im Bereich der Verfassungsgeschichte auch Waldhoff, Stand und Perspektiven der Verfassungsgeschichte in Deutschland aus Sicht der Rechtswissenschaft, in: Neuhaus (Hrsg.) Verfassungsgeschichte in Europa, Heft 18, S. 145, 168 ff. 37 Forsthoff, NJW 1965, 574 f. 38 Vgl. van Laak, Widerstand gegen die Geschichtsgewalt, Zur Kritik an der „Vergangenheitsbewältigung“, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 11, 12 f. Blankenagel bezeichnet solche Standortwechsel eingängig als „Fremdgehen“, Tradition und Verfassung, S. 307. 39 Vgl. in diesem Zusammenhang auch zu politisch motivierten Entscheidungen durch Gerichte Lamprecht, NJW 2017, 3495.

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik

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chung der Debatte um die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hat das disziplinäre Spannungsfeld, in dem der Deutsche Bundestag sich mit einem historischen Ereignis beschäftigt hat, offengelegt. Die historische Vorarbeit war insofern ebenso von Bedeutung wie die politische Auseinandersetzung in Form von Anträgen und Debatten. Der daraus resultierende Armenier-Beschluss setzt zwar keine Rechtsfolge, wirft jedoch die oben bearbeiteten Fragen nach Zuständigkeit und Verbindlichkeit – somit die Fragen nach rechtlichen Grenzen parlamentarischen Handelns – auf. Schwierigkeiten bereitete im Deutschen Bundestag außerdem das Verhältnis des Aghet zum materiellen Strafrecht und dadurch auch das Verhältnis parlamentarischer und gerichtlicher „Urteile“. Der Armenier-Beschluss erlaubt es, die Grenz- und Schnittpunkte genauer zu betrachten.

I. Vergangenheitspolitik im Spannungsfeld der Disziplinen Der Armenier-Beschluss zeigt zunächst die Schnittstelle von Politik und Geschichte, denn der Deutsche Bundestag hat, wie oben gezeigt, im Rahmen der Debatte um die parlamentarische Anerkennung des Völkermords an den Armeniern Geschichtspolitik betrieben. Diese bezeichnet die Nutzung von historischen Ereignissen zur Herstellung einer legitimierten politischen Gegenwart.40 Die Debatte um den Armenier-Beschluss, zeigt in den verwendeten Formen historischen Erzählens vielfach und vielschichtig, wie Geschichte zur Fundierung der eigenen politischen Position verwendet wird.41 Die Nutzung von Geschichte zur Stärkung politischer Positionen ist aber wegen des steten Tatsachenbezugs der Geschichtswissenschaft immer selbst politischer Natur, wenngleich Geschichte mehr Zwecke hat, als Erkenntnisse über vergangene Ereignisse zu generieren.42 Geschichtspolitik ist Politik und keine Geschichtswissenschaft. Darüber hinaus hat sich der Deutsche Bundestag durch den Armenier-Beschluss zum Ziel genommen, belastete Vergangenheit zu bewältigen.43 Vergangenheitsbe40 E. Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung, 1948 – 1990. 41 Siehe dazu oben 4. Teil. 42 Prägend insofern Steinbach, Widerstand im Widerstreit. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in der Erinnerung der Deutschen, passim. Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 1. Eingang in die Geschichtswissenschaft gefunden hat Geschichte als Argument im Übrigen erst im Nachgang zum Historikerstreit, Becker, Geschichtspolitik in der „Berliner Republik“, Konzeptionen und Kontroversen, S. 129. 43 Für historisch orientierte Politik werden teilweise zwei Konzepte unterscheiden, Geschichtspolitik und Vergangenheitspolitik Der Begriff der Vergangenheitspolitik geht zurück auf Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit; krit. zum Begriff als „begriffslos absurd“ Schmid, Konstruktion, Bedeutung, Macht, Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik, in: Heinrich/Kohlstruck (Hrsg.), Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, S. 75, 77. Siehe außerdem

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

wältigung in diesem Sinne findet dabei in der Regel als Konglomerat der drei Disziplinen Geschichte, Politik und Recht statt. Auch dies zeigt der Armenier-Beschluss, der Kernbeispiel für Vergangenheitspolitik des 18. Deutschen Bundestages ist. Wenn dabei rechtsfolgenlos die politische Bekräftigung bestimmter historiographischer Erkenntnisse durch den Bundestag im Raum steht, etwa wenn er den Aghet als Völkermord bezeichnet, ist allein das Verhältnis von Politik und Geschichte, nicht das Verhältnis zum Recht betroffen. Im Gegensatz zu rechtsförmigen Bewertungen, wie etwa dem Armenier-Beschluss, liefern geschichtswissenschaftliche „Urteile“ über historische Ereignisse intellektuelle Beiträge zu nicht auf einen Abschluss gerichtete Debatten.44 Begreift man Geschichte mit Droysen als dynamisches Konzept, ist insbesondere bei staatlicher Einmischung die Idee einer nationalpädagogischen Geschichtsschreibung zur Formulierung eines bestimmten Bildes der Vergangenheit nicht weit.45 Einen unbedingten Objektivitätsanspruch, wie ihn Ranke noch vertreten hatte, wird man in einem solchen Verständnis von Geschichte vergeblich suchen.46 Letzte Wahrheiten und letzte Beurteilungsmaßstäbe werden auch aus einer demokratisch legitimierten Entscheidung nicht herausfallen.47 In der Demokratie ist deshalb insbesondere der schlichte Parlamentsbeschluss stets revidierbar. Geschichte ist insofern eine Kombination aus vergangener Wirklichkeit und dem Bild, das eine Gesellschaft sich von ihr macht.48 Der Einbau inhaltlicher Kontrollmaßstäbe kann gewährleisten, dass nicht beliebig manipulierbare Inhalte Schulze Wessel, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 9, 13. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht ungeeignet zur Beschreibung sind Begriffe wie Erinnerungs- oder auch Gedächtnispolitik, die den Fokus zu sehr auf die persönliche Komponente legen, sich aber in der Geschichtswissenschaft ohnehin nicht durchgesetzt haben, Staudt, Strategien des Gehörtwerdens, S. 45 f. 44 Schulze Wessel, Geschichte vor Gericht, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 9, 10. Vgl. auch Steinbach, Zur Geschichtspolitik, in: Kocka/Sabrow (Hrsg.), Die DDR als Geschichte, Fragen, Hypothesen, Perspektiven, S. 159, 161, der die Legitimation politischer Entscheidungen durch Geschichte, die wiederum Kritikern der Position die Legitimationslast für ihre Kritik auferlegt, als Wesensmerkmal der Geschichtspolitik herausstellt. 45 Vgl. Droysen, Historik, § 93, abgedruckt in Leyh, Peter/Blanke, Horst Walter, Johann Gustav Droysen, Historik 1. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesung (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), S. 448 f. Ausführlich zum Einfluss Droysens auf die moderne Geschichtswissenschaft Rebenich/Wiemer, Johann Gustav Droysen: Philosophie und Politik – Historie und Philologie, S. 17 ff. Krit. insg. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, 1971. 46 von Ranke/Dotterweich, Vorlesungsanleitungen, Idee der Universalhistorie, Bd. IV, S. 75 und passim; vgl. auch Kessel, Rankes Idee der Universalhistorie, HZ 178 (1954), 296. Vgl. auch van Laak, Widerstand gegen die Geschichtsgewalt. Zur Kritik der Vergangenheitsbewältigung Frei, Einleitung, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, S. 11 ff. 47 Vgl. Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 316. Siehe dazu auch Janssen, Über die Grenzen des legislativen Zugriffsrechts, S. 192; Gusy, AöR 106 (1981), 329, 337 ff.; Walter, VVDStRL 29 (1971), 91, 99 f.; Roellek, VVDStRL 29 (1971), 99 f. 48 Steinbach, APuZ B 28/2001, 1, 6. In diesem Sinne auch Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 303 ff.

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik

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Legitimität bestimmter Deutungen und Identitäten schaffen.49 Nur die Geschichtswissenschaft aber ermöglicht einen Erkenntnisgewinn „lege artis“,50 zu dem Parlamente nicht in der Lage sind und im Übrigen auch nicht Gerichte. Dies ist insofern auch nicht Aufgabe dieser Organe. Eine Einmischung in diese Funktionen ist daher zumindest geschichtswissenschaftlich bedenklich. Damit geht jedoch – gerade angesichts aufkommender Tendenzen der Postfaktizität51 – nicht die Forderung einer Entkopplung des Politischen von der historischen Realität einher. Das Wahrheitsstreben wird man auch dem Parlament nicht absprechen können, denn dies würde bedeuten, das Lügen als Gegenbegriff ins Feld zu führen.52 Doch Legitimation sozialer Wirklichkeit ist die Kombination von Werten und Wissen, wobei das Wissen gegenüber dem Werten das primäre Element darstellt.53 Dann aber wird deutlich, dass Geschichtswissenschaft Grundlage jeder parlamentarischen Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen sein muss. Die eigene Funktionslogik von Geschichtswissenschaft und Politik schreibt auch das jeweilige Handeln der Akteure vor.54 Legitimationsprobleme ergeben sich dann, wenn die Entscheidung Identitätsprobleme für Individuen oder Gruppen aufwirft, auch wenn diese nicht Entscheidungsadressaten sind.55 Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern kann in diesem Sinne durchaus als Angriff auf die kollektive Identität der Türkei verstanden werden. Eine legitime Entscheidung ist jedoch auch bei Aufkommen solcher Identitätsprobleme nicht ausgeschlossen.56 In diesem Rahmen hat Politik vor allem dann ihren Auftritt, wenn geschichtswissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über Ereignisse in die Gegenwart zurückkehren, weil erst eine offizielle Wertung aus Stoff für intellektuelle Diskussionen über Erinnerung und Moral ein für die Opfer brauchbares Ergebnis generiert.57 Der Armenier-Beschluss hat in die Kluft zwischen zwei extremen Formen von Vergangenheitsbewältigung und damit einhergehenden Geschichtsbewusstseins der Rechtsnachfolgerstaaten zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei geschlagen. Dabei steht die Leugnung einerseits der Anerkennung andererseits 49 Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 316 unter Bezugnahme auf Luhmanns Opportunismus. 50 Fischer, Wahrheit, Konsens und Macht, in: Fischer/Parthey (Hrsg.), Gesellschaftliche Integrität der Forschung, S. 9. 51 Siehe dazu auch unten 4. Teil D. 52 Mocek, Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Demokratie, in: Fischer/ Parthey (Hrsg.), Gesellschaftliche Integrität der Forschung, S. 59, 60. 53 Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 305. 54 Mocek, Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Demokratie, in: Fischer/ Parthey (Hrsg.), Gesellschaftliche Integrität der Forschung, S. 59, 62. 55 Vgl. Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 319. 56 Vgl. Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 319 mit umfassender Darstellung und Auseinandersetzung mit der rechtlichen sowie soziologischen Grundlagen von Legitimität, S. 255 ff. 57 Vgl. Steinbach, APuZ B 28/2001, 1, 4.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

diametral gegenüber. Die intensive Auseinandersetzung Deutschlands mit der eigenen und, soweit diese tangiert ist, auch fremder Geschichte und die ebenso intensive Verleugnung der eigenen Geschichte der Türkei hat ausgerechnet durch die Anerkennung durch den Deutschen Bundestag einen größeren Reaktions- und Verteidigungsdruck der Türkei ausgelöst als die zahlreichen vorangegangenen Anerkennungsakte unbeteiligter Drittstaaten. Die historische Bewertung des eigenen Handelns durch eine nach ihrer eigenen Auffassung mitschuldige Partei58 stellt das Element offenkundiger historischer Tatsachen besonders heraus und stellt damit wohl auch einen größeren Angriff auf die türkische Identität dar als andere Anerkennungsakte.59 Dies ist ein Element der, aber gewiss nicht die einzige Erklärung für die weitreichenden Folgen des Armenier-Beschlusses des Deutschen Bundestages. Der scheinbar unüberwindbare Zustand zwischen der Forderung nach Objektivität von Geschichte einerseits und der Formung der Wirklichkeit andererseits zeigt sich daher im Falle der Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs 1915/16 besonders deutlich. Die lange Anerkennungsgeschichte konnte nur dadurch das oben beschriebene Ausmaß erreichen, dass der Wahrheitsgehalt des Vorwurfs des Völkermords durch die Türkei immer wieder in Frage gestellt wird. Die Anerkennung des Aghet als Völkermord hat die Kluft zwischen Wahrheitsanspruch des armenischen Volkes und der Wirklichkeitsformung überwunden. Die staatliche Feststellung, es habe sich um einen Völkermord gehandelt, beeinflusst die gesellschaftliche Wahrnehmung in erheblichem Maße. Die Selektion des Begriffs „Völkermord“ legitimiert dabei unter Ausschluss anderer Möglichkeiten als richtig, wie der Deutsche Bundestag die Ereignisse benannt hat.60 Der Armenier-Beschluss ist insofern Paradebeispiel für einen politischen Umgang mit Geschichte, der die Geschichtsschreibung weiterhin der Geschichtswissenschaft überlässt; sich jedoch trotzdem an ihren Erkenntnissen orientiert. Er ist daher im Angesicht postfaktischer Politik von besonderer Bedeutung.

II. Aufarbeitung durch Gerichte Das Verhältnis von historischer Forschung und der gerichtlichen Aufarbeitung von Geschichte steht in einem ähnlichen Verhältnis wie die Geschichtswissenschaft zur Politik. Weder Gerichte noch der Deutsche Bundestag betreiben historische Forschung.61 Wenn Recht in Deutschland auf historisches Unrecht reagiert, stellt sich deshalb in der Regel die Frage nach dem Umgang des Rechtsstaats mit dem Handeln totalitärer Unrechtsstaaten. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht dann, inwiefern die 58

Vgl. BT-Drs. 18/8613, S. 2. Vgl. dazu auch oben 1. Teil A. 60 Vgl. zur Legitimation durch sprachliche Vermittlung Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 306. 61 Siehe im Einzelnen sogleich und 4. Teil B. III. und 4. Teil B. IV. 59

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik

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moderne Idee von Recht auch leistungsfähig ist, wenn es um die – meist strafrechtliche – Bewältigung der Vergangenheit geht. Prominenteste Beispiele sind die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Unrechts wie auch des Unrechts der DDR. Kern ist die Frage nach der Transformation eines seinerzeitigen Rechtszustandes in einen jetztzeitigen Unrechtszustand. Das Konzept der Vergangenheitsbewältigung ist untrennbar mit der Identität des deutschen Nachkriegsstaates verbunden. Der Begriff der Vergangenheitsbewältigung wird im Ausland teilweise sogar ohne Übersetzung gebraucht.62 Der intensive deutsche Umgang mit der eigenen Geschichte wurde als Sonderweg der Vergangenheitsbewältigung bezeichnet.63 Um ein ausschließlich deutsches Phänomen handelt es sich jedoch bei der Vergangenheitsbewältigung nicht. Eine intensive Auseinandersetzung mit dem Unrecht der kommunistischen Ära hat etwa die sogenannte Samtene Revolution in der Tschechischen Republik ausgelöst.64 Weltweit sind die Folgen kolonialen Unrechts verstärkt Thema und beschäftigen inzwischen auch die deutsche Rechtswissenschaft.65 Auch fehlgeschlagene Ansätze der Aufarbeitung historischer Ereignisse lassen sich außerhalb Deutschlands ausmachen. Der russische Umgang mit dem Stalinismus etwa wird als ein derart gescheiterter Versuch von Vergangenheitsbewältigung beschrieben.66 Ähnlich verhält es sich in Spanien, wo hinsichtlich der Franco-Diktatur bis auf wenige vorzeitig in den Ruhestand entlassener Offiziere Zurückhaltung gegenüber der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit herrscht.67 Auch Japan hat, im Westen häufig in Vergessenheit geraten, nach dem Zweiten Weltkrieg in den Tokioter Kriegsverbrecherprozessen Aufarbeitungsarbeit versucht, die jedoch keine gesellschaftliche

62 Etwa bei Paterson, From „Vergangenheitsbewältigung“ to the „Historikerstreit“, in: Woods (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung West und Ost; oder Townson, The linguistics of „Vergangenheitsbewältigung“, ebenda. Jesse, „Entnazifizierung“ und „Entstasifizierung“ als Problem, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 11. 63 Steinbach, APuZ B 28/2001, 1, 3. Vgl. auch Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, S. 20. 64 Siehe dazu umfassend Holländer, Die juristische Bewältigung Bewältigung des kommunistischen Unrechts in der Tschechischen und in der Slowakischen Republik, in: Brunner (Hrsg.), Juristische Bewältigung des kommunistischen Unrechts in Osteuropa und Deutschland, S. 85 ff.; ders., Argumentation auf historischer Grundlage – das Beispiel des tschechischen Verfassungsgerichts, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 221 ff. 65 Zuletzt etwa Fabricius, Aufarbeitung von in Kolonialkriegen begangenem Unrecht, 2017. 66 Ausführlich Geyer, Die Umwertung der sowjetischen Geschichte; Davies, Perestroika und Geschichte, Die Wende der sowjetischen Historiographie; ders., Soviet History in the Yeltsin Era; Slater, Russia’s Imagined History: Visions of the Soviet Past and the New „Russian Idea“, Journal of Communist Studies and Transition Politics 14 (1998), S. 67 ff. 67 Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, S. 23.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

Akzeptanz gefunden hat.68 Vergangenheitsbewältigung muss sich jedoch nicht zwingend anhand der gleichen Ziele vollziehen. Dies wird deutlich, wenn man mit Nußberger – wohl in Anlehnung an das Verständnis von „Aufarbeitung“ der Vergangenheit Adornos69 – das Phänomen der Vergangenheitsbewältigung etymologisch betrachtet. „Bewältigen“ im Sinne von „Bändigen“, „Zähmen“ setzt der Vergangenheitsbewältigung das Ziel, von der Geschichte „in Ruhe gelassen zu werden“ im Sinne des Konsenses über eine bestimmte Deutung der Vergangenheit.70 Einen Schlussstrich per Beschluss wird man objektiv unter die Vergangenheit gewiss nicht setzen können. Dennoch trägt eine in diese Richtung geprägte juristische Historiographie, die eine Entscheidung auch unabhängig von ihrer inhaltlichen Richtigkeit fällen kann,71 durch ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Vergangenheitskonsens potentiell auch zu dieser Art der Vergangenheitsbewältigung bei. Insofern gleicht die gängige Vergangenheitsbewältigung in Form aktiven Unter-denTeppich-kehrens der deutschen Sonderform des ständigen Erinnerns, da beide einen gesellschaftlichen Konsens festlegen, nur diesen anschließend unterschiedlich behandeln. Die Schnittstelle von Geschichtswissenschaft und Recht ist also immer in Fällen betroffen, in denen das Recht einen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung leisten soll. Die Verknüpfung von Justiz und Zeitgeschichte ist zwar immer wieder in Kritik geraten, kann jedoch heute bedenkenlos als fest etablierter Bestandteil des Umgangs mit historischen Ereignissen bezeichnet werden.72 Die Aufarbeitung durch Gerichte kann sich jedoch nur im Rahmen dessen vollziehen, was strafprozessual möglich 68 Miyazawa, Rechtsprobleme der Kriegsverbrecherprozesse, in: Marxen/Miyazawa/Werle (Hrsg.), Der Umgang mit Kriegs- und Besatzungsrecht in Japan und Deutschland, S. 23, 32 f. 69 Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, Gesammelte Schriften 10.2. Bd. 2: Eingriffe, S. 555 ff. 70 Nußberger, Vergangenheitsbewältigung und Recht – eine fortwirkende Herausforderung, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 27. A.A. Reichel, Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NSDiktatur von 1945 bis heute, S. 20: „Was geschehen ist, kann nicht mehr bewältigt werden.“ Klangvoller formuliert Schlink, Die Bewältigung der Vergangenheit durch Recht, in: König/ Kohlstruck/Wöll (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, S. 433, das Ansinnen sei die Sehnsucht danach, das Vergangene so in Ordnung zu bringen, dass seine Erinnerung nicht mehr auf der Gegenwart lastet. 71 Vgl. R. Dreier, ZG 1993, 300, 302; ausführlich untersucht Saupe, Der Historiker als Detektiv – Der Detektiv als Historiker, Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, S. 59 ff. die Gründe und Ausprägungen dieser Annahme. 72 Vgl. schon 2000 Frei, Einleitung, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 7. Dies führt aber auch zu der Frage, was in einer Gesellschaft wann als wahr gilt und wie diese Wahrheit verifiziert werden kann, vgl. Foucault, Geschichte der Wahrheit, ist jedoch zumindest für die Rezeption des Völkermords an den Armeniern in zahlreichen Arbeiten gründlich untersucht worden. Auf diese sei daher an dieser Stelle verwiesen; vgl. etwa de Waal, Great Catastrophe, Armenians and Turks in the Shadow of Genocide, 2015 mit Betrachtung der armenischen sowie türkischen Bewusstseinsentwicklungen bezüglich des Aghet. Konkrete Handlungsanweisungen zum gerichtlichen Umgang mit Geschichte gibt Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 410 ff.

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik

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ist.73 Die Beweisführung bezüglich offenkundiger Tatsachen nach § 244 Abs. 3 S. 2 StPO74 begrenzt zudem auch die Verpflichtung zur Erforschung der Vergangenheit. Im Strafprozess wird insoweit keine historische Forschung betrieben, sondern eine „prozessuale Wahrheit“ ermittelt.75 Der Holocaust etwa ist offenkundige Tatsache, die keiner Beweisführung bedarf.76 Dem Richter ist lediglich die Erforschung der individuell tatbezogenen Wahrheit mithilfe der zulässigen Beweismittel möglich; der Historiker unterliegt derartigen Beschränkungen hingegen nicht.77 Insofern ist ein Strafprozess immer nur bedingt zur Vergangenheitsbewältigung geeignet. Eine bemerkenswerte Entwicklung der Nachkriegszeit ist es laut Norbert Frei, dass die Forderung der Opfer des Nationalsozialismus nach Aufdeckung des ihnen konkret geschehenen Unrechts und materieller Gerechtigkeit gesellschaftlich respektiert und akzeptiert wird.78 Die NS-Prozesse haben jedoch gezeigt, dass die juristische Aufarbeitung allein kaum dazu geeignet ist, ein nachträgliches Gefühl von Gerechtigkeit zu erzeugen.79 Die Rechtsprechung allein ist also – auch wenn dies nach dem zweiten Weltkrieg noch so schien – nicht das richtige Mittel für ein Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten und dadurch schließlich Bewältigung der Vergangenheit.80 Reflektierte moralische Urteile jedenfalls erfordern – dies hat Rottleuthner bezüglich der Aufarbeitung des NS-Unrechts treffend bemerkt – ein Durchschreiten der Stufen der naiven Empörung und des historischen Verstehens.81 Die juristische Aufarbeitung erreicht gesellschaftlichen Wandel deshalb in der Regel dann, wenn sie von Geschichte und Politik flankiert wird. Ein solcher gesellschaftlicher Wandel voll73

Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, S. 16. Bzw. § 291 ZPO für den Zivilprozess. 75 Vgl. zur richterlichen Wahrheitsfindung im Strafprozess statt aller MüKOStPO/Miebach, § 261 Rn. 61 ff. Zur subjektiven Komponente richterlicher Überzeugungsbildung ebenda, Rn. 51 ff. 76 BGH, Urteil vom 10. April 2002, 5 StR 485/01, BGHSt 47, 278 = NJW 2002, 2115. 77 Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, S. 16. Vgl. zum Umgang mit den jeweiligen Quellen auch Morlok, FS Häberle, 93, 95. 78 Frei, Einleitung, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 7 f. 79 van Laak, Widerstand gegen die Geschichtsgewalt, Zur Kritik an der „Vergangenheitsbewältigung“, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 21. Vgl. auch Ginzburg, Just one Witness, in: Friedlander (Hrsg.), Probing the Limits of Representation, S. 82 ff., krit. zum Ansatz, aber i.E. zustimmend Saupe, Der Historiker als Detektiv – Der Detektiv als Historiker, Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, S. 33 f. 80 Dreiklang entlehnt bei Freud, Erinnern, Durcharbeiten Wiederholen, Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse, Bd. 2 (6), 1914, 485, dort aber bezogen auf die Bewältigung der Lebensgeschichte des Individuums durch psychoanalytische Techniken. Den Zusammenhang zwischen Vergangenheitsbewältigung und Psychoanalyse sieht Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, Gesammelte Schriften 10.2. Bd. 2: Eingriffe, S. 555 ff., der den Ursprung des Antisemitismus ebenso wie den Ursprung des Hasses auf die Psychoanalyse in der kritischen Selbstbesinnung sieht. 81 Rottleuthner, Rechtspositivismus und Nationalsozialismus. Bausteine zu einer Theorie der Rechtsentwicklung, Demokratie und Recht 1987, 373, 390 ff. 74

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

zieht sich in ähnlicher Weise aktuell auch im Fall des Völkermords an den Herero, der im Gegensatz zum Völkermord an den Armeniern sowohl von einem Vorgängerstaat der Bundesrepublik Deutschland selbst begangen wurde als auch aktuell erneut eine Schadensersatzforderung nach sich gezogen hat.82

III. Aufarbeitung jenseits des Gerichtssaals Der vorangegangene Abschnitt hat die Berührungspunkte von parlamentarischpolitischem sowie von gerichtlich-rechtlichem Staatshandeln zur Geschichtswissenschaft untersucht. Schließlich stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis diese beiden Elemente staatlichen Handelns zueinanderstehen. Dabei liegt der Fokus der Rechtswissenschaft der Natur des Faches geschuldet auf der gerichtlichen Aufarbeitung der deutschen Geschichte. Diese Form der Vergangenheitsbewältigung weist eklatante Unterschiede zur parlamentarischen Befassung mit historischen Ereignissen auf. Wie oben erläutert nimmt das Gericht stets die Frage der individuellen Schuld in den Blick. Dieser Bereich ist Gerichten nach Art. 92 GG auch funktional zugewiesen und vorbehalten.83 Damit verbunden ist eine Verengung der Perspektive nur auf die Informationen, die zur Beurteilung des konkreten Vorwurfs erforderlich sind. Schon hier ist der erste Unterschied zum Parlament erkennbar. Denn das Gericht ist in der Sachverhaltserforschung durch die Relevanz der Tatsachen für die individuelle Schuld gebunden. Zudem ist eine verbindliche Feststellung des Sachverhalts für eine Entscheidung durch Gerichte notwendig.84 Eine derartige Bindung des Parlaments lässt sich angesichts der allumfassenden politischen Befassungskompetenz des Deutschen Bundestages nicht begründen.85 Damit geht auch einher, dass der Deutsche Bundestag keinen individuellen Schuldvorwurf erhebt. Parlamente arbeiten nicht auf die Lösung von Rechtsfällen hin. Die Untersuchung hat verdeutlicht, dass auch die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nicht den Zweck hatte, einen alten Fall im Parlament zu „lösen“, weil die gerichtliche Lösung in Form eines Strafprozesses nicht möglich war. Der Armenier-Beschluss ist nicht Ergebnis eines Ersatzgerichtsprozesses im Parlament. Zwar war die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern aus mehreren Gründen keine Thematik, mit der sich Gerichte auseinandersetzen mussten oder auseinandersetzen werden.86 Jedoch spielt die politi82 83

III. 1.

Dazu siehe oben 2. Teil B. IV. 2. Siehe zum schlichten Parlamentsbeschluss im Bereich der Judikative oben 3. Teil C.

84 Dies wird insbesondere an der Unterscheidung eingeschränkten Überprüfbarkeit der festgestellten Tatsachen bei der Revision, §§ 333 ff. StPO im Vergleich zur Berufung, §§ 312 ff. StPO deutlich. 85 Siehe dazu oben 3. Teil B. 86 Zu den wenigen Verfahren, die die Leugnung des Aghet und damit mittelbar den Aghet selbst zum Gegenstand hatten siehe ausführlich oben 2. Teil B. VI. und 2. Teil B. IV. 4.

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik

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sche Anerkennung im Parlament auf einem anderen Feld der Vergangenheitsbewältigung als die bisherigen Fälle der gerichtlichen Auseinandersetzung mit Geschichte. Es ging nicht um die Überwindung unrechtsstaatlichen Rechts im Sinne des Rechts des Dritten Reiches oder der DDR, da schon die rechtlichen Kategorien zur Erfassung des Geschehens 1915 noch nicht bestanden hatten.87 Das Parlament „löst“ folgerichtig nicht alte Rechtsfälle nach modernen Standards, sondern gibt politische Erklärungen jenseits juristischer Subsumtion ab. Insbesondere erfolgt die Betrachtung nicht rückwärtsgewandt, da auch der schlichte Parlamentsbeschluss, wie oben gezeigt wurde, ein zukunftsgerichtetes Handlungsinstrument des Deutschen Bundestages ist.88 Auch lässt sich diese andere Perspektive am jeweiligen Beurteilungsmaßstab von Parlamenten und Gerichten sehen. Das Parlament beurteilt den Vorgang politisch und nimmt dabei keine neutrale Perspektive ein. Insbesondere steht kein Angeklagter vor Gericht, dessen Grundrechte zu Neutralität verpflichten.89 Die Unterschiede zwischen richterlicher Unabhängigkeit und parlamentarischer Macht sind deutlich. Auch das Ergebnis parlamentarischer und gerichtlicher Befassung ist wesensverschieden. Eine rechtskräftige Entscheidung führt das Parlament nicht herbei. Wenn es die Konfliktlage einzelner Staaten mit der Türkei auch nahelegen könnte, fällt das Parlament kein Urteil, das zwischen zwei streitenden Parteien Folgen auslösen könnte. Ein mit der Rechtskraft von Urteilen vergleichbares Stadium tritt bei politischen Äußerungen zu historischen Fragen nicht ein. Es ist dem Parlament daher auch nicht verwehrt, die Debatte um die Causa Aghet erneut und mit anderem Ergebnis zu führen. Das Parlament darf und muss im Gegensatz zu einem Gericht von seinem hochpolitischen Ausgangspunkt zu einem Beschluss kommen und kann sich nicht die Aufgabe setzen, einen für einen Einzelfall richtigen und schuldangemessenen Weg zu finden. Denn es entscheidet nicht über Einzelfälle, sondern trifft eine allgemeine Aussage zu einem ganzen Themenkomplex. Dies steht im Gegensatz zum Strafprozess, der auf die Gesamtrezeption eines historischen Ereignisses nicht ausgerichtet ist.90 Der Auschwitzprozess hat dies eindrucksvoll gezeigt, denn das Urteil lautete deswegen Freispruch, weil eine individuelle Schuld nicht nachweisbar gewesen war und die Verurteilung allein wegen der abstrakten Beteiligung am Völkermord als staatlich organisiertem Geschehen unmöglich war.91 Im Gegensatz dazu unterliegt der schlichte Parlamentsbeschluss im Rahmen seiner Zulässigkeit 87

Siehe dazu oben 2. Teil A. VI. Zu den Zeitdimensionen der Gewaltenteilung vgl. Husserl, Recht und Zeit, S. 42 ff.; Kirchhof, Verwalten und Zeit, in: ders., Stetige Verfassung und politische Erneuerung, passim; Waldhoff, „Der Gesetzgeber schuldet nichts als das Gesetz“, FS Isensee, 325, 333. Siehe dazu auch Möllers, Gewaltengliederung, S. 90 ff. Siehe dazu auch oben 1. Teil. 89 Zur Grundrechtsrelevanz des Armenier-Beschlusses siehe 2. Teil B. IV. 4. und schlichter Parlamentsbeschlüsse im Allgemeinen 3. Teil C. III. 2. 90 Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, S. 16, 88. 91 Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht, S. 216. Siehe zum Auschwitzprozess insgesamt ebenda, passim. 88

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

keinen inhaltlichen Beschränkungen. Den dadurch gewährleisteten Freiraum kann das Parlament zur Erfassung geschichtlicher Ereignisse in Gänze nutzen. Gleichwohl ist aber der Deutsche Bundestag nicht durch ein etwaiges Legalitätsprinzip zur Befassung mit bestimmten Ereignissen verpflichtet.92 Daraus wird auch erkennbar, dass nicht nur der Armenier-Beschluss selbst, sondern schon die Entscheidung, sich überhaupt mit dem Aghet zu befassen, politisch hoch relevant ist.

IV. Ergebnis Neben der (straf-)rechtlichen Ebene steht die öffentliche Auseinandersetzung über den Unrechtscharakter des in Rede stehenden Systems oder Ereignisses.93 Die Vorarbeit zur Anerkennung durch das Parlament hat sich wesentlich auch der Möglichkeit bedient, durch mediale Aufmerksamkeit gesellschaftliche und darüber schließlich auch parlamentarische Aufmerksamkeit zu erregen.94 Die Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reiches weist insofern allerdings die Besonderheit auf, dass die Vergangenheitsbewältigung sich in dieser außergerichtlichen Dimension erschöpft, wenn das Parlament die Handlungsform des schlichten Parlamentsbeschlusses wählt. Die öffentliche Auseinandersetzung ist dann jedoch nicht vorrechtlich oder dem Recht vorgelagert, sondern findet außerhalb rechtlicher Kategorien statt.95 Die Geschichtswissenschaft bereitet für beide Formen staatlicher Vergangenheitsbewältigung gewissermaßen den Boden, den Politik und Recht mit ihren Beigaben anreichern. Sie schafft Öffentlichkeit, bereitet aber auch die gerichtliche Aufarbeitung beispielsweise durch Gutachten vor.96 So eng juristische und ge92

Vgl. aber a.A. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, S. 379 f., der die Möglichkeit einer Befassungs- und Entscheidungspflicht des Parlaments bei entsprechend nachgewiesenem Volkswillen annimmt. 93 Jesse, „Entnazifizierung“ und „Entstasifizierung“ als Problem, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 9, 26. 94 Siehe dazu oben 2. Teil B. II. 95 Zur Untrennbarkeit der politischen und rechtlichen Dimensionen schlichter Parlamentsbeschlüsse siehe oben 3. Teil D. 96 Schulze Wessel, Geschichte vor Gericht, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 9, 15. Auch Wojak, Die Verschmelzung von Geschichte und Kriminologie, Historische Gutachten im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, in: Frei/ van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 29 ff. Teile der Sachverständigengutachten des Frankfurter Auschwitz-Prozesses etwa waren mangels wissenschaftlicher Publikationen zur Geschichte von Auschwitz sogar mit der Hoffnung in Auftrag gegeben worden, sie würden zur gesellschaftlichen Aufklärung beitragen und damit auch über ihre Funktion im Prozess hinaus wirken, Schmaltz, Das historische Gutachten Jürgen Kuczynskis zur Rolle der I. G. Farben und des KZ Monowitz im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, in: Fritz Bauer Institut/Wojak (Hrsg.), Gerichtstag halten über uns selbst, Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, S. 117 ff. Vgl. auch Frei, Der Frankfurter Auschwitzprozess und die deutsche Zeitge-

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik

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schichtswissenschaftliche Aufarbeitung aber auch in einigen Bereichen ineinandergreifen mögen, die Prägung der öffentlichen Meinung hin zu einem Status, der als gesellschaftlicher Konsens bezeichnet werden kann, erfordert zumeist eine die Fachöffentlichkeit übersteigende Debatte von größerer politischer Dimension. Die bundesdeutsche Geschichte hat gezeigt, dass diese Debatte ausführlich im Parlament stattfindet. Probleme werden insbesondere dann mit politischen Mitteln angegangen, wenn eine justizförmige Aufarbeitung nicht stattgefunden hat oder stattfinden konnte. Im Gegensatz zu einer gerichtlichen Aufarbeitung, die darauf ausgerichtet ist und in der Regel daran krankt, dass lediglich Einzelfälle abgeurteilt werden können,97 vermag die parlamentarische Auseinandersetzung mit Geschichte ein Unrecht häufig als Ganzes zu erfassen.98 Die Auseinandersetzung ist dann oftmals auch weniger dramatisch als die Betrachtung eines Einzelschicksals. Die parlamentarische Debatte um die Anerkennung des Aghet als Völkermord hat jedoch gezeigt, dass die Sensation des Einzelschicksals nicht notwendig ist, um auch eine mediale Debatte anzustoßen. Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Aghet liegt durchaus mit den aktuellen Debatten um die völkerrechtliche Verantwortung in Srebrenica oder die strafrechtliche Belangung der letzten Holocaust-Täter, beispielsweise Oskar Grönings gleichauf.99 Auch in der Popularkultur wurde sich der Thematik seit 2015 erstmals intensiv bedient; im Sommer 2017 erschien der Hollywoodfilm The Promise – Die Erinnerung bleibt mit namhaften Schauspielgrößen wie Oscarpreisträger Christian Bale und Jean Reno.100 Über Kim Kardashian Wests Besuch am Aghetschichtsschreibung, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Auschwitz: Geschichte, Rezeption und Wirkung, S. 128 ff. Weitere Gutachten sind in 8. Aufl. veröffentlicht in Buchheim/Broszat/ Jacobsen/Krausnick, Anatomie des SS-Staates, 2005. 97 Nußberger, Vergangenheitsbewältigung und Recht – eine fortwirkende Herausforderung, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 27, 33. 98 Ausdrückliche Bedenken gegen eine rein strafrechtliche Behandlung von Fällen staatlichen Unrechts äußert Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 29, da zumindest das Strafrecht gerade nicht dazu geeignet sei, das Unrecht in Gänze zu erfassen, da es immer den Abgeurteilten vereinzelt und deshalb eine gesamtpolitische Bewältigung nicht gewährleisten kann. Außerhalb des Strafrechts ist dieser Befund jedoch aufgeweicht. Anders läge der Fall nämlich im Falle eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts, da die inhaltlichen Wirkungen der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig über die Streitschlichtung im Einzelfall hinausgehen und somit durchaus auch vergangenheitsbezogene Werte formulieren können, O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt/Lepsius/Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht, S. 159, 165. 99 Siehe statt aller etwa Früherer SS-Mann Oskar Gröning offenbar gestorben, Der Tagesspiegel, Update vom 12. März 2018, abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/politik/ buchhalter-von-auschwitz-frueherer-ss-mann-oskar-groening-offenbar-gestorben/21062608. html, letzter Abruf 23. August 2018, 16.00 Uhr. Siehe dort auch zu den von den Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz geäußerten Erklärungen, der Prozess habe eine „fast heilende Wirkung“ auf sie gehabt; das Urteil sei nicht wegen der verhängten Strafe, sondern wegen der „Stellungnahme der Gesellschaft“ bedeutsam. 100 Kritisch zur Darstellung des Aghet The Promise im Kino, Salonbilder vom Völkermord, FAZ vom 18. August 2017, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/salonbil der-zum-genozid-an-den-armeniern-the-promise-im-kino-15154134.html, letzter Abruf 23. August 2018, 16.00 Uhr.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

mahnmal Zizernakaberd im Jahr 2015 wurde umfangreich Bericht erstattet.101 Diese Beispiele mögen bei oberflächlicher Betrachtung trivial wirken, ihre Breitenwirkung belegt jedoch die große Aufmerksamkeit, die dem Aghet auch außerhalb einer Fachöffentlichkeit zugekommen ist. Die politische Bekräftigung historischer Realität trägt also zur gesellschaftlichen Konsensbildung bei, die Ausgangspunkt jedweder Vergangenheitsbewältigung ist. Einer rechtlichen Neubewertung historischen Unrechts ist neben dem allgemeinen Zuschnitt des Strafverfahrens nicht zuletzt durch das Rechtsstaatsgebots ein enger Rahmen gesetzt. Das Rückwirkungsverbot beschränkt die Möglichkeiten ebenso wie die Bestimmungen zur Verjährung.102 Die rechtliche Aufarbeitung historischen Unrechts durch Gerichte ist daher in besonderem Maße begrenzt.103 Die historische Aufarbeitung wird regelmäßig nicht von den gleichen Problemen verhindert oder erschwert, gelangt jedoch schwerer in die öffentliche Wahrnehmung. Das Verlangen nach Vergangenheitsbewältigung besteht wie soeben erläutert jedoch gerade auch im gesellschaftlichen Raum. Hier öffnet sich das Wirkungsfeld für die parlamentarische Auseinandersetzung mit Geschichte, die regelmäßig auf weniger enge Grenzen stößt als die gerichtliche Auseinandersetzung, dabei aber auf eine ähnlich ausgestaltete Öffentlichkeitswirkung zurückgreifen kann wie ein Gericht. Trotz fehlender rechtlicher Verbindlichkeit trägt die parlamentarische Auseinandersetzung zur gesellschaftlichen Konsensbildung bei. Die rein parlamentarische Handlungsform ist somit für die Vergangenheitsbewältigung besonders geeignet, da sie nicht auf die engen Grenzen des Strafrechts und Strafprozesses stößt. Die Unzugänglichkeit der Vergangenheit für die Beurteilung durch die Gegenwart – wie sie beispielsweise im Falle der Subsumtion unter Art. II UN-Völkermordkonvention besonders deutlich hervortritt –104 ist ebenfalls aufgelöst, wenn nicht mehr der Anspruch auf Strafe, sondern lediglich der Anspruch auf ein staatliches Bewusstsein gestellt wird.105 Historische Argumentationen sind deshalb stets auch im 101 Statt aller We have not forgotten our roots, Daily Mail Online vom 10. April 2015, abrufbar unter http://www.dailymail.co.uk/news/article-3034135/Kim-Kardashian-lays-flowersArmenian-memorial.html, letzter Abruf 23. August 2018, 16.10 Uhr. 102 Dies betrifft sowohl die völker- als auch strafrechtliche Justiziabilität, Odersky, Die Rolle des Strafrechts bei der Bewältigung politischen Unrechts, S. 9 ff.; Werle, Rückwirkungsverbot und Staatskriminalität, NJW 2001, 3001 m.w.N. Dazu auch Nußberger, Vergangenheitsbewältigung und Recht – eine fortwirkende Herausforderung, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 27, 37 f. 103 Ein Szenario, in dem außerdem auch das Urteil zur Entscheidung reif war, obwohl die historische Wahrheit gar nicht ermittelt wurde, schildert Nußberger, Vergangenheitsbewältigung und Recht – eine fortwirkende Herausforderung, in: Nußberger/von Gall (Hrsg.), Bewusstes Erinnern und bewusstes Vergessen, S. 27, 42 am Fall Kononov ./. Lettland. 104 Dazu siehe ausführlich oben 2. Teil A. II. 4. und 2. Teil A. VI. 2. d). Eine umfassende Bewertung der Vergangenheit nach Maßstäben der Gegenwart aber bei Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 203 ff. 105 Konkrete Forderungen allerdings bei Petrossian, Staatenverantwortlichkeit für Völkermord, S. 203 ff.

B. Vergangenheit zwischen Geschichte, Recht und Politik

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Kontext ihrer Zweckbindung zu betrachten, anstatt von diesem losgelöst als reine Feststellung richtiger oder falscher Geschichte.106 In weite Ferne rückt somit auch die Fehlvorstellung, der Deutsche Bundestag würde historische Ereignisse in rechtliche Kategorien fassen, wenn er in Wirklichkeit lediglich ein politisches Signal setzt. Staatliche Äußerungen können insofern politisch-symbolisch bedeutsam sein, ohne dass es sich um rechtlich relevante Maßnahmen im engeren Sinne handeln muss. Innerstaatliche Versuche, Kriegsverbrechen, Völkermorde und Regimeverbrechen zu bewältigen, bringen neben gerichtlichen Instrumenten auch andere Instrumente wie sogenannte Wahrheitskommissionen107 oder die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik („Jahn-Behörde“) hervor.108 Die Rede zum 100. Jahresgedenken des Aghet, bei der der damalige Bundespräsident Joachim Gauck betonte, dass es sich um einen Völkermord gehandelt hatte, ist kein rechtliches Handlungsinstrument, hat jedoch große Kritik seitens der Türkei und Lob und Anerkennung seitens Armeniens erhalten. Auch die bisherige „Anerkennung“ des Völkermords an den Herero durch die Bundesregierung fand nicht in einem offiziellen Beschluss statt, sondern wurde im Rahmen einer Pressekonferenz ausgesprochen.109 Trotz der nicht vordergründigen Rechtsförmigkeit dieser Handlungen geht von ihnen eine beeinflussende, wenn nicht gar steuernde Wirkung auf die öffentliche Meinung und die internationale Wahrnehmung der staatlichen Meinung aus.110 Der Parlamentsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern bewegt sich durch seine rechtsförmige Natur formal betrachtet weniger im politisch-symbolischen Bereich als Reden und Pressemitteilungen. Inhaltlich bewegt er sich aber auf ähnlich symbolischem Parkett. Wie der parlamentarisch angestoßene Konsens in der Causa Aghet nun wirken wird – hin zu einem heilsamen Vergessen oder zu einem mahnenden Erinnern – bleibt abzuwarten. Der deutsche Ansatz der Vergangenheitsbewältigung steht einem Festlegen und Weglegen diametral entgegen. Die gewandelte Vorstellung weg vom 106 In diesem Sinne auch Wielenga, Schatten der Vergangenheit, Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik, S. 17; Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 13. 107 Krit. R. Dreier, Juristische Vergangenheitsbewältigung, S. 37. Siehe zur Wahrheitskommission TARC im Zusammenhang mit dem Aghet oben 2. Teil B. III. 1. Besondere Bekanntheit haben die in Südafrika eingesetzten Wahrheitskommissionen erlangt, siehe dazu statt aller Marx, Die Wahrheit über die Apartheid?, in: ders. (Hrsg.), Bilder nach dem Sturm, S. 74 ff. m.w.N. 108 Frei, Einleitung, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 7, 8. 109 Zur Problematik der bisher nicht erfolgten parlamentarischen Anerkennung des Völkermords an den Herero siehe sogleich unten 4. Teil D. 110 Die Übereinstimmung öffentlicher Meinung und parlamentarischen Handels und ihren Wirkungen untereinander vgl. Brettschneider, Öffentliche Meinung und Politik, Eine empirische Studie zur Responsivität des Deutschen Bundestages zwischen 1949 und 1990. Siehe auch oben 3. Teil B. II. 1.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

heilsamen Vergessen hin zu einem ständigen Erinnern nach gesellschaftlichen (Um-) Brüchen, hat sich in Deutschland besonders intensiv und besonders früh vollzogen.111 Von Bedeutung ist, dass der Beitrag zum gesellschaftlichen Konsens nicht notwendigerweise mit einer Erinnerungskultur deutscher Tradition einhergehen muss. Dabei ist ohnehin fraglich, inwiefern deutsche Vergangenheitsbewältigung als einheitliches Phänomen betrachtet werden kann, denn zwischen den verschiedenen Aufarbeitungstopoi historischen Unrechts sind charakteristische Unterschiede auszumachen. Während die Aufarbeitung des NS-Unrechts in großen Teilen auf Betreiben der Alliierten vollzogen wurde, war die Aufarbeitung des Unrechts der DDR ein durch und durch nationales Projekt. Die Gründlichkeit der Aufarbeitung des Unrechts der DDR zeugt davon, dass man Erfahrungen, die aus der Aufarbeitung des NS-Unrechts gemacht wurden, für die Aufarbeitung des Unrechts der DDR fruchtbar machen, sowie Fehler und Versäumnisse der ersten Vergangenheitsbewältigung in Deutschland vermeiden konnte.112 Dies schlägt sich auch in der rechtswissenschaftlichen Rezeption nieder; die Aufarbeitung des Unrechts der DDR ist ebenso wie die Aufarbeitung des NS-Unrechts Gegenstand zahlreicher juristischer Analysen und Debatten.113 So stellt jede Generation ihre eigenen Fragen an die Geschichte.114 In Deutschland waren dies in den sechziger Jahren vor allem die Frage nach der Verantwortung für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs (sogenannte Fischer-Kontroverse), in den achtziger Jahren der Historikerstreit und in den neunziger Jahren die Aufarbeitung des DDR-Unrechts. In diese Reihe fügt sich der Armenier-Beschluss zwar ein, ist aber mit den vorangegangenen Topoi nur bedingt vergleichbar. Zwar haben Erfahrungen mit der ersten deutschen Vergangenheitsbewältigung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den parlamentarischen Umgang mit historischen Ereignissen zweifellos geprägt.115 Die Behandlung des Aghet hat aber eigene und ihr inhärente Fragestellungen aufgeworfen.116 Sie sollte demnach als eigenes Kapitel deutscher Vergangenheitsbewältigung betrachtet werden.

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van Laak, Widerstand gegen die Geschichtsgewalt, Zur Kritik an der „Vergangenheitsbewältigung“, in: Frei/van Laak/Stolleis (Hrsg.), Geschichte vor Gericht, Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, S. 11, 13. 112 Papier/Möller, NJW 1999, 3289, 3297. Vgl. zur Zulässigkeit der gemeinsamen Betrachtung des NS- und DDR-Unrechts Wielenga, Schatten der Vergangenheit, Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik, S. 11 ff. 113 Papier/Möller, NJW 1999, 3289, 3297. 114 Steinbach, APuZ B 28/2001, 3, 7. 115 Jesse, „Entnazifizierung“ und „Entstasifizierung“ als Problem, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 9, 18. 116 Siehe oben passim.

C. Causa Aghet und Faktor Zeit

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C. Causa Aghet und Faktor Zeit Wie gezeigt steht Geschichte immer dann in einem politischen Zusammenhang, wenn das Argument über seine historische Aussage hinaus noch eine politische Funktion erfüllen soll.117 Solche politischen Funktionszusammenhänge stehen im Spannungsverhältnis von logischen Kriterien und dem gesellschaftlich anerkannten Bereich von Geschichtswissen.118 Besonders deutlich zeigt sich diese Spannung in der Regel, wenn eine ganz bestimmte Geschichtsinterpretation durchgesetzt werden soll, etwa in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs.119 Der Faktor Zeit spielt in logischen Argumentationen in der Regel keine Rolle – logische Folgen sind zeitunabhängig. Im Bereich staatlicher Auseinandersetzung mit Geschichte kann der Faktor Zeit aber der Auslöser dafür sein, sich mit einer Sache zu befassen.120 Mag man die Feststellung, dass politisches Handeln eine zeitliche Komponente hat, auch für trivial halten,121 sind Vergangenheitserforschung und Gegenwartserfahrung stets untrennbar verbunden.122 Die Zeitbedingtheit von Fragen hat sich – neben vielen anderen Punkten – im Falle der Anerkennung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung des Osmanischen Reichs besonders deutlich gezeigt.123 Politisch kann Vergangenheit brisant sein und werden,124 kann jedoch auch ohne größeres Aufsehen und konsensual geprägt in aktuelle Debatten einfließen. Jedenfalls hat die Deutung der Vergangenheit aber immer eine politische Dimension.125 Diese muss jedoch kein Politikum nach sich ziehen; der Vergangenheitsbezug zeichnet im Gegenteil gerade die juristische Arbeit aus. Straftaten etwa sind im Zeitpunkt ihrer Bestrafung regelmäßig bereits abgeschlossen, womit jede Ausein117 Siehe ausführlich oben 4. Teil B. Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 62. Aus diesem Grund sieht Etzenmüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, S. 337 die Sozialgeschichte Conzes sogar als „politische Geschichte“, diese sei nämlich in der westdeutschen Gesellschaft als identitätsstiftend sowie handlungserleichternd gegenüber der DDR und dem Kommunismus wahrgenommen worden; krit. zu diesem Verständnis Eichhorn, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation, Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, S. 32 m.w.N. 118 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 63. 119 Siehe dazu ausführlich oben 4. Teil B. Siehe auch Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 63. 120 Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 11. 121 So ausdrücklich Oehler, Geschichte in der politischen Rhetorik, Historische Argumentationsmuster im Parlament der Bundesrepublik Deutschland, S. 11. 122 Steinbach, APuZ B 28/2001, 3, 7. 123 Siehe dazu auch ausführlich oben 2. Teil B. 124 Steinbach, APuZ B 28/2001, 3, 7. 125 Steinbach, APuZ B 28/2001, 3, 7.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

andersetzung mit einer Straftat vergangenheitsbezogen ist.126 Dies gilt auch für eine Vielzahl von Fällen aus anderen Rechtsgebieten. Das Recht reagiert also immer auf einen trotz der Vergangenheit des eigentlichen Ereignisses in der Gegenwart vorliegenden Konflikt.127 Auch der nicht anerkannte Völkermord an den Armeniern war ein Fall von durch die Vergangenheit gestörter Gegenwart. Die im Zusammenhang mit dem Parlamentsbeschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern geführte außerparlamentarische Debatte war jedoch zusätzlich außergewöhnlich gegenwartsbezogen und hatte nur noch mittelbar mit dem Völkermord an den Armeniern selbst zu tun.128 Dass 100 Jahre nach dem Aghet eine so aktuelle Debatte entfacht ist, ist jedoch keinesfalls verwunderlich, wenn man sich die zweite zeitliche Komponente der Anerkennung vor Augen führt, nämlich den Zeitpunkt der Anerkennung selbst. Schon vor der Anerkennung durch den Bundestag wurde die Instrumentalisierung des Aghet zum Austragen eines vorgelagerten internationalen Konflikts kritisiert. Die Kritik ging auf ein Gesetzesvorhaben der russischen Staatsduma zurück. Am 25. November 2015 twitterte der russische Abgeordnete Sergej Mironov: „C_\m[_ hc_ ]l S^Vb\Y XQ[_^_`a_V[c _R _cSVcbcSV^^_bcY XQ ^V`aYX^Q^YV eQ[cQ TV^_gYUQ Qa]p^ b_ bc_a_^l CdagYY S 1915 T_Ud.“ – Gerade eben haben wir einen Gesetzesentwurf bezu¨glich der Verantwortlichkeit der Leugnung der Tatsache des Genozids an den Armeniern durch die Tu¨rkei im Jahr 1915 eingebracht.129

Der Gesetzesentwurf folgte unmittelbar auf den Abschuss eines russischen Kampfjets am 24. November 2015 durch die Türkei. Einige Twitter-User warfen Mironov und seiner Partei vor, der gewählte Zeitpunkt würde die tragische Geschichte der Armenier im Osmanischen Reich aus den falschen Motiven zum Gegenstand des Strafrechts machen. Nicht die Verhinderung der Völkermordleugnung stehe im Vordergrund, vielmehr handele es sich um eine außenpolitische Vergeltung für den Abschuss des russischen Jets und damit um einen Missbrauch des armenischen Schicksals im Ersten Weltkrieg für eigene Zwecke.130 Auch der deutsche Anerkennungsakt fiel auf einen Zeitpunkt, an dem der ursprünglich weniger treibenden Kraft, der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Unterstützung durch wahlberechtigte Angehörige der armenischen Diaspora in Deutschland gelegen kam. Am 13. März 2016 fand die 16. Landtagswahl Baden126

Vgl. Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht?, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37 f. 127 Jakobs, Vergangenheitsbewältigung durch Strafrecht?, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 37, 38. 128 Siehe dazu ausführlich oben 2. Teil B. 129 Siehe etwa https://www.svoboda.org/a/article/25078869.htmlanscript/27387900.html; https://ria.ru/society/20151125/1328253955.html, letzter Abruf 19. August 2018, 15.00 Uhr. Übersetzung durch die Verfasserin. 130 Die Diskussion kann verfolgt werden unter: https://twitter.com/mironov_ru/status/66951 9504507068416?ref_src=twsrc%5Etfw, letzter Abruf 4. Januar 2016, 11.44 Uhr.

C. Causa Aghet und Faktor Zeit

199

Württembergs statt. Özdemir, der aus Baden-Württemberg stammt, hatte den Antrag zur Anerkennung maßgeblich vorangetrieben. Angesichts des Wahlkampfs der Südwest-CDU mutmaßte man, dass die Annäherung Kauders und Özdemirs durch Handschlag im Bundestag – ein äußerst seltenes und in der Regel bedeutungsvolles Zeichen, hatte doch auch ein Handschlag den Machtwechsel Schmidt zu Kohl besiegelt – den Grünen eventuell Zuspruch einer neuen Wählerschaft verschaffen könnte.131 Auch die zu diesem Zeitpunkt nahende Bundestagswahl lässt die Bemühungen, die sich stark mit der Rolle, die die Bundesrepublik Deutschland gegenüber der Türkei einnehmen möchte und sollte, auseinandersetzte, als Folge eines möglichen Besetzungswunsches des Auswärtigen Amtes erscheinen. Ähnliche Tendenzen waren in den USA zu beobachten. Der 2010 erlassene Parlamentsbeschluss des Kongresses war ähnlich wie der Parlamentsbeschluss des Deutschen Bundestages von außenpolitischen Bedenken geprägt und wurde sowohl unter der Regierung George W. Bush als auch unter der Regierung Clinton immer wieder vertagt.132 Vor den Amtszeiten beider Präsidenten wurde jedoch die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern immer wieder im Wahlkampf vorgetragen, ebenso im Wahlkampf vor dem Amtsantritt Obamas.133 Ebenso befand sich Sarkozy zum Zeitpunkt des Erlasses des Verbotsgesetzes der Völkermordleugnung in Frankreich im Präsidentschaftswahlkampf und sah sich dem Vorwurf des Wählerfanges ausgesetzt.134 Diese Beispiele verdeutlichen zusätzlich, dass die Causa Aghet sich regelmäßig weniger im Verhältnis zwischen dem anerkennenden Staat und Armenien bewegen, sondern konkrete innenpolitische Interessen des anerkennenden Staates Einfluss auf die Causa Aghet nehmen und in der Folge vor allen Dingen das Verhältnis des anerkennenden Staates und der Türkei tangieren. Die Instrumentalisierung der Armenier hat eine nunmehr Jahrtausende alte Tradition.135 Die Fremdbestimmung des Anerkennungszeitpunkts ist jedoch ein weniger starker Eingriff in ihre Souveränität und Autonomie als die oben dargestellten historischen Ereignisse. Geschichte als 131 Vgl. Schwieriger Händedruck in schwierigen Zeiten, ZEIT Online vom 27. Februar 2016, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/gruene-und-union-nach-der-armenien-de batte-14092815.html, letzter Abruf 2. Februar 2018, 12.10 Uhr. 132 Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 90 m.w.N. 133 Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 90. 134 Fleck, Machtfaktor Diaspora?, S. 88 m.w.N. Ausdrücklicher erhebt Staudt, Strategien des Gehörtwerdens, S. 14, den gleichen Vorwurf gegenüber der französischen Abgeordneten Boyer, die maßgeblich an der Gesetzesinitiative zum Verbot der Völkermordleugnung in Frankreich beteiligt war. Ein empirisch fundiertes Ergebnis in diesem Zusammenhang weist Brettschneider, Öffentliche Meinung und Politik, Eine empirische Studie zur Responsivität des Deutschen Bundestages zwischen 1949 und 1990, S. 225 nach. Parlamentarisches Handeln stimmt demnach unmittelbar nach Wahlen am wenigsten, in den beiden Jahren vor einer Wahl aber überdurchschnittlich mit der Mehrheitsmeinung und öffentlichem Meinungswandel überein. Ebenso verhalten sich amerikanische Politiker responsiver je weniger Zeit zwischen ihrem Handeln und ihrem Wiederwahltermin liegt. 135 Siehe dazu ausführlich oben 2. Teil A. III. 1. a).

200

4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

Instrument zur Durchsetzung politischer Agenden ist berechtigter Kritik ausgesetzt.136 Der Völkermord an den Armeniern dient etwa bis heute als Argument für eine türkeifeindliche Gesinnung. Diese Form des Missbrauchs des Völkermords an den Armeniern zeigte sich zuletzt seitens der AfD. André Poggenburg kritisierte kurz vor seinem Rücktritt als Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer der AfD in Sachsen-Anhalt die Türkei mit den Worten: „Diese Kümmelhändler haben selbst einen Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern am Arsch, und die wollen uns was über Geschichte erzählen?“137 Solche rassistischen Äußerungen tragen zur Sache nichts bei. Dass Anerkennung nicht um jeden Preis zu fordern ist, belegt auch die deutliche Kritik des Zentralrats der Armenier an der Äußerung Poggenburgs.138 Den Kern der Anerkennung durch den Deutschen Bundestag in sachfremden Erwägungen zu sehen, wird dem gesamten Sachverhalt nicht gerecht. Im Unterschied zu dem in die russische Staatsduma eingebrachten Gesetzesentwurf hatte die Bundesrepublik vor dem 2. Juni 2016 den Aghet noch nicht offiziell als Völkermord anerkannt.139 Zwar gab es zahlreiche Einzelnennungen, diese waren jedoch im Vergleich zu dem schlichten Parlamentsbeschluss des Bundestages nicht von einer Mehrheit getragen und sind nicht in Rechtsform geäußert worden. Im Gegenteil hat die Zurückhaltung des Bundestages, eine offizielle Entscheidung zu treffen, stets einen Restzweifel daran zurückgelassen, wie das Parlament sich zur Sache verhält. Die Anerkennung des Aghet als Völkermord ist dabei schon aus der Natur der Sache politisch. Dass in ein Arbeitsergebnis in Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses auch politische Motive einfließen, ist unstreitig und schon der Form des Handlungsinstrumentes geschuldet; dies entspricht politischer Logik.140 Zum politischen Vorwurf gereichen könnte dies dann, wenn der Einfluss des fehlgeleiteten Motivs den Inhalt des Parlamentsbeschlusses derart überlagern würde, dass von diesem lediglich noch die Hülle bliebe. Der politische Umgang mit Geschichte führt unweigerlich in Verwicklungen in Macht- und Interessenkomplexe.141 Die Jahr136

Siehe dazu oben 1. Teil A. II. Siehe statt aller Türkische Gemeinde will gegen AfD-Beleidigungen vorgehen, ZEIT Online vom 15. Februar 2018, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/deutschland/2018-02/ andre-poggenburg-afd-tuerkische-gemeinde-beleidigung, letzter Abruf 15. August 2018, 17.00 Uhr. 138 Pressemitteilung des ZAD, abrufbar unter http://www.zentralrat.org/de/node/11081, letzter Abruf 15. August 2018, 17.00 Uhr. 139 Zum internationalen Umgang mit dem Aghet siehe ausführlich oben 2. Teil B. VIII. 140 Siehe zur Untrennbarkeit auch oben 3. Teil D. 141 Schmid, Konstruktion, Bedeutung, Macht, Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik, in: Heinrich/Kohlstruck (Hrsg.), Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, S. 75, 92. Es handelt sich jedoch nicht um ein Phänomen, das ausschließlich in der Staatspolitik zu beobachten ist. Auch in der Geschichtswissenschaft ist die Instrumentalisierung der Geschichte durch Aufgreifen des Zeitgeistes und daraus resultierender Machtpositionen untersucht worden und zwar unter Rückgriff auf die Entwicklungen der Sozialwissenschaften der Nachkriegsrepublik und ihrem Einfluss auf die Politik-, aber auch Erziehungswissenschaften der sechziger und siebziger Jahre, siehe dazu im Ganzen Eichhorn, 137

D. Ausblick

201

zehnte andauernde Arbeit für eine Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hat jedoch durchaus Früchte getragen, die auch durch mutmaßliche Eigeninteressen Einzelner nicht geschmälert werden. Insbesondere ist eine absichtliche Provokation der Türkei durch den Anerkennungsbeschluss nicht ersichtlich; dies belegen die zahlreichen Überlegungen zu den Auswirkungen auf die außenpolitische Lage, die dem Anerkennungsbeschluss vorausgegangen sind, ebenso wie die durchaus vorsichtige Formulierung des Armenier-Beschlusses. Im Bereich der Gesetzgebung ist in Form der Gesetzesfolgenabschätzung auf Auswirkungen parlamentarischen Handelns reagiert worden.142 Der Bundestag hat seinen seit 2015 verstärkt geäußerten Handlungswillen, sowie außenpolitische Handlungsfähigkeit bewiesen, als er trotz der schon angespannten außenpolitischen Lage den Völkermord an den Armeniern anerkannt hat. Nach einer Gesamtbetrachtung der verschiedenen, teils konfligierenden Interessen, die es abzuwägen und in Einklang zu bringen galt, erscheint jedoch ein der Gesetzesfolgenabschätzung entsprechendes Vorgehen auch für die Folgenabschätzung schlichter Parlamentsbeschlüsse ratsam.

D. Ausblick Die Causa Aghet zeigt ebenso wie andere Fälle der Aufarbeitung staatlichen Unrechts eindrucksvoll, dass fortschreitende Zeit keine inhaltliche Entfernung von seinen Hinterlassenschaften zur Folge hat.143 Dies gilt jedenfalls für die veröffentlichte Meinung.144 Historische Aufarbeitung und die öffentliche Auseinandersetzung als Bestandteil der politischen Kultur sind ebenso notwendige wie wertvolle Mittel, um mangelnder Gerechtigkeit verschiedenster Arten für die Opfer und Hinterbliebenen eines Völkermords beizukommen.145 Historische Erinnerungen und ein damit einhergehendes Geschichtsbewusstsein formen Identität.146 Die Vergegenwärtigung von Vergangenheit führt zu einem geistigen Mitvollziehen, das die Vorstellung von einem inneren Zusammenhang, der dem Zeitverlauf gewissermaßen entzogen ist, Geschichtswissenschaft zwischen Tradition und Innovation, Diskurse, Institutionen und Machtstrukturen der bundesdeutschen Frühneuzeitforschung, passim. 142 Siehe dazu statt aller Böhret/Konzendorf, Handbuch Gesetzesfolgenabschätzung, passim. 143 Vgl. bzgl. des NS-Unrechts Jesse, „Entnazifizierung“ und „Entstasifizierung“ als Problem, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 9, 34. 144 Jesse, „Entnazifizierung“ und „Entstasifizierung“ als Problem, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 9, 34. 145 Jesse, „Entnazifizierung“ und „Entstasifizierung“ als Problem, in: Isensee (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Recht, S. 9, 35. 146 Rüsen, Geschichtsdenken im interkulturellen Diskurs, in: ders. (Hrsg.), Westliches Geschichtsdenken, Eine interkulturelle Debatte, S. 13. Insgesamt zum Zusammenhang kollektiver Identität mit Geschichte und ihren Symbolen ausführlich Blankenagel, Tradition und Verfassung, S. 345 ff.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

bedient.147 Das Geschichtsbewusstsein unterscheidet sich jedoch in einem wesentlichen Punkt von der historischen Erinnerung. Die zeitliche Perspektive des Geschichtsbewusstseins ist deutlich komplexer als die eines reinen Erinnerns, da Geschichtsbewusstsein die Vergangenheit in ihren Unterschieden zur Gegenwart vergegenwärtigt und damit distanzierter und spannungsgeladener ist als das Erinnern.148 Es ist insofern begrüßenswert, dass der Deutsche Bundestag die Erinnerungskultur bezüglich historischen Unrechts auch jenseits der auf eigenem Gebiet begangenen Taten fortgesetzt und damit einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zum Gedenken an die Opfer des Völkermords an den Armeniern geleistet hat. Was bleibt nun von der Causa Aghet? Eine allgemeine Tendenz des Deutschen Bundestages, sich zu Ereignissen der Weltgeschichte zu äußern, ist auch nach der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nicht zu erwarten. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Entwicklung des politischen Willens zur Aghet-Debatte auf den Spezifika dieses Falles basierte. Die deutsche Mitverantwortung und die deutschen Quellen haben die Debatte maßgeblich beeinflusst. Die deutsche Anerkennung war aus diesen Gründen von besonderem Gewicht. Der Deutsche Bundestag ist aber kein Strafverfolgungsorgan und daher auch nicht dazu verpflichtet, bei Kenntniserlangung von historischem Unrecht tätig zu werden. Insofern ist aber die Frage beantwortet, ob der Deutsche Bundestag geschichtspolitische Äußerungen zu überwiegend externen Sachverhalten zur Methode machen wird. Anlass, erneut in eine Debatte um Geschichte und Verantwortung einzutreten, bietet womöglich der schon mehrfach erwähnte Völkermord an den Herero. Der Deutsche Bundestag arbeitet auch bezüglich dieses Kapitels deutscher Vergangenheit aktuell auf einen schlichten Parlamentsbeschluss hin. Die bisherigen Anträge sind allerdings abgelehnt worden.149 Angesichts der Ergebnisse der Auswertung der Statistik des Deutschen Bundestag wenig überraschend handelt es sich um Oppositionsanträge (Fraktion DIE LINKE), die mit Gegenstimmen der Koalitionsparteien abgelehnt wurden. Schwierigkeiten bereitet auch bei der Anerkennung des Völkermords an den Herero der zeitliche Anwendungsbereich der UN-Völkermordkonvention. Die Debatte um die Causa Aghet hat die Fehlvorstellung, die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern müsse mit einer Subsumtion unter Art. II UN-Völkermordkonvention einhergehen, offengelegt.150 Die Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass insbesondere mit Blick auf die Entstehungsgeschichte der Konvention eine Anerkennung auch bei Verwendung des Begriffs „Völkermord“ keine rechtliche, sondern nur eine tatsächliche Bewertung der Ereignisse in historischen Kategorien bedeutet.151 Über diese Begriffsschwierigkeiten hinaus sieht sich die Bundesrepublik 147

Rüsen, Geschichtsdenken im interkulturellen Diskurs, in: ders. (Hrsg.), Westliches Geschichtsdenken, Eine interkulturelle Debatte, S. 13 f. 148 Rüsen, Geschichtsdenken im interkulturellen Diskurs, in: ders. (Hrsg.), Westliches Geschichtsdenken, Eine interkulturelle Debatte, S. 15. 149 BT-Drs. 18/5407; BT-Drs. 18/6376. 150 Siehe oben 2. Teil A. II. 4. 151 Siehe ausführlich oben 2. Teil A. VI. 2.

D. Ausblick

203

Deutschland jedoch Repressionsforderungen ausgesetzt, die die Debatte um ein monetäres Element erweitern, das in der Causa Aghet außen vor geblieben war. Abgesehen von diesem tatsächlichen Element kann die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern jedoch durchaus fruchtbar gemacht werden. Die Probleme der Anwendbarkeit der UN-Völkermordkonvention konnten in der Causa Aghet überwunden werden. Einer politischen Benennung der Causa Herero als Völkermord stehen ebenfalls keine rechtlichen Bedenken entgegen. Der Armenier-Beschluss hat insofern auch signalisiert, dass es seitens des Deutschen Bundestages auch für die Reflexion der eigenen Verantwortung keine Vorfälle gibt, die zu weit entfernt oder zu weit zurückliegen. Aktuell bietet er jedoch Anlass zu Kritik, denn die Priorisierung der Causa Aghet gegenüber der Causa Herero ist insbesondere vor Glaubwürdigkeitsgesichtspunkten nur schwer zu erklären. International geht die Debatte um die Causa Aghet weiter. Anfang des Jahres 2018 etwa wurde ein Gesetzesentwurf von der Knesset abgelehnt, der die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern mit der Einführung eines offiziellen Gedenktages verknüpfte.152 Eine im Sommer angesetzte Abstimmung über das Gesetz wurde mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in der Türkei im Juni 2018 auf unbestimmte Zeit verschoben.153 Diplomatische Erwägungen stehen auch hier der Forderung nach Anerkennung entgegen. Die Leugnung des Völkermords an den Armeniern hat weltweit dafür gesorgt, dass auf den politischen Willen von staatlichen Akteuren zur Anerkennung hingearbeitet wird. Der Nutzen dieser Arbeit wird mit Blick auf die aktuell allgemein in Frage stehende Glaubwürdigkeit freier Medien deutlich. Eine wirkliche Gefahr für den öffentlichen Frieden geht von der Leugnung des Völkermords an den Armeniern allein nicht aus. Aktuelle Entwicklungen im Informationszeitalter weisen jedoch auf eine allgemeine Verbreitung von falschen Tatsachen, mit denen sich verschiedene Themen mühelos instrumentalisieren lassen. Das durch sogenannte Fake-News gesäte Misstrauen mündet derzeit immer stärker in ein allgemeines Misstrauen gegenüber dem Staat. In einer Welt, in der sich der Staat gegen erfundene Nachrichten behaupten muss, sind vertrauenswürdige Äußerungen des Staates wichtiger denn je.154 Auch die Leugnung des Völkermords an den Armeniern basiert auf einer alternativen Wahrheit, die für viele Menschen alternativlos ist. Die Causa Aghet illustriert insoweit, wie hartnäckig sich Falschinformationen halten können, obwohl ihre Unwahrheit wissenschaftlich nachgewiesen ist. Sie illustriert auch, welche Kräfte notwendig sind, um einer einmal ausreichend ausgearbeiteten 152

Siehe dazu https://haypressnews.wordpress.com/2018/02/15/israels-parlament-stimmtgegen-gesetzentwurf-zur-anerkennung-des-genozids-an-armeniern/, letzter Abruf 15. August 2018, 23.15 Uhr. 153 Statt aller Israel verschiebt Armenien-Resolution, https://www.n-tv.de/politik/Israel-ver schiebt-Armenien-Resolution-article20461533.html, letzter Abruf 15. August 2018, 23.15 Uhr. 154 Vgl. dazu schon Janssen, Über die Grenzen des parlamentarischen Zugriffsrechts, S. 264 ff., der erkennt, dass sich der Bürger auch vor dem Phänomen Fake News teilweise im Handeln der Leitungsorgane schon aufgrund der Art der Befassung nicht wiederfinden konnte. Vgl. zum Zusammenhang zwischen Legitimität und Vertrauen auch Kissler, in: Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentsrechtspraxis, § 36 Rn. 5.

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4. Teil: Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit Geschichte

alternativen Wahrheit beizukommen. Der demokratische Willensbildungsprozess in der Causa Aghet hat sich gegen alle Manipulationsversuche behauptet. Es existieren unzählige Internetquellen zur Genozidlüge Aghet. Hier wird aber ebenfalls deutlich, dass sich die individuelle Überzeugung davon, ob es sich beim Aghet um einen Völkermord handelt oder nicht, regelmäßig unabhängig von staatlicher Anerkennung bildet und auch in ihrem Fortbestehen nicht unbedingt von ihr abhängt. Einen Völkermordleugner wird die Anerkennung im Gegenteil in seinem allgemeinen Misstrauen in die Kompetenz des Staates schlimmstenfalls sogar bestärken. Insoweit kann die Anerkennung einen Völkermordleugner nicht überzeugen, jedoch ein politisches Signal an alle anderen senden. Wenn der Staat eine historische Realität politisch bekräftigt, ohne damit eine allgemeine Wahrheitspflicht zu postulieren, ist auch der Gefahr von Zensur durch staatliche Wahrheitspflege begegnet.155 Den Opfern, die mit voranschreitender Zeit von Individuen zu historischen Fakten werden, ist durch den Armenier-Beschluss Anerkennung zuteilgeworden. Diese späte Genugtuung gibt möglicherweise auch Hoffnung für die Zukunft. Zuvorderst ist sie aber eine Bekräftigung des Deutschen Staats als Rechtsstaat, nicht als Unrechtsstaat.

155

Vgl. dazu Ladeur, Zum Umgang mit Fake-News im Internet, epd medien Nr. 4, 2017, 5.

Zusammenfassung I. 1. Die historische Einordnung des Völkermords an den Armeniern ist abgeschlossen. Seine juristische Einordnung kann angesichts des zeitlichen Anwendungsbereichs der UN-Völkermordkonvention nicht an diesem Maßstab erfolgen. 2. Der Straftatbestand des Völkermords wurde auch vor dem Hintergrund des Völkermords an den Armeniern entwickelt. Dieser Umstand wird von der amerikanischen Literatur berücksichtigt, ist aber in der deutschen Rezeption überwiegend vernachlässigt. 3. Die Anerkennung des Aghet als Völkermord ist nicht gleichbedeutend mit einer rechtlichen Verwendung des Völkermordbegriffs. Wird der Aghet als Völkermord bezeichnet, wird nur der Inhalt des Tatbestands von Art. II UN-Völkermordkonvention adressiert, nicht aber seine Rechtsfolge. Der Völkermord an den Armeniern hat darüber hinaus eine Vielzahl juristischer Bezugspunkte. 4. Der Völkermord an den Armeniern ist zudem auch allein wegen der Ermordung Talaat Paschas und dem anschließenden Prozess gegen Tehlirian Teil der deutschen Rechtsgeschichte. II. 5.

Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern in Form eines schlichten Parlamentsbeschlusses des Deutschen Bundestages ist ein eigenständiger Untersuchungsgegenstand, der von dem Völkermord an den Armeniern als solchem getrennt zu betrachten ist.

6.

Die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern hat deutsche Parlamente stets beschäftigt. Eine intensive Auseinandersetzung ist jedoch erst seit den frühen 2000er Jahren erfolgt.

7.

Die politischen Folgen der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den Deutschen Bundestag zeigen die politischen Grenzen schlichter Parlamentsbeschlüsse auf.

8.

Schlichte Parlamentsbeschlüsse sind im Vergleich zu ihrem Vorkommen in der parlamentarischen Wirklichkeit verfassungsrechtlich und rechtswissenschaftlich unterbelichtet.

206

9.

Zusammenfassung

Schlichte Parlamentsbeschlüsse sind ein Aliud zum Parlamentsgesetz. Sie stehen daher nicht in einem hierarchischen Unterordnungsverhältnis zu diesem. Der schlichte Parlamentsbeschluss ist deshalb dann die richtige Handlungsform, wenn das Parlament eine politische Mehrheitsentscheidung auf politischer Ebene festhalten, nicht aber unmittelbar rechtsfolgenorientiert tätig werden will.

10. Die Auswertung der statistischen Daten des Deutschen Bundestages zeigt, dass sein Fokus auf der Vorlage und nicht dem schlichten Parlamentsbeschluss als Ergebnis einer Abstimmung über einen Antrag im Vordergrund steht. Schlichte Parlamentsbeschlüsse kommen entgegen bisher getroffener Annahmen nicht häufiger vor als Gesetze, jedoch sind sie die Handlungsform, die am häufigsten auf reine Parlamentsinitiative hin ergeht. 11. Die Bezeichnung „schlicht“ bezog sich ursprünglich auf das Verfahren, in dem schlichte Parlamentsbeschlüsse ergehen. Er hat sich im Laufe der Zeit jedoch derartig weiterentwickelt, dass der schlichte Parlamentsbeschluss weg von einer Sammelkategorie hin zu einem eigenständig konturierten Rechtsbegriff gewachsen ist. 12. Aus der Zulässigkeit eines schlichten Parlamentsbeschlusses folgt seine Rechtsverbindlichkeit ebenso wenig wie die Rechtsverbindlichkeit aus seiner Zulässigkeit. Die tatsächliche Überschneidung beider Bereiche ist nicht auf eine solche kausale Verknüpfung rückführbar. Sowohl Zulässigkeit als auch Verbindlichkeit müssen jeweils auf eigene Grundlagen zurückgeführt werden. 13. Das Parlament ist für den Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse zuständig. Die Zuständigkeit ergibt sich aus dem Zusammenspiel der dem Parlament für die Wahrnehmung seiner Aufgaben zugewiesenen Funktionen. Insbesondere fußt die Befugnis des Parlaments zum Erlass schlichter Parlamentsbeschlüsse auf der Kontroll- und Öffentlichkeitsfunktion. 14. Schlichte Parlamentsbeschlüsse unterliegen dabei verfassungsrechtlichen Grenzen. Im Bereich der Judikative stellten sie einen Verstoß gegen die richterliche Unabhängigkeit aus Art. 97 GG dar und sind deshalb unzulässig. 15. Schlichten Parlamentsbeschlüssen sind darüber hinaus keine inhaltlichen Grenzen gesetzt. Dies gilt auch im Bereich der auswärtigen Gewalt. 16. Schlichte Parlamentsbeschlüsse sind für Dritte grundsätzlich nicht rechtlich verbindlich. Der Versuch einer Herleitung der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse aus allgemeinen Grundsätzen scheitert. 17. Schlichte Parlamentsbeschlüsse entfalten jedoch politische Autorität. Angesichts dieser tatsächlichen Wirkung muss Kern der Betrachtung stets ihr politischer Kontext sein.

Zusammenfassung

207

III. 18. Die judizielle Aufarbeitung staatlichen Unrechts stößt auf enge verfassungsrechtliche Grenzen. Vergangenheitsbezogenes Parlamentshandeln findet seinen Raum regelmäßig dort, wo judizielle Aufarbeitung nicht möglich ist. 19. Der Deutsche Bundestag handelt auf zwei verschiedene Arten geschichtsbezogen. Erstens bedient er sich historischer Argumentationsmuster zur Illustration gegenwarts- wie zukunftsbezogener Auffassungen. Zweitens befasst sich der Bundestag unmittelbar mit historischen Ereignissen als solchen. Regelmäßig aber steht die historische Entwicklung des Parlamentes selbst im Fokus der Auseinandersetzung des Bundestages mit Geschichte. 20. Die vier Typen historischen Erzählens nach Rüsen sind auch gängige Argumentationsformen des deutschen Bundestages. Sie sind auch im Beschluss zur Anerkennung des Völkermords an den Armeniern genutzt worden. 21. Die historische, gerichtliche und parlamentarische Auseinandersetzung mit Geschichte unterscheiden sich in Legitimation, Funktion und Methode. Sowohl Gerichte als auch Parlamente können ihren Entscheidungen Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft zugrunde legen. 22. Der parlamentarische Umgang mit Geschichte ist wesensverschieden vom Umgang mit Geschichte durch Gerichte. Parlamente befassen sich nicht von einem neutralen Standpunkt aus mit historischen Ereignissen. Sie treffen politische Entscheidungen, urteilen jedoch nicht nach aktuellen Maßstäben über historische Rechtsfälle. Insbesondere treffen sie keine Aussagen über die individuelle Schuld. Dadurch unterliegen sie nicht den gleichen prozessualen und materiell-rechtlichen Beschränkungen bei der Auseinandersetzung mit Unrecht wie Gerichte. Auch sind sie nicht zur Befassung mit einem Fall verpflichtet. Ihre Entscheidungen können demgegenüber lediglich politische Autorität entfalten, sind jedoch kein Urteil im Rechtssinn. 23. Die parlamentarische Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen erfolgt in der Regel als Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung. Diese kann verschiedene Formen annehmen, die vom Begraben der eigenen Geschichte bis zu ständigem Rekapitulieren der eigenen Geschichte reichen kann. 24. Die Causa Aghet als Gegenstand parlamentarischer Arbeit reiht sich in bisherige Auseinandersetzungen des Deutschen Bundestages mit Geschichte ein. Der Deutsche Bundestag beschäftigte sich in der Causa Aghet jedoch neben der deutschen Geschichte auch mit der Geschichte eines Drittstaats. Der Aghet ist jedoch ob seiner historischen Besonderheiten ein eigenes Kapitel deutscher Vergangenheitsbewältigung. 25. Die Instrumentalisierung des Völkermords an den Armeniern ist ein globales Phänomen. Das Versprechen, den Aghet als Völkermord anzuerkennen, steht in vielen Staaten in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zu bevorstehenden Wahlen.

208

Zusammenfassung

26. Eine allgemeine Tendenz des Deutschen Bundestages, sich zu Ereignissen der Weltgeschichte zu äußern, ist auch nach der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern nicht zu erwarten. Fruchtbar gemacht werden kann die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern jedoch für den parlamentarischen Umgang mit dem Völkermord an den Herero.

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Stichwortverzeichnis Abstimmung 88, 116, 135 Abstimmungsverfahren 111, 130 Adressat 122, 158 Aghet 15 Anerkennung – Anerkennungsgeschichte 61 ff. – Bedenken 96 ff. – Folgen 91 ff., 98 ff. – International 104 ff. – Kritik 200 – National 90 ff. Antrag 15, 69 ff. – Ablehnung 85, 124 f., 202 f. Argentinien 104 f. Armenien 26 ff. Art. 42 GG 116 Aufarbeitung 37, 186 ff., 196 Aufforderung 71, 112 Auslandseinsatz 164 f. Auslegung 35, 165, 181 Auslegungshilfe 93, 141 Außenpolitisch 29, 96 ff., 144 ff., 201 Äußerung 119, 139 f., 149, 154, 157, 172, 191, 195, 202 f. Auswärtige Beziehungen 144 Auswärtige Gewalt 117 ff., 145 ff. Authentische Interpretation 153 Bagdadbahn 51 Beihilfe 36 f., 89 Bekanntgabe 171 Belgien 105 Berg-Karabach 28, 66 Berlin 54, 101 f. Bewusstsein 56, 181, 185, 194, 201 f. Bolivien 106 Botschafter 30, 50, 97 f., 101 Brasilien 106 Bulgarien 106 Bundesregierung siehe Regierung Bundestagsdebatte 69 ff., 137, 181 ff.

Chile 106 Christentum

26, 39

Dänemark 106 DDR 187, 191, 196 Dementi 91 f. Demonstration 101 ff. Deutsches Kaiserreich 50 Diaspora 26 ff., 66, 105, 107 Duma 29, 96, 104, 198 ff. Echte Parlamentsbeschlüsse 112 ff. Edikt 45 EGMR 31 ff., 96 EMRK 31 ff., 104 Entente 44, 50 Entschließung 92, 112, 118, 130, 164 Entschließungsrecht 92, 127 Erinnern 28, 185, 195 f., 201 f. Erinnerungskultur 196, 202 Ermächtigung 129 ff. Ersuchen 112, 130, 157 Europäische Union 80, 106, 148, 166 Europaparlament 100, 105 f. Exekutive siehe Regierung Exemplarisches Erzählen 178 Exklusivitätsverhältnis 148 Fake News 203 Formulierung 69 ff. Fraktion 124 f., 134, 126 – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 69 ff., 89 f., 124 f., 198 f. – CDU/CSU 69 ff., 85 f. 89, 124 f., 168, 199 – DIE LINKE 60, 65, 69 ff., 90, 95, 124 f., 202 – SPD 69 ff., 85 f., 124 f. Fraktionsantrag 124 ff. Frankreich 32 ff., 50, 77, 104, 199

Stichwortverzeichnis Gedenken 28, 181, 202 Gemeinsame Entschließung 144 Genetisches Erzählen 178 Gericht 54, 79, 92 f., 101 ff. 153, 190 ff. Geschichtspolitik 19, 183 ff. Geschichtswissenschaft 65, 108, 177, 182 ff. Gesellschaftlicher Wandel 189 Gesetzesinitiative 15 Gesetzgeber 33, 128, 131, 162, 170, 172 siehe auch Legislative Gesetzgebungsverfahren 110 f., 114, 125 Gewaltenbegrenzung 135 Gewaltenteilung 118, 145 ff., 161 f. GOBT 111, 130 f. Grenzblockade 71 Grenze 27 ff. Griechenland 53, 83, 105 Gubernative 149 Handlungsinstrument 122, 126, 136, 162, 168, 191 Herero 48, 77, 94, 190, 195, 202 ff., 208 Historiographie siehe Geschichtswissenschaft historische Argumentationsmuster 177 ff. Historisches Erzählen 178 Hochpolitische Akte 118 Hoheitsakt 110, 116, 121 Identität 19, 25 ff., 48, 178, 185 ff., 202 Impuls 73, 122, 162 Innenpolitisch 69 ff., 122, 141 ff. Innere Parlamentsangelegenheiten 111 Johannes Lepsius Judikate 153

63 ff.

Kanada 105 Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung 147 Kleine Anfrage 15, 68 ff., 133 Koalition 69 ff., 122 ff., 170, 202 Konflikt 16, 25, 28 f., 69 ff., 98 ff., 191, 198 Konsens 91, 134, 137, 180, 188 Konstitutiver Parlamentsbeschluss 113, 120 Konstruktives Misstrauensvotum 170

227

Kontrollfunktion 133, 136, 142, 147, 161 f. Konvention u¨ ber die Verhu¨ tung und Bestrafung des Vo¨ lkermordes siehe UN-Völkermordkonvention Kriegsgericht 53 Kritisches Erzählen 178 Kruzifix 47 Kulturgüter 47 Legislative 114, 117, 144 ff. siehe auch Gesetzgeber Legitimation 111, 171, 185 Lemkin, Raphael 55 ff. Leugnung 19 ff., 32 ff., 61 ff., 83, 104, 185 f., 203 Libanon 105 Litauen 106 Luxemburg 106 Massaker 17, 41 ff., 69 ff. Mehrheit 116, 126, 129, 135 ff., 149 f., 175 Meinungsfreiheit 32 ff., 78 Millet-System 40 Missbilligung 142 f. Misstrauensvotum 142 f. Mitgestaltungsrecht 147 Mittäterschaft 36, 77 Mythos 27 NATO 96 ff. Niederlande 105 Öffentliches Interesse 33 Öffentlichkeit 16, 50, 62, 135, 181, 193 f. Öffentlichkeitsfunktion 126, 135 ff. Offizier 50 ff. Opferzahlen 16, 30 f., 45 Opinio iuris 139 Opposition 122 ff. Organkompetenz 129 f. Organtreue 160 f. Osmanisches Reich 50 ff. Österreich 97, 106 Paraguay 106 Parlamentarisches Regierungssystem 146 f.

228

Stichwortverzeichnis

Parlamentsbeteiligungsgesetz 164 f. Parlamentsgesetz 120, 122 ff., 169 f. Parlamentspraxis 122 ff. Parlamentsvorbehalt 164 f. Partei 43, 69 ff. Pogrom 46, 102 Polen 49, 56, 105 Politikwissenschaft 135, 182 ff. Politische Wirkung 167 ff., 173 ff.

UN-Völkermordkonvention – Entstehung 55 ff. – Subsumtion unter 36 f. Unechte Parlamentsbeschlüsse siehe echte Parlamentsbeschlüsse Ungeschriebenes Verfassungsrecht 131 Unrecht 22, 55 ff., 176 ff., 186 ff. Urteil 52, 141, 184 ff. USA 106, 199

Rechtsfolge 114 f., 171 ff., 184, 59 f. Rechtsgrundlage 115, 131 ff., 164 Rechtsnachfolge 36, 94, 185 Regierung 69 ff., 91 ff., 108, 126, 143, 147 f., 159 ff., 164 ff., 175, 181 Regierungsinitiative 127 Regierungssprecher 91 ff. Religion 26, 40 ff. Reparationen 94, 141 Repräsentation 108, 135 ff. Resolution 112, 164 Rückwirkungsverbot 194 Russland 26, 38 ff., 50, 105 f., 187, 96, 198 ff.

Vatikan 97, 107 Venezuela 105 Verarbeitung 176 ff. Verbandskompetenz 129 f. Verbindlichkeit 154 ff. Verbot 32 ff. Verbündeter 37 ff. Verfahren 114 ff. Verfassungsbeschwerde 96, 154 Vergangenheitsbewältigung 182 ff. Vergangenheitspolitik 183 ff. Vergessen 19, 182 ff. Verpflichtung 37 Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener 33, 202 Völkermordgeschichte 25 ff. – Deutsche Bezüge 48 ff. Völkerstrafrecht 54 ff.

Saarfrage 150 ff. Sanktion 32 ff., 49, 58, 97, 163, 169 Schadensersatz 93 f., 141 Schweden 82 f., 105 Schweiz 32 ff., 104 f. Slowakei 105 Sonderrecht 35 Souveränität 54 ff., 200 Staatsleitung 145 ff. Statistik 122 ff. Stellungnahme 112 Strafe 32 ff., 55 ff., 102, 194 Strafprozess 186 ff. Strafverfolgung 186 ff. Sui Generis 121 f. Symbol 28, 47, 195 Tanzimat 43 Tehlirian 54 f. Terminologie 111 Traditionelles Erzählen 178 Tragische Ereignisse 69 ff. Tschechische Republik 106

Wahlen 115 Wahlfreiheit 171 Wahlkampf 87 f., 198 f. Wahlperiode 122 ff. Wahrheitskommission 195 Weimarer Republik 122, 143, 180 Weisung 141 ff., 155, 162, 165 ff. Wesentlichkeitstheorie 171 f. Willensäußerung 157 Willensbildung 109, 134, 137 f., 147 ff., 204 Wirkung 167 ff. Wirtschaft 27 f., 51 Zirkelschluss 132 Zulässigkeit 127 ff. Zuständigkeit 127 ff. Zypern 105