Ein Paradigma der Moderne: Jüdische Geschichte in Schlüsselbegriffen. Festschrift für Dan Diner zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783666300844, 9783647300849, 9783525300848


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German Pages [462] Year 2016

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Ein Paradigma der Moderne: Jüdische Geschichte in Schlüsselbegriffen. Festschrift für Dan Diner zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783666300844, 9783647300849, 9783525300848

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Ein Paradigma der Moderne Jüdische Geschichte in Schlüsselbegriffen Festschrift für Dan Diner zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Arndt Engelhardt, Lutz Fiedler, Elisabeth Gallas, Natasha Gordinsky und Philipp Graf

Vandenhoeck & Ruprecht

Lektorat: Susan Wille (Polifolia) Mit 16 Abbildungen Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln.

Umschlagabbildung: Frank Maibier, Chemnitz, Objekt: transparent-variabel, 2008. © Foto: Erik Engelhardt, Leipzig. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30084-9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt

Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 RECHT

Diplomatie · Entrechtung · Restitution · Staatsangehörigkeit David Jünger, Berlin Am Scheitelpunkt der Emanzipation. Die Juden Europas und der Berliner Kongress 1878 . . . . . . . . . . . . . 17 Maja Ščrbačić, Jerusalem Eugen Mittwoch gegen das Land Preußen. Die Entlassungsmaßnahmen in der Berliner Orientalistik, 1933−1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Iris Nachum, Tel Aviv/Jerusalem Epilog der »Arisierung«. Der Lastenausgleich neu betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Miriam Rürup, Hamburg Vom Recht der Rechtlosen. Staatenlosigkeit als Zeitsignatur des ersten Nachkriegsjahrzehnts . . . . . 79 POLITIK

Klasse · Nation · Exil · Zugehörigkeit Jan Gerber, Leipzig 1844, Rue Vaneau, Paris. Karl Marx und die Entdeckung der Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Sebastian Voigt, München/Leipzig Intellektuelle Parias. Bernard Lazare, Raymond Aron und Pierre Goldman zur Dreyfusaffäre (1894–1906) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

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Inhalt

Felix Pankonin, Leipzig Vom Kommunisten zum Labour-Man. Richard Löwenthal im britischen Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 David Kowalski, Leipzig Adam Michnik. Eine polnisch-jüdische Nachkriegsbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 REPRÄSENTATIONEN

Übersetzung · Bühne · Sprache Eran J. Rolnik, Tel Aviv Freud lesen, Freud übersetzen. Über Theorie- und Kulturtransfer in der Psychoanalyse . . . . . . . . . . . 179 Stefan Hofmann, Leipzig Andorra in Deutschland. Fritz Kortner und die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik . . . . . 199 Mohamed A. H. Ahmed, Mansura/Leipzig Two Languages, One Text. Cultural Translation in Iraqi Jewish Fiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 WISSEN

Haskala · Wissenschaft · Orientalistik · Statistik Dirk Sadowski, Braunschweig Eine Krone für den Buchdruck. Hebräische Typografie und jüdisches Wissen in der Frühen Neuzeit . . . . 239 Imanuel Clemens Schmidt, Leipzig Kulturkampf, Protestantisierung, Wissenschaft. Matthias Jacob Schleidens Konzeption vom Judentum . . . . . . . . . . . . 263 Walid Abd El Gawad, Leipzig Dreifache Vermittlung. Israel Wolfensohn als Pionier der israelischen Orientwissenschaft . . . . . 287 Judith Ciminski, Berlin Die Gewalt der Zahlen. Preußische »Judenzählung« und jüdische Kriegsstatistik . . . . . . . . . . 309

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Inhalt

GESCHICHTE

Gesetz · Philosophie · Gedächtnis Inka Sauter, Leipzig Weltwende. Spuren der Geschichte im Werk Isaac Breuers . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Anna Pollmann, Leipzig Im Modus des Als-Ob. Günther Anders und das postmoderne Denken . . . . . . . . . . . . . . . 351 Robert Zwarg, Leipzig Figuren des Nachlebens. Die Kritische Theorie in Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457

Zur Einführung

Die jüdische Geschichte eröffnet Erkenntnishorizonte weit über ihren eigentlichen Gegenstand hinaus. Als Geschichte der diasporischen Judenheiten in verschiedenen imperialen und nationalen Gemeinwesen ist sie dazu angetan, einen Zugang zum Verständnis der modernen Zeit insgesamt anzubieten. Mehr noch: Sie bildet gleichsam ein Paradigma der Moderne. Denn der Blick auf die jüdischen Lebenswelten in ihrer räumlichen Ausdehnung wie zeitlichen Dauer eignet sich in besonderem Maße dazu, Errungenschaften und Ausdrucksformen ebenso wie Transformationsprozesse, Krisen und Verwerfungen moderner Gesellschaften sichtbar zu machen. Die Geschichte der Juden in der Moderne ist an erster Stelle eine Geschichte von Verwandlungen. In unterschiedlichen Ausprägungen transformierten sich die vormodernen jüdischen Gemeinden Europas, die sich jahrhundertelang durch den sakralen Text und das religiöse Gesetz definiert hatten, in Gemeinschaften und Individuen, die nach neuartigen Formen suchten, moderne Welt und jüdisches Selbstverständnis zu vereinen. Dieser Säkularisierungsprozess vollzog sich im Kontext der sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften und wies in ganz verschiedene Richtungen. Im Westen waren Juden im Zuge der Französischen Revolution zu citoyen, zu Staatsbürgern, geworden, die ihre religiöse Zugehörigkeit internalisiert und konfessionalisiert hatten. Anders stellte sich die Situation in den von ethnischen Zerklüftungen geprägten Imperien des östlichen Europas dar: Hier wurde auch der jüdischen Existenz eine nationale Prägung eigen und es kam zu einer Vielzahl von Entwürfen jüdischer Kollektivität. Die Beschäftigung mit diesen sich ausdifferenzierenden jüdischen Lebenswelten im Osten und Westen des Kontinents und den durch Migrationsbewegungen entstandenen neuen Zentren jenseits des Atlantiks bringt eine aufschlussreiche Kontur neuzeitlicher Erfahrung zum Vorschein: Die diasporische Kondition jüdischer Lebenswelten war durch eine Geschichtserfahrung bestimmt, in der Transnationalität, Mobilität, Urbanität und Textualität nicht die Ausnahme, sondern die Regel waren. Sie entsprach somit den Erwartungshaltungen der Moderne auf bemerkenswerte Weise. Zugleich sind die Spezifika der jüdischen Lebenswelten nur innerhalb ihrer jeweiligen räumlichen und sozialen Umgebung zu verstehen; gerade die Verhandlungen von Zugehörigkeit und Selbstverständnis in Europa und Amerika, aber auch im­ Jischuw, Israel und dem Nahen Osten schärfen deshalb unsere Perspektive auf die ­Herausforderungen, Möglichkeiten und auch die Bruchstellen der Moderne. Eine solche Akzentuierung der jüdischen Geschichte als ein Arsenal der Erkenntnis für die allgemeine Geschichte Europas verdankt sich wesentlich dem

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Zur Einführung

Wirken von Dan Diner. Ihm ist der vorliegende Sammelband gewidmet. Nach einer ersten Festschrift zum 60. Geburtstag, herausgegeben von Raphael Gross und Yfaat Weiss, und einer Würdigung zum 65. Geburtstag mit dem von ­Nicolas Berg, Omar Kamil, Markus Kirchhoff und Susanne Zepp betreuten Band, ist die vorliegende Schrift die dritte zu Dan Diners Ehren. Als Publikation, in deren­ Mittelpunkt die Forschungsbeiträge von Schülerinnen und Schülern des Jubilars stehen, betritt sie jedoch Neuland. Sämtliche hier versammelten Autorinnen und Autoren wurden in ihrer akademischen Ausbildung vom Denken und der Forschungskonzeption Dan Diners inspiriert, die meisten von ihnen während seiner Tätigkeit als Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Diese Festschrift ist demnach in besonderem Maße Ausweis einer Schulbildung, die von seinem historiografischen Zugriff und seinen vielfältigen Arbeiten geprägt wurde. Dan Diner hat die Deutung der jüdischen Geschichte in den anderthalb Jahrzehnten seiner Leitung des Simon-Dubnow-Instituts kontinuierlich mit neuen Erkenntnisinteressen und Forschungsfragen weiterentwickelt und ergänzt. Standen zu Beginn Aspekte jüdischer Diplomatie- und Rechtsgeschichte im Zentrum der Forschung, so erweiterte sich das Spektrum bald um Phänomene der Säkularisierung in Religion, Wissenschaft und Lebenswelt. Fragen nach der Darstellung jüdischer Zugehörigkeit in der Literatur, nach dem Zusammenhang von Erfahrung und Erkenntnis traten hinzu, ebenso ein gedächtnisgeschichtlicher Zugriff auf die Wahrnehmungsgeschichte des Holocaust – ein Ansatz, der das Arbeitsprofil des Instituts besonders in den letzten Jahren konturierte. Die Bandbreite dieser Themen spiegelt sich auch im vorliegenden Band. Die aus unterschiedlichen Interessen der Beiträgerinnen und Beiträger in Bezug auf historische Räume, Zeiten und Konstellationen erwachsenen Forschungen fügen sich nachgerade zu einem Kaleidoskop jüdischer Geschichte und Kultur zusammen, das ihren paradigmatischen Charakter erfahrbar werden lässt. Die einzelnen Aufsätze dieses Bandes sind mit Schlüsselbegriffen überschrieben, die der multiperspektivischen Annäherung an den Gegenstand dienen, Fragen und Themen im historischen Feld verorten und auf die Beziehungen von vermeintlich disparaten Erscheinungen jüdischer Lebenswelten von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart verweisen. Die exemplarischen Begriffe spiegeln die universelle Geltung der jüdischen Geschichtserfahrung und bringen das Allgemeingültige in den aus partikularer Perspektive beschriebenen Wissensbeständen, Zeiten und Räumen zur Anschauung. Der erste Teil, mit dem Begriff »Recht« überschrieben, führt Beiträge zusammen, die in chronologischer Abfolge einen Bogen vom jüdischen Ringen um Gleichstellung im 19. Jahrhundert bis zur gewaltsamen Ausstoßung der Juden aus dem europäischen Rechtsraum im Nationalsozialismus und den Jahren seiner Nachgeschichte spannen. David Jünger (Berlin) rekonstruiert ein für die jüdische Geschichte wirkmächtiges Ereignis moderner Diplomatie: den ­Berliner­

Zur Einführung

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Kongress im Jahr 1878. Aus der Sicht der jüdischen Akteure, die sich im Vorfeld und auf dem Kongress für die rechtliche Gleichstellung der rumänischen Juden einsetzten, zeigt er, welche Widersprüche und Konfliktfelder die Emanzipation der euro­päischen Juden begleiteten. Mit Hilfe einer dichten Beschreibung der Vorgänge rund um die Entlassung des Orientalisten Eugen Mittwoch aus dem Universitäts­dienst im Jahre 1938 erörtert Maja Ščrbačić (Jerusalem) in ihrem Aufsatz die zunehmende E ­ ntrechtung und die ausweglose Situation der deutschen Juden zwischen der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten und dem November­pogrom. Nachfolgend diskutiert Iris Nachum (Tel Aviv/Jerusalem) in ihrem Beitrag die konfliktbeladene Kriegsfolgengesetzgebung, die zur Restitution von Rechtsräumen nach 1945 beitragen sollte. Dabei setzt sie das bundesdeutsche Lastenausgleichsgesetz für die aus den ehemaligen deutschen Gebieten im östlichen Europa Vertriebenen ins Verhältnis zur Rückerstattungspolitik gegenüber den jüdischen Opfern des N ­ ationalsozialismus. Im Anschluss hebt Miriam Rürup (Hamburg) die existenzielle Bedeutung der Staatsangehörigkeit hervor, indem sie deren Negativfolie − die Staatenlosigkeit − als wesentliche Geschichts­erfahrung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in ihren verschiedenen, auch kulturellen Resonanzräumen verhandelt. Die im zweiten Teil versammelten Beiträge stehen unter der Überschrift »Politik«. Sie thematisieren kategoriale Existenzerfahrungen in der Moderne, wie sie am jüdischen Gegenstand sichtbar werden, vornehmlich in Form politischer Begrifflichkeiten. So folgt der Aufsatz von Jan Gerber (Leipzig) dem Marx’schen Verständnis des Begriffs der Klasse im Paris der 1840er Jahre. Nicht von ungefähr weist dessen Aneignung Analogien zu einer allgemeinen historischen Entwicklung auf, jüdische Zugehörigkeit mittels eines universellen, die Herkunft nivellierenden Deutungsmusters von Gesellschaft hinter sich zu lassen. Anschließend erläutert Sebastian Voigt  (München/Leipzig) am Beispiel der Reaktionen dreier französischer Intellektueller auf die Dreyfusaffäre epochenübergreifend die Konstituierung der modernen Nation, aus der Juden entgegen des Gleich­ heits­versprechens von 1789 nicht nur in Frankreich immer wieder ausgeschlossen zu werden drohten. Felix Pankonin (Leipzig) diskutiert in seinem Aufsatz die Emigrationsjahre des Politikwissenschaftlers Richard Löwenthal in Großbritannien und seine dort vollzogene Wandlung vom Kommunisten zum Sozialdemokraten. Dabei stellt er vor allem die Denktraditionen herausfordernde und verändernde Wirkung des Exils als einer zentralen jüdischen Erfahrung der Moderne heraus. David Kowalski (Leipzig) schließlich situiert den Publizisten und Dissidenten Adam Michnik in der polnischen Nachkriegsgeschichte und beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven insbesondere die Spannungsmomente in der Aushandlung von tradierter, angestrebter und verweigerter Zugehörigkeit zur polnischen Mehrheitsgesellschaft. Der dritte Teil des Bandes führt unter dem Titel »Repräsentationen« Fragen der Darstellung und Transformation jüdischer Kultur im 20. Jahrhundert zusammen.

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Zur Einführung

Eran J. Rolnik (Tel Aviv) konturiert in seinem Beitrag die Arbeit der Übersetzung als eine außergewöhnliche Form des Kulturtransfers. Anhand seiner eigenen Tätigkeit als Übersetzer von Sigmund Freud ins Hebräische reflektiert er deren Auswirkungen auf das Nachdenken über die psychoanalytische Praxis und Theorie im Allgemeinen. Nachfolgend untersucht Stefan Hofmann (Leipzig) in seinem Aufsatz die Rezeptionsgeschichte von Max Frischs Theaterstück »Andorra« in der frühen Bundesrepublik und zeigt, in welcher Form auf der Bühne die Wahrnehmung des Holocaust in der deutschen Nachkriegsgesellschaft abgebildet und verhandelt wurde. In Mohamed A. H. Ahmeds (Mansura/Leipzig) Aufsatz wird­ Sprache in ihrer Funktion als Austragungsort für die Aushandlung irakisch-jüdischer Zugehörigkeit in der israelischen Literatur vorgestellt. Anhand der Romane von Shimon Ballas und Eli Amir untersucht Ahmed aus linguistischer Perspektive heraus die Prozesse kultureller Übertragung vom Arabischen ins Hebräische. Im vierten, mit dem Begriff »Wissen« überschriebenen Teil werden kanonisierte und dem Prozess der Säkularisierung ausgesetzte Wissensformen nach ihren historischen und begrifflichen Wandlungen befragt. So beschäftigt sich Dirk Sadowski (Braunschweig) anhand ausgewählter hebräischer Druckwerke mit einem Konversionsphänomen. Er erörtert die Öffnung der traditionellen aschkenasischen Wissenswelt vor dem Hintergrund der technischen Innovation des Buchdrucks und fächert die Strategien für die Dissemination säkularen und­ hybriden Wissens im Zeitalter der Haskala auf. Für das 19. Jahrhundert thematisiert Imanuel Clemens Schmidt (Leipzig) am Beispiel der wissenshistorischen Arbeiten des Botanikers Matthias Jacob Schleiden einen vielschichtigen Austauschprozess, der neben einer Faszination für die historische Rolle jüdischer Gelehrter von der kritischen Auseinandersetzung mit dem zeitgenössisch dominanten Protestantismus sowie geschichtsapologetischen Ansätzen geprägt war und die Etablierung eines neuen Verständnisses von Wissenschaft zum Ziel hatte. In einer mit der Fachgeschichte der Orientalistik verbundenen Darstellung des Wirkens von Israel Wolfensohn beschreibt Walid Abd  El Gawad (­Leipzig) einen Transfer, der europäisch-deutsche, hebräische und arabische Wissenskulturen umfasst. Gleichzeitig verweist er damit auf die besondere Konstellation der deutschsprachigen Orientkunde im 19. Jahrhundert und erinnert an die tragenden Impulse jüdischer Gelehrter für die moderne Islamwissenschaft. Das aus den Staatswissenschaften des 19. Jahrhunderts erwachsene Fach der ­Statistik und seine Aneignung durch jüdische Akteure erläutert Judith Ciminski ­(Berlin) in ihrem Beitrag. Sie widmet sich den differierenden Fachverständnissen und dem Spannungsfeld zwischen bürgerlichem Erkenntnisideal und staatlicher Machtpolitik, die im Umfeld der »Judenzählungen« im Kontext des Ersten Weltkriegs offensichtlich wurden. Der abschließende Teil  des Bandes ist mit »Geschichte« überschrieben und vereint Beiträge, die vielfältige jüdische Auseinandersetzungen mit dem historischen Denken in der Moderne zum Gegenstand haben. So rückt Inka Sauter

Zur Einführung

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(Leipzig) in ihrem Beitrag zu Leben und Werk Isaac Breuers die Konfrontation von jüdischem Gesetz und historischem Fortschrittsbegriff ins Zentrum. Hatte jener bedeutende Vertreter der Neo-Orthodoxie im Gefolge des Ersten Weltkriegs noch eine Versöhnung zwischen jüdischem Messianismus und moderner Geschichtsphilosophie erhofft, so sah er sich angesichts des Nationalsozialismus, in dem Breuer eine »Weltwende« erkannte, aus der Geschichte ausgestoßen und auf seine jüdische Existenz zurückgeworfen. Den Untergang des modernen Fortschrittsbegriffs diskutiert auch Anna Pollmann (Leipzig), die in ihrem Beitrag die Philosophie und Denktraditionen von Günther Anders zum Thema macht. Gegenüber dem Versuch einer Vereinnahmung seiner Texte durch neuere postmoderne Ansätze hebt sie hervor, dass Anders’ Abkehr von den »großen Erzählungen« der Moderne ein Resultat spezifischer historischer Erfahrung war. Mit Auschwitz und Hiroshima zerbrach ihm der Erwartungshorizont einer menschheitlichen Zukunft. Die Zeit nach dem Zivilisationsbruch nimmt auch der Beitrag von Robert Zwarg (Leipzig) in den Blick. Mit seinen Ausführungen zum Nachleben der Kritischen Theorie in den Vereinigten Staaten erhellt er nicht nur die Verwandlung und politische Aufladung einer Tradition im Zuge ihrer trans­atlan­ tischen Migration, sondern auch den Umstand, dass es geradezu das ­Gedächtnis von Weimar war, das bei einer ganzen Generation von amerikanischen Studenten Faszination für die aus Europa stammenden Ideen ausgelöst hat. Neben den hier zur Würdigung Dan Diners versammelten Beiträgen ist dieser Festschrift eine Bibliografie seiner Schriften beigefügt. Sie präsentiert sein Werk der vergangenen fünf Dekaden und soll zum einen dessen breites Spektrum aufzeigen und es zum anderen einer interessierten Leserschaft leichter zugänglich machen. Die chronologische Ordnung der Titel umgeht eine mögliche hierar­chisierende Gliederung entlang unterschiedlicher Textgattungen. So zeichnet sich auch der Entstehungsrahmen der vielfältigen Themenschwerpunkte Dan­ Diners ab, der sich von einer Beschäftigung mit der Palästinafrage und dem Vorderen Orient zu einer erkenntnistheoretischen Annäherung an den Holocaust und dessen universaler Geltung für die Nachwelt erstreckt. Letztere hat bleibenden Niederschlag in der Begriffsbildung vom »Zivilisationsbruch« gefunden. Emblematisch stehen die Schriften von Dan Diner zudem für die bereits betonte epistemische Bedeutung der jüdischen Geschichte innerhalb der allgemeinen­ Geschichte. Einen Höhepunkt haben diese im Abschluss der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur gefunden, der sich mit dem 70. Geburtstag von Dan Diner überschneidet. Anspruch auf Vollständigkeit erhebt die Bibliografie nicht, stehen doch zahlreiche Publikationen in Aussicht, die aus bisherigen Forschungen schöpfen und aus den neueren Vorhaben von Dan Diner an der Hebräischen Universität Jerusalem hervorgehen werden. Der vorliegende Band ist im intensiven Austausch zwischen Haifa, Jerusalem und Leipzig entstanden. Er hätte ohne die große Hilfsbereitschaft und das En­ gage­ment zahlreicher Personen und Institutionen nicht realisiert werden können.

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Zur Einführung

An erster Stelle gilt unser Dank den Autorinnen und Autoren, die die Einladung, an der Festschrift mitzuwirken, mit Verve, Kreativität und Dialogbereitschaft angenommen haben. Den Herausgeberinnen und Herausgebern der ersten beiden Festschriften für Dan Diner danken wir für vielfältige Anregungen und wichtige Hinweise. Zudem sind wir Susan Wille zu großem Dank verpflichtet, die als Lektorin dafür sorgte, dass aus vielen Teilen ein Ganzes entstanden ist. Sehr herzlich danken wir darüber hinaus der Fritz Thyssen Stiftung, Köln, für die großzügige Förderung der Drucklegung und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, hier insbesondere Daniel Sander, für deren kompetente Begleitung. Dem Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, namentlich seinem neuen Direktor Raphael Gross und dessen Stellvertreter Jörg Deventer, danken wir für vielseitige Hilfe und Unterstützung. Petra Klara Gamke-Breitschopf stand uns in allen Fragen der Redaktion, Produktion und Buchgestaltung immer mit klugem Rat und engagierter Tat zur Seite, wofür wir von Herzen dankbar sind. Florian Henz und Ludwig Decke danken wir für die Erstellung des Registers. Mit diesem Buch gratulieren wir unserem akademischen Lehrer Dan Diner sehr herzlich zu seinem Geburtstag. An der Entwicklung und Ausformung seiner Denktradition teilzuhaben und die »Leipziger Schule« jüdischer Geschichtsschreibung mitzugestalten erfüllt uns mit großer Freude und Dankbarkeit. Verbunden mit der Überreichung der Festschrift sind deshalb auch der Wunsch und die Hoffnung auf eine Fortsetzung dieses anregenden intellektuellen Austauschs in alten und neuen Zusammenhängen. Arndt Engelhardt, Lutz Fiedler, Elisabeth Gallas, Natasha Gordinsky und Philipp Graf Haifa, Jerusalem und Leipzig im Mai 2016

RECHT Diplomatie · Entrechtung · Restitution · Staatsangehörigkeit

David Jünger

Am Scheitelpunkt der Emanzipation Die Juden Europas und der Berliner Kongress 1878

Berlin-Charlottenburg, 3. Juli 1878 Am Abend des 3. Juli 1878 versammelten sich in einer Villa im Berliner Stadtteil Charlottenburg die Granden des europäischen Konzerts. Der britische Premierminister Benjamin Disraeli war erschienen, ebenso wie der russische Botschafter in London Graf Pjotr Schuwalow, der französische Außenminister William Henry Waddington sowie der Außenminister der k.u.k.-Monarchie Gyula Andrássy. Das Programm des hochrangigen Treffens sah an diesem Abend jedoch keine zähen Verhandlungen vor, kein diplomatisches Protokoll, kein Taktieren und Antichambrieren, sondern eine gesellige Zusammenkunft in entspannter Atmosphäre. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stand der Hausherr der Charlottenburger Villa, der zu dem opulenten Bankett geladen hatte: der Privatbankier und enge Vertraute Otto von Bismarcks, Gerson von Bleichröder (1822–1893).1 Die Feier in der Villa sollte der Triumphmarsch Bleichröders sein, nachdem er wenige Tage zuvor auf dem Berliner Kongress mittels des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck durchgesetzt hatte, dem neu zu gründenden rumänischen Staat per Dekret der Großmächte die rechtliche Gleichstellung seiner Juden zu verordnen. Gerson von Bleichröder war eine der wichtigsten Persönlichkeiten in der Bismarck’schen Entourage, da er durch ein weitverzweigtes geschäftliches Netzwerk vielfältige politische Unternehmungen Bismarcks und des Deutschen Reichs finanzierte. In den 1870er Jahren war er aufgrund seiner Geschäftskontakte und seiner Nähe zu Bismarck zu einem der einflussreichsten jüdischen Notabeln Europas aufgestiegen. Das Bankett war, so erinnerte sich ein öster­reichischer Diplomat, »das beste Diner [sic], zu dem ich je geladen war«.2 Benjamin Disraeli, der mit der Architektur jüdischer Interessensvertretung im Europa des späten 19.  Jahrhunderts bestens vertraut war, schrieb über seine Beobachtungen am Abend jenes 3.  Juli: »Der große Bankier von Berlin heißt 1 Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt a. M./ Berlin 1978, 463. 2 Zit. nach ebd.

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Bleichröder. Er war ursprünglich ein Agent Rothschilds, aber die preußischen Kriege boten ihm so große Möglichkeiten, daß er nunmehr fast ein Konkurrent seines früheren Chefs zu sein scheint.«3 Machten Bleichröder hier die Größen der europäischen Politik ihre Aufwartung, waren die Glückwünsche der jüdischen Notabeln Sir Moses Montefiore und Adolphe Crémieux sowie verschiedener jüdischer Gemeinden weltweit bereits einige Tage zuvor eingegangen.4 Im Juli 1878 befand sich Gerson von ­Bleichröder auf dem Höhepunkt seines politischen Schaffens. An jenem Mittwochabend wurde dies feierlich begangen. Sein persönlicher Triumph markierte zugleich den Höhepunkt jüdischer Diplomatie und jüdischer Emanzipation in Europa, knüpfte die Implementierung des Artikels 44 in die Kongressakte von Berlin doch die Gründung des rumänischen Staats an die Verpflichtung, dessen ungefähr 200 000 Juden politisch zu emanzipieren. Dies war ein historisches Novum. Aus der Perspektive europäischer Politik mochte das Ereignis randständig und unbedeutend gewesen sein, aus jüdischer Perspektive war es jedoch eine Sensation. In den westlichen Staaten Europas  – in England, Frankreich, Italien oder Deutschland – war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Judenemanzipation vollendet worden. Dies bedeutete ihre vollständige rechtliche Gleichstellung mit den anderen Staatsbürgern. Judentum war damit staatsrechtlich als Religion oder Konfession gefasst. Die Juden waren keine distinkte Volksgruppe mehr, sondern gleichberechtigte Staatsbürger jüdischer Konfession.5 Der Artikel 44 der Kongressakte zu Berlin weckte nun Hoffnungen, dass dieses Emanzipationskonzept sogar in den Osten und Südosten Europas exportiert werden könnte. Die bis dahin relativ kontinuierlich verlaufende Entwicklung der jüdischen Gleichberechtigung in Europa schien ihrer endgültigen Durchsetzung entgegenzugehen. Allein: Der Triumph von Berlin verwandelte sich innerhalb weniger Jahre in eine Tragödie. Die in Artikel 44 dekretierte Emanzipation der rumänischen Juden wurde praktisch nie vollzogen. Vielmehr noch wurden der Kongress und seine Ergebnisse Referenzen des sich in Deutschland entwickelnden modernen Antisemitismus. Und nicht zuletzt waren die späten 1870er Jahre der Beginn jener jüdischen Massenemigration nach Amerika, die die Struktur der weltweiten

3 Zit. nach ebd., 581. 4 Télégramme de Crémieux à Bleichröder, 2. Juli 1878, in: Carol Iancu (Hg.), Bleichröder et Crémieux. Le combat pour l’emancipation des Juifs de Roumanie devant le congrès de Berlin. Correspondance inédite (1878–1880), Montpellier 1987, 161; Stern, Gold und Eisen, 462 f. 5 Vgl. Friedrich Battenberg, Judenemanzipation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), (14. Februar 2016); Benzion Dinur, Emancipation, in: Encyclopaedia Judaica, hg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik, Bd. 6, Detroit, Mich., 22007, 374–386.

Am Scheitelpunkt der Emanzipation

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Die Villa Bleichröder in Berlin-Charlottenburg (erbaut 1824; Umbau von Martin Gropius 1864–1866), Aufnahme um 1890.

Judenheiten für immer veränderte. Mit einigem Recht lässt sich behaupten, dass das Jahr 1878 den Höhepunkt der jüdischen Emanzipation in Europa darstellte, die in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer stärkeren Erosionen ausgesetzt war. Vor diesem Hintergrund kann der Artikel 44 der Berliner Kongressakte, so marginal er im größeren weltgeschichtlichen Zusammenhang erscheinen mag, als Panoptikum der jüdischen Geschichte der Moderne, ja als dessen Scheitel­ punkt gedeutet werden.6 Die historische Forschung hat diesen Zusammenhang bis auf wenige Ausnahmen nicht hergestellt und damit die transnationalen Verschränkungen jener für die jüdische Geschichte der Moderne bedeutenden Ereignisse des Jahres 1878 übersehen. Lediglich die Studien zur jüdischen Interessenvertretung auf dem Berliner Kongress und jüdischer Diplomatie im Allgemeinen nehmen eine 6 Dan Diner hat den Berliner Kongress für die jüdische Diplomatiegeschichte ebenso als »Scheitelpunkt« bezeichnet: Dan Diner, »Meines Bruders Wächter.« Zur Diplomatie jüdischer Fragen, in: ders., Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, 113–124, hier 113. Auch Reinhard Rürup nennt den Berliner Kongress den »krönenden Abschluß« des Zeitalters der Judenemanzipation: Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur »Judenfrage« der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, 101.

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transnationale Perspektive ein, die ihrem Gegenstand per se eingeschrieben ist.7 Hervorzuheben ist hier besonders Fritz Sterns bedeutende Doppelbiografie Otto von Bismarcks und Gerson von Bleichröders.8 Zumeist werden die Ereignisse stattdessen aus eindimensionaler, meist nationaler Perspektive behandelt. So existieren nur einige wenige Arbeiten zur Geschichte der rumänischen Juden, zu den Fragen von deren Teilhabe und Emanzipation im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie zur vertraglich festgesetzten Emanzipation auf dem Berliner Kongress.9 Davon vollständig losgelöst ist die historische Forschung zur Genese des politischen Antisemitismus im Kaiserreich, in denen der Berliner Kongress, wenn überhaupt, lediglich eine Randnotiz ist.10 Die Überblicksdarstellungen zur jüdischen Migration im 19.  und 20.  Jahrhundert beschäftigen sich maßgeblich mit dem Beginn der jüdischen Massenemigration in Folge der Pogromwelle der Jahre 1881 und 1882 im Russländischen Reich. Die vorangehen-

7 Carol Iancu, Adolphe-Isaac Crémieux, Gerson von Bleichroeder and the Jewish Politics of »Shtadlanut« in the 19th Century, in: Studia Judaica 15 (2007), 67–81; Markus Kirchhoff, Diasporische versus zionistische Diplomatie, 1878–1917, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 17 (2007), H. 1, 123–146; ders., Einfluss ohne Macht. Jüdische Diplomatiegeschichte 1815–1878, in: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte, Göttingen 2005, 121–146; Diner, »Meines Bruders Wächter.«; Abigail Green, Intervening in the Jewish Question, 1840–1878, in: Brendan Simms/D. J. B. Trim (Hgg.), Humanitarian Intervention. A History, Cambridge u. a. 2011, 139–158. 8 Stern, Gold und Eisen. 9 Carol Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919. De l’exclusion à l’emancipation, Aix en Provence 1978; Ion Stanciu (Hg.), The Jews in the Romanian History. Papers from the International Symposium, Bucharest September 30–October 4, 1996, Bukarest 1999; Dietmar Müller, Staatsbürger auf Widerruf. Juden und Muslime als Alteritätspartner im rumänischen und serbischen Nationscode. Ethnonationale Staatsbürgerschaftskonzepte 1878–1941, Wiesbaden 2005; Marianne Hausleitner, Intervention und Gleichstellung. Rumäniens Juden und die Großmächte, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 1 (2002), 475–531; Imanuel Geiss, Die jüdische Frage auf dem Berliner Kongreß 1878, in: Tel Aviver Jahrbuch für die Geschichte der deutschen Juden 10 (1981), 413–422; Nathan Michael Gelber, Jüdische Probleme beim Berliner Kongress 1878, in Robert Weltsch (Hg.), Deutsches Judentum, Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke. Vierzehn Monographien, Stuttgart 1963, 216–252. 10 Wolfgang Benz/Werner Bergmann (Hgg.), Vorurteil und Völkermord. Entwicklungslinien des Antisemitismus, Freiburg i. Br. 1997, 117–340; Werner Bergmann/Rainer Erb, Die Nachtseite der Judenemanzipation. Der Widerstand gegen die Integration der Juden in Deutschland 1780–1860, Berlin 1987; Hermann Greive, Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1988; Paul Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Frankfurt a. M. 1959; Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1958, 66–102; Helmut Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Stuttgart 1988, ­11–164; Werner Jochmann, Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland ­1870–1945, Hamburg 1988; Jacob Katz, Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemi­ tismus 1700–1933, München 1989. Lediglich in Rürup, Emanzipation und Antisemitismus, 101, und Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Gütersloh 1966, 125, wird dieser Zusammenhang erwähnt.

Am Scheitelpunkt der Emanzipation

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den Entwicklungen, vor allem im südöstlichen Europa und speziell in Rumänien, finden dabei nur selten Erwähnung.11 Im Folgenden werden diese verschiedenen Problemlagen und historischen Ebenen ausgehend vom Berliner Kongress mit Blick auf die jüdische Emanzipationsgeschichte in der Moderne, die transnationalen Verflechtungen zwischen europäischer, amerikanischer, deutscher und rumänischer Geschichte ebenso wie die Transformationen der höfischen Kultur des 19. Jahrhunderts in die nationalstaatliche Moderne diskutiert.

Rumänien und Amerika Als der Berliner Kongress am 13. Juni 1878 durch den deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck eröffnet wurde, stand im Zentrum abermals die sogenannte Orientalische Frage, mit der das Zusammenspiel von innerem Verfall des Osmanischen Reichs, dem erwachenden Nationalismus der balkanischen Völker und dem Eingreifen der europäischen Großmächte in der Region bezeichnet ist. Der innere Erosionsprozess der osmanischen Herrschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde begleitet von verschiedenen nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen und dem Versuch der europäischen Großmächte England, Frankreich, Preußen (bis 1871), Deutschland (ab 1871), dem Kaisertum Österreich (1804–1867), der k.u.k.-Monarchie (ab 1867), dem Russländischen Reich und ab 1861 Italien, den osmanischen Einfluss im südöstlichen Europa zurückzudrängen. Augenfällig war der Konflikt in den russisch-türkischen Auseinandersetzungen, die in den Jahren 1806, 1828, 1853 und schließlich 1877 zu Kriegshandlungen zwischen dem Russländischen und dem Osmanischen Reich geführt hatten. Der letzte dieser Kriege wurde im März 1878 mit dem Frieden von San­ Stefano vorläufig beendet. Das Osmanische Reich hatte dabei empfindliche Verluste seines Einflusses auf dem Balkan hinnehmen müssen. Bulgarien, das seine Unabhängigkeit in San Stefano zugesprochen bekam, triumphierte ebenso wie das Russländische Reich, dessen Einflusssphäre nun bis auf den Balkan reichte. Der russische Triumph war für die übrigen europäischen Großmächte hingegen Grund genug, die politischen Verhältnisse in der Region neu zu ordnen, um damit das Gleichgewicht der Mächte wiederherzustellen. Dem Frieden von San ­Stefano folgte deshalb die Einberufung des Berliner Kongresses durch das Deutsche Reich.12 11 Ronald Sanders, Shores of Refuge. A Hundred Years of Jewish Emigration, New York 1988; David Vital, A People Apart. A Political History of the Jews in Europe, 1789–1939, Oxford 2001, 279–345. 12 Winfried Baumgart, Vom europäischen Konzert zum Völkerbund. Friedensschlüsse und Friedenssicherung von Wien bis Versailles, Darmstadt 21987, 1–55; ders., Europäisches Konzert und nationale Bewegung. Internationale Beziehungen 1830–1878, Paderborn 1999, 407–428;

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Auf dem Kongress sollten die Orientalische Frage einer Lösung zugeführt, Rumänien, Serbien und Montenegro in die Unabhängigkeit entlassen und Bulgarien der Status eines autonomen Fürstentums unter osmanischer Hoheit zuerkannt werden. Für die europäischen Großmächte waren die Balkanstaaten kaum mehr als eine geopolitische Manövriermasse. Für die Nationalbewegungen, aber auch für die jeweiligen Judenheiten der neu zu gründenden Staaten stand hingegen sehr viel auf dem Spiel. Die zentrale Frage war, unter welchen Bedingungen die Großmächte einer Nationalstaatsgründung stattgeben würden. Der auf dem Berliner Kongress außerdem ausgetragene Kampf um die Judenemanzipation war Teil einer langwährenden Auseinandersetzung um Fragen von Nationalität, Ethnizität, Religion und Staatsbürgerschaft im Auflösungsprozess der multiethnischen Imperien des Russländischen Reichs, Österreich-­Ungarns und des Osmanischen Reichs im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In das Machtvakuum der zerfallenden Kontinentalreiche drängten nationale Unabhängigkeitsbewegungen, die die Gründung eigener Staaten sowie nationale oder ethnische Homogenisierungen forcierten. In diesem Prozess gerieten vor allem die Judenheiten des östlichen und südöstlichen Europa in Bedrängnis, da ihnen die Gleichberechtigung in den neuentstehenden nationalen Gemeinwesen vielfach verweigert werden sollte. In den westeuropäischen Nationalstaaten wiederum war der Prozess der Judenemanzipation – im Sinne einer Gleichberechtigung als Staatsbürger und einer Konfessionalisierung des jüdischen Glaubens – im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts abgeschlossen worden. Mit der fortschreitenden Durchsetzung dieses westeuropäischen Emanzipationskonzepts richtete sich deren Blick wiederum zunehmend auf die ost- und südosteuropäische Szenerie. In einem Akt grenzüberschreitender Solidarität, begannen jüdische Repräsentanten und Organisationen des westlichen Europas zu intervenieren, um die staats­ bürgerliche Emanzipation auf dem gesamten Kontinent zu verwirklichen. Der Fall der rumänischen Juden steht im Zentrum dieser Konstellation. Bis zum Berliner Kongress hatte es keinen rumänischen Nationalstaat ge­ geben, sondern lediglich die rumänischen Donaufürstentümer Moldau und Walachei, in denen sich im Verlauf des 19.  Jahrhunderts ein rumänischer Nationalismus entwickelt hatte, der auf die Vereinigung der Fürstentümer zu einem

Matthew S. Anderson, The Eastern Question, 1774–1923. A Study in International Relations, London 1966; Gregor Schöllgen, Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871–1914, München 32000, 15–49; Theodor Schieder, Europäisches Staatensystem und Gleichgewicht nach der Reichsgründung, in: Karl Otmar Aretin (Hg.), Bismarcks Außenpolitik und der Berliner Kongress, Wiesbaden 1978, 17–40; William N. Medlicott, The Congress of Berlin and After. A Diplomatic History of the Near Eastern Settlement. 1878–1880, London 21963, 1–35; Alexander Novotny, Quellen und Studien zur Geschichte des Berliner Kongresses 1878, Graz u. a. 1957, 9–51; Friedrich Scherer, Adler und Halbmond. Bismarck und der Orient 1878–1890, Paderborn 2001, 1–68.

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unabhängigen Staat drängte.13 1859 wurde Alexandru Ioan Cuza zum Fürsten sowohl der Moldau als auch der Walachei ernannt. Cuza hatte somit die politische Vereinigung der Fürstentümer vorbereitet, wurde jedoch bereits 1866 von Karl von Hohenzollern-Sigmaringen abgelöst, der als Carol I. die Doppelregentschaft übernahm. Unter Carols Führung wurden die Fürstentümer offiziell vereinigt und fortfolgend als Rumänien bezeichnet, wenngleich das nötige Plazet der Großmächte zur förmlichen Anerkennung als Nationalstaat noch fehlte. C ­ arol ließ umgehend eine Verfassung verabschieden, in der eine Definition der rumänischen Staatsbürgerschaft vorgenommen wurde. Nach dieser waren die in Rumänien lebenden Juden Ausländer und von einer Naturalisation ausgeschlossen. Da sie keine andere Staatsbürgerschaft oder staatliche Zugehörigkeit besaßen, wurden sie damit faktisch zu Staatenlosen.14 Ein Großteil der rumänischen Juden war erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die rumänischen Fürstentümer eingewandert, die meisten von ihnen aus dem Ansiedlungsrayon. In den Donaufürstentümern gab es für sie bessere wirtschaftliche Betätigungsmöglichkeiten und weniger politische Restriktionen, insbesondere keine Wehrpflicht, wenngleich sich viele Juden später an den Balkankriegen beteiligten. Kurz vor dem Berliner Kongress lebten schließlich ca. 200 000 Juden in den Fürstentümern – die genauen Zahlen lassen sich heute nicht mehr verifizieren. Sicher ist, dass die rumänischen Fürstentümer die größte jüdische Bevölkerungsdichte in Europa aufwiesen.15 Bis zur Verfassung von 1866 verlief das Zusammenleben mit der nichtjüdischen Bevölkerung weitestgehend friedlich. Die Formulierung der exklusiven Verfassung und der zunehmend aggressiver auftretende rumänische Nationalismus führten jedoch zu immer stärkeren antijüdischen Diskriminierungen, die schließlich gar in Vertreibungen und blutigen Pogromen mündeten.16 Die Lage der rumänischen Juden in den 1860er und 1870er Jahren wurde deshalb zu einem beständigen Thema der westeuropäischen Publizistik, sowohl der jüdischen als auch der nichtjüdischen. Die Großmächte Frankreich und Groß­ britannien intervenierten bei Carol I., um diesen zur Beendigung der Diskriminierung und Vertreibung und zur politischen Emanzipation der rumänischen Juden zu drängen. Ihre versuchte Einflussnahme blieb jedoch weitestgehend erfolglos. Die antijüdischen Diskriminierungen hatten zwischenzeitlich zu einer stetigen Verarmung der rumänischen Juden geführt. Zehntausende sahen keinen anderen Ausweg als nach Amerika überzusiedeln. Die Emigration der rumänischen Juden war der Auftakt der sogenannten dritten Einwanderungswelle – 13 Frederick Kellogg, The Road to Romanian Independence, West Lafayette, Ind., 1995, 1–10; Keith Hitchins, A Concise History of Romania, Cambridge/New York 2014, 62–111. 14 Kellogg, The Road to Romanian Independence, 11–61; Keith Hitchins, Rumania, 1866–1947, Oxford/New York 1994, 1−27; Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919, 63–85. 15 Ebd., 31–62. 16 Ebd., 87–134.

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vornehmlich aus dem östlichen und südöstlichen Europa  – in die Vereinigten Staaten, die die ethnische Zusammensetzung der amerikanischen Bevölkerung signifikant veränderte und das amerikanische Selbstverständnis herausforderte.17 In der Sorge um die Lage der rumänischen Judenheiten trafen sich die Interessen der amerikanischen Außenpolitik mit denjenigen der amerikanischjüdischen politischen Vertretungen. Letztere erstrebten die Verbesserung der politischen Situation der rumänischen Juden und die Beendigung von Diskri­ minierung und Verfolgung aus humanitären Gründen. Auch die amerikanischen Außenpolitiker blickten beunruhigt in Richtung Rumänien, denn sie wussten, dass massenhafte Zuwanderung aus dem östlichen Europa Auswirkungen auf Amerika selbst haben könnte. Bevor in den folgenden Jahrzehnten die Einwanderung nach Amerika sukzessive eingeschränkt wurde, verfolgte man anfangs noch die Strategie, die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern, um so den Emigrationsgründen entgegenzuwirken.18 Diese Interessenskongruenz führte im Jahre 1870 schließlich zur Entsendung des jüdisch-sefardischen Amerikaners Benjamin F. Peixotto als amerikanischer Konsul nach Bukarest.19 Dies war ein außergewöhnlicher Vorgang, wurde »er doch zum Konsul der Vereinigten Staaten […] mit dem einzigen Ziel ernannt, die Situation der Juden zu verbessern.«20 Doch seine Arbeitsgrundlage war nicht eindeutig geklärt: Peixotto erhielt zwar das Mandat und die politische Unterstützung des amerikanischen Präsidenten Ulysses S. Grant, nicht jedoch die notwendigen finanziellen Mittel. Diese musste er sich von jüdischen Notabeln Amerikas und Westeuropas beschaffen.21 Peixottos diplomatische Reise nach Europa begann im Jahr 1870 daher mit dem Besuch bedeutender europäischer Großstädte wie London, Paris, Berlin und Wien, in denen er begeistert empfangen und seine Mission umfänglich begrüßt wurden. Hier traf er unter anderem auf Moses Montefiore, Moritz Lazarus und Baron Wilhelm von Rothschild.22 Diese Personen standen für ein größeres Netzwerk jüdischer Philanthropen, die sich im Jahre 1870 auf 17 Michael R. Marrus, Die Unerwünschten. Europäische Flüchtlinge im 20. Jahrhundert, Berlin u. a. 1999, 42–46; Carole Fink, Defending the Rights of Others. The Great Powers, the Jews, and International Minority Protection, 1878–1928, Cambridge 2004, 15–22; Hausleitner, Intervention und Gleichstellung, 497–501; Stern, Gold und Eisen, 433–438; Gerald Sorin, A Time for Building. The Third Migration, 1880–1920, Baltimore, Md., 1992, 12–37; John Higham, Strangers in the Land. Patterns of American Nativism 1860–1925, New Brunswick, N. J., 1955, 35–105. 18 Ebd.; Robert A. Divine, American Immigration Policy, 1924–1952, New Haven, Conn./ London 1957. 19 Lloyd P. Gartner, Roumania, America, and World Jewry. Consul Peixotto in Bucharest, 1870–1876, in: American Jewish Historical Quarterly 58 (1968), 24–117; Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919, 106–118. 20 Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919, 106 f. 21 Ebd., 33–53. 22 Ebd., 53–59.

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dem Höhepunkt ihrer politischen Einflussmöglichkeiten befanden und sich für die jüdischen Belange in Europa einsetzten. Diese Philanthropen unterstützten die Vorhaben Peixottos, gleichwohl für sie die Zusammenarbeit mit amerikanisch-jüdischen Vertretern eher ungewöhnlich war. Bis zum Erscheinen Peixottos in den europäischen Metropolen, hatte es kaum derartige Kontakte zwischen europäischen und amerikanischen Juden gegeben. Das genannte Netzwerk war bis dahin ein rein europäisches gewesen.23 Die Gesandtschaft Peixottos ist auch dahingehend bemerkenswert, als dass sie eine entscheidende Wende amerikanischer Außenpolitik vorwegnahm. Bis in das späte 19. Jahrhundert hinein hatten die Vereinigten Staaten vor allem mit inneren Problemen zu kämpfen gehabt. Nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs (1861–1865) begann eine Phase der Konsolidierung, die sogenannte Reconstruction Era (1865–1877). Erst danach verlagerte sich der amerikanische Blick zunehmend von innen nach außen, von der Neuen zurück auf die Alte Welt. Der Berliner Kongress 1878 war schließlich auch die letzte Zusammenkunft ihrer Art, an der die Vereinigten Staaten von Amerika nicht beteiligt waren. Das unscheinbare Ereignis der Entsendung Benjamin Peixottos nach Europa kann somit geradezu als Vorbote des Eintritts Amerikas in die Weltpolitik gelesen werden. Das Netzwerk jüdischer Philanthropen hingegen, auf das Peixotto bei seiner Ankunft in Europa traf, war zu dieser Zeit bereits fest etabliert. Sein Initiationsereignis war die sogenannte Damaskus-Affäre des Jahres 1840 gewesen.24 Mehrere berühmte Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaft von Damaskus waren seinerzeit unter dem Vorwurf des Ritualmords inhaftiert und mit der Todesstrafe bedroht worden. Daraufhin war es jüdischen Persönlichkeiten wie Adolphe­ Crémieux, den Pariser Rothschilds oder dem Briten Moses Montefiore gelungen, die europäische Öffentlichkeit für die Unterstützung der inhaftierten Juden zu gewinnen. Die von ihnen lancierte Pressekampagne beförderten sie durch persönliche Fürsprachen bei den europäischen Großmächten, um Druck auf die syrischen Machthaber auszuüben. Diese Art der Fürsprache, Shtadlanut genannt, war eine Form des politischen Handelns, das der vormodernen Funktion der Hof­ juden entlehnt und in die modernen Gesellschaften transformiert worden war.25 Tatsächlich gelang es der konzertierten Anstrengung jüdischer Gemeinden und 23 Ebd. 24 Jonathan Frankel, The Damascus Affair. »Ritual Murder«, Politics, and the Jews in 1840, Cambridge 1997; Ronald Florence, Blood Libel. The Damascus Affair of 1840, Madison, Wis., 2004; Markus Kirchhoff, Art. »Damaskus«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (nachfolgend EJGK), hg. von Dan Diner, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2012, 52–60; Abigail Green, Moses Montefiore. Jewish Liberator, Imperial Hero, Cambridge, Mass., 2010, 133–157; Solomon Posener, Adolphe Crémieux. A Biography, Philadelphia, Pa., 1940, 89–121. 25 Mirjam Thulin, Art.  »Shtadlanut«, in: EJGK, Bd.  5, Stuttgart 2014, 472–477; François Guesnet, Die Politik der Fürsprache. Vormoderne jüdische Interessenvertretung, in: Diner (Hg.), Synchrone Welten, 67–92.

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ihrer Repräsentanten, die Freilassung der inhaftierten Juden in Syrien zu erreichen. Entscheidend waren dabei zwei Elemente, die für die Erfolgsaussichten jüdischer Diplomatie konstitutiv waren: Zum einen konnten in der Pressekampagne die Ereignisse in Damaskus als allgemeiner Angriff auf die liberalen Werte des Westens dargestellt werden. Zum anderen war die Affäre den Großmächten ein willkommener Anlass, der Herrschaft Muhammad Alis in Syrien entgegenzutreten. Die jüdischen Interessen konnten in diesem Augenblick der Geschichte mit den Interessen der Großmächte in Deckung gebracht werden.26 Die Damaskus-Affäre kann somit als Ausgangspunkt einer neuen transnationalen jüdischen Solidarität im Emanzipationszeitalter gelten. Im Verlauf der­ Affäre wurden Fragen jüdischer Zugehörigkeit, der Emanzipation und jüdischer Gemeinsamkeiten debattiert. In ihrer Folge wurden verschiedene, später einflussreiche politische Organisationen gegründet, wie 1860 die Alliance Israélite Universelle (Alliance) oder 1871 die Anglo-Jewish Association.27 Das deutsche Pendant, der Hilfsverein der deutschen Juden, entstand zwar erst 1901, als dessen Vorläufer kann jedoch ein Zusammenschluss gelten, der sich bereits im Jahre 1872 formiert hatte: das Komitee für die rumänischen Juden, kurz Rumänienkomitee, in dem die wichtigsten jüdischen Strömungen Deutschlands vertreten waren. Infolge der exponierten politischen Stellung Deutschlands nach dem mili­ tärischen Sieg über Frankreich und der Reichsgründung 1871 war auch die Führung der jüdisch-diplomatischen Aktivitäten auf die deutsch-jüdischen Organisationen übergegangen. Es oblag nun vor allem ihnen, den Einsatz für die rumänischen Juden zu koordinieren und anzuführen. Alle verschiedenen Maßnahmen der Fürsprache blieben aber erfolglos. Weder unterband Carol I. die judenfeindlichen Diskriminierungen, noch plante er, die Juden Rumäniens zu emanzipieren.28 Nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877 und dem Vertrag von San­ Stefano 1878 zeichnete sich schließlich ab, dass die Unabhängigkeit Rumäniens auf dem Berliner Kongress von den Großmächten sanktioniert werden würde. Nun war Eile geboten, denn der Kongress bot die vorerst letzte Gelegenheit, die Lage der rumänischen Juden entscheidend zu verbessern.

26 Kirchhoff, Einfluss ohne Macht, 130–135; ders., Art. »Damaskus«. 27 Diner, »Meines Bruders Wächter«, 113–118; Posener, Adolphe Crémieux, 182–197. 28 Stern, Gold und Eisen, 453–455; Gelber, Jüdische Probleme beim Berliner Kongreß 1878, 216–225.

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Artikel 44: Triumph der Emanzipation Zwar herrschte bei den jüdischen Organisationen des Westens Einigkeit darüber, im Umfeld des Berliner Kongresses tätig zu werden, doch war die Richtung dieses Engagements umstritten. Die Arbeit Benjamin F. Peixottos in Bukarest in den Jahren 1870 bis 1876 vermittelt einen Eindruck von den Problemen jüdischer Interessenspolitik zwischen Ost und West. Peixotto war mit der Absicht nach ­Bukarest aufgebrochen, die Emanzipation der rumänischen Juden nach westlichem Vorbild zu forcieren. Dies sollte auf zwei Ebenen erfolgen: zum einen durch direkten und indirekten Druck auf die rumänischen Entscheidungsträger und zum anderen durch die Selbstemanzipation und bürgerliche Verbesserung der rumänischen Juden. Peixotto teilte damit die unter den westlichen Judenheiten verbreitete Auffassung, dass ein Haupthindernis für die Emanzipation im östlichen Europa und in Vorderasien darin bestehe, dass die Juden rückständig seien, wenig gebildet und der Gleichstellung kaum würdig. Vor diesem Hintergrund machte sich etwa die Alliance die Bildung und Erziehung der osteuropäischen und »orientalischen« Juden zur Hauptaufgabe. In einer ihrer Erklärungen hieß es, dass jene zeigen müssten, »dass sie nicht minderwertiger als andere Menschen sind, dass sie gute Staatsbürger und Patrioten wie andere Menschen sind und dass sie auf gleichem Niveau wie andere Menschen zur Verbesserung und zum Wohlstand des Landes beitragen können, in welchem ihr Schicksal wohnt. Zu diesem Zweck, um nach Nützlichem zu streben, müssen sie erzogen und ausgebildet werden; ihr Geist muss geweitet und kultiviert werden und der wohltätige Einfluss von westlichem Lernen und [westlichen] Ideen muss ihnen vermittelt werden«.29 Auf der Generalversammlung der Alliance am 22. Mai 1873 erklärte ihr Präsident, Adolphe Crémieux, das Schulkonzept der Organisation: »Schulen! Erhöht die Zahl der Schulen! Lasst ausnahmslos alle jüdischen Kinder diese besuchen! Jüdische Mütter, die ihr mich hören könnt, vermittelt Euren Kindern den Wert der Schule. […] Und Ihr, Lehrer, […] zeigt diesen Kindern, dass sie sich selbst auf das Niveau ihrer Mitbürger anderer Glaubensrichtungen erheben müssen, und dass sie sich selbst auf die allerhöchsten Ebenen erheben müssen.«30 Für die westlichen Judenheiten war die Hilfe für die Juden des östlichen und südöstlichen Europa nicht allein eine Frage der Philanthropie, sondern auch des eigenen Selbstverständnisses. Die Emanzipation der östlichen Glaubens­brüder wurde als essentielle Voraussetzung dafür begriffen, auch den Emanzipationsprozess im Westen zu vollenden. Die Juden des östlichen Europa schienen gewissermaßen für die anhaltende Präsenz der voremanzipatorischen Ver­gangenheit im Emanzipationszeitalter zu sorgen. Ohne die Emanzipation aller 29 Zit. nach Eli Bar-Chen, Weder Asiaten noch Orientalen. Internationale jüdische Organisationen und die Europäisierung »rückständiger« Juden, Würzburg 2005, 42. 30 Zit. nach Posener, Adolphe Crémieux, 190.

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Juden, so die verbreitete Befürchtung im Westen Europas, würde die Emanzipation einzelner Judenheiten immer nur vorübergehend sein.31 Peixotto teilte diese Annahme voll und ganz. Nach seiner Ankunft in Bukarest schrieb er an seinen Freund Simon Wolf in San Francisco: »The many poor Jews must be assisted with money and counsel […]. Schools, à l’Alliance Israélite, must be planted throughout Roumania, and modern education, liberalizing thought and hopes beyond the more present, introduced. We can commence and by degrees make these schools powerful instrumentalities for revolutionizing the social and religious life of our people and effectually securing their civil and political rights. The salvation of the people of Israel, in all countries where despotism rules, lies in the emancipation from their superstitions, forms and ceremonies of the past […].«32

War Peixotto also mit der Absicht in Bukarest angetreten, die Emanzipation der rumänischen Juden nach westlichem Vorbild zu forcieren, erkannte er jedoch bald, dass sich die rumänischen Verhältnisse aus der Nahperspektive völlig anders darstellten als aus der amerikanischen Distanz. Zum einen waren die führenden politischen Köpfe Rumäniens nicht bereit, den westlichen Gleichheitsgedanken für das eigene Gemeinwesen zu akzeptieren und blieben in dieser Haltung unnachgiebig. Zum anderen verweigerten aber auch die jüdischen Repräsentanten der rumänischen Fürstentümer dem amerikanischen Gesandten die Gefolgschaft. Die Emanzipation nach westlichem Vorbild schien ihnen mehrheitlich weder den politischen Verhältnissen angemessen noch überhaupt wünschenswert. Die rumänischen Juden teilten vorrangig ein nationales und damit kollektives Selbstverständnis und verstanden sich selbst nicht als Rumänen, sondern als Juden. Sie interessierten sich weniger für die staatsbürgerliche Emanzipation als für Frühformen des Zionismus oder die Emigration nach Amerika.33 Im Gegensatz zu Westeuropa und den Vereinigten Staaten, hatten sich im ­Osten und Südosten Europas keine Nationalstaaten herausgebildet, die Staat, Nation, Bevölkerung, Sprache und Territorium zur Deckung brachten. Vor den Nationalstaaten entstanden hier die Nationen, Bevölkerungen oder Ethnien. Eine dieser Gruppen bildeten nun die Juden, die sowohl in der Fremd- als auch in der Selbst­wahr­nehmung eine nationale Minderheit und nicht nur Religion waren, und damit im Gegensatz zur Emanzipationserfahrung der westlichen Judenheiten standen. Beide Selbstverständnisse ließen sich kaum harmonisieren, und die

31 Vgl. Dan Diner, Zweierlei Emanzipation. Westliche Juden und Ostjuden gegenüber­ gestellt, in: ders., Gedächtniszeiten, 125–134; Steven E. Aschheim, Brothers and Strangers. The East European Jew in German and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison, Wis., u. a. 1982. 32 Zit. nach Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919, 107. 33 Gartner, Roumania, America, and World Jewry, 113; Siehe auch: Iancu, Les Juifs en­ Roumanie 1866–1919, 135–151.

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westlichen Juden mussten im Verlauf des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erkennen, dass der von ihnen angestrebte »Entwicklungsprozess« im Osten hin zum westlichen Modell ausblieb. Auch Peixotto wurde sich bald nach seiner Ankunft in Bukarest dieser Konstellation bewusst. Nicht nur stießen seine Emanzipationsvorstellungen auf wenig Gegenliebe, er erkannte auch, dass die rumänischen Judenheiten derart heterogen waren, dass sie gar keine kohärente Linie gegenüber den Behörden vertreten konnten. Die Juden der Moldau unterschieden sich fundamental von den Juden der Walachei, wobei letztere sich noch einmal in Aschkenasim und Sefardim unterteilten.34 Angesichts der anhaltenden Widerstände revidierte Peixotto schließlich seine Pläne und brachte nun nicht mehr die Emanzipation, sondern die massenhafte Emigration nach Amerika als Lösung vor.35 Dies jedoch widersprach fundamental sowohl den politischen Direktiven Washingtons als auch den politischen Zielen der jüdischen Organisationen Westeuropas, die wiederum Peixotto unter Druck setzten, keine derartigen Pläne zu verfolgen. Peixotto gab nach und unterließ es fortan, öffentlich für die Emigration der rumänischen Juden ein­ zutreten. 1876 verließ er – politisch weitestgehend gescheitert und finanziell ruiniert – Bukarest.36 Das offizielle Ziel hieß weiterhin: Emanzipation.37 Vor diesem Hintergrund gewann der Berliner Kongress entscheidend an Bedeutung. Zwischen den westeuropäischen Vertretern bestand allerdings Uneinigkeit über die einzuschlagende Strategie. Adolphe Crémieux, der Vorsitzende der Alliance, warnte davor, Rumänien durch die Großmächte unter Druck zu setzen und favorisierte direkte Verhandlungen mit der rumänischen Regierung. Er wurde dabei unterstützt von den jüdischen Vertretern der Moldau und der Walachei. Die Pariser Rothschilds hingegen setzten auf die Einflussmöglichkeiten der Großmächte und erhielten dabei die Unterstützung des Mannes, der inzwischen zur entscheidenden Figur im Ringen um die Emanzipation der rumänischen Juden avanciert war: Gerson von Bleichröder, Finanzier und Hofjude moderner Prägung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck.38 Bleichröders Engagement in Rumänien hatte freilich schon einige Jahre vor dem Berliner Kongress begonnen und stand zunächst in keinem Zusammenhang mit der Lage der rumänischen Juden, sondern mit dem Aufbau eines staatlichen Eisenbahnnetzes in den rumänischen Fürstentümern. Dieses Unter­ nehmen wurde von der Regierung unter Carol I. ab 1866 als ein zentrales Projekt zur Modernisierung des Landes begriffen, zu dessen Ausführung jedoch die Hilfe ausländischer Investoren und Planer benötigt wurde.39 Im Ringen um 34 Ebd., 135 f. 35 Gartner, Roumania, America, and World Jewry, 75–85. 36 Ebd., 104–108. 37 Ebd., 85–94; Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919, 110 f. 38 Stern, Gold und Eisen, 456–461. 39 Vgl. Kellogg, The Road to Romanian Independence, 68–91.

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die Projektkonzession konnte sich schließlich der deutsche Unternehmer Henry­ Strousberg gegen den österreichischen Konkurrenten Viktor Ofenheim durchsetzen. ­Strousberg vereinte im Eisenbahnkonsortium eine große Anzahl deutscher Investoren, darunter einige schlesische Adlige mit engen Verbindungen zum Hof Wilhelm I. Er hatte sich jedoch verkalkuliert und das Eisenbahnprojekt drohte bereits 1869 zu scheitern. 1871 war die Lage so dramatisch, dass Bismarck­ Bleichröder beauftragte, die Eisenbahnangelegenheit in seine Hände zu nehmen und das Unternehmen zu retten. Für Bismarck war dies von erheblicher Bedeutung. Mit dem Scheitern des Strousberg’schen Projekts drohte eine beträchtliche Zahl an deutschen Unternehmern in Konkurs zu gehen. Dies wäre ein schwerer Rückschlag für die Euphorie der Gründerzeit und die ökonomische Stabilität des jungen Kaiserreichs gewesen. Zudem wurde Bismarck vom deutschen Kaiser Wilhelm I. unter Druck gesetzt, der wiederholt forderte, seine schlesischen Freunde vor dem Untergang zu bewahren. Bismarck sah sich somit gezwungen, das Eisenbahnprojekt zu retten, um seine eigene politische Integrität zu wahren.40 Bleichröder nahm sich der Aufgabe an, jedoch nicht ohne seinerseits von­ Bismarck Konzessionen zu fordern. Es handelte sich dabei um ein Zugeständnis, das für Bismarck weitgehend unbedeutend, für Bleichröder jedoch von erheblicher Tragweite war: die Gleichstellung der rumänischen Juden. Bismarck willigte ein. Seine Motivation erklärte er in drastischer Sprache und erhellender Offenheit einige Jahre später: »Ich schere mich um die Rumänen so viel wie um mein Glas, wenn es leer ist«, schrieb er am 23. Februar 1879 an den Grafen St. Vallier. »Die rumänische Unabhängigkeit ist bedeutungslos«, so Bismarck weiter, »außer für die deutschen Juden, die ich hätscheln, gewinnen muß und die für mich in Deutschland sehr nützlich sein können, und die ich gern mit rumä­ nischem Geld bezahle.«41 Der Einsatz Bismarcks beschränkte sich zunächst darauf, Carol I. wiederholt zum Schutz der rumänischen Juden und zu deren baldiger Emanzipation auf­ zufordern. 1876 reichten verbale Bemühungen jedoch nicht mehr aus. Der Versuch der Rumänen, mittels bilateraler Handelsverträge mit verschiedenen Staaten die eigene Unabhängigkeit zu präjudizieren, wurde zum ersten Testfall der B ­ ismarck’schen Rumänienpolitik.42 Während das Russländische Reich und Österreich-Ungarn die Verträge mit Rumänien unterschrieben, verweigerte Bismarck die Unterschrift, solange die Juden der übrigen Bevölkerung Rumäniens nicht gleichgestellt würden. Bleichröder hatte über Bismarck einen Präzedenzfall geschaffen. An Adolphe Crémieux schrieb er in überschwänglicher Freude: »Wir

40 Stern, Gold und Eisen, 438–448. 41 Zit. nach ebd., 431. 42 Kellogg, The Road to Romanian Independence, 92–111.

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stehen am Vorabend der Emanzipation.«43 Den Auseinandersetzungen über die Handelsverträge folgten der russisch-türkische Krieg, der Frieden von San­ Stefano und schließlich die Einberufung des Berliner Kongresses. Am 13.  Juni 1878 wurde dieser von Bismarck eröffnet; auf dem Programm standen vor allem die Unabhängigkeit Bulgariens, Serbiens, Montenegros und Rumäniens. In Abwesenheit Wilhelm  I. hatte Otto von Bismarck die Schirm­ herrschaft über den Kongress übernommen. Gerson von Bleichröder seinerseits koordinierte die Aktionen der jüdischen Organisationen. Die Dramaturgie der jüdischen Intervention zugunsten der rumänischen Juden orientierte sich dabei an den Erfahrungen aus der Damaskus-Affäre. In den Zeitungen der euro­ päischen Metropolen waren bereits in den Wochen und Monaten vor der Eröffnung des Kongresses Berichte über die katastrophale Lage der rumänischen Juden lanciert worden. Die jüdischen Notabeln, die Zugang zu den obersten Regierungsstellen hatten, drängten die Großmächte zu einer einheitlichen Position in der Frage der Zukunft der rumänischen Juden.44 Dabei kam den jüdischen Organisationen zugute, dass mit Frankreich und Großbritannien zwei der Großmächte einer universalistischen Idee von Gleichheit anhingen und den neuen Staaten ihre Unabhängigkeit nur als liberale Nationalstaaten nach westlichem Vorbild zugestehen wollten. Die Aufhebung von Rechtsunterschieden zwischen verschiedenen Staatsbürgern war dabei selbstverständlicher Teil. Bismarck wiederum war ein solcher liberaler Universalismus zwar fremd, aber er hielt sich an die Übereinkunft mit Bleichröder. Das Osmanische und das Russländische Reich waren so sehr mit der Nachkriegsordnung und den damit verbundenen territorialen Veränderungen befasst, dass sie sich wenig mit den rumänischen Positionen auseinandersetzten. Als sich auch noch die russischen Delegierten Schuwalow und Gortschakow vollständig miteinander überwarfen, sahen sich die Rumänen mit der Abwehr der Emanzipationsforderungen auf sich allein gestellt. Obwohl Rumänien bis zuletzt nicht nachgeben wollte, musste es sich dennoch dem Druck der Großmächte beugen. Seine Entlassung in die Unabhängigkeit wurde an die Bedingung geknüpft, alle rumänischen Staatsbürger rechtlich gleichzustellen.45 Im Artikel 44 der Kongressakte von Berlin hieß es schließlich: »In Rumänien darf der Unterschied des religiösen Glaubens und der Bekenntnisse Niemandem gegenüber geltend gemacht werden als ein Grund der Ausschließung oder der Unfähigkeit bezüglich des Genusses der bürgerlichen und politischen Rechte, der Zulassung zu öffentlichen Diensten, Ämtern und Ehren oder der Ausübung der verschiedenen Berufs- und Gewerbszweige, an wel-

43 Zit. nach Stern, Gold und Eisen, 460. 44 Ebd., 456–462; Gelber, Jüdische Probleme beim Berliner Kongreß 1878, 225–241. 45 Ebd., 242–250.

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chem Orte es auch sei.«46 Auch wenn die Juden weder im Text noch in den vorangegangenen Beratungen explizit hervorgehoben worden, war die Zielgruppe dennoch eindeutig. Die jüdischen Interventionen waren somit zum Ziel gekommen und der Artikel 44 bildete den bis dahin größten Erfolg jüdischer Politik auf der Bühne der europäischen Diplomatie. Während Bleichröder bereits 1872 aufgrund seines Eingreifens in die Eisenbahnaffäre in den deutschen Adelsstand gehoben worden war, erfolgte am 3. Juli 1878, auf der Feier des Kongresserfolgs in der Villa der Familie, eine Art zweite Nobilitierung.47 Die jüdischen Beteiligten des Banketts sahen in den Erfolgen von Berlin den möglichen Auftakt einer Entwicklung, die binnen kurzer Zeit zur endgültigen Gleichstellung aller Juden­heiten Europas führen könnte.

Erosionen: Der Angriff auf die Juden und das Scheitern der Emanzipation Es kam jedoch anders. Der britische Premierminister Benjamin Disraeli  – die Ausnahmeerscheinung unter den »Ausnahmejuden« (Hannah Arendt)  – hatte bei der großen Feier im Hause Bleichröder besonders das musikalische Arrangement genossen. »Es gab eine Galerie für die Musiker, die Wagner, nur W ­ agner spielten, worüber ich sehr froh war, weil ich selten Gelegenheit hatte, diesen Meister zu hören«, ließ er im Nachhinein verlauten.48 Wenige Wochen später empörte sich die Allgemeine Zeitung des Judenthums (AZJ) über solches Verhalten, nahm allerdings weder auf den Abend bei Bleichröder noch auf irgendeine Person im Speziellen Bezug. Es sei kaum zu verstehen, las man hier, »daß unter den Wagnerianern sich immer noch so viele Juden befinden, welche neben ihrem musikalischen Unverstande auch noch die Charakterlosigkeit besitzen, Patronats­ scheine in Wagnervereinen mit schwerem Gelde zu erwerben und die Anbetung des wahnwitzigen Dichtercomponisten zu betreiben.«49 In der gleichen Ausgabe publizierte die Zeitschrift zum ersten Mal die gesicherte Information der auf dem Kongress deklarierten Emanzipation der rumänischen Juden, die im Hause Bleichröder mit den Wagner’schen Kompositionen gefeiert worden war. Die scharfen Angriffe auf Wagner, der nicht nur antisemitisches Schriftgut herausgab und verbreitete, sondern sich auch selbst antisemitisch äußerte, waren einer gesellschaftlichen Stimmung zu verdanken, in der den deutschen Juden, wenige Jahre nach der Gewährung der rechtlichen Gleichstellung im Jahr 1871, der Status als gleichberechtigte Staatsbürger wieder streitig gemacht wurde. 46 Geiss (Hg.), Der Berliner Kongress 1878, 399. 47 Stern, Gold und Eisen, 453 48 Zit. nach ebd., 581. 49 Allgemeine Zeitung des Judenthums 42 (1878), Nr. 30 [23. Juli], 473.

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Es sei von außerordentlicher Bedeutung, schrieb die AZJ eine Woche später, dass auf dem Berliner Kongress »die bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichstellung von den vereinten Vertretern aller europäischen Großmächte als ein allgemeiner Grundsatz des öffentlichen Rechts proclamiert« worden sei. Man müsse es der AZJ gestatten, so hieß es weiter, »hierauf in der gegenwärtigen Zeit einen besonderen Nachdruck zu legen. Zu heftig, zu schmählich waren in den letzten Jahren die Angriffe und Verleumdungen […] gegen die Juden, als daß es uns nicht zu einer großen Befriedigung gereichen müßte, die Beschlüsse des höchsten europäischen Rathes das Princip der bürgerlichen Gleichheit und der Glaubensfreiheit […] sanctioniren zu sehen.«50

Es hatte nur wenige Jahre gedauert, bis im Deutschen Kaiserreich die Euphorie der Gründerzeit durch die Verwerfungen des Gründerkrachs zerstört wurde, der auf den Zusammenbruch der Wiener Börse im Mai 1873 zurückzuführen war. Investitionen und Spekulationen der vorangegangenen Jahre lösten sich beinahe über Nacht in Luft auf, was nicht nur Österreich-Ungarn, sondern auch das Deutsche Reich in eine schwere ökonomische Krise stürzte. Auf diese folgte die Herausbildung des politischen Antisemitismus, der als säkulare Verschwörungstheorie wachsende Anhängerschaft fand. Enthielten die Hasstiraden des Hofpredigers Adolf Stoecker noch Elemente des vormodernen, christlichen Antijudaismus, waren es vor allem Intellektuelle wie Wilhelm Marr oder Heinrich von Treitschke, die den modernen Antisemitismus salonfähig machten. Eine der wichtigsten Wegmarken dieser Entwicklung war der Berliner Antisemitismusstreit, der 1879 durch einen Aufsatz des renommierten Historikers Heinrich von Treitschke in den Preußischen Jahrbüchern ausgelöst wurde und sich bis in das Jahr 1881 hinzog.51 »Mehr als jeder andere hat Treitschke denn auch dazu beigetragen«, resümiert Christhard Hoffmann, »die antisemitische Ideologie in Deutschland gesellschaftsfähig zu machen und mit seiner ›wissenschaftlichen‹ Reputation zu rechtfertigen.«52 Der Aufsatz Treitschkes unter dem Titel Unsere Aussichten gilt als ein Schlüsseldokument des deutschen Antisemitismus. Seine teils markigen Sätze sind viel zitiert worden, zu größter Berühmtheit hat 50 Der Sieg durch den Congreß, in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 42 (1878), Nr. 31 [30. Juli], 484 f., hier 484. 51 Walter Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1965; Christhard Hoffmann, Geschichte und Ideologie. Der Berliner Antisemitismusstreit 1879/81, in: Benz/Bergmann (Hgg.), Vorurteil und Völkermord, 219–251; Karsten Krieger (Bearb.), Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, 2 Bde., München 2003; ders., Der­ »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation, in: Wolfgang Benz/Angelika Königseder (Hgg.), Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002, 89–95. 52 Hoffmann, Geschichte und Ideologie, 226.

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es freilich jene notorische Aussage gebracht, die von den Nationalsozialisten schließlich zu ihrer eigenen Kampfparole gegen die Juden erhoben wurde: »[D]ie Juden sind unser Unglück!«53 Selten überhaupt erwähnt wird jedoch der Rest des Aufsatzes, ja sein eigentliches Thema: Bevor Treitschke auf den letzten fünf Seiten gegen die Juden agitierte, hatte er sich auf den vorangehenden zehn Seiten mit der politischen Großwetterlage nach dem Berliner Kongress befasst.54 Unsere Aussichten war eine Analyse der außen- und innenpolitischen Lage und der Zukunftsaussichten Deutschlands. Dass die Ausführungen Treitschkes zum Berliner Kongress kaum Erwähnung finden, ist nicht überraschend. Sie waren eher konventionell und deskriptiv. Eine Besonderheit war der Text vor allem durch Treitschkes plumpe und aggressive Angriffe auf die Juden. Schon die zeitgenössische Debatte hat sich nicht mit den allgemeinpolitischen Aussagen zum Berliner Kongress beschäftigt, sondern ausschließlich mit Treitschkes akademischer Legitimierung des Antisemitismus, wobei sich eine richtige Debatte überhaupt erst entwickelte, als der ebenso renommierte Historiker Theodor Mommsen die Feder ergriff, um Treitschke zu widersprechen. Bis dahin waren es  – bezeichnenderweise  – ausschließlich jüdische Autoren gewesen, die Treitschkes publizistischen Angriffen entgegengetreten waren.55 Dessen ungeachtet ist die Konvergenz der Ereignisse erstaunlich und verdient eine genauere Analyse. Schließlich war es nicht Treitschke allein, der den Ber­liner Kongress zum Ausgangspunkt nahm, um die Juden anzugreifen. Auch in ­Wilhelm Marrs berüchtigtem Pamphlet Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum hieß es: »Wer hat den realen Nutzen von dem vergossenen Blut im 53 Heinrich von Treitschke, Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), ­559–576, hier 575. 54 Hoffmann, Geschichte und Ideologie, 221, nennt als Thema lediglich »eine Situationsanalyse«, ohne diese näher zu bestimmen. Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, 113, schreibt, dass Treitschke in seinem Aufsatz der »innenpolitischen Wende Bismarcks im akademisch gebildeten Publikum Nachdruck verleihen« wollte. Günther B. Ginzel (Hg.), Antisemitismus. Erscheinungsformen der Judenfeindschaft gestern und heute, Bielefeld 1991 und Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, erwähnen den Berliner Kongress als Thema des Aufsatzes nicht. Zwar nennt auch Pulzer, Die Entstehung des politischen Anti­ semitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, 261–265, das Thema des Aufsatzes nicht, schreibt aber zur allgemeinen Einschätzung der Epoche: »Am 13. Juli 1878 unterzeichnete Bismarck die Berliner Kongreßakte. […] Das war das gleiche Jahr, in dem in Deutschland der erste Versuch unternommen wurde, eine oppositionelle politische Partei eben gegen die gesetzlichen Bestimmung der religiösen Gleichberechtigung zu organisieren, die seit neun Jahren bestanden.« Ebd., 125. In den Anthologien Walter Boehlichs und Karsten Kriegers sind lediglich Auszüge aus den letzten fünf Seiten abgedruckt. In Kriegers Einführung wird aber das Thema des Aufsatzes genannt: Boehlich (Hg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, 7–14; Krieger (Bearb.), Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881, 6–16. 55 Hoffmann, Geschichte und Ideologie, 223.

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Orient auf dem Berliner Congress errungen? Das Judenthum. Die ›Association israélite‹ war die Erste am Platze. Rumänien ward gezwungen, dem zersetzenden Semitismus Thür und Thor officiell zu öffnen. An Russland wagte das Judenthum noch nicht dieselbe Forderung zu stellen. Wird aber auch schon kommen.«56 Treitschke und Marr hatten vermutlich genau das im Kopf, was die AZJ in ihrer Ausgabe nach dem Kongress als dessen größte Leistung beschrieb, nämlich dass »die bürgerliche und staatsbürgerliche Gleichstellung […] als ein allgemeiner Grundsatz des öffentlichen Rechts« festgeschrieben würde.57 Auf Treitschke und Marr folgte schließlich die sogenannte »Antisemitenpetition« von 1880/1881, in der von über 250 000 Unterzeichnern die Rücknahme der Judenemanzipation gefordert wurde.58 Es wäre daher fast als Anachronismus zu bezeichnen gewesen, hätte die rumänische Regierung auf Drängen des deutschen Kanzlers seine Juden ausgerechnet zu einer Zeit emanzipiert, als in Deutschland selbst der Status der Juden als emanzipierte Staatsbürger zur Disposition stand. Jedoch: Die rumänischen Juden sollten nicht gleichgestellt werden. Schon wenige Wochen nach dem Kongress wurde die unnachgiebige Haltung Rumäniens offensichtlich. Die rumänischen Re­präsentanten erarbeiteten Kompromisse, die aus Sicht der Großmächte und Bleichröders einer klaren Absage an Artikel 44 gleichkamen. Die Anerkennung Rumäniens durch die Großmächte konnte somit noch nicht erfolgen.59 Das Kräftemessen zwischen beiden Parteien hielt an, die gemeinsame Linie der westlichen Großmächte begann jedoch zu schwinden. Sie wollten die rumänische Angelegenheit beendet sehen, vor allem, weil sich Rumänien und das Russländische Reich erneut annäherten. Das sollte unter allen Umständen vermieden werden. Bismarck war irritiert, dass Drohungen an die Adresse der rumänischen Führung keine Wirkung zeigten, wollte den Druck jedoch zunächst aufrechterhalten, um die Eisenbahnaffäre endlich zu einem glücklichen Abschluss zu bringen. Für die anderen westlichen Großmächte war das ganze vor allem eine Frage des Prinzips, ob man einem kleinen und jungen Staat wie Rumänien erlauben sollte, sich über die Direktiven der Großmächte hinwegzusetzen. Mit Ablauf des Jahres 1879 kapitulierten sie jedoch vor der Unnachgiebigkeit der Rumänen. Entscheidend war dabei die Haltung Bismarcks, der bis dahin bei den anderen Großmächten eine einheitliche Linie in dieser Frage durchgesetzt hatte. Bismarck begann unmittelbar nach dem Berliner Kongress sein berühmtes Bündnissystem aufzubauen. Diese Bemühungen mündeten im Oktober 1879 56 Wilhelm Marr, Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet, Bern 81879, 30.  57 Der Sieg durch den Congreß, 484. 58 Berding, Moderner Antisemitismus in Deutschland, 115 f.; Hoffmann, Geschichte und Ideologie, 223–225. 59 Stern, Gold und Eisen, 465–475; Fink, Defending the Rights of Others, 30–33.

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in den Zweibund mit der k.u.k-Monarchie.60 Auch Rumänien sollte mittelfristig beitreten, die Unabhängigkeit musste deshalb endlich vollzogen werden. Im Februar 1880 gelang es überdies nach langjährigem Ringen, die Eisenbahnaffäre mit einem Vertrag zwischen dem Konsortium Bleichröders und dem rumänischen Staat zu einem Abschluss zu bringen. Damit endete jedoch auch Bismarcks Unterstützung für Bleichröder in Sachen Emanzipation der rumänischen Juden. Der Eisenbahnvertrag öffnete den Rumänen den Weg in die nationale Unabhängigkeit. Unmittelbar nach der Unterzeichnung erfolgte die Anerkennung Rumäniens durch die Großmächte, im März 1881 wurde schließlich das Königreich Rumänien durch König Carol I. offiziell ausgerufen.61 Wie es die erste Verfassung bereits vorgesehen hatte, wurden von den ungefähr 200 000 rumänischen Juden in den folgenden Jahren nur einige hundert eingebürgert und die anderen endgültig zu Staatenlosen.62 Der Triumph von Berlin hatte sich somit binnen dreier Jahre in eine Niederlage jüdischer Interventionspolitik verkehrt.

Triumph und Tragödie der Emanzipation Mit Blick auf diese Konstellationen kann der Berliner Kongress für die jüdische Geschichte der Moderne als Schwellenereignis, eben als ihr Scheitelpunkt bezeichnet werden. Im Vorfeld und auf dem Kongress selbst war es den westeuropäischen Judenheiten gelungen, ihren gesellschaftlichen und politischen Einfluss geltend zu machen. Der bis dahin größte Triumph jüdischer Diplomatie hatte allerdings einen bitteren Beigeschmack. Der Erfolg von Berlin wurde mit Hilfe der Großmächte und gegen die Interessen der Balkanstaaten, allen voran Rumänien, durchgesetzt – auch gegen die Interessen der jüdischen Bevölkerungsmehrheiten in diesen Ländern. Die jüdischen Organisationen und Repräsentanten hatten in Berlin eine westlich-universalistische Emanzipationsidee zur Geltung gebracht, die von den Judenheiten des östlichen Europa überwiegend abgelehnt wurde. Dieser Konflikt, der hier noch weitgehend im Hintergrund ausgetragen wurde, führte in den folgenden Jahrzehnten zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen jüdischen Körperschaften. Letztlich offenbarte das Scheitern des Artikels 44 innerhalb von nur drei Jahren aber auch die Grenzen jüdischer Interventionsfähigkeit. Aufstieg und Fall der jüdischen Emanzipa 60 Andreas Hillgruber, Grundzüge der Außenpolitik Bismarcks von der Reichsgründung bis zum Abschluß des Dreibundes 1882, in: Aretin (Hg.), Bismarcks Außenpolitik und der Berliner Kongress, 41–67, hier 54–60; Theodor Schieder, Europäisches Staatensystem und Gleichgewicht nach der Reichsgründung, in: ebd., 17–40, hier 24–27. 61 Stern, Gold und Eisen, 475–480; Hausleitner, Intervention und Gleichstellung, 507–515; Fink, Defending the Rights of Others, 34–36; Kellogg, The Road to Romanian Independence, 198–227; Hitchins, Rumania, 50–54; Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919, 162–180. 62 Iancu, Les Juifs en Roumanie 1866–1919, 186–189.

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tionsgeschichte Europas waren in diesem Ereignis auf paradigmatische Weise ineinander verschränkt. Genauso steht das Ereignis für die Verschränkungen der jüdischen mit der allgemeinen Geschichte. Die Kongressdiplomatie des 19. Jahrhunderts, deren letztes großes Ereignis der Berliner Kongress darstellte, war noch geprägt von den Ausläufern der vormodernen höfischen Kultur. Dieser Umstand ermöglichte es Personen wie Bleichröder oder den Rothschilds überhaupt erst, aufgrund der eigenen wirtschaftlichen Potenz und den daran gebundenen Verbindungen zu den Herrschaftseliten, politische Entscheidungen beeinflussen zu können. Eine solche Form der Fürsprache, die Shtadlanut, funktionierte aber nur, wie das Beispiel des Berliner Kongresses zeigte, wenn sich die Interessen der »großen Politik« mit den Zielen jüdischer Interventionen in Deckung bringen ließen. Die Orientalische Frage und die nationale Unabhängigkeit der Balkanstaaten waren aber bereits erste Indikatoren für den Verfall der multiethnischen Großreiche und damit auch der höfischen Kultur. Bleichröder erlebte dies nicht mehr. Sein politischer Niedergang setzte bereits ein, als sich das Jahr 1878 dem Ende neigte. Der Angriff auf die deutschen Juden war immer auch expressis verbis ein Angriff auf deren exponiertesten Repräsentanten, eben Gerson von Bleichröder. Sein Biograf Fritz Stern schreibt hierzu: »Für den neuen Antisemitismus war Bleichröder der lebende Zeuge und bot bei seiner Präsenz und Geltung ein außerordentlich günstiges Ziel […]. Bleichröder verkörperte, was die sozial Gedrückten verabscheuen gelernt hatten: den Juden mit legendärem Reichtum und geheimnisvoller Macht, den Parvenü und Plutokraten, der die geheiligte Rangordnung durchbrochen hatte.«63 Je stärker der Antisemitismus sich in Deutschland ausbreitete, desto aggressiver wurden auch die Angriffe auf Bleichröder, der sich mehr und mehr in die Defensive gedrängt sah. Die ständigen Beleidigungen, Verleumdungen und schließlich auch gegen ihn persönlich angestrengten Gerichtsprozesse verbitterten ihn zunehmend.64 Er starb am 19. Februar 1893 nach kurzer Krankheit im Alter von 71 Jahren. In den folgenden Jahrzehnten verfiel die Interventionsform des Shtadlanut. Die politische Interessenvertretung wurde immer weniger von jüdischen Wirtschaftsmagnaten als vielmehr von Personen wahrgenommen, die aufgrund ihrer politischen Funktionen als geeignete Vertreter des Judentums erschienen, wie beispielsweise Leo Motzkin, Nahum Goldmann und Chaim Weizmann in Europa oder Julian Mack, Louis Marshall und Stephen S. Wise in den Vereinigten Staaten. Das rumänische Beispiel eines auf ethnische Homogenität drängenden Nationalismus in den Nachfolgestaaten der imperialen Großreiche sollte sich nach dem Berliner Kongress auf für die Juden verhängnisvolle Weise fortschreiben. Die Gründung weiterer Nationalstaaten im östlichen Europa führte 63 Stern, Gold und Eisen, 600. 64 Ebd., 654.

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zur Herausbildung eines Status der Juden als nationale Minderheit  – ein Status, der den westeuropäischen Emanzipationsgedanken des 18. und 19. Jahrhundert konterkarierte. Im Umfeld der Pariser Friedenskonferenz nach dem Ersten Weltkrieg wurde unter den westlichen Judenheiten erneut über die Lage der Juden des östlichen Europa und die Formen und Zielsetzungen jüdischer Intervention gestritten. Die Forderung nach politischer Emanzipation konnte sich nun jedoch nicht mehr durchsetzen. Unter dem prägenden Einfluss der amerikanisch-jüdischen Organisationen, vereinigt im American Jewish Congress, kam man schlussendlich überein, den Juden Osteuropas einen anderen Status zuzuerkennen als den Juden des Westens. Die jüdischen Interventionen in die Friedensverhandlungen führten schließlich zum Abschluss der Minderheitenschutzverträge und damit zu einer Zementierung der Trennung zwischen den jüdischen Lebenswelten des östlichen Europa und denen des Westens.65 Der Artikel  44 der Berliner Kongressakte des Jahres 1878 war somit der letzte Erfolg einer sich universalistisch verstehenden jüdischen Emanzipationsidee gewesen, die schon kurze Zeit später endgültig zu erodieren begann.

65 Erwin Viefhaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 1919. Eine Studie zur Geschichte des Nationalitäten­ problems im 19. und 20. Jahrhundert, Würzburg 1960.

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Eugen Mittwoch gegen das Land Preußen Die Entlassungsmaßnahmen in der Berliner Orientalistik, 1933−1938

Am 29.  April 1933 erging auf Veranlassung des kommissarischen preußischen Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ein Erlass an den Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, in dem die Beurlaubung etlicher Mitglieder des Lehrkörpers der Philosophischen Fakultät »mit sofortiger Wirkung« bekannt gegeben wurde.1 An vorderster Stelle fand sich der Name des Lehrstuhlinhabers für Semitische Philologie, Eugen Mittwoch (1876–1942). Dieser hatte aufgrund seiner Doppelfunktion als Direktor des Seminars für Orientalische Sprachen  (SOS) und Leiter des Instituts für Semitistik und Islamwissenschaft zum Zeitpunkt der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 eine herausgehobene Stellung innerhalb der Philosophischen Fakultät inne. Als einer von insgesamt vier jüdischen, nicht zum Christentum konvertierten Gelehrten, die bis zum Ende der Weimarer Republik einen geisteswissenschaftlichen Lehrstuhl an der Berliner Universität erhalten hatten,2 zog er schon bald nach der Einführung der ersten antisemitischen Maßnahmen an den Hochschulen das Augenmerk der neuen Machthaber auf sich. Am 13. April wurde die systematische Umstrukturierung und Nazifizierung der Berliner Universität durch die Versetzung der ersten 16 Professoren in den Ruhestand eingeleitet.3 Nur etwa zwei Wochen später, noch vor Beginn des Sommersemesters 1933, der von Kultusminister Bernhard Rust  (1883–1945) kurzerhand auf Mai verschoben worden war, wurde Eugen Mittwoch auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (BBG) vom 7. April 1933 von seinen Dienstpflichten als Hochschullehrer entbunden. 1 Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv zu Berlin (nachfolgend Universitätsarchiv Berlin), UK M 225, Personalakte Eugen Mittwoch, Bd. II, Bl. 31. Noch am selben Tag setzte der Rektor der Universität die Betroffenen von der Entscheidung in Kenntnis. Vgl. ebd., Bd. I, Bl. 17. 2 Aleksandra Pawliczek, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg. Jüdische Dozenten an der Berliner Universität 1871–1933, Stuttgart 2011, 195 f. 3 Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012, 80.

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Als gesetzestreuer Jude, der sich zudem in jüdischen Organisationen wie dem Hilfsverein der deutschen Juden, dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens sowie dem Joint Distribution Committee engagierte und noch am 15.  Januar 1933 als Nachfolger Moritz Sobernheims  (1872–1933) zum Dezernenten für jüdische Angelegenheiten im Auswärtigen Amt ernannt worden war, hatte Mittwoch kaum Aussichten, seinen Lehrstuhl an der größten deutschen Universität jener Jahre zu behalten.4 Nur drei Tage nach der Bekanntgabe des Berufsbeamtengesetzes fasste er in einem Brief an seinen Tübinger Fachkollegen Enno Littmann (1875–1958) seine Zukunftssorgen in klare Worte: »In Ungewissheit bin ich darüber, was aus mir werden wird. […] Wenn ich die Universität verlassen müßte, so würde mich das schwer treffen.«5 Bis auf eine kurze Unterbrechung hatte Mittwoch seinen gesamten beruflichen Werdegang an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin bestritten: ab 1905 zunächst als Privat­ dozent, dann ab 1915 als außerordentlicher und ab 1919 als ordentlicher Professor und schließlich ab dem Jahre 1923 als Lehrstuhlinhaber an der Philosophischen Fakultät. Zudem hatte er ab 1907 als Dozent für Altäthiopisch und Amharisch am Seminar für Orientalische Sprachen gelehrt. Die drohende Entlassung war gleichsam existenzieller Natur und stellte seine gesamte Tätigkeit an der Berliner Universität infrage. Allein auf das akademische war Mittwochs Wirken indes nicht beschränkt geblieben. Im Ersten Weltkrieg hatte er von 1916 an pro-deutsche Propaganda­ tätigkeiten im Nahen und Mittleren Osten, aber auch unter muslimischen Kriegsgefangenen im Deutschen Reich sowie unter muslimischen Soldaten der Ententemächte an der Front koordiniert. Als Nachfolger Max Freiherr von Oppenheims (1860–1946) und Karl Emil Schabinger von Schowingens  (1877–1967) leitete er bis zu ihrer Auflösung im November 1918 die Nachrichtenstelle für den Orient beim Auswärtigen Amt in Berlin.6 Diese übernahm auch nachrichtendienstliche Aufgaben und arbeitete unter anderem daran, die einheimische Bevölke-

4 Siehe Ismar Elbogen, Eugen Mittwoch (1876–1942), in: Jewish Social Studies 5 (1943), 206 f.; zum Referat für jüdische Angelegenheiten siehe Francis R. Nicosia, Jewish Affairs and the German Foreign Policy during the Weimar Republic. Moritz Sobernheim and the Referat für jüdische Angelegenheiten, in: Leo Baeck Institute Year Book 33 (1988), 261–283, außerdem Donald M. McKale, From Weimar to Nazism. Abteilung III of the German Foreign Office and the Support of Antisemitism, 1931–1935, in: Leo Baeck Institute Year Book 32 (1987), 297–307. 5 Eugen Mittwoch an Enno Littmann, 10. April 1933. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung (nachfolgend Staatsbibliothek Berlin), Nachlass 245, Enno Littmann, Kasten 22. 6 Zur Nachrichtenstelle für den Orient siehe Gottfried Hagen, Die Nachrichtenstelle für den Orient, in: ders., Die Türkei im Ersten Weltkrieg. Flugblätter und Flugschriften in arabischer, persischer und osmanisch-türkischer Sprache aus einer Sammlung der Universitäts­ bibliothek Heidelberg, Frankfurt a. M. u. a. 1990, 35–44. Siehe außerdem Peter Heine, Al-Gˇihād. Eine deutsche Propagandazeitung im 1. Weltkrieg, in: Die Welt des Islams 20 (1980), 197–199.

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rung in den muslimischen Kolonialgebieten Frankreichs, Großbritanniens und Russlands zu einem Aufstand zu mobilisieren.7 Mittwochs Beförderung vom Privatdozenten zum Extraordinarius und anschließend zum Ordinarius zunächst in Greifswald und dann in Berlin vollzog sich damit unmittelbar vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs und seinem Einsatz für die deutschen Kriegsinteressen. Es ist zu vermuten, dass die propagandistische und nachrichtendienstliche Tätigkeit seine Karriereschritte begünstigt haben.8 Nach einem drei Semester währenden Zwischenspiel an der Universität Greifswald gelang es Mittwoch 1919 mit einer Zurückberufung an die Friedrich-­ Wilhelms-Universität als Nachfolger seines Lehrers und Doktorvaters Eduard Sachau (1845–1930) an seine langjährige Wirkungsstätte zurückzukehren.9 Offenbar war man im Ministerium zufrieden mit der Arbeit des Gelehrten, der sich auf äthiopische Sprachen spezialisiert hatte und als einer der wenigen Kenner Abessiniens galt.10 Mittwochs Expertenkenntnisse auf einem bis dahin wenig erforschten Gebiet wiesen ihn als einen hervorragenden Kandidaten für das neu zu besetzende Ordinariat an der Berliner Universität aus, da er seine theoretische Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität mit einer praktischen Sprachausbildung am SOS für am abessinischen Sprach- und Kulturraum interessierte

7 Die Auseinandersetzung innerhalb europäischer Orientalistenkreise hinsichtlich der deutschen Indienstnahme des Dschihadkonzepts ist dokumentiert in Wolfgang G. S­ chwanitz, Djihad »Made in Germany«. Der Streit um den Heiligen Krieg 1914–1915, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 18 (2003), H. 2, 7–34. Zur Kontroverse zwischen Snouck Hurgronje und Becker siehe auch Peter Heine, C. Snouck Hurgronje versus C. H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik, in: Die Welt des Islams 23 (1984), 378–387. Außerdem Wilfried Loth/Marc Hanisch (Hgg.), Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, München 2014 sowie Tilman Lüdke, Jihad Made in Germany. Ottoman and German Propaganda and Intelligence Operations in the First World War, Berlin 2005 und Suzanne L. Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge u. a. 2009, 436–446. Auch Mittwoch hatte bereits 1914 eine Kriegsschrift veröffentlicht, die den Eintritt des Osmanischen Reiches in den Ersten Weltkrieg an der Seite der Mittelmächte als »Heiligen Krieg« proklamierte. Vgl. Eugen Mittwoch, Deutschland, die Türkei und der Heilige Krieg, Berlin 1914. 8 Siehe Ursula Wokoeck, German Orientalism. The Study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945, London/New York 2009, 182, sowie Peter Heine, Wiederentdeckte Gemeinsamkeiten, in: Orientalistische Literaturzeitung 95 (2000), 367–376, zu Mittwoch insbesondere 371–374, hier 373. 9 Da Mittwochs Anstellung an der Universität Greifswald in die Jahre des Ersten Weltkriegs fällt, er zu diesem Zeitpunkt jedoch an der Nachrichtenstelle für den Orient in Berlin tätig war, ist unklar, wieviel Zeit er tatsächlich in Greifswald verbracht hat. Vgl. Edward Ullendorff, Eugen Mittwoch and the Berlin Seminar for Oriental Languages, in: Ian Richard Netton (Hg.), Studies in Honour of Clifford Edmund Bosworth, Vol. 1: Hunter of the East. Arabic and Semitic Studies, Leiden u. a. 2000, 145–158, hier 157. 10 Siehe Enno Littmann, Eugen Mittwoch (1876–1942), in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 99 (1945–1949), 143–146.

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Studenten verbinden konnte. Auch das Arabische hatte er in seiner Tätigkeit nicht vernachlässigt. Als Mitarbeiter Sachaus wirkte er an der Veröffentlichung des »Klassenbuches« des arabischen Historikers Ibn Sa‘d (784–845) mit und gab den ersten Band gemeinsam mit seinem akademischen Lehrer heraus. So erstaunt es nicht, dass Mittwoch bereits wenige Jahre später zum Lehrstuhlinhaber und ab 1920 zum stellvertretenden sowie 1928 zum Direktor des SOS aufgestiegen war. Er wurde damit zu einem der wichtigsten Repräsentanten und Entscheidungsträger innerhalb der Berliner Orientalistik der Zwischenkriegszeit. Bei der Einführung des BBG am 7. April 1933 war Mittwoch seit 14 Jahren in seminar- bzw. institutsleitender Position und stand nun mit 56 Jahren vor der drohenden Ausgrenzung und dem vorzeitigen Abbruch seiner akademischen Laufbahn.11 Während Mittwoch noch um seine Position bangte, ging die Umsetzung des BBG und damit der Ausschluss missliebiger Hochschullehrer manch einem seiner Kollegen hingegen nicht schnell genug. Ein übereifriger Kollege am SOS, der Russischdozent Anton Palme (1872–1943), etwa intrigierte mit einer Eingabe beim preußischen Kultusministerium gegen Mittwoch und setzte sich persönlich für sein baldiges Ausscheiden als Direktor des Seminars ein: »Nachdem das neue Beamtengesetz im Reich publiziert ist und anzunehmen ist, daß der jetzige Direktor des Seminars für Orientalische Sprachen aus seinem Amt ausscheiden wird […] würden [wir; M. Š.] es schwer empfinden, wenn das bevorstehende Semester noch unter dem Direktorat Mittwoch beginnen würde.«12

Vermutlich nutzte Palme die veränderte politische Situation, um gegen einen in seinen Augen lästigen Kollegen und Vorgesetzten vorzugehen, mit dem er bereits wenige Jahre zuvor in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender des Dozentenkollegiums aneinander geraten war.13 Zudem schien Palme mit dieser 11 Erstaunlicherweise beschrieb Richard Walzer (1900–1975), der in den 1920er Jahren in Berlin studiert hatte, in einem Vortrag, den er 1967 vor der »Near East History Group« in Oxford hielt, Eugen Mittwoch als einen guten Wissenschaftler, der allerdings kein Interesse an der Lehre gehabt und akademische Verantwortung gescheut habe: siehe Richard Walzer, The Formation of a Scholar. The Stages on My Way, in: British Journal of Middle Eastern Studies 18 (1991), H. 2, 159–168, hier 164. Wahrscheinlicher ist, dass Mittwoch durch seine zahlreichen universitären sowie außeruniversitären Funktionen so beschäftigt war, dass er die Lehre eher vernachlässigte. Vgl. hierzu Hinrich Biesterfeldt (Hg.), Franz Rosenthal’s »Half an Autobiography«, in: Die Welt des Islams 54 (2014), 34–105, hier 52. 12 Anton Palme an das Preußische Kultusministerium, 18.  April 1933. Geheimes Staats­ archiv Preußischer Kulturbesitz (nachfolgend Geheimes Staatsarchiv), I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit.  X, Nr.  124, Bd.  XII, Bl.  174, zit. nach Ludmila Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2003, hier 118 f. 13 In den Unterlagen des Kultusministeriums findet sich ein Schreiben Mittwochs vom 21.  November 1930, indem dieser Bezug auf eine Eingabe Palmes an das Ministerium vom 14. November 1930 nimmt. Palme habe danach die Beurlaubung Mittwochs von seiner Funk-

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Denunziation aber auch seine eigene Person beim Ministerium für zukünftige Verhandlungen über die Umstrukturierung des Seminars in Position bringen zu wollen, wie sie später tatsächlich in der Überführung des Seminars im Rahmen der neugegründeten Auslandshochschule unter seiner Leitung im Jahre 1936 Gestalt annahm.14 Das Zusammengehen all dieser Faktoren – Eugen Mittwochs jüdische Herkunft, sein besonderes Engagement in jüdischen Angelegenheiten, seine einflussreiche Position am Seminar und am Institut sowie die opportunis­ tische Diffamierung durch Anton Palme – trugen dazu bei, dass Mittwoch bereits Ende April 1933 als einer der ersten Berliner Dozenten von den Maßnahmen des BBG erfasst wurde und während der ersten Entlassungswelle seiner Positionen enthoben wurde. Doch im Gegensatz zu dem Großteil der betroffenen Wissenschaftler weigerte sich Mittwoch, die antisemitische Ausgrenzung der Nationalsozialisten ohne Widerstand hinzunehmen. Vielmehr schöpfte er alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel aus und unternahm zahlreiche Versuche, seine drohende Entlassung abzuwenden. In einem ersten Schritt versuchte er sein akademisches Netzwerk zu nutzen, um angesehene Kollegen aus dem In- und Ausland auf seine Situation aufmerksam zu machen und diese zu bitten, beim zuständigen preußischen Kultusministerium in seiner Angelegenheit aktiv zu werden. Selbst nachdem seine Entlassung Ende 1935 beschlossen war, hatte er noch den Mut, gegen die Entscheidung der Behörden vorzugehen und juristisch für seine Rechte einzutreten. Mit der Einreichung einer Klage Eugen Mittwochs »gegen das Land Preußen« vor dem Landgericht Berlin erwirkte er im Januar 1938 die Revision seiner Ruhestandsversetzung durch Kultusminister Rust aufgrund des antisemitischen Reichsbürgergesetzes. Vor dem Hintergrund des Ausschlusses jüdischer Hochschullehrer von den deutschen Universitäten stellt der Fall Eugen Mittwoch einen einzigartigen Versuch dar, gegen die Vertreibung aufzubegehren und in den Jahren der Verfolgung für die eigenen Rechte einzutreten.

tion als Vorsitzender des Dozentenkollegiums angestrebt und ihm Illoyalität vorgeworfen. Geheimes Staatsarchiv, I. HA Rep. 208 A, Nr. 21, Bl. 20–22. Bereits unter Eugen Mittwochs Vorgänger, Eduard Sachau, war es zu Auseinandersetzungen mit den Dozenten gekommen, die die Direktorialverfassung des Seminars kritisierten und ein größeres Mitspracherecht forderten. Vgl. Sabine Mangold, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004, 240–242. 14 Vgl. Ekkehard Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus 1­ 933–1945, Edingen-Neckarhausen 2006, 168–174.

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Die Berliner Orientalistik Am Institut für Semitistik und Islamkunde der Berliner Universität hatte sich mit Beginn des Sommersemesters 1933 einiges verändert.15 Von den drei Ordinarien Eugen Mittwoch, Carl Heinrich Becker (1876–1933) und Hans Heinrich ­Schaeder (1896–1957) kehrte nur letzterer auf seinen Lehrstuhl zurück. Carl Heinrich Becker, wie Mittwoch Jahrgang 1876, war am 10. Februar 1933 – nur wenige Tage nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler – plötzlich und unerwartet in Berlin verstorben. Als ehemaliger, bis 1930 amtierender preußischer Kultusminister war Becker den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn als Ministerialbeamter der Weimarer Republik tätig gewesen, zunächst als Staatssekretär und später als Minister, und hatte in diesen Funktionen auch entscheidenden Einfluss auf die wissenschaftspolitische Entwicklung der Orientalistik an der Friedrich-Wilhelms-Universität ausgeübt. Als Vertreter des Faches hatte Becker während seiner Zeit im Ministerium reges Interesse an der neuen Ausrichtung der Berliner Orientalistik gezeigt. Die Berufung Mittwochs zum ordentlichen Professor 1919 sowie die Berufungspolitik der Zwischenkriegszeit insgesamt spiegeln Beckers Verständnis einer modernen Orientforschung wider, die unter dem Eindruck neuer kulturgeschichtlicher Ansätze den islamischen Orient »als geschlossenen Kultur- und Geschichtsraum« in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückte.16 Sowohl Becker als auch Mittwoch gehörten zu einer kleinen Gruppe von Gelehrten, die am Rande der universitären Orientalistik gegen die traditionelle Dominanz der Philologie aufbegehrte. Orientalisten wie Martin Hartmann ­(1851–1918), Ignaz Goldziher (1850–1921), Christiaan Snouck Hurgronje (1857–1936), Georg Kampffmeyer  (1864–1936), Enno Littmann  (1875–1958), Gotthelf Bergsträßer  (1886–1933) und Franz Babinger  (1891–1967) beklagten die Vernachlässigung historischer Fragestellungen sowie der Realienforschung und machten den Islam in einer eher historisch und kulturwissenschaftlich geprägten Perspektive zum Forschungsgegenstand ihres Faches.17 Nicht selten waren eben diese Wissenschaftler als Dozenten am Berliner Seminar für Orienta­ 15 Zur Geschichte der Berliner Orientalistik seit der Gründung der Universität 1810 siehe Peter Heine, Orientalistik an der Berliner Universität. Zwischen Philologie und Politik ­1810–1945, in: Heinz-Elmar Tenorth (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden ­1810–2010, Bd. 5: Transformation der Wissensordnung, Berlin 2010, 521–534. 16 Mangold, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«, 259 f. Vgl. Alexander Haridi, Das Paradigma der »islamischen Zivilisation« – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876–1933). Eine wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Würzburg 2005. Außerdem Carl Heinrich Becker, Islamstudien. Vom Werden und Wesen der islamischen Welt, 2 Bde., Leipzig 1924/1932. 17 Mangold, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«, 279. Vgl. Wokoeck, German Orientalism, 177–184.

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lische Sprachen tätig und hatten während langjähriger Aufenthalte im Orient die Sprachen und Verhältnisse in der modernen islamischen Welt studieren können. Georg Kampffmeyer beispielsweise war ausgesprochener Experte für arabische Dialekte und Herausgeber der Fachzeitschrift Die Welt des Islams. Sein Lehrer Martin Hartmann war Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Islamkunde und stand über ein Jahrzehnt in Beirut im diplomatischen Dienst am deutschen Generalkonsulat, bevor er 1887 nach Deutschland zurückkehrte und am Seminar als Arabischdozent tätig war. Nach der Emeritierung Eduard Sachaus im Jahre 1920 hielt Mittwoch das einzige Ordinariat innerhalb der Orientalistik an der Berliner Universität. Dieses war zwar für Semitische Philologie vergeben worden, faktisch beschäftigte sich Mittwoch neben seiner philologischen Forschung innerhalb der Arabistik, Äthiopistik und Hebraistik jedoch auch mit klassisch islamwissenschaftlichen Themen.18 Am eindrücklichsten verdeutlicht dies eine 1913 publizierte Schrift mit dem Titel Zur Entstehungsgeschichte des islamischen Gebets und Kultus, in der er bezugnehmend auf einen kurz zuvor veröffentlichten Aufsatz B ­ eckers dessen These zurückweist, der islamische Freitagsgottesdienst habe sich aus dem sonntäglichen Gottesdienst der christlichen Kirche heraus entwickelt,19 und vielmehr »bei der Entstehung und Ausgestaltung des islamischen Gebets und Kultus jüdische Einflüsse« aufzuzeigen versucht.20 Die der Mittwoch’schen Berufung nachfolgende Ernennung des Orientalisten und Osmanisten Franz ­Babinger zum Extraordinarius im Jahr 1924, der sich als erster an der Berliner Universität für das Fach Islamwissenschaft habilitiert hatte,21 sowie die Habilitationen von Werner Caskel (1896–1970)22 im Jahr 1928 und Paul Kraus (1904–1944)23 im 18 Vgl. Walter Gottschalk, Die Schriften Eugen Mittwochs. Zum 4.  Dezember 1936 verzeichnet, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 81 (1937), H. 2, 243–250; sowie Rudi Paret/Anton Schall (Hgg.), Ein Jahrhundert Orientalistik. Lebensbilder aus der Feder von Enno Littmann. Zum Achtzigsten Geburtstage am 16. September 1955, Wiesbaden 1955, 128–133. 19 Vgl. Carl Heinrich Becker, Zur Geschichte des islamischen Kultus, in: Der Islam 3 (1912), 374–399. 20 Eugen Mittwoch, Zur Entstehungsgeschichte des islamischen Gebets und Kultus, Berlin 1913, 42. Eine umfangreichere Arbeit, die sich dem Einfluss des Judentums auf das islamische Gesetz insgesamt zuwenden sollte und von Mittwoch als seit längerer Zeit in Vorbereitung beschrieben wurde, ist nie zur Veröffentlichung gelangt. Mit seiner Beschäftigung steht Mittwoch ganz in der Tradition der Wissenschaft des Judentums, aus der seit dem frühen 19. Jahrhundert zahlreiche Gelehrte hervorgegangen sind, die die Islamwissenschaft entscheidend mitgeprägt haben. 21 Zu Franz Babinger siehe Gerhard Grimm, Franz Babinger (1891–1967). Ein lebens­ geschichtlicher Essay, in: Die Welt des Islams 38 (1998), 286–333. 22 Zu Werner Caskel siehe ders., Aus den Erinnerungen eines Orientalisten, in: Erwin Gräf (Hg.), Festschrift Werner Caskel zum siebzigsten Geburtstag 5. März 1966, Leiden 1968, 5–36. 23 Zu Paul Kraus siehe Joel L. Kraemer, The Death of an Orientalist. Paul Kraus from Prague to Cairo, in: Martin S. Kramer (Hg.), The Jewish Discovery of Islam. Studies in Honour of

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Jahr 1932 für Semitistik und Islamwissenschaft verweisen gleichfalls auf die Neuausrichtung der Berliner Orientalistik und die stetigen Bemühungen um eine disziplinäre Verankerung der Islamwissenschaft während der Weimarer Republik. Berlin konnte sich so neben den Universitäten in München und Breslau als eine von drei Hochschulen etablieren, die über einen längeren Zeitraum islamwissenschaftliche Forschung vertraten.24 Beckers und Mittwochs islamwissenschaftliche Interessen schlugen sich auch in der Institutsbezeichnung nieder, da auf Antrag Mittwochs beim damaligen Kultusminister Becker das Institut für Semitistik im Jahr 1929 in Institut für Semitistik und Islamwissenschaft umbenannt und dadurch die akademische Etablierung und Institutionalisierung der Islamwissenschaft in Berlin weiter vorangetrieben wurde.25 Mittwochs Ordinariat wurden zwei weitere Professuren beiseite gestellt. Becker erhielt nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1930 ein Ordinariat für Semitische Sprachen und der Iranist und Religionshistoriker Hans Heinrich Schaeder wurde im darauffolgenden Jahr Professor für Orientalische Philologie.26 Zusammen standen Mittwoch, Becker und Schaeder für die neue kulturgeschichtliche Forschungsrichtung der jungen Islamwissenschaft an der Berliner Universität. Während sich die drei Gelehrten bis zum Sommer­ semester 1933 die Direktorenschaft des Instituts teilten, blieb nach dem Tod Beckers und der Beurlaubung Mittwochs der 20 Jahre jüngere Schaeder als alleiniger Institutsleiter übrig. Da die überwiegende Zahl der Dozenten am Institut in der Tradition der beiden älteren Professoren stand, begegneten die Nationalsozialisten den Berliner Fachvertretern insgesamt mit Misstrauen. Mittwoch war ihnen grundsätzlich wegen seiner jüdischen Herkunft und seines öffentlichen Engagements verhasst. Becker geriet vor allem durch seine liberal-demokratische Haltung sowie seinen Einsatz für die Weimarer Republik in Missgunst. Da er sich außerdem für eine Reformierung des Hochschulwesens eingesetzt und die Demokratisierung der Hochschulverfassung vorangetrieben hatte, wurde Becker »das personifizierte wissenschaftliche Feindbild der Nationalsozialisten«.27 Noch 1940 reichte der Verweis, Franz Babinger sei ein »Günstling des früheren Kultusministers Prof.  Dr. Becker« gewesen, um sein berufliches Fortkommen zu behindern.28

Bernard Lewis, Tel Aviv 1999, 181–223; sowie Maja Ščrbačić, Von der Semitistik zur Islamwissenschaft und zurück. Paul Kraus (1904–1944), in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/­ Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 389–416. 24 Siehe Wokoeck, German Orientalism, 169. 25 Becker genehmigte am 25. Oktober 1929 die Gründung des Instituts. Siehe Universitätsarchiv Berlin, Phil. Fak., 82, Bl. 1. 26 Siehe Wokoeck, German Orientalism, 236 f. 27 Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 182. 28 Universitätsarchiv Berlin, NS-Doz. 2: ZDI/35 Kar002, Personalakte Franz Babinger, Bl. 2.

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Bezüge auf jüdische Orientalisten wiederum konnten schnell als »Judenfreundlichkeit« ausgelegt werden, so wie beispielsweise Walther Björkman (1896–1996) vorgeworfen wurde, »wissenschaftliche Hilfe von dem jüdischen Orienta­ listen Goldziher« erhalten zu haben.29 Über Schaeder wiederum urteilten die Nationalsozialisten: »Meine Ermittlungen über Dr. Schaeder haben ergeben, dass derselbe sich früher dem preußischen Kultusminister Prof.  Becker angeschlossen hatte, ebenso wie dem jüdischen Prof.  Mittwoch. Diese beiden haben die Laufbahn von Dr.  Schaeder begründet. Bei verschiedenen Gelegenheiten ist Sch[aeder] öffentlich für die Juden eingetreten, in einer Weise, die deutsch empfindenden Menschen äußerst peinlich war. […] Man hat bei seiner ganzen Tätigkeit und Einstellung den Eindruck, als ob er den günstigsten Weg sucht, um seine persönliche Machtstellung zu erweitern. Sch[aeder] ist gewiß zu klug, sich heute in irgendeiner Weise gegen den Nationalsozialismus zu stellen, er wird ihn sogar zu fördern suchen. Als Nationalsozialist kann er auf keinen Fall gelten.«30

Obwohl diese Beurteilung keine negativen Auswirkungen für Schaeders berufliche Laufbahn hatte, reagierte er wie die meisten seiner Berliner Fachkollegen mit Selbstanpassung. In einem Gutachten zu Franz Babinger im Zuge von dessen Bewerbung um den freigewordenen Münchner Lehrstuhl des im August 1933 während einer Bergtour am Watzmann in den Berchtesgadener Alpen tödlich verunglückten Gotthelf Bergsträßers betrieb der angesehene Orientalist S­ chaeder vor dem Hintergrund der geänderten politischen Situation Babingers »wissenschaftliche Hinrichtung«, indem er dessen »arische Abstammung« in Zweifel zog und von einer jüdischen Großmutter berichtete, die nun zur Urgroßmutter avanciert sei.31 Kurz darauf hetzte die antisemitische Wochenzeitung Der Stürmer in einem mit »Professor Babinger. Die Tragik eines Judenmischlings« überschriebenen Artikel gegen ihn und erklärte: »Professor Babinger ist jüdischer Abstammung. Seine Großmutter Maria Henle war eine Jüdin und blieb es trotz des katholischen Taufwassers. […] Trotzdem bemüht er sich

29 Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 182. Zu Walther Björkman siehe Lars Johanson, In Memoriam Walter Björkman (1896–1996), in: Orientalia Suecana. An International Journal of Indological, Iranian, Semitic and Turkic Studies 45/46 (1996/1997), 5–7. 30 Zit. nach Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 182. 31 Ebd., 54. Auch in einem weiteren Gutachten vom 8.  September 1933 stellt Schaeder­ Babingers wissenschaftlicher Qualifikation ein vernichtendes Zeugnis aus und kommt zu dem Schluss: »Wenn das Seminar [für Orientalische Sprachen; M. Š.] […] einen neuen Aufstieg nehmen soll, so ist seine Entfernung das erste Erfordernis.« Siehe Geheimes Staatsarchiv, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 68, Beih. F, Teil 1, Bl. 586–589, hier 589. Siehe außerdem­ Pawliczek, Akademischer Alltag zwischen Ausgrenzung und Erfolg, 276–279.

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mit allen Mitteln um eine Professur an der Hochschule München. […] Alle seine Versuche müssen nutzlos bleiben. Auf den Lehrstühlen deutscher Universitäten haben im Deutschland Adolf Hitlers Judenstämmlinge nichts zu suchen. Auch ein Dr. ­Babinger nicht.«32

In dieser aufgeheizten Stimmung verwundert es nicht, dass sich der Assyriologe Bruno Meissner (1868–1947) beeilte, im Selbstverlag in einer Schrift mit dem­ Titel Verleumdung Gerüchte über seine vermeintlich »nichtarische« Abstammung zurückzuweisen.33 Angesichts solcher Beispiele des Versagens jeglicher Fachkollegialität und Zurückhaltung vom einzigen verbliebenen Professor am Institut erstaunt auch nicht, dass Schaeder hinsichtlich der Beurlaubung von Eugen Mittwoch gegenüber dem Kultusministerium schwieg – zumal er von dieser persönlich profitierte.34 Dabei ist das Schicksal Mittwochs innerhalb der Berliner Orientalistik kein Einzelfall. Die Berliner Universität wurde als »Entlassungshochburg« beschrieben; deutschlandweit war das semitistische Institut in Berlin zahlenmäßig am stärksten betroffen.35 Doch auch die Beurlaubung des aus Prag nach Berlin gekommenen Privatdozenten Paul Kraus im Frühjahr 1933,36 sowie die Ruhestandsversetzung Franz Babingers gemäß Paragraf 6 des BBG im März 193437 wurden von S­ chaeder hingenommen. Es war kein Protest von der Institutsleitung zu vernehmen, obwohl mit Mittwoch, Kraus und Babinger die Hälfte des arabistisch und islamwissenschaftlich ausgerichteten Lehrpersonals wegfiel.38

32 Zit. nach Grimm, Franz Babinger (1891–1967), 319 f. 33 Bruno Meissner, Verleumdung, Zeuthen i.  M. 1933. Siehe Universitätsarchiv Berlin, UK M 125, Personalakte Bruno Meissner, Bd. 1, Bl. 59. 34 Es finden sich keine diesbezüglichen Eingaben in den Universitätsakten. 35 Ellinger, Deutsche Orientalistik zur Zeit des Nationalsozialismus, 127; Hanisch, Die Nachfolger der Exegeten, 134 f. 36 Paul Kraus wurde am 13. Mai 1933 bis zur endgültigen Entscheidung aufgrund des BBG beurlaubt. Siehe Universitätsarchiv Berlin, Institut für Geschichte der Medizin, Nr.  4, 1930– 1934, Bl. 84. 37 Babinger ist am 23. März 1934 aufgrund von Paragraf 6 des BBG in den Ruhestand versetzt worden. Siehe Geheimes Staatsarchiv, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 68, Beih. F, Teil 1, Bl. 1146. 38 Neben den Altorientalisten Bruno Meissner, Carl Frank (1881–1945) und Erich Ebeling (1886–1955) verblieben nur Hans Heinrich Schaeder und Walther Björkman am Institut. Für eine Einschätzung der Auswirkungen des BBG auf die deutsche Orientalistik insgesamt siehe Wokoeck, German Orientalism, 187–189.

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Eine internationale Wissenschaftsgemeinde Der beurlaubte Eugen Mittwoch fand sich in einer monatelangen Zerreißprobe wieder, die von großer Unsicherheit und Zukunftssorgen gekennzeichnet war. Widersprüchliche Aussagen der einzelnen Beteiligten ließen kein klares Bild der Beratungen entstehen. Während der Dekan ihm im Mai 1933 noch suggeriert hatte, dass der zuständige Personalreferent im preußischen Kultusministerium, Ministerialrat Johann Daniel Achelis (1898–1963), seinen Fall »wohlwollend behandeln« wolle,39 musste er spätestens mit dem Entzug seines Lehrauftrags am SOS im Juli 1933 davon ausgehen, dass er pensioniert werden würde.40 Erst die Interventionen mehrerer Orientalisten aus Tübingen, Bonn und Leiden beim Kultusministerium im August 1933 brachten vermutlich die Wendung. Am eindrücklichsten scheint der Brief des niederländischen Orientalisten Christiaan Snouck Hurgronje gewirkt zu haben, der darin von der »grosse[n] Bestürzung« innerhalb der internationalen orientalistischen Gelehrtenwelt berichtete, die die Beurlaubung Mittwochs nach sich gezogen hätte. Snouck Hurgronje warnte ausdrücklich vor einer endgültigen Entlassung Mittwochs aus dem Hochschuldienst, da dies »einen unersetzlichen Verlust, nicht nur für die deutsche, sondern für die internationale Wissenschaft herbeiführen würde« und fügte hinzu, dass die deutschen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte auf orientalistischem Gebiet »nicht zum geringen Teil den Leistungen von Prof. Mittwoch zu verdanken« seien.41 Das Schreiben hat bei der Kultusbehörde augenscheinlich Eindruck hinterlassen: Am 13. September teilte ihm der Staatssekretär im Kultusministerium Wilhelm Stuckart mit, dass das Verbleiben Mittwochs im Amt noch geprüft würde.42 Offenbar hatte bereits eine Woche vor Snouck Hurgronjes Schreiben der Tübinger Ordinarius Enno Littmann mit einem Empfehlungsschreiben und der Bitte, man möge Mittwoch doch als »Kriegsteilnehmer« anerkennen und im Amt belassen, beim Ministerium in der Angelegenheit interveniert. Jedenfalls findet sich ein solches Konzeptpapier im Nachlass Enno Littmanns, auch wenn 39 Eugen Mittwoch an Enno Littmann, 19. Mai 1933. Staatsbibliothek Berlin, Nachlass 245, Enno Littmann, Kasten 22: »Vor ein paar Tagen rief mich […] Dekan (Hartung) an, er habe aus einer Besprechung mit dem Universitätsreferenten (Ministerialrat Prof. Achelis) den Eindruck gewonnen, als wolle dieser meinen Fall wohlwollend behandeln. Aber natürlich war das keine bindende Äußerung. Die Sache hängt auch nicht von ihm (A.) allein ab, sondern noch von dem Ministerialdirektor (Gerullis) und in letzter Instanz von dem Minister.« 40 Eugen Mittwoch an Enno Littmann, ebd.: »Wie ich heute aus einem Gespräch mit­ Schaeder ersehen habe, ist die Gefahr sehr groß, daß ich pensioniert werde und meine Professur nicht wieder besetzt wird (sondern Schaeder dann alles versehen soll). Schaeder sagte mir, er werde Ihnen noch heute schreiben und Sie um eine Intervention bitten«. Siehe außerdem Universitätsarchiv Berlin, UK M 225, Personalakte Eugen Mittwoch, Bd. II, Bl. 33. 41 Brief Christiaan Snouck Hurgronjes an den preußischen Kultusminister Bernhard Rust, 15. August 1933. Geheimes Staatsarchiv, I. HA Rep. 76 Va, Sekt. 2, Tit. IV, Nr. 68 B, Bd. IV, Bl. 419. 42 Ebd., Bl. 420.

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keine diesbezüglichen Schreiben mehr in den Unterlagen des Ministeriums zu finden sind.43 Auch der Bonner Orientalist Paul Kahle verwandte sich für Mittwoch und beschrieb ihn als einen »hervorragenden Fachgenossen«.44 Ende September 1933 war die Prüfung von Mittwochs Fall bei den zuständigen Stellen offensichtlich abgeschlossen. Wenn er auch noch keinen Bescheid hatte, konnte er doch Littmann berichten: »So habe ich doch inoffiziell erfahren, daß ich in meiner Professur verbleibe. […] Daß ich über diese Wendung überaus erfreut bin, bedarf wohl nicht der Hervorhebung. Empfangen Sie noch einmal meinen herzlichsten Dank für Ihre artige Intervention, die ihre Wirkung nicht verfehlt hat.«45

An der Entscheidung konnte dann auch ein anonymer Brief vom 21. September 1933, der Mittwoch als »Zionist reinsten Wassers, dementsprechend allen Deutschen gegenüber feindlich« denunzierte, der »im Durchschnitt nur zwei Studenten im Semester […], einen polnischen und einen palästinensischen Juden« gehabt habe, nichts ändern.46 Zuvor hatte der in der Angelegenheit beratend tätige Referent Achelis seine Zusage vom Mai eingelöst, Mittwochs Fall wohl­ wollend behandeln zu wollen, und ihn als »Ermessensfall« eingestuft.47 Obwohl Mittwoch als sogenannter »Volljude« nach dem BBG hätte entlassen werden müssen und auch nicht unter die von Reichspräsident Paul von Hindenburg erwirkten Ausnahmeregelungen für Vorkriegsbeamte und Kriegsteilnehmer fiel,48 plädierte Achelis wegen seiner Tätigkeit in der Nachrichtenstelle für den Orient im Ersten Weltkrieg dafür, ihn im Amt zu belassen.49 Diese Entscheidung ist ein Beleg dafür, dass Beamte in den staatlichen Verwaltungsinstitutionen durchaus Handlungsmöglichkeiten hatten. Letztlich kam es auch auf die Entscheidungsträger an, sich zugunsten der verfolgten Wissenschaftler einzusetzen und die antisemitischen Maßnahmen nach eigenem Ermessen anzuwenden oder Ausnahmeregelungen sehr weit auszulegen. Zugleich findet sich hier aber auch ein eindrückliches Beispiel für die Bedeutung von Fürsprachen der Fachkollegen, das zeigt, dass selbst drohende Pensionierungen durch die Intervention renommierter Professoren abgewendet werden konnten. 43 Gutachten von Enno Littmann, 7. August 1933, Staatsbibliothek Berlin, Nachlass 245, Enno Littmann, Kasten 22. 44 Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik, 86. 45 Brief von Eugen Mittwoch an Enno Littmann, 29. September 1933. Staatsbibliothek Berlin, Nachlass 245, Enno Littmann, Kasten 22. 46 Zit. nach Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik, 87. 47 Ebd., 86. 48 Da Mittwoch erst zum 21. April 1915 das bisherige Extraordinariat Jakob Barths (1851– 1914) verliehen bekommen hatte, fiel er nicht unter die Ausnahmeregelung für Vorkriegs­ beamte, die eine Verbeamtung bis spätestens 1. August 1914 anlegte, siehe Universitätsarchiv Berlin, UK M 225, Personalakte Eugen Mittwoch, Bd. I, Bl. 1. 49 Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik, 86 f.

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Widerrufungen Mittwoch hatte also zunächst im Herbst 1933 die Aufhebung seiner Beurlaubung nach dem BBG erreicht. Obwohl er im Vorlesungsverzeichnis noch als beurlaubt aufgeführt wird, scheint er bereits zum Wintersemester 1933/34 seine Lehrveranstaltungen wieder aufgenommen zu haben.50 Seinem Kollegen Enno Littmann berichtet er von einer unbesorgten Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit: »Das Semester ist in seiner ersten Hälfte sehr ruhig verlaufen. Ich habe recht fleißig gearbeitet. […] Ihr Schüler Murad Kamil macht mir sehr viel Freude. Er ist fleißig und begabt und von ernstem Streben erfüllt.«51

In seinen Posten als Direktor des auf die praktische Sprachausbildung von Dolmetschern, Diplomaten, Kaufleuten und Missionaren ausgerichteten Seminars für Orientalische Sprachen ist Eugen Mittwoch jedoch nicht wieder eingesetzt worden. Am 1.  Juli 1933 wurde er von seinem Amt als Direktor des SOS entbunden und zum 27.  Juli Hans Heinrich Schaeder zu dessen neuem Direktor ernannt.52 Ab dem Sommersemester 1934 war Mittwoch wieder mit Lehrveranstaltungen im Vorlesungsverzeichnis vertreten und blieb dies auch für die folgenden zwei Semester. Aber bereits das Sommersemester 1935 wurde sein letztes Semester am Berliner Institut. Nachdem er am 18. Oktober in einem Personalfragebogen erklärt hatte, seine »vier Großelternteile gehörten sämtlich der jüdischen Religionsgemeinschaft an. Ich nehme daher als sicher an, daß Sie auch der Rasse nach volljüdischer Abstammung waren«, wurde er nur wenige Tage später, am 22. Oktober, erneut durch den Universitätsrektor beurlaubt.53 Als Grundlage diente diesmal das Reichsbürgergesetz (RBG) vom 15. September 1935, das Juden die Bekleidung von öffentlichen Ämtern untersagte und damit die Entfernung ­aller verbliebenen jüdischen Beamten aus dem Hochschuldienst verfügte. In den folgenden Monaten kam es dann zu einer Überschneidung der Zuständigkeiten zwischen Kultusminister Bernhard Rust und Reichskanzler Adolf­ Hitler, so dass bereits ergangene ministerielle Maßnahmen mehrfach revidiert wurden. Zunächst betrieb Rust nach der Einführung des RBG Mittwochs Versetzung in den Ruhestand und ließ ihm am 16. Dezember 1935 über den Verwaltungsdirektor der Berliner Universität mitteilen, dass er aufgrund »des § 4 der Ersten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14.11.1935 […] mit dem 50 Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Vorlesungsverzeichnis Wintersemester 1933/34, Berlin 1933. 51 Brief von Eugen Mittwoch an Enno Littmann, 29. Dezember 1933. Staatsbibliothek Berlin, Nachlass 245, Enno Littmann, Kasten 22. 52 Universitätsarchiv Berlin, UK M 225, Personalakte Eugen Mittwoch, Bd. II, Bl. 32; sowie Geheimes Staatsarchiv, I. HA Rep. 208 A, Nr. 21, Bl. 20. Zu Mittwochs Tätigkeit am SOS siehe Ullendorff, Eugen Mittwoch and the Berlin Seminar for Oriental Languages. 53 Universitätsarchiv Berlin, UK M 225, Personalakte Eugen Mittwoch, Bd. I, Bl. 21 f.

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31. Dezember 1935 in den Ruhestand treten« werde.54 Da Paragraf 4 Absatz 2 regelte, dass nur Weltkriegsteilnehmer ein Ruhegehalt in der Höhe der zuletzt bezogenen ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge zustehe, wurde Mittwoch lediglich ein Ruhegehalt in Höhe von 35 Prozent seiner bisherigen Bezüge zuerkannt.55 Allerdings war nur kurz vor dieser Entscheidung am 6. Dezember eine Entpflichtungsurkunde an Mittwoch ausgestellt worden, die vom Reichskanzler persönlich unterzeichnet und vom preußischen Ministerpräsidenten gegengezeichnet war.56 In dieser hatte Hitler selbst die Anwendung des »Gesetzes über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlass des Neuaufbaus des deutschen Hochschulwesens« vom 21. Januar 1935 veranlasst, das den Ausschluss von Universitätsangehörigen erlaubte, wenn das Reichsinteresse es erfordere.57 Daraufhin entschied Kultusminister Rust, seine ursprüngliche Verfügung vom 16. Dezember wieder aufzuheben, so dass Mittwoch entsprechend dem Willen der höchsten staatlichen Instanz emeritierter Professor blieb.58 Erstaunlicherweise war das aber nicht die letzte Entscheidung in dieser Angelegenheit. Im Februar 1936, also ungefähr sechs Wochen später, erging ein er­ neuter Bescheid des preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, indem Mittwoch mitgeteilt wurde, dass die Entpflichtung nicht wirksam sei, da diese erst nach dem Inkrafttreten des RBG erfolgt sei.59 Inwiefern diese Aufhebung der eigenen Entscheidung durch Kultusminister Rust bedingt war durch Mittwochs beharrliche Versuche, die staatlichen Verwaltungs­ institutionen doch noch von der Bedeutung seiner Forschung zu überzeugen, lässt sich schwer feststellen. Sicher ist jedoch, dass er sich noch im Januar bemühte, den mittlerweile zum Reichserziehungsminister ernannten Rust davon zu überzeugen, ihn in seinem Amt zu belassen. So richtete sich Mittwoch am 6. Januar 1936 in einem Schreiben an den Universitätsrektor und bat diesen, sein »Gesuch an den Herrn Reichserziehungsminister weiterleiten zu wollen«. Offensichtlich glaubte Mittwoch mit seinen Einwänden, dass »zwei wichtige Gebiete der Orientalistik, nämlich die Sabäistik (altsüdarabische Altertumskunde)«, der er sich seit den späten 1920er Jahren zugewandt hatte, und »das Amharische« in Zukunft keine Vertreter mehr an den deutschen Universitäten hätten, eine Revision seiner Emeritierung herbeiführen zu können.60 Den Dekan der Philosophischen Fakultät konnten Mittwochs Argumente jedoch nicht überzeugen. Stattdessen schrieb dieser an den Rektor: »Die Angaben von Professor Mittwoch

54 Ebd., Bl. 26. 55 Heine, Wiederentdeckte Gemeinsamkeiten, 373. 56 Universitätsarchiv Berlin, UK M 225, Personalakte Eugen Mittwoch, Bd. I, Bl. 25. 57 Ebd. 58 Ebd., Bl. 27. 59 Ebd., Bl. 31. 60 Ebd., Bl. 28.

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Klageschrift Eugen Mittwochs vom 20. Dezember 1937, in der das Land Preußen zur Zahlung von Ansprüchen aus seinem widerrechtlich aufgelösten Beamtenverhältnis aufgefordert wird (Auszug).

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sind 1. nur zum Teil richtig, da Professor Littmann in Tübingen das ­Amharische beherrscht. Selbst wenn das nicht der Fall wäre, so würde der Sachverhalt es meines Erachtens nach nicht begründen, um eine Ausnahme von den Nürnberger Gesetzen vorstellig zu werden.«61 Der Bitte von Kultusminister Rust, die Entpflichtungsurkunde zurückzu­ senden, kam Mittwoch indes nicht nach. Stattdessen behielt er eine Abschrift, auf deren Basis er – vertreten durch seinen Rechtsanwalt Dr. Jacques Abraham – am 20. Dezember 1937 eine Klage gegen das Land Preußen beim Landgericht Berlin einreichte. Damit ging Mittwoch gegen seine Versetzung in den Ruhestand vor, die aufgrund der zuvor ergangenen Entpflichtung durch den Reichskanzler »­ ungültig und rechtsunwirksam« sei.62 Diese war schließlich am 6. Dezember und somit nach der Bekanntmachung des Reichsbürgergesetzes am 15. September 1935 ergangen. Mittwoch argumentierte in der Klageschrift, dass eine Ruhestandversetzung nach RBG zum Zeitpunkt der Entpflichtung bereits möglich gewesen wäre. Diese sei jedoch mit Bedacht nicht erfolgt – stattdessen war seine Entpflichtung von oberster Stelle angeordnet worden. Da vom RBG nur die Professoren betroffen waren, die nicht von ihren amtlichen Verpflichtungen entbunden waren, fiele Mittwoch nicht unter die Regelungen vom November 1935. Obwohl Mittwoch bereits am 6. August 1936 gegen die Entscheidung des Kultusministers Beschwerde erhoben hatte, war noch über ein Jahr später keine Antwort des Ministeriums bei ihm eingegangen. Um die gesetzlichen Fristen zu wahren, hatte er keine andere Wahl als juristisch gegen das Kultusministerium vorzugehen. Von Bedeutung waren dabei insbesondere die Versorgungsbezüge, die Mittwoch nach dem Ausscheiden aus dem Staatsdienst beanspruchen konnte. Insbesondere die Frage, ob die ausgesprochene Entpflichtung nach Paragraf 4 des Hochschullehrergesetzes vom 21.  Januar 1935 oder die Versetzung in den Ruhestand aufgrund des Reichsbürgergesetzes aufrechterhalten werde, war wegen der finanziellen Auswirkungen zu klären. Die Entpflichtung und somit Emeritierung Mittwochs hätte vor allem die Freistellung von Lehrverpflichtungen nach sich gezogen, jedoch bei Auszahlung eines Ruhegehaltes, das nur wenig gekürzt gewesen wäre. Eine Pensionierung hingegen hätte bedeutet, dass Mittwoch nur noch einen gekürzten Prozentsatz seines letzten Gehaltes als Ruhegehalt zu­ gesprochen bekommen hätte. Doch auch wenn er mit der Klage formal die Auszahlung dieser finanziellen Ansprüche an das preußische Kultusministerium anstrebte, die er in der Klageschrift mit 17.500 Reichsmark bezifferte, ging es hier im Kern um die Anerkennung seiner Laufbahn als Wissenschaftler, die von den Nationalsozialisten jäh in Abrede gestellt worden war. Nachdem er über ein Jahr vergeblich auf eine Antwort des Kultusministers gewartet hatte, erhielt Mittwoch im Gefolge der Einreichung seiner Klage nun in 61 Ebd., Bl. 30. 62 Ebd., Bd. II, Bl. 78–80.

Eugen Mittwoch gegen das Land Preußen

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nerhalb weniger Wochen Bescheid. Noch vor dem angesetzten Verhandlungstermin am 29. Januar 1938 ließ ihm Reichserziehungsminister Rust am 6. Januar mittelen, dass es »bei der durch Urkunde vom 6. Dezember 1935 ausgesprochenen Emeritierung des o. Prof. Dr. Mittwoch verbleiben muss.«63 Dieser Vorgang beleuchtet, dass in den ersten Jahren der Umsetzung antisemitischer Maßnahmen an den Universitäten seitens der Behörden Unklarheit darüber herrschte, wie die bestehenden Gesetze anzuwenden seien. Darüber hinaus findet sich hier aber auch ein einmaliges Dokument des Widerstandes gegen das nationalsozialistische Regime und seine Politik, jüdische Wissenschaftler ihrer Position zu entkleiden und sie zu vertreiben, die »von dem großen persönlichen Mut« Mittwochs zeugt, für seine Rechte einzustehen.64 Erst nachdem Eugen Mittwoch Klage gegen seine Pensionierung vor dem Landgericht Berlin eingereicht hatte, beeilte sich das preußische Kultusministerium festzu­stellen, daß die ergangene Entscheidung nicht rechtens sei und es stattdessen bei der Entpflichtung bleibe. Auch wenn Mittwoch Genugtuung hinsichtlich der endgültigen Entscheidung empfunden haben könnte, so bedeutete die Zwangsentpflichtung doch die soziale und akademische Isolation. Denn mit ihr war zugleich die Aberkennung des akademischen Titels verbunden, sodass er ab seiner Entlassung hinter seinem Titel den Hinweis »a. D.« hinzufügen und damit darauf aufmerksam machen musste, dass ihm die Ausübung seines Berufes nicht mehr gestattet war.65 Nachdem Eugen Mittwoch vom Novemberpogrom auf einer Reise in Frankreich überrascht wurde, kehrte er nicht wieder nach Berlin zurück, sondern ging stattdessen 1939 in das britische Exil. Er konnte nach der Verlegung seines Wohnsitzes nach London Ende 1938 eine Fortzahlung seiner Bezüge als ehemaliger Beamter »in voller Höhe« durch den preußischen Staat erreichen – zumindest bis zu ihrer endgültigen Einstellung im Januar 1942, als ihm die deutsche Staats­ bürgerschaft entzogen und die Universitätskasse endgültig angewiesen worden war, die Auszahlung der Emeritenbezüge einzustellen.66 Eugen Mittwoch kehrte nicht wieder nach Deutschland zurück. Er verstarb am 8. November 1942 im Alter von 65 Jahren im britischen Exil.67

63 Ebd., Bl. 87. 64 Heine, Wiederentdeckte Gemeinsamkeiten, 373. 65 Vgl. Cornelia Wegeler, »… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921– 1962, Wien 1996, 177. 66 Universitätsarchiv Berlin, UK M 225, Personalakte Eugen Mittwoch, Bd. II, Bl. 97 f., 104. 67 Mittwochs Exil in London und seine nachrichtendienstliche Tätigkeit in der Nahost­ abteilung des British Ministry of Information unter Ernst Jäckh (1875–1959) sind ein Desiderat der Forschung.

Iris Nachum

Epilog der »Arisierung« Der Lastenausgleich neu betrachtet

Im Zentrum des tschechischen Kurorts Teplice, etwa eine Autostunde von Prag entfernt, steht an der Adresse Masarykova třída 4 ein dreistöckiges Wohnhaus, in dessen Erdgeschoss sich eine Damenmodenboutique befindet. Nichts deutet darauf hin, dass das gut erhaltene Bürgerhaus kurz vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs von dem im Jahr 1865 geborenen jüdischen Schuhhändler Sigmund (Siegmund) Felix erworben wurde, und dieser dort jahrzehntelang das Geschäft »Zum Schuhkönig« betrieb.1 Auch gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Straße bis 1938/1939 Bahnhofstraße hieß, und in unmittelbarer Nähe die sudetendeutsche Familie Bönsch von 1878 bis 1945 ebenfalls ein Schuhhaus besaß.2 Nur wenig zeugt heute noch davon, dass während der Zwischenkriegszeit die ursprünglich Teplitz-Schönau (Teplice-Šanov) genannte Stadt ein multikultureller Ort im tschechoslowakischen Grenzgebiet, dem sogenannten Sudetenland, war. Neben der deutschen Bevölkerungsmehrheit von 80 Prozent stellten Juden und Tschechen jeweils 10 Prozent der damaligen Stadtbevölkerung.3 Das Jahr 1938 markierte das jähe Ende dieser heterogenen Nachbarschaft. In den Wochen und Tagen vor dem Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland am 1. Oktober 1938 setzte eine Flüchtlingswelle von Juden, Tschechen und demokratisch gesinnten Deutschen aus der Grenzregion ins tschechoslowakische Landesinnere ein.4 Viele der geflüchteten Juden wurden später von den National­ 1 Zentralblatt für die Eintragungen in das Handelsregister (1914), Bd. 2, Wien 1915, 149 f.; Bundesarchiv-Lastenausgleichsarchiv, Bayreuth (nachfolgend BArch-LAA), 12.035.375 a–b, Beiblatt Grundvermögen, 10.  Januar 1970. (14. Februar 2016). Für die freundliche Hilfestellung bei den Recherchen möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BArch-LAA herzlich bedanken. 2 Frühjahrsmode, in: Teplitz-Schönauer Anzeiger, 30. März 1914, 8; BArch-LAA, 12.035. 375 a–b, Beiblatt Grundvermögen, 4. Oktober 1952. 3 Deutschböhmens Städte, in: Deutsche Zeitung Bohemia, 23.  November 1932, 3; Jörg Oster­loh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938–1945, München 2006, 55. 4 Ebd.

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sozialisten gefasst und in den Vernichtungslagern ermordet.5 Sigmund Felix und seine Frau Ernestine (geb. Kann) wichen im September 1938 nach Prag, später in das südböhmische Dorf Roschowitz (Radošovice) aus, wo Ernestine im Jahr 1942 verstarb.6 Am 10. August 1942 wurde ihr Mann ins Ghetto Theresien­stadt und von dort am 15. Oktober 1942 ins Vernichtungslager Treblinka deportiert.7 Als Felix ermordet wurde, hatten seine Nachbarn, der Schuhmacher Josef Bönsch und dessen im Jahr 1915 geborener Sohn Helmut, das Objekt Bahnhofstraße 4 über den Weg der »Arisierung«8 – also im Zuge der gewaltsamen Exklu­ sion der Juden aus dem Wirtschaftsleben – bereits in ihren Besitz gebracht. An der Adresse betrieb nunmehr der Schuhgrossist Policky-Rieker eine Filiale.9 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Sudetendeutschen infolge ihrer umfassenden Mitwirkung an der nationalsozialistischen Besatzungspolitik und im Zuge ethnischer Homogenisierungsprozesse kollektiv aus der wiedererrichteten Tschechoslowakei zwangsausgesiedelt.10 Das von ihnen zurückgelassene Vermögen wurde flächendeckend konfisziert und teilweise an die tschecho­ slowakische Bevölkerung verteilt.11 Helmut Bönschs Ausweisung aus der Tsche 5 Zur NS-Verfolgung der Juden aus Teplitz-Schönau vgl. Ludomír Kocourek, Einige Anmerkungen zur Position der Juden im Gau Sudetenland 1938–1945, in: Ackermann-Gemeinde/Česká křesťanská akademie (Hgg.), Židé v Sudetech. Die Juden im Sudetenland, Prag 2000, 210–216. 6 BArch-LAA, 12.035.375 a–b, Leo Felix, Antrag auf Feststellung von Vertreibungsschäden, London, 10. Januar 1970; Leo Felix, Beiblatt Verfolgungsschäden, 10. Mai 1970. 7 Datenbank der aus den böhmischen Ländern deportierten Juden: (14. Februar 2016) (Zikmund Felix). 8 »Der Begriff ›Ariseur‹ wird von dem Begriff ›Arisierung‹ abgeleitet, der seit Mitte der dreißiger Jahre als rassistisch determinierter Neologismus in der deutschen Behördensprache die Übertragung von sogenanntem ›jüdischen‹ Eigentum in sogenannten ›arischen‹ Besitz bezeichnete.« Vgl. einführend: Jürgen Lillteicher, Raub, Recht und Restitution. Die Rückerstattung jüdischen Eigentums in der frühen Bundesrepublik, Göttingen 2007, 18 (Anmerkung 20). 9 BArch-LAA, 12.035.375 a–b, Zeugenerklärung, 9.  Juni 1955. Die im Sudetenland ge­ legenen Filialen des traditionsreichen tschechisch-jüdischen Schuhunternehmen »F. L. P ­ opper, Chrudim« (seit 1932 Policky-Popper) wurden durch den Württembergischen Schuhfabrikanten Rieker »arisiert«. Siehe Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung, 420. Sigmund ­Felix war seit dem Jahr 1903 Alleinvertreter der Marke »F. L. Popper« in Teplitz-Schönau. Vgl. Inserate, in: Teplitz-Schönauer Anzeiger, 17. Oktober 1903, 27. 10 Eva Hahn/Hans Henning Hahn, Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte, Paderborn 2010, bes. 163 f. In der vorliegenden Arbeit werden jene acht Millionen Deutschen, die am Kriegsende ihre »im Osten« gelegene Heimat verließen, verlassen mussten oder vor der anrückenden Roten Armee flüchteten und bis zum Jahr 1950 in der Bundesrepublik Aufnahme fanden, aus pragmatischen Gründen unter dem Vertriebenenbegriff subsumiert. Zu den unterschiedlichen Vertreibungs-, Aussiedlungs- und Evakuierungsmaßnahmen der osteuropäischen Staaten gegenüber der deutschen Bevölkerung siehe Steffen­ Prauser/Arfon Rees (Hgg.), The Expulsion of the »German« Communities from Eastern Europe at the End of the Second World War, Florenz 2004. 11 Yfaat Weiss, Ethnic Cleansing, Memory and Property – Europe, Israel/Palestine, 1­ 944–1948, in: dies./Raphael Gross (Hgg.), Jüdische Geschichte als Allgemeine Geschichte. Festschrift für Dan Diner zum 60. Geburtstag, Göttingen 2006, 158–188, hier 161–168.

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Das Haus in der Bahnhofstraße 4 (heute Masarykova třída) in Teplice-Šanov (vormals Teplitz-Schönau), Aufnahme von Helmut Bönsch (1954).

choslowakei erfolgte am 7.  Juni 1945.12 Für kurze Zeit firmierte das Schuh­ geschäft in der mittlerweile umbenannten Masarykova třída 4 unter dem Namen »F. L. Popper«.13 Später zog ein tschechischer Händler ein, der dort einen Unterwäsche- und Strickwaren­laden eröffnete.14 In den folgenden Jahrzehnten wurde in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Helmut Bönsch und den Erben von Sigmund Felix ein Rechtsstreit um die 12 BArch-LAA, 12.035.375 a–b, Bescheid, Ausgleichsamt Berlin, 11. Oktober 1963. 13 BArch-LAA, 12.035.375 a–b, Leo Felix an Ausgleichsamt Aachen, betr: Leo Felix als Erbe nach seinem Onkel Sigmund Felix, 2. Juni 1976. 14 Siehe Abb. Eine Kopie des Fotos befindet sich in BArch-LAA, 12.035.375 a–b.

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Frage ausgetragen, wer in den späten 1930er Jahren der rechtmäßige Eigentümer des Hauses in der Bahnhofstraße 4 war. Von dessen Ausgang hing es ab, welche der beiden Streitparteien berechtigt war, Entschädigungsleistungen im Rahmen des Lastenausgleichsgesetzes (LAG)15 für den Verlust der in Teplice gelegenen Immobilie zu beziehen und in welcher Höhe den Parteien Entschädigungsgelder zustanden. Die Rechtsgrundlage für den Konflikt lieferte die am 18. Dezember 1956 erlassene Elfte Verordnung über Ausgleichsleistungen nach dem Lastenausgleichsgesetz (11. LeistungsDV-LA).16 Die in zeitgenössischen Juristenkreisen als das »unbestritten schwierigste Gebiet des Lastenausgleichs«17 geltende und bisher in der Entschädigungsforschung kaum beachtete Rechtsverordnung18 ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Die Verordnung ermöglichte es, dass sowohl Holocaustüberlebende (bzw. ihre Nachkommen) wie auch »Ariseure« unter bestimmten Voraussetzungen Schäden am selben, hinter dem Eisernen Vorhang gelegenen Vermögensobjekt geltend machen konnten: der vom Nationalsozialismus Verfolgte für die »Arisierung« und andererseits der »Ariseur« für den vertreibungsbedingten Vermögensverlust. In diesen speziellen Fällen hatte die zuständige Behörde gemeinsame Feststellungsverfahren durchzuführen.19 Die einzelnen Verfahren zogen sich oft über einen langen Zeitraum hin, vom Ende der 1950er bis in die 1980er Jahre, und beschäftigten häufig noch die Erben der ursprünglichen Antragsteller. Den Kern der juristischen Auseinandersetzung bildeten die gegensätzlichen Erinnerungen an das verlorene Privateigentum – der vom Nationalsozialismus Verfolgten auf der einen Seite und der vertriebenen »Ariseure« auf der anderen. Es waren diese Erinnerungen, die im Rechtsstreit miteinander kollidierten.20

15 Das Gesetz über den Lastenausgleich (LAG) ist abgedruckt in Bundesgesetzblatt I, Nr. 34 (1952), 446–533. 16 Die 11.  LeistungsDV-LA (zugleich 20.  Abgabendurchführungsverordnung zum LAG [20. AbgabenDV-LA] sowie 7. Feststellungsdurchführungsverordnung [7. FeststellungsDV]) ist abgedruckt in Bundesgesetzblatt I, Nr. 52 (1956), 932–935. 17 Norbert Stroinski, Änderung der Durchführungsbestimmungen zur 11. LeistungsDV-LA, in: Informationsdienst zum Lastenausgleich 6 (1965), 85–87, hier 87. 18 Constantin Goschler, Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NSVerfolgte seit 1945, Göttingen 2005, 325. 19 Allgemeine und grundsätzliche Bestimmungen des Lastenausgleichsrechtes. Durch­ führungsbestimmungen zur 11. LeistungsDV-LA, in: Amtliches Mitteilungsblatt des Bundesausgleichsamtes 6 (1960), 114–154, hier 146. 20 Zum epistemologischen Wechselverhältnis zwischen der Wiederherstellung von Privateigentum und der Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg im Kontext der nach 1989 in Mittel- und Osteuropa verhandelten Restitutionsfrage siehe Dan Diner, Gedächtnis und Restitution, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hgg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, 299–305, bes. 302; vgl. auch Weiss, Ethnic Cleansing, Memory and Property, 168–171.

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Zum besseren Verständnis dieser Kollisionen wird zunächst Sinn und Zweck des LAG dargestellt, danach ist der hinter der 11.  LeistungsDV-LA stehende Rechtsgedanke zu erörtern. Darauf aufbauend soll schließlich der zwischen Felix’ Erben und Bönsch ausgefochtene Streit als Fallbeispiel für die praktische Umsetzung der Verordnung herangezogen werden. Damit geraten jene vertriebenen »Ariseure« in das Zentrum der Aufmerksamkeit, die im Zuge des LAG nochmals von den nationalsozialistischen Entziehungsmaßnahmen zu profitieren suchten.21 Diese in der Forschung bisher nicht berücksichtigten Fälle eröffnen somit Einblicke in eine Rechtspraxis, die als symptomatisch für die Nachgeschichte des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik bezeichnet werden kann.

Krieg – Folgen – Gesetze Als der bundesdeutsche Gesetzgeber am 14. August 1952 das LAG verabschiedete, war es eines seiner primären Ziele, die materiellen Schäden und Verluste zu kompensieren, die Millionen deutsche Staats- oder Volkszugehörige infolge des Zweiten Weltkriegs, vor allem im Zusammenhang mit der Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Ostmittel- und Südosteuropa nach 1944/1945, erlitten hatten. Beim Verlassen des sogenannten Vertreibungsgebiets22 mussten die Betroffenen oft ihr gesamtes Hab und Gut zurücklassen. Viele verloren die Grundlage ihrer beruflichen Existenz und sahen sich bei ihrer Ankunft in Deutschland gezwungen, wirtschaftlich neu Fuß zu fassen. Das LAG schuf finanzielle Abhilfe in Form von umfassenden Eingliederungs- und Aufbaudarlehen. Das Herzstück der Vorschrift bildete die Hauptentschädigung für vertreibungs- bzw. kriegs­ bedingte Verluste und Schäden an Grund- und Betriebsvermögen.23 Die Feststellung der Sachschäden wurde durch das am 21. April 1952 erlassene Feststellungs­ gesetz geregelt und vom Bundesausgleichsamt durchgeführt.24 Finanziert wurde

21 Die Möglichkeit, dass Vertriebene für »arisiertes« Vermögen Ausgleichsleistungen beantragten, wurde erwähnt von Ulrich Ringsdorf, Die Bestände des Lastenausgleichsarchivs, in: Paul Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg. Aspekte und Probleme des Lastenausgleichs,­ Heidelberg 2004, 55–61, hier 60; Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung, 570. 22 Als »einheitliches Vertreibungsgebiet« gelten nach § 2 des am 19. Mai 1953 erlassenen Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenen­ gesetz, BVFG) jene Regionen, »die am 1. Januar 1914 zum Deutschen Reich oder zur Öster­ reichisch-Ungarischen Monarchie oder zu einem späteren Zeitpunkt zu Polen, zu Estland, zu Lettland oder zu Litauen gehört haben.« Bundesgesetzblatt I, Nr. 22 (1953), 201–221, hier 203. 23 Lutz Wiegand, Gesamtwirtschaftliche Aspekte des Lastenausgleichs, in: Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg, 63–79. 24 Das Gesetz über die Feststellung von Vertreibungsschäden und Kriegsschäden (Feststellungsgesetz, FG) vom 21. April 1952 ist abgedruckt in Bundesgesetzblatt I, Nr. 17 (1952), 237–246.

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der Lastenausgleich durch besondere Abgaben jener, deren V ­ ermögen die Kriegszeit ­unbeschadet überstanden hatte.25 Das LAG war somit ein bemerkenswerter Solidaritätsakt, um einen materiellen Ausgleich zwischen den durch Krieg und Vertreibung geschädigten Deutschen und der übrigen deutschen Bevölkerung zu schaffen.26 Alles in allem entwickelte sich das LAG, neben dem Bundesversorgungsgesetz für Kriegsopfer und dem Bundesentschädigungsgesetz für vom Nationalsozialismus Verfolgte – dem sogenannten Wiedergutmachungsgesetz – zu einer Hauptsäule der westdeutschen Kriegsfolgengesetzgebung.27 Als Nachkriegsgesetz, das auf die Schöpfung einer bundesrepublikanischen Rechts- und Gesellschaftsordnung zielte, stand das LAG überdies im inhaltlichen wie zeitlichen Zusammenhang zum Luxemburger Abkommen. Nur einen Monat nach dem Erlass des Gesetzes, am 10. September 1952, unterzeichneten die Repräsentanten des Staates Israel, der Conference on Jewish Material Claims Against Germany, die die Interessen der jüdischen NS-Verfolgten vertrat,28 sowie der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs das sogenannte Wiedergutmachungsabkommen und seine beiden Zusatz­protokolle.29 Ebenso wie das LAG eine innerdeutsche soziale Umverteilung zur Integration der Vertriebenen befördern sollte, waren auch die Leistungen, die die Bundesrepublik nun in der Folge des Abkommens Israel zukommen ließ, für die Eingliederung von Holocaustüberlebenden in den jüdischen Staat gedacht.30 Mit der Verabschiedung des LAG hatte der Gesetzgeber keineswegs beabsichtigt, Deutsche für jenes Vermögen zu entschädigen, das sie unter bewusster Ausnutzung der Notlage der NS-Verfolgten an sich gebracht und durch ihre eigene 25 Wolfgang Rüfner, Probleme des Lastenausgleichs aus juristischer Sicht, in: Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg, 19–32, hier 23. 26 Michael  L. Hughes, Shouldering the Burdens of Defeat. West Germany and the Re­ construction of Social Justice, London/Chapel Hill, N. C., 1999, 35–42; ders., Mastering War’s Material Consequences in West Germany. The Conceptual Background to the Lastenausgleich in International Comparison, in: Erker (Hg.), Rechnung für Hitlers Krieg, 249–264; José­ Brunner, Property, Solidarity and (German) History, in: Theoretical Inquiries in Law Forum 10 (2009), 9–16. 27 Wiegand, Gesamtwirtschaftliche Aspekte, 63. 28 Bei der im Oktober 1951 in New York gegründeten Conference on Jewish Material Claims Against Germany handelt es sich um einen Zusammenschluss mehrerer jüdischer Organisationen. Die Claims Conference vertritt in erster Linie die materiellen Entschädigungsansprüche der Holocaustüberlebenden außerhalb Israels. Zur Geschichte der Claims Conference Marilyn Henry, Confronting the Perpetrators. A History of the Claims Conference, London/ Portland, Oreg., 2007. 29 In seinem jüngsten Buch beschäftigt sich Dan Diner mit den schwierigen deutsch-jüdischen bzw. deutsch-israelischen Wiedergutmachungsverhandlungen. Vgl. Dan Diner, Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage, München 2015. 30 Iris Nachum, Reconstructing Life after the Holocaust. The »Lastenausgleichsgesetz« and the Jewish Struggle for Compensation, in: Leo Baeck Institute Year Book 58 (2013), 53–67, hier 58.

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Vertreibung verloren hatten.31 Der mit »Nichtberücksichtigung von Schäden und Verlusten« betitelte Paragraf 359  LAG legte dezidiert fest, dass für »Vermögensgegenstände, die in Ausnutzung von Maßnahmen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erworben worden sind«, kein Anspruch auf Ausgleichsleistungen bestand.32 Gerade die im späteren Vertreibungsgebiet lebende deutsche Bevölkerung, die sogenannten Volksdeutschen, hatte allerdings zu den primären Profiteuren der dortigen Raubpolitik gezählt.33 Festzuhalten ist, dass, während jüdische Unternehmer im »Altreich« in den ersten drei Jahren der nationalsozialistischen Diktatur ihren Besitz noch zu einigermaßen fairen Konditionen verkaufen konnten,34 Juden in den vom Deutschen Reich nach 1938 annektierten und besetzten Gebieten hierzu in der Regel nicht mehr die Möglichkeit hatten.35 Im Sudetenland erfolgte beispielsweise nach der durch die zuständigen NS-Stellen durchgeführten Erfassung des von den Juden zurückgelassenen Eigentums dessen unverzügliche Entziehung und spätere günstige Veräußerung an Dritte.36 So appellierte die Stadtverwaltung Teplitz-Schönau bereits am 13. Oktober 1938 an die Einwohner, »alle verlassenen Häuser, die im volksfremden Besitz [sind], sowie alle Betriebe bezw. Geschäfte« umgehend bekanntzugeben.37 Fast 200 Läden sowie 511 Villen und Häuser in der Stadt wurden als leer stehend gemeldet.38 Jene Volksdeutschen, die nicht über die notwendigen finanziellen Mittel zum Erwerb des herrenlosen Eigentums verfügten, konnten »Arisierungskredite« beantragen.39 Beim Raubzug herrschte eine regelrechte »Selbstbedienungs­ 31 Georg Blessin/Hans Wilden, Bundesrückerstattungsgesetz und Elfte Verordnung über Ausgleichsleistungen nach dem Lastenausgleichsgesetz. Kommentar, München/Berlin 1958, 315. 32 Bundesgesetzblatt I, Nr. 34 (1952), 524. 33 Doris L. Bergen, Tenuousness and Tenacity. The »Volksdeutschen« of Eastern Europe, World War II, and the Holocaust, in: Krista O’Donnell/Renate Bridenthal/Nancy Reagin (Hgg.), The »Heimat« Abroad. The Boundaries of Germanness, Ann Arbor, Mich., 2005, 267–286, hier 271 f. 34 Frank Bajohr, »Arisierung« als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategien und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und »arischer« Erwerber, in: Irmtrud Wojak/­Peter Hayes (Hgg.), »Arisierung« im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis, Frankfurt a. M./New York 2000, 15–30, hier 17. 35 Zur »Arisierung« im späteren Vertreibungsgebiet Martin Dean, Robbing the Jews. The Confiscation of Jewish Property in the Holocaust, 1933–1945, Cambridge 2008; Dieter Pohl, Der Raub an den Juden im besetzten Osteuropa 1939–1942, in: Constantin Goschler/Philipp Ther (Hgg.), Raub und Restitution. »Arisierung« und Rückerstattung des jüdischen Eigentums in Europa, Frankfurt a. M. 2003, 58–72. 36 Jörg Osterloh, Judenverfolgung und »Arisierung« im Reichsgau Sudetenland, in: Monika Glettler/Ľubomir Lipták/Alena Míšková (Hgg.), Geteilt, besetzt, beherrscht. Die Tschechos­ lowakei 1938–1945: Reichsgau Sudetenland, Protektorat Böhmen und Mähren, Slowakei, Essen 2004, 211–228, hier 221. 37 Zit. nach Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung, 444. 38 Osterloh, Judenverfolgung, 221. 39 Ebd., 223.

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mentalität«.40 Zwar war nicht jeder volksdeutsche Erwerber ein Antisemit, doch profitierten alle von der Verfolgung der Juden, die ihnen den Weg zum beruflichen und wirtschaftlichen Vorwärtskommen ebnete.41 Das Ziel des Paragrafen 359 LAG lag also darin, jene Deutschen, die unter Ausnutzung von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen an jüdisches Vermögen gelangt waren, von Ausgleichsleistungen für eben dieses, später vertreibungsbedingt verlorene Vermögen auszuschließen. Zugleich berücksichtigte die Vorschrift die aus dem Vertreibungsgebiet stammenden deutschen Opfer der »Arisierung«. Obwohl es sich bei ihnen in der Regel nicht um Vertreibungsgeschädigte, sondern um jüdische NS-Verfolgte handelte, die zum Zeitpunkt der Vertreibung der deutschen Bevölkerung oft nicht mehr an ihrem mittel- oder osteuropäischen Heimat­ort weilten, am Kriegsende bereits lange nicht mehr über das von den­ »Ariseuren« entzogene Eigentum verfügten und sich nach dem Krieg auch nicht in Deutschland aufhielten, konnte nach dieser Vorschrift die »Vertriebeneneigenschaft« zu ihren Gunsten angenommen werden.42 Das bedeutete, dass ihr verfolgungsbedingter Vermögensverlust als sogenannter fiktiver Vertreibungsschaden galt, für den LAG-Entschädigungsgelder beantragt werden konnten. Im Wiedergutmachungsprotokoll Nummer 1, das im Zuge des Luxemburger Abkommens unterzeichnet wurde, bekräftigte die Bundesrepublik gegenüber der Claims Conference ihr Vorhaben, dem Paragrafen 359 LAG Folge zu leisten. Holocaustüberlebenden aus Osteuropa, die zum Schadenszeitpunkt deutsche Staats- oder Volkszugehörige gewesen waren und nach dem Krieg im Westen lebten, wurde die Entschädigung ihrer verfolgungsbedingten Vermögens­schäden nach dem LAG in Aussicht gestellt.43 Sie selbst firmierten nunmehr unter der Bezeichnung »fiktive Vertriebene«.44 Mit der im Jahr 1956 erlassenen 11. Leis 40 Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung, 465 und 565. 41 Ebd., 569. 42 In dem am 12. Juli 1955 erlassenen vierten LAG-Änderungsgesetz wurde der § 359 LAG dahingehend geändert, als nunmehr festgelegt wurde, dass »zugunsten von Personen, die Verfolgungsmaßnahmen im Vertreibungsgebiet ausgesetzt waren, die Vertriebeneneigenschaft unterstellt« werden kann. Bundesgesetzblatt I, Nr. 22 (1955), 403–417, hier 412. 43 Gesetz betreffend das Abkommen vom 10.  September 1952 zwischen der Bundes­ republik Deutschland und dem Staate Israel vom 20. März 1953, in: Bundesgesetzblatt II, Nr. 5 (1953), 35–97, hier 91 f. (Protokoll Nr. I, Teil II/7). Nach § 6 BVFG ist deutscher Volkszugehöriger, »wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird«. Bundesgesetzblatt I, Nr. 22 (1953), 204. 44 Zur Entschädigung der Fiktivvertriebenen in dem am 29. Juni 1956 (mit Rückwirkung auf den 1. Oktober 1953) erlassenen Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz, BEG) vgl. José Brunner/Iris Nachum, »Vor dem Gesetz steht ein Türhüter«. Wie und warum israelische Antragsteller ihre Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis beweisen mußten, in: Norbert Frei/José Brunner/ Constantin Goschler (Hgg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009, 387–424.

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tungsDV-LA kam dann die Bundesrepublik ihrer LAG-Entschädigungsverpflichtung gegenüber der Claims Conference bezüglich der Sachschäden von Fiktivvertriebenen nach. Als das Protokoll im September 1952 unterschrieben wurde, konnten also die »echten« Vertriebenen bereits Feststellungsanträge stellen. Mehr als vier Jahre verstrichen, bevor auch den jüdischen NS-Verfolgten der Zutritt zum LAG de facto ermöglicht wurde.45 Kaum eine Dekade nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs standen sich somit im Rahmen des LAG nicht selten »Ariseure« und »Arisierte« im Rechtsstreit um vormaliges Eigentum in Mittel- und Osteuropa gegenüber.

Ansprüche im Konflikt: Die Elfte Verordnung über Ausgleichsleistungen nach dem Lastenausgleichsgesetz Eine wesentliche Aufgabe der 11. LeistungsDV-LA war es, festzulegen, wie die in den Ausgleichsämtern tätigen Sachbearbeiter die eingereichten Anträge auf Schadensfeststellung am selben Objekt in der Praxis abzuwickeln hatten, mithin ebenjenen Objekten, an denen die Ansprüche der NS-Verfolgten und der »Ariseure« miteinander kollidierten. Damit handelte es sich bei der 11.  ­LeistungsDV-LA um eine eigentümliche Rechtskonstruktion, die das juristische Meisterstück unternahm, zwei unterschiedlichen, um nicht zu sagen: antagonistischen Personengruppen gerecht zu werden. Im Prinzip waren jene vertriebenen »Ariseure«, die aus der Notlage der Juden Profit geschlagen hatten, von gewissen Ausgleichsleistungen ausgeschlossen. Doch wurde ihnen – wie nachstehend zu zeigen sein wird – durch die Verordnung unter bestimmten Voraussetzungen Zugang zum LAG gewährt. Ebenso war das Gesetz grundsätzlich nicht für Personen geschaffen worden, die von den gegen Deutsche gerichteten Vertreibungsmaßnahmen (oder anderen, in Zusammenhang mit dem Krieg stehenden Einwirkungen) faktisch selbst nicht betroffen waren. Dessen ungeachtet öffnete die Verordnung den fiktiven Vertriebenen die Hintertür zum LAG. Hier kam das mit der Claims Conference verhandelte Wiedergutmachungsprotokoll Nummer 1 zum Tragen. Dabei vertrat das Bundesausgleichsamt beharrlich die Ansicht, dass – Protokoll hin oder her – die 11. LeistungsDV-LA gar nicht zur Wiedergutmachungsmaterie gehörte. Im Rahmen der Vorschrift bzw. des LAG würden »nicht die Verfolgungsschäden festgestellt« oder »der durch die Verfolgung entstandene Schaden wiedergutgemacht, sondern nur die […] lastenausgleichsrechtlich erheblichen Schäden festgestellt und nach LAG entschädigt«, ließ das Amt verlautbaren.46 Anders gesagt: Das LAG war ein besonderer Akt der Solidarität innerhalb der­ 45 Zur Entschädigung der Fiktivvertriebenen im LAG vgl. Nachum, Reconstructing Life­ after the Holocaust. 46 Allgemeine und grundsätzliche Bestimmungen, 118.

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deutschen Nachkriegsgesellschaft. Was in der Rechtspraxis primär zählte, waren die Sachschäden und Schicksale der vertriebenen Volksdeutschen, nicht jene der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Der Wortlaut des Paragrafen  359  LAG ließ daran jedoch keine Zweifel aufkommen, war hier doch von »der Ausnutzung von Maßnahmen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« die Rede, die den Erwerber als Profiteur des NS-Unrechtsregimes tadelte und ihm die »Arisierung« zum moralischen Vorwurf machte. Im Vordergrund der 11.  LeistungsDV-LA standen indes nicht­ ethische, sondern ­materiell-rechtliche und praktische Aspekte.47 Die Verordnung bestimmte, dass der Tatbestand der aktiven Vorteilsziehung aus der Zwangslage der Verfolgten erst dann vorlag, wenn die vormalige Eigentumsübertragung »auf einem gegen die guten Sitten verstoßenden oder durch Drohung oder durch Zwang veranlassten oder mit einer widerrechtlichen Besitzentziehung verbundenen Rechtsgeschäft oder auf einer sonstigen unerlaubten Handlung« beruhte.48 Diese Legaldefinition war eine wortwörtliche Übernahme aus dem im Jahr 1949 in der britischen Besatzungszone verkündeten Rückerstattungsgesetz, auf dem wiederum das am 19. Juli 1957 erlassene Bundesrückerstattungsgesetz (BRüG) fußte.49 Der Gesetzgeber koppelte also die sich mit der »Arisierung« in Mittelund Osteuropa befassende 11. LeistungsDV-LA mit jenem Gesetz, das die Rückgabe »arisierten« Eigentums an seine jüdischen Vorbesitzer im Geltungsbereich der Bunderepublik regelte.50 Das für die Rückerstattungsgesetzgebung eigentlich Entscheidende war dabei, dass sie nicht jede während des »Dritten Reichs« erfolgte Eigentumsübertragung zwischen jüdischen Verfolgten und nichtjüdischen Erwerbern zwingend als Ausnutzung der Notlage ersterer und somit als sittenwidrig ansah.51 Die Gesetz­gebung hatte hier jene, vor allem in den drei Anfangsjahren der nationalsozialistischen Diktatur erfolgten »Arisierungs«-Fälle vor Augen, in denen Juden angemessene und frei verfügbare Preise für ihr Vermögen erhielten.52 Ebenjener Umstand, dass sich die 11.  LeistungsDV-LA an der Rückerstattungsgesetzgebung orientierte, ermöglichte es vielen vertriebenen »Ariseuren«, Leistungen nach dem LAG zu beziehen. Sofern der Erwerber gegenüber dem

47 Blessin/Wilden, Bundesrückerstattungsgesetz, 316. 48 Bundesgesetzblatt I, Nr. 52 (1956), 932. 49 Vgl. Lillteicher, Raub, Recht, 87 f. 50 Am 12. Juli 1955 wurde dem Titel des § 359 LAG das Wort »Rückerstattungsfälle« hinzugefügt. Bundesgesetzblatt I, Nr. 22 (1955), 413. 51 Vgl. Jürgen Lillteicher, Rechtsstaatlichkeit, »Arisierung« und fiskalische Ausplünderung vor Gericht, in: ders./Constantin Goschler (Hgg.), »Arisierung« und Restitution. Die Rück­ erstattung jüdischen Eigentums in Deutschland und Österreich nach 1945 und 1989, Göttingen 2002, 127–159, hier 157. 52 Vgl. Bajohr, »Arisierung« als gesellschaftlicher Prozeß, 17.

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LAG-Sachbearbeiter glaubhaft machen konnte, dass die in der Zeit des National­

sozialismus vollzogene Transaktion nicht sittenwidrig war, er also dem verfolgten jüdischen Eigentümer einen fairen und zur freien Disposition stehenden Kaufpreis gezahlt hatte, galt er nicht als Nutznießer der NS-Gewaltmaßnahmen und war somit nach dem LAG leistungsberechtigt.53 Im späteren Vertreibungsgebiet, wo es kaum mehr zum direkten Kontakt zwischen den Erwerbern der jüdischen Geschäfte und den jüdischen Inhabern gekommen war, stellten diese »Arisierungs«-Fälle allerdings die Ausnahme dar.54 Konnte der Erwerber dennoch ein anständiges Geschäfts­gebaren glaubhaft machen, war er unter Umständen berechtigt, als alleiniger unmittelbar Geschädigter volle Kompensationsleistungen für den Vertreibungsschaden zu beziehen. Der um Entschädigung ersuchende jüdische Voreigentümer ging in solchen Fällen leer aus.55 Die 11. LeistungsDVLA kam dem »Ariseur« in vielerlei anderer Hinsicht entgegen. Zwar wurde er für den Verbleib des von ihm entrichteten Kaufpreises zur Verantwortung gezogen. War – aus welchem Grund auch immer – der von ihm tatsächlich gezahlte Preis für das Vermögensobjekt nicht in die Hände des verfolgten Eigentümers gelangt, durfte für ihn, den Erwerber, der Verlust ebendieses Grund- oder Betriebsvermögens nicht festgestellt werden.56 In diesem einen Punkt wurde er also für die Verfolgungsmaßnahmen des NS-Staates in die persönliche Mithaftung genommen.57 Doch selbst wenn der als angemessen geltende Kaufpreis dem Verfolgten nicht zur freien Verfügung gestanden hatte, konnte der Erwerber immer noch den Preis in Form eines privatrechtlichen geldwerten Anspruchs gemäß dem LAG einfordern. Auch von ihm getätigte Investitionen am Objekt konnte er in diesem Fall geltend machen. Sogar der Erwerb herrenlosen jüdischen Eigentums über eine staatliche bzw. kommunale NS-Stelle wurde nicht von vornherein als Verstoß gegen die guten Sitten eingestuft.58 Auch im Fall von Helmut Bönsch waren diese Regelungen zum Tragen gekommen. Im Grunde glich die 11. LeistungsDV-LA (sowie das BRüG) somit der Argumentationslinie der »Ariseure«. Ihr privatwirtschaftliches Gewinnstreben – eine Prämisse, die vom NS-Regime weitgehend unangetastet blieb – ließ die Verordnung in weiten Teilen gelten.59 Der NS-Staat hatte die Juden schonungslos und brutal aus dem Wirtschaftsleben gedrängt und die bürgerliche Eigentumsord-

53 Vgl. Lillteicher, Rechtsstaatlichkeit, 157. 54 Vgl. Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung, 426. 55 Hans Schmidtchen, Schadensfeststellung und Zuerkennung von Hauptentschädigung nach der 7. FeststellungsDV (11. LeistungsDV-LA). Fortsetzung, in: Informationsdienst zum Lastenausgleich 9 (1958), 193–203, hier 195; Bundesgesetzblatt I, Nr. 52 (1956), 934. 56 Allgemeine und grundsätzliche Bestimmungen, 134. 57 Vgl. Lillteicher, Raub, Recht, 143. 58 Allgemeine und grundsätzliche Bestimmungen, 127–139. 59 Vgl. Lillteicher, Rechtsstaatlichkeit, 156.

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nung für sie in Gänze aufgehoben. Gleichzeitig schützte er diese Ordnung für die deutschen »Volksgenossen«.60 Zahlreiche Privatpersonen hatten die sich ihnen durch die nationalsozialistische Politik bietende Gelegenheit genutzt, um Eigentum direkt oder indirekt aus jüdischer Hand zu lukrativen Bedingungen zu erwerben. Vom Standpunkt der bürgerlich-liberalen Wirtschaftsethik gesehen hatten sie damit nach herkömmlichen kaufmännischen Grundsätzen gehandelt.61 Wer nur die günstigen Marktumstände, aber nicht die unmittel­baren NS-Gewaltmaßnahmen zu seinem ökonomischen Vorteil genutzt hatte, galt daher vor dem bundesdeutschen Gesetz als unbescholten.62 Folglich war in der 11. LeistungsDV-LA (sowie im BRüG) weder von »Ariseuren« noch von »Arisierung«, sondern wertneutral von Erwerbern und Erwerb die Rede.63 Mit anderen Worten: Nicht alle im Sinne der »Arisierung« durchgeführten Eigentumstransaktionen wurden von der 11.  LeistungsDV-LA als Ausnutzung von NS-Maßnahmen bewertet. Sie missbilligte lediglich die Extremformen des nationalsozialistischen Raubzugs, wie sie beispielsweise bei unentgeltlichem oder beträchtlich unter Wert erfolgtem Erwerb vorkamen.64 Konnte der Erwerber glaubhaft machen, dass er im Zuge der »Arisierung« nicht eklatant gegen die kaufmän­ nischen Prinzipien verstoßen hatte, war er deshalb berechtigt, Ausgleichsleistungen zu beziehen. So konnte er ein weiteres Mal aus der in der Vergangenheit im Sinne der »Arisierung« durchgeführten Transaktion einen wirtschaftlichen Nutzen ziehen. In den Fragen, ob und inwiefern ein Anspruch auf Ausgleichsleistungen vorlag, trat für die LAG-Sachbearbeiter oftmals eine objektive Schwierigkeit hinzu, befanden sich doch viele Grundbücher, die die vergangenen Eigentumsverhältnisse in den von Deutschland besetzten und eroberten Gebieten offenlegen konnten, in den Ostblockstaaten und damit unerreichbar hinter dem Eisernen Vorhang. Die dortigen Grundbuchämter erteilten in der Regel keine Auskunft an westliche Ausländer. Vor allem bei der Verifizierung der von den Erwerbern und den Verfolgten unabhängig voneinander gemachten Angaben zur auf den LAGAntragsformularen abgedruckten Schlüsselfrage  – »Auf welchem Wege (Kauf, Erbschaft, Schenkung) ist das Grundstück/der Betrieb erworben worden, von wem und ggf. zu welchem Kaufpreis?«  – waren deshalb die Sachbearbeiter in einem sehr hohen Maße auf die Aussagen der durch sie befragten Zeugen ange­ wiesen. Bei den Überprüfungen standen den Referenten zudem 34 nach den Herkunftsgebieten der Vertriebenen gegliederte »Heimatauskunftstellen« und 60 Alexander von Brünneck, Die Eigentumsordnung im Nationalsozialismus, in: Kritische Justiz 12 (1979), 151–172. 61 Lillteicher, Rechtsstaatlichkeit, 156 f. 62 Vgl. ebd., 157. 63 Allgemeine und grundsätzliche Bestimmungen, 120. 64 Vgl. Lillteicher, Rechtsstaatlichkeit, 157.

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ihre ortskundigen Vertrauensleute zur Seite.65 Ein wichtiger Wissensträger der Heimat­auskunftstelle für den Regierungsbezirk Aussig war der ehemalige hochrangige sudetendeutsche Nationalsozialist Paul Illing, der sich in seiner Funktion als Landrat von Leitmeritz (Litoměřice)  für die »Arisierung« des Wohnraums stark gemacht hatte.66 Der nunmehrige Vertriebenenfunktionär wurde bei in Schadensfeststellungen auftauchenden Fragen zur Judenverfolgung im Sudetenland konsultiert, weil er »ja seinerseits an maßgebender Stelle im öffentlichen Dienst tätig war«.67 Die Heimatauskunftstellen spielten auch bei der Antragsberechtigung der­ jüdischen Verfolgten eine wichtige Rolle. Nach der Gesetzgebung galt als Vertriebener, »wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger« das Vertreibungsgebiet »im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges« verlassen musste.68 Dadurch war eine historische Konstellation wirksam geworden, in deren Folge die »echten« Vertriebenen bei ihrer Ankunft in Westdeutschland im Allgemeinen als deutsche Staatsangehörige angesehen wurden.69 Die in den annektierten und besetzten Gebieten Mittel- und Osteuropas durch­geführ­ten NS-Sammeleinbürgerungen der deutschen Volkszugehörigen wurden in der Bundesrepublik schlichtweg nicht annulliert.70 Juden waren in der Regel jedoch nicht von der Zwangseinbürgerung des NS-Staates betroffen. 65 Vgl. Die Heimatauskunftstellen, in: Das Ostpreußenblatt, 5. November 1952, 2.  66 Volker Zimmermann, Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung der Bevölkerung im Reichsgau Sudetenland (1938–1945), Essen 1991, 391. Der aus einer Dorfgemeinde im Böhmerwald stammende Paul Illing (1904–1984) trat im Jahr 1923 in Wien der NSDAP bei, war Mitglied der SA, der Sudetendeutschen Partei und wurde später zum SSObersturmbannführer befördert. Illing promovierte im Jahr 1940 an der Universität Prag zum Dr.  jur. und amtierte von 1940 bis 1945 als Landrat von Leitmeritz, später auch des Kreises Dauba (Dubá). Von 1952 bis 1954 wirkte er als Hauptgeschäftsführer und zwischen 1954 und 1969 als Bundesgeschäftsführer der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Zudem war er Beiratsmitglied des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. Im Jahr 1976 wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen. Zu Illing vgl. K. Erik Franzen, Der vierte Stamm Bayerns. Die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen 1954–1974, München 2010, 504; Tobias Weger, »Volkstumskampf« ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen 1945–1955, Frankfurt a. M. 2008, 602. 67 BArch-LAA, Zentralarchiv für den Lastenausgleich (nachfolgend ZLA), Heimatauskunftsstelle Regierungsbezirk Aussig (nachfolgend HASt. Nr. 1), 7–01/3045/147, Alfred Prchala (HASt. Nr. 1) an Karl Hoffmann (Sudetendeutsche Landsmannschaft), betr.: 11. LeistungsDV-LA, 20. Januar 1967. 68 § 1 BVFG. Bundesgesetzblatt I, Nr. 22 (1953), 203. 69 Zur Frage, wer im Nachkriegsdeutschland als »echter« Flüchtling anerkannt wurde, und zur damaligen politischen Instrumentalisierung des Flüchtlingsbegriffs vgl. Volker Ackermann, Der »echte« Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945–1961, Osnabrück 1995. 70 Eugen Ehmann/Heinz Stark, Deutsches Staatsangehörigkeitsrecht. Vorschriftensammlung mit erläuternder Einführung, Heidelberg 2010, 31 f.

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Das Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 veranlasste gegebenenfalls sogar ihre Ausbürgerung. Um im Sinne des LAG als fiktive Vertriebene und somit als antragsberechtigt zu gelten, musste ihnen deshalb von den Heimat­auskunft­ stellen bestätigt werden, dass sie bis zu Beginn des Verfolgungszeitraums deutsche Volkszugehörige waren, sofern sie nicht vor 1938/1939 über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt hatten.71 In der Praxis galt die deutsche Zugehörigkeit als erwiesen, wenn belegt werden konnte, dass sich die jüdischen LAG-Antragsteller in den in der Zwischenkriegszeit im späteren Vertreibungsgebiet abgehaltenen Volkszählungen zur deutschen Nationalität bekannt hatten. Wurde die deutsche Volkszugehörigkeit durch die Heimatauskunftstellen nicht bestätigt, konnten seitens der Sachbearbeiter keine Feststellungsbescheide ausgestellt werden. Viele Holocaustüberlebende scheiterten an dieser bizarren Regelung und konnten ihre materiellen Schäden – im Gegensatz zu den »echten« Vertriebenen – anhand des LAG nicht geltend machen.72 Juden aus dem Sudetenland und aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Grenze hatten unter den jüdischen Antragsstellern die beste Aussicht, als deutsche Volksangehörige anerkannt zu werden.73 Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Ansprüche auf Ausgleichsleistungen infolge von »Arisierung«, Holocaust, Zweitem Weltkrieg und Vertreibung der Deutschen bildet damit den historischen Hintergrund der LAG-Akte Bönsch-­ Felix. Ebenso wie in dieser Akte die mit dem verlorenen Privateigentum verknüpften Erinnerungen der Vertriebenen und der jüdischen Opferseite aufeinanderprallten, steht die Akte repräsentativ für jene Fälle, in denen die Erwerber den »Arisierungs«-Charakter des Vermögenserwerbs zu verschleiern versuchten, um ihrerseits Ausgleichsleistungen in voller Höhe zu beziehen.

71 Vgl. Allgemeine und grundsätzliche Bestimmungen, 146. Dass die deutsche Volkszu­ gehörigkeit der Juden ausgerechnet von den Heimatauskunftstellen überprüft wurde, rief auf Seiten der jüdischen Interessenvertreter heftige Kritik hervor. Der im Mai 1962 in Frankfurt am Main ins Leben gerufene »Verband der jüdischen Heimatvertriebenen und Flüchtlinge« erwog deshalb die letztlich nicht zustande gekommene Gründung von »jüdischen Heimatauskunftstellen«. Jannis Panagiotidis, »The Oberkreisdirektor Decides Who Is a German«. Jewish Immigration, German Bureaucracy, and the Negotiation of National Belonging, 1953–1990, in: Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), 503–533. Die deutsche Volkszugehörigkeit der israelischen LAG-Antragsteller wurde seit dem Jahr 1959 von der in Israel tätigen »Kommission zur Feststellung der Vertriebenen-Eigenschaft in Zweifelsfällen« überprüft. Vgl. Brunner/Nachum, Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. 72 Nachum, Reconstructing Life after the Holocaust. 73 Israel State Archives, 2698/4, LAG, 80.2.2.198, Ernst Katzenstein an Saul Kagan (Claims Conference), 18. Dezember 1968.

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»Es stehen also Zeugenaussagen gegen Zeugenaussagen«74 Am 4. Oktober 1952, zwei Monate nach Erlass des LAG, reichte Helmut Bönsch einen Feststellungsantrag zur Prüfung von Vertreibungsschäden beim Ausgleichsamt Berlin ein. Unter anderem meldete er den Verlust des Objekts Bahnhofstraße  4, Teplitz-Schönau. Die diesbezüglich im Antragsformular gestellte Frage »Auf welchem Wege (Kauf, Erbschaft, Schenkung) ist das Grundstück erworben worden, von wem und ggf. zu welchem Kaufpreis?« beantwortete Bönsch mit: »Kauf v.  Finanzamt Teplitz-Schönau; RM 95.000.-, Einheitswert im Jahre 1939.«75 Einen Grundbuchauszug oder Kaufvertrag legte er nicht bei. Da Bönsch seinen eigenen Angaben zufolge die besagte Immobilie in der Zeit des Nationalsozialismus erworben hatte, war der zuständige Sachbearbeiter im Ausgleichsamt gehalten, Ermittlungen zu den Umständen des Vermögenserwerbs einzuleiten. Dabei stellte sich heraus, dass »der Vorbesitzer dieses Grundstücks, ein Herr Felix, Jude war«. Bönsch musste nun stichhaltig nachweisen, »daß das Vermögen nicht in Ausnutzung nationalsozialistischer Gewaltherrschaft erworben wurde«.76 Am 26. April 1960 gab er im Ausgleichsamt zu Protokoll, dass seiner Erinnerung nach Sigmund Felix »ungefähr 1936/37« verstorben war. Und weiter: »Es waren keine Erben vorhanden; da ein Konkursverfahren lief, übernahm das [tschechoslowakische, I. N.] Finanzamt das Grundstück etwa Anfang 1937«.77 Laut Bönsch bestand also zwischen seinem Erwerb und der NSHerrschaft kein ursächlicher Zusammenhang. Um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen, verwies Bönsch das Ausgleichsamt an den Architekten Reinhold Forlani.78 Dieser gab an, die Immobilie im Jahr 1941 als Bausachverständiger besichtigt zu haben.79 Den Vermögenserwerb wollte der Zeuge Forlani folgendermaßen in Erinnerung behalten haben: Das Haus habe tatsächlich ursprünglich einem jüdischen Eigentümer namens Felix gehört, der im Erdgeschoss das Geschäft »Zum Schuhkönig« betrieben habe. Felix sei allerdings bereits im Jahr 1936 verstorben. Da er, »wie es hieß«, große Steuerschulden hinterlassen habe, übernahm das tschechoslowakische Finanzamt Teplitz-Schönau im Jahr 1937 das Objekt »in eigene Verwaltung«.80 Im Jahr 1939 habe die nun deutsche Stadtverwaltung Häuserabrisse geplant. In einem 74 Wenn nicht anders angegeben, entstammen die folgenden Zitate und Informationen der Akte BArch-LAA, 12.035.375 a–b. 75 Abschrift, öffentliche Sitzung, Verwaltungsgericht Berlin. 22.  Oktober 1979; Beiblatt Grundvermögen, 4. Oktober 1952. 76 Ausgleichsamt Berlin an Reinhold Forlani, 29. April 1960. 77 Abschrift, öffentliche Sitzung, Verwaltungsgericht Berlin, 7.  Oktober 1980 (Urteils­ verkündung). 78 Ausgleichsamt Berlin an Reinhold Forlani, 29. April 1960. 79 Zeugenerklärung Reinhold Forlani, 26. Januar 1957. 80 Reinhold Forlani an Ausgleichsamt Berlin, 30. Mai 1960.

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der vom Abriss betroffenen Häuser habe der Vater von Helmut Bönsch »schon jahrzehntelang sein Schuhgeschäft und Warenlager« geführt. Als Ersatz für den Abriss habe ihm die Stadt die Immobilie Bahnhofstraße 4 zum Kauf angeboten. Vater und Sohn hätten dem Handel zugestimmt und das Objekt im Jahr 1939 gemeinsam vom Finanzamt erworben. Ihr ursprüngliches Haus sei indes letzten Endes »erst nach 1945 durch die Tschechen« abgetragen worden.81 Die vom Sachbearbeiter mit einer »gutachtlichen Stellungnahme hinsichtlich § 359 LAG«82 beauftragte Heimatauskunftstelle für den Regierungsbezirk Aussig machte auf die widersprüchlichen Angaben – während Bönsch von einem Konkursverfahren im Jahr 1937 sprach, sei das Objekt laut Forlani vom Finanzamt verwaltet worden – aufmerksam. Sie riet deshalb dazu, Bönsch nochmals zum Kaufhergang zu befragen.83 Im Laufe der eigenen durchgeführten Ermittlungen machte die Heimatauskunftstelle eine ehemalige Angestellte von ­Sigmund ­Felix ausfindig. Diese gab zu Protokoll, der kinderlose Felix »soll in Theresienstadt vergast worden sein«84 – wobei im Ghetto Theresienstadt keine Vergasungen durchgeführt wurden –,85 und »seine Frau soll sich in Prag vergiftet haben«.86 Die Heimatauskunftstelle bestätigte die deutsche Volkszugehörigkeit von Sigmund Felix.87 Woher sie diese Information nahm, ist aus der Akte nicht ersichtlich. Bei einem neuerlichen Termin beim Ausgleichsamt am 29.  November 1960 betonte Bönsch »ausdrücklich«, dass er aus persönlicher Kenntnis wisse, »daß Herr Felix im Jahre 1937 (spätestens) in Teplitz-Schönau verstarb, auch seine Ehefrau verstarb noch vor Einmarsch der Deutschen. […] Herr Felix liegt in Teplitz-­ Schönau begraben. […] Der Mitteilung der Heimatauskunftstelle, daß Felix und seine Ehefrau erst später (1940/41) verstarben«, müsse er widersprechen.88 Das Ausgleichsamt gelangte zu folgenden Schluss: »Unseres Erachtens hat der Antragsteller bzw. der Vater des Antragstellers das gemischtgenutzte Grundstück ordnungsgemäß erworben. Die Zeugenaussagen des Herrn Forlani [und anderer Zeugen, I. N.] bestätigen diese Ansicht. Entscheidend ist die Tat­sache, dass das Grundstück zweifelsfrei bereits in den Jahren 1936/37, also auf jeden Fall vor der Besetzung des Sudetenlandes durch deutsche Truppen, von der tschechischen Verwaltung bzw. vom Finanzamt übernommen worden ist, da der Vorbesitzer laut Angabe des Antragstellers und der Zeugen erhebliche Steuerrückstände gehabt haben soll. […] Es dürfte aber damit feststehen, dass eine Entziehung von deut 81 Ebd. 82 Ausgleichsamt Berlin an HASt. Nr. 1, 10. Juni 1960. 83 HASt. Nr. 1 an Ausgleichsamt Berlin, 14. Juni 1960. 84 Aktenvermerk, HASt. Nr. 1, 22. Juni 1960. 85 Kurt Schubert, Die Geschichte des österreichischen Judentums, Wien 2008, 125. 86 Aktenvermerk, HASt. Nr. 1, 22. Juni 1960. 87 Schreiben HASt. Nr. 1 an Ausgleichsamt Berlin, 8. November 1960. 88 Abschrift, öffentliche Sitzung, Verwaltungsgericht Berlin, 7.  Oktober 1980 (Urteils­ verkündung).

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scher Seite nicht stattfand. Der Verlust des Grundvermögens für den Vorbesitzer Felix stand offensichtlich in keinem Zusammenhang mit Maßnahmen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. […] Später (1939) hat dann der Vater des Antragstellers das Grundvermögen von einer staatlichen Stelle (Finanzamt bzw. Stadtverwaltung) gegen Zahlung eines Kaufpreises erworben.«89 Felix’ Vermögensverlust hatte also aus Sicht des Amtes nichts mit der »Ari­sierung« zu tun. Die besonderen Vorschriften der 11. LeistungsDV-LA kamen somit für den Erwerber Bönsch nicht zur Anwendung. Die Frage, ob der von ihm entrichtete Kaufpreis zur freien Verfügung von Felix gestanden hatte, war folglich unerheblich. Am 11.  Oktober 1963 erließ das Ausgleichsamt einen unanfechtbaren Fest­ stellungsbescheid zugunsten von Helmut Bönsch mit der Begründung: »Dem Vorbesitzer Felix ist das Grundstück aus Gründen entzogen worden, die er allein zu vertreten hatte. […] Die widersprechenden Angaben, zu welchem Zeitpunkt Herr Felix wirklich verstorben ist, bedürfen somit keiner weiteren Klärung.« Bönsch wurde infolgedessen als alleinigem unmittelbaren Geschädigten eine Hauptentschädigung von 30 360  DM zuerkannt.90 Der Betrag beinhaltete die mit etwa 16 060  DM zu berechnende Entschädigungsleistung für den Schaden am Grundvermögen Bahnhofstraße 4, Teplitz-Schönau.91 An dieser Stelle hätte der Fall Helmut Bönsch für immer zu den Akten gelegt werden können, wenn nicht am 10. Januar 1970 der erbberechtigte, in London lebende Neffe von Sigmund Felix einen Feststellungsantrag wegen des Verlusts ebendieses Grundvermögens eingereicht hätte. Der im Jahr 1902 in Fischern bei Karlsbad (Rybáře/Karlovy Vary) geborene Redakteur Leo Felix war selbst Verfolgter des NS-Regimes. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht ins Sudetenland war er nach England geflüchtet. Laut seinen An­gaben hatte Sigmund Felix die Immobilie vor dem Ersten Weltkrieg erworben und »durch rassische Verfolgung« verloren.92 Das schuldenfreie Haus sei von seinem Onkel nicht verkauft, sondern von den NS-Behörden beschlagnahmt worden.93 Weil die deutsche Volkszugehörigkeit von Sigmund Felix bereits durch die Heimatauskunftstelle bestätigt worden war, konnte das nunmehr zuständige Ausgleichsamt Aachen zur Schadensfeststellung schreiten. Leo Felix’ Antrag beantwortete das Amt folgendermaßen: »Zeugenaussagen und Stellungnahmen der 89 Ausgleichsamt Berlin an HASt. Nr. 1, 30. März 1962. 90 Bescheid, Ausgleichsamt Berlin, 11. Oktober 1963. 91 Dem Schadensbetrag lagen der vom Ausgleichsamt mit einem Einheitswert von 38 760 RM berechnete Schaden am Grundvermögen (für das Haus Bahnhofstraße 4) sowie die von Bönsch am Objekt getätigten Investitionsmaßnahmen von 1050 RM zugrunde. Vermerk, Ausgleichsamt Berlin, 26. Mai 1982. Den Grundbetrag von 16 060 DM übernahm die Verfasserin der LAG-Schadensgruppentabelle von 1961 (Schadensgruppe 17, Obergrenze: 40 000 RM). Bundesgesetzblatt I, Nr. 44 (1961), 787. 92 Leo Felix, Antrag auf Feststellung von Vertreibungsschäden, London, 10. Januar 1970. 93 Beiblatt, Verfolgungsschäden, 10. Mai 1970.

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Heimatauskunftstelle lassen es glaubhaft erscheinen, daß im Jahre 1935 oder 1936 das damals tschechische Finanzamt Teplitz-Schönau das Grundvermögen Bahnhofstraße  4 Herrn Sigmund Felix wegen Steuerschulden entzog. Aus den gleichen Gründen mußte Herr Sigmund Felix im Jahre 1936 sein Schuhgeschäft ›Zum Schuhkönig‹ aufgeben«.94 Dass die Heimatauskunftstelle von Anfang an Bedenken gegen diese Version der Geschichte geäußert hatte, ließ das Ausgleichsamt unter den Tisch fallen. Obwohl Leo Felix den Feststellungsantrag eingereicht hatte, konnte er nie in Erfahrung bringen, was nach der Entziehung mit der Immobilie seines Onkels geschah. Auch hatte er keine Ahnung davon, dass ein »Ariseur« bereits im Jahre 1952 einen Vertreibungsschaden an ebendiesen Objekt geltend gemacht bzw. hierfür im Jahr 1963 Entschädigungsleistungen bezogen hatte. Das Ausgleichsamt gab ihm von sich aus keine Auskunft. »Diese Behauptung ist vom Anfang bis zum Ende unwahr«, ließ der Neffe das Ausgleichsamt empört wissen.95 Er selbst erinnere sich noch genau daran, dass er seinen Onkel bis zu dessen Flucht ins Landesinnere in seinem Geschäftslokal und in seiner sich im selben Haus befindlichen Wohnung besucht habe. Niemals habe er damals von einer Eigentumsübertragung der Immobilie oder gar von einem Konkurs gehört. »Als ich ihn im Sommer 1938 besuchte, stand mein Onkel im Laden, bediente und kassierte, wir waren oben in seiner Wohnung zum Kaffee, das Geschäft hatte noch das Schild ›Zum Schuhkönig‹«.96 Der Standpunkt des Ausgleichsamts »steht in so krassem Gegensatz zu allem, was ich aus eigener Anschauung und Erfahrung weiß«, betonte Felix gegenüber seinem in England tätigen Anwalt.97 Felix’ Angaben wurden zudem von vier eidesstattlichen Zeugenaussagen aus England und Israel bestätigt.98 Aus Sicht des Ausgleichsamts waren die Aussagen indes »leider nicht geeignet, das bisherige Ermittlungsergebnis zu erschüttern«.99 Der LAG-Sachbearbeiter handelt »willkürlich, denn er wiegt die Zeugen mit verschiedenem Gewicht«, beklagte sich Felix bei seinem Anwalt.100 Auf die mehrmalige Aufforderung des Ausgleichsamts, einen amtlichen Grundbuchauszug aus der Tschechoslowakei vorzulegen, entgegnete Felix in den Jahren 1973 und 1976, dass keine der von ihm kontaktierten tschechos­lowakischen Behörden bereit sei, ihm eine Auskunft zu erteilen.101 94 Leo Felix an Ausgleichsamt Aachen, betr.: Leo Felix als Erbe nach seinem Onkel Sigmund Felix, 2. Juni 1976. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Leo Felix, betr.: Lastenausgleich nach meinem Onkel Sigmund Felix, 21. Januar 1973. 98 Leo Felix an Ausgleichsamt Aachen, betr: Leo Felix als Erbe nach seinem Onkel Sigmund Felix, 2. Juni 1976. 99 Ebd. 100 Leo Felix, betr.: Erbschaftssache nach meinem Onkel Sigmund Felix, 17. Juli 1973. 101 Ebd.; Leo Felix, betr.: Lastenausgleich nach meinem Onkel Sigmund Felix, 21. Januar 1973; Leo Felix an Ausgleichsamt Aachen, betr.: Leo Felix als Erbe nach seinem Onkel Sigmund Felix, 2. Juni 1976.

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Am 22.  September 1976 starb Leo Felix. Er hinterließ eine Witwe namens­ Margarete Elisabeth Felix. Von Amts wegen wurde im Jahr 1977 ein gemeinsames Feststellungsverfahren für Sigmund Felix und Helmut Bönsch nach der 11. LeistungsDV-LA durchgeführt,102 mit dem Resultat, dass der im Jahre 1963 ausgestellte positive Bescheid unangetastet blieb. Zwischen Bönschs Erwerb und der NS-Gewaltherrschaft vermochte das Ausgleichsamt Berlin auch weiterhin keinen Zusammenhang erkennen. Folglich erging an Margarete Felix ein ab­lehnender Bescheid.103 Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie erstmals, dass in die Angelegenheit ein Erwerber verwickelt war. Die von Margarete Felix gegen den ablehnenden Bescheid eingereichte Beschwerde wurde am 25. Juli 1978 vom Ausgleichsamt als unbegründet zurück­ gewiesen.104 Daraufhin brachte sie beim Verwaltungsgericht eine Anfechtungsklage gegen das Land Berlin ein.105 Der Klage legte sie eine Bestätigung der Prager jüdischen Gemeinde bei, dass Sigmund Felix im Jahr 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet worden war.106 Aus Sicht von Margarete Felix war somit bewiesen, dass der im Jahr 1939 getätigte Erwerb »in Ausnützung der rassischen Verfolgung durchgeführt wurde und daher heute nichtig ist«.107 Gegenüber ihrem Anwalt brachte sie die Situation wie folgt auf den Punkt: »Die Wahrheit über die seinerzeitigen Besitzverhältnisse des Grundstückes liegt im Grundbuchamt Teplitz. Weder der Erwerber noch wir können von dort die Bestätigung oder Widerlegung unserer Ansprüche vorweisen. Es stehen also Zeugenaussagen gegen Zeugenaussagen.«108 Am 22. Oktober 1979 wurde Helmut Bönsch in Anwesenheit der hierfür eigens aus England angereisten Margarete Felix von einem Richter vernommen.109 In der Beweisaufnahme erklärte Bönsch: »Über das persönliche Schicksal des Herrn Felix kann ich nichts sagen.«110 Auch könne er sich nicht erklären, wie seine Aus­ sagen aus dem Jahr 1960 zu Sigmund Felix’ angeblichen Tod im Jahr 1936/1937 zustande gekommen seien.111 Vielmehr meinte er sich nunmehr daran zu erinnern, dass er selbst Sigmund Felix noch etwa im Jahr 1937 besucht habe, um ein 102 Stadt Aachen an Ausgleichsamt Berlin, betr.: Gemeinsames Verfahren, 11. März 1977. 103 Bescheid, Ausgleichsamt Berlin, 12. Januar 1978. 104 Ausgleichsamt Berlin, betr.: Beschwerde, 13.  Februar 1978; Ausgleichsamt Berlin an Margarete Felix, betr.: Beschwerde, 22. Februar 1978; Beschluß, Ausgleichsamt Berlin, 25. Juli 1978. 105 Anfechtungsklage, Margarete Felix gegen Ausgleichsamt Berlin, 21. August 1978. 106 Abschrift, Rat der Jüdischen Gemeinden in der Tschechischen Sozialistischen Republik, [18. Februar 1970]. 107 Anfechtungsklage, Margarete Felix gegen Ausgleichsamt Berlin, 21. August 1978. 108 Margarete Felix, Schreiben vom 20. Februar 1979. 109 Schreiben an Verwaltungsgericht Berlin, betr.: Frau Margarete Felix/Land Berlin, 5. November 1979. 110 Abschrift, öffentliche Sitzung, Verwaltungsgericht Berlin, 22. Oktober 1979. 111 Abschrift, öffentliche Sitzung, Verwaltungsgericht Berlin, 7. Oktober 1980.

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Inkasso für gelieferte Ware vorzunehmen:112 »Herr F ­ elix war nämlich mit meinem Vater sehr gut bekannt und hat von ihm bisweilen Schuhe gekauft.«113 Bönsch fügte dem hinzu, sein Vater sei »vor 1934 an den Rand der Pleite geraten. […] Wir konnten uns nur dadurch halten, daß uns andere Kaufleute geholfen haben und wir uns vorwiegend der Schuhreparatur zugewandt haben.«114 Den Fragen, wie sich die Familie Bönsch nur wenige Jahre später den im Feststellungsantrag angegebenen Kaufpreis für eine in bester Lage gelegene Immobilie leisten konnte und ob das Geld überhaupt aus eigenen Mitteln oder über einen »Arisierungskredit« aufgebracht wurde, ging der Richter nicht nach. Margarete Felix schrieb nach der Beweisaufnahme an das Verwaltungsgericht: »Ich möchte anheimstellen, daß der Erwerber seinerzeit die obigen Behauptungen [das angebliche Todesjahr 1936/1937, I. N.] im Zusammenhang mit seinem Antrag auf Lastenausgleich aufgestellt hat, um den möglichen Verdacht zu entgehen, er (bzw. sein Vater) habe durch Flucht des Besitzers herrenlos gewordenes jüdisches Eigentum unter den damaligen Verhältnissen günstig erworben.«115 Am 7. Oktober 1980 gab das Verwaltungsgericht der von Margarete Felix eingereichten Anfechtungsklage gegen den negativen Feststellungsbescheid statt. Für das Gericht galt es nun als erwiesen, dass Sigmund Felix sein Grundvermögen durch »verfolgungsbedingte Entziehung« verloren hatte.116 Der NS-Staat hatte nach dem »Anschluss« des Sudetenlandes das Vermögen in seine Verfügungs­ gewalt übernommen und danach über das Finanzamt Teplitz-Schönau an den Vater von Helmut Bönsch veräußert. Das Land Berlin wurde verpflichtet, den Sigmund Felix entstandenen verfolgungsbedingten Schaden an Grundvermögen nach der 11. LeistungsDV-LA in Höhe von 38 760 RM festzustellen.117 Das Ausgleichsamt war nun seinerseits gehalten, die Möglichkeit einer Rück­forderung des im Jahr 1963 zu Unrecht an Bönsch ausgezahlten Entschädigungsgeldes (etwa 16 060  DM) zu prüfen.118 Der »Ariseur« Bönsch kam glimpflich davon. Weil der von ihm (oder seinem Vater) bezahlte Kaufpreis nicht in die Hände von Sigmund Felix gelangt war, wurde ihm zwar der Schaden am Grundvermögen aberkannt. Dennoch schließt die Feststellungsakte mit dem Vermerk vom 26.  Mai 1982, dass Bönsch immer noch einen Kaufpreis- und Investitionsschaden nach der

112 Bericht, Zeuge Bönsch, [22. Oktober 1979]. 113 Abschrift, öffentliche Sitzung, Verwaltungsgericht Berlin, 22. Oktober 1979. 114 Ebd. Im Jahr 1930 kam es im Zuge eines gegen Josef Bönsch laufenden Insolvenzverfahrens zu einem gerichtlichen Ausgleich mit seinen Gläubigern. Siehe Ausgleiche und Konkurse, in: Reichenberger Zeitung, 1. September 1930, 7. 115 Margarete Felix an Verwaltungsgericht Berlin, betr.: Schreiben des Rechtsbeistandes Christian Clemens, 31. März 1980. 116 Abschrift, öffentliche Sitzung, Verwaltungsgericht Berlin, 7. Oktober 1980. 117 Ebd. 118 Senator für Finanzen an Ausgleichsamt Berlin, 5. Januar 1981.

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11. LeistungsDV-LA geltend machen könne.119 Hierfür hätten Bönsch 8 552 DM zugestanden.120 Anscheinend ging das Ausgleichsamt davon aus, dass er (oder sein Vater) einen angemessenen (und aus Eigenkapital auf­gebrachten) Kaufpreis für Felix’ Vermögen dem NS-Fiskus im Jahr 1939 gezahlt und somit nicht völlig sittenwidrig gehandelt hatten.

Fazit Nach 1945 standen die NS-Verfolgten und die sich ebenfalls als Opfer eines historischen Unrechts sehenden Vertriebenen in einer unmittelbaren Rivalität um die materielle und moralische Anerkennung ihres Leids.121 Das LAG spiegelte diese die deutsche Nachkriegsgesellschaft prägende »Opferkonkurrenz« auf besonders prägnante Weise wider. Auf der einen Seite versuchten die in ihrer Mehrheit außerhalb der Bundesrepublik beheimateten Holocaustüberlebenden ihre Ansprüche auf Wiedergutmachung im LAG geltend zu machen. Auf der anderen Seite galt es, die Vertriebenen mit auf dieser Gesetzesgrundlage gezahlten Ausgleichsleistungen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Die Ent­ schädigungspraxis des LAG verdeutlichte dabei, dass in diesem Konflikt um ökonomische und moralische Ressourcen  – letztere in Form von gesellschaftlicher Anerkennung des Leids der Betroffenen – die »Opfer der Deutschen« für viele Jahrzehnte von den »deutschen Opfern« überschattet wurden.122 Die stetige Beschäftigung mit der Erinnerung an das eigene im und nach dem Krieg erlittene Schicksal verdrängte nicht nur das Leid der Opfer des Nationalsozialismus aus der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland.123 Sie lenkte auch von der Auseinandersetzung mit der eigenen Beteiligung an Verfolgung und Raubzug ab. Dieses gesellschaftspolitische Klima kann die wohlwollende Behandlung der »Ariseure« und ihrer Zeugen sowie das den Holocaustüberlebenden entgegen­ gebrachte Misstrauen seitens der Ausgleichsämter erklären. Vor diesem Hintergrund ist auch der Umstand zu sehen, dass viele vertriebene »Ariseure« darauf spekulierten, dass die jüdische Opferseite keine LAG-Anträge einreichen würde. Sie machten in den Feststellungsverfahren falsche oder d ­ iffuse 119 Der Kaufpreisschaden wurde als geldwerter Anspruch in der Höhe von 38 760 RM und die Investitionsmaßnahmen in der Höhe von 1050  RM festgestellt. Vermerk, Ausgleichsamt Berlin, 26. Mai 1982. 120 Die Summe wurde von der Verfasserin errechnet anhand von: Allgemeine und grundsätzliche Bestimmungen, 135, § 246 und § 249 LAG. Ob Bönsch vor seinem Tod im Jahr 1983 den Kaufpreis- bzw. Investitionsschaden geltend machte, geht aus der Akte nicht hervor. 121 Goschler, Schuld und Schulden, 22 f. 122 Vgl. Tobias Winstel, Verhandelte Gerechtigkeit. Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und Westdeutschland, München 2006, 230 f. 123 Ebd.

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Angaben zum Vermögenserwerb in der – anscheinend oft berechtigten – Hoffnung, dass der Betrug nicht entdeckt oder strafrechtlich verfolgt werden könne. Im Oktober 1961 musste das Bundesausgleichsamt eingestehen: »Es sind bisher eine größere Anzahl von Fällen aufgedeckt worden, in denen die Schadensfeststellung am Wirtschaftsgut ohne Berücksichtigung der 11. LeistungsDV-LA durchgeführt worden ist, obwohl die Wirtschaftsgüter aus Verfolgten- oder Nationalitätenvermögen erworben waren. Derartige Fehlentscheidungen hätten sich vermeiden lassen, wenn das Ausgleichsamt der Frage […], ob und welches Vermögen von ›politischen Verfolgten‹ erworben ist, weiter nachgegangen wäre.«124 Vier Jahre später berichtete die Frankfurter Rundschau ihrerseits von einem Erwerber, der die »Arisierung« vor den LAG-Sachbearbeitern zu vertuschen versuchte.125 Bönsch war also kein Einzelfall. Trotzdem ist darauf zu verweisen, dass nicht alle vertriebenen Erwerber ihr Unrechtsbewusstsein ausblendeten: »Ausdrücklich bemerken möchte ich noch, daß wir den an dem Betriebsteil […]  durch die Vertreibung erlittenen Schaden zum Lastenausgleich nicht angemeldet haben, weil es sich um ehemals jüdischen Besitz handelt«, ließ beispielsweise eine Erwerbergruppe die Heimatauskunftstelle für den Regierungsbezirk Aussig im Jahr 1969 wissen.126 Etwa drei Millionen Feststellungsakten zu Vertreibungsschäden wurden von den Ausgleichsämtern von 1952 bis in die späten 1980er Jahre überprüft und positiv beschieden. In über 300 000 Fällen ergingen negative Bescheide.127 Die Frage, bei wie vielen Anträgen trotz Ausnutzung von Maßnahmen der NS-Gewaltherrschaft ein positiver Bescheid erging, bzw. wie viele Anträge nach Paragraf 359  LAG abgelehnt wurden, bedarf noch genauerer Untersuchungen.128

124 BArch-LAA, ZLA 7–01/3468/64, Rudolf Fernegg (HASt. Nr. 1) an Sachbearbeiter, betr.: Heimatauskunftstelle – 7. FDV–11. LDV, 30. Oktober 1961. 125 Klage wurde abgewiesen, in: Frankfurter Rundschau, 9. Januar 1965. 126 BArch-LAA, ZLA 7–01/3024/435 und 438, HASt. Nr.  1, betr.: Feststellung der Eigentumsverhältnisse, München, 21. März 1969. 127 Ringsdorf, Bestände, 57. 128 Der vorliegende Beitrag basiert auf Forschungsergebnissen, die im Rahmen des Projekts Komplizierte Begegnungen. Jüdische Lebenswelten und deutsche Rechtskategorien im Ringen um Entschädigung nach dem Holocaust erarbeitet und im vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Projekt JudgingHistories. Experience, Judgement, and Representation of World War II in an Age of Globalization (FP7/2007–2013/ERC Grant Agreement No. 340124) erweitert wurden. Das von José Brunner an der Universität Tel Aviv geleitete Projekt Komplizierte Begegnungen wurde in den Jahren 2010 bis 2012 von der Fritz-Thyssen-Stiftung, Köln, finanziert. Das ERC-Projekt wird seit 2014 von Dan Diner an der Hebräischen Universität in Jerusalem geleitet. José Brunner, Franz Meilinger (Frankfurt a. M.) und Sagi Schaefer (Tel Aviv) möchte ich herzlich für Anmerkungen zu früheren Fassungen dieses Beitrags danken.

Miriam Rürup

Vom Recht der Rechtlosen Staatenlosigkeit als Zeitsignatur des ersten Nachkriegsjahrzehnts

»›Verzeihen Sie die Frage‹, sagt der Russe nach einer Weile zögernd, ›weshalb sind Sie denn dann hier?‹ ›Wegen meines Berufes‹, erwiderte der Mann hochmütig. ›Ich bin kein windiger Flüchtling ohne Papiere. Ich bin ein anständiger Taschendieb und Falschspieler mit vollem Bürgerrecht.‹«1 Dieses Gespräch aus dem ersten Exil-Roman von Erich Maria Remarque umschreibt in wenigen Worten eine der wirkungsmächtigsten Bedeutungen, die die Staatenlosigkeit für den Betroffenen ausmacht: die Erfahrung der umfassenden Rechtlosigkeit, der gegenüber selbst ein (Klein)Krimineller mehr Rechte genießt als ein vormals tadel­loser Staatsbürger. »Als Verbrecher kann selbst der Staatenlose den Gesetzesschutz erlangen […]: Wenn er sich gegen das Gesetz, das ihn verfolgte, solange er unschuldig war, vergeht, wird plötzlich das Gesetz sich seiner wieder annehmen. […] Der gleiche Mann, der gestern noch im Gefängnis saß, nur weil er überhaupt auf der Welt war, der vollkommen rechtlos war, dauernd vor der Deportation zitterte oder vor dem Internierungslager, ist plötzlich im Genuß aller bürgerlichen Rechte, nur weil er sich endlich wirklich etwas hat zuschulden kommen lassen.«2

Fast wehmütig wiederum beschreibt hier, in den Jahren nach Kriegsende, Hannah Arendt den Status des gegenüber den Staatenlosen bessergestellten Rechtsbrechers. Gespeist von eigenen Erfahrungen von Flucht und Internierung wird bei ihr selbst das Leben eines Verurteilten beinahe zu einem Sehnsuchtsort.3 1 Erich Maria Remarque, Liebe Deinen Nächsten, München 1961, 19. Engl. Fassung des Romans unter dem Titel Flotsam, Boston, Mass. 1941, dt. Fassung erst in Stockholm 1941, dann 1953 in der Bundesrepublik veröffentlicht unter dem Titel Liebe Deinen Nächsten, München 1953. Eine ähnliche Thematik behandelte Remarque auch in seinem 1963 erschienenen Werk Die Nacht von Lissabon. 2 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, von ihr selbst übersetzte und bearb. dt. Ausgabe: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955, hier genutzte Ausgabe: München 21991, 448. 3 Diesen Gedanken der Herstellung von Zugehörigkeit über den Rechtsbruch greift sie am Rande wieder auf, wenn sie in ihrem Essay Über den Imperialismus festlegt, dass sich die­ Beziehung zwischen den Menschen auch in der Möglichkeit zeige, das Gegenüber zu töten.

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Die Suche nach einem Deutungsangebot, mit dem sich die Entstehung und zugleich auch zögerliche Bekämpfung von Staatenlosigkeit seit dem Ersten Weltkrieg erklären lässt, führt in nahezu allen Abhandlungen, die sich aus philosophischer, rechtlicher oder politologischer Perspektive Fragen von Staatsangehörigkeit im Gefolge von Weltkrieg und millionenfacher Vertreibung und Vernichtung zuwenden, rasch zu Hannah Arendt. Denn in ihrem zentralen Werk über die­ Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ist die Staatenlosigkeit als Kern der menschenrechtlichen Herausforderungen des 20.  Jahrhunderts bestimmt. Der Ausschluss aus der staatsbürgerlichen Gemeinschaft als staatliche Praxis wird dabei als ein Akt symbolischer Gewalt gelesen, der die Übereinkunft über »verbindliche politische Grundwerte« fundamental in Frage stellt und nur einen Schritt von der Vernichtung entfernt ist.4 Nur wenige Wochen nach Erlass des ersten Gesetzes, das am 14. Juli 1933 den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit gegen missliebige Staatsbürger legalisierte und damit eine Phase der Neuentstehung einer Gruppe von »Heimat­losen« einleitete, floh Hannah Arendt gemeinsam mit ihrer Mutter ohne Papiere über Prag und Genf nach Paris. Fast ein Jahrzehnt lang sollte sie fortan als politischer Flüchtling und als Staatenlose leben.5 Die Erfahrung der papierlosen Existenz prägte ihr gesamtes Umfeld: In Paris bewegte sie sich vorrangig in Emigranten­ zirkeln, darunter auch unter jenen exilierten Russen, die in den 1920er Jahren in Paris angekommen und die ersten Erfahrungsträger von Staatenlosigkeit im 20. Jahrhundert waren.6 Schließlich wurde Arendt im Mai 1940 von der VichyRegierung verhaftet und in Gurs interniert. Sie konnte fliehen und machte auf ihrer Flucht Station in Marseille und Lissabon, ähnlich wie zahlreiche weitere Flüchtlinge auf eine Passage in die Vereinigten Staaten wartend. Beide Hafenstädte standen geradezu paradigmatisch für die Situation des »Dazwischen« der Vertriebenen des nationalsozialistischen Europa. 1941 verließ sie Frankreich und ließ sich in New York nieder. Im Jahr 1951 nahm sie die US-Staatsbürgerschaft an. Die Erfahrungen von Flucht, Internierung und Staatenlosigkeit verarbeitete sie erstmals schriftlich in dem noch während des Kriegs erschienenen Essay Diese »Gleichheit der potentiellen Mörder« sei es, die originär zur Staatsbildung führe. Vgl. Hannah Arendt, Über den Imperialismus, in: dies., Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt a. M. 1976 (zuerst 1948), 12−31, hier 20. 4 Bernd Weisbrod, Gewalt in der Politik. Zur politischen Kultur Deutschlands zwischen den beiden Weltkriegen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), 113−124. 5 Vgl. ausführlich Elisabeth Young-Bruehl, Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt a. M. 2004. Zu einer Relektüre von Hannah Arendt mit dem Fokus auf Staatenlosigkeit siehe auch Miriam Rürup, Staatenlosigkeit als Entmenschlichung. Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism (1951), in: Uffa Jensen u. a. (Hgg.), Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen, Göttingen 2011, 192−203. 6 Vgl. hierzu Catherine Gousseff, L’exil russe. La fabrique du réfugié apatride (1920−1939), Paris 2008 und Annemarie Sammartino, The Impossible Border. Germany and the East, ­1914–1922, Ithaca, N. Y., 2010.

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We ­Refugees (1943).7 Die Niederschrift der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in die die Gedanken aus jenem Essay ebenfalls einflossen, beendete sie vier Jahre nach Kriegsende kurz vor ihrer ersten Europa-Reise. Immer wieder gehen Arendts Deutungsmuster auf ihre eigene Biografie zurück und sind damit zugleich in den breiteren historischen Kontext eingebettet. Ihr Werk ist also vor allem als zeitgenössisches Dokument zu lesen, das fundamental von der Erfahrungs­ gemeinschaft der Staatenlosen geprägt ist. Der eingangs zitierte Roman von Remarque, mit dessen Niederschrift er ebenfalls im Exil begann, kreist auch um die fundamentale Frage der Nicht-Zugehörigkeit seiner Protagonisten. Er beschreibt die Geschichte des jüdischen Studenten Ludwig Kern, der aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Wien geflohen war und dort 1935 verhaftet wurde.8 In Abschiebehaft lernt er Josef Steiner kennen, einen politischen Flüchtling aus Deutschland. Auf seiner nächsten Station in Prag trifft Kern die aus Deutschland geflohene Jüdin Ruth ­Holland, der er daraufhin auf seinem Exilweg zu folgen versucht, welcher ihn auf illegalem Wege über Wien in die Schweiz und von dort nach Paris führt. Kern wird von Grenze zu Grenze abgeschoben; erst in Paris trifft er wieder mit Holland und Steiner zusammen, wo sie Teil der immer größer werdenden Emigrantengesellschaft werden. Holland und Kern gelingt es schließlich, die begehrteste Währung der Exilanten zu erhalten: Pässe. Sie verlassen Europa. Der Roman wurde 1939 unter dem Titel Flotsam (Strandgut) als Episodengeschichte in der amerikanischen Zeitschrift Collier’s publiziert. Noch bevor er in Buchform erschien, wurde er bereits unter dem Titel So Ends our Night verfilmt und kam im Sommer 1941 in die Kinos. Eine deutsche Ausgabe erschien im gleichen Jahr, allerdings im Exilverlag Bermann-Fischer im schwedischen Stockholm. In der Bundesrepublik wurde der Roman erst 1953 publiziert.9 Der Autor des Erfolgsromans, Erich Maria Remarque, blickte zu diesem Zeitpunkt auf eine mehrjährige Erfahrung als Staatenloser zurück. Als er am 4. Juli 1938 aus Deutschland ausgebürgert wurde, lebte er bereits in der Schweiz. Als prominenter Pazifist war der Autor bereits früh bei den Nationalsozialisten in Miss­ 7 Hannah Arendt, Wir Flüchtlinge, in: dies., Zur Zeit. Politische Essays, hg. von Marie-Luise Knott, Berlin 1986, 7−21, hier 21 (zuerst: We Refugees, in: Menorah Journal 31 [1943], 69−77). Weitere Reflektionen über Staatenlosigkeit publizierte sie Jahre vor der Synthese in ­Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, so: The Stateless People, in: Contemporary Jewish Record 8 (1945), H. 2, 137−153. 8 Vgl. Hans Wagener, Understanding Erich Maria Remarque. Columbia, S. C., 1991, 53–59 und Wilhelm von Sternburg, »Als wäre alles das letzte Mal«. Erich Maria Remarque. Eine Biographie, Köln 1998, 278. 9 Vgl. zum Roman und zu Remarque allgemein das Themenheft Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Erich Maria Remarque, Text+Kritik 149 (2001) sowie Thomas A. Kamla, Confrontation with Exile. Studies in the German Novel, Frankfurt a. M. 1975, hier Kap. 7: Erich Maria Re­ marque. Liebe Deinen Nächsten. Asylum on the Border, 77–85.

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kredit geraten, seine Bücher gehörten zu den in den Bücherverbrennungen zerstörten Werken. 1939 emigrierte er aus der Schweiz in die Vereinigten Staaten, deren Staatsbürgerschaft er 1947 erhielt. Auf einer gänzlich anderen diskursiven Ebene ging es um die juristische Bedeutung der Staatenlosigkeit – und ihre Implikationen für ein von moralischen Maßstäben geleitetes Selbstverständnis der Nachkriegsgesellschaft. In einem epochemachenden Gerichtsverfahren vor dem US-Supreme Court hatte Chief ­Justice Earl Warren im Jahr 1958 verkündet, das »Recht, Rechte zu haben« müsse zur handlungsleitenden Maxime jeglicher Gesetzgebung werden: Der Anspruch eines Individuums auf Schutz vor Staatenlosigkeit habe demnach Vorrang selbst vor militärischer und nationalstaatlicher Souveränität.10 Der Entzug der Staatsangehörigkeit als Bestrafung habe als verfassungswidrig und grausam zu gelten, wenn der Betroffene dadurch staatenlos werde. Dieser Urteilsspruch beendete einen langjährigen Rechtsstreit um die Frage der Ausbürgerung eines ge­bürtigen Amerikaners, der gegen den Entzug seiner Staatsangehörigkeit, die ihn staatenlos gemacht hatte, gerichtlich vorging. Es handelte sich dabei um einen Mann, der als junger US-Soldat während des Zweiten Weltkriegs mit der US-Army im französisch kontrollierten Marokko seinen Dienst getan hatte. Unerlaubterweise hatte er ein Gefangenenlager, in dem er wegen eines disziplinarischen Vergehens einsaß, verlassen, wurde aber schon am Folgetag auf einer Landstraße in der Nähe von Casablanca wieder aufgegriffen und war damit wieder in den Händen der Militärpolizei. Nach Beendigung seines Auslandseinsatzes kehrte er in die Vereinigten Staaten zurück, die eintägige »Desertion« blieb zunächst augenscheinlich folgenlos. Erst Jahre später fiel ihm seine Staatenlosigkeit auf – als er im Jahr 1952 die Ausstellung eines Reisepasses beantragte und ihm dieser verweigert wurde. Nach Ansicht der US-amerikanischen Behörden hatte er sein Recht auf US-Staatsbürgerschaft als Bestrafung für die – wenn auch temporäre – Fahnenflucht verwirkt. Gegen diese Bestrafung beschloss er zu klagen, das Verfahren landete schließlich beim Supreme Court. Als Teil der Urteilsbegründung nun formulierte Chief Justice Earl Warren einige bemerkenswerte Gedanken, wonach der Entzug der Staatsangehörigkeit grausam sei, weil er zu einer »totalen Zerstörung der Stellung des Individuums innerhalb der Gesellschaft« führe.11 Warren platzierte in seiner Argumentation den Entzug von Staatsangehörigkeit in den Kontext von Menschenwürde und war damit offensichtlich im menschenrechtlichen Diskurs der Nachkriegszeit verankert.12 Die bekannte Arendt’sche Formel vom »Recht, Rechte zu haben« ging mithin über die Urteilsbegründung des Chief Justice in die juristische Literatur ein, wo sie in direkte Verbindung mit 10 Chief Justice Earl Warren, in: U. S. Supreme Court, Trop v. Dulles, 356 U. S.− 86 (1958). 11 Trop v. Dulles, 356 U. S. – 1957, 92: »Citizenship is not a license that expires upon mis­ behaviour«; und: »total destruction of the individual’s status in organized society«. 12 Trop v. Dulles, 356 U. S. – 1957, 100.

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völkerrechtlichen Lösungsvorschlägen gebracht wurde.13 Warren selbst fungierte als Berater für Flüchtlingsfragen und Displaced Persons beim Department of State und reiste in dieser Funktion in der Nachkriegszeit wiederholt nach Europa. In den 1950er Jahren war er zudem Mitglied der Delegation der Vereinigten Staaten bei Gremiensitzungen des Intergovernmental Committee for European Migration (ICEM) sowie bei der Genfer Konferenz, die zur Flüchtlingskonvention vom 25. Juli 1951 führte.14 Die biografisch geprägten Denkfiguren von Arendt und Remarque wie ihre Übersetzung in die Rechtspraxis durch Warren sind keine Ausnahmeerscheinungen, sondern verweisen auf eine geradezu paradigmatische Erfahrung, die sich in zahlreichen Querverbindungen und Artikulationsformen widerspiegelt. Die Gegenüberstellung von Romanszene (Remarque 1939) und philosophischhistorischer Abhandlung (Arendt 1951) ist nur eines der vielen möglichen Beispiele. Hat Arendt Remarque gelesen oder die Verfilmung von 1941 gesehen? Hat sie während der Niederschrift des ersten, die Fluchterfahrung verarbeitenden Essays Erholung bei einem Kinobesuch gesucht und Anregungen zu weiterem Nachdenken gefunden? Und hat Chief Justice Earl Warren möglicherweise das 1951 publizierte Werk der Origins of Totalitarianism von Hannah Arendt ge­lesen, bevor er niederschrieb, das schwerwiegendste Resultat einer zwangsweisen Ausbürgerung sei: »[i]n short, the expatriate has lost the right to have rights«?15 Diese Fragen lassen sich kaum mehr beantworten. Ihr Beispiel, genauso wie zahlreiche andere Zeugnisse, allen voran auch Filme der Zeit, sprechen dafür, dass die Erfahrung der Rechtlosigkeit zu einer Zeitsignatur wurde, die nicht nur individuell erlebt und überwunden, sondern kollektiv bearbeitet und re­ flektiert wurde.

Die Erfahrung der Rechtlosigkeit In der Staatenlosigkeit lernten die Betroffenen, in einem ausweglos scheinenden Zustand der Gesetzlosigkeit zu leben, denn, wie Arendt pointiert beschrieb: »Es ist sinnlos, Gleichheit vor dem Gesetz für den zu verlangen, für den es kein Gesetz gibt«.16 Diese Gesetzlosigkeit aber konnte zu dem führen, was die vielleicht unerwartetste Wendung in ihrer Interpretation ist: Eine Legalisierung oder gar Normalisierung seines rechtlosen Status könne der Staatenlose nämlich ausgerechnet 13 Vgl. hier z. B. Cumberland Samford Law Review 3 (1972), 209. 14 Siehe hierzu auch Independent Commission on International Humanitarian Issues, Winning the Human Race, London 1988, 107. 15 Vgl. hier z. B. 3 Cumberland Samford Law Review, 1972, 102. Vgl. Arendt, The Stateless People. 16 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 460.

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dadurch erreichen, dass er einen Rechtsbruch begehe. Indem ihm nach einem entsprechenden Rechtsbruch das Gleiche passiere wie anderen Rechtsbrechern auch, habe er »seine Gleichheit vor dem Gesetz wiedererlangt.«17 Indem der Staatenlose also zu einem Kriminellen wird, erhält er wenigstens wieder einen Funken Menschlichkeit, so der Gedankengang, der auch in dem Roman von­ Remarque nachhallt. In einer Szene des Textes, in der dargestellt wird, wie ein Polizist den Protagonisten Kern zur Ausweisung an die Grenze begleitet, verzweifelt sogar der einfache Polizeibeamte an der existenziellen Rechtslosigkeit der Staatenlosen, wie folgender Abschnitt veranschaulicht: »›Es ist doch wirklich zum Speiben […] mit euch Emigranten‹, erklärte der Beamte mürrisch. ›Ihr bringt einem ja direkt die Berufsehre ins Wanken! Nichts als Emigranten hat man mehr zu eskortieren! Jeden Tag dasselbe! Immer von Wien zur Grenze. Was ist das schon für ein Leben! Nie mehr ein ehrlicher, schöner Handschellen­transport!‹ Der Beamte sah ihn ziemlich verächtlich an. ›Ihr seid doch nichts, im polizeilichen Sinne! Ich habe den vierfachen Raubmörder Müller II zu eskortieren gehabt, Revolver schußbereit – und dann vor zwei Jahren den Frauenschlächter Bergmann und später den Aufschlitzer Brust – gar nicht zu reden von dem Leichenschänder Blümel! Ja, das waren noch Zeiten! Aber heute, ihr – mit euch krepiert man ja vor Langeweile!‹ Er seufzte.«18

Neben dem Verlust der Papiere war dieses »Nichts«-Sein der problematischste Aspekt für die Betroffenen: Staatenlose waren quasi ihres Menschseins beraubt. Für sie bedeute diese Lage beispielsweise, so Arendt, dass sie als Rechtlose auch nicht mehr als politische Wesen existieren.19 Das sei es aber, was den Menschen letztlich vom Tier unterscheide. Indem Menschen also durch Ausbürgerung die Möglichkeit genommen werde, als politische Wesen zu handeln, würden sie auf eine tierische Existenz zurückgeworfen und verlören ihr Menschsein: »Wer außerhalb der Gesellschaft steht aus gleich welchen Gründen, ist eigentlich kein Mensch mehr.«20 Auch hier hört man das Echo aus Remarques frühem Exilroman, in dem der staatenlose jüdische Student Kern zur Erkenntnis gelangt: »Ein Mensch ohne Paß ist eine Leiche auf Urlaub. Hat sich eigentlich nur umzubringen, sonst nichts.«21 Die Staatenlosigkeit wird damit bereits hier als Vorstufe der Entmenschlichung aufgezeigt und in direkte Nähe zum Tod gesetzt. Auch, dass die massenhafte Ausbürgerung von Juden im Zweiten Weltkrieg ebenfalls als Vorstufe der Vernichtung angesehen werden muss, wird bei ­Hannah Arendt ausgeführt. Der Aufenthalt im Gefängnis (Remarque) oder Internie 17 Ebd., 448. 18 Remarque, Liebe deinen Nächsten, 149 f. 19 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, München 2006, 81. 20 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 245. 21 Remarque, Liebe deinen Nächsten, 17.

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rungslager (Arendt) ist dabei nur ein Zwischenschritt – bei Arendt gar eine Art zynische Ersatz-Heimat.22 »Der Paß ist der edelste Teil des Menschen. Er kommt auch nicht auf so ein­fache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.«23

So schrieb Bertolt Brecht in seinen Flüchtlingsgesprächen aus dem Jahr 1940 unter dem Eindruck der eigenen Erfahrung des Exils, nachdem er Deutschland hinter sich gelassen hatte. Dieser Gedankengang zeigt, dass der Pass im 20. Jahrhundert zunehmend zum Symbol der Erfahrung zahlloser jüdischer und nichtjüdischer Menschen wurde, die infolge von Kriegen, Grenzverschiebungen und Vertreibungen ihre Staatsangehörigkeit verloren und fortan diese Heimatlosigkeit zu überwinden suchten. Selbst das Hilfsangebot für die erste große Gruppe an Staatenlosen, die in den 1920er Jahren ausgebürgerten Russen, bestand bezeichnenderweise in einem weiteren Ausweisdokument – ein Dokument, das die Dokumentenlosigkeit gewisser­maßen beweisen sollte: der als Nansen-Pass bezeichnete Ausweis, dessen Namen auf den Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes, Fridtjof ­Nansen, zurückgeht und den sowohl Arendt als auch Remarque schnell als Ausweis einer »Avantgarde« unter den Staatenlosen ausmachten.24 Pass und Passlosigkeit scheinen im 20.  Jahrhundert Ankerpunkte einer europäisch-jüdischen Menschheitserfahrung zu sein, die weit über die Lebenswege der betroffenen Individuen hinausweisen: In Romanen und Filmen wurden diese Themen ebenso reflektiert wie in (auto-)biografischen Berichten sowie historischen, juristischen und philosophischen Betrachtungen. Die tatsächliche Erfahrung der Staatenlosigkeit schien mithin bei den Zeitgenossen ein ähnliches negativ konnotiertes Identifikationspotential aufzuweisen wie die imaginierte oder potentielle Heimatlosigkeit.

22 War das Internierungslager vor dem Zweiten Weltkrieg vor allem ein Bedrohungstopos, wurde es im Nationalsozialismus »zur Routinelösung des Aufenthaltsproblems« (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 436) und schlussendlich zur »einzige[n] patria, die die Welt dem Apatriden anzubieten hat« (ebd., 447). 23 Bertolt Brecht, Flüchtlingsgespräche, Berlin 1961 (zuerst 1940), 1. 24 Siehe hierzu Arendt, Wir Flüchtlinge, 21, sowie dies., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 444 f.; so auch bei Remarque, Liebe deinen Nächsten, 19 (»Aristokratie«).

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Staatenlosigkeit im Bild Vor diesem Hintergrund spiegeln sich in Erich Maria Remarques 1938 begonnenem Roman und der Verfilmung von 1941 die großen Fragen der Verlusterfahrungen des 20.  Jahrhunderts. Auch weitere Filme veranschaulichen dies: Etwa Der Ruf des ungarisch-jüdischen Regisseurs Josef von Baky mit dem jüdischen Remigranten Fritz Kortner in der Hauptrolle (1949), Der Hauptmann von­ Köpenick von Helmut Käutner, von den jüdischen Überlebenden Gyula Trebitsch und Walter Koppel produziert und mit Heinz Rühmann in der Rolle des »Hauptmanns« Wilhelm Voigt verfilmt (1956), oder der letzte Film des Komikerduos Stan Laurel und Oliver Hardy, Atoll K (1952), in dem ein Staatenloser und ein illegaler Einwanderer gemeinsam mit Stan und Ollie und – natürlich – einer Frau eine utopische Gesellschaft auf einer Insel begründen. Pässe und Grenzen, Pass­ losigkeit und Grenzüberschreitungen sind auffallend häufig wiederkehrende Themen im Nachkriegsfilm – aber immer, und das darf hier ebenso wenig wie bei der Lektüre von Hannah Arendts Reflektionen vergessen werden, scheint in der Darstellung komplementär die Aussicht oder Hoffnung auf einen beinahe­ utopisch anmutenden Ausweg aus der Nicht-Zugehörigkeit auf.25 Bereits die oben genannten Personen verweisen in unterschiedlichen Aus­ prägungen auf die vielfachen Brüche, Grenzüberschreitungen und Zugehörigkeitswechsel, die vor allem – aber nicht nur – jüdische Menschen im 20. Jahrhundert durchliefen: Film-Produzent Walter Koppel (1906−1982) war jüdischer Herkunft und als SPD-Mitglied bereits früh der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt gewesen, hatte 1935 Deutschland verlassen, wurde von Frankreich aber zurück nach Deutschland deportiert und dort im Hamburger Polizeigefängnis Fuhlsbüttel interniert. Den Briten diente er nach Kriegsende als Untertreuhänder der Hamburger UFA-Kinos. Mit Gyula Trebitsch zusammen gründete er die Produktionsfirma Real-Film, die unter anderem den Hauptmann von Köpenick verantwortete. Trebitsch (1914−2005) selbst stammte aus Budapest, hatte den Krieg als Zwangsarbeiter überlebt, aber seine gesamte Familie verloren. Befreit wurde er von den Alliierten im Neuengamme-Außenlager Wöbbelin. Nach einer Zwischenstation in Itzehoe kam er im Alter von 38 Jahren in die Hansestadt, wurde als Filmproduzent erfolgreich und engagierte sich von Beginn an in den frühen Initiativen der christlich-jüdischen »Aussöhnung«, die in Hamburg unter anderem durch die »Friede mit Israel«-Kampagne von Erich Lüth bekannt wurden und 1952 zur Gründung der Hamburger Gesellschaft für christlichjüdische Beziehungen führten. Erst spät, im Jahr 1955, beantragte Trebitsch über 25 Vgl. zu einem solchen utopischen Zugehörigkeitsmodell die weltbürgerliche Idee: Miriam Rürup, Von der Offenheit der Geschichte. Staatenlosigkeit und die weltbürgerliche Idee, in: Bernhard Gissibl/Isabella Löhr (Hgg.), Kosmopolitismus: Historische und konzeptionelle Perspektiven [Arbeitstitel], (im Erscheinen).

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haupt die deutsche Staatsangehörigkeit. Seine deutsche Ehefrau verlor gar zunächst ihre Staatsangehörigkeit durch die Heirat mit einem Nicht-Deutschen und war vorübergehend staatenlos. Bis zum Erhalt des deutschen Passes vergingen für Trebitsch wegen etlicher Verwaltungshürden ganze zwei Jahre – möglicherweise konnte er sich also sehr gut mit seinem Filmhelden, dem passlosen Hauptmann von Köpenick, identifizieren.26 Auch der Autor des Dramas, das die Produk­ tionsfirma Real-Film auf die Leinwand brachte, Carl Zuckmayer  (1896−1977), war biografisch mit dem Thema Staatenlosigkeit verbunden. Von den Nationalsozialisten als »Halbjude« eingestuft, war er bis 1946 ins Exil gegangen, zunächst in die Schweiz und dann in die Vereinigten Staaten. In der Rückschau bezeichnete Zuckmayer als Ziel des Stücks Der Hauptmann von Köpenick, das bereits 1931 uraufgeführt worden war, es sei »ausdrücklich als eine Warnung an das Deutsche Volk vor dem Verfallen in ein neues Autoritätsidol gemeint«.27 Zuckmayer selbst hatte sich zwar ab 1933 um Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer bemüht, blieb jedoch erfolglos, da sein Werk als »schädlich« eingestuft wurde. Er übersiedelte nach Österreich, um hier seine Theaterarbeit fortzusetzen und erhielt die österreichische Staatsbürgerschaft. Zum Emigranten wurde er nach dem Anschluss Österreichs 1938, als er wiederum vor den Nationalsozialisten in die Schweiz flüchtete. Dort waren er und seine Frau erstmals mit den Schwierigkeiten aller Exilsuchenden konfrontiert, beständig Dokumenten, wie beispielsweise Visa, hinterherlaufen zu müssen. Auf der 1939 schließlich erfolgenden Überfahrt nach Amerika erhielten seine Frau, seine Tochter und er die Nachricht von ihrer Ausbürgerung, erreichten New York im Juni also als Staatenlose. 1946, sieben Jahre später, wurden sie amerikanische Staatsbürger, bemühten sich aber zugleich um die Rückkehr nach Deutschland, konnte Zuckmayer doch keine Erfolge in den Vereinigten Staaten erzielen. Anders als die Filmadaption Jahre später floppte Der Hauptmann von Köpenick als Bühnenstück in Deutschland. Beim ersten Film, mit dem er nach seiner Rückkehr nach Deutschland erfolgreich war – Des

26 Die biografischen Parallelen beim Film Der Ruf sind ähnlich: Josef von Baky (1902−1966) stammte aus Ungarn und übersiedelte 1927 nach Berlin, wo er bald selbst Regie führte. Nach dem Krieg gründete er die Objectiv-Film GmbH, die Der Ruf produzierte. Fritz Kortner (1892−1970) emigrierte aufgrund zahlreicher antisemitischer Anfeindungen 1933, wurde staatenlos, erhielt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und kehrte doch nach dem Krieg zurück nach Deutschland. Er war bereits zu Zeiten der Weimarer Republik berühmt und emigrierte zunächst nach England und von dort in die Vereinigten Staaten. Selbst dort war er – als Nicht-Muttersprachler – überraschend erfolgreich, so dass seine Entscheidung, im Dezember 1947 nach Deutschland zurückzukehren, einige Verwunderung im Kreise der befreundeten Emigranten hervorrief. Inzwischen hatte er 1947 die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten und wollte diese auch nicht wieder aufgeben. 27 Lebenslauf und Erklärung an Eides Statt, 11. Januar 1958, zit. nach Richard Albrecht, Carl Zuckmayer im Exil, 1933−1946. Ein dokumentarischer Essay, in: Internationales Archiv der Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), 174.

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Teufels General (1955) – führte Helmut Käutner (1908−1980) Regie, genauso wie im Jahr darauf im Hauptmann von Köpenick. In Der Hauptmann von Köpenick, ursprünglich von Zuckmayer als Theaterstück (1931) geschrieben und bereits zuvor zweimal verfilmt (1931 und erneut 1941, beide unter Richard Oswald und vergleichsweise erfolglos), verkleidet sich ein ehemaliger Zuchthaushäftling mit einer Hauptmannsuniform, geht damit ins Rathaus von Köpenick, plündert die Stadtkasse und entkommt unentdeckt. Die Handlung beruht auf einem tatsächlichen Coup aus dem Jahr 1906.28 Als Rathaus von Köpenick diente bei den fünfzig Jahre später begonnenen Dreharbeiten – nebenbei bemerkt – das Gebäude, in dem heute das Institut für die­ Geschichte der deutschen Juden ansässig ist. Der Film wurde zu einem veritablen Publikumserfolg, innerhalb von nur vier Monaten sahen ihn 1956 etwa zehn Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer; zudem war er international erfolgreich, gewann einen Golden Globe und wurde für den Oscar nominiert. Eigentlich geht es in dem Film aber um etwas ganz anderes. Unter dem direkten Eindruck der Nachkriegswirren und der ungeklärten Zugehörigkeit von hunderttausenden jüdischer Displaced Persons, viele davon im Nationalsozialismus Ausgebürgerte, drehten die beiden Produzenten Koppel und Trebitsch unter der Regie von Käutner diesen Film, der an zentraler Stelle genau das thematisiert, was auch Bertold Brecht in seinen Flüchtlingsgesprächen beschrieb: Nicht das ­Bedürfnis, Macht auszuüben bringt den Kleinkriminellen Wilhelm Voigt dazu, sich einer fremden Uniform zu bemächtigen, sondern die verzweifelte Suche nach einem Pass, der ihm verweigert wird, weil er als Ex-Sträfling nicht dazu­ gehören soll. Seinem Gastgeber Friedrich gegenüber klagt er: »Mensch, ick häng’ an meiner Heimat jenau wie du, jenau wie jeder, aber erst soll’n se m’r ma drin leben lassen in der Heimat […]! Wo isse denn, die Heimat? Im Polizeirevier? Oder hier im Papier? – Ick seh jar keene Heimat mehr vor lauter Bezirke …«.29 Nach seiner Haft­entlassung versucht er, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen – doch findet er keine Arbeit, solange er keine Papiere hat. Papiere erhält er jedoch nicht, solange er keine Aufenthaltserlaubnis in seinem Bezirk besitzt, die er wiederum nur erhält, wenn er eine Arbeit vorweisen kann. Sein Gast­geber wirft ihm hin, er solle sein Schicksal »wie ein Mann« tragen. Daraufhin erwidert Wilhelm: »Wohin soll ick denn tragen, ohne Paß und ohne Aufenthalt! Muß doch ’n Platz jeben, wo der Mensch leben kann! […] Erst kommt de Wanze, Friedrich, un’ dann de Wanzenordnung  – erst der Mensch, Friedrich, und dann de Menschenordnung!«30 28 So berichteten Berliner Zeitungen am 17. Oktober 1906: »Ein als Hauptmann verkleideter Mensch führte gestern eine von Tegel kommende Abteilung Soldaten nach dem Köpe­nicker Rathaus, ließ den Bürgermeister verhaften, beraubte die Gemeindekasse und fuhr in einer Droschke davon«. 29 Hauptmann von Köpenick, Regie: Helmut Käutner, Film von 1956. 30 Ebd.

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Heinz Rühmann (Mitte, in Uniform) bei den Dreharbeiten des Films Der Hauptmann von Köpenick in Hamburg 1956. Das Gebäude im Hintergrund beherbergt heute das Institut für die Geschichte der deutschen Juden.

So besorgt er sich bei einem jüdischen Schneider eine Hauptmannsuniform und führt der (preußischen) Gesellschaft der Jahrhundertwende vor Augen, wie blind sie ist, dass sie eher einer Uniform traut statt dem Menschen, der in ihr steckt und dem sie den Pass und damit die Zugehörigkeit verweigert: In Uniform gekleidet, betritt er gemeinsam mit einer Gruppe Soldaten, die sich ihm unter­ tänig anschließen, das Köpenicker Rathaus, verhaftet den Bürgermeister und beschlagnahmt die Stadtkasse. In einem ironischen Dreh verpasst er allerdings das eigentliche Ziel des Coups: Mangels Passabteilung muss er, weiterhin passlos, von dannen ziehen. Nachdem er im weiteren Verlauf der Geschichte die Täuschung aufdeckt, wird er vom Kaiser begnadigt und bekommt ehrenhalber einen Pass geschenkt – den er aber, und das ist gewissermaßen die Pointe, ablehnt. Der Pass und die Uniform stehen hier symbolisch gleichbedeutend für den verzerrten Blick der Gesellschaft, die statt den Menschen eher auf den »richtigen Pass« im Brecht’schen oder die richtige Uniform im Köpenick’schen Sinne achtet. Ein Leben ohne Pass, ohne Ausweis der Zugehörigkeit, ohne »Ort in der Welt«, wie der Protagonist – ganz im Arendt’schen Stil – wiederholt beklagt, war eines der großen Probleme in der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, und damit auch und gerade in Hamburg, wo im Hafen das Warten auf die »richtigen­ Papiere« häufig zu einer Frage nach Leben und Tod wurde. Auch der Hauptmann von Köpenick war in den frühen Jahren der Bundesrepublik hier gedreht w ­ orden:

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von zwei Über­lebenden der Konzentrationslager und mit einem zwar beim Publi­kum beliebten, aber nicht unumstrittenen NS-Schauspieler. Schließlich war Heinz Rühmann unter anderem für seine treuherzige Darstellung in Quax, der Bruch­pilot (1941) berühmt geworden und erschien regelmäßig in verschiedenen Rollen als Kurierflieger in Feldwebel-Uniform in den Wochenschauen. Er war Mitglied in dem vom nationalsozialistischen Chefideologen Alfred R ­ osenberg gegründeten Kampfbund für deutsche Kultur – zugleich aber mit einer jüdischen Frau verheiratet, von der er sich bis Kriegsende nicht scheiden ließ. Die biogra­ fische – und womöglich auch filmische – Auseinandersetzung mit diesen Widersprüchlichkeiten scheint Heinz Rühmann begleitet zu haben. Nicht zuletzt verkörpert er in einem – ebenfalls von Gyula Trebitsch produzierten – Film von 1980 (Zug nach Manhattan) Leon Sternberger, den Kantor einer kleinen jüdischen Gemeinde in der Nähe von ­Manhattan. Dieser hat den Glauben verloren und möchte einen weisen Rabbi in Manhattan um Rat ersuchen. Auf dem Weg hält er eine junge Jüdin vom Selbstmord ab, die gerade erfahren hat, dass ihre gesamte Familie deportiert und umgebracht wurde – wir schreiben das Jahr 1942. Am folgenden Tag trifft Sternberger einen jungen Mann in selbigem Zug an, der sich als der tot­geglaubte Ehegatte der Frau vom Vortag erweist. Der Kantor kann beide wieder zusammenführen und findet zum Glauben zurück. Mit dieser er­ lösungsgeschichtlichen Erzählung nähert sich Heinz Rühmann der jüdischen Lebenswelt an. Just dieser Film war es dann auch, den das ZDF 1980 zum Auftakt der »Woche der Brüderlichkeit« sendete. Die Zusammenarbeit von Überlebenden mit Mitläufern oder gar Kollaborateuren des Nationalsozialismus war im Filmgeschäft der Nachkriegszeit nicht außergewöhnlich und ist dennoch beachtenswert. Dazu kamen noch diejenigen, die die Jahre zwischen 1933 und 1945 im Ausland verbracht hatten und nach Kriegsende oder nach Gründung der Bundesrepublik nach Deutschland zurückzugehen hofften. Carl Zuckmayer beispielsweise kehrte aus seinem Exil in den Vereinigten Staaten erstmals im Jahr 1946 nach Deutschland zurück. Wer zurückkam, um im sich wieder erholenden Kulturbetrieb der Nachkriegszeit Fuß zu fassen, musste jedoch bereit sein, mit deutschen Partnern zu kooperieren, die in unterschiedlichem Maße in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen waren. Was womöglich noch schwerer wog, war der Umstand, dass man sich darauf einlassen musste, seine Themen einem deutschen Publikum anzupassen, das bevorzugt leichte Unterhaltung geboten bekommen wollte.31 Und so war auch nur solchen Filmen Erfolg gegönnt, die sich jeglicher offensichtlich politischen Botschaft enthielten und, wenn es um Schuld oder Leid ging, dieses harmo­nisierten 31 Jost Hermand, Der Kalte Krieg in der Literatur. Über die Schwierigkeiten bei der Rück­ eingliederung deutscher Exilautoren und -autorinnen nach 1945, in: Hans-Erich Volkmann (Hg.), Ende des Dritten Reiches  − Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine perspektivische Rückschau, München 1995, 581−605, hier 600.

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und verallgemeinerten: Schuld an der jüdischen Katastrophe sollte, wenn überhaupt, einer bösartigen Elite zugeschrieben werden, die das »einfache Volk« verführt habe. Der Hautpmann von Köpenick entstand im ersten Jahrzehnt nach Kriegsende und damit in einer Umbruchsphase: Die Bundesrepublik war bei seiner Premiere erst wenige Jahre alt. Jüdische Emigranten kehrten zurück, um zum Aufbau einer demokratischen Gesellschaft beizutragen, München und Hamburg gehörten nach der Auflösung der zentralen Filmanstalt UFA nun zu den deutschen Filmstädten. Westdeutschland war bereits ein verlässlicher Partner des westlichen, anti­ kommunistischen Bündnisses im Kalten Krieg, doch die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs waren nicht nur in der Frage der Situation der Displaced­ Persons auf deutschem Boden noch allerorten zu spüren. Die Demokratieerziehung war längst Teil der bundesrepublikanischen Kulturpraxis geworden. Wenn nun Themen wie die Verfolgungserfahrung, Exil und Emigration oder Remigration zuvor geflohener Juden aufgegriffen wurden, so war auffallend, dass dies­ häufig in dem Bemühen stattfand, »jüdische« Spezifika beiseite zu lassen und das aus dem Nationalsozialismus erfolgte Leiden eher zu universalisieren. An der Verfilmung des Hauptmann von Köpenick ist dies in einem winzigen, freilich aus­sagekräftigen Detail auszumachen: Der jüdische Schneider, bei dem Wilhelm Voigt seine Uniform erwirbt, wird auf der Leinwand des Jahres 1956 durch einen sudetendeutschen Vertriebenen ersetzt. Jegliche jüdische Markierung wurde also vermieden, und zugleich eine Identifikationsfigur für die hunderttausenden deutschen Vertriebenen angeboten.32 Aufschlussreich erscheint dabei, dass das wiederkehrende Thema des Heimat­ verlusts, der erzwungenen Grenzgänge im ganz realen territorialen Sinne genauso wie die Frage der persönlichen Zugehörigkeit(en) dabei häufig kombiniert wurde mit einer positiven Hoffnung auf eine grenzenlose Welt ohne Pässe und einem universellen Weltbürgertum. Damit erzählen uns diese Filme also nicht nur etwas über die Erfahrungen der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern sie entwerfen Visionen neuer Formen der Zugehörigkeit, selbst wenn diese sich als utopisch erweisen. Sowohl auf als auch vor der Leinwand stehen diese Filme als Beispiele für die nahezu alltägliche Erfahrung, an Grenzen zu stoßen, diese aber auch zu überwinden. Die vielfachen Querverbindungen, die sich mit Blick auf Gedanken zur Erfahrung der Staatenlosigkeit bei Hannah Arendt genauso wie bei Erich Maria Remarque, bei Carl Zuckmayer genauso wie bei Chief Justice Earl Warren ausmachen lassen, legen nahe, dass sich das individuell-biografische Erlebnis der 32 Auch der Remarque-Roman Liebe deinen Nächsten wurde im Nachkriegsdeutschland vor allem mit Betonung auf die Parallelen zur Situation der aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertriebenen Deutschen rezipiert – Remarques Anklage des Nationalsozialismus spielte nahezu keine Rolle mehr.

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Staatenlosigkeit oder die Begegnung mit Staatenlosen der hier erwähnten Schriftsteller, Philosophen und Juristen in einen kollektiven Erfahrungshaushalt auf beiden Seiten des Atlantik einspeiste. Auf verschiedenen Diskursebenen trugen sie damit alle gleichermaßen zu einer Universalisierung der Verlusterfahrung bei, die auf einer vermeintlich allgemein geteilten Erfahrung beruhte. Diese konnte zugleich als Einladung begriffen werden, der Nachkriegsgesellschaft anzugehören.

POLITIK Klasse · Nation · Exil · Zugehörigkeit

Jan Gerber

1844, Rue Vaneau, Paris Karl Marx und die Entdeckung der Klasse

Im Februar 1945 fasste Bertolt Brecht, den es bei seiner Flucht vor dem National­ sozialismus bis an die amerikanische Pazifikküste verschlagen hatte, den Entschluss, das Kommunistische Manifest neu zu schreiben. Dieser wohl bedeutendste Text der internationalen Arbeiterbewegung, den Karl Marx und Friedrich Engels knapp hundert Jahre zuvor im Auftrag des Bundes der Kommunisten verfasst hatten, sollte in die Form eines Lehrgedichts gebracht werden. Nur wenige Tage zuvor hatten Soldaten der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee die letzten Insassen des Konzentrationslagers Auschwitz befreit. Es ist nicht überliefert, ob Brecht die Tagesberichte der von Marschall Iwan Konew kommandierten Truppen verfolgte. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass er mit seiner Entscheidung, das Manifest neu zu schreiben, auf die Erfahrung reagierte, für die der Begriff des gerade befreiten Lagers bald zur – wenn auch ungenauen – Chiffre wurde. In Pacific Palisades, wo der Dichter in der unmittelbaren Nachbarschaft Hanns Eislers, Max Horkheimers, Lion Feuchtwangers und Theodor  W. Adornos wohnte, hatte sich seit Anfang der 1940er Jahre eine schwere Depression ausgebreitet.1 Die Nachrichten aus Europa, die nach und nach an der amerikanischen Westküste eintrafen, betrafen nicht nur enge Freunde und Verwandte. Durch sie wurde zugleich das Weltbild derjenigen radikal infragegestellt, die sich auf die Traditionen der Arbeiterbewegung beriefen. Die nationalsozialistische Revolution, die Integration der deutschen Arbeiterschaft in den Mordapparat, vor allem aber das Ausmaß der Verbrechen demontierten jene zukunftsfrohen Erwartungen, die sich im Marx’schen Begriff des Proletariats verdichteten: Die Rede von der Klasse und ihrem Kampf war untrennbar mit dem Glauben an einen logisch-vernünftigen Gang der Geschichte verbunden. Ein Nachbar Brechts, Friedrich Pollock, der engste Vertraute Max Horkheimers, hatte dementsprechend bereits im Dezember 1941 auf einem Thesenpapier, das er während eines Aufenthalts in New York anfertigte, notiert: »In den Marxschen



1 Vgl. Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. 2003, 195.

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Begriffen stimmt etwas nicht.«2 Er ergänzte, dass man heraus­finden müsse, »was das ist«. Die von den Diskussionen in Pacific Palisades überlieferten Protokolle und die Notizen Brechts zeigen zwar, dass der Dichter der Infragestellung der Marx’schen Kategorien durch Pollock skeptisch gegenüberstand.3 Dennoch blieb er weder unbeeinflusst von diesen Gesprächsrunden noch von den Nachrichten, die ihnen zugrunde lagen. Schon 1942 formulierte er zaghafte Zweifel an der bisherigen Klassenkampfrhetorik der Arbeiterbewegung: »[D]er Begriff der Klasse ist, vielleicht, weil er uns vorliegt in der Konzeption des vorigen Jahrhunderts, heute viel zu mechanisch im Gebrauch.«4 Sein Entschluss, das Kommunistische Manifest zu aktualisieren und in Gedichtform zu bringen, war Ausdruck dieser Zweifel. Er setzte sich an die Nachdichtung, weil er ahnte, dass die »Bibel der Arbeiterbewegung«, wie der schmale Band gelegentlich genannt wurde, an Ausstrahlungs- und Geltungskraft verloren hatte.5 Brecht gelang es nicht, sein Vorhaben zu realisieren. Zwar griff er die Idee, das Manifest zu erneuern, bis zu seinem Lebensende immer wieder auf.6 Mehr als ein paar Verse kamen jedoch nicht zustande. Der Grund hierfür mag im Zufall oder in Brechts fehlender Zeit zu suchen sein: Er erlag bereits im August 1956 einem Herzinfarkt. Vielleicht scheiterte das Vorhaben jedoch auch, weil es nach den Maßgaben der von Brecht propagierten Kunst, die stets auch Reflexion auf historische Erfahrung sein sollte, nicht umzusetzen war. Zumindest waren die leninistischen Kategorien, um die der Dichter die Ursprungsfassung des Manifests ergänzen wollte, nicht im Geringsten dazu geeignet, der Erfahrung des Nationalsozialismus und des Holocaust künstlerisch Ausdruck zu verleihen. Brechts Freund Hanns Eisler, mit dem er Anfang der 1930er Jahre bereits an dem Lehrstück Die Maßnahme gearbeitet hatte, riet jedenfalls sowohl aus künstlerischen als auch aus inhaltlichen Gründen ab. Die Voraussetzung dafür, das K ­ ommunistische­ Manifest verstehen zu können, so rekapitulierte der Komponist seine Einwände viele Jahre später, sei der »praktische Klassenkampf«. Der aber, so ergänzte er, habe in Nazideutschland nicht stattgefunden.7 Ausgehend von der historischen Erfahrung, dass die zukunftsfrohen Begriffe »Klasse« und »Proletariat« vor der Wirklichkeit des Nationalsozialismus versag 2 Friedrich Pollock, Die bessere Ordnung, in: Sans Phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik, H. 5, Herbst 2014, 3 f., hier 3. Zu diesem Thesenpapier vgl. insgesamt die kenntnisreiche Ein­ führung von Philipp Lenhardt, »In den Marxschen Begriffen stimmt etwas nicht«. Friedrich Pollock und der Anfang der Kritischen Theorie, in: ebd., 5–16. 3 Vgl. Dirk Braunstein, Adornos Kritik der politischen Ökonomie, Bielefeld 2011, 152. 4 Zit. nach Jan Knopf, Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie, München 2012, 35. 5 Zu Brechts Nachdichtung vgl. insgesamt Darko Suvin, On Brecht’s »The Manifesto«: Comments for Readers in English, in: Socialism and Democracy 16 (2002), H. 1, 11–31. 6 Vgl. ebd. 7 Hanns Eisler, Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge, Leipzig 1975, 118.

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ten, soll im Folgenden Friedrich Pollocks Frage aufgegriffen werden, was in den Kategorien der Arbeiterbewegung nicht »stimmt«. Zu diesem Zweck soll in die Entstehungszeit der Marx’schen Topoi zurückgegangen werden. Denn der Nationalsozialismus machte zwar letztgültig deutlich, dass die Begriffe Klasse und Proletariat nicht die universelle Geltungskraft besaßen, von der die Arbeiter­ bewegung stets ausgegangen war. Unzulänglichkeiten waren ihnen indes von Beginn an eingeschrieben: Der Anfang ist stets über das Resultat vermittelt. Zudem treten die stillschweigenden Voraussetzungen einer Theorie in ihrer Sattelzeit meist weitaus offener zutage als in ihrer Hoch- oder Spätphase, wo ihre Ursprünge oft bereits vergessen sind. Diese Ursprünge lassen sich räumlich und zeitlich exakt bestimmen. So fand Marx’ Hinwendung zum Klassenkampf und zum Proletariat im Verlauf des Jahres 1844, während seines ersten Paris-Aufenthalts, statt. In einem der letzten Briefe, die er vor seiner Übersiedlung nach Frankreich schrieb, hatte er noch davon gesprochen, dass in seinen Kreisen eine erhebliche Konfusion über das gesellschaftspolitische »Wohin« bestehe: »Nicht nur, dass eine allgemeine Anarchie unter den Reformern ausgebrochen ist, so wird jeder sich selbst gestehen müssen, dass er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden soll.«8 In Paris, wo Marx zwischen Oktober 1843 und Januar 1845 in der Rue Vaneau im heutigen 7.  Arrondissement lebte, legte sich zumindest seine eigene Orientierungs­ losigkeit. Als er Ende 1847, zwei Jahre nach seiner Ausweisung aus Frankreich, in Brüssel gemeinsam mit Friedrich Engels die Arbeit am Kommunistischen Manifest aufnahm, war das gemeinsame Weltbild bereits gefestigt. Im Manifest wurden die in Paris entstandenen Gedanken nur noch schriftlich fixiert.

Revolution Als Karl Marx nach dem Verbot der Rheinischen Zeitung im Oktober 1843 im Alter von 25 Jahren nach Paris übersiedelte, war er weder Klassenkämpfer noch Kommunist. Im Gegenteil: Der Begriff der Klasse hatte bis dahin an keiner Stelle seines Werkes Erwähnung gefunden. Gegen die Rede vom Kommunismus, die durch Étienne Cabets Voyage en Icarie (1840) eine gewisse Popularität erlangt hatte, hatte er in seiner Funktion als Chefredakteur der Rheinischen Zeitung in Köln sogar eingehend polemisiert. In einer Auseinandersetzung mit der Augsburger Allgemeinen, die seinerzeit als eines der besten Blätter Europas galt, hatte Marx 1842 erklärt, die Ideen des Kommunismus einer »gründlichen Kritik« unterziehen zu wollen. Auf Versuche, diese Ideen in die Tat umzusetzen, so ergänzte 8 [Karl Marx], Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, M[arx] an R[uge], Kreuznach, im September 1843, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (nachfolgend: MEW), Bd. 1, Berlin 1956 ff., 343–346, hier 344.

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der Mann, dessen Name bald wie kein anderer mit dem Kommunismus gleichgesetzt wurde, sollte mit Kanonen geantwortet werden.9 Zwar war Marx während seiner Studienzeit in Berlin, wo er sich vom raufenden Korpsstudenten in einen philosophierenden Workaholic verwandelt hatte, zu der Überzeugung gelangt, dass die Welt falsch eingerichtet sei: Vom Kantianismus kommend, hatte er sich zunächst Hegel zugewandt, um sich schließlich auch von ihm zu distan­ zieren. Denn anders als vom zeitweiligen preußischen Staatsphilosophen angenommen, so konstatierte er, sei das Wirkliche nicht vernünftig, sondern das Vernünftige müsse erst wirklich werden.10 In der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, seinem letzten ausschließlich in Deutschland entstandenen Manuskript, erklärte Marx, dass die Entzweiung des Menschen in einen dem Allgemeinwohl verpflichteten Citoyen und einen am Eigennutz orientierten Bourgeois in einer »wahren Demokratie« aufgehoben werden könne:11 »Die Demokratie ist das aufgelöste Rätsel aller Verfassungen.«12 Die wenigen politischen und sozialen Forderungen, die Marx ohne Rückgriff auf die Hegel’sche Begriffsapparatur formulierte, waren bis zu seiner Übersiedlung nach Frankreich jedoch ebenso spärlich wie unpräzise. Der Gedanke des Freihandels sollte mit den Menschenrechten und dem allgemeinen Wahlrecht verbunden werden. Betrachtet mit den Kategorien der Zeit, war der Karl Marx des Sommers 1843 mit anderen Worten ein Radikaldemokrat mit Restsympathien für den Liberalismus. Für die »Selbstverständigung«, von der Marx sicher auch aufgrund der Widersprüche sprach, die sich aus diesem Nebeneinander ergaben, war Paris der richtige Ort.13 Die französische Metropole war die »Hauptstadt der neuen Welt«, wie er im September 1843 an Arnold Ruge schrieb.14 Der 15 Jahre ältere P ­ ublizist hatte Marx dazu bewegt, nicht wie ursprünglich geplant nach Straßburg oder Brüssel, sondern nach Paris zu emigrieren, um dort gemeinsam mit ihm die Deutsch-Französischen Jahrbücher herauszugeben. Die von Ruge seit 1841 in Dresden edierten Deutschen Jahrbücher (vorher: Hallische Jahrbücher), das wichtigste Sprachrohr der Junghegelianer, waren zuvor auf Druck der preußischen Regierung eingestellt worden. Paris beeindruckte in dieser Zeit, in der in Berlin nur etwa 300 000 Menschen lebten, nicht nur, weil es die damals kaum vorstellbare Millionengrenze fast überschritten hatte, sondern auch aufgrund des regen kulturellen Lebens. Ohne das Paris der Julimonarchie wären die Werke Honoré de Balzacs, George Sands, Alexandre Dumas’ oder Victor Hugos nicht denkbar 9 Karl Marx, Der Kommunismus und die Augsburger »Allgemeine Zeitung«, in: MEW, Bd. 1, 105–108, hier 108. 10 Ders., Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW, Bd. 1, 201–333, hier 228. 11 Ebd., 232. 12 Ebd., 290 (Hervorhebung im Original). 13 [Marx], Briefe aus den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, 346. 14 Ebd., 343.

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gewesen. Zudem war die Stadt das Eldorado der Verbannten und Revolutionäre. Aus den Imperien der Romanows, der Habsburger und aus Preußen kamen Monat für Monat Umstürzler, rebellische Philosophen und Künstler an die Seine, um der Verhaftung oder der Zensur in ihren Heimatländern zu entgehen. Unter ihnen befanden sich so schillernde Persönlichkeiten wie Ludwig Börne, Joachim Lelewel, Heinrich Heine und Michail Bakunin. Der Grund der Anziehungskraft von Paris war nicht zuletzt das politische Klima der Stadt. Während in den meisten europäischen Ländern seit dem Wiener Kongress die Restauration vorangetrieben wurde, hatte der »Bürgerkönig« Louis-Philippe I. viele Forderungen der liberalen Bourgeoisie erfüllt. Diese hatte ihm 1830 auf den Thron verholfen und war die soziale Säule der Monarchie. Auch wenn der Regent bald auf Distanz zu den bürgerlichen Garanten seiner Herrschaft ging und sich konservativen Positionen annäherte, konnten die französischen Zensurbestimmungen weiterhin als locker bezeichnet werden. Die politische Toleranz war relativ groß. »Gottlob! durch meine Fenster bricht / Französisch heitres Tageslicht«, schrieb der bald eng mit Marx befreundete Heinrich Heine 1844 in seinen berühmten »Nachtgedanken«.15 Vor allem aber war die französische Hauptstadt der Erinnerungsort der Re­ volution. Eric Hazan kommt in seiner Studie Die Erfindung von Paris zu dem Urteil, dass die Liste der Revolutionen, Aufstände und Demonstrationen, die in der französischen Metropole des 19. Jahrhunderts stattfanden, so lang sei, »dass wohl keine andere Hauptstadt vergleichbares vorzuweisen« habe.16 Sie umfasst bedeutende Ereignisse wie die Julirevolution von 1830 ebenso wie inzwischen weithin unbekannte Erhebungen. Bei einer Revolte 1832 waren zum ersten Mal Kanonen gegen die aufständische Bevölkerung eingesetzt worden17 – eine Praxis, die bald in ganz Europa Schule machte und wohl auch die Anregung für Marx’ Plädoyer für das Niederkartätschen aufständischer Kommunisten von 1842 lieferte. Im selben Jahr wurde der Legende nach erstmals die rote Fahne auf der Seite der Revolution verwendet.18 Dieser revolutionäre Eifer fand seine Entsprechung in umstürzlerischen Theorien und Programmen. Paris war nicht nur die Hauptstadt der Revolution, sondern auch das Zentrum sozialistischen und kommunistischen Denkens. Die Mehrheit der sogenannten Frühsozialisten, deren Werk Lenin später als eine der drei Quellen des Marxismus bezeichnete,19 wirkte in der Seinemetropole. Das Schaffen Henri de Saint-Simons, Charles Fouriers, Auguste Blanquis, Louis 15 Heinrich Heine, Nachtgedanken, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 2, Hamburg 1983, 130. 16 Eric Hazan, Die Erfindung von Paris. Kein Schritt ist vergebens, Zürich 2006, 380. 17 Ebd., 392. 18 Ebd., 389. 19 Wladimir Iljitsch Lenin, Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus [1913], in: ders., Werke, Bd. 19, Berlin 1961 ff., 3–9.

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Blancs, Pierre-Joseph Proudhons und vieler anderer sozialistischer Theoretiker, Rebellen und Aufrührer war fast durchweg auf Frankreich bezogen. Diese Konzentration revolutionärer Theorien in Paris gab letztlich auch den zentralen Anstoß für die Gründung der Deutsch-Französischen Jahrbücher, in denen Angehörige beider Nationen gleichermaßen zu Wort kommen sollten. Die Herausgeber strebten eine »französisch-deutsche wissenschaftliche Alliance« an,20 wie sie Heinrich Heine in seiner Schrift über die Geschichte der Religion und Philo­sophie in Deutschland (1834) und Ludwig Feuerbach in seinen Vorläufigen Thesen zu einer Reform der Philosophie (1842) skizziert hatten. Schon bevor Marx in Paris ankam, war Arnold Ruge, der bereits im August 1843 eingetroffen war, mit Étienne Cabet, Pierre-Joseph Proudhon, Louis Blanc, Victor Considerant und anderen in Kontakt getreten.21 Der zentrale historische Bezugspunkt all dieser Autoren waren die Ereignisse von 1789. Die Frühsozialisten des 19. Jahrhunderts verstanden ihre Handlungen in der Regel entweder, wie Blanqui, der Prophet des Aufstands, als Fortsetzung der Großen Revolution, von der die gesamte bekannte Welt in Aufruhr versetzt worden war. Oder sie wollten einen gewaltsamen Umsturz aufgrund der Erfahrung der Jakobinerherrschaft vermeiden und entwarfen wie Fourier Pläne für Musterkolonien, die ein friedliches Hinüberwachsen in den Sozialismus ermöglichen sollten. Marx hatte bereits kurz vor seiner Übersiedlung nach Paris, während eines mehrmonatigen Aufenthalts in Kreuznach 1843, mit dem Studium der Historien- und Memoirenliteratur über die Französische Revolution begonnen. Er war in den Kurort gereist, um seine Jugendliebe Jenny von Westphalen zu heiraten. Sie war nach dem Tod des Vaters gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder von Trier, wo sich sowohl ihre als auch Marx’ Vorfahren niedergelassen hatten, dorthin übergesiedelt. Marx’ Lektüre der französischen Revolutionsliteratur fiel unmittelbar mit der Arbeit an seinem Text »Zur Judenfrage« zusammen. Zwar erschien dieser Aufsatz erst Anfang 1844 in Paris, in der ersten (und letzten) Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher. Er war jedoch in Deutschland konzipiert und begonnen worden. Die zeitliche Koinzidenz von Marx’ Auseinandersetzung mit der Frage der jüdischen Emanzipation und der Französischen Revolution war kein Zufall: Beides stand in einem unmittelbaren Zusammenhang. Marx’ umstrittener Aufsatz war als Gegenrede zu zwei Abhandlungen von Bruno Bauer, einem der namhaftesten Junghegelianer, konzipiert, in denen dieser gegen die Gleichheit der Juden vor 20 Karl Marx an Ludwig Feuerbach, Kreuznach, 3. Oktober 1843, in: MEW, Bd. 27, 419–421, hier 419. 21 Jacques Grandjonc, Zu Marx’ Aufenthalt in Paris: 11. Oktober 1843 – 1. Februar 1845, in: Marion Barzen u. a., Studien zu Marx’ erstem Paris-Aufenthalt und zur Entstehung der »Deutschen Ideologie«, Trier 1990, 163–212, hier 168.

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dem Gesetz Stellung bezogen hatte.22 Da sie aufgrund ihrer Religion noch nicht zur selben sittlichen Reife wie Christen gelangt seien, so Bauer, käme ihre Emanzipation einem ungerechtfertigten Privileg gleich.23 Zwar griff Marx im zweiten Teil seines Textes ebenfalls einige der antijüdischen Klischees der Zeit auf.24 Im Unterschied zu Bauer sprach er sich jedoch ohne Einschränkung für die rechtliche Gleichstellung der Juden aus. Die Argumentation seines einstigen Mentors wies er als »zu abstrakt« zurück und versuchte, seine eigenen Gedankengänge »innerhalb konkreter Zustände« zu entwickeln, wie er es kurz zuvor zu seiner Maxime erklärt hatte.25 Diesen historischen Bezugspunkt fand Marx in der Fran­ zösischen Revolution. In Anlehnung an seine Kritik der Spaltung des Menschen in einen Markt- und einen Staatsbürger konstatierte er, dass die Revolution auf halbem Weg stehen geblieben sei. Sie habe den Juden ebenso wie allen anderen Menschen zwar die politische, sprich: die staatsbürgerliche Emanzipation gebracht; die Religion sei in Frankreich (und in den Vereinigten Staaten) zu einer »rein individuellen Angelegenheit« geworden.26 Allerdings sei die menschliche Emanzipation ausgeblieben. Mit diesem Hinweis auf die unvollendete Befreiung machte Marx deutlich, dass es ihm in seinem Aufsatz nicht allein um die Emanzipation der Juden, sondern ganz allgemein um die Forderung nach Gleichheit, die sich in der Französischen Revolution Geltung verschafft hatte, die Konfessionalisierung der Religionen und, unmittelbar damit verbunden, den Charakter des modernen Staates ging. Er stellte, wie Leo Kofler mehr als hundert Jahre später konstatierte, weniger die »Juden-« als die »Gesellschaftsfrage«.27 Dennoch gab es gute Gründe dafür, dass Marx diese Diskussion am Beispiel der Forderung nach Gleichberechtigung der Juden führte. Denn die »Grenze der politischen Emanzipation«,28 von der er an gleicher Stelle sprach, wurde nicht zuletzt in den Auseinandersetzungen deutlich, die um diese Frage geführt wurden. So war die Religion mit der Französischen Revolution zwar, wie Marx schrieb, 22 Bruno Bauer, Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu sein, in: Georg­ Herwegh (Hg.), Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz. Erster Theil, Zürich/Winterthur 1843, ­56–71; ders., Die Judenfrage, Braunschweig 1843. 23 Ebd., 1–3. 24 Er bezeichnete den Schacher als »weltliche[n] Kultus des Juden«, ergänzte jedoch, dass sich dieser Kultus längst verallgemeinert habe. Karl Marx, Zur Judenfrage, in: MEW, Bd.  2, ­347–377, hier 372. Zur Debatte um den Aufsatz vgl. Thomas Haury, Zur Judenfrage (1843/44). Bruno Bauer und Karl Marx. Eine Textgeschichte, in: Nicolas Berg (Hg.), Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen, Leipzig 2011, 141–179. 25 Karl Marx an Arnold Ruge, Köln, 13. März [1843], in: MEW, Bd. 27, 416–418, hier 418; Karl Marx an Dagobert Oppenheim, [Bonn, um den 25. August 1842], in: ebd., 409 f., hier 409. 26 Marx, Zur Judenfrage, 356. 27 Leo Kofler, Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Versuch einer »verstehenden« Deutung der Neuzeit nach dem historischen Materialismus, Halle (Saale) 1948, 477. Für den Hinweis auf Kofler sei Stefan Hofmann (Leipzig) gedankt. 28 Marx, Zur Judenfrage, 356.

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zur »Privatschrulle« geworden.29 Die gesellschaftliche Ausgrenzung der Juden bestand jedoch fort. Mehr noch: An ihrem Beispiel zeigte sich, wie prekär selbst die politische Emanzipation war. Das wusste Marx auch aus eigener Erfahrung. So hatten die französischen Revolutionstruppen, die 1794 in Trier einmarschierten, den rheinischen Juden die rechtliche Gleichstellung gebracht. Die Segnungen der Revolution waren jedoch nicht von langer Dauer. Der Staatsstreich Napoleons, der seine Bekräftigung 1804 in der Kaiserkrönung fand, wurde nicht zuletzt in der »jüdischen Frage« ratifiziert.30 Mit dem als »Décret infâme« bekannt gewordenen Gesetzesakt wurde die in der Revolution verkündete Gleichberechtigung aller Bürger im März 1808 mittels Diskriminierung der Juden zurückgenommen. Auch nachdem das französische Département de la Sarre, zu dem Trier gehörte, 1815 an Preußen gefallen war, blieb das napoleonische Recht in Kraft. Da zugleich das preußische Beamtenrecht eingeführt wurde, verschlechterten sich die Berufschancen für Juden sogar. Sie durften nicht mehr zu Staatsämtern zugelassen werden, zu denen auch die Anwaltstätigkeit gezählt wurde. Marx’ Vater Heinrich (Heschel), der unter napoleonischer Herrschaft zum Juristen ausgebildet worden war, dürfte um 1820 nicht zuletzt deshalb zum Protestantismus konvertiert sein, um seinen Beruf weiterhin ausüben zu können. 1824 wurden auch Karl Marx und seine Geschwister getauft. Erst 19 Jahre später, als Marx im Sommer 1843 in Kreuznach seine Emigration nach Paris vorbereitete, stimmte die Mehrheit des Rheinischen ProvinzialLandtags für die Abschaffung des »Décret infâme«, das in Frankreich schon 1818 außer Kraft gesetzt worden war.31 Sowohl die Aufsätze Bruno Bauers als auch Marx’ Ausführungen über die Emanzipation der Juden waren letztlich Reaktionen auf die kontroversen Debatten, die bereits im Vorfeld der Plenarsitzungen geführt worden waren. Mit seinen in Kreuznach begonnenen Studien über die Französische Revolution wollte Marx schließlich genau jener Frage nachgehen, die er in seinem Artikel über die »Judenfrage« aufgeworfen hatte: Warum hatten die Ereignisse nach dem Sturm auf die Bastille nur die »halbe«, die politische Emanzipation gebracht?

Proletariat In Paris setzte Marx seine Studien über die Französische Revolution fort. Er plante, ein Buch über die Geschichte des Konvents der Jahre 1792 bis 1795, die gesetzgebende Versammlung des revolutionären Frankreichs, zu schreiben. Diese 29 Ebd. 30 Simon Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. 1, Berlin 1920, 150. 31 Vgl. insgesamt Dieter Kastner (Bearb.), Der Rheinische Provinziallandtag und die Emanzipation der Juden im Rheinland, 1825–1845. Eine Dokumentation, 2 Bde., Köln/Bonn 1989.

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Schrift gehört zu den zahlreichen Vorhaben, die Marx nie realisierte. Eine Antwort auf die Frage, warum die Französische Revolution unvollendet geblieben sei, gab er indes bereits in seinem ersten vollständig in Paris verfassten Text. In der separat entstandenen und ebenso publizierten Einleitung zu dem noch in Kreuznach niedergeschriebenen, erst 1927 aus dem Nachlass veröffentlichten Manuskript Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie sprach Marx erstmals von jener Kraft, die er fortan als Motor der Geschichte betrachtete. Auf den letzten Seiten des Textes, der gemeinsam mit »Zur Judenfrage« in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern abgedruckt wurde, erschienen plötzlich die Klassen: Marx’ erster in Frankreich verfasster Text war damit zugleich sein erster klassenkämpferischer. Eine Revolution, so führte er den Begriff der Klasse ein, bleibe dann unvollständig, wenn »eine bestimmte Klasse von ihrer besondern Situation aus die allgemeine Emanzipation der Gesellschaft« unternehme.32 Soll heißen: Die speziellen Interessen einer Klasse erscheinen als allgemeine Interessen, wenn sie sich zumindest teilweise mit diesen allgemeinen Interessen überschneiden. Dies sei allerdings nur möglich, so Marx, wenn »umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft in einer andern Klasse konzentriert« seien.33 Diese Aussagen waren deutlich von den französischen Verhältnissen geprägt, die Marx nicht nur als Muster, sondern als Ursprung der kommenden Revolutionen betrachtete: In einer von Heine geborgten Formulierung heißt es, dass der »deutsche Auferstehungstag« durch das »Schmettern des gallischen Hahns« verkündet werde.34 Tatsächlich konnte sich die französische Bourgeoisie in ihrem Aufbegehren gegen die Aristokratie zwischen 1789 und 1830 als Repräsentantin aller anderen Klassen und Schichten begreifen, weil die Unzufriedenheit mit der Bourbonenherrschaft in Frankreich endemisch geworden war. Auch aus diesem Grund entsprach ihre Forderung nach der Abschaffung der Adels-Privilegien dem Interesse vieler anderer Bevölkerungsgruppen. Das Proletariat, von dem Marx nur wenige Seiten später sprach, erschien ihm hingegen als die Kraft, die diesen Partikularismus überwinden werde: Es handele sich, so schrieb er in Vorwegnahme der berühmten Formulierungen aus dem Kommunistischen Manifest, um eine »Klasse der bürgerlichen Gesellschaft«, die schon »keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft« mehr sei.35 Da sein Leiden universal sei, so argumentierte Marx weiter, besitze es selbst »universellen Charakter«. Aus diesen Gründen könne sich das Proletariat nicht befreien, ohne alle anderen Klassen und Schichten der Gesellschaft zu befreien. Damit hatte Marx den konkreten Träger jener menschlichen Emanzipation gefunden, von der er 32 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, 378–391, hier 388 (Hervorhebung im Original). 33 Ebd. 34 Ebd., 391. Zu Heine vgl. die zitierte Passage in Jörg Aufenanger, Heinrich Heine in Paris, München 2005, 14. 35 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, 390.

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in »Zur Judenfrage« kurz zuvor noch abstrakt gesprochen hatte. Im Unterschied zur bürgerlichen schien die proletarische Revolution nicht nur die Religionen – den Katholizismus, den Protestantismus, das Judentum – zur Privatsache zu machen. Der Kampf des Proletariats schien zugleich die Entzweiung des Menschen in eine öffentliche und eine Privatperson, die Abschaffung der fortbestehenden gesellschaftlichen Ungleichheit, aber auch der Diskriminierung der Herkunft wegen zu beenden. Mit diesem philosophischen Schritt von der »jüdischen« zur sozialen Frage lieferte Marx insofern die Blaupause für das Verhalten ganzer Generationen junger, unzufriedener Juden, die den Anforderungen der Tradition ebenso wie judenfeindlichen und antisemitischen Angriffen entgehen wollten: Das Proletariat schien die Möglichkeit zu bieten, die Herkunft gegen die Zukunft einzutauschen.36 Dass Marx die Klassen und das Proletariat noch nicht in Berlin, Köln oder Kreuznach in seine Theorie integrierte, ist wenig verwunderlich. Zwar hatten beide Begriffe auch in Deutschland eine gewisse Verbreitung gefunden.37 Dennoch war das Proletariat, das Marx und Engels im Kommunistischen Manifest als »Klasse der modernen Arbeiter« bezeichneten,38 hier erst in Herausbildung begriffen. In den Städten, in denen Marx bis dahin gelebt hatte, existierten allenfalls Vorformen der neuen Arbeiterschaft. Sein Geburtsort Trier war von Land­ wirtschaft und Handel geprägt. Die Residenzstadt Berlin, wo er von 1836 bis 1841 studiert hatte, wurde vom preußischen Hof und den dazugehörigen Beamten dominiert. Lediglich in einigen Randbezirken bildeten sich zaghaft Frühformen einer modernen Industriearbeiterschaft heraus. Köln wiederum, wo Marx 1842 und 1843 die Rheinische Zeitung leitete, war in erster Linie eine Handelsstadt. Der nur zögerlichen politischen und sozialen Wandlung in Deutschland entsprach auch die Verwendung der Begriffe »Klasse« und »Proletariat«. Klasse war hier bis in die 1840er Jahre hinein in der Regel ein Synonym für Stand.39 Der Neologismus »Proletariat« hingegen wurde entweder in derselben Bedeutung wie der ältere Begriff des Pöbels verwendet, mit dem spätestens seit dem 16.  Jahrhundert die unteren Schichten umschrieben wurden: Er brachte damit keine neue Entwicklung zum Ausdruck, sondern eine Kontinuität.40 Oder er wurde in Ver 36 Siehe hierzu Jan Gerber, Klasse und Ethnie. Franz Kafkas Rückkehr nach Prag, in: Arndt Engelhardt/Susanne Zepp (Hgg.), Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur, Leipzig 2015, 221–243. 37 Rudolf Walter, Art. »Stand, Klasse«, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, 156–284, hier 229. Vgl. auch Werner Conze, Art. »Proletariat, Pöbel, Pauperismus«, in: ebd., Bd. 5, Stuttgart 1984, 27–68. 38 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd.  4, ­459–493, hier 468. 39 Walter, Art. »Stand, Klasse«, 261. 40 Conze, Art. »Proletariat, Pöbel, Pauperismus«, 41.

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bindung mit dem in Deutschland weitgehend unbekannten Phänomen des Pauperismus, der massenhaften Verarmung ganzer Bevölkerungsschichten, benutzt: »Proletariat« war damit ein vor allem auf die französische und englische Situation bezogener Begriff.41 In Frankreich hatten die sich rascher vollziehenden sozialen und politischen Umwälzungen hingegen neue Ordnungskategorien erforderlich gemacht. Der Begriff der Klasse war schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als sich der Aufstieg des Bürgertums und der soziale Machtverlust des Adels nur noch schwerlich mit den Formeln der Dreiständelehre fassen ließen, zu einem Gegenbegriff zu Stand geworden.42 Nach dem Untergang des Ancien Régime trat er zusehends an dessen Stelle. Mit ihm wurden die gesellschaftlichen Unterschiede benannt, die nach der Auflösung der Ständeordnung nicht mehr göttlich, sondern sozioökonomisch vermittelt waren. Zwar war auch im Frankreich der 1840er Jahre keineswegs »alles Ständische und Stehende verdampft«, wie Marx und Engels bald schrieben:43 Trotz der kaum zu übersehenden gesellschaftlichen Beschleunigung überlagerten sich vorbürgerliche und kapitalistische Produk­ tionsweisen.44 Eine allmähliche Übertragung der alten Begrifflichkeiten auf die neue Situation oder ihre Anpassung an die veränderten Gegebenheiten, wie es in den Jahrhunderten zuvor oft üblich gewesen war, scheint dennoch kaum möglich gewesen zu sein: Die Autorität des Ancien Régime war so untergraben, dass auch seine Begriffe diskreditiert waren. In den Dunstkreis der neuen Topoi gehörte auch der Begriff des Proletariats. Ebenso wie mit der Rede von der Klasse wurde in Frankreich auch mit diesem Begriff einer veränderten politischen und sozialen Realität Rechnung getragen. Insbesondere die Anhänger Henri de Saint-Simons trugen zu seiner Verbreitung bei.45 Der Saint-Simonismus, so konstatierte Lorenz von Stein Ende der 1840er Jahre, war der »erste Ausdruck des Proletariats«.46 Aber auch diejenigen, die in Frankreich als Proletarier bezeichnet wurden, hatten nur wenig mit jenen »Industriesoldaten« zu tun, die im Kommunistischen Manifest beschrieben werden.47 Sozialhistorische Untersuchungen haben gezeigt, dass die französischen Arbeiter fast bis ins 20.  Jahrhundert hinein nicht nur kein Anhängsel jener­

41 Ebd., 40. 42 Hierzu und zum Folgenden Walter, Art. »Stand, Klasse«, 231–234. 43 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 465. 44 Dirk Blasius, Lorenz von Stein als Geschichtsdenker, in: ders./Eckart Pankoke, Lorenz von Stein. Geschichts- und gesellschaftswissenschaftliche Perspektiven, Darmstadt 1977, 3–76, hier 14 f.; Heinz-Gerhard Haupt, Nationalismus und Demokratie. Zur Geschichte der Bourgeoisie im Frankreich der Restauration, Frankfurt a. M. 1974, 86–89. 45 Conze, Art. »Proletariat, Pöbel, Pauperismus«, 38. 46 Zit. nach ebd., 38. 47 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 469.

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»großen Industrie« waren, von der dort die Rede ist.48 Abgesehen von Ausnahmen wie der Eisengießerei Aaron Manbys oder dem Stahlwerk Adolphe und ­Eugène Scheiders in Le Creusot gab es diese Großbetriebe in Frankreich ohnehin nicht. Die französischen Produktionsstätten besaßen bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts hinein eher Manufaktur- als Fabrikcharakter.49 Noch 1860 hatten mehr als sechzig Prozent der Pariser Werkstätten weniger als zwei, mehr als dreißig Prozent weniger als zehn Mitarbeiter.50 Ein nicht unerheblicher Teil der gesellschaftlichen Produktion fand zudem in Heimarbeit statt.51 Auch dieser Umstand trug dazu bei, dass die Arbeiter nicht sämtlicher Produktionsmittel beraubt waren, wie es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest konstatierten: Sie besaßen häufig mehr als nur die Ware Arbeitskraft.52 Oftmals waren sie eher Handwerker und verfügten insofern zumindest teilweise über das berühmte Privateigentum an Produktionsmitteln. Diese sozioökonomischen Strukturen spiegelten sich noch in den revolutionären Vereinigungen wider, mit denen Marx in Paris und später in Brüssel in Verbindung stand. Ihre Mitgliedschaft bestand oft weniger aus den vermeintlichen Boten der neuen Gesellschaft, der Industriearbeiterschaft, sondern aus denen, die neben dem Adel in gewisser Weise als letzte Repräsentanten der ständischen Ordnung begriffen werden können: Handwerksgesellen. Der Begriff des Proletariats war im Frankreich der 1840er Jahre damit vor allem auf jene Paupers bezogen, die infolge des Bevölkerungswachstums und der Missernten in den größeren Städten lebten, aufgrund des geringen Anstiegs der Produktion aber nur bedingt für ihr eigenes Auskommen sorgen konnten. In Marx’ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie finden sich indes keinerlei Hinweise auf diesen Umstand. Auch hier ist das Proletariat noch nicht die Industriearbeiterschaft, von der im Kommunistischen Manifest die Rede ist. Recht eigentlich gab Marx gar keine Antwort auf die Frage, wer oder was das Proletariat überhaupt sei. Die Verweise auf die neue Klasse sind nicht nur äußerst kurz – sie wird überhaupt erst in den letzten Abschnitten des 15-seitigen Textes eingeführt. Marx’ Ausführungen kommen zugleich ohne jede Empirie aus. Die detailgetreuen Beschreibungen der neuen Industriearbeiterschaft, die sich wenige Jahre später im Kommunistischen Manifest fanden, stammten nicht aus Marx’ zeitgenössischem Erfahrungsraum. Sie gehen stattdessen auf Friedrich Engels zurück, dem Marx nur wenige Monate nach der Fertigstellung der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie in Paris begegnete. En 48 Ebd., 463 f., 469, 471 f., 474, 478, 484. 49 Heinz-Gerhard Haupt, Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt a. M. 1989, 12, 196. 50 Ebd., 196. 51 Ebd., 84. 52 Ebd., 43–46.

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gels hatte zwei Aufsätze für die Deutsch-Französischen Jahrbücher verfasst und wollte nun ihren Herausgeber treffen.53 Im Gepäck hatte er die Pläne für seine Studie Die Lage der arbeitenden Klasse in England, die er im Herbst 1844 niederschrieb.54 In den »zehn bierselige[n] Tage[n]«,55 die Marx und Engels zuvor in der Rue V ­ aneau und den angrenzenden Straßenzügen miteinander verbrachten, wurden die Grundlagen der lebenslangen Freundschaft und der gemeinsamen Theorie gelegt. Vermittelt über den 1820 geborenen Fabrikantensohn, der während seiner Militärzeit in Berlin ebenso wie Marx der Anziehungskraft des Hegelianismus erlegen war, erhielt die Rede von der revolutionären Klasse ihre empirische Unterfütterung. Erst durch Engels wurde die Industriearbeiterschaft zum Proletariat und damit zugleich zum revolutionären Subjekt. Im Unterschied zu Marx kannte Engels diese neue industrielle Klasse aus eigener Anschauung. Die Region um Barmen im Wuppertal, wo er aufgewachsen war, gehörte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den wenigen Industrie­ gebieten Deutschlands. Schon als 19jähriger hatte Engels im Telegraph eine Artikelserie veröffentlicht, in der das Elend der unteren Schichten des Bergischen Landes thematisiert wurde.56 Vor allem aber lernte er die Industriearbeiterschaft in Manchester kennen. Sein Vater hatte ihn 1842, im Alter von 22 Jahren, in die englische Baumwollmetropole geschickt, um ihn in einem Garnunternehmen, in das sich die Familie eingekauft hatte, kaufmännisch ausbilden zu lassen. Als Friedrich Engels 1844 in Paris mit Marx zusammentraf, hatte er diese Ausbildung gerade beendet und befand sich auf der Heimreise nach Barmen. Manchester war die Stadt der reinen Klasse. Hier stellte sich die soziale Frage in ihrer klarsten Form; hier lebte tatsächlich jenes Industrieproletariat, das nichts als seine Arbeitskraft zu verkaufen hatte.57 Im Manchester der 1840er Jahre hatte die Aussage von der Polarisierung der Gesellschaft in Bürgertum und Arbeiterklasse, vom Aufgehen der Mittelschichten und der Bauernschaft im Proletariat und der Ablösung der, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, »mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung« durch die »offene, un­ verschämte, direkte, dürre Ausbeutung«58 ihre empirische Grundlage. Die Angehörigen der neuen Klasse waren selbst räumlich strikt von der Bourgeoisie getrennt. Zwischen einem Fabrikanten und seinen Arbeitern, so umriss der Prediger ­Richard Parkinson die Zuspitzung der Klassengegensätze in einem zeitgenössischen Bericht, komme es zu weniger persönlichen Kontakten als zwischen

53 Friedrich Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, in: MEW, Bd. 1, 4­ 99–524; ders., Die Lage Englands, in: ebd., 525–549. 54 Ders., Die Lage der arbeitenden Klasse in England, in: MEW, Bd. 2, 225–506. 55 Tristram Hunt, Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, Berlin 2012, 162. 56 [Friedrich Engels], Briefe aus dem Wuppertal, in: MEW, Bd. 1, 413–432. 57 Zu Manchester vgl. Asa Briggs, Victorian Cities, London 1963, 88–138. 58 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 465.

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Plan von Manchester und seinen Vorstädten, Abbildung aus Friedrich Engels Werk Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845.

»dem Herzog von Wellington und dem niedrigsten Arbeiter auf seinem An­ wesen«. In Wirklichkeit bestehe Manchester aus »zwei Städten«: »In dem einen Teil gibt es Platz, frische Luft und eine Gesundheitsversorgung, während in dem anderen alles vorhanden ist, was das Leben vergiftet und verkürzt.«59 Das Problem war: Manchester, das Marx seit seiner Begegnung mit Friedrich Engels – und erst recht nach einer gemeinsamen Reise nach »Cotton­opolis«, wie die Stadt damals genannt wurde, im Jahr 1845 – stets vor Augen hatte, wenn er von der bürgerlichen Produktionsweise sprach, war nicht Großbritannien.60 Zwar war das Königreich über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg das am stärksten industrialisierte Land der Welt. Die Verelendung der Arbeiterschaft war in den 1840er Jahren zum Massenphänomen geworden. Dennoch war Manchester auch in England exzeptionell. Gerade weil sie so außergewöhnlich war, zog die »Schock-

59 Zit. nach Hunt, Friedrich Engels, 117. 60 Vgl. Briggs, Victorian Cities, 115–118.

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City der industriellen Revolution« (Asa Briggs)61 den Blick der Zeitgenossen auf sich und prägte so paradoxerweise das Bild des gesamten Landes. Es gab einen regelrechten Elendstourismus, der zahlreiche Schriftsteller, Politiker, Beamte und Privatpersonen in die nordenglische Stadt führte.62 Alexis de T ­ ocqueville besuchte Manchester ebenso wie Johanna Schopenhauer, die Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, und Otto von Bismarck. Den Begründern des »wissenschaftlichen Sozialismus« erging es letztlich nicht anders als vielen dieser anderen zeitgenössischen Betrachter: Sie setzten die Entwicklung in der Baumwollmetropole allgemein. Während Marx seine Vorstellung der Revolution vor dem Hintergrund der Pariser Erfahrung bildete, entwickelte er seinen Begriff des Proletariats anhand von Friedrich Engels’ Beschreibungen der Situation in Manchester. »Wenn Engels nicht in Manchester gelebt hätte,« so Asa Briggs, »sondern in Birmingham, dann hätten sein Begriff der ›Klasse‹ und seine Theorie der Klassengeschichte möglicherweise einen vollkommen anderen Charakter gehabt.«63 Beide Kategorien, Revolution und Proletariat, bildeten seit den gemeinsamen Tagen von Marx und Engels in Paris eine Einheit: Die Rede von der Revolution bezog sich fortan stets auf die neue Industriearbeiterschaft und vice versa.

Geschichte Marx und Engels entgingen die nationalen und regionalen Besonderheiten, auf denen sie ihre Theorie aufbauten, keineswegs. Schon in Die Lage der arbeitenden Klasse in England erklärte Friedrich Engels, dass ihm eine »so systematische Absperrung der Arbeiterklasse von den Hauptstraßen«, eine so klare soziale Zweiteilung der Stadt wie in Manchester an keinem anderen Ort begegnet sei.64 Marx wiederum zog für seine revolutionstheoretischen Ausführungen bis ins hohe Alter in der Regel französische, für seine ökonomiekritischen Texte dagegen vor allem englische Beispiele heran. Der Grund: In Frankreich gab es auch weiterhin kaum moderne Industrie; in England hielt sich dagegen der revolutionäre Eifer der Arbeiterschaft in Grenzen.65 Dennoch wies Marx den Differenzen zwischen den einzelnen Ländern keine Bedeutung zu. Er ging davon aus, dass die politische Entwicklung Frankreichs und die ökonomischen Vorgänge in England in der Zu 61 Ebd., 116. 62 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., 115; Hunt, Friedrich Engels, 115. 63 Briggs, Victorian Cities, 116. 64 Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England, 280. 65 Vgl. Sidney Pollard, England: Der unrevolutionäre Pionier, in: Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Deutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983, 21–38. Die »klassische Stätte« der kapitalistischen Produktionsweise, so schrieb Marx 1867 im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals, sei bisher England, vgl. Karl Marx, Das Kapital, in: MEW, Bd. 23, 12.

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sammenschau ein universelles Muster ergaben. Das weiter entwickelte Land, so schrieb er im Vorwort zur ersten Auflage des Kapitals von 1867, zeige »dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft«.66 Diese Vorstellung eines zielgerichteten politischen und ökonomischen Prozesses dürfte durch den Universalismus des Weltmarkts befördert worden sein, auf dem als kostenloses Zusatzangebot zu Baumwolle, Tee und Sklaven auch die Ideen der Aufklärung kursierten. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es kaum eine bekannte Region der Erde, die nicht von der, wie Marx es bald nannte, »Akkumulation des Kapitals« beeinflusst war. Diese Tendenz wurde von Marx indes philosophisch verdoppelt. Er synthetisierte und universalisierte den an der französischen Erfahrung entwickelten Begriff der Revolution und die an der englischen Entwicklung gebildete Kategorie des Proletariats mittels einer aus seiner Berliner Studienzeit stammenden Vorstellung von Geschichte: Auch wenn der aufrührerische Gestus der entstehenden Arbeiterbewegung der Rede von der weltgeschichtlichen Rolle des Proletariats entgegenzukommen schien, hatte diese Auffassung weniger mit der »wirklichen Bewegung« zu tun, von der Marx und Engels sprachen,67 als mit ihrem hegelianischen Erbe, sprich: dem Glauben an einen Sinn der Geschichte. So lässt sich aus soziologischen Beobachtungen weder deduzieren, dass die historische Entwicklung unweigerlich auf das »letzte Gefecht« zweier Klassen hinausläuft, wie es in Luckhardts Übersetzung der Internationale heißt. Noch kann mittels Empirie erklärt werden, warum ausgerechnet das Proletariat das »revolutionäre Subjekt« sein soll:68 Wenn die neue Klasse auch die »Verkommensten der Verkommenen« unter sich versammelt, von denen Friedrich Engels einmal sprach,69 warum sollte dann ausgerechnet von ihrer Diktatur eine freundlichere Welt zu erwarten sein? Wäre nicht auch ein blinder Kampf aller gegen alle denkbar, wie ihn Thomas Hobbes mit Blick auf den Englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts in seinem Leviathan beschrieb? Marx zog eine solche Möglichkeit nicht in Betracht, weil er weniger durch die Analyse der politischen, ökonomischen und sozialen Entwicklungen auf das Proletariat stieß als im Zuge eines philosophischen Gedankengangs. Das ist der Grund dafür, warum seine erste Erwähnung der neuen Klasse in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844 im Vergleich zu späteren Verwendungen so blutleer erscheint und frei von Empirie ist. Wer die Pariser Zeitungen der 1840er Jahre las oder mit offenen Augen durch die Stadt ging, konnte die Paupers zwar nicht übersehen, die im Frankreich der Julimonarchie als Proletarier bezeichnet wurden. Das Zauberwort, das sie für Marx attraktiv werden 66 Ebd. 67 Karl Marx/Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, 35. 68 Vgl. hierzu auch Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 2004, 53. 69 Friedrich Engels an Eduard Bernstein, Eastborne, 22.  August 1889, in: MEW, Bd.  37, 260 f., hier 260.

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ließ, hieß jedoch nicht »Mitgefühl« oder »Moral«, sondern ­»Dialektik«. Es hatte durch sein früheres akademisches Vorbild selbst erst eine neue Be­deutung erlangt. Denn auch wenn sich Marx um Abgrenzung von Hegel bemühte, kritisierte er den einstigen preußischen Staatsphilosophen stets mit dessen eigenen Mitteln. Er versuchte weniger ihn zu überwinden als, wie es in der berühmten Formulierung von Engels heißt, vom Kopf auf die Füße zu stellen70 – ihn also aus der Studierstube auf die Straße zu bringen. Der deutsche Idealismus sollte materialisiert werden. Für dieses Vorhaben benötigte Marx eine Kategorie, die an die Stelle des Weltgeistes aus der Phänomenologie des Geistes trat. Er fand sie im Klassenkampf, den einige der Pariser Autoren propagierten, die er gemeinsam mit Arnold Ruge für die Mitarbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern zu gewinnen versuchte. Das Proletariat, das ebenfalls Eingang in die sozialkritische Literatur der Zeit gefunden hatte, erschien hingegen als größter Widerspruch zur Lebensweise der Bourgeoisie: Weil es die stärkste Antithese der bürgerlichen Gesellschaft verkörpere, so der Gedankengang, könne es mittels Klassenkampf eine gesellschaftliche Synthese herstellen. In seinem ersten klassenkämpferischen Text führt Marx damit eine dialektische Denkbewegung aus: Die Rede von der Klasse, die aufgrund ihres universellen Leidens eine universelle Bedeutung besitze, ist eine hegelianische Figur. Das Proletariat ist in der Einleitung zur Kritik der ­Hegelschen Rechtsphilosophie noch keine soziologische, sondern eine philo­sophische Größe. Die Geschichtsphilosophie, mit der Marx den Begriff auflud, hat sich noch nicht mit der aus England kommenden Empirie verzahnt.

Schluss: Die Schwerkraft der Begriffe Die Begriffe der Arbeiterbewegung, über deren Gültigkeit ab 1941 in Pacific Palisades debattiert wurde, basierten nicht zuletzt auf der Universalisierung räumlich und zeitlich begrenzter Phänomene. Angesichts der ökonomischen Universalisierungstendenzen verallgemeinerte und hypostasierte Marx Ereignisse und Konstellationen wie die Französische Revolution, die in Manchester zu beobachtende strikte gesellschaftliche Polarisierung und die damit verbundene Dominanz der sozialen Frage  – und imprägnierte sie geschichtsphilosophisch. Dass an den Kategorien des Kommunistischen Manifests etwas nicht stimmte, offenbarte sich bereits lange bevor Friedrich Pollock und Bertolt Brecht aufgrund der Erfahrung des Nationalsozialismus in je unterschiedlicher Weise Zweifel an der Allgemeingültigkeit der Begriffe Klasse und Proletariat zum Ausdruck brachten. Die politischen und sozialen Voraussagen, die Marx und Engels im Kommunistischen M ­ anifest formuliert hatten, erwiesen sich der Realität schon zu Lebzeiten 70 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MEW, Bd. 21, 259–307, hier 293.

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der beiden nur bedingt gewachsen. Anders als die Begründer des »wissenschaftlichen Sozialismus« in den 1840er Jahren annahmen, wurde Manchester nicht zum Vorbild der internationalen Entwicklung. Auch wenn der Prozess der Industrialisierung weiterhin zahllose Opfer forderte, begann sich die Lage der arbeitenden Klasse in »Cottonopolis« schon Ende der 1840er Jahre zu verbessern. Manchester verwandelte sich von der »Schock-City« der industriellen Revolution zum Vorbild des mittelviktorianischen Aufschwungs.71 Abgesehen von der Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs waren die Jahre zwischen 1850 und 1875 in Großbritannien eine Epoche der Prosperität. Die Reallöhne stiegen auf der gesamten Insel, die Arbeitslosenzahlen und die durchschnittliche Arbeitszeit sanken.72 Die ohnehin nur mäßig ausgeprägten revolutionären Ambitionen der englischen Arbeiterschaft ließen weiter nach. Schon 1858 beschwerte sich Friedrich Engels dementsprechend in einem Brief an Marx darüber, dass »das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert«.73 Auch der Sturm auf die Bastille, den Marx bis weit in die 1860er Jahre hinein als Vorbild künftiger Umstürze begriffen wissen wollte, blieb in seiner Wirkung wie in seiner Rezeption einzigartig. Die Revolutionen, die Europa in den Jahren 1848/1849 erschütterten, hatten nur bedingt mit der Erhebung des Dritten Standes von 1789 zu tun. Zudem ließen sie sich allenfalls teilweise in das Marx’sche Klassenkampfschema einpassen: Was im Februar 1848, nur wenige Wochen nach der Fertigstellung des Kommunistischen Manifests, in Paris als Aufstand der unteren Schichten begonnen hatte, wurde im östlichen Europa zum »Völkerfrühling«.74 In Ungarn, Böhmen, der Slowakei, Teilen Polens oder Rumäniens wurde weniger die Forderung nach sozialer Gleichheit als nach nationaler Unabhängigkeit erhoben. Aus den sozialen Revolutionen des Westens wurden im mittleren und östlichen Teil des Kontinents nationale Unabhängigkeitskriege; der Klassenkampf, den Marx und Engels als zentrale Triebfeder der Geschichte bezeichnet hatten, verschmolz mit der nationalen Frage oder wurde von ihr sogar absorbiert. Nach der Niederschlagung des Pfälzer Aufstands im Juni 1849 und der Niederlage der Magyaren im Ungarischen Unabhängigkeitskrieg im Oktober 1849 war das Zeitalter der europäischen Revolutionen vorbei. Ausnahmen wie die 72 Tage der Pariser Kommune von 1871 bestätigen nur die Regel. Erst 1917, fast neunzig Jahre nach dem französischen Juniaufstand von 1830, fand in Europa wieder eine erfolgreiche Revolution statt. Obwohl sich ihre Organisatoren, Le 71 Vgl. Hunt, Friedrich Engels, 250. 72 Vgl. hierzu John Breuilly, Liberalismus oder Sozialdemokratie? Ein Vergleich der britischen und deutschen politischen Arbeiterbewegung zwischen 1850 und 1875, in: Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert, 129–166, hier 135 f. 73 Friedrich Engels an Karl Marx, Manchester, 7. Oktober 1858, in: MEW, Bd. 29, 357 f., hier 358. 74 Vgl. hierzu und zum Folgenden Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, 28 f.

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nin und die Bolschewiki, stets auf Marx beriefen, hatte der rote Oktober nur wenig mit dessen Vorstellungen gemein: Die Absetzung der Provisorischen Regierung Alexander Kerenskis glich eher einem traditionellen Putsch als einer jener proletarischen Erhebungen, von denen im Kommunistischen Manifest gesprochen wird. Bei den Dreharbeiten zu Sergej Eisensteins Revolutionsepos Oktober sollen, wie Eric Hobsbawm einmal im Scherz bemerkte, mehr Menschen verletzt worden sein als beim tatsächlichen Sturm auf das Winterpalais.75 Marx’ Schaffen zielte schon seit dem Scheitern der Revolution von 1848 vor allem darauf ab, zu erklären, warum die eigenen euphorischen Voraussagen aus dem Kommunistischen Manifest nicht eingetroffen waren. Zwar formulierte er nie offen Zweifel an der Vorstellung von der welthistorischen Rolle des Proletariats. Seine Hoffnungen in das revolutionäre Potential der Arbeiterschaft schwanden jedoch. Bereits in seiner oft zitierten Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859, einer der vielen Vorarbeiten für Das Kapital, hielt er sich mit Verweisen auf die Klasse und ihren Kampf auffallend zurück.76 Die Geschichte ist schon hier weniger die Geschichte von Klassenkämpfen als die ökonomischer Prozesse; die Klassen sind nicht verschwunden, treten jedoch deutlich hinter wirtschaftliche Vorgänge zurück. Im ersten Band des Kapitals ist Klasse schließlich vor allem ein »formanalytischer« Begriff;77 der revolutionäre Impetus hat sich, auch wenn sich an der einen oder anderen Stelle Spuren des traditionellen Klassenkampfschemas finden, in Richtung der durchweg kritischen Kategorien von Ware und Wert verschoben.78 In einigen Artikeln aus den 1870er Jahren wies Marx plötzlich sogar den sozialen Konflikten auf dem Dorf, das im Kommunistischen Manifest noch als eine Heimstätte des »Idiotismus« verspottet worden war,79 eine steigende Be­ deutung für die sozialistische Revolution zu.80 Nach seinem Tod, der mit dem Beginn des »imperialen Zeitalters« (Eric­ Hobsbawm) zusammenfiel, potenzierten sich die revolutionstheoretischen Probleme der Arbeiterbewegung. So hatten alle großen Auseinandersetzungen innerhalb der Zweiten Internationale  – von der Millerandaffäre bis zum Revisionismusstreit – ihren Ursprung letztlich in der fehlenden Passgenauigkeit der 75 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 31998, 87. 76 Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: MEW, Bd. 13, 3–160. 77 Vgl. auch Sven Ellmers, Die formanalytische Klassentheorie von Karl Marx. Ein Beitrag zur »neuen Marx-Lektüre«, Duisburg 22009. 78 Zum geschichtsphilosophischen Gehalt vgl. Joachim Bruhn, Studentenfutter. Über die Transformation der materialistischen Kritik in akademischen Marxismus, in: Prodomo. Zeitschrift in eigener Sache, H. 6, 2007, 24–32. 79 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 466. 80 Karl Marx/Friedrich Engels, [Vorrede zur zweiten russischen Ausgabe des »Manifests der Kommunistischen Partei«], in: MEW, Bd. 19, 295 f., hier 296; Karl Marx, [Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V. I. Sassulitsch] [März 1881], in: ebd., 384–406, hier 404‒406.

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Marx’schen Begriffe Klasse und Proletariat. Die französischen Sozialisten um Jean Jaurès konnten den Eintritt ihres Genossen Alexandre Millerand in das bürgerliche Kabinett Pierre Waldeck-Rousseaus 1899 damit rechtfertigen, dass eine proletarische Revolution in weiter Ferne liege und mittels Regierungsbeteiligung zumindest demokratische Freiheiten verteidigt werden könnten. Im deutschen Revisionismusstreit, der die SPD in den 1890er Jahren vor eine Zerreißprobe stellte, spiegelte sich der immense Widerspruch zwischen dem traditionellen marxistischen Klassenkampfschema und der pragmatischen Realpolitik der Partei wider, der seinen Ausdruck bereits in den beiden antagonistisch erscheinenden Teilen des Erfurter Programms von 1891, den geschichtsphilosophischen Eingangspassagen und dem auf Mittelfristigkeit angelegten politischen Forderungskatalog, gefunden hatte. Selbst Lenin, der sich stets als Sachstandswahrer des Marx’schen Werks präsentierte, unterzog die Theorie der Klassiker unaus­ gesprochen einer Revision. Die Erfindung der Avantgardepartei, die von außen revolutionäres Bewusstsein in die Massen trägt, war eine Reaktion darauf, dass sich das Proletariat aus eigener Kraft nicht dazu in der Lage zeigte. Obwohl die proletarischen Revolutionen ausgeblieben waren und sich die Lage der Arbeiterschaft deutlich verbessert hatte, distanzierten sich die heimlichen und bekennenden Revisionisten des ausgehenden 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts nur selten offen von den traditionellen Kategorien. Sie handelten damit ähnlich wie diejenigen, die im antifaschistischen Exil der 1940er Jahre zaghafte Zweifel an der Marx’schen Lehre formuliert hatten. Denn auch die Mehrheit derer, die in Pacific Palisades, aber auch in London oder MexikoStadt über die Geltungskraft der arbeiterbewegten Kategorien diskutiert hatten,81 versuchte die Ahnung von der fehlenden Passgenauigkeit der Marx’schen Begriffe bald entweder in abenteuerlicher Weise wieder mit den traditionellen Ideen zu verbinden. Oder sie ging nach einer Phase der Verunsicherung erneut zur zukunftsfrohen Gegenüberstellung von Fortschritt und Reaktion, Proletariat und Bourgeoisie über. Es war nur eine Minderheit, die mit Friedrich Pollock auch über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus auf der Aussage beharrte, dass in den Marx’schen Begriffen etwas nicht »stimmt«. Bertolt Brecht gehörte nicht dazu. So mag der Dichter seine Bearbeitung des Kommunistischen Manifests auch deshalb nicht beendet haben, weil er dieses Vorhaben bald nicht mehr als besonders dringlich empfand. Der Abschied von der arbeiterbewegten Vor­stellung der welthistorischen Rolle des Proletariats war trotz ihres Dementis durch den Holocaust ein ebenso langwieriger wie kurvenreicher und schmerzhafter Pro 81 Zu London vgl. Jan Gerber/Anja Worm, Die Legende vom anderen Deutschland. Vorwort, in: Curt Geyer/Walter Loeb u. a., Fight for Freedom. Die Legende vom anderen Deutschland, hg. von Jan Gerber und Anja Worm, Freiburg i. Br. 2009, 9–38. Zu Mexiko: Philipp Graf, Angesichts des Holocaust. Das deutschsprachige kommunistische Exil in Mexiko-Stadt ­1941–1946, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 8 (2009), 451–479.

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zess. Die Gründe hierfür waren vielfältig.82 Der Kalte Krieg, der bereits kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann, setzte nicht nur neue Fragen auf die Tagesordnung. Durch das bipolare System der Blockkonfrontation schienen zugleich einige der überholt geglaubten weltanschaulichen Konflikte der 1920er Jahre – Links gegen Rechts, Sozialismus versus Kapitalismus usw. – reaktiviert zu werden.83 Aber auch jenes nahezu anthropologische Bedürfnis, das in den 1840er  Jahren zu den Geburtshelfern der Marx’schen Geschichts­philo­sophie­ gehört hatte, dürfte dazu beigetragen haben, dass die traditionellen Begriffe über ihren letztgültigen Widerruf hinaus Anziehungskraft auf die politische Linke ausüben konnten:84 Der Glaube an einen roten Faden der Geschichte und ein mit naturgesetzlicher Zwangsläufigkeit zu erwartendes »Reich der Freiheit«85 bot schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts die Orientierungssicherheit, die weder die Wirklichkeit noch die Religion mehr bieten konnten. Auch aufgrund dieser geradezu theologischen Aufladung der Rede von der Revolution, der Klasse und der Geschichte dürften die 1844 in der Pariser Rue Vaneau generierten Begriffe mehr als hundert Jahre später noch eine größere Schwerkraft besessen ­haben als die Empirie.

82 Vgl. hierzu Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des­ Holocaust, Göttingen 2007; Jan Gerber, Verborgene Präsenzen. Gedächtnisgeschichte des­ Holocaust in der deutschsprachigen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, Düsseldorf 2009. 83 Diner, Das Jahrhundert verstehen. 84 Zu den theologischen Wurzeln der Geschichtsphilosophie vgl. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. 85 Karl Marx, Das Kapital. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25, 828.

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Intellektuelle Parias Bernard Lazare, Raymond Aron und Pierre Goldman zur Dreyfusaffäre (1894–1906)

»So ist die Dreyfus-Affäre niemals zu einem Ende gekommen und das Urteil, das den Justizirrtum reparieren sollte, niemals von dem ganzen Volke anerkannt worden. Selbst die ungeheure Erregung, die sie auslöste, ist in Frankreich erst nach dem Zweiten Weltkrieg abgeklungen.«1 Auf diese Weise charakterisierte Hannah Arendt in ihrem Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951) die Auswirkungen der Dreyfusaffäre auf die französische Gesellschaft. Und in der Tat waren die von ihr beschriebenen Nachwirkungen jahrzehntelang in Frankreich deutlich zu spüren. Die Ereignisse um den Offizier A ­ lfred Dreyfus, der 1894 wegen vorgeblichen Geheimnisverrats an die Deutschen festgenommen und auf die Teufelsinsel im Überseedepartment Französisch-Guayana verbannt worden war, spalteten die Franzosen mit unbekannter Heftigkeit in Ankläger und Verteidiger. Erstmals markierte die »Judenfrage« die signifikante Trennlinie einer modernen Gesellschaft. Der heutzutage berühmteste Dreyfusard, Émile Zola, löste mit seinem 1898 in der Zeitschrift Aurore veröffentlichten Artikel J’accuse! eine breite öffentliche Debatte aus.2 Sein Artikel gilt retrospektiv als Geburtsstunde des modernen Intellektuellen – des politisch denkenden, öffentlich Stellung beziehenden Schriftstellers.3 Die Dreyfusaffäre war jedoch nicht nur ein Schlüsselereignis der französischen Geschichte des ausgehenden 19.  Jahrhunderts, sondern rückblickend für ganz Europa. Wiederum war es Hannah Arendt, die auf die universelle Bedeutung der Affäre hinwies: »So groß aber ist, trotz nationalstaatlicher Zersplitterung, die Kontinuität und Durchdringung gesamteuropäischer Geschichte, dass na 1 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München/Zürich 121986, 215 (1. engl. Aufl. 1951). 2 Zur Dreyfusaffäre siehe Eckhardt Fuchs/Günther Fuchs, »J’accuse!«: Zur Affäre Dreyfus, Mainz 1994; Martin Johnson, The Dreyfus Affair. Honour and Politics in the Belle Époque, London 1999. Zu den Originaldokumenten siehe Siegfried Thalheimer (Hg.), Die Affäre Dreyfus, München 1963. 3 Vgl. Roselyne Koren/Dan Michman (Hgg.), Les intellectuels face à l’affaire Dreyfus alors et aujourd’hui. Perception et impact de l’affaire en France et à l’étranger, Paris 1998.

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hezu jedes größere Ereignis des 20. Jahrhunderts, von der Oktoberrevolution bis zum Ausbruch des Nationalsozialismus, im Frankreich des vorigen Jahrhunderts sich in einigen wesentlichen Konturen bereits abgezeichnet hat, um dort als kurzes, scheinbar folgenloses Spiel – als Tragödie, wie die Kommune, oder als Farce, wie die Dreyfus-Affäre, gleichsam eine Generalprobe zu absolvieren.«4 Ihrem Dafürhalten nach antizipierte die Affäre politische Konstellationen des 20. Jahrhunderts und gehörte zweifellos zur »Vorgeschichte des nationalsozialistischen Deutschland«, die sich in fast allen europäischen Ländern ereignete und schließlich 1933 keineswegs zufällig in Berlin kumulierte.5 Schließlich verunsicherten die Ereignisse um Alfred Dreyfus die mehrheitlich assimilierten Juden Frankreichs massiv und erschütterten ihren bis dato festen Glauben in die Republik, die ihnen 1791 als erstes europäisches Land die Bürgerrechte gewährt hatte. Die Dreyfusaffäre wurde zu einem der bedeutendsten Referenzpunkte im kollektiven Gedächtnis der französischen Juden. Zeitgenössisch wurde das Ereignis zu einem Katalysator des Nachdenkens, der Politisierung und Radikalisierung. Später diente die Dreyfusaffäre schließlich als Folie, die zum Abgleich über die je eigene Gegenwart gelegt wurde. Jene letzte Bedeutungsebene der Dreyfusaffäre soll am Beispiel dreier jüdischer Intellektueller in Frankreich veranschaulicht werden, die zwischen den 1860er und den 1940er Jahren geboren wurden und in ihrer Zeit alle eine marginalisierte Perspektive einnahmen; eine Perspektive, die sie jenseits der gesellschaftlich vorherrschenden Denkweise verortete und sie damit auf ganz unterschiedliche Weise zu Parias ihrer Zeit werden ließ: Bernard Lazare (1865–1903), Raymond Aron (1905–1983) und Pierre Goldman (1944–1979). Die Positionen der drei Persönlichkeiten hinsichtlich der Affäre sind auch deshalb aussagekräftig, weil sie politische Standpunkte vertraten, die kaum unterschiedlicher hätten sein können. Bei aller Differenz einte sie, dass sie sich in unterschiedlicher Radikalität außerhalb des hegemonialen Konsenses ihrer Zeit bewegten. Diese Differenz zur Mehrheitsgesellschaft resultierte nicht zuletzt aus ihrer jüdischen Herkunft, die sie nolens volens zu Parias werden ließ. Das Fortleben der Dreyfusaffäre in der jüdischen Erinnerung in Frankreich spielte dabei für alle drei, so die hier vertretene These, eine zentrale Rolle. Um diese Position zu untermauern, soll zunächst der erste, aber weitgehend vergessene Verteidiger von Alfred Dreyfus beleuchtet werden: der Publizist Bernard Lazare, der 1865 in Nîmes geboren wurde. Danach wird die Relevanz der Affäre für die intellektuelle Entwicklung des liberalen Philosophen und Soziologen Raymond Aron diskutiert, der 1903 in einer assimilierten jüdischen Familie in Paris zur Welt kam. Abschließend thematisiert der Artikel den Prozess gegen den Schriftsteller und Revolutionär Pierre Goldman Mitte der 1970er Jahre,

4 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 213. 5 Ebd., 222.

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der zeitgenössisch von vielen als Wiederauflage der Dreyfusaffäre wahrgenommen wurde. Der Fokus auf diese recht unterschiedlichen Personen soll die besondere Relevanz der Dreyfusaffäre für die intellektuelle und politische Entwicklung Frankreichs vom ausgehenden 19. bis ins 20 Jahrhundert veranschaulichen.

Der erste Dreyfusard: Bernard Lazare Bernard Lazare, 1865 als Lazare Marcus Manassé Bernard in Nîmes geboren, war 1886 nach Paris gekommen, wo er ein Studium an der École pratique des hautes études aufnahm. Im gleichen Jahr erschien die einflussreiche antisemitische Hetzschrift La France Juive von Édouard Drumont, mit der sich Lazare ausgiebig beschäftigte.6 In der Hauptstadt wandte er sich den Ideen Michail Bakunins zu, dokumentierte für die Zeitung L’Écho de Paris einen Streik von Minenarbeitern in Carmaux von 1892 bis 1895 und wurde im anarchistischen Flügel der Arbeiterbewegung aktiv. Außerdem veröffentlichte er literarische Artikel in L’Ermitage. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der antirevolutionären Stoßrichtung des Antisemitismus schrieb er eine lange Erwiderung auf Drumont zur historischen Entwicklung des Judenhasses.7 Als aufmerksamer Beobachter begann er sich für das Schicksal von Alfred Dreyfus zu interessieren, dessen Prozess seinerzeit große Aufmerksamkeit in der französischen Öffentlichkeit erregte. Dreyfus’ Bruder, Mathieu, war nicht gewillt, das Urteil einfach hinzunehmen. Ein Bekannter stellte ihm 1895 den engagierten Journalisten Lazare vor, dem er die in seinem Besitz befindlichen Prozessdokumente übergab. Er hoffte, dass die Hintergründe des Verfahrens offengelegt und die Ungereimtheiten herausgearbeitet würden. Nur wenige Monate später widerlegte Lazare in einer Schrift die einzelnen Anklagepunkte überzeugend. Dennoch entschied sich Mathieu­ Dreyfus dagegen, die Broschüre sofort zu publizieren. Der Prozess war äußerst schnell aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden und das Schicksal des Verbannten auf der Teufelsinsel bewegte zu diesem Zeitpunkt kaum noch jemanden. Um das Risiko einer Beschlagnahmung durch französische Behörden zu umgehen, wurde die Abhandlung Lazares schließlich 1896 in Brüssel gedruckt 6 Edouard Drumont, La France juive. Essai d’histoire contemporaine, Paris [o. J.], (1. Aufl. 1886), Bd. 1, 3. – Alle Übersetzungen, soweit nicht anders vermerkt, stammen vom Verfasser des Aufsatzes. 7 Bernard Lazare, L’antisémitisme, son histoire et ses causes, Paris 1894. Zu Lazare als einem der ersten Historiker des Antisemitismus siehe Jacques Aron, Bernard Lazare, premier historien de l’antisémitisme, in: Diasporiques 2 (2008), 115–120 und Sebastian Voigt, Intellektuelle politische Interventionen. Bernard Lazares Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts, in: Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hgg.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft vor 1944. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung, Berlin/München/Boston, Mass., 2015, 149–171.

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und an prominente Personen in Frankreich mit der Absicht übergeben, dass diese ihren politischen Einfluss geltend machen würden, um die Ungerechtigkeit zu beheben.8 Lazare trug immer weitere Aspekte zusammen, die die Unschuld von Alfred Dreyfus belegten. Er hatte die Verurteilung von vornherein nicht als einen leicht zu korrigierenden Justizfehler gewertet. Vielmehr sah er die Werte der Freiheit auf einer ganz grundlegenden Ebene angegriffen. Die Parteinahme für ­Dreyfus ergab sich für Lazare geradezu notwendigerweise aus einem emphatischen Gerechtigkeitsempfinden: »Wenn die Freiheit eines Menschen verletzt wird, wenn ein Unschuldiger geschlagen wird, dann stellt dies eine Schädigung der ewigen Gerechtigkeit dar. […] Ich habe den Hauptmann Dreyfus verteidigt, aber ich habe auch die Gerechtigkeit und die Freiheit verteidigt.«9 In der zweiten Auflage der Broschüre, die 1897 in Paris erschien, rekonstruierte Lazare nicht nur akribisch den Ablauf der Ereignisse, sondern veröffentlichte auch die Stellungnahmen von Experten für Schriftvergleich. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass Dreyfus nicht der Verfasser des Briefes sein konnte, auf dem die gesamte Anklage des Landesverrats basierte. Außerdem wies Lazare dezidiert auf die zahlreichen judenfeindlichen Hetzkampagnen während des­ Prozesses hin, die insbesondere von Édouard Drumont betrieben worden waren. Jener hatte 1892 die Zeitung La libre parole begründet, die regelmäßig vor jüdischen Vaterlandsverrätern warnte und auch als erste über die Festnahme von Dreyfus berichtet hatte. Unterstützt von der klerikalen Presse, so Lazare, hätten die antisemitischen Blätter mit Hilfe dreister Lügen eine »jüdische Verschwörung« konstruiert, um einen angeblichen »Verräter seiner verdienten Strafe« zuzuführen.10 Nachdem Lazare in der Dreyfusaffäre zunächst vor allem eine über den Einzelfall hinaus bedeutsame, fundamentale Verletzung der Gerechtigkeit gesehen hatte, verschob sich seine Einschätzung, je intensiver er sich mit den Ereignissen befasste. Die antisemitischen Motive wertete er bald als zentral für den gesamten Prozessverlauf. Er sah in Dreyfus folglich nicht mehr das Opfer von Willkürjustiz und verschiedenen Intrigen, nicht mehr den Sündenbock, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hatte, sondern den aufgrund seiner Herkunft verfolgten und verurteilten Juden. Im Zuge dieser Perspektivverschiebung veränderte sich auch das Selbstbild Lazares. Der universalistische Anarchist verstand sich bald ausdrücklich als Jude, der einen anderen Juden verteidigte. Dreyfus verkörperte für Lazare nun den verfolgten Juden schlechthin, das Symbol der Leiden eines ganzen Volkes.

8 Bernard Lazare, Une erreur judiciaire. La vérité sur l’affaire Dreyfus, Paris 1896. 9 Ders., L’affaire Dreyfus. Une erreur judiciaire. Deuxième mémoire avec des expertises d’écritures, Paris 1897, 64. 10 Ebd., 13.

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Die Degradierung von Kapitän Alfred Dreyfus am 5. Januar 1895 in Paris, aus: Le Petit Journal, 13. Januar 1895.

Die Beschäftigung mit dem Judenhass und seine Bekämpfung ließen Lazare seitdem nicht mehr los. In Reaktion darauf wandte er sich zunächst vom Anarchismus ab und dem Zionismus zu. Die Affäre hatte ihm die Wichtigkeit einer eigenständigen jüdischen Nationalstaatsbewegung vor Augen geführt.11 Lazare 11 Auch für Theodor Herzl erwies sich die Dreyfusaffäre als einschneidend. Als Korrespondent der Wiener Freien Presse weilte er seinerzeit in Paris und beobachtete die Ereignisse aus nächster Nähe. Die Verurteilung von Dreyfus war für Herzl der Beleg, dass die Assimilation ge-

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pflegte längere Zeit einen intensiven Austausch mit Theodor Herzl, den er auch persönlich kennengelernt hatte. Nachdem er schon zum ersten Zionisten­ kongress 1897 nach Basel eingeladen worden war, jedoch aus Zeitgründen nicht teilnehmen konnte, wurde er dort ein Jahr später als Verteidiger von Dreyfus’ begeistert empfangen. Allerdings brach er bald enttäuscht mit dem Zionismus, weil Theodor Herzl sich mit seinem Anliegen vor allem an die Herrscher Europas wandte, also an diejenigen, die in seinen Augen für die Unterdrückung von Minderheiten verantwortlich waren. Lazare stattdessen setzte seine Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse in die verarmten jüdischen Massen des östlichen Europa. Als weitere universalistische, von der Dreyfusaffäre aus­ gehende Verpflichtung verstand er das Engagement für verfolgte Minderheiten, namentlich für die Armenier im Osmanischen Reich. Nachdem Lazare zunächst eine partikulare Konsequenz aus der Affäre gezogen hatte, indem er die Notwendigkeit eines jüdischen Staates betonte, richtete er sein politisches En­gagement fortan in universalistischer Absicht auf die Unterstützung aller Marginalisierten und Unterdrückten. Lazare war bewusst geworden, dass der Judenhass am Wertefundament der französischen Gesellschaft rüttelte und ihr republikanisches Selbstverständnis infrage stellte. Die proklamierten Grundsätze von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seien nichts wert, wenn einer Minderheit die elementaren Bürgerund Menschenrechte abgesprochen werden und fast niemand dagegen protestiere. Lazare formulierte klar, dass der Antisemitismus keineswegs ausschließlich ein Problem für Juden darstelle, sondern die gesamte Gesellschaft betreffe. »Deshalb«, so Lazare, »protestiere ich jetzt gegen den Antisemitismus im Namen der Freiheit, im Namen des Rechts, im Namen der Gerechtigkeit. Bin ich der Einzige, der seine Stimme erhebt? Ich hoffe nicht.«12 Die Dreyfusaffäre markierte für Lazare einen zentralen Einschnitt seiner politischen Entwicklung. Zwar hatte er sich schon davor mit den judenfeindlichen Schriften Drumonts auseinandergesetzt. Allerdings hielt er seinerzeit noch daran fest, dass die kommende sozialistische Gesellschaft automatisch die Lösung der »Judenfrage« bringen werde. Die Verurteilung des jüdischen Hauptmanns ließ ihn daran zweifeln. Als erster Dreyfusard musste Lazare zur Kenntnis nehmen, dass sich die französische Gesellschaft zunächst kaum für den Skandal interessierte. Selbst die bestechenden Beweise für die Unschuld von D ­ reyfus

scheitert war und es eines eigenständigen jüdischen Nationalstaats bedurfte. Wenig später verfasste Herzl dann seine Schrift über den Judenstaat (Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig/Wien 1896). Inwieweit ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Dreyfusaffäre und Herzls Begründung des Zionismus besteht, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion, vgl. Jacques Kornberg, Herzl, the Zionist Movement and the Dreyfus Affair, in: Koren/Michman (Hgg.), Les intellectuels, 107–120. 12 Lazare, Contre l’antisémitisme, 8.

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blieben weitgehend unbeachtet. Die Bekämpfung des Judenhasses wurde seitdem zu seiner Lebensaufgabe. Die Ereignisse hatten ihm nicht nur die Persistenz des Antisemitismus vor Augen geführt, sondern auch die Brüchigkeit der Hoffnung vieler Juden, durch Assimilation zu einem integralen und akzeptierten Teil Frankreichs werden zu können. Als unterdrücktes Volk von Parias seien die Juden aufgefordert, Verbündete aller Parias weltweit zu werden. Hierzu müssten sie aber als Prämisse ihren eigenen Pariastatus affirmativ annehmen. Während Dreyfus in einem antisemitischen Schauprozess gedemütigt und geschmäht wurde, aber dennoch seinen Glauben in die Werte der französischen Republik nicht aufgab, forderte Lazare die Juden auf, andere Konsequenzen zu ziehen: Sie sollten »bewusste Parias« werden.13 Gerade aus der partikularen Herkunft als Jude leitete Lazare die universalistische Verpflichtung ab, sich für alle Marginalisierten einzusetzen und gegen ihre rassische oder religiöse Diskriminierung zu kämpfen. Diese Forderung ist das Ergebnis der historischen und politischen Erfahrungen Lazares, deren Mittelpunkt die Dreyfusaffäre bildete.

Französischer Patriot, trotz allem: Raymond Aron »In London verstand ich mich als Jude, und die anderen taten das auch.«14 So beschrieb der französische Philosoph und Soziologe Raymond Aron rück­blickend die Selbst- und Fremdwahrnehmung im britischen Exil, in das ihn die franzö­ sische Niederlage nach dem deutschen Vormarsch im Mai 1940 gezwungen hatte. Diese explizite Verortung war für einen patriotischen Franzosen, der aus einer assimilierten jüdischen Familie stammte, durchaus ungewöhnlich, zumal Aron niemals erwog, seinem Geburtsland dauerhaft den Rücken zuzukehren und in Großbritannien zu bleiben. Als ihm beispielsweise kurz vor Kriegsende eine akademische Position in London angeboten wurde, reagierte er in einer Deutlichkeit, die keinen Zweifel ließ: »Nicht würde ich mein Vaterland wechseln, ich würde entweder Franzose sein oder kein Vaterland haben.«15 Die in beiden Aussprüchen zum Ausdruck kommende Spannung zwischen französischem Patriotismus und partikularer jüdischer Herkunft durchzieht Arons gesamtes Leben und lässt

13 Die Formulierung Lazares lautet »paria conscient«. Lazare, Nationalisme juif, 8.  Siehe auch Hannah Arendt, Bernard Lazare. Der bewusste Paria, in: dies., Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt a. M. 1976, 60–64. 14 Raymond Aron, Erkenntnis und Verantwortung. Lebenserinnerungen, München/Zürich 1985, 147. Jürg Altwegg weist darauf hin, dass Raymond Aron seine Memoiren zunächst unter dem Titel Memoiren eines französischen Juden publizieren wollte, sich dann aber doch für den Untertitel 50 ans de réflexion politique entschied. Jürg Altwegg, Die langen Schatten von Vichy. Frankreich, Deutschland und die Rückkehr des Verdrängten, München/Wien 1998, 182. 15 Ebd., 146.

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sich bis in seine Kindheit zurückverfolgen. Der Dreyfusaffäre kommt dabei wie im Falle Lazares eine Schlüsselrolle zu.16 Raymond Claude Ferdinand Aron wurde am 14.  März 1905 in eine wohl­ habende Familie in Paris geboren. Seine Vorfahren hatten in Lothringen seit dem Ende des 18.  Jahrhunderts einen Textilgroßhandel betrieben. Der soziale Aufstieg der Familie stand folglich in direktem Zusammenhang mit der Judenemanzipation durch die Französische Revolution und prägte deren Beziehung zur Nation über Generationen hinweg. Die affirmative Einstellung seines Vaters zur As­similation schildert Aron in seiner Autobiografie: »Schon in seiner Jugend Freimaurer, kannte er keine religiösen Skrupel, kümmerte sich kaum um die jüdische Lebensweise und unterschied sich – zumindest oberflächlich – nicht von seinen katholischen oder freigeistigen Studienfreunden, die vage nach links tendierten.«17 Doch trotz dieser weitgehenden Anpassung erschütterte die Dreyfus­ affäre die väterliche Sicht auf Frankreich massiv und entwickelte sich für die Familie Arons zu einem zentralen Bezugspunkt. Sichtbar wird ihre Bedeutung daran, dass Aron sich besonders an die Bücherschränke in der elterlichen Wohnung erinnerte: »Dort entdeckte ich, als ich etwa zehn Jahre alt war, die Literatur über die Dreyfusaffäre, welche mein Vater in großen Mengen gesammelt hatte.«18 Als Schüler beschäftigte er sich intensiv mit den Ereignissen, erblickte darin jedoch primär eine staatspolitische Angelegenheit der Gerechtigkeit und (Il-)Loyalität, keinen Ausdruck einer judenfeindlichen gesellschaftlichen Stimmung. Rückblickend schreibt er: »Ich war mir kaum bewusst, dem Judentum anzugehören, war ein französischer Bürger mit aller Selbstverständlichkeit. Und trotzdem, […] ein der rechtsstehenden ›Action française‹ nahestehender Geschichtslehrer […] lehrte uns, dass man selbst mit dem zeitlichen Abstand nicht so genau wüsste, ob Dreyfus nun schuldig oder unschuldig gewesen war […]«. Die Frage hielt der Lehrer allerdings ohnehin für irrelevant, da seiner Auffassung nach die Affäre vor allem den Feinden der Kirche und des Militärs äußerst gelegen gekommen sei. Aron widersprach ihm vehement und es entfaltete sich eine lebhafte Diskussion: »Worauf es mir hier jedoch ankommt, ist, dass in diesem Dialog mit meinem Lehrer keiner von uns je erwähnte oder gar betonte, dass Dreyfus ein Jude war und dass auch ich einer war.«19 Diese Episode manifestiert die Ambivalenz des proklamierten Universalismus der französischen Republik. Die jüdische Herkunft von Alfred Dreyfus und ihm selbst, so Aron, habe selbstverständlich untergründig eine zentrale Rolle gespielt, auch wenn sie nicht explizit thematisiert wurde. Ebenso sahen die meisten assimilierten Juden die

16 Nicolas Baverez, Raymond Aron. Un moraliste au temps des idéologies, Paris 2006, 42–44. 17 Aron, Erkenntnis und Verantwortung, 14. 18 Ebd., 13. 19 Ebd., 23.

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eigene Herkunft als irrelevant an und beurteilten politische Entwicklungen mithilfe allgemeiner moralisch-ethischer Kategorien. Diese Beispiele illustrieren jedoch vor allem, wie stark sowohl das gesellschaftliche Klima Frankreichs im frühen 20. Jahrhundert als auch die intellektuelle Entwicklung Raymond Arons von der Dreyfusaffäre und ihren Nachwirkungen geprägt waren. Nach der Verbannung Dreyfus’ im Jahr 1894 war es zunächst eine Zeit lang still um ihn geworden, bis der Artikel von Zola 1898 eine größere gesellschaftliche Debatte über die Rechtmäßigkeit der Verurteilung entfachte. Danach ergriffen immer mehr Intellektuelle öffentlich Partei. Dennoch wurde Dreyfus in einem zweiten Prozess 1899 erneut verurteilt, wenn auch zu einer deutlich milderen Strafe. Nur wenige Wochen später begnadigte ihn die neue Regierung unter Pierre Waldeck-Rousseau, nachdem er seinen Einspruch gegen das Urteil zurückgezogen hatte. 1906 wurde Dreyfus schließlich wieder in die Armee aufgenommen. Seinerzeit war Raymond Aron gerade ein Jahr alt. Die Ausführungen über die Bücher in der elterlichen Wohnung unterstreichen den Stellenwert der Dreyfusaffäre für Aron auch noch fast hundert Jahre nach den eigentlichen Geschehnissen. Die Bedeutung dieses Ereignisses in der familiären Erzählung dürfte zu seiner Wachsamkeit gegenüber totalitären Entwicklungen beigetragen haben, die er selbst in der Zwischenkriegszeit beobachtete und schließlich am eigenen Leib erfuhr. Die frühe und intensive Beschäftigung mit der Affäre legte das ethisch-moralische Fundament der politischen Reflexionen Arons. Ähnlich wie Lazare vor ihm sah auch er die Verantwortung der Intellektuellen darin, Partei für die unerschütterlichen Werte von Gerechtigkeit und Freiheit zu ergreifen. Angesichts des Unrechts waren sie seiner Ansicht nach aufgefordert zu intervenieren; sie sollten politische und gesellschaftliche Fehlentwicklungen nicht einfach hinnehmen. Außerdem hielt Aron es für verheerend, wenn sich die Masse (und mit ihr die Intellektuellen) von politischen Leidenschaften aufstacheln ließ, denn das entstehende Chaos richte sich dann häufig gegen religiöse Minderheiten oder wehrlose Individuen. Während seines Philosophiestudiums verfestigte sich diese Einstellung, insbesondere durch die Beschäftigung mit dem einflussreichen Werk des jüdischen Philosophen Julien Bendas, La trahison des clercs aus dem Jahr 1927, das 1978 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Der Verrat der Intellektuellen erschien.20 Darin untersucht Benda das Versagen der großen Mehrheit der französischen Intellektuellen im Zuge der Dreyfusaffäre. Während die meisten von ihnen indifferent gewesen waren, hatte eine nicht geringe Anzahl sogar das im Prozess sich manifestierende Ressentiment übernommen und weiter angefacht. Es hatte lange gedauert, bis einige wenige Intellektuelle schließlich offen Partei für den Angeklagten ergriffen.

20 Julien Benda, La trahison des clercs, Paris 1927.

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Die prägende Bedeutung dieses Textes für die intellektuelle Entwicklung Arons zeigt sich darin, dass dieser seinen ersten veröffentlichten Aufsatz genau diesem Thema widmete.21 Eines seiner einflussreichsten Bücher, das in der Hochphase des Kalten Krieges erschien, verortete er eindeutig in der Tradition des Werkes von Benda, nämlich das 1955 veröffentlichte L’opium des intellectuels.22 Darin setzt sich Aron mit der großen ideologischen Anziehungskraft des Marxismus auf französische Intellektuelle und deren Gleichgültigkeit gegenüber den stalinistischen Verbrechen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Er versucht, die aus seiner Sicht konstitutiven Mythen der marxistischen Welt­ anschauung zu widerlegen und plädiert für einen gesellschaftlichen und politischen Pluralismus, der jedes Streben nach objektiver Wahrheit als potentiell totalitär zurückweist, jedoch zugleich auf festen ethischen Werten aufbaut. Für sich selbst hatte Aron dieses moralische Fundament seit seiner Jugend in der Auseinandersetzung mit der Dreyfusaffäre gelegt. Nach dem Studienabschluss an einer Pariser Eliteuniversität und dem Militärdienst wurde Aron 1930 Assistent des Romanistikprofessors Leo Spitzer an der Universität Köln. Den Aufstieg des Nationalsozialismus erlebte er unmittelbar in Berlin, wohin er 1932 übergesiedelt war. Frühzeitig hörte er auf Propaganda­ versammlungen der NSDAP die Hetzreden Adolf Hitlers. Als Außenstehender deutete er die Ereignisse vom 30. Januar 1933 im Gegensatz zur Mehrheit seines Umfelds unmittelbar als historische Zäsur. Die ersten Nachrichten über die Einrichtung deutscher Konzentrationslager machten aus seiner Sicht mehr als deutlich, was den politischen Gegnern des nationalsozialistischen Regimes blühte. Zurück in Frankreich wurde Aron Zeuge der Erschütterungen der Dritten Republik, der politischen Auseinandersetzungen des Jahres 1934 sowie der außenpolitischen Expansion des NS-Regimes. Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde er eingezogen. Bereits wenige Tage nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich am 10. Mai 1940 erhielt seine Einheit den Rückzugsbefehl. Gemeinsam mit seiner Frau entschied er, nach England zu fliehen, weil »uns klar [war], dass in einem besiegten Frankreich, ganz gleich, ob es sich mit dem Dritten Reich aussöhnte oder sich ihm unterwarf, für die Juden kein Platz mehr war.«23 In London schloss Aron sich dem Freien Frankreich unter Charles de Gaulle an. Zwar pflegte er auch im Exil kein Verhältnis zum Judentum als Religion und fühlte sich kulturell in jeder Hinsicht als Franzose; gleichwohl nahm seine Reflexion auf die eigene Zugehörigkeit eine wichtigere Rolle ein. Ebenso wie Dreyfus 21 Raymond Aron, A propos la trahison des clercs, in: Libres Propos, N. F. 2, H. 4, 20. April 1928, 177. 22 Ders., L’opium des intellectuels, Paris 1955 (dt.: Opium für Intellektuelle oder Die Suche nach Weltanschauung, Köln 1957). 23 Ders., Erkenntnis und Verantwortung, 130.

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machte Aron fast ein halbes Jahrhundert später die Erfahrung, dass auch ihn sein Selbstverständnis als patriotischer Franzose nicht davor bewahrte, von seiner Umgebung als Jude wahrgenommen zu werden; und das keineswegs zum ersten Mal. In seinen Memoiren erinnerte er sich beispielsweise an eine Episode aus der Schulzeit: »Meine Mitschüler wussten sehr wohl – als wäre das selbstverständlich –, dass ich Jude war. […] Es ist mir passiert, dass man mir im Alter von elf oder zwölf Jahren beim Verlassen des Gymnasiums ›dreckiger Jude‹ oder ›Youpin‹ nachrief.«24 Folglich stellte sich die Situation für Aron bereits während seiner Jugend ambivalent dar. Während seine Herkunft im offiziellen Kontext der Schule, die als Institution das republikanische Selbstverständnis Frankreichs wie keine andere repräsentiert, nicht thematisiert wurde, wurde er damit konfrontiert, sobald er diesen laizistischen Raum verließ. Nach der Befreiung arbeitete Aron mehrere Jahre bei der Zeitung Le Figaro, bevor er 1955 eine Professur für politische Soziologie an der Sorbonne erhielt. Bei aller intellektuellen Distanz wurde er Mitglied der gaullistischen Bewegung­ Rassemblement du peuple français (RPF), vertrat aber zugleich einen prowestlichen Liberalismus und dezidierten Antitotalitarismus. Diese Haltung brachte ihn in Konflikt mit den beiden dominanten Strömungen im Nachkriegsfrankreich, den Gaullisten und den Kommunisten. Darüber hinaus avancierte er zur Gegenfigur seines ehemaligen Studienfreundes Jean-Paul Sartre, der den linken, pro-kommunistischen Intellektuellen par excellence verkörperte. Somit nahm Aron eine spezifische gesellschaftliche Rolle ein. Er unterrichtete an führenden Universitäten, pflegte persönlichen Kontakt zur politischen Elite, und gehörte dennoch – nicht zuletzt wegen seiner Herkunft – niemals uneingeschränkt dazu. Tony Judt bezeichnete Aron in dieser spezifischen Zwischenstellung prägnant als »peripheral insider«.25 Sein intellektuelles Schaffen wie seine Themenwahl waren primär von den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs geprägt. So brachte ihn die Schmach der französischen Niederlage, der »étrange défaite«26, dazu, sich eingehender mit Kriegstheorien zu befassen.27 Vor allem jedoch der Holocaust veränderte Arons Selbstverständnis und Wirken grundlegend. Rückblickend merkte er an, dass Hitler das Judentum in ihm wachgerufen habe. Nach 1945 bedeute dies vor allem, Teil des Kollektivs der Überlebenden des »großen Massakers« zu sein.28 Vor diesem Hintergrund

24 Ebd., 23. Zu Arons Beschäftigung mit »jüdischen Fragen« Raymond Aron, Essais sur la condition juive contemporaine. Collection dirigée par Jean-Claude Zylberstein, Paris 2007. 25 Vgl. Tony Judt, The Peripheral Insider. Raymond Aron and the Wages of Reason, in: ders., The Burden of Responsibility. Blum, Camus, Aron, and the French Twentieth Century, Chicago, Ill./London 1998, 137–182. 26 Marc Bloch, L’étrange défaite. Témoignage écrit en 1940, Paris 1990. 27 Raymond Aron, Clausewitz, den Krieg denken, Frankfurt a. M. 1980. 28 Ders., Face à la tragédie, in: Le Figaro Littéraire, 12. Juni 1967, 6–8, hier 6.

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ergab sich für Aron die Notwendigkeit zur Beschäftigung mit jüdischen Fragen: »[A]ber ich muss anerkennen, dass ich ›jüdischer Herkunft‹ bin, selbst wenn ich mich weigere, von ›jüdischer Religion‹ zu sprechen. Es versteht sich von selbst, dass seit Hitlers Machtergreifung 1933 ein selbst dem Glauben seiner Väter gänzlich abgewandter Jude nicht umhin konnte, auf einer Zugehörigkeit zu bestehen, die nicht mehr ungefährlich war.«29 Durch diese Konstellation wurde auch Arons Verhältnis zu Israel bestimmt. Zwar erwog er zu keinem Zeitpunkt die Auswanderung, fühlte sich jedoch auf einer grundlegenden Ebene solidarisch. Er begriff den jüdischen Staat und die jüdische Diaspora als komplementär. Wenn es ihm nötig erschien, intervenierte er als diasporischer Jude zugunsten Israels, etwa als Präsident de Gaulle auf einer Pressekonferenz im Zuge des Sechstagekriegs 1967 die Juden als »selbst­ bewusstes, herrschsüchtiges und elitäres Volk«30 bezeichnete. Den prägenden Erfahrungen der Zwischenkriegszeit vorgelagert, sie gleichsam präjudizierend, nahm die Dreyfusaffäre in Arons Denken zentrale Be­ deutung ein. Die Beschäftigung mit ihr bildete gewissermaßen die Keimzelle seines politischen Denkens. Das sich zur Zeit des Prozesses formierende »Bündnis zwischen Mob und Elite«31 betrachtete er jedoch nicht nur als Gefahr für die Juden in Frankreich, sondern auch für die demokratische Verfasstheit des französischen Staats, insbesondere da die Kontrollfunktion des Parlaments und die mäßigende Wirkung der institutionellen Vermittlung von Herrschaft seinerzeit suspendiert gewesen sei. In Abgrenzung dazu basierte Arons Politikverständnis auf dem notwendigen Kompromiss divergierender Positionen: »Die Politik wird die Kunst des Möglichen unter unvorhersehbaren Konstellationen bleiben, wie es eben einer unvollständigen Erkenntnis entspricht.«32 Ansonsten laufe sie Gefahr, der Tyrannei Vorschub zu leisten. Diese Tyrannei durch intellektuelle Interventionen zu verhindern, verstand Aron angesichts der historischen Er­fahrungen als seinen Auftrag. So untergrub die Dreyfusaffäre weder Arons Vertrauen in die Französische Republik noch seinen Patriotismus dauerhaft. Dafür beurteilte er die Vorgänge zu sehr vor dem Hintergrund allgemeiner, abstrakter Kategorien wie Wahrheit und Lüge, Loyalität und Verrat. Zweifelsohne jedoch weckte das Sujet Arons »Leidenschaft für die Politik«33. Die Beschäftigung mit der Dreyfus­ affäre bildete die Grundlage für seinen Antitotalitarismus und seine Demokratie-

29 Raymond Aron, Zeit des Argwohns. De Gaulle, Israel und die Juden, Frankfurt a. M. 1968, 139 (frz.: ders., De Gaulle, Israel et les juifs, Paris 1968). 30 Die Pressekonferenz vom 27. November 1967 ist einzusehen unter: (14. Februar 2016). 31 Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 702–725. 32 Aron, Opium für Intellektuelle, 245. 33 Altwegg, Die langen Schatten, 171.

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theorie und markiert damit einen wesentlichen Referenzpunkt für die politische Entwicklung Arons, stand ihr Studium doch »am Anfang und am Ende seines historischen Nachdenkens«.34

Die Gegenwart der Vergangenheit: Pierre Goldman Im Mai 1976 fand in Paris der Revisionsprozess gegen Pierre Goldman statt, der zwei Jahre zuvor wegen eines Doppelmords zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Goldmans Anwalt Georges Kiejman forderte dieser Prozess zu einem wortgewaltigen Abschlussplädoyer heraus: »Wir haben Goldman, diesem Mann, der die Sprache einer neuen Generation spricht, diesem Mann des 20. Jahrhunderts, einen Prozess des 19. Jahrhunderts gemacht. Balzac hätte Pierre Goldman nicht beschreiben können, Kafka tat es. Balzac jedoch hätte den Prozess beschreiben können, und dieser nannte sich ›eine dunkle Affäre‹.«35 Kiejman rekurrierte nicht nur auf Kafka und Balzac, um den Prozessverlauf gegen Goldman als grotesk zu charakterisieren, sondern durch den Verweis auf das 19. Jahrhundert auch mehr oder weniger explizit auf die Dreyfusaffäre. In der französischen Öffentlichkeit, insbesondere unter jüdischen Intellektuellen, wurden damals häufiger Parallelen zwischen Pierre Goldman und Alfred Dreyfus gezogen. Beide waren Juden und in einem Indizienprozess zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Es entstand bei vielen Zeitgenossen der Eindruck, dass beide aufgrund ihrer Herkunft zu Opfern von Willkürjustiz und einer judenfeindlichen Stimmung in der Gesellschaft geworden waren. Während die radikale französische Linke einen der ihren auf der Anklagebank sah, interpretierten viele Juden den Prozess gegen Goldman als Wiederauflage der­ Dreyfusaffäre und befürchteten das Anwachsen des Antisemitismus als Ausdruck der dunklen, oft verdrängten und vergessenen Geschichte Frankreichs. Diese historischen Ambivalenzen sind in dem Ausdruck der Deux France, der »zwei Frankreich«, enthalten, der seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder zur Beschreibung der internen Spaltung des Landes angeführt wurde.36 Goldman erschien in dieser Perspektive gewissermaßen als Wiedergänger von Dreyfus. Pierre Goldman war am 22. Juni 1944 in Lyon als Sohn jüdisch-kommunis­ tischer Résistancekämpfer geboren worden. Seine Eltern, Sima Sochaczewska und Alter Mojsze Goldman, waren in den 1920er Jahren aus Polen nach Frank 34 Nicolas Baverez, Raymond Aron. Un moraliste au temps des idéologies, Paris 1993, 42. 35 Zit. nach Marc Kravetz, Maître Kiejman, »nous faison un procès du XIX siècle à un homme du XX siècle«, in: Libération, 5. Mai 1976, 9. 36 Bereits 1889 erschien Mathurin Lescure, Les deux France. Histoire d’un siècle, ­1789–1889. Récits d’une aïeule centenaire à ses petits enfants, Paris 1889. Vgl. auch Pierre Fayol, Les deux France: 1936–1945, Paris 1994.

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reich eingewandert, hatten sich als Mitglieder der Kommunistischen Partei in der Gewerkschaft Main-d’œuvre immigré  (MOI) engagiert und sich während der deutschen Besatzung dem bewaffneten Widerstand angeschlossen. Goldman strebte sein Leben lang danach, ihren Kampf fortzusetzen und nachträglich zu gewinnen, um die Verbrechen des Holocaust wenigstens zu rächen, wenn sie schon nicht ungeschehen gemacht werden konnten. Dabei schwankte er zwischen der Erinnerung an den Spanischen Bürgerkrieg und dem heldenhaften antifaschistischen Widerstand auf der einen und dem Gedenken an Auschwitz und die Ermordung der europäischen Juden auf der anderen Seite. Bewusst wählte Goldman das Pariadasein jenseits der herrschenden gesellschaftlichen Moral. Angetrieben von der Aussicht auf Revolution hielt er den Widerstand gegen die Verhältnisse im Frankreich der 1960er Jahre für nicht radikal genug. Er wurde fahnenflüchtig, schloss sich einer Guerilla in Lateinamerika an und driftete – zurück in Paris – in das kriminelle Milieu ab. Die von ihm zur Jahreswende 1969/1970 begangenen Raubüberfälle verklärte er als revolutionäres Banditentum; im April 1970 wurde er in der französischen Hauptstadt fest­genommen. Des Doppelmords angeklagt, verurteilte man ihn 1974 zu lebenslanger Haft. Während Goldman sich an dem Prozess kaum beteiligte, war er dennoch nicht gewillt, das Urteil hinzunehmen. Er stritt die Überfälle nicht ab, behauptete jedoch kategorisch, keinen Mord begangen zu haben. Um seine Unschuld zu beweisen, verfasste er im Gefängnis die autobiografische Schrift Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden.37 Das 1975 erschienene Buch verkaufte sich mehr als 60 000 Mal und wurde zu einem Standardwerk der französischen Linken. Das Urteil gegen Goldman wurde in weiten Teilen der Öffentlichkeit als skandalös empfunden. Mehrere Zeitungsartikel thematisierten die Widersprüche in der Anklage.38 Freunde von ihm gründeten das »Komitee Gerechtigkeit für Pierre Goldman«, das namhafte Intellektuelle als Unterstützer gewinnen konnte, da­ runter Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, den Dichter Louis Aragon und den früheren Ministerpräsidenten Pierre Mendès-France.39 Außerdem setzten sich zwei Bücher kurz nach der Verurteilung mit dem Prozess auseinander: Hélène Cixous verfasste mit Un K. incompréhensible. Pierre Goldman (1975) eine Streitschrift zur Unterstützung Goldmans, die sich explizit gegen den als absurd emp 37 Pierre Goldman, Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden, Frankfurt a. M. 1980. Franz. Ausgabe: ders., Souvenirs obscurs d’un juif polonais né en France, Paris 1975. 38 Vgl. etwa Marc Kravetz, Le dossier de l’affaire du boulevard Richard-Lenoir, in: Libération, 16. Dezember 1974, 7; ders., Le verdict de la majorité silencieuse, in: Libération, 16. Dezember 1974, 1, Forts. 7. 39 Plusieurs personnalités se déclarent »indignées« de la condamnation de Pierre Goldman à la réclusion à vie, in: Le Monde, 17. Dezember 1974, 16; Le comité justice pour Pierre G ­ oldman veut créer une commission d’enquête, in: ebd., 18. Dezember 1974, 16.

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fundenen Prozess wandte, in dem der Angeklagte ohne eindeutigen Beweis zu lebens­länglicher Haft verurteilt worden sei.40 Während der Kafka-Bezug im Titel das Leitmotiv darstellt, stellt die Autorin auch immer wieder Bezüge zur Dreyfus­ affäre her. Goldman wird als Opfer einer undurchschaubaren Bürokratie präsentiert, die einen Schuldigen gesucht und in ihm einen Sündenbock gefunden habe. Régis Debrays Buch Les rendez-vous manqués. Pour Pierre Goldman (1975) zeichnet Goldman als paradigmatisch für eine ganze Generation, die die Revolution ersehnt habe, als diese schon nicht mehr möglich war. Goldman wie Debray selbst seien Angehörige dieser verlorenen Generation, die ihre Begegnung mit der Geschichte im emphatischen Sinn verpasst habe.41 Im Mai 1976 wurde im Fall Goldman schließlich doch noch ein Revisionsprozess anberaumt, in dem er vom Vorwurf des Doppelmords freigesprochen wurde. Durch die Anrechnung seiner bisherigen Haft und aufgrund guter Führung wurde er im Oktober desselben Jahres entlassen. Er arbeitete als Schrift­steller und verfasste einen wenig erfolgreichen Roman.42 Zusammen mit seiner Frau schmiedete er Pläne, nach Lateinamerika auszuwandern. Am 20. September 1979 wurde Goldman jedoch am helllichten Tag in Paris auf offener Straße erschossen. Zu dem Anschlag bekannte sich ein rechtsextremes Terrorkommando.43 Einen der letzten Texte vor dem Attentat schrieb Goldman für die jüdische Monatszeitschrift L’Arche. Darin reagierte er auf die Leugnung des Holocaust durch den früheren »Generalkommissar für Judenfragen« des Vichy-Regimes, Darquier de Pellepoix, in einem Interview vom Oktober 1978. Goldman erblickte in den Äußerungen lediglich einen weiteren Ausdruck der langen antisemi­ tischen Tradition Frankreichs, die in engem Zusammenhang mit wirkmächtigen Mythen stehe. Über diese wollte Goldman aufklären.44 Bezeichnend war schon der gewählte Titel: Wir, Juden nach Drancy. Goldman ging es nicht um die Franzosen, sondern um die Juden in Frankreich, zu denen er auch sich selbst zählte. 40 Hélène Cixous, Un K. incompréhensible. Pierre Goldman, Paris 1975. 41 Régis Debray, Les rendez-vous manqués. Pour Pierre Goldman, Paris 1975. Vgl. auch­ Sebastian Voigt, Pierre Goldmans Prozess. Literarische Interventionen von Hélène Cixous und Régis Debrais, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 10 (2011), 369–388. 42 Pierre Goldman, L’ordinaire mésaventure d’Archibald Rapoport, Paris 1977. 43 Die sich um seine Ermordung rankenden Mythen konnten erst vor kurzem aufgeklärt werden. Im Mai 2012 wurde der Name des Mörders bekannt: René Resciniti de Says, Mitglied der rechtsextremen Action Française und Fallschirmspringer im Algerienkrieg. Er war an Aktionen gegen französische Unterstützer der FLN beteiligt gewesen. Nachdem er im April 2012 gestorben war, enthüllte der rechtsextreme Journalist Emannuel Ratier die Täterschaft de Says’. Vgl. Abel Mestre/Caroline Monnot, L’identité de »Gustavo«, l’homme qui dit avoir tué Pierre Goldman, révélée, 22. Mai 2012, (14. Februar 2016). 44 Pierre Goldman, Nous, Juifs d’après Drancy. Tribune libre, in: L’Arche, Dezember 1978, 21 f.

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Der zeitliche Bezugspunkt war deshalb nicht die Französische Revolution von 1789 oder die Geschichte der Republik, sondern das im August 1941 eingerichtete, später von den Deutschen für die Deportation der Juden gen Osten genutzte Sammellager Drancy im Norden von Paris. Von hier aus, so Goldman, müsse das Verhältnis der Juden zu Frankreich grundlegend neu bestimmt werden. Goldman seziert in seinem Aufsatz die offizielle Geschichtsschreibung Frankreichs und macht drei große Narrative aus: Der staatsoffizielle Mythos der französischen Nation, so Goldman, wurzele in der Revolution von 1789. In ihrer Folge hätten die Juden die Staatsangehörigkeit erhalten und damit die Erlaubnis, in die Mehrheitsgesellschaft einzutreten und Franzosen zu werden. Diese uni­ versalistische Fiktion impliziere, dass die Juden nur aufgrund ihrer Religion Juden seien. Diese Annahme, so Goldman, sei falsch. Gemäß einer derartigen Logik wäre die Mehrheit der Juden in Israel nicht mehr jüdisch. Es stimme zwar, dass sich die Juden in der Diaspora immer wieder um religiöse Symbole versammelten, um sich ihrer Zugehörigkeit zu versichern, aber der Glaube sei nicht die zentrale Dimension jüdischer Existenz. Juden seien auch nicht mit anderen Völkern oder regionalen Gemeinschaften, wie den Bretonen oder Korsen in Frankreich vergleichbar. Sie seien nicht verwurzelt, sondern eine ausgeschlossene Minderheit: »Ich sagte: Ausschluss. Es reicht unsere Geschichte in Frankreich zu betrachten: Ausschluss bis 1789. Und, von 1789 bis 1945, unentwegt konflikt­geladene Geschichte und Kampf gegen einen großen und mächtigen Anti­semitismus […].«45 Als wichtigste Beispiele für die Judenfeindschaft vor dem Vichy-Regime nannte Goldman die Dreyfusaffäre und die Zeit des Ersten Weltkriegs, in der die Juden trotz ständiger Beteuerung ihres Patriotismus als illoyal attackiert wurden. Der zweite Mythos sei es, die Jahre 1940 bis 1944 als geschichtlichen Unfall zu betrachten. Das Vichy-Regime sei die Zerstörung des Frankreichs gewesen, an das die immigrierten Juden seiner Elterngeneration fest geglaubt hätten: »Oh, unsere Eltern, die, in nicht geringer Zahl, an ihrer lächerlichen Treue zum Frankreich von Victor Hugo und von Zola festhalten, den schändlichen Antisemitismus des großen Voltaire und anderer wichtiger Personen der französischen Kultur ignorieren.«46 Als dritten Mythos benennt Goldman die vermeintliche Anerkennung einer französischen Nationalität für Juden, die ihren faktischen Ausschluss aus der nationalen Gemeinschaft überblende. Von ihrer Elterngeneration hätten die nach 1940 geborenen Juden gelernt, sich ruhig zu verhalten, die nationale Aus­söhnung nicht zu stören und nach jener Anerkennung zu streben. Diese Vorsicht gelte heute nicht mehr; stattdessen hätten die Juden nach Drancy ihre Zurückhaltung aufgegeben: »Sie glauben nicht mehr an die universalistischen Betrügereien, die vorgeben unsere Identität abzuschaffen oder auszulöschen. Sie fordern nicht, 45 Ebd., 21. 46 Ebd.

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sondern nehmen sich das Recht, andersartige französische Bürger zu sein. […] Sie versichern, dass ihre Integration in die französische Nation keine erzwungene Assimilation sein wird, sie sagen, dass ihre Zugehörigkeit zur französischen Nationalität durch ihre Zugehörigkeit zum jüdischen Volk durchführt.«47 Im letzten Interview, das zehn Tage nach Goldmans Ermordung am 30. September 1979 in Le Monde veröffentlicht wurde, bekräftigte er seine Thesen über die Mythen im Nachkriegsfrankreich. Nach einer Diskussion darüber, was es bedeute, jüdisch zu sein, formulierte Goldman seine Sicht auf die Rolle der Juden in der Moderne ausgesprochen radikal: »Was die Juden zur Zivilisation beitragen können, das ist die Irrfahrt der Heimatlosigkeit, das Gefühl der NichtZugehörigkeit. Ich glaube an die jüdischen Werte, die die Antisemiten hassen. Ich glaube an den Nihilismus, an die Negativität. Ich glaube an den libertären Juden, der dazu da ist, aus Prinzip die positiven Werte aufzulösen, weil er weder ein Mensch eines Landes, noch ein Mensch einer Heimat noch ein Mensch einer Nation ist.«48 Stellvertretend für die Generation der um 1945 geborenen Juden weigerte sich Goldman, die Verdrängung der Vichy-Vergangenheit und das Schweigen über ihre Herkunft länger hinzunehmen. Diese Weigerung bedeutete meist den Bruch mit den Vorstellungen der Eltern, die Frankreich aus tiefster Überzeugung verehrt und zuweilen sogar mythologisiert hatten. Die Nation als Verkörperung der Werte von 1789 hatte ihnen in der Zwischenkriegszeit noch Schutz vor Ver­ folgung und Diskriminierung gewährt. Für die nachfolgende Generation war es jedoch nicht länger möglich, in der Assimilationsforderung des französischen Republikanismus eine Verheißung zu erblicken. Goldman repräsentierte eben diesen Bewusstseinswandel in radikaler Form. Aus seiner Sicht war die Dreyfusaffäre der unwiderlegbare Ausdruck einer untergründigen Tendenz der französischen Geschichte, einer virulenten Judenfeindschaft, die auch durch den offiziell proklamierten Universalismus nach der Revolution von 1789 nicht beseitigt wurde. Das Vichy-Regime und die Kollaboration französischer Behörden bei den Judendeportationen stellten in Goldmans Perspektive den tragischen Endpunkt einer Entwicklung dar, die in der Verurteilung von Alfred Dreyfus 1894 ihren Anfang genommen hatte. Er weigerte sich, ein Teil dieser Gesellschaft zu sein, die für die Ermordung von Juden (mit-)verantwortlich war. In der ihm eigenen Unerbittlichkeit beabsichtigte Goldman die verlorenen Kämpfe der Zwischenkriegszeit nachträglich zu gewinnen, um den Aufstieg des Faschismus und des Nationalsozialismus und in dessen Konsequenz den Holocaust ex post ungeschehen zu machen. Der französischen Nachkriegsgesellschaft warf er vor, ihre eigene Rolle zu verschweigen und fortzufahren, als ob nichts geschehen sei. Der 47 Ebd., 22. 48 Catherine Chaine, Une interview inédite: Goldman l’étranger, in: Le Monde, 30. September 1979, Supplement, I, Fortsetzung XVII, hier XVII.

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fran­zösischen Linken hielt Goldman mangelnde Radikalität vor. Ferner monierte er, dass sie sich häufig in die Kontinuität des jüdisch-kommunistischen Kampfs gegen die deutsche Besatzung stellte, die ihr nicht zustand. Somit verkörperte Goldman geradezu prototypisch den Paria im Nachkriegsfrankreich, der sich außerhalb der Gesellschaft, ja selbst jenseits der Linken verortete, wobei er diesen Status selbst gewählt hatte. Pierre Goldman war bis zu seinem Tod 1979 ein bewusster Paria.

Drei jüdische Parias und die Dreyfusaffäre Die Dreyfusaffäre stellte für jüdische Intellektuelle seit dem Ende des 19. Jahrhunderts durchweg ein zentrales Ereignis der französischen Geschichte dar, in dem das Selbstverständnis und das Wertefundament der Republik zur Disposition standen. Jede Generation wandte sich der Affäre vor dem Hintergrund der eigenen politischen und gesellschaftlichen Situation erneut zu. Während Lazare als Zeitgenosse unmittelbar politische Konsequenzen ableitete und eine eigenständige Vorstellung des jüdischen Nationalismus entwickelte, hielt Aron trotz der Dreyfusaffäre am französischen Patriotismus fest. Er war noch zu stark vom positiven Bezug vieler Juden auf die universalistischen Versprechen der fran­ zösischen Republik geprägt, der bei vielen selbst die Zeit des Exils und der Diskriminierung im Vichy-Regime überdauerte. Diese Prägung hatte in der Generation von Goldman bereits an Nachhaltigkeit eingebüßt. Er hatte erfahren müssen, dass der Glaube seiner Elterngeneration an die Werte der Französischen Revolution und ihre Dankbarkeit gegenüber der Republik sie nicht davor bewahrt hatten, aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen, verfolgt und ermordet zu werden. Folglich stellte die Verurteilung Dreyfus’ für Goldman den Beginn einer Entwicklung dar, die in Drancy endete. Alle drei sind aber nicht nur Repräsentanten ihrer jeweiligen Generation, sondern waren in unterschiedlicher Hinsicht als Individuen Parias in ihrer Zeit. Als ersten Dreyfusard bestimmte die Beschäftigung mit der Affäre den weiteren politischen Weg Bernard Lazares in fundamentaler Weise. Der in der Verurteilung von Dreyfus deutlich werdende Antisemitismus und der Einfluss der Schriften Édouard Drumonts brachten Lazare zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Judenfeindschaft. Dadurch wurde er zum ersten modernen Historiker der Entwicklung des Judenhasses von der Antike bis ins späte 19. Jahrhundert. Nach seinem Bruch mit dem Zionismus formulierte er eine Form des jüdischen Nationalismus, die auf die verarmten Massen im östlichen Europa setzte und am Gedanken einer Revolution festhielt. Damit stellte sich Lazare in eine Reihe mit hauptsächlich osteuropäischen jüdischen Aktivisten und wandte sich zugleich als bewusster Paria gegen die Assimilationsforderungen der franzö­sischen Gesellschaft.

Intellektuelle Parias

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Geprägt von der Zwischenkriegszeit, der französischen Niederlage und der Erfahrung des Exils zog Raymond Aron andere Schlussfolgerungen aus dem geschichtlichen Verlauf als die ihn umgebende Gesellschaft. Der Kampf für die Freiheit und gegen den Totalitarismus, sei es in Form des Nationalsozialismus oder des Stalinismus, betrachtete er als Verpflichtung eines jeden kritischen Intellektuellen. Die unbedingte Notwendigkeit des Engagements ergab sich für Aron aus dem Verrat der französischen Intellektuellen in der Dreyfusaffäre. Die weitere Entwicklung führte ihm vor Augen, dass dieser Verrat sich nun unter anderen Umständen zu wiederholen drohte. Die kommunistischen Intellektuellen Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängten den Stalinismus und seine Verbrechen, während sich nahezu alle französischen Intellektuellen darin einig waren, dass Frankreich eine Nation im Widerstand gewesen sei und das VichyRegime nicht als integraler Teil der französischen Geschichte zu beurteilen sei. Raymond Aron teilte diesen Konsens nicht; sein politisches Hauptaugenmerk galt der Verteidigung der parlamentarischen Demokratie und des gesellschaftlichen Pluralismus westlicher Provenienz, um ein erneutes Abdriften der europäischen Gesellschaften in die Barbarei zu verhindern. Mit dieser Ansicht wurde auch Aron zu einem intellektuellen Paria im Frankreich der Nachkriegszeit. Pierre Goldman nahm die radikalste Position ein, indem er der französischen Nation ihre Geschichtsmythen vorhielt und eine historische Kontinuität zwischen der Verurteilung von Alfred Dreyfus und dem Vichy-Regime zog, das für die Deportation der französischen Juden in die Vernichtungslager verantwortlich war. Seine Radikalität positionierte ihn gänzlich außerhalb der vorherrschenden Normen und Werte und ließ ihn ins kriminelle Milieu abdriften. Trotz seiner unbestreitbaren Verbrechen stand in der zeitgenössischen Wahrnehmung mit ihm jedoch nicht nur ein gewöhnlicher Verbrecher vor Gericht, sondern auch ein Jude als Jude. Die Prozesse gegen Goldman wurden von vielen Intellektuellen vor dem historischen Hintergrund der Dreyfusaffäre interpretiert. Damit erschien die Goldman-Affäre als Rückkehr der Zustände des späten 19. Jahrhunderts. Für die Selbstverortung und die politische Entwicklung von Lazare, Aron und Goldman erwies sich die Beschäftigung mit der Dreyfusaffäre als zentral. Ihre weit über den eigenen Zeithorizont am Ende des 19.  Jahrhunderts hinaus reichende Bedeutung resultiert daraus, dass in dem Ereignis das konstitutive Selbstverständnis Frankreichs, gewissermaßen seine Geschäftsgrundlage, verhandelt wurde. Die Affäre drehte sich um grundlegende Werte, um Loyalität und Illoyalität und besonders darum, wer sich als zugehörig zur französischen Nation betrachten konnte und wer nicht. Wenn auch unter völlig veränderten politischen Vorzeichen und vor dem Hintergrund weitreichender gesellschaftlicher Wandlungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ist die sich in der Dreyfusaffäre manifestierende Problematik heute keineswegs obsolet. Die durch sie aufgeworfenen Fragen nach Konzepten von Pluralität und Zugehörigkeit sowie der Bedeutung des Laizis-

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mus bewegen die französische Öffentlichkeit noch immer – in den letzten Jahren mehr denn je. Insofern lässt sich Hannah Arendts Beobachtung erweitern: Nicht nur die grundlegenden Ereignisse der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts, sondern auch einige der drängendsten Probleme des 21. Jahrhunderts sind bereits im Frankreich des 19. Jahrhunderts angelegt.

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Vom Kommunisten zum Labour-Man Richard Löwenthal im britischen Exil

Kurz nach dem Tod Richard Löwenthals am 9. August 1991 veranstaltete der Berliner Senat eine Trauerfeier, auf der auch Willy Brandt eine Rede hielt.1 Den Verstorbenen und den Bundeskanzler a. D. verband nicht nur die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), sondern auch eine Jahrzehnte währende Freundschaft. 1938 hatten sie sich über gemeinsame Freunde im Pariser Exil kennengelernt. Wie Brandt 1991 im Gedenken vortrug, teilten beide bereits damals bestimmte Überzeugungen, die sie »zusammen­geführt hatte[n]«: die »Orientierung zur Europäischen Einheit«, die Lehren aus Weimar wie die als Reaktion auf die Schauprozesse und den Spanischen Bürgerkrieg »betonte Unabhängigkeit« vom Sowjetkommunismus. Jene drei Kernelemente des eigenen Selbstverständnisses, so Brandt weiter, hätten beide seit dieser Zeit »nie mehr« losgelassen.2 In der Tat waren diese drei Themenbereiche bestimmend in sozialdemo­ kratischen Debatten nach 1945; die ersten beiden prägten gar den öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik. Und auch Richard Löwenthal, der erstmals 1947 als Reuters-Korrespondent wieder nach Deutschland gereist war, gehörte bald zu den entschiedenen Vertretern eines geeinten Europas mit enger Bindung an die Vereinigten Staaten, und suchte stets zu verhindern, dass die Bonner Republik ein ähnliches Schicksal erfahren würde wie die Weimarer. Darum begleitete er mit wachsamen Augen und scharfer Zunge die Erneuerung der Sozialdemokratie. Vor allem aber war es sein über die stalinistischen Verbrechen der 1930er Jahre ausgebildeter und mit dem Heraufziehen des Kalten Krieges noch verstärkter Antikommunismus, der ihn nach 1945 vehement gegen mögliche Annäherungsversuche der Sozialdemokratie an die Kommunisten auftreten ließ. Für die 1 Gedenkrede von Willy Brandt, in: Gesine Schwan (Hg.), Wissenschaft und Politik in öffentlicher Verantwortung. Problemdiagnosen in einer Zeit des Umbruchs. Zum Gedenken an Richard Löwenthal, Baden-Baden 1995, 11–16. Zur frühen Biografie Löwenthals vgl. um­ fassend Oliver Schmidt, Meine Heimat ist – die deutsche Arbeiterbewegung. Biographische Studien zu Richard Löwenthal im Übergang vom Exil zur frühen Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 2007. 2 Gedenkrede von Willy Brandt, 13 f.

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frühe Bundesrepublik scheint Brandts Beschreibung von Löwenthals politischer Agenda in der Ansprache zu dessen Ehren also zuzutreffen. In einem Punkt irrte Brandt jedoch: Zum Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs waren weder er noch Löwenthal bereits Vertreter eines geeinten Europa, Verteidiger der Demokratie, geschweige denn Kritiker der Sowjetunion. Deutlich wird dies anhand einer im Sommer 1939 publizierten Flugschrift mit dem ahnungsvollen Titel Der kommende Weltkrieg, die gemeinsam von der Gruppe Neu Beginnen und der Sozialistischen Arbeiter­partei Deutschlands (SAP) in Zusammenarbeit mit den Revolutionären Sozialisten Österreichs in Paris aufgelegt worden war.3 Löwenthal als theoretischer Kopf von Neu Beginnen und Leiter des Auslandsbüros der Gruppe hatte die Schrift maßgeblich verfasst; Brandt, wenngleich Mitglied der SAP, hatte an der Ab­fassung der Schrift keinen Anteil. In Der kommende Weltkrieg finden die später von Brandt als gemeinsame Standpunkte gesetzten Themen eine noch deutlich andere Bestimmung. So artikulierte sich der positive Bezug auf Europa 1939 vornehmlich in der Hoffnung auf eine gesamteuropäische sozialistische Revolution, die entscheidend zur Niederlage der Nationalsozialisten beitragen oder in deren Folge ausgerufen werden würde.4 Auch von Löwenthals Eintreten für das Modell der repräsentativen, pluralistischen und rechtsstaatlichen Demokratie, wie es ihn nach dem Zweitem Weltkrieg auszeichnete, findet sich in der Broschüre zum befürchteten Weltkrieg noch keine Spur. Stattdessen stand an oberster Stelle der politischen Tagesordnung in der Emigration die Überwindung der Spaltung der Arbeiterbewegung.5 Die Sowjetunion schließlich galt den Verfassern zu diesem Zeitpunkt – wenige Wochen vor dem Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Pakts im August 1939 – gar noch als »größter nicht-imperialistischer Machtfaktor« und »der natürliche Verbündete« für die angestrebte Revolution in Europa.6 Jene Ansichten, die Brandt 1991 für seinen verstorbenen Freund geltend machte, hätte dieser 1939 also eher nicht geteilt. Noch deutlicher tritt der Kontrast hervor, zieht man eine weitere Schrift Löwenthals heran, die er 1946 noch unter seinem Pseudonym Paul Sering veröffentlichte: Das Werk Jenseits des Kapitalismus. Darin diagnostiziert Löwenthal, der 1939 in Anlehnung an den Austromarxisten Otto Bauer (1881−1938) noch die Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie betont hatte,7 dass der Staat, entgegen der Annahme von

3 Autorenkollektiv [Paul Hagen (Karl Frank), Josef Podlipnig, Karl Richter (Josef Buttinger), Paul Sering (Richard Löwenthal), Jakob Walcher], Der kommende Weltkrieg. Aufgaben und Ziele des deutschen Sozialismus. Eine Diskussionsgrundlage, Paris 1939. 4 Der kommende Weltkrieg, 17. 5 Ebd., 42. 6 Ebd., 40. 7 Ebd., 8.

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Karl Marx, aufgehört habe, »lediglich Unterdrückungsorgan zu sein«.8 Stattdessen hätten sich »kooperative Formen gesellschaftlicher Organisation« entwickelt, die zum Kapitalismus im Widerspruch stünden.9 Mit diesen »kooperativen Formen« meinte Löwenthal vor allem den entstehenden Wohlfahrtsstaat und sozialpolitische Maßnahmen. Durch sie würden Automatismen der »kapitalistischen Marktordnung« eingeschränkt, teilweise gar aufgehoben sowie durch »politische Beeinflussung der Verteilungsgesetze« ersetzt.10 War Löwenthal 1939 noch von der Notwendigkeit einer Revolution in Deutschland und Europa überzeugt, um Hitler zu stürzen und eine sozialistische Neuordnung vorzunehmen,11 kommt in Jenseits des Kapitalismus nun deutlich die Erkenntnis zum Ausdruck, dass Marx’ Prophezeiung, der Sozialismus folge mit »eherner Notwendigkeit« auf den Untergang des Kapitalismus, keine historische Gesetzmäßigkeit mehr bedeute.12 Zugleich zeigt sich in Jenseits des Kapitalismus, wie grundlegend Löwenthal sich von der Sowjetunion als Vorbild für eine befreite Gesellschaft abgewandt hatte. Das sowjetische Modell habe letztlich den Beweis erbracht, dass die Aufhebung des Privateigentums nicht notwendig in die Aufhebung der Klassen führen müsse.13 Stattdessen habe sich eine neue Klasse herausgebildet, die die Menschen unter dem Banner des Kommunismus regiere. Die Sowjetunion war damit für Löwenthal nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zur Negativfolie depriviert, von der es sich abzugrenzen galt, wenn man sich auch weltpolitisch mit ihr ins Benehmen zu setzen hätte. Den damit frei gewordenen Platz als Vorbild für den Weg zu einer sozialistischen Gesellschaft hatte für Löwenthal unterdessen Großbritannien eingenom­ men. Zwischen den Schriften von 1939 und 1946 kommt dementsprechend auch deutlich zum Ausdruck, wie sich sein Bild von England wandelte, und zwar als Folge der »Erfahrung der englischen Demokratie«, wie er später selbst konstatierte.14 So hält er in Jenseits des Kapitalismus zwar daran fest, dass es »ohne Planwirtschaft […] keinen Sozialismus geben« könne, gab jedoch zugleich zu bedenken, dass das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjet­union belegten, dass »Planwirtschaft […] auch ohne Sozialismus« möglich

8 Paul Sering (Richard Löwenthal), Jenseits des Kapitalismus. Ein Beitrag zur sozialis­ tischen Neuorientierung, Lauf bei Nürnberg 1946, 82. 9 Ebd., 49. 10 Ebd., 82. 11 Der kommende Weltkrieg, 16. 12 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 21; Karl Marx, Das Kapital. Bd. I, Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke (nachfolgend MEW), Bd. 23, Berlin 1962, 12. 13 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 251. 14 Richard Löwenthal, »Meine Heimat ist  – die deutsche Arbeiterbewegung«, in: Hajo Funke, Die andere Erinnerung. Gespräche mit jüdischen Wissenschaftlern im Exil, Frankfurt a. M. 1989, 402–421, hier 410.

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sei.15 Der wesentliche Unterschied sei die demokratische Verfasstheit der Gesellschaft. Damit rekurrierte er offenbar auf das seit 1945 von der Labour Party regierte Vereinigte Königreich, das mit seiner Politik in der Nachkriegszeit die Hoffnungen Löwenthals und zahlreicher anderer Emigranten genährt hatte, dass ein sozialistisches Europa möglich sei.16 Löwenthal kommt folglich zu dem Schluss, dass die Krisen der kapitalistischen Produktionsweise nur dann durch planwirtschaftliche Eingriffe und Verstaatlichungsmaßnahmen im sozialistischen Sinne zu lösen seien, wenn sie sich gleichzeitig mit der Demokra­tisierung weiter Teile der Gesellschaft verbänden.17 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg trat Löwenthal also für die Orientierung an den westlichen demokratischen Gesellschaften ein und engagierte sich beim Aufbau und der Wahrung einer pluralistischen und parlamentarischen Demokratie. Als Journalist und Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Univer­sität Berlin, als Berater von Brandt während dessen Kanzlerschaft oder als Mitglied der Grundwertekommission der SPD mischte Löwenthal sich mit seinen scharfsinnigen Analysen regelmäßig in die politische Kultur der Bundesrepublik ein.18 Es bleibt jedoch die Frage, was seinen Wandel zum »beste[n] Kopf der SPD«,19 wie er einmal bezeichnet wurde, befördert hatte. Eine Antwort darauf mag in der Tatsache verborgen liegen, dass Löwenthal, obwohl seit 1945 Mitglied der SPD, nie ein parteipolitisches Amt übernahm. Darin gemahnt seine Existenz an jene spezifische soziale Konstitution, die Karl Mannheim einst als Kennzeichen der »freischwebenden Intelligenz« beschrieben hatte.20 Die soziale Zugehörigkeit solcher Intellektueller lässt sich oft nicht präzise bestimmen, ist vielschichtig und nur graduell ausgeprägt. Zur genaueren Bestimmung ihrer politischen Haltung sind vor allem intellektuelle Zirkel als Resonanzraum wechselseitiger Prägung von Bedeutung – in diesem Fall also insbesondere jene Zirkel und Milieus des britischen Exils, in denen Richard Löwenthal, wie Heinrich August Winkler im Gedenken an seinen einstigen Lehrer schrieb, »endgültig zum Sozialdemokraten gereift« war.21

15 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 251. 16 Ebd., 88 sowie bes. 251. 17 Ebd., 172; vgl. auch Julius Braunthal, Über das Buch »Jenseits des Kapitalismus«, in:­ Sozialistische Mitteilungen 106 (1947), 6 f., hier 7. 18 Mario Kessler, Ein unbequemer Aufklärer. Richard Löwenthal, in: ders., Exil und NachExil. Vertriebene Intellektuelle im 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, 174–176, hier 174. 19 Klaus Harprecht, Rix Löwenthal, der beste Kopf der SPD. Ein Gedenkblatt, in: Neue­ Gesellschaft/Frankfurter Hefte 1/2 (2009), 41–44. 20 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt a. M. 1985, 134–140; Schmidt, Meine Heimat, 344. 21 Heinrich August Winkler, Ein Denker des Jahrhunderts der Extreme, in: Die Welt, 15. April 2008.

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Exil im Labour-Milieu Die Quellenlage zu Löwenthals Zeit im britischen Exil ist ausgesprochen dünn, ein Nachlass für diese Phase existiert nicht. Lediglich anhand von Löwenthals Publika­tionen, Dokumenten anderer Emigranten und Exilgruppen sowie e­ inigen Aufzeichnungen offizieller britischer Stellen lässt sich ein Bild seiner politischen Entwicklung skizzieren. Löwenthal selbst hat mehr als einmal Stellung zu sei­ nen Erfahrungen in Großbritannien genommen, wobei sich seine Berichte selbst aber fragmentarisch ausnehmen.22 Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, anhand einiger ausgewählter Personen und Konstellationen die Prägungen Löwenthals zu rekonstruieren. Die Auswahl fällt dabei nicht zufällig auf drei führende Repräsentanten der Labour-Bewegung der 1930er und 1940er Jahre: den Politologen Harold J. Laski (1893–1950), den Verleger Victor Gollancz (1893–1967) und den Gewerkschaftsführer Ernest Bevin (1881–1951). Während Löwenthal mit Laski und Gollancz in regem Austausch stand, war Bevin, mit dem er vermutlich nicht persönlich bekannt war, medial überaus präsent und bekam auch in Löwenthals Rückblicken eine prägende Rolle zugewiesen. Zudem führte Löwenthal im knapp gehaltenen Literaturverzeichnis von Jenseits des Kapitalismus die Schriften von Laski und Gollancz als zentrale Referenzen auf. Die drei Personen stehen mithin für jenes Milieu, mit dem Löwenthal bald nach seiner Ankunft in London im Spätsommer 1939 Umgang hatte und dem er bis 1961, als er endgültig nach Deutschland zurückkehrte, verbunden blieb. Zu Löwenthals vorrangiger Aufgabe als Vertreter von Neu Beginnen zählte das Knüpfen von Kontakten.23 Als studierter Nationalökonom und »Chefideologe« der Organisation war vor allem der theoretische Diskurs sein Metier. So verwundert es nicht, dass er bald nach seiner Ankunft Kontakt zu dem Ökonomen und Politikwissenschaftler Harold J. Laski, einem der bedeutendsten sozialistischen Intellektuellen seiner Zeit, aufnahm.24 Mit Laski lernte Löwenthal einen echten »Fabian Intellectual« kennen. Als solche werden einige wenige führende Köpfe der Labour-Bewegung bezeichnet, die der Fabian Society, der 1884 gegründeten Keimzelle der Labour Party, angehörten und mit ihrem theoretischen und politischen Engagement für die britische Arbeiterbewegung prägend wurden. Als solcher stand Laski der bestehenden britischen Ordnung kritisch bis ablehnend gegenüber, war jedoch zugleich von der Zuversicht erfüllt, dass die Verhältnisse verändert werden könnten.25 Seine Kritik am Staat wie auch sein radikaler Plura­ lismus prägten die Arbeiterbewegung Großbritanniens nachhaltig. Für Laski 22 Richard Löwenthal, Zur deutschen politischen Emigration in Großbritannien im Zweiten Weltkrieg. Wechselwirkungen und Nachwirkungen, in: Gottfried Niedhart (Hg.), Großbritannien als Gast- und Exilland für Deutsche im 19. und 20. Jahrhundert, Bochum 1985, 89–116. 23 Schmidt, Meine Heimat, 183. 24 Michael Newman, Harold Laski. A Political Biography, Pontypool 2009, X. 25 Ebd., 65.

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sollte der Staat als eine Art Korporatismus funktionieren, in dem sich die Macht auf verschiedene Interessengruppen verteile, die wiederum miteinander gesellschaftliche Entwicklung und Aufgaben aushandelten. Wie für Vordenker der Fabian Society üblich, verstand er seine Kritik als Beitrag zur umfassenden Transformation gesellschaftlicher Verhältnisse hin zum Sozialismus. Die jeweils nur graduellen Reformen sollten dabei demokratisch und von der Gesellschaft getragen sein, nicht die Verfassung untergraben und friedlich vollzogen werden. Als führender Kopf des linken Flügels der Labour Party, in deren Exekutivkomitee er 1937 gewählt worden war, stand Laski der deutschsprachigen sozialistischen Emigration um Löwenthal offen gegenüber. Offiziell erfuhren die Vertreter der politischen Emigration von Seiten der Labour Party indes keine Unterstützung. Allerdings fanden sich in ihren Reihen Personen, die wie Laski an den deutschen Genossen großes Interesse hatten. Patrick Gordon Walker und Richard Crossman beispielsweise integrierten einzelne deutsche Sozialisten, so auch Löwenthal, in die britische Propaganda­ arbeit.26 Von erheblicher Bedeutung für die Integration waren linke Wochenschriften wie New Statesman, Tribune und nicht zuletzt die monatlich erscheinenden Left News, für die Löwenthal jeweils Beiträge verfasste. Bei der ab Juni 1941 erscheinenden Beilage der Left News, dem International Socialist Forum (ISF), saß Löwenthal gar im Beirat. Herausgeber und Schirmherr war Victor Gollancz, der als Vertreter eines humanistischen Sozialismus nachhaltig in die LabourBewegung hineinwirkte. Nicht zuletzt der Sieg der Labour Party bei den britischen Unterhaus­wahlen im Juli 1945, der überraschend das Ende von Churchills War Cabinet herbeiführte, beeindruckte die Vertreter der Arbeiterbewegung weit über die britischen Grenzen hinaus. Die Strahlkraft dieses Ereignisses ist auch in Löwenthals Schrift Jenseits des Kapitalismus zu vernehmen: »Der Wahlsieg der Labour-Partei mit einem konkreten Programm der demokratischen Planung«, so Löwenthal, sei »der beste Maßstab für die weite Wegstrecke, die die sozialistische Arbeiter­ bewegung in ihrer Anpassung an die Gegenwartsaufgaben zurückgelegt hat, seit sie durch die Brandfackel von Berlin aus dem dogmatischen Schlummer erweckt wurde«.27 Entscheidend war für Löwenthal das Programm der Partei, mittels dessen jene »kooperativen Formen gesellschaftlicher Organisation«, also der Sozialund Wohlfahrtsstaat, in die Realität übersetzt werden sollten, die Löwenthal für notwendig auf dem Weg in eine klassenlose Gesellschaft erachtete.28

26 Schmidt, Meine Heimat, 204. 27 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 88. 28 Ebd., 49.

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Die Schaffung des Sozialstaats Als Löwenthal 1939 nach London kam, stand er Großbritannien noch ausgesprochen skeptisch gegenüber. Wie auch aus der Broschüre vom Sommer 1939 ersichtlich, betrachteten die Autoren England als »imperialistische Macht«.29 Die Schuld am drohenden Weltkrieg lasteten die Autoren dabei vor allem der englischen Regierung an, die durch ihr Vorgehen während der Zwischenkriegszeit zur Rehabilitierung Deutschlands und durch die Appeasement-Politik zum Erstarken des Faschismus in Europa beigetragen habe.30 Ursächlich dafür sei vor allem das Bestreben gewesen, die Arbeiterbewegung klein zu halten.31 Die historische Folie, vor deren Hintergrund der am 1. September 1939 ausgebrochene Konflikt von den Linkssozialisten demnach analysiert und erklärt wurde, war der Erste Weltkrieg. Dem entsprach auch die kontinuierliche Revolutionshoffnung, die unmittelbar auf das Vorbild der Revolutionen von 1917/1918 Bezug nahm.32 Dass die britische Labour-Opposition bereits Mitte der 1930er Jahre spürbar gegen den Kurs der Regierung agitiert hatte, mochte Löwenthal deshalb mit Sympathie registriert haben. In einem 1984 gehaltenen Vortrag erinnerte er vor allem an Bevin, der bereits 1935 innerhalb der Labour Party einen Beschluss zugunsten der Aufrüstung für einen bevorstehenden Krieg mit Deutschland durchgesetzt hatte.33 Ernest Bevin, 1881 in Winsford in der Grafschaft Sommerset geboren, war Anfang des 20. Jahrhunderts zur Gewerkschaft der Hafenarbeiter, der Dock, Wharf, Riverside and General Labourers’ Union, gestoßen und bald zu deren Sekretär aufgestiegen.34 Obgleich er den Ersten Weltkrieg keineswegs guthieß und offen gegen die Einberufung von Arbeitern eintrat, distanzierte er sich früh auch von den pazifistischen Vertretern der Labour-Bewegung. Dieser Widerspruch spitzte sich zum Ausgang des Krieges zu, als er offen die Februarrevolution in Russland 1917 begrüßte, dem Ruf nach Frieden mit dem Deutschen Reich – auch aus den eigenen Reihen – jedoch mit entschiedener Skepsis begegnete. Die notwendige Bedingung für den Friedensschluss, so Bevin, sei ein Regierungswechsel im Kaiserreich.35 Parallel hatte Bevin zu dieser Zeit weiter an Einfluss in der britischen Gewerkschaftsbewegung gewonnen. Er skandalisierte wiederholt und öffentlich die schlechte Situation der Hafenarbeiter, forderte höhere Löhne und 29 Der kommende Weltkrieg, 5. 30 Löwenthal, Zur deutschen politischen Emigration, 89 f. 31 Der kommende Weltkrieg, 6. 32 Jan Gerber/Anja Worm, Die Legende vom anderen Deutschland, in: Curt Geyer/Walter Loeb, Fight for Freedom. Die Legende vom anderen Deutschland, hg. von Jan Gerber und Anja Worm, Freiburg i. Br. 2009, 9–40, hier 15. 33 Löwenthal, Zur deutschen politischen Emigration, 91. 34 Alan Bullock, Ernest Bevin. A Biography, London 2002. 35 Ebd., 23.

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bezeichnete verschiedene Pläne der britischen Regierung zur sozialen Versorgung der Arbeiter als unzureichend. Immer wieder kritisierte er, die Regierung setze mehr daran, die Russische Revolution rückgängig zu machen, als die ausgesprochen schlechte soziale Situation der arbeitenden Bevölkerung zu verbessern.36 Bis Mitte der 1920er Jahre stand Bevin dem parlamentarisch-demokratischen Apparat Großbritanniens skeptisch gegenüber. Die durchaus erfolgreiche Gewerkschaftsarbeit schien ihm in Hinsicht auf seine Politik, soziale Veränderung mittels Arbeitskampf zu erringen, Recht zu geben. 1925, als Bevin in die Zentrale des Trade Union Congress (TUC) gewählt worden war, gelang es auf diese Weise, der konservativen Regierung unter Stanley Baldwin die Zustimmung zu einer neunmonatigen Subvention für die Bergbauindustrie abzuringen, um so die Löhne der Arbeiter zu sichern. Als sich die wirtschaftliche Situation nach neun Monaten nicht verbessert hatte, die Unterstützungen der Regierung jedoch ausliefen, organisierte der TUC den Generalstreik.37 Nachdem dieser gescheitert war, kämpfte Bevin an vorderster Front mit Baldwin um eine Einigung, damit die Arbeiter für den Streik nicht zur Rechenschaft gezogen würden.38 Gleichzeitig war ihm wohl in dieser Situation bewusst geworden, wie begrenzt die Mittel des radikalen Arbeitskampfes waren. Seitdem setzte Bevin auf pragmatische Verhandlungen. Er mochte dabei auch erkannt haben, dass der Arbeitskampf zur Modernisierung, Rationalisierung und Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen beitragen, nicht jedoch den Kapitalismus grundlegend verändern oder gar überwinden könne.39 In Hinblick auf seine zunehmend pragmatische Orientierung machte Bevin kurz nach dem Börsencrash 1929 eine weitere Erfahrung, als er in Lord Macmillans Beratungsgremium der Regierung für Wirtschafts- und Industriefragen mit dem Ökonom John Maynard Keynes zusammentraf. Beide, Bevin und Keynes, beschäftigte das Problem der hohen Arbeitslosigkeit, die in Großbritannien zu dieser Zeit seit fast einem Jahrzehnt andauerte. Der Einfluss Keynes’ auf die Sozialpolitik Bevins in der ersten Hälfte der 1940er Jahre ist denn auch unschwer zu erkennen. Dass Keynes’ Analysen auch für Löwenthals Wandel eine Rolle spielten, lässt sich wiederum dem auffallend selektiven Literaturverzeichnis von Jenseits des Kapitalismus entnehmen, das auf dessen Schrift zur Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes verwies.40 Dieses Werk, 1936 publiziert, ist unmittelbares Resultat von Keynes’ Überlegungen in Folge der Krise von

36 Ebd., 31. 37 Ebd., 106. 38 Ebd., 126. 39 Chris Wrigley, Art. »Bevin, Ernest (1881–1951)«, in: Oxford Dictionary of National Biography, (14. Februar 2016). 40 John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, München 1936.

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1929.41 Insbesondere die Überzeugung, dass der Staat bei Anzeichen von krisenhaften Entwicklungen in der Wirtschaft investieren müsse und über die Regulierung der Einkommen verteilungspolitisch aktiv werden könne, ohne das Privateigentum anzutasten, nimmt Löwenthal in seiner Programmschrift positiv und als sozialreformerische Maßnahme zur Sicherung gesellschaftlichen Fortschritts auf.42 Keynes hat wie kein anderer jene wirtschaftspolitische Tradition geprägt, der entsprechend weder eine Haltung des laissez-faire gegenüber dem Kapital noch die bloße Forderung nach sozialistischer Planwirtschaft Erfolg verspreche.43 Wie schon in seinem Essay The End of Laissez-Faire (1926) angelegt, müsse sich der Staat in Wirtschaftsfragen daran orientieren, was die Privatwirtschaft nicht leisten könne. Ein Jahrzehnt später, in der Allgemeinen Theorie, fügte Keynes hinzu, dass auch die Regulierung von Löhnen, die Kontrolle der Vergabe von Krediten wie auch die Subventionierung von Betrieben und Wirtschafts­ zweigen zur Aufgabe des Staats gehöre.44 Keynes’ Theorie und Bevins sozialpolitische Praxis boten Löwenthal eindrucksvolle Alternativen zum simplifizierenden Verständnis der gesellschaftlichen Konflikte als Produkt von Klassenkämpfen. Jener bereits erwähnte Vortrag von 1984, in dem Löwenthal an Bevins Haltung zur Wiederbewaffnung erinnerte, illustriert, wie einflussreich Bevin innerhalb der Labour-Bewegung war. Auf einem Parteitag 1935 war es zu einem verbalen Schlagabtausch mit George Lansbury, dem damaligen Vorsitzenden der Labour Party sowie Stafford Cripps, einem der führenden Köpfe der britischen Arbeiterbewegung, gekommen. Währenddessen hatte Bevin gefordert, endlich Verantwortung für das Schicksal der Arbeiter und Gewerkschafter, insbesondere der in den Ländern des Faschismus unterdrückten, zu übernehmen. Bevin wandte sich damit gegen die auch von Löwenthal und seinen Co-Autoren in Paris 1939 angeklagte britische Regierung, wenngleich die Argumentationen unterschiedlich angelegt waren. Eine ähnliche Konstellation wiederholte sich anlässlich des Spanischen Bürgerkriegs, als sowohl Löwenthal als auch Bevin die Unterstützung der Republik forderten. Bevin jedoch, der in den 1920er Jahren mit seiner reformerischen Haltung zum Feindbild vieler Kommunisten geworden war, hegte grundlegende Zweifel an der kommunistischen Strategie in Spanien. Dagegen machte Löwenthal vor allem Frankreich und England für den Sieg Francos verantwortlich. Bevins Gegnerschaft zur Volksfrontpolitik rührte also bereits aus vorangegangenen Auseinandersetzungen mit Kommunisten in der Gewerkschaftsbewegung, während Löwenthal sich erst im Exil in Großbritannien allmählich von der Sowjetunion und der Volksfrontidee löste. 41 Roger E. Backhouse/Bradley W. Bateman, Capitalist Revolutionary. John Maynard ­Keynes, London 2011, 88. 42 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 91. 43 John Maynard Keynes, The End of Laissez-Faire (1926), London 1992. 44 Backhouse/Bateman, Capitalist Revolutionary, 150−159.

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Als Winston Churchill 1940 – ein Jahr, nachdem Löwenthal in London angekommen war – Premierminister wurde, ernannte er Ernest Bevin zum Minister für Arbeit und Wehrdienst. Bevin baute in dieser Funktion den staatlichen Zugriff auf große Teile der Wirtschaft aus. Er garantierte so die Versorgung der britischen Truppen mit Material und Soldaten, ohne die Zahl der im Land verbleibenden Arbeitskräfte auf ein für die Industrie kritisches Maß zu senken. Popularität erfuhr in der Hinsicht beispielsweise die Entscheidung Bevins, 40 000 zwangsweise eingezogene Soldaten in der Montanindustrie Großbritanniens einzu­ setzen. Die sogenannten Bevin Boys stehen symbolisch für dessen politische Linie während des Weltkriegs. Er war bemüht, den bestmöglichen Kompromiss zum Wohl der wirtschaftlichen Situation Großbritanniens zu finden und dabei die größtmögliche Erfüllung der Anforderungen durch die Kriegswirtschaft zu gewährleisten. Bevin ließ überdies keinen Zweifel an seiner kriegsbefürwortenden Haltung und betrachtete die Verteidigung des Landes als Pflicht aller. Im Gegenzug für die Leistungen, die die Menschen unter den Bedingungen des Krieges erbrachten, forderte und förderte er den Ausbau des Wohlfahrtssystems. Sein erklärtes Ziel bestand darin, mit Kriegsende in allen Zweigen der Industrie Standards und Regelungen zur Bestimmung der Lohnhöhe etabliert zu haben, beispielsweise die Festlegung von Mindestlöhnen. Seine Politik im Kriegsministerium unter Churchill verband er also unmittelbar mit der aktuellen und zukünftigen Sozialpolitik.45 Dabei setzte er entschlossen auf ein kooperatives Modell der Einigung zwischen Wirtschaft, Gewerkschaften und der Regierung und etablierte darüber hinaus Formen der ergänzenden Absicherung und Versorgung durch die Arbeitgeber und den Staat. Durch den erfolgreichen Ausbau des Sozialund Wohlfahrtsstaats fanden sich am Ende des Krieges 15,5 von 17,5 Millionen Beschäftigten in Arbeitsverhältnissen mit gesetzlich beziehungsweise tariflich geregelten Arbeitszeiten und Einkommen.46 Jene staatlichen Eingriffe dürften nachhaltig Eindruck auf Löwenthal gemacht haben. Immerhin hatte er in seinen 1935/1936 in der Zeitschrift für Sozialismus veröffentlichten Analysen als zentrale Ursache für die Entstehung des Faschismus in Deutschland vor allem geltend gemacht, dass die demokratische Gesellschaft nicht in der Lage gewesen sei, die primären und existenziellen Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen.47 Soziale und materielle Unsicherheit, die sich vor allem in Momenten der Krise erheblich verstärkten, hätten den Glauben in die 45 Bullock, Ernest Bevin, 259. 46 Ebd., 294. 47 Paul Sering (Richard Löwenthal), Der Faschismus 1. Teil. Voraussetzungen und Träger, in: Zeitschrift für Sozialismus 2 (1935), H. 24/25, 765–786; ders., Der Faschismus 2. Teil. System und Widersprüche, in: ebd., H. 26/27, 839–856. Beide Aufsätze ediert und veröffentlicht und hier zitiert nach Richard Löwenthal, Faschismus, Bolschewismus, Totalitarismus. Schriften zur Weltanschauungsdiktatur im 20. Jahrhundert, hg. u. eingeleitet von Mike Schmeitzner, Göttingen 2009, 65–111, hier 77.

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Demokratie und die parlamentarische Ordnung unterminiert und breite Massen für die Versprechungen der faschistischen Bewegung empfänglich gemacht. Ihre Hauptaufgabe hätte die deutsche Arbeiterbewegung damals dann auch darin gesehen, so Löwenthal schließlich 1946, die »Massenerhebung gegen den Faschismus« zu organisieren, statt sich in einem demokratischen Entscheidungsprozess durchzusetzen.48 Der überraschende Wahlsieg der Labour Party 1945 wurde ihm nun zum Wendepunkt und die Arbeit der Regierung zur »Probe aufs Exempel für die Chancen des demokratischen Sozialismus«.49

»This Was Their Finest Hour« Auch die Haltung der britischen Regierung gegenüber den »enemy aliens« in den ersten Kriegsjahren trug das ihre dazu bei, dass sich Löwenthals anfängliche Skepsis gegenüber der britischen Gesellschaft zunehmend in Sympathie verkehrte.50 Bis in die späten 1930er Jahre galt die Regierung unter Neville Chamberlain in dieser Frage als äußerst repressiv; als der Strom an Flüchtlingen jedoch unüberschaubar zu werden drohte, änderte sich dies auf Betreiben einiger Ab­geordneter.51 In seinem Vortrag über die Zeit im Exil erinnerte Löwenthal sich, dass in England im Vergleich zum Ersten Weltkrieg keine besonders deutschenfeindliche Stimmung aufkam. Im Herbst 1940 habe es zwar eine größere Diskussion um die Publikationen Robert Vansittarts gegeben, der in einer Broschüre unter dem Titel Black Record nachzuweisen suchte, »daß die Deutschen zu allen Zeiten und unter allen Regimen die entscheidende Gefahr für den Frieden Europas gewesen seien«.52 Die große Zahl der Abgeordneten des britischen Parlaments, so Löwenthal im Rückblick, habe sich davon jedoch nicht beeindrucken lassen. Als Großbritannien nach der französischen Niederlage faktisch allein gegen Deutschland kämpfte, war zwar zunächst die Internierung von deutschen Emigranten angeordnet worden; diese Maßnahme wurde jedoch bereits wieder geändert, bevor überhaupt alle deutschen Flüchtlinge erfasst worden waren. Löwenthal, der seit seiner Ankunft im Londoner Stadtteil Hampstead lebte, blieb davon verschont.53 Dass die Engländer in einer solchen Situation im Stande waren, die freiheitlichen Rechte der »feindlichen Ausländer« zu bewahren, war für Löwenthal noch viele Jahre später der wohl deutlichste Ausdruck dessen, was­

48 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 187. 49 Ebd., 188. 50 Löwenthal, Zur deutschen politischen Emigration, 92. 51 Schmidt, Meine Heimat, 179. 52 Löwenthal, Zur deutschen politischen Emigration, 96. 53 »Exemption From Internment« für Richard Löwenthal, National Archives, London, Home Office, Aliens Department, Internees Index, HO 396/57.

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Churchill in seiner Rede am 18. Juni 1940 vor dem Unterhaus als die »finest hour« des Königreichs bezeichnet hatte.54 Die kurzzeitige Internierungspolitik der britischen Regierung hatte zugleich noch einen anderen Effekt auf das politische Exil. Jetzt waren den bis dahin noch jeweils für sich arbeitenden sozialistischen und sozialdemokratischen Gruppen, da sie sich um die Freilassung von Mitgliedern bemühten, ihre verschwindenden Einflussmöglichkeiten bewusst geworden.55 Die daraus folgende Zusammen­ arbeit wurde durch weitere Faktoren begünstigt: Hatten sich die kleineren links­ sozialistischen Gruppierungen bereits in Frankreich zunehmend auf eine Kooperation verständigt, verschloss sich der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands im Exil (SOPADE) dem weiterhin. Erste Berührungspunkte bei der seit Frühjahr 1940 praktizierten Kooperation in gewerkschaftlichen Zusammenhängen wie auch die wachsende antikommunistische Haltung aller Exilgruppen seit dem Hitler-Stalin-Pakt ließen nun auch die Exilführung der SPD für Verhandlungen über eine Vereinigung eintreten. Verstärkend trat hinzu, dass die S­ OPADE nur über wenige Kontakte im englischen Gastland verfügte, wogegen beispielsweise die Bewegung Neu Beginnen zumindest von sich behauptete, sehr gut vernetzt zu sein. Auch einzelne Vertreter der Labour Party drängten auf einen Zusammenschluss, da sie sich von einer geeinten sozialdemokratischen Opposition positive Effekte auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland versprachen.56 Seit Ende 1940 suchten daher die führenden Köpfe der Exil-SPD, Hans Vogel und Erich Ollenhauer, das Gespräch mit Vertretern der links­sozialistischen Splittergruppen, das schließlich am 19.  März 1941 in die Gründung der Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien mündete. Löwenthal nahm ab Mai 1941 als Vertreter von Neu Beginnen regelmäßig an den Sitzungen des Arbeitsausschusses der Union teil, wo grundlegende Fragen wie die der Einheit oder der Nachkriegsplanungen besprochen wurden.57 Die anhaltenden Diskussionen um die Veröffentlichungen Vansittarts taten ihr Übriges, die Bindung der frisch vereinigten Linken weiter zu zementieren.58 Insbesondere Löwenthal wurde zum Objekt der Kritik der britischen und deutschen 54 Die Passage lautet in Gänze: »Let us therefore brace ourselves to our duties and so bear ourselves that, if the British Empire and its Commonwealth last for a thousand years, men will still say, ›This was their finest hour‹.« Zit. nach Winston Churchill, Blood, Toil, Tears and Sweat. The Great Speeches, hg. von David Cannadine, London 2007, 178. 55 Ludwig Eiber, Die Sozialdemokratie in der Emigration. Die »Union deutscher sozialis­ tischer Organisationen in Großbritannien« 1941–1946 und ihre Mitglieder. Protokolle, Erklärungen, Materialien, Bonn 1998, XXVI. 56 Ebd., XXV. 57 Ebd., XXX. 58 Michael Schneider, Die »Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien«, in: Bernd Faulenbach/Andreas Helle (Hgg.), Menschen, Ideen, Wegmarken. Aus 150 Jahren Sozialdemokratie, Berlin 2013, 145–152, hier 146.

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Vansittartisten. Nachdem sich die Vertreter der Union Ende 1941 über die Frage der Abrüstung nach dem Krieg und den daran anhängigen Kollektivschuldvorwurf zerstritten hatten, traten Walter Loeb und Kurt Geyer aus der Union aus. Im März des darauffolgenden Jahres begründeten sie mit weiteren deutschen­ Sozialisten die Gruppe Fight for Freedom, die sich zum Ziel setzte, den »Kampf gegen den Nationalismus in der deutschen Arbeiterbewegung« von vorn zu beginnen.59 Im Juli 1942 leitete Fight for Freedom eine englische Übersetzung der Schrift Der kommende Weltkrieg an Vansittart weiter. Dieser verbreitete den Text in Regierungskreisen, woraufhin etwa der britische Außenminister Anthony Eden verlautbaren ließ, dies sei der eklatanteste Fall eines Trojanischen ­Pferdes, der ihm je begegnet sei.60 Löwenthal wurde über die Vorgänge durch Julius Braunthal informiert, mit dem er seit Juni 1941 im Beirat des International Socialist Forum zusammenarbeitete. In der Ausgabe des ISF vom Oktober 1942 bezog L ­ öwenthal Stellung zu den Anschuldigungen und relativierte viele Aussagen der Pariser Broschüre mit Verweis auf ihren Entstehungskontext.61 Unterstützung erhielt er vom ehemaligen Präsidenten der Sozialistischen Arbeiterinternationale, Louis de Brouckère, der in derselben Ausgabe einen Kommentar zum Text von 1939 ver­ öffentlichte. Für de Brouckère bot das Pamphlet zwar eine Menge Diskussionsstoff, aber keine Grundlage für Anschuldigungen.62 Dass diese Angelegenheit keine allzu bedeutenden Beeinträchtigungen mit sich brachte, verdankte L ­ öwenthal nicht zuletzt dem Engagement britischer Sozialisten. Mit der Unterstützung Harold J. Laskis und Victor Gollancz’ konnte die Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien zur selben Zeit eine Ausstellung unter dem­ Titel Showing the Underground Struggle of the German anti-Nazis Against Hitler realisieren.63 Das anhaltende Vertrauen von Mitgliedern der Labour-­Bewegung wie auch die Abwehrhaltung gegenüber den Vansittartisten banden die verblie­ benen Unionsmitglieder enger zusammen. Da die deutsche politische Emigration keinen Einfluss auf die britische Politik ausübte und ihr neben dem Verfassen von Erklärungen auch sonst kaum Raum für Aktivitäten blieb, beschränkte sie sich im Wesentlichen auf Diskussionen. 59 Gerber/Worm, Legende, 12, sowie die Erklärung vom 2.  März 1942, in: Geyer/Loeb, Fight for Freedom, 65–70. 60 Bericht über Neu Beginnen, in: National Archives, London, Records Created or In­herited by the Foreign Office, Political Warfare Executive and Foreign Office, Political Intelligence Department, Papers on Free Germany and Austrian Movements, FO 898/191. 61 Richard Löwenthal, Decency in Socialist Controversies, in: The Left News 76 (1942), 2269 f. 62 Louis de Brouckère, Decency in Socialist Controversies, in: ebd., 2268 f. 63 Bericht vom 1. Dezember 1942 über die Durchführung der Ausstellung, in: National Archives, London, Records Created or Inherited by the Foreign Office, Foreign Office, Political Departments, General Correspondence from 1906–1966, Memoranda by Inter-Allied Group on German Issues, FO 371/30958.

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Diese machten vor allem die Nachkriegsordnung für Deutschland zum Thema und waren dabei stark an der jeweiligen Strategie der britischen bzw. alliierten Regierungen orientiert. Gleichwohl hatten diese Diskussionen eine erkennbare Bedeutung für die Überwindung der zum Ende der Weimarer Republik und im Vorkriegsexil aufgerissenen Gräben. In seiner Relevanz für die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ist das kaum zu überschätzen, nahmen doch die in der Union organisierten Personen nach 1945 erheblichen Einfluss auf den Wiederaufbau der alten oder, treffender gesagt, die Schaffung einer neuen deutschen Sozialdemokratie.64 Für die Labour Party verlor die deutsche politische Emigration spätestens mit dem Kriegseintritt der Sowjetunion wieder an Bedeutung. Mit dem britisch-sowjetischen Abkommen vom 1. Januar 1942, in dem sich die Alliierten auf den »vollständigen Sieg« einigten, spätestens aber seit der erklärten Forderung nach bedingungsloser Kapitulation als Ergebnis der Konferenz von Casablanca im Januar 1943, wurden die deutschen Exilanten auch für das Kriegskabinett unter Winston Churchill bedeutungslos.65 Es gab daher auch kaum direkte Beziehungen zur Labour Party. Die große Mehrheit der Parteimitglieder war nicht besonders an den deutschen Genossen interessiert. Nur einzelne Vertreter wie der genannte Abgeordnete ­Patrick Gordon Walker, der während des Krieges bei der BBC für deutschsprachige Sendungen zuständig war, suchten den direkten Kontakt.66 Er ermöglichte Löwenthal und anderen Vertretern der Emigration beim Radio zu arbeiten. In diesem Bereich unterstützte auch Richard Crossman die deutsche Emigration, unter dessen Ägide eine Gruppe um den Münchner Sozialdemokraten Waldemar von Knoeringen, ebenfalls ein Mitglied von Neu Beginnen, den Sender der europäischen Revolution betreiben konnte. Auch Löwenthal gehörte der Redaktion an, die bis zum Frühjahr 1942 auf Sendung blieb und in rätesozialistischer Manier die Gründung einer Partei der revolutionären Sozialisten propagierte.67 Wie der Name verrät, war die gesamteuropäische Revolution, die zu dieser Zeit auch von britischen Regierungsangehörigen noch in die Strategieüberlegungen einbezogen wurde, die primäre Motivation. Näher sind sich die Linkssozialisten und die Regierung aber nie gekommen.

64 Eiber, Sozialdemokratie in der Emigration, V. 65 Ebd., XXIII. 66 Robert Pearce, Art. »Gordon Walker, Patrick Chrestien, Baron Gordon-Walker (1907– 1980)«, Oxford Dictionary of National Biography, (14. Februar 2016). 67 Conrad Pütter, Der »Sender der europäischen Revolution« im System der britischen psychologischen Kriegsführung gegen das »Dritte Reich«, in: Wolfgang Frühwald/Wolfgang Schieder (Hgg.), Leben im Exil. Probleme der Integration deutscher Flüchtlinge im Ausland ­1933–1945, Hamburg 1981, 168–180, hier 170.

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»Our Threatened Values« Die Versuche unmittelbarer politischer Kooperation waren ein Aspekt – nirgends aber wurde Löwenthals Integration und Akkulturation an das Milieu der bri­ tischen Labour-Bewegung deutlicher als durch seine Mitarbeit an verschiedenen Zeitungen und Verlagen. Diese war vor allem das Ergebnis der Anstrengungen linksozialistischer Mitglieder der Labour-Bewegung, mit den deutschen Genossen in Austausch zu treten. Das wohl deutlichste Beispiel für solche Bemühungen war die im Sommer 1941 im Auftrag von Victor Gollancz durch Julius Braunthal ins Leben gerufene Beilage der Left News: das International Socialist Forum.68 »Sozialisten verschiedenster Nationalitäten und noch verschiedener Meinungen«, so die Idee des Verlegers, sollten hier »Weltprobleme diskutieren«.69 Gollancz, der 1893 als Sohn eines polnisch-jüdischen Juweliers in London geboren wurde, bemühte sich früh um die Abgrenzung von seinem orthodoxen Elternhaus. Der explizite Anti-Feminismus seines Vaters etwa hatte ihn zum Verfechter gleicher Rechte für Frauen werden lassen. Auch die Identifikation mit dem Liberalismus entsprang der Abkehr vom Elternhaus sowie der grundlegenden Überzeugung, dass dem Menschen als solchem eine »freie, natürliche, selbstverantwortliche Entwicklung des Lebens und Geistes« zustehe.70 Sein Sozialismus, so Gollancz später in dem als Buch publizierten Brief an seinen Enkel, speiste sich vor allem aus der Idee der Einkommensgleichheit. In diesem Zusammenhang rekurrierte er auf das von Karl Marx und Friedrich Engels geprägte Bonmot, »jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«.71 Einkommensgleichheit bedeutete für Gollancz freilich nicht die Gleichmachung aller Menschen, sondern die größtmögliche Realisierung sozialer Gerechtigkeit.72 Im Zuge seines Aufstiegs zu einem der wichtigsten britischen Verleger des 20. Jahrhunderts bemühte Gollancz sich vordergründig um solche Autoren, von denen er meinte, ihre Publikationen würden aktuelle Probleme der Zeit verstehen helfen.73 Neben der Weltpolitik zählte vor allem die Frage der sozialen Gerechtigkeit zu Gollancz’ Hauptinteressen. Insofern passte Löwenthal recht gut in die Chefredaktion des ISF.74 68 Eiber, Sozialdemokratie in der Emigration, XLV. 69 Victor Gollancz, International Socialist Forum, in: The Left News 59 (1941), 1708–1710, hier 1708. Alle Übersetzungen, soweit nicht anders vermerkt, stammen vom Verfasser des Aufsatzes. 70 Victor Gollancz, Mein lieber Timothy. Ein autobiographischer Brief an meinen Enkel, Gütersloh 1960, 44. 71 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: MEW, Bd. 19, Berlin 1962, 13–32, hier 21. 72 Gollancz, Mein lieber Timothy, 324 f. 73 Sheila Hodges, Art. »Gollancz, Sir Victor (1893–1967)«, Oxford Dictionary of National Biography, (14. Februar 2016). 74 Julius Braunthal, International Socialist Forum, in: The Left News 59 (1941), 1711.

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Anfang 1946 publizierte Gollancz die kleine Schrift Our Threatened Values, die bereits 1947 auch in deutscher Übersetzung verbreitet wurde.75 Gollancz kritisiert darin explizit den Umgang der Alliierten mit den besiegten Deutschen. Seines Erachtens habe die Besatzung ein »denkbar höchstes Maß von Brutalität« erreicht.76 Doch um die »Deutschen zu gewinnen« – Gollancz zufolge die dringlichste Aufgabe der Siegermächte –, müsse man ihnen die eigene Ethik, die eigenen Wertvorstellungen präsentieren, indem man sie entsprechend behandele.77 Der Kampf, der hier geführt würde, sei der zwischen humanistischem Sozialismus in seiner liberalen Tradition und dem Totalitarismus.78 Der humanistische Sozialismus, für den Gollancz Partei ergriff, war untrennbar verknüpft mit den von ihm beschriebenen Werten der westlichen Zivili­sa­ tion.79 Damit bezog sich Gollancz vor allem auf individuelle Freiheitsrechte, aus denen sich alle anderen Freiheiten ableiteten80 – dies sei es, wofür der englische Sozialismus zu stehen habe.81 Er trat demnach für einen Sozialismus ein, der kein Sozialismus im marxistischen Sinne mehr war und dessen Wertvorstellungen sich nicht aus der marxistischen Kritik der bestehenden Verhältnisse ableiteten. Vielmehr führte hier ein Humanismus die Feder, dessen Primat der Mensch und das Individuum im Sinne der bürgerlichen Rechtsordnung war. Löwenthal beschrieb diese Tradition kurze Zeit später in Jenseits des Kapitalismus als »huma­nistische Renaissance im sozialistischen Lager«.82 Aus Gollancz’ Schrift leitet Löwenthal zudem die Erkenntnis ab, dass »jede Epoche akuter sozialer Transformation […] eine Epoche akuter Bedrohung der Zivilisation« vorangeht, wie auch, dass »kulturelle Werte ihre Bindekraft nur [bewahren], wenn es gelingt, ihre praktische Bedeutung als Regeln des Verhaltens gemäß den gesellschaftlichen Notwendig­ keiten neu zu interpretieren, ohne ihre Kontinuität zu zerreißen.«83 Das später für­ Löwenthal in der Bundesrepublik zentrale Motiv, die eigenen Wertvorstellungen zu hinterfragen und wenn nötig zu verändern, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse dies bedingen, scheint hier bereits auf. Neben Gollancz verwies Löwenthal in Jenseits des Kapitalismus auch auf­ Harold J. Laski.84 Zu diesem hatte Löwenthal bereits kurz nach seiner Ankunft in London eine engere Beziehung aufgebaut. Als die britische Regierung 1940 dazu 75 Victor Gollancz, Our Threatened Values, London 1946 (dt.: Unser bedrohtes Erbe, Zürich 1947). 76 Gollancz, Our Threatened Values, 155. 77 Ebd., 99. 78 Ebd., 156. 79 Ebd., 7. 80 Ebd., 15.  81 Ebd., 156. 82 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 265. 83 Ebd., 121. 84 Harold J. Laski, Faith, Reason and Civilization, London 1944.

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überging, die »enemy aliens« zu internieren, konnte Löwenthal mit der Hilfe von Laski bei dem damaligen Vize-Premier Clement Attlee mit Erfolg um die Freilassung von Sozialisten bitten.85 Im Mai 1941 wurde das International Fabian Bureau gegründet, das der Fabian Society angegliedert war, deren Vorsitz Laski innehatte.86 Ab Juni desselben Jahres saßen beide im Beirat des International Socialist Forum. Während verschiedener Stationen seiner Zeit im Exil stand­ Löwenthal mit Laski in regem Austausch. Laski war als Liberaler zur Politik gekommen und fand erst in der zweiten Hälfte der 1920er und in den frühen 1930er Jahren zum Marxismus. Wie für Bevin spielte dabei die Erfahrung des Scheiterns des Generalstreiks 1926 eine Rolle, in dem er sich bemüht hatte, als Mediator zu wirken.87 War sein 1925 publi­ziertes Hauptwerk A Grammar of Politics noch erfüllt von der Gewissheit, das Los der Menschen unter den Bedingungen der bestehenden Ordnung verbessern zu können88, kann sein 1927 veröffentlichtes Buch Communism als eine Reaktion auf die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Generalstreik gelesen werden.89 Laski zeigte sich sowohl von der Unnachgiebigkeit einiger Regierungsvertreter als auch von der Planlosigkeit der streikenden Minenarbeiter entsetzt.90 Sein Interesse galt daher der Möglichkeit eines friedlichen Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse, von dem er zugleich befürchtete, dass er von der Mehrheit der Arbeiterbewegung nicht mehr als realistisch betrachtet wurde.91 Um jedoch eine Revolution und mit ihr die Entstehung einer Diktatur zu verhindern, wäre eine »Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung« notwendig, deren Qualität »weitreichender und tiefgründiger sein müsse als je eine herrschende Klasse zuzugestehen bereit war«.92 Wenngleich sich nicht ohne Weiteres bestimmen lässt, wie intensiv der Austausch mit Laski im Detail war, haben dessen Analysen, Theorien und Ansichten offensichtlich Eingang in Löwenthals Denken gefunden. Nicht zuletzt die Re­ferenzen in Jenseits des Kapitalismus zeugen davon, ebenso wie die Nähe zu Positionen, die Harold J. Laski 1944 in Reflections on the Revolution of Our Times formulierte, als er versuchte, Liberalismus, die Politik der Labour Party und die des amerikanischen New Deal mit der politischen Vision der Vereinten Nationen zu verknüpfen. Laski erhebt in dieser Schrift die »Revolution auf der Grundlage 85 Löwenthal, Zur deutschen politischen Emigration, 94. 86 Eiber, Die Sozialdemokratie in der Emigration, XLV. 87 Isaac Kramnick/Barry Sheerman, Harold Laski. A Life on the Left, London 1993, 241−245. 88 Harold J. Laski, A Grammar of Politics, London 1925. 89 Ders., Communism, London 1927. 90 Kramnick/Sheerman, Harold Laski, 244. 91 Michael Newman, Art. »Laski, Harold Joseph (1893–1950)«, Oxford Dictionary of National Biography, (14. Februar 2016). 92 Zit. nach ebd.

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von Übereinkunft« (revolution by consent) zum Prinzip gesellschaftlichen Wandels, der sich pragmatisch und an pluralistisch-demokratischen Entscheidungsprozessen orientiert vollziehen müsse.93 Die Dichotomie von Revolution und Reform, die in der Labour-Bewegung ohnehin viel weniger ausgeprägt war als etwa in der deutschen Arbeiterbewegung, hob er darin auf und prägte damit auch­ Löwenthals Weltbild nachhaltig.

Jenseits des Kommunismus Nach 1945 sah Richard Löwenthal in der Labour-Regierung ein Vorbild für die europäische Arbeiterbewegung, schien sie doch eine auf den Sozialismus zielende Politik zu verfolgen. Der Sozialismus der Labour-Regierung war in den Augen Löwenthals vor allem mit zwei Zielen verbunden: der »Abschaffung der Klassen und [der] Aufhebung der Lohnarbeit«.94 Ersteres bedeutete vor allem die Chancengleichheit aller Mitglieder der Gesellschaft unabhängig von Herkunft, letzteres die Angleichung der Einkommen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Löwen­thal erlebte demnach im Exil, wie letztlich der Staat, dem die revolutionären Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung mit erheblicher Skepsis gegenüberstanden, zum Instrument der Lösung sozialer und wirtschaftlicher Probleme im Interesse seiner Bürger wurde.95 Unter der Regierung der Labour Party war ihm England regelrecht zum Vorbild geworden. In Jenseits des Kapitalismus unterstrich Löwenthal schließlich, dass eine Revolution nicht mehr nötig sei und der demokratische Sozialismus durch Beteiligung an demokratischer Ordnung und die Anpassung der Gegenwart erreicht werden könne.96 Zur Erreichung dieser Ziele propagierte Löwenthal Formen der Planung und der demokratischen Organisierung. In gewissem Sinn verlor er sogar seine klassenkämpferische Rhetorik, wenngleich seine Zielstellungen ähnliche blieben. Die Erfahrungen mit dem­ Labour-Milieu und der Politik der Partei wirkten quasi entschärfend auf seine politische Haltung. Die im Exil gewonnene konsensliberale Einstellung zeigte sich auch nach Löwenthals endgültiger Rückkehr nach Deutschland, die seiner Berufung auf eine Professur für Außenpolitik an die Freie Universität Berlin 1961 folgte.97 Hier orientierte er sich am pragmatisch-pluralistischen Denken und dem parlamentarischen Kompromiss, ebenso wie er sich dem sozialreformerischen Fortschritt 93 Harold J. Laski, Reflections on the Revolution of Our Times, New York 1944, 160. 94 Sering, Jenseits des Kapitalismus, 200. 95 Ebd., 82. 96 Ebd., 88. 97 Schmidt, Meine Heimat, 12, zeigt wie Löwenthals Positionen am Ausgang der Exil- und in der frühen Nachkriegszeit den unter der Bezeichnung »Konsensliberalismus« zusammengefassten Positionen entsprechen.

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Richard Löwenthal im Gespräch mit Studenten an der Freien Universität Berlin, 22. Mai 1968.

verschrieb. Wenngleich er stets Verständnis für die Situation der Studenten aufzubringen suchte, gehörte er damit zu den vehementesten Kritikern der 68er-­ Bewegung. In der Auseinandersetzung mit ihnen betonte er immer wieder, dass es keine Alternative zur bestehenden Ordnung brauche, sondern vielmehr die Weiterentwicklung der existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Menschen, die an ihr teilhaben, notwendig sei. Vor allem am Charakter des von Löwenthal mitbegründeten Bund Freiheit der Wissenschaft tritt diese Haltung in aller Klarheit hervor, stand dessen Entstehung schließlich ganz im Zeichen einer »Abwehrhaltung gegen [eine] neomarxistische Infragestellung der liberalen Demokratie«.98 Der studentischen Rebellion diagnostizierte er einen »romantischen Rückfall« und warnte, dass deren utopische Hoffnungen eine »totale Zerstörung« als Bedingung des Fortschritts predigten.99 Fortschritt, so hatte Löwenthal demgegenüber im Exil erfahren, ließ sich auch in der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung realisieren. Schließlich hätte diese die »Integration der ehemals revolutionären Klasse, der Arbeiterklasse, ja nicht nur durch Mani­ 98 Nikolai Wehrs, Protest der Professoren. Der »Bund Freiheit der Wissenschaft« in den 1970er Jahren, Göttingen 2014, 434. 99 Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall, Stuttgart u. a. 1970, 8.

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pulationstechniken bewirkt, sondern auch durch Leistungen«.100 Für die fortschreitende Entwicklung der Gesellschaft gäbe es, so Löwenthal weiter, »verschiedene Möglichkeiten, und um diese Möglichkeiten kann man kämpfen«.101 In der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung kommt die Dimension von Löwenthals im britischen Exil vollzogenem Wandel am deutlichsten zum Ausdruck. Er selbst fühlte sich an der Freien Universität wiederholt an die Auseinandersetzungen an den Universitäten zu Beginn der 1930er Jahre er­ innert.102 Rudi Dutschke, den er als einen »verwirrten Mann guten Willens« bezeichnete, mag ihm gar als Reminiszenz seiner selbst erschienen sein,103 als Wiedergänger jenes jungen Löwenthal, der in seinen Studienjahren in Heidelberg Flugblätter der Sozialistischen Studentengruppe verteilt hatte, auf denen moniert wurde, die Universität würde den Marxismus totschweigen.104 Auf die Frage, ob seine Skepsis gegenüber der Studentenbewegung aus seiner politischen Biografie herrühre, antwortete Richard Löwenthal in den späten 1980er Jahren: »aus der Erfahrung der englischen Demokratie«, »aus der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus in meiner eigenen Jugend« sowie »den Erfahrungen mit der Sowjetunion«.105

100 Moral und Politik in der Überflussgesellschaft. Eine Podiumsdiskussion, geleitet von Jacob Taubes mit Herbert Marcuse, Prof. Löwenthal, Prof. Schwan, Prof. Classens, Peter Furth, Rudi Dutschke und Wolfgang Lefevre, in: Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie. Herbert­ Marcuse diskutiert mit Studenten und Professoren Westberlins an der Freien Universität Berlin über die Möglichkeiten und Chancen einer politischen Opposition in den Metropolen in Zusammenhang mit den Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, hg. von Horst Kurnitzky/Hansmartin Kuhn, Frankfurt a. M. 1980, 83–119, hier 87. 101 Ebd., 101. 102 Schmidt, Meine Heimat, 64−78. 103 Winkler, Ein Denker. 104 Funke, Die andere Erinnerung, 410. 105 Ebd., 413.

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Adam Michnik Eine polnisch-jüdische Nachkriegsbiografie

Das Jahr 1990 kam in Polen einem Schwellenjahr gleich. Nachdem im Frühjahr 1989 am sogenannten »Runden Tisch« der Übergang vom Einparteienstaat zur Demokratie beschlossen worden war und im Juni die ersten Wahlen nach dem Regimewechsel folgten, setzte 1990 schließlich die ökonomische Transformation ein und löste dadurch ein gesellschaftliches Erdbeben aus. Das Bruttoinlandsprodukt sank im Vergleich zum Vorjahr um knapp zwölf Prozent, die Reallöhne fielen um ein Viertel und die Arbeitslosenzahlen schossen mit über sechs Prozentpunkten in die Höhe.1 Die polnische Bevölkerung zeigte sich zutiefst ver­unsichert von den ökonomischen Umbrüchen und unzufrieden mit dem nur langsam fortschreitenden Demokratisierungsprozess.2 In Teilen der Gesellschaft wuchs das Bedürfnis, Erklärungen, ja Schuldige für die dramatischen Entwicklungen zu finden. Im Straßenbild der Städte war bald ersichtlich, wen sie als solche zu erkennen meinten: Schmierereien mit Davidsternen an Galgen oder »Juden raus«-Slogans verunstalteten die Wände und Mauern Polens.3 Ein peripheres Phänomen blieb jene Stimmung nicht. Als im Herbst 1990 der Wahlkampf um das Präsidentenamt begann, versuchte der Gewerkschaftsführer Lech Wałęsa diese gesellschaftliche Atmosphäre zu nutzen, um seinen größten Kontrahenten, den amtierenden Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, zu diskreditieren. Wiederholt betonte er, dass er nicht verstehen könne, warum gewisse Personen ihre Herkunft zu »verschleiern« versuchten. Er sei stolz darauf, ein Pole zu sein, und wenn er ein Jude wäre, wäre er ebenso stolz darauf.4 Zu anderer Gelegenheit wurde Wałęsa in seinen Anspielungen noch deutlicher, als er nun direkt von einer »neuen Clique« sprach, die sich nicht als Juden zu erkennen 1 Janice Bell, The Political Economy of Reform in Post-Communist Poland, Cheltenham/ Northampton, Mass., 2001, 13–15. 2 Ein Zeichen der gesellschaftlichen Verunsicherung war beispielsweise, dass knapp die Hälfte aller Polen 1990 befürchtete, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, ebd. 15.  Vgl. dazu auch Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010, 390. 3 Konstanty Gebert, Anti-Semitism in the 1990 Polish Presidential Election, in: Social Research 58 (1991), 723–755, hier 729. 4 Zit. nach ebd., 732.

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gäben. Nicht Tadeusz Mazowiecki selbst war hier gemeint, schließlich konnte dieser ein jahrelanges Engagement für die katholische Kirche vorweisen.5 Gezielt hatten die Angriffe vielmehr auf Mazowieckis Berater und enge Vertraute Bronisław Geremek und Adam Michnik. Sowohl Geremek als auch Michnik hatten noch im Jahr zuvor gemeinsam mit Wałęsa und Mazowiecki zu den Vertretern der gesellschaftlichen Opposition am Runden Tisch gehört. Sie alle verband ein jahrelanges Engagement für die Solidarność, also für jene erste freie Gewerkschaft Polens, die 1980 aus den großen Danziger Streikwellen entstand, 1982 verboten wurde und anschließend aus dem Untergrund heraus die politische Wende in Polen maßgeblich mit vor­bereitete.6 Bronisław Geremek hatte zu den engsten Beratern Lech Wałęsas gezählt, der wiederum noch 1989 Adam Michnik damit beauftragte, eine Wahlzeitschrift, die ­Gazeta Wyborcza, zur Unterstützung des gemeinsamen Bürgerkomitees zu gründen und zu leiten. Doch bereits im Folgejahr waren aus den ehemaligen Weggefährten erbitterte Konkurrenten geworden. Für Adam Michnik müssen die Angriffe von Lech Wałęsa zudem wie ein Echo aus längst vergangenen Tagen geklungen haben. Schon einmal hatte er im Zentrum eines Konflikts gestanden, der um die Frage seiner polnischen Zugehörigkeit kreiste und schon einmal war ihm auf öffentlicher Bühne seine Polonität abgesprochen worden. »Michnik, Blumsztajn und Szlajfer können und werden uns nicht die patriotischen Traditionen unserer Nation lehren«,7 war einst im Februar 1968 auf einem Flugblatt an der Warschauer Universität zu lesen gewesen. Gemeint waren die engen Freunde Adam Michnik, Seweryn Blumsztajn und Henryk Szlajfer, die gemeinsam zur studentischen Protestbewegung jener Zeit gezählt und sich für Meinungsfreiheit und gegen staatliche Repressionen eingesetzt hatten. Im März desselben Jahres hatte Władysław Gomułka, der erste Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR), in einer landesweit ausgestrahlten Rede über die Studentenproteste Adam Michnik persönlich erwähnt und betont, dass einige der Aktivisten »jüdischer Her 5 Mazowiecki hatte sich beispielsweise bereits in den 1960er Jahren für die katholische Bewegung Znak (Zeichen) und im Klub der katholischen Intelligenz (Kluby Inteligencji Kato­ lickiej; KIK) engagiert. 6 Vgl. zur Solidarność den Klassiker von Timothy Garton Ash, The Polish Revolution, Solidarity 1980–1982, New York 1984. Deutschsprachige Monografien zum Thema: Jerzy Holzer, Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen, München 1985; Hartmut Kühn, Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980–1990, Berlin 1999; Agnieszka Zaganczyk-Neufeld, Die geglückte Revolution. Das Politische und der Umbruch in Polen 1976–1997, Paderborn 2014. 7 Flugblatt unter dem Titel »Przeciw faszystowskiej prowokacji« [Gegen die faschistische Provokation], in: Marzec 1968 w Dokumentach MSW [Der März 1968 in den Dokumenten des MSW], Bd.  2, Kronika Wydarzeń, hg. v. Instytut Pamięci Narodowej (IPN), Warschau 2009, 157.

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kunft oder Nationalität« gewesen seien.8 Zusätzlich hatte er behauptet, dass es in Polen Juden gäbe, die sich stärker mit Israel als mit Polen identifizierten und von denen er annehme, dass sie früher oder später das Land verlassen werden – dies war durchaus als Drohung zu verstehen.9 Ebenso sehr, wie der gegen die polnischen Juden gerichtete Vorwurf der doppelten Loyalität eher die antijüdische Haltung ihrer Sprecher spiegelte, als dass er das Selbstverständnis der polnischen Juden traf, verschaffte sich in den politischen Konstellationen der Jahre 1968 und 1990 eine Kollision zweier gegensätzlicher polnischer Selbstverständnisse Geltung. Diese Kollision hatte sich gleichsam tief in die Familiengeschichte von Adam Michnik eingeschrieben. Seine Eltern waren beide in der Zwischenkriegszeit in der für ihren Internationalismus bekannten Kommunistischen Partei Polens (Komunistyczna Partia Polski, KPP) aktiv gewesen und hatten große Hoffnung in ein sozialistisches Polen gesetzt. Es handelte sich um die Vorstellung eines Polens, dass sich an der demografischen Realität und multinationalen Konstitution ebenso orientierte wie es damit an die weit zurückliegende Tradition der jagiellonischen Adelsdynastie anknüpfte. Aus der davon verschiedenen Tradition der Piastendynastie hatte sich wiederum das ethnisch aufgeladene Selbstverständnis Roman Dmowskis, des Kopfs der polnischen Nationaldemokraten in der Zwischenkriegszeit, gespeist.10 Dass sich 1968 ausgerechnet die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, also die Nachfolgeorganisation der KPP, zum offiziellen Sprachrohr von ethnischem Nationalismus und judenfeindlichen Verschwörungstheorien machte und der Parteivorsitzende persönlich den überzeugten Kommunisten Adam Michnik als nicht-polnisch diskreditierte, ist Ausdruck einer ebenso dramatischen wie historisch erklärungs­ bedürftigen Wendung. Die Ereignisse von 1968 verweisen auf einen Konflikt, der genauso wie jener von 1990 – als Adam Michnik von seinem ehemaligen Weggefährten Lech Wałesa die Polonität abgesprochen wurde –, nur vor dem Hintergrund einer wiederkehrenden Aushandlung polnischer Selbstverständnisse nachvollziehbar wird. Entlang der Person Adam Michniks sowie der Geschichte seiner Familie lässt sich diese Konstellation als Wiederholung politischer Aus­ handlungen der Zwischenkriegszeit dechiffrieren.

8 Władysław Gomułka, Przemówienie na spotkaniu z Warszawskim aktywem partyjnym [Rede auf dem Treffen der Warschauer Parteiaktivisten], 19. März 1968, in: ders., ­Przemówienia 1968 [Reden 1968], Warschau 1969, 43–81, 75 f. 9 Ebd., 74. 10 Vgl. dazu Norman Davies, Im Herzen Europas. Geschichte Polens, München 42006, 291–294.

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Rote Polonisierung Ozjasz Szechter (1901–1982), der Vater von Adam Michnik, der in Lwów, dem ehemaligen Lemberg aufgewachsen war, hatte sich bereits in seiner frühen Jugendzeit für die Kommunistische Partei engagiert. Mit gerade einmal 16 Jahren trat er der Kommunistischen Partei der Westukraine (Komunistyczna Partia Z ­ achodniej Ukrainy, KPZU), dem ukrainischen Ableger der KPP, bei. Da die kommunistische Agitation in der Zweiten Polnischen Republik als staatsfeindlich angesehen und mit hohen Strafen belegt wurde, musste er für sein politisches Engagement insgesamt fast acht Jahre im Gefängnis verbringen.11 Ozjasz Szechters Entscheidung für den Kommunismus steht dabei emblematisch für die vielen Lebenswege junger Juden in der Zwischenkriegszeit, die sich vom Kommunismus eine Lösung für die verheerende Situation der polnischen Judenheiten versprachen. Denn auch wenn durch die Verfassung der Zweiten Republik den Juden die Gleichberechtigung zugesichert wurde, waren die Lebensrealitäten weiterhin von Minderheitenkonflikten und gesellschaftlichen Ausschlüssen gekennzeichnet. Nach dem Ersten Weltkrieg entsprachen die neu entstandenen – oder wie im polnischen Fall wiederhergestellten – Staaten von ihrer Bevölkerungsstruktur noch den zerfallenden Imperien und hatten alte, aus dem 19. Jahrhundert herrührende Nationalitätenkonflikte zu regulieren. In Polen bedeutete dies den Versuch, den faktisch multiethnischen Charakter des Gemeinwesens mit dem Selbstverständnis der Nominalnation zur Deckung zur bringen.12 Die zahlreichen gegen Juden gerichteten Pogrome verdeutlichten bereits in der Gründungsphase der Zweiten Republik, wie konflikthaft dieses Unterfangen war.13 Die National­ demo­kraten, immerhin die größte Fraktion im polnischen Parlament, machten wiederholt deutlich, dass sie ethnische Minderheiten und insbesondere Juden kaum als gleichberechtigte polnische Bürger betrachteten. Sie verweigerten den gewählten Minderheitenvertretern die Anerkennung und versperrten sich jeder parlamentarischen Zusammenarbeit, um stattdessen für den ökonomischen 11 Karteiakte der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) von Ozjasz Szechter von 1950, AAN ZHP 5709 [Archiwum Akt Nowych], 2. Zum Verbot der kommunistischen Agitation vgl. Jaff Schatz, The Generation. The Rise and Fall of Jewish Communists of Poland, Berkeley, Calif./ Los Angeles, Calif./Oxford 1991, 129. 12 Vgl. hierzu Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999, 109–114. 13 Vgl. zu den Pogromen im Polen der Zwischenkriegszeit Joanna B. Michlic, Art. »Żydokomuna«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (nachfolgend EJGK), hg. von Dan Diner, Bd.  6, Stuttgart/Weimar 2015, 584–588. 1919 wurde vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson sogar eigens eine Kommission zur Überprüfung der zahlreichen Pogrommeldungen unter der Leitung von Henry Morgenthau sen. nach Polen entsandt. Vgl. dazu David Engel, Art. »Morgenthau Commission«, in: EJGK, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2013, 241–243.

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Boykott und gesellschaftlichen Ausschluss der polnischen Juden einzutreten.14 Die Partei verfolgte damit eine Politik, die unmittelbar auf ihren Gründungsvater und Vorsitzenden, Roman Dmowski (1864–1939), zurückging. Dieser verstand die polnische Nation als eine gottgegebene organische Entität mit gemeinsamer Geschichte und Sprache sowie geteiltem Territorium und Blut, aber ohne Juden.15 Dmowski bekannte sich offen zu seinem Antisemitismus und sprach von Juden als einer »schädlichen Rasse«, die das »Verderben« des modernen Polens bedeuten könne.16 Die Hoffnungen auf die vollwertige Gleichstellung der Juden in der Zweiten Republik waren demnach begrenzt. Zwar vertrat das Staatsoberhaupt Józef Piłsudski, der große Kontrahent Roman Dmwoskis, eine entgegengesetzte, föderalistische Konzeption von Polen, in der Juden als Teil eines größeren polnischen Gemeinwesens durchaus Berücksichtigung fanden, doch vermochte auch er dem grassierenden Antisemitismus und der fortwährenden Diskriminierung realiter wenig entgegenzusetzen.17 Das Versprechen bürgerlicher Gleichheit verlor vor diesem Hintergrund unter den polnischen Judenheiten massiv an Strahlkraft. Lediglich etwa zehn Prozent der Juden zählten in der Zwischenkriegszeit noch zu den sogenannten Assimilierten, also zu den Personen, die sich selbst nicht als Juden, sondern als Polen mosaischen Glaubens oder, wenn sie Atheisten waren, schlicht nur als Polen verstanden.18 Gerade junge Juden suchten stattdessen nach radikaleren Lösungen für ihre wenig vielversprechende Situation. Den größten Zulauf erfuhren dabei die Ideen des Zionismus und des Bundismus, also jene jüdisch-nationalen Zukunftsvisionen, die entweder ein Leben in Palästina oder eine jüdisch-kulturelle Autonomie in Polen propagierten.19 Im Gegensatz zu solch einer politischen Formierung entlang der eigenen Zugehörigkeit bot sich anderen der Kommunismus als Zukunftsversprechen und Kritik ethnischer Nationalstaatlichkeit an. Als Säkularisierungsideologie ermöglichte er es, die Grenzen der eigenen traditionell partikularen jüdischen Existenz zu überschreiten, um dabei gleichzeitig­ 14 Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 126 f.; Davies, Im Herzen Europas, 131. Zum Numerus clausus vgl. Szymon Rudnicki, From »Numerus Clausus« to »Numerus Nullus«, in: Antony Polonsky (Hg.), From Shtetl to Socialism. Studies from Polin, London/Washington D. C. 1993, 359–385. 15 Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 126. 16 Roman Dmowski, Gedanken über ein modernes Polen, in: François Guesnet (Hg.), Der Fremde als Nachbar. Polnische Positionen zur jüdischen Präsenz. Texte seit 1800, Frankfurt a. M. 2009, 276–282, hier 282. 17 Für einen Vergleich von Piłsudskis und Dmowskis Konzeptionen von Polonität vgl.­ Davies, Im Herzen Europas, 118–134. 18 Celia Heller, On the Edge of Destruction. Jews of Poland Between the Two World Wars, New York 1977, 188. 19 Vgl. zum Zionismus in Polen Ezra Mendelsohn, Zionism in Poland. The Formative Y ­ ears 1915–1925, New Haven, Conn./London 1982. Für den Bund in Polen vgl. Gertrud Pickhan, Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1918–1939, Leipzig 2001.

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universalistische Elemente dieser Tradition in verwandelter Form des politischen Kampfs und gesellschaftlicher Utopien zu bewahren.20 Seine Anhänger sahen in diesem internationalistischen Versprechen zudem eine Möglichkeit, »auf die gesellschafts- und damit menschenverändernde Seite der Revolution zu setzen, um dem mit ethnischen Nationalismus einhergehenden Antisemitismus zu entkommen.«21 Auch Adam Michnik schrieb über seinen Vater, dass er – seiner Generation gleich – nicht aufgrund von Geld oder der Aussicht auf staatliche Anstellungen zum Kommunisten wurde, sondern schlicht aus dem Grund, dass er »ein Leben in Würde« führen wollte.22 In ganz Europa wirkten die revolutionären Ideen des Kommunismus auf Teile der Judenheiten verlockend, doch gerade im Polen der Zwischenkriegszeit, dessen Bevölkerung sich nur zu zwei Dritteln aus ethnischen Polen zusammensetzte, war die Partei mit ihrem internationalistischen Selbstverständnis zu einem Anziehungspunkt für die Angehörigen der nationalen Minderheiten des Landes geworden. Davon zeugte vor allem ihre Mitgliederstruktur, die sich durch einen sehr hohen Anteil an Ukrainern und Juden auszeichnete  – in einigen Regionen machten Polen nicht einmal die Majorität der Mitglieder aus.23 Seinen Niederschlag fand dieser internationalistische Charakter der Partei aber auch in ihrem ganz eigenen Verständnis von Polonität.24 Nicht die Herkunft und erst recht nicht die Religion, sondern die Klassenzugehörigkeit sollte das entscheidende Merkmal eines polnischen Selbstverständnisses werden. Die Parteimitgliedschaft beinhaltete für Juden also die Möglichkeit, die Embleme ihrer jüdischen Zugehörigkeit – sprich: ihre religiöse und lebensweltliche Markierung – abzulegen und gleichberechtigter Teil der polnischen Gesellschaft zu werden. Der Kommunismus bedeutete also das Versprechen einer endgültigen Lösung der nationalen 20 Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2006, darin bes. Kapitel 3: Babels erste Liebe – Die Juden und die russische Revolution, 61–121. 21 Detlev Claussen, Entréebillet Kommunismus. Eine Erinnerung an Isaac Deutscher, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, H. 22, 2007, 87–97. 22 Adam Michnik, Shadows of Forgotten Ancestors, in: ders., Letters from Prison and other Essays, Berkeley/Los Angeles/London 1987, 202–222, hier 202. 23 Besonders drastisch stellte sich dieses Verhältnis in den Jugendorganisationen dar, in denen der allgemeine Anteil jüdischer Mitglieder für das Jahr 1930 bei 51 Prozent lag, während ethnische Polen lediglich 19 Prozent der Mitglieder stellten. Vgl. Jaff Schatz, Jews and the Communist Movement in Interwar Poland, in: Jonathan Frankel/Dan Diner (Hgg.), Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism, New York 2004, 13–37, hier 19–21. Zum jüdischen Anteil in der KPP allgemein vgl. Piotr Wróbel, Failed Integration. Jews and the Beginning of the Communist Movement in Poland, in: Israel Bartal/Antony Polonsky/Scott Ury (Hgg.), Jews and Their Neighbours in Eastern Europe Since 1750, Oxford/Portland, Oreg., 2012, 187–222, hier 187–189. 24 Julia Brun-Zejmis, National Self-Denial and Marxist Ideology. The Origin of the Communist Movement in Poland and the Jewish Question, 1918–1923, in: Nationalities Papers 22, Supplement Nr. 1 (1994), 29–54, 38 f.

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Frage. Diese Perspektive war wohl auch für Ozjasz Szechters kommunistisches Engagement entscheidend, insofern der auf den Begriff der Klasse rekurrierende Universalismus ihm und vielen anderen jungen Juden in der Zwischenkriegszeit ermöglichte, eine Art »rote Assimilation« zu vollziehen. In der Rückschau konstatierte Adam Michnik deshalb, dass er aus einer Familie »völlig polonisierter Juden« stammte, die sich »aufgrund ihres Kommunismus polonisiert« hatten.25 Ihre Spuren hinterließ diese Prägung auch noch auf dem Sohn: Wuchs Michnik einerseits ohne jeden Bezug zum Judentum auf, so betonte er andererseits, dass er nie die »für einen Polen typischen nationalen Gefühle« empfunden habe.26 Es war diese Form der Polonität, die weder auf Ethnizität noch auf Katholizismus, sondern auf einer gemeinsamen Kultur und den geteilten freiheitlichen Werten aufbaute, die den Sohn mit dem Vater verband.

Polen als Volksrepublik Gegenüber dem Polen seines Vaters, dem Polen der Zwischenkriegszeit, hatte sich das Polen des Nachkriegs, in dem der 1946 geborene Adam Michnik aufwuchs, indes grundlegend gewandelt. Die nationalsozialistische Judenvernichtung hatte das polnische Judentum und die Vielfalt jüdischen Lebens unwiederbringlich zerstört. Jene Juden, die Teil des neuen Nachkriegspolen wurden, hatten ihr Überleben zumeist ihrer rechtzeitigen Flucht in die Sowjetunion zu verdanken.27 Zwar war die Rückkehr aus dem Exil durch Meldungen über gegen Juden gerichtete Gewaltexzesse überschattet, die zur erneuten Emigration eines Großteils der zurückgekehrten Juden führte.28 Doch zumindest die Hoffnung, die die jüdischen Kommunisten in das neue Regime setzten, schienen sich anfangs zu erfüllen, als Fragen der Herkunft im Bereich gesellschaftlicher und politischer Institutionen zunächst eine untergeordnete Rolle spielten. So verkündete gleich die erste, provisorisch eingerichtete Regierung nach dem Krieg in einem Manifest, dass den Juden »nach der bestialischen Ausrottung durch den Besatzer der 25 Adam Michnik im Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit, in: Daniel Cohn-Bendit, Wir haben sie so geliebt, die Revolution, Frankfurt a. M. 1987, 184–226, hier 184. 26 Ebd. 27 Vgl dazu Markus Nesselrodt, From Russian Winters to Munich Summers. DPs and the Story of Survival in the Soviet Union, in: Rebecca Boehling/Susanne Urban/René Bienert (Hgg.), Displaced Persons. Leben im Transit: Überlebende zwischen Repatriierung, Rehabilitation und Neuanfang, Göttingen 2014, 190–198. 28 Zum polnischen Antisemitismus der Nachkriegszeit vgl. Jan T. Gross, Fear. Anti-Semitism in Poland After Auschwitz, New York 2006; Ders./Irena Grudzińska-Gross, Golden Harvest, Oxford u. a. 2012. Zu den Emigrationszahlen vgl. Dariusz Stola, Kraj bez wyjścia? Migracje z Polski 1949–1989 [Land ohne Ausgang? Migration aus Polen 1949–1989], Warschau 2010, 50.

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Aufbau einer eigenen Existenz sowie die rechtliche und faktische Gleichstellung garantiert« werde.29 Und in der Tat hatten Menschen jüdischer Herkunft im neuen Staat vorübergehend kaum mit Einschränkungen zu kämpfen, zumindest nicht hinsichtlich ihres beruflichen Werdegangs. Gerade im Vergleich zur Zwischenkriegszeit boten sich im Polen der unmittelbaren Nachkriegsjahre ausgesprochen gute Aufstiegschancen.30 Den Vorstellungen von Michniks Vater Ozjasz Szechter entsprach das neue Regime dennoch nicht. Er konnte sich nicht mit den autoritären Zügen der Parteiführung und der engen Bindung an die Sowjetunion identifizieren und verabschiedete sich daher aus der aktiven Politik.31 Zudem zeigte sich schon bald, dass der polnische Sozialismus sein Versprechen einer umfassenden Egalität auch in Hinblick auf die jüdische Frage nicht einzuhalten vermochte. Das betraf weniger die antisemitisch eingefärbten Schauprozesse, die unter S­ talins Führung Osteuropa überzogen und auch in Polen vorbereitet wurden,32 sondern jene Entwicklungen, die sich erst nach Stalins Tod 1953 und dann vor allem ab 1956 zu erkennen gaben. Die Rede ist von den stärker werdenden polnisch-nationalen Tendenzen innerhalb der Partei. Hatte die Kommunistische Partei der Zwischenkriegszeit vor allem Mitglieder versammelt, die die Kategorie der Nation für einen universalistischen, die Herkunft neutralisierenden Zukunftshorizont einzutauschen bereit waren, zog die Arbeiterpartei im neukonstituierten Polen einen Querschnitt der Gesellschaft an. Im Einparteien­ staat bildete die PZPR schließlich die einzige politische Repräsentationsform; dementsprechend verlagerten sich gesellschaftliche Konfliktlinien, die früher noch zwischen unterschiedlichen Parteien verliefen, nun in die neue Einheitspartei hinein. Die Bevölkerungsstruktur Nachkriegspolens entsprach zudem keineswegs mehr jener multinationalen Zweiten Republik, die auf den Internationalismus der alten Partei so prägend gewirkt hatte. Die Grenzverschiebungen, die ethnischen Säuberungen und vor allem der Holocaust hatten das Ende eines multi­ ethnischen Polens bedeutet. Weniger im institutionellen als vielmehr im ethnischen Sinne war das Land zu einer Volksrepublik geworden und die Partei zum Repräsentanten jenes Volkes. So entwickelte sich zunehmend ein Widerspruch zwischen der internationalistischen Parteirhetorik und der ethnischen Homo­ genität der Gesellschaft, der auch zu Spannungen innerhalb der Partei führte. Zu 29 Zit. nach Hans-Christian Dahlmann, Antisemitismus in Polen 1968. Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft, Osnabrück 2013, 73. 30 Vgl. dazu Schatz, The Generation, 218. 31 Adam Michnik im Gespräch mit Cohn-Bendit, 184. 32 In Polen wurde ein Prozess gegen den ehemaligen Parteivorsitzenden Władysław Gomułka vorbereitet. Auch der für den Sicherheitsapparat zuständige Jakub Berman geriet, nicht zuletzt aufgrund seiner jüdischen Herkunft, in das Visier der Ermittler, jedoch wurden die Prozessvorbereitungen nach Stalins Tod umgehend eingestellt. Vgl. dazu George H. Hodos, Show Trials. Stalinist Purges in Eastern Europe, 1948–1954, New York 1987, 135–153.

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Zeiten des Stalinismus wurden diese repressiv niedergehalten und Abweichungen von Stalins Direktiven autoritär unterbunden.33 Doch unter der Oberfläche begannen sich bereits jene Strömungen zu formieren, die den Widerspruch national aufzulösen strebten. Nach Stalins Tod 1953 setzte auch in Polen ein Destalinisierungsprozess ein, der durch Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 eine enorme Beschleunigung erfuhr und zu weitreichenden gesellschaftlichen Liberalisierungen führte. Dieser Prozess verschaffte schließlich auch jenen Kräften innerhalb der Partei Sichtbarkeit, die sich vormals noch nicht unzensiert hatten äußern dürfen. Besonders die unter dem Namen Natolin firmierende Gruppe (benannt nach dem Warschauer Stadtviertel, in dem sie sich gegründet hatte) nutzte die neugewonnen Freiheiten, um ihre Vision eines national-polnischen Sozialismus zu propagieren, der keinen Platz mehr für Juden oder andere Minderheiten bot.34 Dass zu Zeiten des Stalinismus einige hohe Funktionäre der PZPR jüdischer Herkunft waren, nahmen die Natolinianer zusätzlich zum Anlass, die Verantwortung der nun bekannten Verbrechen auf Juden abzuwälzen und einen genuin polnischen Sozialismus zu fordern. Auch wenn durch die Ernennung Gomułkas zum neuen Parteivorsitzenden im Oktober 1956 der Einfluss der Gruppe schnell abnahm, gewann in den sechziger Jahren mit Mieczysław Moczar erneut ein Vertreter jenes national orientierten Flügels an Bedeutung. Insbesondere nach 1964, als er das polnische Innenministerium und damit auch den polnischen Sicherheitsapparat übernahm, mehrten sich innerhalb und außerhalb der Partei Positionen, die das Polentum wieder stärker als eine organische Entität verstehen wollten. So ließ etwa Bolesław Piasecki, ein Sejm-Abgeordneter und Vorsitzender der PAX, einer einflussreichen Vereinigung »progressiver« – also parteiloyaler – Katholiken, verlautbaren, dass ihm ein »national-radikaler Sozialismus« vorschwebe. In dieser auf den »historischen Traditionen der polnischen Nation« basierenden Vision sollten Juden keine gesellschaftspolitisch relevanten Positionen mehr bekleiden.35 Es sei, so Piasecki 1966, »die Pflicht eines jeden Bürgers«, sich aus dem »patriotischen Verständnis polnischer Interessen« gegen den »unverhältnismäßig« hohen Anteil von Juden in der Regierung zu positionieren.36 33 Das prominenteste Opfer dieser Politik war Gomułka, der aufgrund seines Bestrebens eines »polnischen Wegs zum Sozialismus« als Parteivorsitzender 1948 abgesetzt wurde. 34 Siehe dazu Ingo Loose, 1968. Antisemitische Feindbilder und Krisenbewusstsein in Polen, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hgg.), Unsere Feinde. Konstruktion des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, 481–502, hier 482. 35 Mikołaj Stanisław Kunicki, The Red and the Brown. Boleslaw Piasecki, the Polish Communists, and the Anti-Zionist Campaign in Poland, 1967–68, in: East European Politics and Societies 19 (2005), H. 2, 185–225, hier 192. 36 Zit. nach Mikołaj Stanisław Kunicki, Between the Brown and the Red. Nationalism,­ Catholicism, and Communism in 20th Century Poland. The Politics of Bolesław Piasecki, Athens, Oh., 2012, 146 f.

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Doch die neugewonnenen Freiheiten von 1956 förderten nicht nur einen ethnisch argumentierenden Nationalismus zu Tage, sie führten auch zur Formierung eines liberaleren Parteiflügels, der diesem entgegenstand. Gerade auch jene alten Kommunisten der Zwischenkriegszeit, die nicht zuletzt aufgrund ihrer jüdischen Herkunft große Hoffnungen in den Sozialismus gelegt hatten und von den Entwicklungen im Stalinismus enttäuscht waren, setzten sich nun für tiefgreifende Reformen von Staat und Gesellschaft ein. Ihren emblematischen Ausdruck hatte diese Aufbruchsstimmung des Jahres 1956 in der Rede vom »polnischen Oktober« gefunden. In der Kunst begann man, sich von den engen Vorgaben des sozialistischen Realismus zu lösen, der Literaturbetrieb öffnete sich gegenüber dem Westen, und auch an den Universitäten war eine Liberalisierung zu verspüren. Erstmalig war es nun möglich, öffentlich Verletzungen der akademischen Freiheiten zu beklagen und eine unabhängige Wissenschaft einzufordern, ohne dafür sanktioniert zu werden.37 Der Aufbruch des Oktober 1956 war jedoch nur von kurzer Dauer. Bereits ein Jahr darauf machte Władysław Gomułka die Grenzen der Liberalisierungsbestrebungen deutlich. Er ließ neu entstandene Zeitungsprojekte schließen, baute den Sicherheitsapparat aus und unterband jegliche kritische Diskussion über die politische Verfasstheit Polens.38 Diese Phase der kurzzeitigen Hoffnung und anschließenden Ernüchterung bildete den Grundstein für jenes dissidente Denken, das sich in den frühen sechziger Jahren entwickelte und schließlich 1968 zu einem tragischen Höhepunkt kam. Die Forderungen nach einer stärkeren Wahrung der Meinungs- und Pressefreiheit verschwanden nicht, äußerten sich nun aber zunehmend außerhalb der Partei. Vor allem der Klub des Krummen Kreises (Klub Krzywego Koła), jene Enklave des freien Denkens, in der sich regelmäßig so bedeutende Intellektuelle wie Leszek Kołakowski, Jan Józef Lipski oder­ Zygmunt Bauman trafen, um über gesellschaftspolitische Themen zu debattieren, hatte dabei eine Vor­reiterrolle inne.39 Auch der junge Adam Michnik nahm 1962, kurz vor der staatlichen Auf­lösung des Klubs, an dessen Sitzungen teil. Er war damals noch ein Schuljunge von gerade einmal 15 Jahren, doch an die Diskussionen mit Kołakowski und den anderen erinnerte er sich später noch als »großartiges Ereignis« von bleibender Bedeutung.40 Es veranlasste ihn schließlich dazu, mit einigen Freunde zusammen

37 Anthony Kemp-Welch, Poland under Communism. A Cold War History, Cambridge u. a. 2008, 67. 38 Vgl. zu den Entwicklungen in Polen nach 1956 Borodziej, Geschichte Polens, 304–310. 39 Vgl. zum Klub des Krummen Kreises Agnes Arndt, Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956–1976), Göttingen 2013, 68–77; Witold­ Jedlicki, The Crooked Circle Club, in: Tadeusz N. Cieplak (Hg.), Poland since 1956. Readings and Essays on Polish Government and Politics, New York 1972, 120–129. 40 Adam Michnik im Gespräch mit Cohn-Bendit, 185.

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Adam Michnik (1. Reihe, 4. v. r.), Klaudiusz Weiss (3. v. r.) und Jan T. Gross (2. v. r.) während einer Veranstaltung des Klubs der Widerspruchsuchenden, Warschau 1962.

einen eigenen Diskussionskreis zu gründen: den Klub der Widerspruchsuchenden (Klub Poszukiwaczy Sprzeczności). In seiner Ausrichtung wesentlich marxistischer als sein Vorbild, trafen sich hier wöchentlich mehr als 50 Jugendliche, um über die Werke von Marx und Lenin, von Flaubert und Słonimski oder über die Politik Piłsudskis und Gomułkas zu debattieren. Die Jugendlichen waren stets bestrebt, gesellschaftliche Widersprüche aufzudecken, um diese – ganz der marxistischen Tradition verpflichtet – überwinden zu können. Nicht um eine Abschaffung des Sozialismus ging es den »Widerspruchssuchenden« um Adam Michnik, sondern vielmehr um die Erfüllung seiner Versprechen und die Implementierung freiheitlicher Momente in das Prinzip gesellschaftlicher Egalität.41 Hier zeigte sich bei den Jugendlichen eine biografische Prägung. Die meisten ihrer Mütter und Väter hatten bereits in der Zwischenkriegszeit – nicht zuletzt aufgrund ihrer jüdischen Herkunft – große Hoffnungen in den Kommunismus gesetzt, sie zählten nach dem Krieg zur Nomenklatura und gehörten 1956 dem Reformflügel der Partei an. Unter ihnen fanden sich Minister und Mitglieder des Zentralkomitees, Professoren und wichtige Verleger. Sie lebten in Ochota,­ Mokotów und in der Innenstadt, also den wohlhabenderen Gegenden ­Warschaus,

41 Zum Klub der Widerspruchsuchenden vgl. Andrzej Friszke, Anatomia Buntu. Kuroń, Modzelewski i komandosi [Anatomie der Rebellion. Kuron, Modzelewski und die Kommandotruppen], Krakau 2010, 359–374; Arndt, Rote Bürger, 80–86.

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und hatten großzügige Wohnungen und zum Teil eigene Chauffeure und Bedienstete. Die Eltern bildeten eine Art »Rote Bourgeoisie« im sozialistischen Polen und stellten das Milieu, in dem die Widerspruchsuchenden heranwuchsen.42 Die gehobene Stellung der Eltern bot den Jugendlichen in vielerlei Hinsicht Schutz vor staatlichem Zugriff und produzierte bei ihnen ein Gefühl der Sicherheit. Im Klub sprachen sie »über alles, worüber man nicht sprechen durfte«, erinnerte sich Michnik, »[a]ber wir durften«. Gepaart mit dem Glauben an den Sozialismus ermöglichte dieses Sicherheitsgefühl den Jugendlichen ihr politisches Engagement: »Wir haben uns als Kommunisten betrachtet. Und wir wären nicht auf die Idee gekommen, daß Kommunisten in einem kommunistischen Land ein Unrecht ­geschehen könnte.« Zwar räumt Michnik ein, dass dieser Glaube äußerst naiv gewesen sei, doch habe gerade diese Naivität ihm und seinen Freunden ermöglicht, »besonders mutig zu sein«.43 Es ist durchaus erstaunlich, dass Michnik und seine Freunde diese produktive Sicherheit verspürten, schließlich gab es in ihrem unmittelbaren Bekanntenkreis genügend Beispiele staatlicher Repression. So wurden im Jahr 1965 Jacek Kuroń und Karol Modzelewski, zwei Mentoren und regelmäßige Teilnehmer des Klubs der Widerspruchsuchenden, für die Verfassung eines »Offenen Briefs« zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.44 Adam Michnik selbst musste im Zuge dieser Affäre für kurze Zeit in Untersuchungshaft, da er sich an der Verbreitung der Schrift beteiligt hatte. Der »Offene Brief« war für die Gruppe um Michnik überaus bedeutend gewesen, nicht unbedingt des Inhalts wegen, sondern weil er eine grundlegende Kritik am polnischen Realsozialismus aus linker Perspektive formulierte. »Die Sprache, in der er verfaßt war«, sagte Michnik später über den Text, »war mir sehr nahe, weil es die Sprache eines rebellierenden Kommunismus war.«45 Michnik war schließlich mit eben dieser Sprache aufgewachsen, denn obwohl sein Vater den bestehenden Sozialismus vehement kritisiert hatte, hatte er sich stets im marxistischen Bezugsrahmen bewegt. Seine »ganze geistige Kultur«, formulierte Michnik später, sei die des »Marxismus und Kommunismus« gewesen: »Selbst wenn er extrem antikommunistische oder antisowjetische Standpunkte

42 Zum Heranwachsen im jüdisch-kommunistischen Milieu Warschaus vgl. Joanna Wiszniewicz, Jewish Children and Youth in Downtown Warsaw Schools of the 1960s, in: Leszek W. Głuchowski/Antony Polonsky (Hgg.), 1968. Forty Years After, Oxford/Portland, Oreg., 2009, 204–229. 43 Adam Michnik im Gespräch mit Cohn-Bendit, 187. 44 Für die deutsche Übersetzung siehe Jacek Kuroń/Karol Modzelewski, Monopolsozialismus. Offener Brief an die Mitglieder der Grundorganisation der Polnischen Vereinigten Ar­ beiterpartei und an die Mitglieder der Hochschulorganisation des Verbandes Sozialistischer Jugend an der Warschauer Universität, Hamburg 1969. Zur Geschichte des Offenen Briefs vgl. Friszke, Anatomia Buntu, 79–354. 45 Adam Michnik im Gespräch mit Cohn-Bendit, 190.

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vertrat, drückte er seine Meinung in der Sprache des Marxismus aus, der Sprache, die er in der kommunistischen Partei gelernt hatte.«46 An den konkreten Inhalten des »Offenen Briefs« hatten Michnik und seine Freunde jedoch durchaus Kritik. Insbesondere in Bezug auf die sogenannte nationale Frage, die in dem Manifest von Kuroń und Modzelewski vollkommen ausgespart wurde, bestanden Differenzen zwischen den Autoren und der Gruppe der Widerspruchsuchenden. Letztere forderten eine stärkere Loslösung von der­ Sowjetunion, da sie die Volksrepublik in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis von Moskau sahen. »Ich war dafür, in diesem Brief ganz eindeutig für die Unabhängigkeit Polens einzutreten« erinnert sich Michnik später.47 Die Souveränität Polens war eine ihrer Hauptforderungen, schließlich verstanden sich die jungen Kommunisten aus dem Kreis der Widerspruchsuchenden als Anhänger eines polnischen Patriotismus – eines Patriotismus freilich, in dem sich zugleich die Besonderheiten ihrer eigenen Kollektiverfahrung spiegelten. Die meisten von ihnen kamen aus jüdischen Familien, und auch wenn viele der Eltern noch in klassisch jüdischen Lebenswelten aufgewachsen waren, hatte sich ein Großteil von ihnen ähnlich wie Michniks Vater bereits in der Zwischenkriegszeit für die kommunistische Partei engagiert. Ihre Herkunft hatten sie längst hinter sich gelassen, ihr politisches Selbstverständnis drängte ins Universelle. In diesem Sinne wuchs die Generation der späteren Widerspruchsuchenden ohne jeden Bezug zum Judentum auf. An dessen Stelle war ein polnischer Patriotismus getreten, der wie in der alten KPP von einem starken Internationalismus und einem universalistischen Wertekanon gekennzeichnet war. Dieser Patriotismus war es auch, der ihren Protest im Frühjahr 1968 antrieb.

Der polnische März ’68 Den Stein des Anstoßes für die Studentenrevolten von 1968 in Polen bildete die von staatlicher Seite angekündigte Absetzung eines Theaterstücks, das unter dem Verdacht stand, antisowjetische und antisozialistische Stimmungen zu schüren. Die Studenten verstanden die staatliche Intervention als unrechtmäßigen Eingriff der Parteiführung in die polnische Kultursphäre und nutzten die Gelegenheit, um die restriktive Kulturpolitik und die mangelnde Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu kritisieren – zwar garantierte die polnische Verfassung letztere eigentlich jedem Bürger laut Artikel 71, doch war die Praxis eine andere.48 Der 46 Ebd., 184. 47 Ebd., 190. 48 Vgl. zur studentischen Protestbewegung von 1968 die umfangreiche und äußerst detaillierte Monografie von Friszke, Anatomia Buntu. Ausführlich widmet sich auch Jerzy Eisler, Polski Rok 1968 [Das polnische Jahr 1968], Warschau 2006, der Bewegung. Bisher liegt noch keine

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Konflikt zwischen Parteiführung und den studentischen Oppositionellen hatte jedoch nicht nur die fehlenden Freiheitsrechte zum Gegenstand. Kern des Dissenses war vielmehr die Frage nach der polnischen Zugehörigkeit – jene Frage also, die das nationale Selbstverständnis Polens berührt. So war auch die Theaterinszenierung, deren Absetzung im Januar 1968 den Auslöser der Proteste in Warschau bildete, keine beliebige: Sie brachte kein geringeres Stück auf die Bühne als das polnische Nationalepos Dziady vom wohl wichtigsten Dichter der polnischen Romantik, Adam Mickiewicz (1798–1855). Adam Mickiewiczs Leben war von einem starken polnischen Patriotismus geprägt, der sich in seinem gesamten politischen und künstlerischen Œuvre Ausdruck verschaffte. In Mickiewiczs Schaffenszeit existierte jedoch kein polnischer Staat, sein Patriotismus bestand somit aus einer Sehnsucht nach etwas Nicht­ existentem, etwas Metaphysischem, das das messianische Zeitalter auf Erden einläuten sollte. Seine Vorstellung von Polen war stets von einem hehren Idealismus und religiös geprägten Universalismus gekennzeichnet. Nicht die Herkunft, sondern das Bekenntnis zu eben diesen Idealen war für Mickiewicz das bedeutendste Merkmal von Polonität; nicht Homogenität, sondern Pluralismus charakte­risiert in seinen Werken die polnische Nation.49 Adam Michnik und viele seiner Freunde konnten sich mit einer solchen Konzeption polnischer Zugehörigkeit durchaus identifizieren. »Mit Hilfe von­ Mickiewicz konnten wir patriotisch und internationalistisch zugleich sein«, blickte ­Michnik später auf die Ereignisse zurück.50 Für ihn war die Absetzung von Mickiewiczs Theaterstück daher »genau der Moment, wo [unsere, D. K.] kleine Gruppe rebellierender kommunistischer Dissidenten die nationale Fahne in die Hand nahm«.51 Michnik bezeichnete noch 1969 Mickiewiczs Werk als »national sakrales Eigentum«52, und er und die anderen studentischen Oppositionellen zeigten sich entschlossen, jene auf dieser Tradition beruhende Vorstellung von Polen zu verteidigen: »Wir, die studierende Jugend Warschaus«, hieß es in einer Petition, die von den Studenten im Februar 1968 verfasst wurde, »protestieren gegen die Politik der Absage an progressive Traditionen der polnischen deutschsprachige Monografie zu diesem Forschungsfeld vor, allerdings behandeln verschiedene Arbeiten die Studentenproteste im Kontext der allgemeinen Ereignisse von 1968 in Polen. So zum Beispiel Arndt, Rote Bürger; Dahlmann, Antisemitismus 1968 in Polen, sowie die zu Klassikern avancierten Schriften Paul Lendvai, Antisemitismus ohne Juden. Entwicklungen und Tendenzen in Osteuropa, Wien 1972, und Hammer, Bürger zweiter Klasse. 49 Vgl. zu Mickiewiczs Nationsverständnis die Beiträge von Karl Dedecius, Rolf-Dieter Kluge, Hans-Peter Hoelscher-Obermaier oder auch Stefan Schreiner in: Rolf-Dieter Kluge (Hg.), Von Polen, Poesie und Politik. Adam Mickiewicz 1798–1998, Frankfurt a. M. 1999. 50 Adam Michnik im Gespräch mit Cohn-Bendit, 198. 51 Ebd. 52 So in seiner Verteidigungsrede vor dem Warschauer Gericht am 22. und 23. Januar 1968, zit. nach Raina, Political Opposition in Poland, 192.

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Nation«.53 Die Verfasser verstanden also das Verbot von Mickiewiczs’ Stück als Bruch mit einer bestimmten Tradition des Polnischen – einer Tradition, der sie sich selbst zugehörig fühlten und die es ihrer Meinung nach in Schutz zu nehmen galt vor gegenläufigen Tendenzen. Die studentischen Oppositionellen um Adam Michnik führten in Bezug auf die nationale Frage also geradezu die Tradition der alten Kommunistischen Partei des Polens der Zwischenkriegszeit fort, offenbarte sich in ihrem politischen Engagement für ein freiheitliches Polen doch eine Vorstellung polnischer Zugehörigkeit, die  – wenn auch unter anderen Vorzeichen  – in ähnlicher Weise die Kommunistische Partei geteilt hatte. Es handelte sich um ebenjene Vorstellung von einem Polentum, das sich nicht über die Abstammung und auch nicht allein über den Katholizismus, sondern über universalistische Werte und eine geteilte Kultur auszeichnete. Hatte in der Zwischenkriegszeit das Streben nach einer egalitären Gesellschaftsordnung, die ethnische Differenzen zu nivellieren versprach und auf diesem Weg Individuen von sozialen und nationalen Zwängen befreien sollte, den Einsatz für einen sozialistischen Staat markiert, stellte sich dies in den 1960er Jahren jedoch anders dar. Nun richtete sich das Engagement gegen den real­sozialistischen Staat, also gegen das von den eigenen Eltern mit­ errichtete Regime, und trachtete danach, dieses dem kommunistischen Ideal anzupassen. Doch die Überzeugungen, die den Handlungen der Eltern und Kinder zugrunde lagen, glichen sich in vielerlei Hinsicht und mündeten allesamt in der Bemühung, Verhältnisse zu schaffen, die eine uneingeschränkte Zugehörigkeit zum Pol­nischen ermöglichten. Als sie dieses Selbstverständnis nun in ihrem Protest gegen die Absetzung von Dziady zu Beginn des Jahres 1968 auf die Straße trugen, wurde dies gleichsam zur Fortsetzung eines vergangenen Familiendramas.54 Denn auch wenn die Relegation, mit der Adam Michnik und Henryk Szlajfer der Universität verwiesen wurden, mit dem Vorwurf begründet wurde, dass sie die Proteste im Zuge der Absetzung des Theaterstücks maßgeblich initiiert hatten, war in das Zentrum der politischen und öffentlichen Debatte vor allem die jüdische Herkunft der beiden gerückt. Schon bald wurde diese zum erklärten Grund für ihre nationale Verurteilung. Die zunehmende Ethnifizierung des polnischen Selbstverständnisses war­ indes schon ein Jahr zuvor unübersehbar hervorgetreten. Der Sechstagekrieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn im Juni 1967 hinterließ auch in der polnischen Innenpolitik ihre Spuren und führte dort zu verzerrten Deutungen entlang der Linien alter polnischer Nationalitätendebatten. Polen folgte wie alle Warschauer Vertragsstaaten (mit Ausnahme Rumäniens) der von Moskau vorgegebenen Linie, die arabischen Staaten politisch und ökonomisch zu unter 53 Zit. nach Marzec 1968 w Dokumentach MSW, Bd. 2, 33. 54 Marci Shore, Familiendrama. Die Juden und der Kommunismus in Osteuropa, in: Transit. Europäische Revue 34 (2008), 52–71.

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stützen.55 Die polnische Regierung verurteilte unter anderem deswegen offiziell die israelischen »Aggressionen« und brach jegliche diplomatischen Beziehungen zum jüdischen Staat ab.56 Während sich in den einzelnen Staaten des Ostblocks die mediale Propaganda gegen Israel ähnelte, war es jedoch Polen allein, das diesen Kurs innenpolitisch zu einer »Säuberung« der Parteikader und des öffentlichen Lebens nutzte.57 Innenminister Mieczysław Moczar lancierte mit Hilfe seines Sicherheitsapparats eine staatliche Kampagne und bezichtigte alle Polen jüdischer Herkunft, ganz gleich welches Selbstverständnis sie teilten, der ­Illoyalität gegenüber der polnischen Nation. Handelte es sich zunächst um einen innerparteilichen Machtkampf, der darauf zielte, hohe Funktionäre aus ihren Positionen zu drängen und sie durch Moczars Gefolgsleute zu ersetzen, trat zunehmend die nationale Utopie der Realisierung eines ethnisch reinen Polen, das von jeglichen »fremden« Einflüssen befreit sein sollte, in den Vordergrund. Partei­chef Władysław Gomułka persönlich brachte sich in die Kampagne ein und sprach in seiner Rede vom 19. Juni 1967 davon, dass jeder polnische Bürger nur ein Vaterland, die Volksrepublik Polen, haben sollte, um daran anzuschließen, dass nicht geduldet werden könne, »wenn sich eine fünfte Kolonne in unserem Land bildet«.58 Insbesondere der Terminus der »fünften Kolonne« entfaltete eine gewisse Signalwirkung. Er stammt ursprünglich aus dem Spanischen Bürgerkrieg und bezog sich auf subversive Tätigkeiten »fremder« und feindlicher Gruppierungen in den eigenen Reihen. Später fand er in Polen jedoch vor allem zur Beschreibung der deutschen Minderheit Verwendung, der vorgeworfen wurde, mit den Nationalsozialisten zu kollaborieren.59 Als Gomułka diesen Begriff nun 1967 erneut aufgriff, suggerierte er vor dem Hintergrund des Kriegs in Nahost zugleich eine antipolnische Verschwörung und stellte alle Polen jüdischer Herkunft unter Generalverdacht. Einem solchen antisemitischen Verschwörungsdenken lag freilich die Annahme zugrunde, dass Juden sich nicht gänzlich dem Polnischen zugehörig fühlen und niemals gleichwertige Mitglieder der polnischen Gesellschaft sein könnten. Als sich dann im Frühjahr 1968 der studentische Protest gegen die Absetzung des Theaterstücks regte, bedienten Moczar und Gomułka erneut die judenfeindliche Rhetorik, um die Oppositionsbewegung zu delegitimieren und als un­ polnisch zu diskreditieren. In einer öffentlich ausgestrahlten Rede im März 1968

55 Vgl. Dahlmann, Antisemitismus in Polen 1968, 75–78. 56 Eisler, Polski Rok 1968, 38. 57 Für einen Vergleich der unterschiedlichen Reaktionen der Warschauer Vertragsstaaten auf den Sechstagekrieg vgl. Lendvai, Antisemitismus ohne Juden. 58 Zit. nach Wlodzimierz Rozenbaum, The March Events, in: Głuchowski/Polonsky (Hgg.), 1968, 62–92, hier 70. 59 Vgl. Art.  »Fifth Column«, in: The Merriam-Webster New Book of Word Histories, Springfield, Mass., 1991, 178 f.

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verwies Władysław Gomułka explizit auf die jüdische Herkunft einiger führender Oppositioneller, indem er sie bei ihren bereits lange Zeit abgelegten jüdischen Familiennamen nannte.60 Es war ihm offenbar ein besonderes Anliegen, zwischen Polen und Juden zu unterscheiden. In der antisemitischen Kampagne verschaffte sich also jenes nationale Selbstverständnis Ausdruck, das bereits seit 1956 wieder vermehrt sichtbar geworden war. Die ehemals stalinistische Partei hatte eine grundlegende Kehrtwende gemacht – zwar nicht so sehr in Hinblick auf den repressiven Führungsstil, dafür aber umso mehr bezüglich der nationalen Frage. Stand die Kommunistische Partei der Zwischenkriegszeit noch für einen von Rosa Luxemburg geprägten Internationalismus und für die strikte Ablehnung eines jeden Antisemitismus,61 war ihre Nachfolgepartei bereits zur Trägerin eines exkludierenden Nationalismus und des Antisemitismus geworden. Während die KPP zu den größten Gegnern der Nationaldemokratie gehört hatte, waren es in den 1960er Jahren nun Funktionäre aus den Reihen der PZPR, deren Positionen an Dmowski erinnern ließen. Nicht ganz unzutreffend bezeichnen darum verschiedene Historiker dieses Jahrzehnt in Polen als »Endo-Kommunismus«, also als eine Liaison der Ideologien des Kommunismus und der Nationaldemokraten (Endecja).62 So gelesen kann das polnische Jahr 1968 als die dramatische Verlängerung eines Konflikts der Zwischenkriegszeit verstanden werden, der nun von Neuem zum Vorschein kam. Die Folgen dieser Entwicklung waren dramatisch: Mehr als 15 000 Menschen jüdischer Herkunft verließen Polen, unter ihnen ein erheblicher Teil der oppositionellen Bewegung wie der kulturellen und intellektuellen Elite des Landes.63 Auch ein Großteil von Adam Michniks Freunden entschied sich zur Emigration; die meisten gingen nach Schweden oder in die Vereinigten Staaten, die wenigsten nach Israel. Im Exil blieben viele von ihnen der polnischen Oppositionsbewegung verbunden und unterstützten sie publizistisch und finanziell aus dem Ausland. Adam Michnik setzte sein politisches Engagement hin­gegen in Polen selbst fort. Er gehörte mit Jacek Kuroń und anderen Oppositionellen von 1968 zu den Gründern des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet

60 Vgl. dazu Witold Jedlicki, Disorder in Warsaw, in: Julius Jacobson (Hg.), Soviet Communism and the Socialist Vision, New Brunswick, N. J., 1972, 283–294, hier 291. 61 Zur Geschichte der KPP vgl. Marian K. Dziewanowski, The Communist Party of Poland. An Outline of History, Cambridge, Mass., 1959. Zum Verhältnis der KPP zur »jüdischen Frage« vgl. Moshe Mishinsky, The Communist Party of Poland and the Jews, in: Yisrael Gutman u. a. (Hgg.), The Jews of Poland Between Two World Wars, Hanover, N. H., 1989, 56–74. 62 So Michael Steinlauf, Bondage to the Dead. Poland and the Memory of the Holocaust,­ Syracuse, N. Y., 1997, 66. 63 Die Emigrationszahlen lassen sich nicht präzise erfassen, jedoch besteht Einigkeit darüber, dass sie sich in diesem Rahmen bewegt haben. Siehe dazu Jerzy Eisler, 1968. Jews, Anti­ semitism, Emigration, in: Głuchowski/Polonsky (Hgg.), 1968. Forty Years After, 37–61, hier 55 f.

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Obrony Robotników, KOR), jener zivilgesellschaftlichen Organisation, die als rechtliche und organisatorische Unterstützung der Arbeiterproteste 1976 e­ ntstand und den Weg zur ersten freien Gewerkschaft Solidarność ebnete. ­Michniks Entschluss, sein Herkunftsland nicht zu verlassen, war keine Selbstverständlichkeit und durchaus von Zweifeln begleitet. »In der Zeitung stand, daß ich ein Jude sei und daß es für mich in Polen keinen Platz gäbe. Ich war damals 21 Jahre alt und hätte es nie für möglich gehalten, daß man in der polnischen Sprache überhaupt so etwas schreiben kann.« So begann er sich zu fragen, wer er eigentlich sei und »ob ich nicht tatsächlich Jude bin und aus Polen weggehen sollte«. Doch als sich Michnik bewusst wurde, dass diese Überlegungen Produkt der antisemitischen Propaganda waren, widersetzte er sich seinen eigenen Zweifeln und entschied für sich, dass er Pole sei und bleibe, und das un­abhängig von seiner jüdischen Herkunft: »[D]ann sagte ich mir, daß Herr Mieczyslaw (sic) Moczar, […] nicht­ darüber zu entscheiden hat, ob ich Pole, Jude oder ­Chinese bin.«64

Polen am Scheideweg Mit der Niederschlagung der Protestbewegung im März 1968 hatten sich die Voraussetzungen zukünftiger gesellschaftlicher Intervention grundlegend gewandelt. Adam Michnik und seine Mitstreiter wurden allesamt verhaftet und viele von ihnen zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Die staatliche Reaktion besiegelte das Ende aller Hoffnungen in eine Reformierbarkeit des Sozialismus, ebenso unterbanden die Repressionen jede weitere Diskussion über das nationale Selbstverständnis. Der Konflikt wurde autoritär unterbunden und verschwand für gut zwei Jahrzehnte von der politischen Bühne Polens. Dass er ausgerechnet 1990 wieder aufbrach, als sich Polen von Neuem begründete, ist als symptomatisch zu verstehen. Die Debatte zwischen Lech Wałęsa und Adam Michnik fiel in eine Zeit, in der der sozialistische Staat weggebrochen war und das Land wieder gestaltbar erschien. Während bisher die soziale Frage die nationale überlagert hatte, verschaffte sich nun letztere angesichts der gewonnenen Freiheiten erneut Geltung. So erklärt sich auch, dass die ehemaligen Weg­ gefährten Lech Wałęsa, Adam Michnik und auch Tadeusz Mazowiecki unmittelbar nach dem Zusammenbruch des Sozialismus zu erbitterten Kontrahenten werden konnten. Hatte die geteilte Ablehnung des polnischen Staatssozialismus die politischen Konfliktlinien innerhalb der Solidarność bis dahin zu neutralisieren vermocht, traten sie nun angesichts des sich in Auflösung befindenden Feindbilds offen zutage. Im Wissen um den besonderen historischen Moment von 1990 fragte Michnik in seiner Replik auf Wałęsa daher: »Welchen Weg wollen wir ge-

64 Adam Michnik im Gespräch mit Cohn-Bendit, 200.

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hen? Den Weg zu einem Europa der modernen, demokratischen Normen, oder – im Gegenteil – den Weg zurück zu den alten Traditionen, die von autoritären Regimes und der Hölle der Nationalitätenkonflikte verkörpert werden?«65 Adam Michnik sah Polen 1990 am Scheideweg. In Lech Wałęsas antisemitisch grundierter Rhetorik erkannte er eine exkludierende Vorstellung polnischer Zugehörigkeit, die ihn an die Zwischenkriegszeit und die 1960er Jahre gleichermaßen erinnerte. Anders als noch 1968 begegnete er diesem ethnisch argumentierenden Nationalismus jedoch nicht mit einem auf die KPP rekurrierenden Universalismus, denn von der kommunistischen Zukunftshoffnung vergangener Tage hatte er sich nach 1968 zusehends verabschiedet. Stattdessen antwortete er 1990 auf die gegen ihn gerichteten Angriffe mit einem Plädoyer für Europa und für die damit verbundenen demokratischen Normen. Doch die Werte, die er mit der europäischen Idee verband, nämlich Freiheit, Pluralismus und Menschenrechte,66 entsprachen eben jenen Idealen, denen er sich bereits 1968 verpflichtet gefühlt hatte. In einer Rede von 2001 räumte Michnik zwar ein, dass seine Sicht auf Europa durchaus idealistisch sei und der Staatenverbund »heute von einer neuen Welle fanatischem ethnischen Chauvinismus bedroht ist«, in Europa sah er jedoch weiterhin »eine konkrete Antwort auf den totalitären Wahnsinn des 20. Jahrhunderts und auf den ethnischen Nationalismus, der zu Kriegen und Diktaturen führte«.67 Es war dieser ethnisch argumentierende Nationalismus, den sein Vater einst durch den Kommunismus überwunden wissen wollte; ein halbes Jahrhundert später präferierte Michnik, um die Erfahrung des Realsozialismus reicher, wiederum eine andere Zukunftsperspektive: die europäische.

65 Adam Michnik, Weshalb ich nicht für Lech Wałęsa stimme, in: Der lange Abschied vom Kommunismus, Hamburg 1992, 87–105, hier 100 (zuerst erschienen in: Gazeta Wyborcza, 27. Oktober 1990). 66 Adam Michnik, Confessions of  a Converted Dissident. Essay for the Erasmus Prize (2002), 6, (14. Februar 2016). 67 Ebd., 6 f.

REPRÄSENTATIONEN Übersetzung · Bühne · Sprache

Eran J. Rolnik

Freud lesen, Freud übersetzen Über Theorie- und Kulturtransfer in der Psychoanalyse

Psychoanalytiker werden gelegentlich nach besonderen Erfahrungen oder Vorkommnissen aus ihrem Leben gefragt, die für die Entstehung ihres analytischen Selbstverständnisses ausschlaggebend waren. In meinem psychoanalytischen Palimpsest hat gerade die Lektüre der Schriften Sigmund Freuds und die Jahre, die ich damit verbracht habe, sie zu übersetzen und auf Hebräisch herauszugeben, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ich habe dieses Unternehmen noch vor meiner Ausbildung zum Psychoanalytiker in Angriff genommen, und ich bin mir sicher, dass diese Erfahrung meine Einstellung gegenüber Freud und auch die Art und Weise, wie ich mit Patienten arbeite und über Psychoanalyse denke sowie schreibe, sehr stark prägte. Im Zusammenhang mit meiner Übersetzung Freuds, also dem Werk eines deutschsprachigen Juden, ins Hebräische wurde und werde ich immer wieder eines ganz besonderen Verlusts gewahr: den des deutschen Judentums. In der Entwicklung der Psychoanalyse gewann das Lesen der Freud’schen Texte eine Bedeutung, die über die bloße Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse hinausreichte: »Freud lesen« wurde zu einer allseits geteilten Tätigkeit von Analytikern, noch lange bevor sie anfingen, Patienten zu analysieren oder sich selbst als kundige Zuhörer wahrzunehmen. Aus der Ferne mag das an die jüdische Tradition erinnern, heilige Texte gemeinsam mit einem Haver, einem Lernpartner, zu studieren und auszulegen; darüber hinaus hat dieses Freud-Lesen und FreudInterpretieren aber weitreichende Folgen für die Entwicklung der Psychoanalyse als Disziplin gehabt und sollte deswegen nicht als scholastisches Unternehmen abgetan werden. Die Spannung zwischen Orthodoxie und Häresie, zwischen Parteigängern und Dissidenten prägte sowohl die Abfassung mancher Texte Freuds als auch die Art und Weise, in der Freuds Anhänger diese Texte aufnahmen. Zudem wurde bald ersichtlich, dass diejenigen, die sich als »Freudianer« betrachten wollten, sich auf einen niemals endenden Prozess der Bildung einzurichten hatten: Schließlich folgte auf die Institutionalisierung und Professionalisierung der Psychoanalyse bald ihre Popularisierung und Stigmatisierung. Für diejenigen, die sich zu Freuds Anhängern zählten, war die Situation noch komplexer als für jene, deren Verhältnis zu seiner Lehre eher projektiver, struk-

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tureller oder instrumentaler Art war. Mehr oder weniger jedes neue Teilstück, das Freud seiner Theorie hinzufügte, konnte den Rahmen der vorausgegangenen Arbeit sprengen. Freudianer zu sein hieß viel mehr als der Bewegung eines jungen Mannes vom Zerlegen der Geschlechtsdrüsen von Aalen zum Sezieren der eigenen Träume, von der ersten Topografie zur zweiten Topografie zu folgen. Es genügte nicht, seine Präferenz für die Couch und die Technik der freien Assoziation zu verstehen oder die zentrale Stellung des psychosexuellen Unbewussten, die ödipale Konfiguration oder gar die duale Triebtheorie zu akzeptieren. Freudianer zu sein bedeutete seinerzeit, sich in den Lebensgang und das schriftliche Werk einer einzelnen Person zu versenken und sich den zugehörigen Idiosynkrasien, Drehungen und Wendungen zu überantworten. Indem der angehende Analytiker der Denktätigkeit einer einzelnen Person folgte, die sich damit abmühte, eine Bedeutung in Phänomenen zu erkennen, die zugleich vertraut und unerklärlich, zugleich privat und öffentlich waren, bereitete er sich auf die Aufgabe vor, dem eigenen wie auch dem Innenleben seiner Patienten nachzugehen. Als Wissenschaft ist die Psychoanalyse insofern ungewöhnlich, als sie es sich nicht leisten kann, einen groben teleologischen Fortschrittsbegriff zu übernehmen, indem sie »ihre Gründerväter vergisst«.1 In dieser Hinsicht erinnert sie an humanistische Disziplinen wie die Philosophie oder die Literatur- und Geschichtswissenschaften, die sich im Wege der ständigen Erforschung und Neu­ bewertung ihrer kanonischen Texte entwickeln. Für Psychoanalytiker gibt es ebenso viele Gründe, Freud zu lesen, wie sich selbst einer Analyse zu unterziehen und den eigenen Patienten eine Analyse zu empfehlen. Ich nehme an, dass wir Freud in allererster Linie deshalb lesen, weil diese Lektüre uns die Einstimmung auf das Unbewusste erhält; sie vermittelt uns die praktische Erfahrung sowohl der Entdeckung des Unbewussten als auch der Widerstände, die diese Entdeckung auf den Plan ruft. Darüber hinaus verknüpft sie diese historische Entdeckung und die ihr folgenden Entdeckungen mit unserer täglichen Arbeit, der Aufgabe, sowohl unseren Patienten als auch uns selbst analytisch zuzuhören. Wie kein anderes Beispiel aus der Gesamtheit der psychoanalytischen Literatur hält uns die Freud-Lektüre in Kontakt mit unserem inneren analytischen Objekt.2 Freuds Schreiben steht in einem engen Zusammenhang mit der Kunst und der Praxis des analytischen Zuhörens. Darüber hinaus nimmt Freud, die »Freud-Imago«, einen einzigartigen Platz in der Welt der inneren Objekte eines jeden Analytikers ein. Für den Begründer der »Redekur« bedeutete Denken, ja überhaupt mentales Weiterleben in allererster Linie Schreiben. Es war nicht so, dass Freud seine 1 Siehe Alfred North Whitehead, Die Ziele von Erziehung und Bildung und andere Essays, hg., übers. und eingeleitet von Christoph Kann und Dennis Sölch, Berlin 2012 (Erstausgabe New York 1929). 2 Siehe Robert S. G. Wille, Psychoanalytic Identity. Psychoanalysis as an Internal Object, in: The Psychoanalytic Quarterly 77 (2008), 1193–1229.

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Ideen »niederschrieb«; vielmehr schrieb er, um in Erfahrung zu bringen, worüber er nachdachte. Da er jeweils an verschiedenen Texten gleichzeitig arbeitete, hatte sein Studierzimmer etwas von einem Atelier, in dem mehrere unfertige Leinwände, nebeneinander aufgespannt, darauf warten, die Eingebungen und Launen des Meisters aufzunehmen. Einfälle und Dilemmata, auf die er während der Arbeit an dem einen Aufsatz stieß, wurden häufig gewissermaßen in der Luft angehalten, noch bevor sie das Blatt Papier erreichten, und in ihrer Bewegung in einen weiteren unfertigen Text umgeleitet, in dem sie sich in der Gesellschaft anderer Überlegungen setzen konnten. Dementsprechend wurden manche Ideen gestutzt und als Miniaturen in einem relativ limitierten diskursiven Rahmen beibehalten, während andere darauf warteten, in einem völlig neuen Kontext zur Sprache zu kommen. »Ich war die ganze Zeit über betrübt«, schrieb Freud über der Arbeit an einer seiner technischen Abhandlungen am 2. Januar 1912 an Sándor Ferenczi, »und betäubte mich durch Schreiben – Schreiben – Schreiben.«3 Von einem Ferienaufenthalt in Berchtesgaden teilte er Max Eitingon am 3. Juli 1929 mit, die schiere Langeweile habe ihn veranlasst, »etwas« (Das Unbehagen in der Kultur) zu schreiben.4 Seine dichtesten metapsychologischen Arbeiten wurden innerhalb weniger Wochen vollendet, während die Niederschrift klinischer Texte sich manchmal über Jahre hinzog. Und dann war da natürlich sein Opus magnum, das niemals wirklich abgeschlossen wurde, die Traumdeutung. Freud überarbeitete sie ständig, und jede neue Ausgabe geriet umfangreicher als ihr Vorgänger und wurde ausführlicher annotiert. In den meisten Fällen lassen auch die endgültigen Versionen seiner Schriften noch die Merkmale einer Skizze erkennen, der dadurch eine »letzte« Fassung erhielt, dass theoretischer Inhalt und mentaler Prozess sich in der Freud’schen Prosa fest verschränkten.5 Dabei war es durchaus üblich, die psychoanalytische Arbeit mit der Übersetzung des psychischen Texts eines Menschen gleichzusetzen.6 Freud verwendet häufig das Verb »übersetzen«, um auf den Prozess der objektiven Deutung unbewussten Materials zu verweisen. Denjenigen, die kaum irgendwelche Übereinstimmungen zwischen den Interaktionen der beiden am analytischen Setting Beteiligten und der Tätigkeit einer Person sehen, die einen geschriebenen Text von 3 Brief an Sándor Ferenczi, in: Sigmund Freud/Sándor Ferenczi, Briefwechsel, hg. von Ernst Falzeder, Eva Brabant, Partizia Giampieri-Deutsch, Bd. I/2: 1912–1914, Wien/Köln/Weimar 1992, 31. 4 Siehe Briefe an Max Eitingon, in: Sigmund Freud/Max Eitingon, Briefwechsel 1­ 906–1939, hg. von Michael Schröter, Tübingen 2004, 645. 5 Siehe Patrick J. Mahony, Der Schriftsteller Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1989; JeanMichel Quinodoz, Reading Freud. A Chronological Exploration of Freud’s Writings, London 2005. 6 Siehe Jacqueline Amati Mehler/Simona Argentieri/Jorge Canestri, Das Babel des Unbewussten. Muttersprache und Fremdsprachen in der Psychoanalyse, Gießen 2010.

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einer Sprache in eine andere überträgt, mag diese Metapher verschlossen sein. Und doch fungieren selbst solche Mitmenschen als Übersetzer, zumindest für sich selbst, wenn sie Texte von der Art lesen, wie Freud sie uns hinterlassen hat. Wer Freud-Texte einer bestimmten Art liest, versucht – bewusst oder nicht bewusst  – unweigerlich, zum Urgrund dessen zu gelangen, was der Autor intendierte, also aufzudecken, wie Freud die von ihm gewählten Begriffe verstand. Er ist bemüht, Freud im Prozess der Wahl des bestgeeigneten Ausdrucks zur Bezeichnung dessen, was er sagen wollte, zu folgen. Der Vorgang des Lesens und der Vorgang des Übersetzens ergänzen somit einander. Freud, dem es leichter fiel, den Schreibprozess mit seinen Lesern zu teilen als sie am therapeutischen Prozess teilhaben zu lassen, ermöglichte diese Art des übersetzenden Lesens auch solchen Lesern, die mit dem Übersetzen in der klassischen Bedeutung dieses Wortes nichts im Sinn hatten, also auch denjenigen, die ihn auf Deutsch lasen. Der Prozess des Freud-Lesens und Freud-Übersetzens ist psychoanalytisch in dem Sinne, dass er das Bemühen des Analysanden um Verbalisierung und Mitteilung eines Lexikons von Bedeutungen nachbildet, das seinem Wesen nach privat, nonverbal und idiosynkratisch ist. Wir haben es mit dem Spannungsfeld zwischen dem Unbewussten und dem Bewusstsein, zwischen der Welt der Objektvorstellungen und der Welt der Wortvorstellungen zu tun, in dem wir alle gefangen sind. Diese Spannung wird von Freuds besonderem Stil bewahrt, anschaulich gemacht und neutralisiert. Die Übersetzung psychoanalytischer Literatur vom Deutschen ins Hebräische ist dabei nicht nur im Zusammenhang mit der Rezeption von Freuds Ideen im­ Jischuw, der vorstaatlichen jüdischen Ansiedlung in Palästina, zu sehen, sondern auch im kulturellen Kontext der Übersetzung deutscher Werke ins Hebräische in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Renaissance der hebräischen Sprache war wesentlicher Bestandteil des modernen jüdischen Nationalgedankens. Von Zionisten wurde erwartet, in dieser Sprache zu schreiben, und bedeutende Werke wurden ins Hebräische übersetzt.7 Gerade Juden osteuropäischer Herkunft waren in der Übersetzungs- und Verlegertätigkeit im Jischuw führend. Auch nach der ersten größeren Einwanderung deutscher Juden, der Fünften Alija in den 1930er Jahren, wurden fast alle Übersetzungen vom Deutschen ins Hebräische von Juden aus dem östlichen Europa angefertigt. Es handelte sich vor allem um Klassiker, Werke jüdischer Autoren und solche, die pädagogisch als wertvoll angesehen wurden. Zwei Jahrzehnte vor der Gründung des Staates Israel wurden zahlreiche Werke deutschsprachiger Intellektueller in hebräischer Sprache publiziert. Theo 7 Siehe Uzzi Ornan, The Revival of Hebrew, in: Cathedra 37 (1985), 83–94 (hebr.); Itamar Even-Zohar, The Emergence of a Native Hebrew Culture in Palestine, 1882–1948, in: P ­ oetics Today 11  (1990), H.  1  [Spring]: Polysystem Studies, 175–191; Zohar Shavit (Hg.), The Construction of Hebrew Culture in the Jewish Yishuv in Eretz Israel since 1882, Jerusalem 1998 (hebr.); Nathan Efrati, The Evolution of Spoken Hebrew in Pre-State Israel, Jerusalem 2004 (hebr.).

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dor Herzl war der beliebteste Autor dieser Kategorie. Zwanzig seiner Bücher erschienen in dieser Zeit auf Hebräisch. Den zweiten Platz belegte Max Nordau, Freud den dritten. Von ihm wurden in jener Zeit acht Werke in hebräischer Sprache veröffentlicht.8 Zur Veranschaulichung dieser Zahlen sei erwähnt, dass in derselben Zeitspanne in Palästina rund fünfzig Artikel in hebräischer Sprache erschienen, die sich direkt oder indirekt mit Nietzsche befassten, der zu den beliebtesten und am meisten gelesenen Denkern im Jischuw zählte. Freud und seiner Theorie waren dagegen über einhundert Artikel gewidmet.9 Freud zu lesen ist manchmal so, als würde man an einen Traum erinnert – im einen Augenblick scharf und lebendig, im nächsten Augenblick wieder unscharf und verwirrend. So wie es nicht die eine Art gibt, einen Traum zu deuten, so gibt es auch nicht nur eine Art, Freud zu übersetzen. Tatsächlich ist ja eines der Kennzeichen eines sinnträchtigen Texts, dass er sich immer wieder neu auslegen lässt und dass auf seinen Überresten ein neues – übersetztes – Werk errichtet werden kann. Ein guter Text ist es wert, mehr als nur einmal übersetzt zu werden, und ein Mensch, der einen Text wertschätzt, kann diese seine Wertschätzung nicht besser bezeigen als dadurch, dass er den Text ein weiteres Mal übersetzt.10 Übersetzungen sind ihrer Natur nach weniger dauerhaft als die Quellentexte, die sie zu fassen versuchen. Das liegt unter anderem daran, dass sprachliche Veränderungsprozesse häufig anderen Veränderungen in unserem Leben vorausgehen. Übersetzern fällt es mitunter schwer zu akzeptieren, dass sie einen Schnappschuss eines bestimmten Augenblicks in der Sprache  – der Zielsprache – produzieren, dass sie einen bestimmten Moment im Text festhalten, so wie er in der anderen Sprache auftrifft und in sie übertragen wird. Hans-Georg Gadamer sprach von einer »Horizontverschmelzung« zwischen Leser und Text. Er legte dar, dass die Menschen ein historisches Bewusstsein besitzen und in die Geschichte und die Kultur, die sie geprägt hat, eingebettet sind. Die Interpretation eines Texts bedeutet insofern eine Horizontverschmelzung, als der Übersetzer einen Weg findet, die Geschichte dieses Texts anhand seines eigenen Hintergrunds in Worte zu fassen.11 Es ist erst die unsichtbare Hand des Übersetzers, die 8 Vgl. Na’ama Sheffi, The Hebrew Absorption of German Literature, in: Israel Affairs 5 (1999), H. 4, 158–171; dies., Vom Deutschen ins Hebräische. Übersetzungen aus dem Deutschen im jüdischen Palästina 1882–1948, Göttingen 2011. 9 Siehe Jacob Golomb, Nietzsche and Zion, Ithaca, N. Y./London 2004. 1935 wurde ein spezielles Unterkomitee des hebräischen Sprachkomitees Wa’ad ha-Laschon eingerichtet, um die hebräischen Entsprechungen für die Begriffe der Psychoanalyse festzulegen, und die junge Psychoanalytische Gesellschaft in Palästina bat darum, einen Experten in dieses Komitee entsenden zu dürfen. Eitingon Collection, Israel State Archives, Jerusalem, Wa’ad ha-Laschon an Max Eitingon, 8. Februar 1935. 10 Jorge Luis Borges, Die Übersetzer von ›Tausendundeiner Nacht‹. Zwei Notizen, in: ders., Geschichte der Ewigkeit. Von Büchern und Autoren, München/Wien 2005, 77–103. 11 Siehe Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960.

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diese Verschmelzung und das damit einhergehende Verstehenserlebnis ermöglicht. Übersetzer erreichen das teils auf elegante Weise, teils aber auch eher unbeholfen, etwa so, dass sie den Text glätten oder ihn mit eigenen – apologetischen oder ärgerlichen – Anmerkungen belasten. Wer Freud lesen will, braucht ein erhebliches Maß an Grundvertrauen in die Fähigkeiten und Intentionen des Übersetzers. Leser von Übersetzungen machen immer wieder die Erfahrung, dass sie unbehaglich auf ihrem Stuhl herumrutschen, weil sie an dieser bestimmten Stelle ganz sicher nicht gerade diesen Ausdruck gewählt hätten. Es kann doch wohl nicht sein, denken sie, dass der Autor, den sie auf den vorangegangenen Seiten kennengelernt haben, einen solchen Satz niederschreiben würde. Leser können keinerlei Beweise für diese Behauptung beibringen, denn der Ausgangstext ist nicht verfügbar oder ihnen jedenfalls nicht zugänglich. Aber von dem Augenblick an, in dem sie der Anwesenheit des Übersetzers im Text gewahr werden, können sie nicht anders als von Zeit zu Zeit darüber klagen, dass dem Übersetzer anscheinend etwas entgangen ist. Manche Texte haben dabei die Kraft, einem schlechten Übersetzer zu widerstehen, während andere ständig von der Präsenz oder, was schlimmer ist, vom Verrat des Übersetzers künden. Bei wieder anderen Texten geht in der Übersetzung alles verloren. Deswegen lässt sich eine Übersetzung nicht allein unter ästhetischen Gesichtspunkten und auch nicht allein unter dem Aspekt ihrer »Treue« beurteilen. Es gibt noch viele weitere Kriterien, die dem übersetzten Text und unserem Dialog darüber häufig inhärent sind. In psychologischer Hinsicht reflektieren diese Augenblicke des Unbehagens, die der Leser als das Unvermögen oder den »Betrug« des Übersetzers erlebt, den gähnenden Abgrund zwischen unserer Übertragung gegenüber dem übersetzten Text und der Übertragung des Übersetzers gegenüber der Quelle. Das deutsche Wort übertragen (für transfer) meint ja auch übersetzen, und damit birgt sogar das Wort, das Freud zur Bezeichnung dieses psychologischen Phänomens wählte, eine Konnotation von Translation/ Übersetzung als Transfer von Bedeutung in Raum und Zeit. Manche Linguisten vertreten den Gedanken, dass unsere Wahrnehmung der Welt weitgehend, wenn nicht gar vollständig, von der Struktur unserer Muttersprache bestimmt wird. Diese Art eines linguistischen Determinismus wird von Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf vertreten und hat sich auf die strukturalistische Psychoanalyse ausgewirkt. Dem damit postulierten sprachlichen Relativismus zufolge hat die Struktur der Sprache einen Einfluss darauf, wie ein Mensch die Realität versteht und wie er sich im Blick auf die Realität verhält. Es ist allerdings nicht ganz leicht, das seinem Wesen nach pessimistische und entfremdende Fazit zu akzeptieren, dass wir die Gefangenen jeweils nur einer einzigen Sprache seien. Diese Betrachtungsweise zu akzeptieren hieße, die formale Komponente von Sprache höher zu bewerten als den Inhalt. Vielmehr noch: Es impliziert, dass es keinen wirklichen Dialog zwischen den Sprechern unterschiedlicher Sprachen geben kann. Sollte Whorf recht haben, dann sitzen die Leser eines übersetzten

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Texts einer Illusion auf. Was sie bräuchten, um den Text verstehen zu können, ist nicht eine »bessere« Übersetzung, sondern ein völlig anderes Bewusstsein.12 Natürlich hat diese relativistische Schule viele Gegner. Diese machen geltend, dass der Relativismus sich nicht mit den beachtlichen Belegen dafür verträgt, dass den Sprechern aller Sprachen gewisse präverbale Tiefenschichten gemeinsam sind. Aber so widersprüchlich diese linguistische Schule auch erscheinen mag, wir sollten als Übersetzer und Leser uns nicht zu rasch auf die Gegenseite schlagen, für die Sprache so etwas wie ein leeres Gefäß ist, das sich mit jedweder Vorstellung füllen lässt. Demnach wären die Unterschiede zwischen Sprachen unerheblich. Daraus folgt, so das Argument, dass jede Sprache alles sagen kann, wenn ihre Sprecher sie nur richtig zu handhaben wissen, und dass alles menschliche Erleben sich in jeder Sprache zum Ausdruck bringen lässt. Viele Autoren haben sich zu der einmaligen hermeneutischen Herausforderung geäußert, die Freuds Art zu schreiben selbst für diejenigen bedeutet, die ihn auf Deutsch, also im Original lesen.13 Interessanterweise ist Freud nicht der einzige deutsche Autor, den Deutschsprachige manchmal lieber in englischer Übersetzung lesen. Freud in Übersetzung geht dem Leser nicht ganz so stark unter die Haut wie im deutschen Original; er ist in Übersetzung ein wenig transparenter. Etwas von der Undurchschaubarkeit seines Stils fällt weg, und das kann die Lektüre erleichtern. Freud auf Deutsch eignet sich weniger gut als Zielscheibe der Kritik als Freud, wie ihn die Leser der Standard English Edition seiner Werke kennen. Das schwer Erfassbare, das Tastende seines Schreibens hält dem Kategorischen und Autoritären die Waage. Regelrecht polymorph in seinem Diskurs, vernebelt er die Dinge im gleichen Maß wie er sie aufklärt. Kaum dass er einen theoretischen Schluss gezogen hat, startet er unter Umständen schon wieder einen Gegenangriff gegen seine anscheinend unwiderlegbare Folgerung und untergräbt damit deren Validität. Wenn der Leser mit der Lektüre einer solchen langatmigen Äußerung zu Ende gekommen ist, kann er sich nicht mehr sicher sein, welche der offensichtlich widersprüchlichen Meinungen Freud hier eigentlich vertritt, die These oder die Antithese. Ich bin nicht der Meinung, dass Freuds bedeutendste Leistung eine sprachliche oder literarische sei; es lohnt sich aber, dem Zusammenhang zwischen der Struktur und besonderen Kennzeichen des Deutschen einerseits und der psychoana­ lytischen Theorie, ja sogar deren Technik andererseits nachzugehen. Die deutsche Sprache – und damit meine ich nicht nur ihre formale Gestalt, sondern auch die metaphorische Welt, die mit dieser Struktur verbunden ist – machte es Freud vergleichsweise leicht, seine Vorstellungen zu konzeptualisieren und zu formulieren, 12 Siehe Edward Sapir, Selected Writings in Language, Culture and Personality, hg. von David G. Mandelbaum, Berkeley/Los Angeles 1949; Benjamin L. Whorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek bei Hamburg 1963. 13 Siehe z. B. Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M. 1968.

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auch wenn wir zugeben müssen, dass er die Sprache in einer Weise benutzte, als wäre sie sein ganz persönliches Ressort.14 Jeder, der mehr als nur eine Sprache spricht, weiß aus Erfahrung, dass die eine  – nicht notwendigerweise seine Muttersprache  – sich eher als die andere dazu eignet, eine bestimmte Stimmung oder Vorstellung zum Ausdruck zu bringen. Diese Augenblicke, in denen unser Denken die Grenzen der einen Sprache überschreitet und sich auf dem Territorium einer anderen umtut, sind immer interessant. Für dieses Phänomen suchen wir im Allgemeinen nach psychologischen Erklärungen, so zum Beispiel Dissoziation, Identifizierung oder Verschiebung. Manchmal allerdings hat die Sprache ihren eigenen Willen: Dann setzt sie uns für ihre Zwecke ein. Wir sind Gefangene ihres Vokabulars und ihrer Syntax. Auch wenn ich keinen Zweifel daran habe, dass die Psychoanalyse sich in vielen Sprachen verstehen und vermitteln lässt, scheint sie doch vor allem im Deutschen zu Hause zu sein. Diese Aussage möchte ich auf die Freud’sche Psychoanalyse beschränken, und darüber hinaus festhalten, dass nicht nur die Freud-Übersetzungen, sondern auch die Grundlagentexte anderer therapeutischer Schulen vom jeweiligen kulturellen und sprachlichen Kontext geprägt sind. Noch besser wäre es wohl, diesen zugegebenermaßen ziemlich beunruhigenden Gedanken, der Freuds Anspruch auf die Universalität seines Systems untergräbt, als Frage zu formulieren: Kann Freuds Theorie überhaupt von einer anderen Sprache als der deutschen getragen werden? Kann man die kanonischen Texte des Begründers der Psychoanalyse übersetzen, ohne die Psychoanalyse neu zu erfinden?15 Meiner Ansicht nach sind die meisten Leser Freuds davon überzeugt, dass man in allen möglichen Sprachen in einer Freud’schen Weise denken kann und dass jede Sprache ein Freud’sches Kernstück birgt, das sich gemäß den je speziellen sprachlichen und historischen Gegebenheiten ausformen lässt, wann und wo immer der Appell an Freud ergeht, seine Botschaft zu vermitteln. Um die Rolle des Psychoanalytikers vor sich selbst wie auch vor seinen Lesern zu klären, zog Freud viele Metaphern heran. Er bezeichnete den Analytiker als Chirurgen, als Reiseführer, als weltlichen Beichthörer. Zum Fächer seiner Meta 14 Siehe hierzu Ruth Ginsburg, The Cracked Mirror of Translation. Freud’s Reflection in Hebrew, in: Arndt Engelhardt/Susanne Zepp (Hgg.), Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur, Leipzig 2015, 161–176. 15 Bruno Bettelheim, Freud und die Seele des Menschen, Düsseldorf 1984; Patrick  J.­ Mahony, Towards an Understanding of Translation in Psychoanalysis, in: ders., Psychoanalysis and Discourse, London 1987, 3–16; ders., Freud and Translation, in: American Imago 58 (2001), 837–840; Darius Gray Ornston (Hg.), Translating Freud, New Haven, Conn./London 1992; Dana B ­ irksted-Breen, Ist Übersetzung möglich?, in: Internationale Psychoanalyse 6 (2011), ­37–47; Sander L. Gilman, Reading Freud in English. Problems, Paradoxes, and a Solution, in: The International Review of Psycho-Analysis 18 (1991), 331–344; Mark Solms, Controversies in Freud Translation, in: Psychoanalysis and History 1 (1999), 28–43; Marc Hebbrecht, Trans­ lation, in: The International Journal of Psychoanalysis 94 (2013), 1193 f.

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phern zählt auch der Therapeut als Übersetzer. Diese Metapher ist allerdings bemerkenswert, da sie zweierlei Bedeutungen hat – sie dient ihm sowohl dort, wo er über den psychischen Apparat spricht, als auch dort, wo es um den Mechanismus des Heilens geht. Mit anderen Worten, die übersetzende Psyche ist das Objekt der Übersetzungstätigkeit, wie sie sowohl dem Therapeuten als auch dem Patienten aufgegeben ist. Und gute Übersetzung hat eine heilende Wirkung. Das ermöglicht es, über die subversive Wirkung nachzudenken, die eine psychoanalytische Theorie für ein Konzept wie den »Ausgangstext« haben kann. Der Übersetzungsprozess schließt Transformation ein, zuallererst die eben durch den Übersetzer erfolgende Übersetzung des sprachlichen und psychischen Raums, in dem der Originaltext geschrieben wurde. Beim Übersetzen Freud’scher Texte muss der dichotome Blick abgestreift werden, der die Ursprungssprache mit der »Quelle« gleichsetzt. Das hat seinen Grund darin, dass der Text in seiner ursprünglichen Sprache seinerseits nicht mehr als ein Versuch ist, etwas zu übersetzen – einen Gedanken, ein Gefühl, eine Erfahrung.16 Im Einklang mit der Ansicht, dass der ursprüngliche Text in seiner Begegnung mit einer anderen Sprache aufhört, Quelle zu sein, und seinerseits eine neue Übersetzung einer Art verborgener und rätselhafter Sprache wird, sprechen wir gewöhnlich in historischen Begriffen von diesem Prozess. Wir sagen, dass ein Übersetzer sich in der kulturellen Welt auskennen sollte, in der dieser Text geschaffen wurde, und einiges mehr. Aber der Versuch, die Sphäre, in der Texte geschaffen werden, auf die dortigen historischen und linguistischen Gegebenheiten zu reduzieren, erscheint doch als allzu starke Vereinfachung eines schöpferischen Prozesses. Das ist auch der Grund, weshalb ich die Unterscheidung zwischen übersetzbaren und unübersetzbaren Arbeiten nicht akzeptiere. In jeder Übersetzung, keineswegs nur von Lyrik, sondern auch von Wortspielen oder Metaphern geht etwas verloren, und entsteht an der Stelle des Verlorenen etwas anderes. Tatsächlich sind Versuche, die Zielsprache mit dem Original in eine Linie zu bringen, nicht ausschließlich frustrierend – sie führen dazu, dass etwas gänzlich Neues wächst. Früher oder später kommt die unüberbrückbare Kluft zwischen den beiden Sprachen zum Vorschein und bildet in ihren Umrissen so etwas wie ein mentallinguistisches Niemandsland. Wenn das Vorhandensein dieser Kluft oder dieser Sphäre akzeptiert und nicht verwischt wird, kann es in dem neuen Text auf unerwartete und überraschende Weise Präsenz gewinnen.17 16 Jean Laplanche, The Theory of Seduction and the Problem of the Other, in: The International Journal of Psychoanalysis 78 (1997), 653–666; ders., Specificity of Terminological Problems in the Translation of Freud, in: The International Review of Psycho-Analysis 18 (1991), 401–406. 17 Siehe die Diskussionen u. a. bei George Steiner, After Babel. Aspects of Language and Translation, Oxford 1975; Lawrence Venuti, The Translator’s Invisibility. A History of Translation, London 1995; Sanford Budick/Wolfgang Iser (Hgg.), The Translatability of Cultures. Figurations of the Space Between, Stanford, Calif., 1996.

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Am 6. Dezember 1896 schrieb Freud an seinen Freund Wilhelm Fließ, es sei »die Versagung der Übersetzung«, was in der klinischen Terminologie als Verdrängung bekannt sei.18 Er meinte damit, dass es der Akt des Übersetzens ist, durch den Eindrücke und Erfahrungen aus unterschiedlichen Stadien des Lebens eine Transformation erfahren können, die es ihnen ermöglicht, sich zwischen den drei vorbewussten mentalen Systemen zu bewegen – zwischen dem Nervensystem, das den ursprünglichen Reiz empfängt, dem Unbewussten und dem Vorbewussten. Das Konzept der Übersetzung diente Freud auch in späteren Schriften, in denen er die Rolle des Analytikers als die des Übersetzers unbewussten Materials definiert, das nun einen Platz im Bewusstsein finden könne. Im Abriss der Psychoanalyse, einer seiner letzten Veröffentlichungen, schrieb er: »Alle Wissenschaften ruhen auf Beobachtungen und Erfahrungen, die unser psychischer Apparat vermittelt. Da aber unsere Wissenschaft diesen Apparat selbst zum Objekt hat, findet hier die Analogie ein Ende. Wir machen unsere Beobachtungen mittels desselben Wahrnehmungsapparats, gerade mit Hilfe der Lücken im Psychischen, indem wir das Ausgelassene durch nahe liegende Schlussfolgerungen ergänzen und es in bewusstes Material übersetzen. Wir stellen so gleichsam eine bewusste Ergänzungsreihe zum unbewussten Psychischen her. Auf der Verbindlichkeit dieser Schlüsse ruht die relative Sicherheit unserer psychischen Wissenschaft«.19

Mit diesen Sätzen erinnerte Freud seine Leser an die besondere Schwierigkeit des psychoanalytischen Prozesses, bei dem das Objekt der Untersuchung, die Psyche, zugleich das Mittel der Beobachtung ist. Interessant ist dabei, dass er die Metapher der Übersetzung heranzieht, um das therapeutische Handeln zu beschreiben. Übersetzung wird hier als eine Tätigkeit beschrieben, in der unbewusstes Material eine Transformation erfährt, durch die es annähernd zum bewussten Material passt. Die unbewusste Quelle und das Material, das seinen Weg ins Bewusstsein nimmt, decken sich also nicht vollkommen. Das ist die psychoanalytische Version der Frage nach dem Verhältnis zwischen Quelle und Übersetzung, die nicht nur an die Grenzen des Übersetzens rührt. Vielmehr erfordert sie eine erneute Beschäftigung mit der Dichotomie von Quelltext und Übersetzung. Im therapeutischen Kontext ist es möglich zu verfolgen, wie der Akt des Übersetzens zugleich mit dem Transfer einer Bedeutung von der einen mentalen Sphäre in die andere – unabhängig von seiner Wirkung auf das Bewusstsein und über diese Wirkung hinaus – auch die Quelle verändert. Dieser Akt verändert folglich 18 Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887–1904, hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Bearb. in der dt. Fassung von Michael Schröter, Frankfurt a. M. 1986, 217–226, hier 219. 19 Sigmund Freud, Abriß der Psychoanalyse (1940), in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 17: Schriften aus dem Nachlass, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte, Prinzessin Georg von Griechenland hg. von Anna Freud, Frankfurt a. M. 71983 (Erstausgabe London 1941), 63–138, hier 81.

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das Objekt der Übersetzung, noch bevor es das Bewusstsein erreicht und seine neue übersetzte Form annimmt. Eine analytische Deutung muss dem Analysanden nicht verständlich sein, und sie muss auch nicht seinen Widerstand aufrufen, um eine Veränderung im unbewussten Material, in der Atmosphäre des analytischen Raums oder in der Übertragung zu bewirken. Es gibt Übersetzer, die ihren Lesern die Illusion vermitteln möchten, der Text sei von Anfang an in der Zielsprache geschrieben worden. Meiner Ansicht nach handelt es sich bei Sprache aber nicht um ein neutrales Gefäß, das jedweden Gedanken aufnehmen und bewahren kann. Ich glaube daher nicht, dass meine Aufgabe als Übersetzer darin besteht, die Eigenheit des Ausgangstexts zu übertünchen. Ganz im Gegenteil habe ich manchmal den Eindruck, dass ich den Leser nicht vor dem Hintergrundlärm bewahren sollte, wie er durch die Begegnung von Sprache und Inhalt zustande kommt. Freuds Schreiben ist voll von diesem Lärm, und Freud als unvergleichlich gewandter Exeget schreckt nicht davor zurück, ihn zu vertuschen. Die Standard English Edition ist bemerkenswert aufgrund der Bemühungen der beiden Übersetzer James und Alix Strachey, diesen Lärm zu dämpfen, Freud zu erläutern und ihn zu schützen, wo er unklar oder ganz einfach konfus ist. Freud hat keine Hemmungen, eine Behauptung aufzustellen und ihr die Gegenbehauptung folgen zu lassen. Die Stracheys unternahmen die größten Anstrengungen, um das zu verbergen. Noch einmal: Es ist fraglich, ob sich alles in allen Sprachen überzeugend nachstellen lässt. Aber so wie ich die Aufgabe des Übersetzers verstehe, lautet sie, Schwaden der Bedeutung des ursprünglichen Textss zu bewahren und alles zu erhalten, was sich vom Original erhalten lässt, ohne es um jeden Preis zu »zähmen« oder zu »konvertieren«. Das hat zur Folge, dass die Leser meiner hebräischen Freud-Übersetzungen mit Augenblicken des Unbehagens rechnen können, wenn sie entdecken, dass manche Ideen Freuds und seine Präsentation dieser Ideen in der hebräischen Sprache handfeste Verstehensprobleme bereiten. Andererseits gibt es auch Stellen, an denen sich das Hebräische mit seinen Bedeutungs- und Assoziationsschichten dem Freud’schen Stil in Form und Inhalt mühelos andient. In solchen Fällen ist es, als hätte das Hebräische lange darauf gewartet, dass Freud kommen und seine Vorstellungen in ebendiese Sprache gießen würde. Zu den zahlreichen unverwechselbaren Kennzeichen von Freuds Stil gehört, gut in den Fluss seiner Gedanken eingebunden, der mühelose Wechsel der Wortarten, wie ihn das Deutsche zwischen Verb, Substantiv und Adjektiv erlaubt  – Konversionen, die es Freud ermöglichen, primärprozesshaftes Denken in eine Diskussion einzubringen, die nach den Regeln des sekundärprozesshaften Denkens verläuft. In seinen Fallstudien über Dora und den Wolfsmann ist Freuds sekundärer Bericht leicht mit dem primären seiner Patienten durcheinanderzubringen, die ihre Geschichte selbst erzählen dürfen. Interessant ist, dass Freud nur selten Anführungszeichen setzt, wenn er gesprochenes Material seiner Patienten oder anderer Gesprächspartner präsentiert. Wie Patrick Mahony in

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seiner akribischen Studie über Freud als Autor bemerkt, ist das Deutsche eine sehr dynamische Sprache, die viele Begriffe für Bewegung und Übergang besitzt, was es Freud erlaubt, beinahe spontan solche Termini wie etwa Übertragung zu prägen.20 Der Begriff erscheint als einfaches Verb, wandelt sich zum Substantiv und wird dann als Bestimmungswort in die Erzählung eingefügt. Auch wechselt Freud rasch und abrupt zwischen den grammatischen Zeitformen, zumal zwischen Präteritum und Präsens, und dies in einer Art, wie das Englische sie nur selten zulässt. Dieses Hin- und Herspringen zwischen den Zeiten ist aber sehr charakteristisch für Freuds Stil und auch für den psychoanalytischen Prozess selbst – und das Hebräische ist empfänglich dafür. Freuds Schreibstil ist oft sehr bewegt. Auch in dieser Hinsicht leistet das Hebräische gute Arbeit in der Übermittlung seiner Texte. Unvollständige Sätze werden im Hebräischen sehr viel eher akzeptiert, während das Standard-Englisch solche Sätze in Sachtexten als unangemessen betrachtet. Das Hebräische kann die Spannung zwischen der deskriptiven Wissenschaftssprache und der dichten bildhaft-metaphorischen Sprache aushalten, die Freud verwendet – ein Mann, der als einzige Auszeichnung in seinem Leben im Jahre 1930 einen Literaturpreis, den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main, erhielt.21 Freuds beinahe ungestümer Wechsel der Metaphern gibt seinen Texten einen poetischen Anstrich und macht es ihm zudem erstaunlich leicht, Sätze von einem theoretischen Schwergewicht niederzuschreiben, deren Verständnis dem Leser durch »alltagspsychologische« und andere unbewusste Widerstände schwergemacht werden dürfte. Zwei Voraussetzungen haben sich für das Freud-Übersetzen als besonders dienlich erwiesen: Zum einen die Fähigkeit, sich dem Text »zu ergeben«, und zum anderen die Bereitschaft, ihn für die unvermeidliche Kränkung, die ihm mit der Übersetzung angetan wird, zu entschädigen. Wenn der Akt des Über­setzens zu einem Akt des Entschlüsselns wird, wenn der Gesichtskreis des Übersetzers allzu lang von einem einzigen Satz in Anspruch genommen wird, dann ist es Zeit loszulassen, dem Satz zu gestatten, dass er sich unserem Verständnis entzieht, und den Leser auf dem Weg über unsere Übersetzung an der Erfahrung dieses Miss-Verstehens teilhaben zu lassen. Das allerdings zieht ein gewisses Paradoxon nach sich, denn wir müssen ja in Worten reinszenieren und festhalten, was wir vom Ausgangstext gerade nicht erfassen konnten. Wie weiter oben schon gesagt, ist es nicht ungewöhnlich, dass Freud die Dinge überspitzt oder etwas behauptet, was er schon im nächsten Atemzug widerruft, wobei ihm der Umstand zu Hilfe kommt, dass das Deutsche ein außergewöhnliches Potential zeigt, ein einzelnes Wort mit zwei nahezu entgegengesetzten Bedeutungen zu versehen. Wenn wir 20 Siehe Mahony, Der Schriftsteller Sigmund Freud. 21 Siehe dazu Liliane Weissberg, Sehnsucht nach Goethe. Sigmund Freud und der Sommer 1931, in: Stephan Braese/Daniel Weidner (Hgg.), »Meine Sprache ist Deutsch«. Deutsche Sprachkultur von Juden und die Geisteswissenschaften 1870–1970, Berlin 2015, 201–214.

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an Walter Benjamins Essay »Die Aufgabe des Übersetzers« denken, könnten wir sagen, dass ein Teil der Aufgabe in der Fähigkeit besteht, aufzugeben, also dem Text zu gestatten, an Orten zu bleiben, an denen er sich gegen Versuche, ihn zu übersetzen, aufbäumt.22 Dieser Fähigkeit zum Loslassen möchte ich die Bereitschaft hinzufügen, den Text für die Beeinträchtigung, die er durch die Übersetzung erlitten hat, zu entschädigen. Dabei denke ich nicht nur an eine Entschädigung für die Bedeu­tungen, die verloren gehen, weil es am angemessenen Vokabular oder an syntak­tischen Strukturen fehlt. Eher geht es mir um die phonetischen und musikalischen Verletzungen des Texts. Freuds Art zu schreiben ist poetisch, und damit treibt sie den Übersetzer zwischen dem phonetischen und dem semantischen Register hin und her. Sie zwingt ihn förmlich, den Text zu orchestrieren wie ein Musikstück, und bei seiner Übersetzung abwechselnd den Klang der Worte, gleich darauf aber wieder ihre präzise Bedeutung in den Vordergrund zu holen. In manchen Fällen ist es schwer zu sagen, was dem Autor Freud wichtiger ist – dass und wie der Klang des einen Wortes ein anderes Wort aufruft, oder die wörtliche Bedeutung. Ich spreche hier nicht nur von Wortspielen und dem für die Beschreibung von Träumen und Parapraxien charakteristischen »Klang«, sondern auch von Satzstrukturen. Freud soll eine Aversion gegen Musik gehabt haben, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass er als Autor ständig auf seine Worte hörte und ihrer Musik die größte Bedeutung beimaß. Deshalb ist der Vergleich von Freud-Übersetzungen dem Vergleich von Lyrikübersetzungen sehr ähnlich – statt uns näher an die im Ausgangstext verborgene Wahrheit heranzuführen, bewahrt er den Text vor der Vereindeutigung. Es ist nicht einfach, den richtigen Weg zwischen rhetorischer Überladenheit – von jeher Fluchtort der Übersetzer, aber auch ein Charakteristikum des Freud’schen Stils  – und dem persönlichen und entspannten Gesprächston zu finden, den Freud häufig auf überraschende Weise handhabt. Sein ständiges Bemühen um die angemessene Distanz und zugleich die gebotene Stimmkraft, um bei seinen Lesern einen inneren Dialog in Gang zu bringen, macht sich im abrupten Wechsel der Schreibstile und Register bemerkbar. Freuds Texte richten sich immer an mehr als nur einen imaginären Leser. Manchmal spricht er nur zum Leser, zu anderen Zeiten bringt er dem Leser seinen, des Autors, inneren Monolog zu Gehör. In wieder anderen Augenblicken ist der Leser Zeuge eines Austauschs zwischen Freud und einem seiner Schüler oder Gegner. Ein einziges Register, passend für alle, kann diesen sehr unterschiedlichen Gesprächspartnern nicht dienen. Jorge Luis Borges äußerte einmal, er könne sich seine große Popularität in Nordamerika nicht anders als mit der Möglichkeit erklären, dass die englische Übersetzung seinen Stil beträchtlich verbessert hätte. Von der Standard Eng 22 Siehe Walter Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers, in: ders., Illuminationen. Aus­ gewählte Schriften, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt a. M. 1961, 56–69.

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lish Edition lässt sich das recht eigentlich nicht sagen. Sie ist auf Kritik von allen­ Seiten gestoßen, und dies wegen der Wahl von Begriffen wie »instinct«, »ego«, »id«, »superego, »catharsis« und »empathy«, alle miteinander fundamentale psychoanalytische Konzepte, aber als englische Vokabeln den deutschen Originalen sehr fremd. Nur ein Beispiel: Alix Strachey, die mit ihrem Ehemann James bei der Übersetzung Freuds ins Englische zusammenarbeitete, verabscheute die Wahl des Wortes »empathy« zur Übersetzung von Freuds »Einfühlung«. Sie sagte, es sei »ein widerwärtiges Wort, zu aufgeblasen für einen solch subtilen Vorgang«, aber am Ende fügte sie sich dem Diktat von Ernest Jones und akzeptierte den Ausdruck.23 Auf jeden Fall kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Stracheys ebenso wie Jones, die oberste Instanz in Fragen der Übersetzung, ein waches Gespür dafür hatten, wie man Freud übersetzen musste, um den Gruppen, die das Schicksal der Psychoanalyse in der angelsächsischen Welt bestimmen würden, das Gedankengut des Gründers schmackhafter zu machen.24 Zweifellos kann man unterschiedlicher Ansicht sein, was die Wortwahl in der Standard English Edition angeht, eine Wortwahl, die viele Leser veranlasste, die Psychoanalyse eher auf lexikografischem als auf dem Feld der Therapie zu ergründen. Ein weiteres Problem sind englische Sätze, die Freuds reiche Sprache zum einen verflachen und zum anderen vom allgemeinen Sprachgebrauch entfernen. Auch sollten Übersetzer obskure oder ärgerliche Sätze nicht auslassen, wie die Stracheys es taten, und sich bemühen, die ursprüngliche Absatzunterteilung beizubehalten, die in Freuds Werk so eigentümlich ist und von der in der Standard English Edition so gut wie nichts erhalten geblieben ist. Aber all das ist nicht mehr umzukehren. Statt die Herausgeber der Standard English Edition dafür zu tadeln, dass sie bestrebt waren, die psychoanalytische Sprache mit pseudowissenschaftlichen Begriffen zu bereichern, wäre es besser, den unglücklichen Begriff »standard« anzuprangern, der die Kanonisierung der Schriften Freuds forcierte und dem Urheber zudem den Bärendienst erwies, sie mit einem schon fast alchemistischen Imprimatur zu versehen. Den Stracheys und Ernest Jones schien es darum zu gehen, Freuds Sprache stärker zu kodifizieren. Sie wollten das kommunikative Potential des Wortes steigern, indem sie es einem Konzept zugeordneten, über das Einigkeit herrscht. Wie ein Musiker, der über ein Fachvokabular verfügt, das es ermöglicht, Harmonien 23 Alix Strachey an James Strachey, 2. Januar 1925, in: Perry Meisel/Walter Kendrick (Hgg.), Kultur und Psychoanalyse in Bloomsbury und Berlin. Die Briefe von James und Alix Strachey 1924–1925, Stuttgart 1995, 265−267, hier 266. 24 Siehe Ricardo Steiner, A World Wide International Trade Mark of Genuineness? Some Observations on the History of the English Translation of the Work of Sigmund Freud, Focusing Mainly on his Technical Terms, in: International Review of Psycho-Analysis 14 (1987), ­33–102; Emmet Wilson, Did Strachey Invent Freud?, in: ebd., 299–315; Helmut Thomä/Neil Cheshire, Freud’s »Nachträglichkeit« and Strachey’s »deferred action«. Trauma, Constructions and the Direction of Causality, in: International Review of Psycho-Analysis 18 (1991), 407–427.

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und Tonbeziehungen zu benennen, die der Laie nicht auseinanderhalten kann, wäre der Psychotherapeut glücklich, ein Vokabular zu besitzen, das Schattierungen von affektiver Bedeutung und komplexe psychische Prozesse genau bestimmen könnte. Freud allerdings versuchte, eben das in seinem Schreiben zu vermeiden. Er mokierte sich über Psychiater, die zahllose Bezeichnungen für psychische Phänomene prägten, und bevorzugte seinerseits die poetische Methode des Kombinierens vertrauter Wörter, um bei seinen Lesern möglichst viele Assoziationen aufzurufen. Die Überlegungen, von denen die Herausgeber der Standard English Edition sich leiten ließen, waren im Allgemeinen eher ideologischer als ästhetischer Art, jedoch wäre es übertrieben zu sagen, die Psychoanalyse sei in der englischen Übersetzung zur Gänze verlorengegangen. Auch die Behauptung, dass Jones mit seinem Bestreben, dem Werk Freuds einen naturwissenschaftlichen Anstrich zu verpassen, die Psychoanalyse von der humanistischen Tradition entfernt habe, in der Freud erzogen worden war, ist überspitzt. Nicht nur ist die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Humanismus in der deutschen Tradition sehr viel weniger scharf als in der englischen Tradition, Freuds Schreiben bewegt sich auch immer entlang der Linie zwischen dem positivistisch-wissenschaftlichen und dem humanistisch-hermeneutischen Genre. Diese Art der gelehrten Prosa wurde zu Freuds Lebenszeit von vielen zentraleuropäischen Intellektuellen gepflegt und kam ihrem Wunsch entgegen, die eigene klassisch-humanistische Erziehung mit dem Engagement für das positivistische Paradigma zu verbinden, das den wissenschaftlichen Diskurs des späten 19. Jahrhunderts prägte.25 Auch ist das Englische von Haus aus weniger tolerant gegenüber der Uneindeutigkeit und Unentschiedenheit, die für Freuds Deutsch charakteristisch sind. Den Stracheys ist zugutezuhalten, dass sie sich der Beschränkungen bewusst waren, die ihnen mit der Umwandlung von Freuds Deutsch in das BloomsburyEnglisch auferlegt wurden. Davon zeugt die Widmung, die sie dem ersten Band des monumentalen Übersetzungsprojekts beigaben und die von einem verschwommenen Spiegelbild des Freud’schen Denkens spricht. Jede Übersetzung birgt so etwas wie ein Paradoxon. Einerseits erschafft sie einen neuen Keil zwischen dem Autor und seinen Ideen, andererseits bereichert sie die Zielsprache, prüft ihre Grenzen, erprobt ihre Flexibilität, konfrontiert sie mit ihren Schwächen und blinden Flecken. Die Übersetzung fungiert auch als Prüfstein dafür, wie die Sprache die Welt ihrer Leser beschreibt und gestaltet. Als Übersetzer habe ich es in der Regel vorgezogen, die Arbeit nicht mit einem Schweif von Fußnoten zu beschweren, in denen die Mühen meiner Übersetzungstätigkeit festgehalten sind. Freuds Leser haben es ohnehin schon schwer genug: Er schickt sie zwischen dem Haupttext und den Seitenrändern hin und 25 Siehe Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, Kap. XVI: Wissen: Vermehrung, Verdichtung, Verteilung, 1105−1172.

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her und verwischt damit die imaginäre Grenze zwischen dem, was wesentlich ist, und dem, was übrig bleibt. Am besten scheint es, Fußnoten auf Sachverhalte zu beschränken, die dem Leser helfen können, Freuds Aussagen in ihren theoretischen, historischen oder literarischen Kontext einzuordnen. Im Übrigen erschweren lexikografische Fußnoten die Eingliederung eines Texts in sein neues sprachliches Umfeld. Sie dienen eher dem Übersetzer, als dass sie auf ein wirkliches Bedürfnis der Leser eingehen. Ich rate deshalb zur Kompensation: Ich ziehe es vor, ein gegebenes Wort, für das es kein treffendes hebräisches Äquivalent gibt, an der einen Stelle so und an einer anderen Stelle anders zu übersetzen. Damit kann ich den Bedeutungsumfang besser ausschöpfen, den das Wort in Freuds Deutsch einnimmt. Ein solcher Versuch, die ganze Bandbreite der Bedeutung eines in einem spezifischen Zusammenhang verwendeten deutschen Wortes abzudecken, indem man es mit verschiedenen hebräischen Worten wiedergibt, hat aber fraglos den ernsthaften Nachteil, dass es hebräischen Lesern nicht das psychoanalytische Standardlexikon an die Hand gibt, das Freuds freiem Umgang mit dem Wort doch so fern steht. Freuds Wörter, zumal jene, die er dem gesprochenen Deutsch entnimmt, sind keine Codewörter, über deren Bedeutung Einigkeit besteht. Sie beziehen ihre Bedeutung vielmehr aus dem Kontext, von den Wörtern in ihrer unmittelbaren Umgebung. Bei Freud sind Wörter so etwas wie Leute: Sie sprechen nicht nur miteinander, sie brauchen manchmal auch andere Wörter in ihrer Nähe, um zu wissen, wer sie sind. Wörter haben überdies Bedeutungen, die sich aus ihrer Vergangenheit herleiten, und diese Sinnwelten sind nicht notwendig identisch mit denen von Parallelwörter in anderen Sprachen. Die Wörter, die Freud verwendete, nahmen in der Zeitspanne, in der er schrieb, also im Verlauf eines halben Jahrhunderts, kontinuierlich Bedeutung an, und die einzige Möglichkeit, die volle Bedeutung eines solchen Wortes zu erfassen, besteht darin, sich mit Freuds gesamtem Œuvre bekanntzumachen. Es gibt aber auch noch eine andere, eine entgegengesetzte Überlegung. Als ob es uns geradezu danach hungerte, neigen wir dazu, Freuds Wörter mit Bedeu­ tungen aufzuladen, die ihnen erst in späteren Stadien seiner Schreibtätigkeit oder sogar erst im Verlauf des psychoanalytischen Diskurses nach Freud zugekommen sind. Die Frage ist, ob ein heute tätiger Übersetzer das Lesen dieses Neurologen des 19. Jahrhunderts irgendwie erleichtern kann. Kann man die erst in späteren Jahren aufgetauchten Begriffe verwenden, um die mechanistische Sprache der Triebe aufzubessern, in die Freud die meisten seiner technischen Empfehlungen kleidete? Was ist mit dem Vokabular der Objektbeziehungen, der Selbstpsychologie oder der interpersonalen und relationalen Schulen, das erst in späteren Zeiten Eingang in den psychoanalytischen Diskurs fand und die Sprache der Psychoanalyse in einer Weise bereicherte, die es ermöglicht, Freud außerhalb seines histo­ rischen Kontexts zu übersetzen und den Text zeitgemäßer zu machen? Für die Akzeptanz der Psychoanalyse außerhalb des deutschen Kulturkreises spielte die Übersetzung der Schriften Freuds in andere Sprachen eine wesentliche

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Rolle. Manche Freud-Übersetzer haben sich Hegels Bestrebung, »die Philosophie deutsch sprechen zu lehren«, zu eigen gemacht.26 Eher als Freud zu übersetzen, suchen sie ihn zu »lehren«, eine ganz spezifische Sprache zu bemühen oder eine bestimmte psychoanalytische Denkschule anklingen zu lassen. Das Unterfangen, Freud ins Hebräische zu übersetzen, hat mehrere Versuche eines solchen »Übersetzungsnationalismus«27 gesehen und eine Kontextualisierung in Gang gebracht. So reagiert Sigmund Freud auf die Nachricht des Vorsitzenden des Hebräischen Lehrerverbands Avi’ezer Jellin über das Erscheinen der hebräischen Ausgabe seines Massenpsychologie und Ichanalyse erfreut, aber auch mit einer ge­ wissen Zurückhaltung: »Mit besonderer Genugtuung habe ich die Übersetzung meiner Massenpsychologie in unsere heilige Sprache zur Hand genommen. Ich, unwissendes Kind einer vorzio­ nistischen Zeit, kann sie leider nicht lesen […]. Noch mehr beglückt mich Ihre Zusage, daß diese Übersetzung einer kleinen aus der Schar meiner Arbeiten herausgegriffenen Schrift nicht vereinzelt bleiben wird. So darf ich hoffen, daß das Befremden, welches die erste Wirkung eines psychoanalytischen Buches zu sein pflegt, bald anderen und freundlicheren Einstellungen weichen mag.«28

Zwei zentrale Motive prägen diese Zeilen, die Freud in Berlin verfasste, wo er sich für eine erneute Operation zur Entfernung eines Krebsgeschwürs in der Mundhöhle aufhielt. Das erste Motiv ist sein schwieriges Verhältnis zum Judentum und zum Zionismus. Er nennt das Hebräische »unsere heilige Sprache«, um sich unmittelbar anschließend als »Kind der vorzionistischen Zeit« zu charakterisieren, ganz als wolle er seinem zionistischen Briefpartner mitteilen, dass er, Freud, nur ein entfernter Verwandter sei, ein Landsmann zwar, aber auch ein Fremder. Seine Voraussage hinsichtlich der Aufnahme dieser Übersetzung beim Publikum war zutreffend: Die Reaktionen auf Massenpsychologie und Ich-Analyse waren geteilt. »Die Tage, in denen das Publikum mit Herzklopfen das Erscheinen jedes neuen Werks des Weisen von Wien erwartete, sind vorbei«, schrieb ein Kritiker und fügte hinzu: »Angesichts der Tatsache, dass der intellektuelle Aufruhr, den Freuds Entdeckungen ausgelöst haben, an uns vorbeigezogen ist, ohne uns zu betreffen, ist die Wahl des Texts durch den Übersetzer sicherlich zu begrüßen, der, auch wenn er nicht die neueste Strömung reflektiert, vor allem jenen zu empfehlen ist, die über Demokratie sprechen und schreiben. […] Die Übertragung Freuds vom Deutschen ins Hebräische ist ein steini 26 Das Zitat folgt John Sallis, On Translation, Bloomington/Indianapolis 2002, 16. 27 Lawrence Venuti, Translation Changes Everything. Theory and Practice, London/New York 2013. 28 The Freud Museum and Research Center, London, Sigmund Freud an den Hebräischen Lehrerverband, 14. September 1928.

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ges Feld, das wir lange bearbeiten müssen, bis wir eine wissenschaftliche, präzise hebrä­ ische Sprache haben, die verständlich, allen vertraut und von den meisten Fach­leuten akzeptiert ist.«29

Deswegen bedienen sich Übersetzungen Freuds ins Hebräische, die in den 1930er und 1940er Jahren entstanden, einer biblischen und talmudischen Sprache. Grund dafür waren nicht so sehr die sprachlichen Randbedingungen jener Jahre als vielmehr der Gedanke, das Werk Freuds zum Teil des jüdischen Bildungskanons zu machen, wie er damals gerade von der jüdischen Nationalbewegung etabliert wurde. Das belegt ein Brief, den Freud von Yehuda Dvosis-Dvir erhielt, seinem ersten hebräischen Übersetzer. Dvosis-Dvir ergänzte seine Übersetzung von Totem und Tabu mit Fußnoten, die biblische Passagen heranzogen, und dies, wie er Freud wissen ließ, »zur Bestätigung und Bekräftigung Ihres Buches […] und hie und dort auch angetan, neues Licht auf sie [Freuds Thesen] zu werfen«.30 In seiner Vorrede zur ersten hebräischen Ausgabe der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1935 war Freud kühn genug zu bezweifeln, dass Moses und die Propheten »diese hebräischen Vorlesungen verständlich gefunden hätten«.31 Das hinderte allerdings die Juroren des Tschernichowski-Preises nicht daran, die Ehrengabe an Zvi Wislavsky für seine Übersetzung der Psychopathologie des Alltagslebens zu vergeben und den Übersetzer für die Verwendung der Sprachen des Midrasch und der Mischna zu loben: »Wenn wir nicht wüssten, dass es eine Übersetzung ist«, erklärten die Juroren, »dann hätten wir gedacht, dieses Buch sei von einem unserer Vorfahren in hebräischer Sprache geschrieben worden«.32 Freud war mit Sicherheit nicht der einzige Denker, den das Hebräische sich zu eigen zu machen suchte. Als heilige Sprache, die jahrhundertelang eher Über­ setzungen in andere Sprachen erfahren hatte als dass sie Anderssprachiges hätte aufnehmen müssen, hat das Hebräische fremdsprachige Texte, die ihm eingegeben wurden, häufig herablassend behandelt. Manchmal scheint es, als wären es nicht die Übersetzer, die schuld daran sind, dass Plato, Augustinus und Kant sich alle der Sprache der Patriarchen und Propheten beugen und gelegentlich so klingen, als hätten sie wirklich lieber Hebräisch gesprochen, wenn es ihnen denn möglich gewesen wäre. 29 Zvi Strikovsky, Review of Freud’s Group Psychology and the Analysis of the Ego, in: Schwilei ha-Hinuch [Wege der Erziehung] 1928/1929 (1928), 475–479 (hebr.). 30 The Freud Museum and Research Center, London, Yehuda Dvosis-Dvir an Sigmund Freud, 30. November 1938. 31 Sigmund Freud, Vorrede zur hebräischen Ausgabe der »Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse« (1934), in: ders., Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 16: Werke aus den Jahren 1932–1939, Frankfurt a. M. 61981 (Erstausgabe London 1950), 274 f. 32 Tel-Aviv City Archives, Erwägungen des Preiskomitees, undatiert; Der Bürgermeister von Tel Aviv, Israel Rokach, an Zvi Wislavsky, 29. Januar 1945.

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Freud veröffentlichte sein Strukturmodell der Psyche im gleichen Jahr, in dem Walter Benjamins Essay »Die Aufgabe des Übersetzers« erschien. Eine schlechte Übersetzung ist nach Benjamin eine Übersetzung, die versucht, die praktische Aufgabe des Vermittelns von Information im Wege einer scheinbaren Genauigkeit zu erfüllen. Sie bewahrt damit nur die unwesentlichen Teile des Ausgangstexts. Eine gelungene Übersetzung, so Benjamin, befördert die Nachreife des Originalwerks und trägt damit zu seinem Fortleben bei. Die Jahre, die ich damit verbracht habe, Freud ins Hebräische zu übersetzen, haben mir ein Paradoxon aufgezeigt: So wie eine Psychoanalyse sich manchmal damit begnügen sollte, den Patienten wissen zu lassen, dass das Verständnis des Analytikers an Grenzen stößt,33 so ist die hinreichend gute Übersetzung nicht immer die präziseste oder die endliche. Letztlich ist eine psychoanalytisch geprägte Freud-Übersetzung in der Regel eine unendliche Übersetzung, die zum einen sorgsam die ursprüngliche Sprache der Psychoanalyse vermittelt  – die Sprache, die »vor Babel« unter Psychoanalytikern gesprochen wurde – und zum anderen den Leser stillschweigend bevollmächtigt, weiter nach seiner eigenen psychoanalytischen Sprache zu suchen.

33 Siehe Anna Freud, Indikationsstellung in der Kinderanalyse (1945), in: Die Schriften der Anna Freud, red. Helga Watson, Bd. 4: 1945–1956, Indikationsstellung in der Kinderanalyse und andere Schriften, München 1980, 1011–1040.

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Andorra in Deutschland Fritz Kortner und die Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik

Am 24. März 1962 bedankte sich der Schauspieler und Regisseur Walter Wicclair in einem Telegramm bei Fritz Kortner für einen besonderen Theaterabend. Er hatte am Abend zuvor am Berliner Schiller-Theater Kortners Inszenierung von Max Frischs Andorra gesehen – ein Stück, das Antisemitismus in Form einer Parabel zum Gegenstand hat. Wicclair, der wie Kortner aufgrund seiner jüdischen Herkunft sowie seiner Theaterarbeit in der Weimarer Republik antisemitische Anfeindungen erlebt und sich angesichts der Machtübertragung an die Nationalsozialisten ins Exil begeben hatte, war 1957 aus den Vereinigten Staaten in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Ebenso wie Kortner, der bereits zehn Jahre früher aus Amerika wieder nach Deutschland gekommen war, konfrontierte er die westdeutsche Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Holocaust.1 Aus seiner persönlichen Erfahrung eng vertraut mit den Schwierigkeiten, im Nachkriegsdeutschland die jüngste Vergangenheit zu thematisieren, enthielt sein Dank auch einen resignierten Kommentar über das Publikum. So bemerkte er: »Leider haben auch die, die vor Scham heulen sollten, applaudiert«.2 Damit verwies er auf eine Besonderheit von Kortners Inszenierung: die überaus positive Aufnahme beim deutschen Nachkriegspublikum. Derartigen Zuspruch hatte Kortner für seine Theaterarbeit in der Bundesrepublik bisher selten erlebt. Der außerordentliche Erfolg der Andorra-Inszenierung von 1962 steht in deutlichem Kontrast zu Kortners sonstigen Bemühungen in den 1950er und 1960er Jahren, das westdeutsche Publikum mit der jüngeren Geschichte zu konfrontieren. Ebenso wie Wicclair hatte Kortner immer dann Misserfolge erlebt, wenn er

1 Helmut G. Asper, Walter Wicclair (1901–1998), in: Neuer Nachrichtenbrief der Gesellschaft für Exilforschung e. V. 11 (Juni 1998), 5–7. Neben seiner Theaterarbeit beschäftigte sich Wicclair auch mit personellen Kontinuitäten zwischen der Theaterlandschaft des National­ sozialismus und der Bundesrepublik: Martha Mierendorf/Walter Wicclair, Im Rampenlicht der »dunklen Jahre«. Aufsätze zum Theater im »Dritten Reich«, Exil und Nachkrieg, hg. von Helmut G. Asper, Berlin 1989. 2 Akademie der Künste (AdK), Berlin, Fritz-Kortner-Archiv, Nr. 782, Walter Wicclair an Fritz Kortner, 24. März 1962.

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Nationalsozialismus, Antisemitismus und den Massenmord an den europäischen Juden thematisierte. Für derartige Produktionen war er oftmals von Publikum und Presse kritisiert worden – nicht selten mit antisemitischen Untertönen. Damit erweist sich der Erfolg seiner Andorra-Inszenierung theatergeschichtlich als aufschlussreicher Moment hinsichtlich der Rolle jüdischer Künstler für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Theater der frühen Bundesrepublik. Die ambivalente Anlage des Stücks, die Inszenierung und die öffentliche Persona Kortners waren ausschlaggebend für die Publikumsreaktionen und Besprechungen, die paradigmatisch Grundlinien des Umgangs der deutschen Nachkriegsgesellschaft mit dem Holocaust in den frühen 1960er Jahren abbilden.

Kortner und die Bühnen von Wien und Berlin Fritz Kortners Leben und Schaffen erscheinen beispielhaft für die Rolle der Bühne in der Erfahrungsgeschichte der Juden in Deutschland – sowohl vor 1933 als auch nach dem Zivilisationsbruch. Der Begriff »Bühne« bezeichnet dabei zweierlei: einerseits das Rollenspiel und die Selbstdarstellung im Alltag, andererseits das Theater in seinen institutionalisierten Formen.3 Beide Aspekte waren für die deutschen Juden in besonderem Maße Bestandteil ihrer Erfahrung seit dem 18. Jahrhundert. Bereits in frühen Emanzipationsdebatten war von ­ihnen in Bezug auf Sprache, Verhalten, Mimik und Gestik die Angleichung an ein bürgerliches Ideal als Vorbedingung für die Gewährung der Rechtsgleichheit gefordert worden. Diese »konditionale Emanzipation«4 löste ein Streben nach Ak­kulturation und der Übernahme eines bürgerlichen Habitus unter der Mehrheit der deutschen Juden aus. Gleichzeitig wurde ihnen von Antisemiten beständig die Fähigkeit zur vollständigen Angleichung abgesprochen. Folglich wähnten sich Juden mit zunehmender Verbürgerlichung und wachsendem Antisemitismus auch nach der Gewährung der Rechtsgleichheit im Alltag gleichsam auf einer Bühne, auf der sie sich in Auftritt, Sprache und Verhalten zu beweisen hatten und unter schärferer Beobachtung standen als andere.

3 Die theatrale Dimension von Alltagsverhalten ist in verschiedenen Disziplinen thematisiert worden, etwa aus soziologischer Perspektive von Erving Goffman, Wir alle spielen­ Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München/Zürich 112012. In der Theaterwissenschaft haben sich Konzeptionen von Theatertypen etabliert, um sowohl theatrale Praktiken außerhalb des Theater­raums als auch künstlerische Theaterformen zu untersuchen und deren Verhältnis zu­einander zu bestimmen. Siehe etwa Rudolf Münz, Theatralität und Theater. Zur Historio­ graphie von Theatralitätsgefügen, Berlin 1998. 4 David Sorkin, The Transformation of German Jewry. 1780–1840, New York/Oxford 1987, 23.

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Im selben Zeitraum war das Theater zum Ort der Aushandlung von nationalen Selbstverständnissen und Zugehörigkeiten avanciert. Der relativ späten Gründung des deutschen Nationalstaats 1870/1871 war die allmähliche Formierung eines kulturellen Selbstverständnisses vorangegangen, in dem das Theater und die Bestrebungen um die Schaffung eines Nationaltheaters als »Schauplatz bürgerlicher Lebensführung«5 einen zentralen Platz einnahmen. Das Theater wurde zur Arena der Aushandlung jüdischer Zugehörigkeit und der Theaterbesuch für Juden zum Anlass, ihr bürgerliches Selbstverständnis öffentlich unter Beweis zu stellen. Jüdische Schauspieler versuchten, auf der Bühne Anerkennung zu finden und sich gegen antisemitische Zurücksetzungen zu behaupten; Regisseure und Dramatiker unterstrichen mit ihren Arbeiten ihre Zugehörigkeit zur deutschen Kultur. Oftmals setzten sie darin für gesellschaftliche Ideen ein, die eine Teilhabe jenseits von Kriterien der Herkunft versprachen.6 Kortner erlebte dieses besondere Verhältnis zur Bühne am eigenen Leib. Geboren 1892 in Wien, wurde er bereits in seiner Kindheit und Jugend mit anti­ semitischen Anwürfen konfrontiert, die sich mehrfach auf sein markantes, als »jüdisch« erachtetes Gesicht bezogen. Nach verschiedenen Versuchen der Selbstbehauptung, etwa im Fußballspiel, wandte er sich dem Theater zu, wo er sich erhoffte, Anerkennung als Gleicher zu finden.7 Seine frühen Erfolge als Schauspieler deutete er später in autobiografischen Schriften als Sieg über die erfahrene Diskriminierung.8 1919 erlebte Kortner seinen Durchbruch in der Berliner Theaterlandschaft. In Leopold Jessners Inszenierung von Wilhelm Tell war er in der Rolle des Gessler zu sehen; in der Uraufführung von Ernst Tollers Stück Die Wandlung übernahm er unter der Regie von Karlheinz Martin die Hauptrolle. Beide Produktionen markierten die beginnende Politisierung des Theaters der Weimarer Republik, an der Kortner und zahlreiche andere jüdische Künstler maßgeblichen Anteil

5 Jörg Echternkamp, Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt a. M. 1998, 126. 6 Anat Feinberg, Stagestruck. Jewish Attitudes to the Theatre in Wilhelmine Germany, in: Jeanette R. Malkin/Freddie Rokem (Hgg.), Jews and the Making of Modern German Theatre, Iowa City 2010, 59–76; Stefan Hofmann, Art. »Piscator-Bühne«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, hg. von Dan Diner (nachfolgend EJGK), Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2013, 580–588; Brigitte Dalinger/Theresa Eisele, Art. »Welttheater«, in: EJGK, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2015, 361–366. 7 Fritz Kortner, Aller Tage Abend, München 51976 (zuerst 1959), 162 f., 329 f. sowie Richard D. Critchfield, From Shakespeare to Frisch. The Provocative Fritz Kortner, Heidelberg 2008, 15–24. Zu Kortners Leben und Werk siehe auch Klaus Völker, Fritz Kortner. Jude und Rebell gegen das privilegiert Konventionelle, Berlin 2007; ders., Fritz Kortner. Schauspieler und Regisseur, Berlin 1993, sowie Stefan Hofmann, Art. »Regietheater«, in: EJGK, Bd. 5, Stuttgart/ Weimar 2014, 126–131. 8 Kortner, Aller Tage Abend, 111.

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hatten.9 So entkleidete Jessners Inszenierung das bisher vor allem als Weihespiel der Nation wahrgenommene Stück jeglicher nationaler Bezüge und führte es als allgemei­nes Revolutionsspiel auf. Der neue Intendant des Berliner Staatstheaters sah sich hierfür antisemitischen Anwürfen ausgesetzt, die gar zu Tumulten bei der Premiere führten.10 Tollers Stück hingegen zeigte die Wandlung der jüdischen Hauptfigur vom Diskriminierten und Heimatlosen zum Verkünder der Revolution im Namen der Menschheit.11 In der expressionistischen Ästhetik der frühen 1920er Jahre wurde Kortners markantes Profil, seine deutliche Stimme und sein ekstatisches Spiel zum Objekt ästhetischer Bewunderung.12 Bald zählte Kortner zu den bekanntesten deutschen Schauspielern. Mit der fortschreitenden Politisierung der Öffentlichkeit in der Weimarer Republik sah er sich wie viele andere jüdische Künstler gegen Ende der 1920er Jahre jedoch mit immer schärferen antisemitischen Schmähungen konfrontiert. Er reagierte darauf, indem er zunehmend jüdische Protagonisten spielte, die er individuell gestaltete. So war er 1927 als Shylock in Jürgen Fehlings Inszenierung des Kaufmann von Venedig zu sehen, wo er durch sein akzentuiertes Spiel Shylocks Forderung nach Rache an Antonio als Reaktion auf die lange Geschichte der Zurücksetzung von Juden darstellte.13 Der Antisemitismus der Umgebungsgesellschaft wurde so zum zentralen Thema des Stücks. 1928 übernahm er die Rolle des General Podkamjenski in Erich Engels Inszenierung von Hermann Ungars Der Rote General – ein Stück, das das Fortbestehen antisemitischer Ressentiments im Sowjetrussland des Bürgerkriegs thematisiert. 1930 wiederum verkörperte er den Titelhelden in einer Inszenierung von Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi und spielte in dem Film Dreyfus den Hauptmann der französischen Armee, der zum Opfer antisemitischer Ränke wird. Im selben Jahr übernahm er die Hauptrolle in Alfred Neumanns Das Haus Danieli – einer Dramatisierung des Jud-Süß-Stoffes, in der der jüdische Baron Danieli eine Affäre mit der Herzogin beginnt, mit ihr ein Kind zeugt und es als Thronfolger zu installieren versucht, um die Gleichheit aller Menschen zu demonstrieren.14 9 Zur Politisierung der Weimarer Theaterlandschaft und deren Bedeutung für jüdische Künstler siehe Hofmann, Art. »Piscator-Bühne«. 10 Peter W. Marx, Ein theatralisches Zeitalter. Bürgerliche Selbstinszenierungen um 1900, Tübingen/Basel 2008, 97–106. 11 Andreas Englhart, Ernst Tollers Stationendrama Die Wandlung auf der expressionis­ tischen Experimentalbühne Die Tribüne, in: Hans-Peter Bayerdörfer/Jens Malte Fischer (Hgg.), Judenrollen. Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit, Tübingen 2008, 237–254, sowie Hofmann, Art. »Piscator-Bühne«, 551 f. 12 Jeannette R. Malkin, Transforming in Public. Jewish Actors on the German Expressionist Stage, in: dies./Freddie Rokem (Hgg.), Jews and the Making of Modern German Theatre, ­151–173, hier 161, sowie Galili Shahar, teatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne, Bielefeld 2007, 197–199. 13 Critchfield, From Shakespeare to Frisch, 47–50. 14 Ebd., 52–62.

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In jener Schaffensphase wurde Kortner zum Hassobjekt der Deutschnationalen und Nationalsozialisten, in deren Presseorganen er ohne Unterlass angegriffen wurde. So wurde er 1928 von der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) im Preußischen Landtag beschuldigt, als Kopf einer Gruppe von Juden zu agieren, die das Berliner Staatstheater kontrolliere. Für Antisemiten galt er als Personifikation der vorgeblichen »Verjudung« des deutschen Theaters.15 Aus Furcht vor antisemitischen Gewalttaten verlegte er bereits 1932 seinen Wohnsitz in die Schweiz.

Kortner und das deutsche Publikum nach dem Holocaust Als sich 1953 in Berlin an einer Regiearbeit von Kortner abermals Proteste entzündeten, war es kein Zufall, dass sich der Philosoph und Schriftsteller Günther Anders in die Zeit der späten Weimarer Republik mit ihren antisemitischen Störaktionen und Angriffen auf jüdische Künstler zurückgesetzt fühlte.16 Nach seiner Rückkehr nach Deutschland 1947 hatte sich Kortner als Schauspieler und Regisseur weiterhin politischen Themen gewidmet und das deutsche Nachkriegspublikum mit dessen nationalsozialistischer Vergangenheit und dem Holocaust konfrontiert. So thematisierte er etwa in dem Film Der Ruf  (1948, Regie: Josef von Baky), zu dem er das Drehbuch beisteuerte und in dem er die Hauptrolle übernahm, das Fortleben antisemitischer Einstellungen an deutschen Universitäten.17 Kortner war für viele nach seiner Remigration einerseits eine Symbolgestalt der Weimarer Theaterkultur, andererseits erschien er dem westdeutschen Publikum als personifizierte Erinnerung an den nationalsozialistischen Antisemitismus und den Holocaust.18 In seiner zweiten autobiografischen Schrift Letzten Endes besann er sich, dass sein Gesicht bei seiner Rückkehr bekannt war und »in der Erinnerung der Deutschen auch schon deshalb so lebendig weiterlebte, weil es in Bildern und Karikaturen der Antijuden-Literatur einen prominenten 15 Ebd., 53 f. 16 Kortners Inszenierung des pazifistischen Stücks Der Preispokal von Sean O’Casey stieß vor dem Hintergrund des Aufstands in der DDR vom 17. Juni 1953 auf vehemente Ablehnung des Westberliner Publikums, was zu Protesten während der Premiere führte, siehe Critchfield, From Shakespeare to Frisch, 138 f. Zu Günther Anders’ Reaktion siehe ders., Ruinen heute, in: Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941 bis 1966, München 1967, 214–260, hier 234 f. Für den Hinweis hierauf danke ich Anna Pollmann (Leipzig). 17 Jens Malte Fischer, »Nach Deutschland wollen Sie gehen?« Die Remigration Fritz Kortners und sein Film »Der Ruf«, in: Hans-Peter Bayerdörfer (Hg.), Theatralia Judaica (II). Nach der Shoah. Israelisch-deutsche Theaterbeziehungen seit 1949, Tübingen 1996, 57–70. 18 Michael Bachmann, Fritz Kortner on the Post-War Stage. The Jewish Actor as a Site of Memory, in: Edna Nahshon (Hg.), Jews and Theater in an Intercultural Context, Leiden/Boston, Mass., 2012, 197–217.

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Platz eingenommen hatte«.19 Derartige Assoziationen prägten die Wahrnehmung seiner öffentlichen Persona und seiner Arbeiten. Zudem führte er das Konzept von Leopold Jessner fort, nach dem klassische Stücke durch den Regisseur neu gedeutet und mit Hinblick auf aktuelle Zeitfragen inszeniert wurden.20 In dieser Konstellation begegnete das deutsche Publikum Kortners Klassikerinszenierungen und seiner Thematisierung der jüngeren Vergangenheit oftmals mit Ablehnung. In seiner Produktion des Don Carlos 1950 in Berlin, in der er auch die Rolle des König Philipp übernahm, fanden diese beiden Stränge seines Wirkens in paradigmatischer Weise zueinander: Kortner hatte die Inszenierung auf das Thema der Macht von Diktaturen über den Einzelnen ausgerichtet und interpretierte die Figur des Philipp als Prototyp eines grausamen Herrschers. Bei der Premiere entzündeten sich bereits anhand dieser Deutung Proteste. So waren im Zuschauerraum Rufe wie »Wir wollen Schiller sehen, nicht Kortner« zu hören.21 Darüber hinaus entstand Unruhe im Publikum, als Posa den Satz »Da stieß ich auf menschliche Gebeine« an Kortner in der Rolle des Philipp richtete. In diesem Moment verbanden die Zuschauer den Satz Schillers über die Person Kortners mit der Erinnerung an den Holocaust.22 Als im fünften Akt wegen einer Fehlfunktion der Drehbühne die ganz in schwarz gekleideten Soldaten nicht zur Seite, sondern ins Publikum zu schießen schienen, waren im Zuschauerraum Rufe zu hören wie »Der schießt auf uns! Jude!«.23 In der Folge erhielt Kortner zahlreiche antisemitische Drohbriefe, worauf er die Rolle nach zwei Vorstellungen aufgab und von Berlin nach München übersiedelte. In der deutschen Öffentlichkeit galt er fortan als rachsüchtig und aggressiv. So wurde er etwa 1961 in einem Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel als tyrannischer Regisseur porträtiert, der Schauspieler unnachgiebig quäle, Theaterhäuser mit hohen Produktionskosten ruiniere und oftmals künstlerisch mangelhafte Arbeiten hervorbringe. Zudem profitiere er von der vorgeblich liberalen, philosemitischen Atmosphäre in der Bundesrepublik, erweise sich aber als undankbar und würde jedem Kritiker seiner Arbeit Antisemitismus vorwerfen.24 Vor dem Hintergrund, dass Kortner immer dann auf Ablehnung und Proteste beim deutschen Publikum stieß, wenn er aktuelle politische Fragen in seinen Inszenierungen thematisierte oder das deutsche Publikum mit dem Holocaust und der nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontierte, verwundert es zunächst, dass gerade seine Andorra-Inszenierung zu einem herausragenden Erfolg wurde. Die überwiegende Zahl der Kritiken war voll des Lobes. Sie berichteten 19 Fritz Kortner, Letzten Endes. Fragmente, hg. v. Johanna Kortner, München 21971, 15. 20 Hofmann, Art. »Regietheater«. 21 Zit. nach Critchfield, From Shakespeare to Frisch, 132. 22 Bachmann, Fritz Kortner on the Post-War Stage. 23 Zit. nach Fischer, »Nach Deutschland wollen Sie gehen?«, 63. 24 Critchfield, From Shakespeare to Frisch, 162 f.

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von zwanzig- bis vierzigminütigem Applaus und Ovationen, die Stück, Ensemble und Regisseur nach der Premiere zuteilwurden.25

»Modell« Andorra Max Frisch hatte Andorra ab 1958 verfasst und den Text bis zur Uraufführung 1961 mehrfach überarbeitet. Die Idee zu dem Stück geht auf das Jahr 1946 zurück und wurde in der Prosaskizze Der andorranische Jude 1947 erstmals publiziert.26 Dieser Text enthält bereits die Grundgedanken des späteren Theaterstücks. Er behandelt die Geschichte eines Mannes aus Andorra, »den man für einen Juden hielt«27 und der diese Rolle aufgrund seiner antisemitischen Umgebung, die ihn immer wieder mit judenfeindlichen Ressentiments konfrontiert, zunehmend internalisiert. Dabei war es für Frisch zentral, dass sich die Andorraner ein »fertige[s] Bildnis« des Mannes machten, das er fortan mit sich selbst verglich.28 Letztlich stellt sich nach dem Tod des Protagonisten heraus, »daß er ein Findelkind gewesen, dessen Eltern man später entdeckt hat, ein Andorraner wie unsereiner«.29 Frisch beschäftigte sich in dieser Skizze mit den sozialen Dynamiken anti­ semitischer Ressentiments, deren Hintergründen und Auswirkungen auf Juden. Das Fremdbild der Andorraner wird dabei letztlich als Projektion eigener Eigenschaften gedeutet: »Die Andorraner aber, sooft sie in den Spiegel blickten, sahen mit Entsetzen, daß sie selber die Züge des Judas tragen, jeder von ihnen.«30 Dabei klingt in der Bezeichnung des Geschassten eine christliche Bedeutungsebene an. Die religiöse Dimension hebt Frisch in der Schlusspassage hervor, in der er eine metaphorische Übertragung des biblischen Bilderverbots auf den sozialen Bereich vornimmt: Das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen, gelte demnach auch für jeden Menschen. Doch gegen dieses würde permanent verstoßen, außer im Akt der Liebe.31 Damit formuliert Frisch ein zentrales Thema seines Werks nach dem 25 Günther Grack, Andorra ist überall, in: Der Tagesspiegel, 25. März 1962 sowie Herbert Pfeiffer, Im Parkett saß die Schuld, in: Berliner Morgenpost, 25. März 1962. Sämtliche Rezensionen der Inszenierung aus der Tagespresse wurden im Fritz-Kortner-Archiv an der Berliner Akademie der Künste (AdK, Berlin, Fritz-Kortner-Archiv, Nr. 826) eingesehen. 26 Max Frisch, Anmerkungen zu Andorra, in: Programmheft. Schiller-Theater Berlin, Max Frisch »Andorra«, 23. März 1962 (AdK, Berlin, Dokumentation zum deutschsprachigen Theater, Nr. 14319). Zur ersten Publikation siehe Yahya Elsaghe, Max Frisch und das zweite Gebot. Relektüren von »Andorra« und »Homo faber«, Bielefeld 2014, 77 f. 27 Max Frisch, Der andorranische Jude, in: ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, 7 Bde., hg. von Hans Mayer, Frankfurt a. M. 1976/1986, Bd. 2: 1944‒1949, 372‒374, hier 372. 28 Ebd. 29 Ebd., 374. 30 Ebd. 31 Ebd.

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Zweiten Weltkrieg aus, das von der Beschäftigung mit Vorurteilen, deren Auswirkungen auf Selbstbilder, Ausgrenzung und Fremdwahrnehmung geprägt ist.32 In Andorra hielt Frisch, analog zu seiner Vorarbeit, an der Betrachtung von Antisemitismus als Projektion fest. Darin scheinen auf den ersten Blick Affinitäten zu theoretischen Texten zu bestehen, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden und den Schwerpunkt ihrer Analysen des Antisemitismus auf das Moment der Projektion legen, etwa Jean-Paul Sartres Réflexions sur la question juive (1946) oder die Dialektik der Aufklärung (1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno.33 Im Unterschied zu diesen Schriften, die Antisemitismus im Rahmen westlicher Gesellschaftsformationen analysieren, universalisierte Frisch das Thema der Projektion. So entstand ein Stück als entaktualisiertes »Modell«34 über Vorurteile, in dem der »Antisemitismus […] nur ein Beispiel« darstellt,35 das aber gleichwohl immer auf die nationalsozialistische Vergangenheit bezogen wurde. Bereits der Ort der Handlung unterstreicht den Modellcharakter des Stücks. So erscheint im Paratext des Dramas als Erklärung: »Das Andorra dieses Stücks hat nichts zu tun mit dem wirklichen Kleinstaat dieses Namens, gemeint ist auch nicht ein andrer wirklicher Kleinstaat; Andorra ist der Name für ein Modell«.36 In diesem modellhaften Ort wird Andri vorgestellt, ein zwanzigjähriger Mann, dessen Vater behauptet, er hätte ihn als jüdisches Findelkind vor den antisemitischen Verfolgern des Nachbarstaats gerettet und aufgenommen. Der Vater, ein Lehrer namens Can, hat diese Geschichte unter den Bewohnern Andorras und in seiner Familie verbreitet, um zu verschleiern, dass es sich bei Andri um ein uneheliches Kind aus der Liebschaft mit einer Bewohnerin des Nachbarstaats handelt. In den Bildern des Stücks wird gezeigt, wie sich die Gesellschaft gegenüber Andri verhält. In den ersten sechs Szenen versucht er sich an seine Umgebung anzugleichen, wird aber von dieser immer wieder zurückgewiesen.37 Er will etwa den Tischlerberuf erlernen, doch der Handwerksmeister nimmt ihn nur gegen die Zahlung einer hohen Summe als Lehrling an. Nach Ansicht des Tischlers solle er lieber in vermeintlich jüdischen Berufen, etwa als »Makler« an der »Börse« 32 Siehe Elsaghe, Max Frisch und das zweite Gebot. 33 In der Forschungsliteratur zu Frisch wird über eine mögliche Rezeption Sartres spekuliert (Elsaghe, Max Frisch und das zweite Gebot, 76 f.) und auch Bezüge zur Dialektik der Aufklä­rung werden hergestellt (Michael Butler, The Plays of Max Frisch, Houndmills u. a. 1985, 105). 34 Max Frisch, Antworten auf Fragen von Ernst Wendt, in: Walter Schmitz/Ernst Wendt (Hgg.), Frischs »Andorra«, Frankfurt a. M. 1984, 17–20, hier 19. 35 »Collage II«: Enttäuschte Hoffnung? Über Absicht, Dramaturgie und Wirkung von »Andorra«, in: Schmitz/Wendt (Hgg.), Frischs »Andorra«, 53–66, hier 54. 36 Max Frisch, Andorra. Stück in zwölf Bildern, in: ders., Gesammelte Werke in zeitlicher Folge, Bd. 4: 1957‒1963, 461‒560, hier 462. 37 Zur Einteilung der Bilder siehe auch Butler, The Plays of Max Frisch, 102.

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sein Auskommen verdienen.38 Dabei wird im Verlauf der Handlung wiederholt darauf hingewiesen, dass den Juden zugeschriebene Eigenschaften eine Projektion der Gesamtbevölkerung sind. So äußert der Wirt gegenüber Can, nachdem er dessen Gespräch mit dem Tischler gehört hat: »Die Andorraner sind gemütliche Leut, aber wenn es ums Geld geht, das hab ich immer gesagt, dann sind sie wie der Jud.«39 Im weiteren Verlauf wird ein Panorama antisemitischer Stereotype entfaltet, denen sich Andri ausgesetzt sieht. So wird er von dem Soldaten Peider ob seiner vorgeblichen Feigheit verhöhnt. In der Tischlerlehre vertauscht ein Geselle die eigene mangelhafte Arbeit mit der Andris, wodurch der Meister seine Annahme, dass Andri als Jude für das Handwerk nicht geeignet sei, bestätigt sieht. Der Tischlermeister nutzt den Vorfall, um ihn in den Möbelverkauf zu versetzen, da er den Handel »im Blut« habe.40 Im siebten Bild wird Andri vom Pater mit philosemitischen Argumenten dazu angehalten, seine jüdische Zugehörigkeit anzunehmen und nicht mehr zu versuchen, sich in seinem Verhalten den Andorranern anzugleichen.41 Parallel durchläuft Andri eine private Tragödie: Er ist in seine Halbschwester Barblin verliebt, die diese Liebe im Glauben erwidert, dass Andri ein Findelkind sei. Peider hat indes ein Auge auf Barblin geworfen, die dessen Zuneigung jedoch nicht teilt. Im sechsten Bild dringt Peider in ihre Kammer ein und vergewaltigt sie – Andri, der die Nacht vor Barblins Schwelle verbracht hat, bemerkt Peider und glaubt, er habe seine Liebe an den Konkurrenten verloren.42 In den folgenden Bildern werden die Auswirkungen des beständigen Ressentiments der Umgebung auf den Einzelnen anhand von Andri vorgeführt.43 Während das antisemitische Nachbarland, dessen Bevölkerung nur als die »Schwarzen« bezeichnet wird, Truppen an der Grenze zu Andorra zusammenzieht, wird er von Soldaten verprügelt.44 Als der Pater ihn im Zuge des Besuchs seiner leiblichen Mutter über seine wahre Herkunft aufklären will, sperrt sich Andri. In einem Monolog zieht er Bilanz über die erfahrenen Vorurteile, vergleicht sie mit seinem Denken und Handeln und glaubt, die ihm zugeschriebenen Eigenschaften an sich selbst zu erkennen. Die Internalisierung der antisemitischen Stereotype geht dabei so weit, dass er sie schließlich als Bestätigung der eigenen jüdischen Zugehörigkeit wertet. Das ihm aufgezwungene Bild wird somit zum intrinsischen Teil seines Selbstverständnisses. Mit an Sartre gemahnendem Vokabular behauptet er gegenüber dem Pater die Annahme eines jüdischen Selbstverständ 38 Frisch, Andorra, 468. 39 Ebd., 469. 40 Ebd., 486. 41 Ebd., 504‒508. 42 Ebd., 498–502, 537 f. 43 Butler, The Plays of Max Frisch, 102. 44 Frisch, Andorra, 516.

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nisses und fordert nun auch von diesem, ihn als »Jud anzunehmen.«45 Gleichwohl erscheint Andris jüdisches Selbstbild sich lediglich über die Nichtzugehörigkeit zur andorranischen Gesellschaft zu bestimmen, und führt letztlich zu einem tragischen Ende: Andris leibliche Mutter wird während ihres Besuchs in Andorra als »Schwarze« mit einem Stein erschlagen. Diese Tat wird nun zu einem Zeitpunkt Andri angelastet, als die »Schwarzen« Andorra besetzen. Bei der folgenden »Judenschau«, bei der ein »Judenschauer« Juden am Gang erkennen will, wird Andri identifiziert und schließlich ermordet.46 Barblin bleibt als »Judenhure« geschmäht mit geschorenem Kopf zurück.47 Das Stück thematisiert zwar dezidiert antijüdische Stereotype, wie Feigheit,­ Fixierung auf Monetäres oder Mangel an handwerklichem Geschick bei Talent für Verkauf und Handel, ignoriert jedoch spezifische Elemente des modernen Antisemitismus, etwa Vorstellungen einer jüdischen Weltverschwörung oder die Projektion von als negativ wahrgenommenen unverstandenen Begleiterscheinungen der Moderne auf das Handeln von Juden.48 Insofern scheinen die im Text dargestellten Elemente und Motive des Antisemitismus eher der vormodernen Judenfeindschaft entnommen und der Spezifik ihrer säkularisierten, modernen Form entkleidet. In diesem Sinne kann das Stück als Versuch gelesen werden, einen verallgemeinerten Mechanismus von Vorurteilen, Ausgrenzung und Übernahme der erfahrenen Diskriminierung in das eigene Selbstbild zu untersuchen. Andri erscheint dabei als prototypisch »Anderer«, was auch in der Namensgebung der Figur anklingt. Gleichwohl evozierte die Thematisierung von Antisemiti­smus 16 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei Autor und Publikum auch die Ereignisse der jüngeren Vergangenheit.

Zwischen universeller Parabel und konkretem Zeitbezug Frisch bemühte sich, bei der Konzeption des Stücks konkrete Zeitbezüge zu verwischen und betonte immer wieder den Modellcharakter der Parabel. So wollte er Andorra nicht als »allegorische Illustration der Geschichte« verstanden wissen. Er erhob vielmehr den Anspruch, transhistorische und anthropologische Vorgänge zu ergründen. So greife das Stück »hinter die Geschichte«. Dementsprechend habe er etwa die »Judenschau« erfunden, »statt von der Kristallnacht zu reden«. Nach seinem Dafürhalten handelt das Stück »gar nicht vom Antisemi 45 Ebd., 527. 46 Ebd., 543–560. 47 Ebd., 558 f. 48 Zum Motiv der Verschwörung als zentrales Element des modernen Antisemitismus siehe Dan Diner, Art. »Verschwörung«, in: EJGK, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2015, 272–277 sowie Moishe Postone, Antisemitismus und Nationalsozialismus, in: ders., Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Freiburg i. Br. 2005, 165–194.

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tismus. Der Antisemitismus ist nur ein Beispiel«49, anhand dessen das Publikum mit dem »Phänomen Vorurteil«, also der Zuschreibung des Anders-Seins und der Ausgrenzung, konfrontiert würde.50 Jedoch wählte Frisch mit dem Antisemitismus ein Rahmenthema, das kurz nach der Verfolgung und systematischen Ermordung der europäischen Juden das konkrete Geschehnis bei jedem Leser oder Zuschauer ins Gedächtnis rufen musste. Die irrationale Dimension der Vernichtung jüdischen Lebens, die selbst militärstrategischen Überlegungen und einer rationalen »Nutzbarmachung« von Arbeitskraft zuwider lief, bedeutete einen Bruch zivilisatorischer Gewissheiten.51 Der Massenmord als Selbstzweck war ein neuartiges Geschehen, zu dem auf der Basis des dichotomen Weltbilds der Nationalsozialisten alle Juden der Welt ohne Unterschied als Opfer auserkoren waren. Vor diesem Hintergrund waren jüdische Opfer von Diskriminierung, Verfolgung und Mord nicht mehr als beliebig austauschbar zu betrachten. Dies kritisierte auch der Journalist und Schrift­steller Friedrich Torberg 1961 anlässlich der Züricher Uraufführung von Andorra als »fundamentale[s] Mißverständnis des Stücks«.52 Er betonte, dass Juden »keine Modelle, […] keine austauschbaren Objekte beliebiger (und ihrerseits austauschbarer) Vorurteile [sind], wie ja auch der Antisemitismus kein beliebiges (und seinerseits austauschbares) Vorurteil ist.«53 Vor dem Hintergrund des eigenen Überlebens der nationalsozialistischen Mordmaschinerie erschien ihm die Universalisierung des jüdischen Schicksals in Frischs Parabel unangebracht. Dass die Thematisierung des Antisemitismus bei Lesern und dem Publikum von Aufführungen des Stücks mit dem Holocaust verbunden werden musste, zeigen auch Frischs eigene Aussagen, bei denen er sich immer wieder auf die jüngere Vergangenheit bezog. So stimmte er der Frage zu, dass Andorra ohne die Erfahrung des Nationalsozialismus und die Nachkriegsprozesse nicht denkbar gewesen wäre.54 In einem Brief an Lektoren des Suhrkamp-Verlags vom Januar 1961 erklärte er die Intention des Bühnenwerks mit deutlichem Bezug zum Nationalsozialismus und zum Holocaust: Demnach handle das Stück nicht von den Hauptkriegsverbrechern, den »Eichmanns«. Vielmehr ginge es ihm um die breite Bevölkerung, die »Millionen, die es möglich machten, daß Hitler nicht hat Maler werden müssen«.55 49 »Collage II«: Enttäuschte Hoffnung?, 54. 50 Ebd., 63. 51 Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988. 52 Friedrich Torberg, Ein furchtbares Mißverständnis. Notizen zur Züricher Uraufführung des Schauspiels »Andorra« von Max Frisch, in: Albrecht Schau (Hg.), Max Frisch. Beiträge zur Wirkungsgeschichte, Freiburg i. Br. 1971, 296–299, hier 297. 53 Ebd. 54 Frisch, Antworten auf Fragen von Ernst Wendt, 17–19. 55 Max Frisch an das Lektorat des Suhrkamp Verlags (Siegfried Unseld, Hans Magnus Enzens­berger, Karlheinz Braun), 10.  Januar 1961, in: Max Frisch, Jetzt ist Sehenszeit. Briefe,­ Notate, Dokumente 1943–1963, hg. von Julian Schütt, Frankfurt a. M. 1998, 205–210, hier 208.

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Daher habe er auch nicht die Andorraner Andri töten lassen, wodurch das Publikum einen Unterschied zwischen sich und den Andorranern hätte imaginieren können. Ihm ging es vielmehr um die Schuld der allgemeinen Bevölkerung, die bei der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zugesehen habe. Doch auch diesen Gedanken abstrahierte er im Hinblick auf jeden Einzelnen, den eine ähnliche Situation als Zuschauer eines neuen staatlichen Gewaltverbrechens betreffen könnte: »[I]ch möchte die Schuld zeigen, wo ich sie sehe, unsere Schuld, denn wenn ich meinen Freund an den Henker ausliefere, übernimmt der Henker keine Oberschuld.«56 So zielt sein Stück einerseits auf alle, die sich während des Holocaust nicht direkt durch mörderische Taten, sondern durch deren Duldung schuldig machten. Andererseits sucht es die Frage des Verhaltens jedes einzelnen Zeugen eines ungerechtfertigten staatlichen Gewaltakts zu behandeln. In dieser doppelten Anlage erscheint das Stück von einer Ambivalenz zwischen konkreten Zeitbezügen und abstrahierender Verallgemeinerung gekennzeichnet – eine Grundlage für gegenläufige Deutungen. Dass Frisch sich dem Thema des Antisemitismus widmete und die Möglichkeit der Verstrickung jedes Einzelnen in Unrecht aufgrund von Vorurteilen universalisierte, hatte auch biografische Hintergründe. So war Frisch während der 1930er und 1940er Jahre von der Schweizer nationalkonservativen Politik der »geistigen Landesverteidigung« nachhaltig beeinflusst, die eine Abgrenzung sowohl zum Nationalsozialismus als auch gegenüber Exilanten anstrebte.57 Darüber hinaus ist in Frischs Text Kleines Tagebuch einer deutschen Reise eine Passage aus dem Jahr 1935 überliefert, in der er ein gewisses Verständnis für Aspekte der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten erkennen ließ. Diese Einlassung in einer frühen journalistischen Arbeit ist zwar wahrscheinlich auf den Opportunismus des jungen, ehrgeizigen Autors zurückzuführen, erscheint dabei aber in derselben Weise wie das Verhalten der Bewohner Andorras, das Frisch in seinem Stück kritisiert.58 Auch in Frischs früher Prosa finden sich mitunter Klischees und Stereotype über Juden.59 Diesen biografischen Bezügen entsprechend weist das Stück zahlreiche augenfällige Analogien zwischen dem fiktionalen Andorra und der realen Schweiz während des Zweiten Weltkriegs auf. So erscheint die Bedrohungslage des kleinen Landes, das von einem großen, antisemitischen Nachbarland besetzt wird, als Parallele zur historischen Situation der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Mit dieser Lage war Frisch nur zu gut vertraut, da er als Soldat in jener Zeit direkt mit der unmittelbaren Erwartung einer deutschen Invasion konfrontiert war. Zudem tragen fast alle Charaktere des Stücks Namen, die Frisch aus dem Räto 56 Ebd., 210. 57 Andreas B. Kilcher, Max Frisch, Berlin 2011, 23–25. 58 Elsaghe, Max Frisch und das zweite Gebot, 112–115. 59 Ebd., 126–130.

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romanischen, einer der vier Amtssprachen der Schweiz, entnahm.60 Das Rätoromanische wird im Kanton Graubünden gesprochen – dort wo Frisch einen Teil seines Militärdiensts absolvierte.61 In der Figur des Lehrers Can legte Frisch gar sein Alter Ego an: Wie Frisch nimmt Can für sich in Anspruch, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Dabei ist die Bühnenfigur gänzlich frei von Antisemitismus. Can hatte sich von Andris Mutter getrennt, da Beziehungen mit Personen aus dem Land der »Schwarzen« in Andorra verpönt waren. Darin hallt Frischs Beziehung zu Käthe Rubensohn nach, einer Jüdin aus Berlin, die 1938 in die Brüche ging und die Frisch auch in seinem Roman Homo faber thematisierte.62 Die eindeutigen Bezüge zur Schweiz stellte Frisch auch selbst heraus. So bilanzierte er 1976, dass das Stück »das schweizerische Publikum getroffen« habe. Dies sei nicht »unbeabsichtigt« erfolgt: Frisch erklärte Andorra retrospektiv zu »eine[r] Attacke gegen das pharisäerhafte Verhalten gegenüber der deutschen Schuld« und gegen den »tendenzielle[n] Antisemitismus« in der Schweiz.63 Zudem hatte er zwischen den Bildern in Andorra Szenen an der »Zeugenschranke« kreiert. An dieser geben die Figuren im Nachhinein Auskunft, beteuern ihre Unschuld, berufen sich auf Befehle oder gestehen eine Mitschuld ein. Die Parallelen zum Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen in der frühen Bundesrepublik werden dabei in den Formulierungen deutlich. So erinnert der Satz des Soldaten »Ich habe nur meinen Dienst getan«64 an Aussagen in Nachkriegs­ prozessen. Die Unschuldsbeteuerungen scheinen hingegen den Spruchkammern der deutschen »Entnazifizierung« entsprungen. Neben den historischen Bezügen beinhaltet die Stückanlage auch christlich geprägte Elemente. Es erinnert mit seinen zwölf Bildern an die Stationendramen des Expressionismus und deren Vorgänger, den Mysterien- und Passionsspielen. Als Geschichte des Leidenswegs der Hauptfigur erscheint gar das Stück selbst als ein Passionsspiel, was durch zahlreiche Anklänge an christliche Topoi hervorgehoben wird.65 So gibt es in Andorra, vernachlässigt man jene Figuren, die stumm bleiben und im Personenverzeichnis gesondert aufgeführt sind, zwölf handelnde Personen. Andris Berufswunsch des Tischlers evoziert direkt die Profession­ Jesus’. Und Zeitangaben, wie das zweimalige Schlagen der Turmuhr im zweiten Bild oder das Krähen von Hähnen im sechsten Bild, verweisen schließlich auf das Markusevangelium.66 Im Verlauf der Handlung wird vorgeführt, wie die Bewohner des fiktiven Landes ihre eigenen als negativ wahrgenommenen Eigenschaften

60 Ebd., 95–97. 61 Ebd., 96. 62 Ebd., 98–111. 63 Frisch, Antworten auf Fragen von Ernst Wendt, 19. 64 Ders., Andorra, 503. 65 Elsaghe, Max Frisch und das zweite Gebot, 68. 66 Ebd., 69 f.

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auf Andri übertragen. Während sich der Selbsthass der Umgebung in Andri bündelt, wird er zum Opfer. Er stirbt gleichsam stellvertretend als Konsequenz der Diskriminierung durch seine Umwelt für seine Mitmenschen und erinnert darin an Jesus Christus. Indem er zwar in der Annahme lebt und stirbt, er sei Jude, dies jedoch tatsächlich nicht ist, erscheint das jüdische Leid von ertragener Zurücksetzung und Verfolgung bis hin zur Ermordung im Holocaust in eine christlich geprägte Leidensgeschichte übertragen. Alles Mitgefühl wird dabei auf den Protagonisten gelenkt, der als Identifikationsfigur dient.67

Kortners Andorra Andorra bedeutete für Frisch den endgültigen Durchbruch in der Bundesrepublik Deutschland, bis 2006 erlebte das Stück über 300 Inszenierungen.68 Bereits wenige Jahre nach den ersten Aufführungen wurde der Text zudem Schul­lektüre.69 Unter den frühen Produktionen ragte vor allem jene des Berliner Schiller-­ Theaters unter der Regie von Fritz Kortner heraus, die am 23. März 1962 Premiere feierte. Im Vergleich mit anderen Inszenierungen des Stücks wurde ihr besondere Wertschätzung zuteil – und dies, obwohl sie erst zwei Monate nach den deutschen Erstaufführungen in Düsseldorf und München zu sehen war.70 Kortner hatte zunächst Vorbehalte gegen den Text geäußert. So berichtete der Kritiker und Journalist Joachim Kaiser, dass Kortner zunächst der Meinung war, dass das Stück durch einen nichtjüdischen Regisseur inszeniert werden sollte.71 Zwar übernahm er schließlich die Regie, doch eine eigene, unabhängige Interpretation des Stücks konnte er nicht durchsetzen, da er vertraglich auf den Stücktext festgelegt worden war. Rückblickend schrieb er 1967 in einem nicht abgesandten Brief an Max Frisch in Bezug auf Andorra: »Sie wissen, daß ich damals einen Revers unterschreiben mußte, daß ich nichts an Ihrem Stück verändern würde.«72 So musste er es unterlassen, dem Bühnenwerk durch eine eigene Interpretation und starke Veränderungen in der Inszenierung eine spezifische Stoßrichtung zu verleihen. Dennoch setzte er Akzente. Entgegen der ­Züricher ­Uraufführung, die 67 Ebd., 78 f. 68 Ebd., 67. 69 Peter H. Mardsen, In einem andern Land? Max Frischs »Andorra« als Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung. Mit einigen Anmerkungen zum Frankfurter Theaterskandal um Rainer Werner Fassbinders Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod«, in: Hans Otto Horch (Hg.), Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur, Tübingen 1988, 419–448, hier 441. 70 Günther Rühle, Theater in Deutschland 1945–1966. Seine Ereignisse – seine Menschen, Frankfurt a. M. 2014, 892 f. 71 Joachim Kaiser, Verdammte in Andorra, in: Das Schönste, Nr. 7, Juli 1962, 15–17, hier 16. 72 Fritz Kortner an Max Frisch, 21. September 1967, Max Frisch-Archiv, Zürich. Für den Hinweis danke ich Margit Unser vom Max-Frisch-Archiv an der ETH Zürich.

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Klaus Kammer als Andri (l.) und Wilhelm Borchert als Pater in der Inszenierung von Max Frischs Drama Andorra durch Fritz Kortner, Berliner Schiller-Theater 1962.

plakativ den Antisemitismus von Andris Umgebung ausstellte, oder der Münchner Inszenierung, die den Antisemitismus durch die Fixierung auf Andris private Tragödie in den Hintergrund rückte, ließ Kortner die Bewohner Andorras zunächst eher gutmütig erscheinen. Sie führten ihre Invektiven mit einer »un­ bewußte[n] Selbstverständlichkeit« aus, und wurden auf diese Weise nicht dämonisiert.73 Andri hingegen wurde nicht dargestellt, als hätte er sich für ein heroisches Leiden entschieden, er war kein »mitleiderregendes Opfer«.74 Klaus Kammer spielte die Figur so, dass sie mit zunehmender Diskriminierung an Schroffheit und Nervosität gewann.75 In dieser Konzeption erinnerte sie an die jüdischen ­Figuren, die Kortner Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre selbst gespielt hatte. 73 Kaiser, Verdammte in Andorra, 16. 74 Ebd. 75 Ebd.

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Entsprechend der vorsichtigen Akzentuierung unter Kortners Ägide wurde auch in den Rezensionen zur Premiere die zurückhaltende Regiearbeit gelobt. Zahlreiche Theaterkritiker betonten das leise Spiel der Schauspieler, die jede Äußerung nuanciert betont und durch ihr zuweilen distanziertes Spiel eine überzeugende, eindringliche Wirkung erzielt hätten.76 Dass Kortner sich weitgehend der eigenen Interpretation des Stücks und der Symbolik enthalten habe, wurde dabei positiv vermerkt. So halte Kortner Frisch nicht wie sonst anderen Dichtern vor, »was der noch alles versäumt habe zu dichten und zu denken«.77 Dass er die Soldaten der »Schwarzen« in der »Judenschau« in mittelalterlichen Rüstungen auftreten ließ, fand Anklang: »Vornehm hat Kortner jede sich anbietende An­ spielung auf die SS, überhaupt jede knarrende Uniformseligkeit unterlassen.«78 Regieeinfälle noch so geringer Art wurden akribisch benannt. So verwies der Theaterkritiker Hellmut Kotschenreuther darauf, dass Kortner »den Opportu­ nismus und die latente Bösartigkeit der Andorraner« zu Beginn etwas stärker herausstelle als der Autor, dass sich der Himmel während des Stücks beständig verdüstere und bei jedem Szenenwechsel die Kirchenglocke schlage, aber in der letzten Szene stumm bleibe. Dies seien »Einfälle, die sich zwar bei Frisch nicht finden, die aber einem ausdeutenden und szenisch verdichtenden Regisseur gestattet sein müssen.«79 So wurde das Ausbleiben von größeren Änderungen durch den Regisseur Kortner zu einer Leistung stilisiert und als Indiz dafür verstanden, dass die Inszenierung der Autorenintention entspräche.80 Die Besprechungen zu Kortners Inszenierung sind von Hinweisen auf den konkreten historischen Bezug des Stückes ebenso gekennzeichnet wie von seiner Modellhaftigkeit. So schrieb Herbert Ihering, dass Frisch »eine epische Fabel« erzähle, »die er zugleich psychologisch dramatisiert«.81 Den offensichtlichen Widerspruch zwischen einem antiaristotelischen Theater im Sinne Brechts, das durch Verfremdung und Abstraktion zur Reflexion des Zuschauers führen soll, und der psychologischen Einfühlung, die die Identifikation der Zuschauer ermöglicht, erachtete er allerdings nicht als Nachteil. Vielmehr sah er das Stück und die Inszenierung als »Meisterwerk«, das sich in einem »Überall-und-Nirgends-Land« abspiele, sich dabei aber »deutlich auf den deutschen Antisemitismus der Hitlerjahre« beziehe.82

76 Siehe exemplarisch Pfeiffer, Im Parkett saß die Schuld sowie Heinz Ritter, Wo liegt­ Andorra?, in: Der Abend, 25. März 1962. 77 Karena Niehoff, »Andorra« unter Kortner, in: Stuttgarter Nachrichten, 28. März 1962. 78 Ebd. 79 Hellmut Kotschenreuther, Die Zuschauer mußten sich identifizieren, in: Der Mittag. Düsseldorf, 28. März 1962. 80 Hdt, Mit unheimlicher Arglosigkeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. März 1962. 81 Herbert Ihering, Max Frisch und Fritz Kortner, in: Die Andere Zeitung, 5. April 1962. 82 Ebd.

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Diese duale Anlage zwischen konkreten zeithistorischen Bezügen und Universalisierung ermöglichte es den Zuschauern einerseits zu behaupten, dass sie sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen würden, während sie die­ Beschäftigung mit der eigenen Geschichte andererseits auf das abstrakte »Modell­ Andorra« verschieben konnten. So assoziierte ein Rezensent das fiktive Andorra – für ihn der »Inbegriff des Friedens, der Freiheit und der Menschenrechte« – mit der Schweiz, während er in dem Land der »Schwarzen« das nationalsozialis­tische Deutschland erkannte.83 Trotz des konkreten zeithistorischen Bezugs erschien demselben Kritiker aber der Plot des Stücks als universelle Darstellung von Vorurteilen. So führe das Bühnenwerk »das reibungslose Funktionieren des Mechanismus aus Dummheit, Vorurteil und Arroganz auf der einen, verfolgenden und Trotz und Haß auf der anderen, verfolgten Seite vor«.84 Dieser »Mechanismus« werde hier am Antisemitismus vorgeführt, sei »jedoch auch an jeder anderen Verfemung des je Anderen, Besonderen, von der Masse Unterschiedenen aufweisbar«.85 Ein anderer Theaterkritiker ordnete in ähnlicher Weise den thematisierten Antisemitismus in die »Minderheitenvernichtung überhaupt« ein – gleichsam als sei der systematische Massenmord an den europäischen Juden ein Ereignis­ unter vielen gewesen.86 Andere Rezensenten betonten hingegen die Bezüge zur nationalsozialistischen Vergangenheit und zu dem Umgang damit im Nachkriegsdeutschland, die dem Publikum nicht verborgen bleiben konnten. So erwähnte etwa Heinz ­Ritter, dass Frisch zwar »die Rassendiskriminierung jeglicher Färbung« zu treffen beabsichtigte, aber »sich kein Publikum getroffener fühlen [könne] als das deutsche«, da der Antisemitismus »unter deutschem Vorzeichen am schrecklichsten« gewuchert hatte.87 Dementsprechend sah er auch in den Szenen an der »Zeugenschranke« direkte Bezüge zur sogenannten Entnazifizierung in Deutschland und bemerkte dazu lakonisch: »Die ›Entnazifizierung‹ findet nur gute Bürger.«88 Auch das Publikum reagierte ganz unterschiedlich auf Kortners Inszenierung. So berichtete die deutsch-jüdische Journalistin Karena Niehoff, dass ein junger Zuschauer nach der Aufführung sagte: »Und das alles, wo er doch gar kein Jude war«, was sie zu der Einlassung bewegte: »Was für ein beklemmendes Miß­ verständnis: Wie denn stände es wohl anders mit dem Unrecht, wenn er nun doch ein Jude gewesen wäre?«89 Der Protagonist Andri wurde in den Augen dieses Zuschauers zur tragischen Gestalt, die nur aufgrund eines unglücklichen Zufalls

83 Grack, Andorra ist überall. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Pfeiffer, Im Parkett saß die Schuld. 87 Ritter, Wo liegt Andorra? 88 Ebd. 89 Niehoff, »Andorra« unter Kortner.

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ermordet wurde. Ein anderer Rezensent berichtete über die vollkommene Verdrängung der deutschen Verbrechen, die sich bei einer Zuschauerin während einer Aufführung von Kortners Inszenierung auf den Ruhrfestspielen zeigte: »›Entsetzlich‹ stöhnt eine Dame neben mir, während der ›Judenschau‹ am Schluß. Sie kann es einfach nicht glauben, was da jetzt vor ihren Augen geschieht, was sie sich nie auszudenken wagte und auch heute noch nicht vorzustellen vermag. Auf den Hinweis, die Wirklichkeit sei noch entsetzlicher gewesen, antwortet sie fassungslos nur: ›Wirklich?‹«90

In dieser Äußerung spiegelt sich die in der frühen Bundesrepublik allgegenwärtige Ausblendung des Holocaust aus dem historischen Gedächtnis wider. Dennoch trug auch das noch so ambivalente Stück dazu bei, Diskussionen über die systematische Vernichtung der europäischen Juden zu befördern. Insofern erscheint dies als Parallele zur Wirkung des Theaterstücks Das Tagebuch der Anne Frank von 1955, das trotz seiner problematischen Anlage öffentliche Diskussionen und eine Beschäftigung mit dem Holocaust beförderte, indem es das Thema 1956 erstmals auf westdeutsche Bühnen brachte.91 Dass Kortner mit dem Ensemble des Berliner Schiller-Theaters die zu dieser Zeit renommiertesten Schauspieler Berlins zur Verfügung hatte, mag ebenfalls zum Erfolg der Inszenierung beigetragen haben. So übernahm mit Klaus Kammer einer der bekanntesten jungen Schauspieler Deutschlands die Rolle des Andri. Kammer wurde seit den 1950er Jahren für sein als nervös beschriebenes Spiel gefeiert und in einem Atemzug mit Klaus Kinski genannt. In Kortners Andorra erschien er als Identifikationsfigur und wurde für seine außerordentliche schauspielerische Leistung gefeiert. Er hatte bereits 1956 in der Inszenierung der Bühnenbearbeitung von Das Tagebuch der Anne Frank am Berliner Schloßpark-Theater die Rolle des Peter übernommen, eines jüdischen Jungen, der sich mit seiner Familie gemeinsam mit der Familie Frank vor den Nationalsozialisten versteckt hielt.92 Die Assoziation mit dieser Rolle begleitete ihn nun auch in der Inszenierung von Andorra und prägte die Wahrnehmung seiner Figur beim Publikum.93 So schrieb der Theaterkritiker Hannes Schmidt: »Im Grunde ist der junge Andri, obwohl ein Bruder der Anne Frank, einsamer und noch verlorener als sie. Ihn trägt am Ende keinerlei lebendige Gemeinschaft mehr, nur der Gedanke an die

90 Hannes Schmidt, Spiegel des Judas für jedermann, in: Neue Rhein-Zeitung Düsseldorf, 14. Juni 1962. 91 Anat Feinberg, Wiedergutmachung im Programm. Jüdisches Schicksal im deutschen Nachkriegsdrama, Köln 1988, 18–20. 92 J. J., Das Tagebuch der Anne Frank, in: Die Zeit, 4. Oktober 1956, 4. 93 Zum Phänomen der Prägung der Wahrnehmung einer Inszenierung durch vorherige Rollen und Assoziationen beim Publikum siehe Marvin Carlson, The Haunted Stage. The Theatre as Memory Machine, Ann Arbor, Mich., 2003.

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Schicksalsgemeinschaft aller zuvor Geopferten«.94 In dem Verweis auf die Bühnenproduktion von Das Tagebuch der Anne Frank, das mit einem Plädoyer A ­ nnes für das Gute im Menschen endet, scheint ein maßgeblicher Aspekt auf, der zum Erfolg von Kortners Andorra beitrug: Beide Stücke sind auf die Identifikation des Publikums mit der Hauptfigur angelegt, die den Zuschauern ähnelt  – ein Muster, das sich in zahlreichen erfolgreichen Theaterstücken und Filmproduktionen findet, die Antisemitismus und den Holocaust thematisierten.95 Während in Das Tagebuch der Anne Frank die Identifikation mittels einer Protagonistin hergestellt wird, die der Umgebungsgesellschaft gleicht und ihre intimen Sorgen, Wünsche und alltäglichen Fragen in ihrem Tagebuch teilt, kommt sie in Andorra durch die Zuspitzung auf eine christlich imprägnierte Figur des stellvertretenden Leidens zustande, die letztlich kein Jude ist. So erkannte ein Rezensent von ­Kortners Inszenierung trotz der universellen Gültigkeit des Stücks eine spezifische »Betroffenheit« des deutschen Publikums.96 Das Stück helfe dabei, »Vergangenheit zu bewältigen«, indem es zu einer »Katharsis des noch­ maligen Durch- und Mitleidens« führe.97 Auf diese Weise konnte jüdisches Leiden zum Leiden der Deutschen umgedeutet werden. Diese vermeintlich kathartische Wirkung wurde auch von zahlreichen anderen Besprechungen hervorgehoben. Gleichwohl gab es auch kritische Stimmen, die erkannten, dass – wie Wicclair es formulierte – »auch die, die vor Scham heulen sollten, applaudiert« hatten. So sah Herbert Pfeiffer den Grund des großen Beifalls bei der Premiere in der H ­ altung des Publikums: »Im Parkett saß die Schuld. Im Parkett saßen viele Muster für Frischs Andorraner. Das war der Grund des starken Beifalls. Man wollte sich ›frei­ sprechen‹ und klatschte.«98

Schlussbemerkungen Mit Andorra versuchte Max Frisch, das Augenmerk auf die Schuld von Mit­läufern und Zeugen zu lenken. Doch die ambivalente Anlage des Stücks und seine im Vergleich zu zahlreichen anderen Produktionen nahezu konservative Umsetzung durch Kortner führten zu einer zwiespältigen Rezeption. In dieser bilden sich die Grundlinien des Umgangs der bundesrepublikanischen Bevölkerung mit dem Nationalsozialismus bis in die frühen 1960er Jahre ab. So herrschte in der Ära Adenauer oftmals die Tendenz vor, die nationalsozialistischen Verbrechen 94 Schmidt, Spiegel des Judas für jedermann. 95 Andreas Huyssen, The Politics of Identification. »Holocaust« and West German Drama, in: New German Critique 19 (1980), H. 1, 117–136. 96 LM, Tragödie des Rassenwahns, in: Spandauer Volksblatt, 25. März 1962. 97 Ebd. 98 Pfeiffer, Im Parkett saß die Schuld.

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aus­zublenden. Adenauer selbst setzte eher auf Integration denn auf Gerechtigkeit und Bestrafung der Täter. Wenn der Massenmord an den Juden zur Sprache kam, wie im Zuge des Einsatzgruppen-Prozesses in Ulm 1958 oder des EichmannProzesses von 1961, dann wurde er vornehmlich auf Hauptkriegsverbrecher wie­ Eichmann bezogen.99 Kortners Andorra-Inszenierung vermochte es, sowohl diese Tendenzen als auch jene Stimmen zu bedienen, die dem Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kritischer gegenüberstanden. Sie wurde von unterschiedlichen Beobachtern als Anklage gegen alle Mitläufer, als abstraktes Modell, das den Nationalsozialismus als weit entferntes Geschehen betrachtete, oder auch als »kathartische« Erfahrung verstanden. Dabei wurde Kortners Person und seine Lebensgeschichte als Bürge für die jeweilige Sichtweise wahrgenommen. So betonte einer der Rezensenten, dass es der Inszenierung überaus zuträglich war, »daß es gerade Fritz Kortner auf sich nahm, das schweizerische Gleichnis der auch von ihm selbst erlittenen Judenverfolgung auf der wichtigsten Berliner Bühne in Szene zu setzen«.100 Kortners Biografie avancierte so zu einem Ausweis der Korrektheit der Inszenierung und der eigenen Wahrnehmung. Im Lichte dieser schien Kortner in den Augen mancher Beobachter gewandelt: »Da stand kein entflammter Rächer, kein Shylock, der auf seinem Rechtsanspruch beharrt, sondern ein milde gewordener, resignierender, aber nicht etwa kraftloser Meister seines Fachs, der den untilgbaren Gram seines Lebens in sich verkapselt und der Bühnenwelt noch soviel zu geben sucht, wie er bis zu aller Tage Abend vermag.«101

Der offensichtliche Bezug zu Kortners sonstigen Theaterarbeiten unterstreicht die Abweichung der Andorra-Inszenierung von diesen – was sich auch an ihrem Erfolg ablesen lässt. Wenn Kortner das bundesrepublikanische Publikum wie in zahlreichen anderen Theaterarbeiten direkt mit der nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontierte, reagierte dies überwiegend mit schroffer Ablehnung und Kritik. Seine Andorra-Inszenierung wirkte auf die Zuschauer hingegen aufgrund ihrer ambivalenten Anlage versöhnlicher, da sie auch die Möglichkeit der Identifikation mit dem Opfer und der Verdrängung der eigenen Schuld bot. In dieser Konstellation verweist sie auf die Rolle jüdischer Theaterkünstler bei der Thematisierung des Holocaust auf westdeutschen Bühnen der 1950er und frühen 1960er Jahre. Sie schienen wie Kortner die Erinnerung an die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung der Juden zu verkörpern. Doch zahlreiche jüdische Theaterkünstler, die Konzentrationslager überlebt hatten, wie Fritz 99 Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Ära Adenauer siehe Jeffrey Herf, Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland, Berlin 1998, 317–394. 100 Wolfgang Schimming, Kortners »Andorra«, in: Allgemeine Zeitung, 25. März 1962. 101 Ebd.

Andorra in Deutschland

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Wisten, oder aus dem Exil zurückkehrten, wie Ernst Deutsch, mieden in der unmittelbaren Nachkriegszeit die Konfrontation des Publikums mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. In ihren Theaterarbeiten schienen sie oftmals die Verdrängung der deutschen Schuld zu bestätigen und avancierten zu Figuren der Versöhnung.102 Wer hingegen in seiner Theaterarbeit Antisemitismus und den Holocaust direkt thematisierte, stieß oftmals auf heftige Ablehnung – dies betraf neben Kortner auch Walter Wicclair, der nach zahlreichen Enttäuschungen 1963 wieder in die Vereinigten Staaten zurückkehrte.103 Insofern stand Andorra der Intention von Kortners sonstiger Theaterarbeit entgegen und hatte gerade des­ wegen so breiten Erfolg. Georg Kreisler, der jüdische Komponist, Schriftsteller und Kabarettist, schrieb denn auch in einem Entwurf für ein Vorwort zu seiner beißenden Parodie auf Frischs Stück mit dem Titel Sodom und Andorra: »Dass der grossartige Fritz Kortner diesen bösartigen Mischmasch in Berlin inszenierte, zeigt, wie sehr es ihm trotz allem ums Theater und wie wenig es ihm um Literatur ging.«104

102 Anat Feinberg, The Joy of Breaking Taboos. Jews and Post-War German Theater, in:­ Nahshon (Hg.), Jews and Theater in an Intercultural Context, 277–296, hier 278–282. 103 Asper, Walter Wicclair (1901–1998), 6. 104 AdK, Berlin, Georg-Kreisler-Archiv, Nr.  217, Georg Kreisler, Vorwort zu Sodom und­ Andorra, 3.

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Two Languages, One Text Cultural Translation in Iraqi Jewish Fiction “I envy those writers who experience their infancy, kindergarten years, first love and its disappointments, writing their first literary lines and summing up magnum opus in the same country, in the same language, in the same culture.”1

One night after returning home late from work, Shimon Ballas (b.  Baghdad, 1930), one of the most prominent Iraqi-Jewish authors of the 20th century, picked up a book in Arabic by Taha Ḥussein (1889–1973), an important Egyptian writer and influential leader of the Arab Renaissance at that time, as if to look for something. After he was done with the book and had turned the light off getting ready for sleep, he was suddenly confronted with  a huge number of Arabic words, phrases and poems that attacked his mind, preventing him from falling asleep that night. “This was the revenge of Arabic,” he described the situation later, “as I turned my back on my mother tongue.”2 Years before, Ballas had decided neither to listen to Arabic radio stations any longer nor to read anything written in the Arabic language in order to write his first novel in Hebrew: He had wanted to cast off Arabic, forget it, and delve deeply into Hebrew, to adopt it as his primary language. The suppression of his mother tongue continued for about two years, by which he hoped to establish a suitable and appropriate atmosphere for writing his first book in Hebrew, the novel Ha-maʻbara (The Transit Camp).3 It turned out to be the first novel written in Hebrew by an Iraqi Jew in Israel. The story above represents an autobiographical account of Ballas’ inner conflict over the act of choosing a language at the beginning of his literary career in Israel. However, the experience of writing in a second language characterizes an entire group of Iraqi-Jewish authors in Israel. It is arguably more natural to reflect on a country or society using its native language, since localities, common historical events and cultural idioms are more easily portrayed when they are dealt with in the language of their origin. This applies not only to the writing process, but 1 Sami Michael, On Being an Iraqi-Jewish Writer in Israel, in: Prooftexts 4 (1984), 23–33, here 23. 2 Shimon Ballas, Be-guf rishon [First Person Singular], Tel Aviv 2009, 75. 3 This was during the late 1950s–early 1960s, as the novel Ha-maʻbara was published in 1964.

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also to the way in which these cultural patterns are perceived by a native reader. Writing in a non-mother tongue requires immigrant authors to engage in a process of translating cultural patterns, including idioms, folk sayings, songs, poems and even names of localities. This is not only valid for the Iraqi/Israeli paradigm, but rather describes the challenges any immigrant author faces in trying to portray his or her country of origin and its culture by adopting a new language.4 In the case of Israeli literature, this holds true for several Iraqi-Jewish writers, such as Shimon Ballas and Eli Amir (b. Baghdad, 1937), both of whom emigrated from Iraq to Israel in the early 1950s. Having lived in Iraq during their childhood and youth, Arabic was the mother tongue of Ballas and Amir. When they arrived in Israel, they had to learn Hebrew, which was in the process of becoming the dominant language. Although they had studied Hebrew in Jewish schools in Iraq, they were unable to communicate with “veteran” Jews; the modern H ­ ebrew spoken in Israel at the time was different from what Iraqi Jews had been taught in Jewish schools before emigration. Therefore, the two authors had to acquire ­Hebrew as  a second language in Israel; furthermore, they felt that they had to write in Hebrew if they were to pursue successful literary careers there. None­ theless, Arabic still appears in their literary works. Indeed, the cultural translation of Arabic and Oriental traditions can be considered one of the most important linguistic, literary and cultural features of their literary output.5 This article explores the strategies used by Iraqi-Jewish authors in their process of translating Iraqi and Arabic cultural patterns into Hebrew. It also discusses the problems of transmitting some of these cultural patterns to Israeli readers who were not familiar with the Arabic linguistic and cultural background.

4 See the recent studies on migration literature, for example the special Volume of Contemporary Literatures 47 (2006), no. 4: Rebecca L. Walkowicz (ed.), Immigrant Fictions. Contemporary Literature in an Age of Globalization; Sandra Ponzanesi/Daniela Merolla (eds.), Migrant Cartographies. New Cultural and Literary Spaces in Post-Colonial Europe, Lanham et al. 2005. 5 There is a considerable number of studies that deal with the literary works of Iraqi-Jewish authors; see e. g. Nancy E. Berg, Exile from Exile. Israeli Writers from Iraq, Albany, N. Y., 1996, which approaches Iraqi-Jewish novelists as writers in exile after their immigration to ­Israel. Nancy Berg also published a volume dealing with the literary works of Sami Michael, see idem, More and More Equal. The Literary Works of Sami Michael, Lanham, Mass., 2005. See also Reuven Snir, ʻArviyut, Yahadut, Tsiyonut. Ma‘avak zehuyot bi-yetsiratam shel Yehudei I‘rak [Arabness, Jewishness, Zionism. A Clash of Identities in the Literature of Iraqi Jews], Jerusalem 2005, an important study in the field, focusing on the literary works of Iraqi Jews written either in Arabic or in Hebrew. Stefan Siebers discusses the transcultural issues in Iraqi-Jewish literary works, see idem, Der Irak in Israel. Vom zionistischen Staat zur transkulturellen Gesellschaft, Göttingen 2010. Recently Lital Levy wrote about the question of language in the literary works of first, second and third generation Mizrahi Jews in Israel and the issue of writing in Hebrew by Palestinian Israelis, see idem, Poetic Trespass. Writing between Hebrew and Arabic in Israel/ Palestine, Princeton, N. J., 2014.

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First, I will sketch the cultural biography of both Shimon Ballas and Eli Amir and analyze their most prominent novels, that is Ballas’ Ha-maʻbara (The Transit Camp, 1964) and Amir’s Mafriah ha-yonim (Farewell Baghdad, 1992). In the second part of the paper I investigate processes of cultural translation within the two novels. It focuses on the question to what extent Iraqi-Jewish authors were able to translate Arabic and Iraqi/Baghdadi cultural idioms and terms into m ­ odern Hebrew.

The Authors and Their Novels: Shimon Ballas and Eli Amir “From time immemorial, even during my childhood in Baghdad, I have learnt from my parents and my family, from my teachers and my childhood heroes that there is  a possibility to create  a synthesis between the two cultures where I grew up.”6

Long before their immigration to Israel, Iraqi Jews were well integrated into the social, political and cultural life in Iraq and had adopted an Iraqi national identity.7 Arabic and Jewish culture were both shared aspects of their own belonging. Shimon Ballas was born on March 6, 1930, into a small Iraqi Jewish family in Baghdad. From childhood on he showed an interest in writing and was keen to note every story he heard at home.8 The first short story written by Ballas was in Arabic, a detective story entitled “al-Qatl al-Ghāmid” (The Mysterious Murder). Unfortunately, this literary piece, among others, was burned by Ballas shortly before his emigration to Israel. Ballas was brought up in a middle-class family that lived in the Christian quarter of Baghdad. He was instructed at the Alliance ­Israélite Universelle school in Baghdad, which made him dream of studying in France. However, despite being included on a list of Iraqi students accepted by the Sorbonne for graduate studies in the late 1940s, he did not travel to Europe. This was because at that same time, Ballas had put his name on another list, that of the many Iraqi Jews who wished to leave Iraq after the establishment of the State of Israel in 1948 and the subsequent deterioration of Iraqi-Jewish relations in its

6 Eli Amir, Ani hay be-harmoniya ben ha-tarbuyot ve-sho‘ef le-sinteza ben mizrah lemaʻrav [I Live Harmoniously between Cultures, and I Aspire to a Synthesis between East and West], in: Kivunim Hadashim 14 (2006), 103–110, here 109. 7 See, for instance Moshe Gat, The Jewish Exodus from Iraq, 1948–1951, London 1997, 12–16; Yūsuf Rizq Allāh Ghanimah, Nuzhat al-mushtāq fī tārīkh Yahūd al-ʻIrāq [A Nostalgic Trip into the History of the Jews of Iraq], Baghdad 1924, 183–185 [Engl. translation by Reading A. Dallal, ed. by Sheila Dallal, Lanham et al. 1998]. 8 Ammiel Alcalay (ed.), Keys to the Garden. New Israeli Writing, San Francisco, Calif., 1996, 62 f.

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aftermath. It was only some 20 years later that Ballas finally received an academic degree from the Sorbonne, his Ph.D.9 During the first period of his post-immigration life in Israel, Ballas remained closely attached to his Iraqi background. He tried hard to preserve his sense of cultural belonging, including the language: “I have really kept my roots up, and in my early years in Israel there was not any doubt in my heart that ­Arabic would continue to be the language of my writings.”10 Yet the shift to ­Hebrew was essential for Ballas in order to be integrated into Israeli society. ­Ballas started learning Hebrew through reading journals with the help of  a dictionary, as well as by means of language practice with native Israelis. Ballas then began to mimic A ­ shkenazi pronunciation.11 Yet, he came to regret this and later use only Mizrahi pronunciation.12 It is important to mention that ­Ballas’ intent to learn Hebrew was to “narrow the gap between the Israeli public and the Arabic world,”13 a goal he also aimed to achieve by joining the Israeli Communist Party. Already in the early 1950s Shimon Ballas had become a member of the Club of Friends of Arabic Literature in Israel, which included Sasson Somekh (b. Baghdad, 1933), David Semah (b.  Baghdad, 1934–1997), and other Iraqi Jews. The members of this group gathered regularly and discussed, among other things, the future and potential of Arabic language and literature in a predominantly Hebrew society. Debates about the decision to write in Hebrew were common among the groups members at the time and left an imprint on later generations of Iraqi Jews in Israel.14 Born in Baghdad in 1937, Eli Amir is seven years younger than his fellow IraqiJewish writer Shimon Ballas. Amir arrived in Israel at the age of 13. Due to his Zionist aspirations, Amir was able to integrate relatively easy into Israeli society. During the 1970s he worked as a journalist for Bma‘arakha, the journal of the 9 Later published as: Shimon Ballas, Sifrut ha-‘Arvit be-tsel ha-milhamah [Arab Literature Under the Shadow of War], Tel Aviv 1978. 10 Ballas, Be-guf rishon, 43 f. 11 This appeared, for instance, in the way that some Hebrew consonants like /r/, /ʻAyn/ and /ḥ/ were differently pronounced in Mizrahi and Ashkenazi spoken language. 12 Ballas’ literary works explore the experience of being torn between two languages, two worlds and two cultures, esp. in his Tel-Aviv East trilogy. See Mohamed Ahmed/Ashraf Elsharkawy, Tel Aviv Mizrah. The Potential of Iraqi Cultural Identity within Two Generations, in: Journal of Modern Jewish Studies 14 (2015), no. 3, 430–445. See also on this issue in Ballas’ other literary works Reuven Snir, “We Were Like Those Who Dreamˮ. Iraqi-Jewish Writers in Israel in the 1950s, in: Prooftexts 11 (1991), 153–183; Shimon Ballas, Ani mekasher ben hatarbut ­ha‘aravit la‘ivrit [I Link between Arabic and Hebrew Cultures]. An Interview with Jacob Beser, in: Iton 77 (1998), no. 218, 10–12; Reuven Snir, Boded bemo‘do. Shimon Ballas vekanon ha-sifrut ha‘ivrit [Shimon Ballas and the Canon of Hebrew Literature], in: ibid., 16–21; Ibrahim Taha, Kefelut ve-hitkaplut [Duplications and Acceptance], in: ibid., 22–28. 13 Ballas, Be-guf rishon, 45. 14 Ibid., 44–46.

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I­ nternational Federation of Sephardic Jews, where he wrote in Hebrew on issues related to emigration to Israel and integration of immigrants. Amir was employed in the Ministry of Aliyah and Immigrant Absorption and was responsible for its youth immigration department. Accordingly, the Zionist narrative is employed more thoroughly in Amir’s literary works in comparison to Ballas. Amir chose to write only in one language, namely Hebrew, unlike Ballas, who wrote in Arabic at the beginning of his literary career in Israel. At the same time, however, Amir studied Arabic language and literature at the Hebrew University of Jerusalem.15 Having grown up in the ma‘bara, the transit camps for Jewish immigrants, in the 1950s and later moving to  a kibbutz, Amir drew upon personal experience in his first Hebrew novel Tarnegol Kaparot (Scapegoat, 1984).16 He wanted to provide here an example of potential co-existence between Arabic and Hebrew, Iraq and Israel. His protagonist Ibn-ʻArab, “the son of Arabic culture,” is the first figure in Modern Hebrew fiction to maintain this model of cultural fusion. Ibn-‘Arab exemplifies the model Amir himself claimed to aspire to: He represents the usage of two languages as well as the attempt to find harmony between two different cultures.17 Even if what Amir tries to employ in his writings is quite far from reality, it can at least be achieved through literature, as fiction enables new patterns of imagination. These two authors’ novels constitute  a poetic space in which various forms of belonging — both Jewish and Arabic — can find expression and be considered equal. This multi-layered form of belonging is common to their writing, and despite the biographical difference between Ballas and Amir, there are some shared elements in their literary texts. Ballas’ novel Ha-maʻbara (The Transit Camp, 1964) follows the narrative of Iraqi Jews who encounter hardship and difficulties in terms of work, food, medical care while living in  a fictional Israeli transit camp called Oriya.18 The main character in the novel is Yusuf Shabi, an intellectual who accepts responsibility for the house where his mother and brother Said live without the absent husband and father. The miserable life in Oriya reaches its peak with the failure of Na‘īm al-Khabāz’s wife to give birth due to the unpaved streets, which prevents 15 On Eli Amir, see Reuven Snir, s. v. “Amir, Eli,” in: Sorrel Kerbel et al. (eds.), Jewish Writers of the Twentieth Century, New York/London 2003, 74–76; idem, s. v. “Amir, Eli,” in: Glenda Abramson (ed.), Encyclopedia of Modern Jewish Culture, New York 2005, 19 f. 16 Ma‘bara (Hebrew: ‫ )מעברה‬was a term for transit camps for Jewish immigrants in Israel. For more information about the Maʻabarot see Mordechay Naor, ʻOlim u-maʻbarot [Immigrants and Transit Camps], 1948–1952, Jerusalem 1986. Amir made his literary debut in the mid-1970s. His novel Tarnegol Kaparot was published in 1983 and among the best sellers during the 1980s, reprinted 18 times, see Snir, “Amir, Eli,” in: Abramson (ed.), Encyclopedia of Modern Jewish Culture, 19. 17 Amir, Ani hay be-harmoniya ben ha-tarbuyot, 103–110. 18 Shimon Ballas, Ha-maʻbara [The Transit Camp], Tel Aviv 1964.

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Cover of Shimon Ballas’ book Ha-maʻbara (The Transit Camp, 1964), the first Hebrew novel written by an Iraqi Jew in Israel.

a ­doctor from entering the camp. This calamitous event leads the group to consider solutions to their terrible situation. They decide to elect a delegate to re­ present their problems and demands. The members of the group gather for a meeting, at which Shabi gives  a speech about the importance of making their ­silenced voice heard by the authorities. During the speech, the Israeli police shut down the meeting, arresting Shabi and others. The majority of events portrayed by Ballas occur inside the transit camp that ­appears as an isolated space in which the Iraqis are trapped. Within this space, there are major components that shape and add distinction to the maʻbara. The Café al-Naṣr (The Victory) is a place where most of the Iraqi immigrants in the transit camp spend their time, make their decisions, listen to Iraqi music on the radio, drink Iraqi tea, and of course speak Arabic, their first language. Al-Naṣr is thus not

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just a place: rather it is a transfer point where two places co-exist at the same time, a kind of “third” space between Iraq and Israel. The place of origin back in Iraq is not just a distant “other locus” in memory; it rather appears as a simulation of that “other” place that has been transferred to Israel. Geographically, while the narrative follows the life of Iraqi-Jewish immigrants in an Israeli transit camp, the protagonists, the characters, the language of most conversations and the narrative as such are connected principally with Iraqis. Interestingly, the maʻbara is described by one of the characters as “the second Babylon.”19 In this way, the Café al-Naṣr serves as a third space, belonging neither to “here” nor “there.” It is thus closer to what Nancy Berg described with regard to another transit camp in Sami Michael’s novel Shavim ve-shavim yoter (All Men Are Equal, but Some Are More So, 1974) as “a place of transition, a liminal space in which the newcomers are neither here nor there.”20 In Eli Amir’s novel Mafriah ha-yonim (Farewell Baghdad, 1992),21 the narrator tells the story of his family’s life in Iraq just before immigrating to Israel, describing their feelings of fear and anxiety about being persecuted by Muslims due to the conflict between Arabs and Israel during the period 1948 to 1951. The novel begins with the arrest of Hizkel, Kabi’s uncle, by the Iraqi police. He is accused of hiding weapons and supporting the Zionist movement in Iraq. The narrator tells not only his family’s story, but numerous stories about Iraqi Jews. From the perspective of chronological time  and biographical narrative, the young boy Kabi who narrates the story experiences the events as an observer and also as a kind of hero trying to rescue his arrested uncle in Baghdad. In terms of place, the novel is more connected to Baghdad and less attached to Israel.22 Amir describes a full and authentic Jewish world in Baghdad, replete with its own landscape, geography, smells, customs and traditions, foods, music and linguistic variety. The reader finds in the novel a detailed description of Iraqi and Baghdadi local markets; the description of the places makes the readers feel like they are walking the streets of Baghdad and enjoying its smells and sounds, corners and sellers: “Souk Hinuni, the Jewish marketplace, rarely stopped to catch its breath. Its bustle started well before sunrise and lasted until long after sunset. Only the lack of electric light kept most of its stands from staying open till midnight. There were hundreds of them, each with its colours and smells. The porters beneath their baskets of fruit, shouting at the shoppers to make way.”23 19 Ibid., 51. 20 Berg, More and More Equal, 180. 21 The literal translation of the novelʼs title is “Dove Flyer.” 22 Lital Levy, Self and the City. Literary Representations of Jewish Baghdad, in: Prooftexts 26 (2006), 163–211, pointed out a critical theme in the literary works of Iraqi-Jewish authors, namely the relevance of Baghdad as an iconic term. 23 Eli Amir, Mafriah ha-yonim [Farewell Baghdad], Tel Aviv 1992, 18, here quoted from the English translation: idem, The Dove Flyer, transl. by Hillel Halkin, London 2010, 15.

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The two authors here were chosen because they represent a key point in the literature of Iraqi Jews, i. e. the dilemma of being torn between two places, two languages and two cultures. This perspective has also influenced these two writers’ translation of certain Arabic/Iraqi cultural patterns in their Hebrew texts. In the following section, the paper discusses these issues in the two novels.

Iraqi-Jewish Authors as Translators In Ballas’ novel, Moshe, one of the Iraqi-Jewish characters, just finishes a poem that he wrote about the maʻbara. When his friend Yusuf highly praises the poem, Moshe replies to Yusuf ironically: “So did you think that only al-Jawāhri could write poems?!”24 The Hebrew reader remains somehow helpless concerning the content of this conversation. Who is al-Jawāhri actually, and what type of ­poetry did he write? And even if the author would have provided some information about the important Iraqi poet Mohammed Mahdi Jawāhri (1899–1997) in the footnotes, which he did not, is it possible to make the metaphoric dialogue here clear to a reader who had not read al-Jawāhri’s poetry in Arabic? In other words, is it possible to translate cultural patterns into a different language? Shimon Ballas and Eli Amir are self-translators: Their mother tongue is not ­Israeli Hebrew. Thus they typically sought to find equivalents for various Arabic/ Iraqi linguistic patterns in their newly adopted language. Indeed, this is often the case with authors who write in a language other than their mother tongue, as Steven G. Kellman has noted, terming them “monolingual translinguals.”25 The very question of exchange and translation of cultural terms between two languages has received major attention in the last few decades and has been explored by v­ arious scholars.26 Examining the question of whether translation is a linguistic or a cultural process, Hans Vermeer claims that: “although translation in its or­dinary sense is generally thought of as a (primarily) linguistic transfer process it is, as such, at the same time a cultural process, because language is part of culture.”27 So, translation and culture are strongly bound together. This fact led Vermeer to conclude: “Translation may be defined as a transcultural acting.”28 Defining 24 Ballas, Ha-maʻbara, 31. 25 Steven G. Kellman, The Translingual Imagination, Lincoln, Nebr., 2000, 12. 26 See for instance: Carlos Inchaurralde, Marked Communication and Cultural Knowledge in Lexis, in: Cornelia Zelinsky-Wibbelt (ed.), Text, Context, Concepts, Berlin/New York 2003, 179–196; Eugene A. Nida, Language, Culture, and Translating, Shanghai 1993; Peter Newmark, About Translation, Clevedon 1991; idem, A Textbook of Translation, New York 1988. 27 Hans Vermeer, Is Translation a Linguistic or a Cultural process?, in: Ilha do Desterro. A Journal of English Language, Literatures in English and Cultural Studies 28 (1992), 37–49, here 38. 28 Ibid., 45.

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translation as a term associated with culture is not detached from understanding the relationship between language and culture in general; as Susan Bassnett claims, the importance of the heart to the body is like the importance of language to culture.29 The strong mutual relation between language and culture, however, creates problems when it comes to translating cultural patterns between two languages. “The more specific a language becomes for natural phenomena (e. g. flora and fauna),” writes Peter Newmark, “the more it becomes embedded in cultural features, and therefore creates translation problems.”30 Yet taking the cultural ­dimension into account in the translation process may involve violating some linguistic and stylistic aspects of the source language. Actually, in certain cases, for instance idioms, folk-sayings and metaphors, translation may require altering some elements in regard to the translation process. Translation involves not only the replacement of lexical items and finding appropriate grammatical structures in the target language, it can also neglect some basic linguistic elements in the source language text.31 Since cultural translation involves the process of transmitting not only linguistic equivalence but also cultural correspondence, the notion of equivalence in translation has its own importance. Eugene A. Nida’s differentiation of two kinds of such equivalences, formal and dynamic, is still valid.32 The first type involves a process of translating the form and content of the message, like translating ­poetry to poetry and sentence to sentence, or translating one concept in the source language to its equivalent in the target language. Nida called this “gloss translation,” in which the translator seeks to make the text more comprehensible to the reader, for example possibly entailing numerous footnotes for this purpose. The second type suggested by Nida is “dynamic equivalence,” which depends on finding the same expected effect of the message on the receptor of the target language. Nida asserts that the sense of the message for the receptor in the target language should be the same as the sense between the original receptor and the message.33 The “gloss translation” suggested by Nida has indeed been well employed by Ballas and Amir in regard to transferring some cultural idioms to the Israeli reader who is an “outsider” to the Arabic/Iraqi linguistic and cultural background. This technique touches on a potential channel through which these cultural patterns could be transferred. Writing memories in a language other than the original may challenge the ­author in terms of translating some cultural idioms into the target language. 29 Susan Bassnett, Translation Studies, London 2002, 23. 30 Newmark, A Textbook of Translation, 95. 31 Bassnett, Translation Studies, 34. 32 Eugene A. Nida, Toward a Science of Translating. With Special Reference to Principles and Procedures Involved in Bible Translating, Leiden 1964, 159. 33 Nida, Toward a Science of Translating, 159.

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This requires a kind of “reassessment and rewriting.”34 This is also reflected in the way bilingual or multilingual authors are torn between two languages and two cultures. The continuous search for the equivalent term, not only linguistically but also culturally, is the repeated process that these bilingual authors are concerned with. They literally “live in translation.”35 Ballas confirms this attitude in his w ­ ritings: “At the time, I was already impervious to inheriting Arabic into ­Hebrew syntax, and if there is interference here and there in the syntactic structure, it is mostly intended.”36 This also holds true for Amir, who reflects on the issue of writing memories in a second language: “While writing this Hebrew novel, I imagined myself listening in one ear to my father telling it to me in Arabic,” as he emphasized in an interview with Reuven Snir.37 Writing the novel Farewell Bagdhad and recalling the “Arabic” voice of his father, Amir shows to what extent the mother tongue is employed in different ways when writing in the language of a new land. This is to show the way in which Hebrew and Arabic merged in his literary work Mafriah ha-yonim, and to reflect that Arabic was a very active component when Amir wrote his Hebrew novel. Furthermore, this biographical episode explains the process of self-translation that Amir underwent while writing on memories, stories from childhood and tales about his place of origin, Baghdad, Iraq. Both Ballas and Amir endorse intentional and conscious play with Arabic as a literary device within the Hebrew texts. These two statements by Ballas and Amir thus contravene the common sense of authorship prescribed in the aforementioned process of rewriting and reassessment. The act of rewriting might make the Hebrew texts “foreign” to some extent in terms of the reading ex­perience of an “outsider,” namely an unfamiliar Israeli readership. Anat Feinberg, for instance, touches on this sense one gets from reading Ballas’ Hebrew ­novels.38 In addition, reassessment or rewriting is not that simple when it comes to names of places, character names and similar cases in which more than one semiotic level changes the historical and cultural dimensions. Names are also connected to social relations in the homeland and have their influence: “Names are often fraught with emotional overtones which influence men’s lives, perhaps unduly. In any case they are keys to such important social institutions as the family and 34 Tijana Miletic, European Literary Immigration into the French Language. Readings of Gary, Kristof, Kundera and Semprun, Amsterdam/New York 2008, 32. 35 For more information about other authors who write in  a hybrid space between languages, see Isabelle de Courtivron, Lives in Translation. Bilingual Writers on Identity and Creativity, New York et al. 2003. 36 Ballas, Be-guf rishon, 75. 37 Snir, ‘Arviyut, Yahadut, Tsiyonut, 338. 38 Heidy M. Müller/Anat Feinberg/Kamal Y. Kolo, Das Ende des Babylonischen Exils. Kulturgeschichtliche Epochenwende in der Literatur der letzten irakisch-jüdischen Autoren, Wiesbaden 2011, 162.

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the neighborhood.”39 Therefore, they are not so easily comprehended by a reader who does not share the same cultural background, which would enable him or her to understand the value and local flavor of such places and character names, and their presence in the text. Ballas refers to such negotiation between the original and the newly acquired names of some characters in his novel Ha-ma‘bara. “Ḥaim Va‘ad,” (Haim Committee) one of the main characters in the transit camp, went by the name “Ḥaim al-Kātib” (Haim the Scribe) in Iraq before immigrating to Israel.40 This fact is maintained by the characters who came with him from Iraq, as when A ̒ ini corrects Shaul when he calls Haim using his new nickname “Haim Va‘ad” given to him in Israel: .‫סבלנות‬-‫ועד?“ שאל שאול באי‬-‫”חיים‬ “.‫ ”פה הדביקו לו ’ועד‘ ושכחו כיניו הקודם‬.‫ תיקן עיני‬,“‫כּאתב‬-‫”חיים אל‬

Haim Va‘ad? Asked Shaul impatiently. “Haim al-Kātib” A ̒ ini corrects him. “Here they attached ‘Va‘ad’ to him and forgot his old nickname.”

Another example that reflects the issue of cultural patterns in using Iraqi names is the use of the Arabic prefix Abū, which means “the father of.” Employing such a prefix, which the Iraqis use to refer to each other, constitutes a literary device that, on the one hand, confirms that most characters in the novel belong to Iraq, and on the other, signifies the two authors’ style regarding the use of Arabic names for characters in the Hebrew texts. However, the way Ballas uses this literary device in his novel deserves attention. Abū is not only associated with those who are married and called by the name of their eldest son, but by contrast, Yusuf Shabi, the protagonist of the novel, is also called Abū Yaʻgūb despite being single.41 Abū also serves as an attribute of some characters in the novel, used on the one hand in a metaphorical way, and reflecting Iraqi local connotations on the o ­ ther. For instance, Abū Ghāyeb, which is translated in  a footnote “the father of the absent” — a nickname for  a man who has no children.42 In the later example,­ Ballas uses the gloss translation strategy in order to transfer the cultural pattern associated with the term Abū Ghāyeb. Indeed, the strategy of “gloss translation” contributed significantly to the cultural translation of many Iraqi Jewish cultural patterns into Israeli Hebrew, as it involves more explanation for the “outsider” readers in order to help them to comprehend various Arabic/Iraqi cultural patterns in the text. 39 Einar Haugen, The Norwegian Language in America. A Study in Bilingual Behavior Dialects of Norwegian, Bloomington, Ind., 1953, 192. 40 Ballas, Ha-maʻbara, 53. 41 Ibid., 84. 42 Ibid., 23. See also p. 53, for the translation of “Ḥaim al-Kātib,” and p. 64, for “nazah.”

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The novels also contain many attempts to transmit cultural idioms via translation. Many Iraqi and Arabic folk sayings are glossed in the novels’ footnotes, e. g. many of these attempts managed to represent and transfer the authors’ cultural experience through translation to Israeli readers with no Arabic linguistic or cultural background. In this way, the sentence “ikhtalaṭa al-ḥābel be-alnābel”43 was translated in a footnote into: “The valuable and the invaluable have been merged.” The context in which this example appears in Ballas’ novel addresses the way in which two attributes or two values are seen as one thing. This is to reflect confusion or a misleading perception in a certain life situation. Here in particular, it also signalizes the absence of social justice among Iraqi Jewish group in the transit camp. On the other hand, translating between Arabic and Hebrew is also very difficult in terms of transferring some Iraqi cultural folk sayings into Hebrew. Wordfor-word translations commonly confirm this. “‫”נשתה בכלולותייך אינשאללה‬ nishte be-kalolotekha inshālah44 we will drink on your wedding with God willing

This sentence appears in Ha-maʻbara in a conversation between Shlomo Hamra and his guest Meir. This example reflects two aspects of Arabic use: the first is a translation of an Arabic Iraqi folk saying “nishrab fi faraḥak inshālah.” This typical folk saying can be understood principally in the Iraqi and Arabic context, and it reflects Arabic culture. Simply enough, when someone offers his guests a drink, the guests should say: “We drink to your wedding,” i. e. they wish him to marry soon and that they will definitely drink one more time together and celebrate his wedding. Although Hebrew lexical items were mostly used to build this sentence, the meaning it holds would not be used in the same situation in modern Hebrew, which renders the term somehow vague. The verbatim translation here adds to the cultural image, rendering it more complex, so as to be successfully transferred to an Israeli readership. On the one hand, the author did not provide a gloss in the footnote as illustrated above. On the other hand, employing the Arabic code “Inshāllah” (“God willing”) gives the sentence an Arabic perspective. Imported from Arabic, the code “Inshāllah” is employed by the writer in the Hebrew text despite the existence of a similar lexical variant in modern Hebrew: “im yirtzeh hashem” (“‫)”אם ירצה השם‬. Thus it wasn’t the case that Ballas was unable to find an appropriate Hebrew equivalent for this expression, but rather that he was trying to bring his Hebrew text closer to Arabic language and culture, in terms of structure and the way in which he approaches things in his literary works.45 43 Ibid., 52. 44 Ibid., 60. 45 Alcalay (ed.), Keys to the Garden, 68.

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Bringing the Hebrew sentences closer to Arabic, as Ballas sought to achieve, could also be motivated by the fact that the two languages belong to the same language family. This fact can help us understand possible ways of translating cultural patterns between the two languages. However, this similarity may also cause problems.

Arabic and Hebrew: The Obstacle of Similarity Arabic and Hebrew are both Semitic languages, a fact that touches on problematic aspects of translation between the two. Nida claims that when two languages are very similar, it can result in poor translation.46 Indeed, the similarity between Arabic and Hebrew causes these Iraqi-Jewish authors to fashion some Hebrew expressions and lexical items in which the meaning or connotations are to some extent obscure. This fact touches on the difficulty of taking the closer path between the two languages, in which many morphological and phonetic aspects are similar to each other. Some examples can clarify this issue. In Ballas’ novel Ha-maʻbara, Shlomo Hamra worries about trouble that might happen in the transit camp. Hamra reveals his anxiety to his wife Lulu, telling her in Hebrew: “‫”פחד אני שיהיו קוטל ונקטל‬ poḥed ani she yehyu kotel ve-niktal47 I am afraid that they might turn to ‘killer’ and ‘killed’

Here the author adds a footnote to his translation: “‫( ”בלשון הדיבור — מהומות‬colloquial Hebrew for trouble, fight). This example illustrates the way in which a lexical similarity between the two languages was employed in the novel. Indeed, the footnote translation, or glossing in this case, confirms the claim that the author was keen on taking the narrower route between the two languages. Therefore, a “translation of a translation” was required here to explain the phrase that was first translated from Iraqi Arabic to Hebrew in the text, and secondly, that it was translated again in the footnote for the unfamiliar reader. The “translation of the translation” above was motivated mainly by the linguistic similarities between Hebrew and Arabic; the existence of the phrase “qātel wa maqtūl” (“killer and killed”) in Iraqi Arabic and many other Arabic dialects, and the existence of the tri-consonantal Semitic root /qtl/ in both Arabic and Hebrew, as well as the similar morphological aspects between the two languages in terms of active and passive

46 Nida, Toward a Science of Translating, 160. 47 Ballas, Ha-maʻbara, 59.

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participle which are derived from the tri-consonantal root /qtl/; all of these aspects enabled ­Ballas to transfer this vernacular Iraqi cultural phrase used in spoken Arabic “qātel wa maqtūl” to an Israeli readership. In general, what Ballas did in the example above can be seen as a cultural process in which the newcomers were engaged. They brought with them certain linguistic uses from their land of origin that could be passed on into the new linguistic milieu. This situation creates  a combination of the immigrant’s mother tongue and the language of the new country. Accordingly, different translations and ­different cultures may emerge in this context.48 With regard to Amir, the same motivation of bringing the translation up to the Arabic equivalent, not only in terms of denotation but also in terms of phonological aspect, influenced his translations into Hebrew. This can be seen in the following example, in which Amir uses unique syntactic form to convey an Arabic poem by the famous pre-Islamic poet ʻAntarah Ibn Shaddād al-ʻAbsī (525–608) which is quoted by Kabi’s father in his conversation with Abu Edward on the decision to immigrate to Israel. Kabi’s father was convinced that he had to leave Iraq, while Abu Edward tried to persuade him not to immigrate to Israel, as in his opinion Iraqi Jews had good life conditions and thus no need to leave Iraq. To convey his opinion, Kabi’s father said: “‫ השקני את כוס המוות בכבוד‬,‫”אל תשקני את כוס החיים בהשפלה‬ al tashkini et kos ha-hayym be-hashpala, heshkeni et kos ha-mavet be-khavod.49 It is better to heal death’s cup with honor than to live with shame.

In this example, the author translates classical Arabic literature into Hebrew. The similarity between the two languages touches on the possibility of  a bond between the phonetic and semantic terms within the translation. Here again, the tri-literal Semitic /sqa/ [offers someone a drink] used in Amir’s translation confirms this claim.

Conclusion Having emigrated from Iraq to Israel during the 1950s, Iraqi-Jewish authors were familiar with two languages and two cultures; their first culture being that of Iraq/ Baghdad. The second was Israeli culture, which they became familiar with and took an active role in shaping a non-Ashkenazi Hebrew culture there. The two ­authors adopted Hebrew in their new country, although Arabic remained their 48 Michael Agar, Culture. Can You Take It Anywhere?, in: International Journal of Qualitative Methods 5 (2006), no. 2, 1–12, here 5. 49 Amir, Mafriah ha-yonim, 74.

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mother tongue. When writing in Hebrew, the two authors incorporated Arabic into their texts in various ways. Therefore, cultural translation played a crucial role in their literary writings. This article has dealt with the possibilities and challenges that two Iraqi ­authors, Shimon Ballas and Eli Amir, faced when transferring various cultural patterns from Iraqi/Arabic culture. The close similarity between the two Semitic languages was among the problems that gave rise to obscure Hebrew translations of some Arabic cultural terms. Accordingly, a “translation of a translation” was one strategy employed by the authors to give these vague translated terms a modicum of clarification for the unfamiliar reader. At the same time, it was also possible to translate some cultural patterns from Arabic/Iraqi culture into Israeli Hebrew. The authors felt that word-for-word translation was not a good option for rendering their Hebrew texts accessible to Israeli readers not familiar with Arabic/Iraqi culture. For this reason, they applied translation strategies like glossing to their texts. However, the approach of glossing and similar methods of clarifying very culturally-rooted Arabic/Iraqi patterns was not fully successful. This is due to the general fact that there are a number of ‘non-translatable’ cultural terms in a source language. Thus searching for an equivalent meaning for these non-translated terms in another language is quite problematic, and sometimes impossible. Finally, the study of Iraqi-Jewish authors and the process of cultural translation in their literary works can tell us a great deal not only about Arabic and Hebrew linguistic items in Israeli literature, but also about immigrant authors in general and how they transfer certain cultural idioms from their mother tongue into the adopted language of a new country.

WISSEN Haskala · Wissenschaft · Orientalistik · Statistik

Dirk Sadowski

Eine Krone für den Buchdruck Hebräische Typografie und jüdisches Wissen in der Frühen Neuzeit

Im Jahre 1592 veröffentlichte David (ben Salomon) Gans (1541–1613), jüdischer Gelehrter, Geschichtsschreiber und Astronom im Prag Rudolf II. von Habsburg, sein Werk Tsemach David (»Sproß Davids«).1 Es handelte sich um eine Weltchronik von bedeutendem Umfang, deren erster Teil  die heilige, dem Wirken der göttlichen Vorsehung unterworfene Geschichte der Juden enthielt. Mit der Schöpfung beginnend, umfasste dieser Teil die biblische Geschichte, streifte, zumeist in Form von Personeneinträgen, die Abfolge der Rabbinen und endete mit dem Erscheinungsjahr des Buchs und einer Würdigung des bedeutenden jüdischen Gelehrten und Prager Rabbiners Mordechai Jaffe (ca. 1530–1612). Im zweiten Teil des Werks wurde über die von profanen Geschichtskräften gelenkte Historie der Völker »zur Zeit der Könige Babyloniens, Persiens, Griechenlands und Roms« berichtet, ebenso von den »großen Taten aller Kaiser, die je regiert haben, von Julius, dem ersten Kaiser, der über die Römer herrschte bis zu den Zeiten unseres Herrschers, des Kaisers Rudolf [II.]«. Beginnend mit der Beschreibung von Jesu Geburt und Wirken waren die Jahreseinträge mit arabischen Zahlen gekennzeichnet. Auch in diesem Teil dominierten die Einträge zu bedeutenden Persönlichkeiten. Bereits das Titelblatt lockte die Leser mit dem Hinweis auf die hier verhandelten Ereignisse, die bisher in keiner herkömmlichen jüdischen Chronik zu finden gewesen seien: der »Geschichte der mächtigen Reiche Frankreich, S­ panien und Italien«, derjenigen Deutschlands, Polens, Böhmens und anderer Länder, sowie mit der Darstellung von »Streitigkeiten, Kriegen und Blutvergießen«.2 1 Zu David Gans und seinem Werk vgl. André Neher, Jewish Thought and the Scientific Revolution of the Sixteenth Century. David Gans (1541–1613) and His Times, Oxford u. a. 1986; Noah J. Efron, Irenism and Natural Philosophy in Rudolfine Prague. The Case of David Gans, in: Science in Context 10 (1997), 627–649. 2 David Gans, Tsemach David, Prag 1592, Titelblatt. Eine wissenschaftliche Neuausgabe des Werks erschien 1983: David Gans, Tsemach David, hg., kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Mordechai Breuer, Jerusalem 1983 (hebr.). Vgl. auch Mordechai Breuer, Modernism and Traditionalism in Sixteenth-Century Jewish Historiography. A Study of David Gans’ »Tzemah David«, in: Bernard Dov Cooperman (Hg.), Jewish Thought in the Sixteenth Century, Cambridge, Mass., 1983, 49–88.

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Die auf eine große Leserschaft abzielende Strategie der Drucker ist daran zu erkennen, dass die Inhaltsangabe des Titelblatts dem »weltlichen« zweiten Teil des Buchs etwa doppelt so viel Raum gewährte wie der vorangehenden »heiligen« Geschichte, während letztlich beide Teile vom Umfang her annähernd gleich waren. Autor und Drucker hatten ein jüdisches Lesepublikum vor Augen, dem die Lektüre der Geschichte der römischen Kaiser und Berichte über Kriege, Blutvergießen und andere »schreckliche Ereignisse« nicht etwa anstößig erschienen, sondern das offenbar gerade nach solchen Texten verlangte. Um seine Leser auf herausragende Herrscherpersönlichkeiten aufmerksam zu machen, hatten sich Autor und Drucker im profanen zweiten Teil eines grafischen Mittels bedient: Die Einträge zu den Kaisern des Heiligen Römischen Reiches und zu den französischen Königen waren mit kleinen, stilisierten Kronen versehen; auch der Name des Eroberers von Konstantinopel, Mehmet  II., wurde mit einer solchen hervorgehoben.3 Eine Königskrone kennzeichnete aber auch – als einzigen nichtpersonalen Eintrag – jenen Abschnitt, der mit Defus ha-sefarim überschrieben war: »Buchdruck«.4 Gans hatte die Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern für das Jahr 1440 verzeichnet und würdigte den Erfinder, »einen Christen namens Johannes Gutenberg aus Strassburg«, indem er den vierten Segensspruch des Achtzehngebets zitierte: »Gepriesen sei Er, der den Menschen mit Erkenntnis begnadet und ihn Einsicht lehrt«. Zu preisen, so der Verfasser, sei Gott dafür, dass er die Menschheit mit einer so vielseitigen Kunst beschenkt habe, der keine andere gleiche und die von keiner anderen Wissenschaft und keinem anderen Handwerk übertroffen werde. Nicht nur die »göttlichen Wissenschaften« und die sieben freien Künste profitierten von der Erfindung des Buchdrucks, sondern auch alle Handwerksberufe zögen den größten Nutzen aus ihr, indem nun für alle Gewerke Bücher in großer Zahl hergestellt werden könnten.5 Gans fällt hier ein bemerkenswertes Urteil, das darauf verweist, dass das neue Medium nicht nur als Speicher und Vermittler theoretischen Wissens wahrgenommen wurde, sondern auch aufgrund eines ganz praktischen Nutzens: das Studium der nun an vielen Orten verfügbaren gedruckten Bücher ersparte körperliche Mühsal, etwa dem Handwerker die des Umherreisens, um neue Praktiken kennenzulernen.6 Ausgehend von David Gans’ Würdigung des Buchdrucks im Tsemach David soll im Folgenden versucht werden, die Bedeutung dieser Erfindung für die jüdische Wissenskultur in der Frühen Neuzeit zu beleuchten. Mittels der zeitgenössischen Rezeption sollen für den jüdischen Kontext einige Beispiele für typo­ 3 David Gans, Tsemach David, Prag 1592, zweiter Teil, fol. 96b. 4 Ebd., fol. 95b. 5 Ebd. 6 Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M. 4 2006, 517–520.

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»… keine Kunst kommt dieser gleich, nichts ähnelt ihr unter den Wissenschaften und Kunstfertigkeiten …«. David Gans’ Würdigung der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg in seinem Werk Tsemach David (Sproß Davids), Prag 1592, fol. 95b.

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grafische Standardisierung sowie für die Dissemination von Wissen und den damit einhergehenden interkulturellen Austausch angeführt werden – Merkmale, die nach Elizabeth  L. Eisenstein das revolutionäre Potential der Erfindung des Buchdrucks begründen. Eines der hervorstechendsten Merkmale der ­jüdischen Buchkultur der Frühen Neuzeit war jedoch die Beschränkung des gedruckten jüdischen Wissens auf traditionelle Stoffe und die weitgehende Abgeschlossenheit insbesondere der aschkenasischen Wissenskultur gegenüber den »äußeren Disziplinen«. Erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Zuge einer »frühen Haskala«, kam es hier zu einer Öffnung gegenüber nichtkonventionellem Wissen, wobei der entscheidende typografiegeschichtliche Impuls von einer he­bräischen Druckerei im anhaltinischen Jeßnitz  (1726–1745) ausging, wie im letzten Teil dieses Aufsatzes gezeigt wird.

»Christlicher« und hebräischer Buchdruck im Urteil von David Gans Neben der Würdigung Gutenbergs und seiner Erfindung enthielt Gans’ Chronik noch einen weiteren Eintrag zur Geschichte des Buchdrucks: Im ersten, der Geschichte des jüdischen Volkes gewidmeten Teil hieß es für das Jahr 5271 (1511) knapp, dass in diesem Jahr der erste Druck heiliger Bücher durch Daniel Bomberg (ca. 1475–1549) in Venedig erfolgt sei.7 Die Lakonie des Eintrags ist verwunderlich, wenn man sie mit der Opulenz des Eintrags zur Erfindung des Buchdrucks im profanen Teil der Chronik vergleicht. Stutzig macht zudem der Umstand, dass der gelehrte Chronist den hebräischen Buchdruck so spät beginnen ließ. Ihm konnte kaum entgangen sein, dass um 1480 in verschiedenen italienischen Städten und auf der iberischen Halbinsel bereits rege mit hebräischen Lettern gedruckt worden war, vom Standards setzenden, reichhaltigen Œuvre Gershon Soncinos (gest. 1533) und seiner Familie ganz zu schweigen.8 Doch ­David Gans blendete die ersten jüdischen Drucker aus; der hebräische Buchdruck setzte in seinem Werk mit dem Christen Bomberg ein. Eine Erklärung ­dafür könnte darin 7 Gans, Tsemach David, erster Teil, fol. 61a. Tatsächlich fing Daniel Bomberg erst im Jahr 1516 mit dem hebräischen Druck an. Zu Bomberg vgl. Avraham Meir Habermann, Ha-madpis Daniel Bombergi ve-reshimat sifre bet defuso [Der Drucker Daniel Bomberg und die Liste der in seiner Druckerei erschienenen Bücher], Safed 1978; Bruce Nielsen, Daniel van Bombergen, a Bookman of Two Worlds, in: Joseph R. Hacker/Adam Shear (Hgg.), The Hebrew Book in Early Modern Italy, Philadelphia, Pa., 2011, 56–75, 230–252. 8 Zu Gershon Soncino und den Soncinaten vgl. Avraham Meir Habermann, Ha-madpisim bne Soncino [Die Drucker der Soncino-Familie], Wien 1933; Marvin J. Heller, The Sixteenth Century Hebrew Book. An Abridged Thesaurus, Leiden/Boston, Mass., 2004, Bd. 1, XV–XVII, 4–181 (Abschnitte zu den von Gershon Soncino gedruckten Werken); ders., Printing the Talmud. A History of the Earliest Printed Editions of the Talmud, Brooklyn, N. Y., 1992, 51–133.

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liegen, dass die Bibel- und Talmudausgaben des venezianischen Druckunternehmers zu Gans’ Zeit ubiquitär und somit jedem gebildeten jüdischen Leser vertraut waren.9 Von ihrem äußeren Erscheinungsbild her waren dies Bücher, die sich der Reminiszenzen an die Manuskriptkultur  – wie sie noch die hebräischen Wiegendrucke des ausgehenden 15. Jahrhunderts gekennzeichnet hatten – entledigt hatten. Ein Titelblatt, das gerade bei den Bomberg-Drucken häufig von einem Tor (hebräisch Scha’ar) geziert wurde, nicht etwa ein auf dem letzten Blatt untergebrachtes Kolophon, enthielt die wichtigsten Informationen über Autor, Inhalt, Druckort und -jahr. Die Lettern erschienen in gestochen scharfer Quadrattype und ließen jede Ähnlichkeit mit der Handschrift eines Schreibers – wie bei manchen der hebräischen Inkunabeln der Fall – vermissen. Aufgedruckte Seitenbzw. Blattzahlen erleichterten das Auffinden einer gesuchten Stelle und komplexe Kommentar- und Verweissysteme – die hebräische Fußnote ist ein Produkt des 18. Jahrhunderts, der jüdischen Aufklärung – gestatteten oder verlangten gar eine intertextuelle Lektüre.10 Derartige Paratexte fehlten den hebräischen Wiegendrucken oder waren bei diesen nur rudimentär ausgebildet.11 Woher aber rührte die Knappheit des Eintrags zum hebräischen Buchdruck im Tsemach David? Für David Gans, den mit herausragenden christlichen Gelehrten seiner Zeit verkehrenden Polyhistor, war offensichtlich die universale Bedeutung von Gutenbergs Erfindung wichtiger als ihre Rezeption im jüdischen Kontext. Diese Sicht war nicht zuletzt eine Frage der Quantitäten: Der hebräische Buchdruck war eher eine Nebenerscheinung der frühneuzeitlichen Medienrevolution. Den geschätzten 30 000 zwischen 1450 und 1500 produzierten Wiegendruck-­ Titeln mit lateinischen Lettern12 stehen etwa 140 heute bekannte Ausgaben hebräischer Inkunabeln gegenüber.13 Dies ist selbst dann ein verschwindendes Quantum, wenn man den verspätet einsetzenden Beginn des hebräischen Buchdrucks um das Jahr 1475 mit berücksichtigt. Ausschlaggebend für Gans’ Lako 9 Heller, The Sixteenth Century Hebrew Book, Bd.  1, XVII–XIX, 80–345 (diverse Abschnitte zu den von Daniel Bomberg gedruckten Werken); ders., Printing the Talmud, 135–181. Zu Bombergs Rabbinerbibeln vgl. David Stern, The Rabbinic Bible in its Sixteenth-Century Context, in: Hacker/Shear (Hgg.), The Hebrew Book in Early Modern Italy, 76–108, 252–268. 10 Christoph Schulte, Die Erfindung der hebräischen Fußnote in Preußen. Über die kulturelle und politische Bedeutung von typografischen Veränderungen, in: Eva Lezzi/Dorothea M. Salzer (Hgg.), Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft, Berlin 2009, 253–290. 11 Zu den Charakteristika der hebräischen Wiegendrucke vgl. den Art. »Incunabula« in der Encyclopaedia Judaica, Detroit u. a. 22007, Bd. 9, 757–769, hier 758 f. 12 Art. »Buchdruck«, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart/ Weimar 2005, Sp. 490–493, hier 492. 13 Adam Shear/Joseph R. Hacker, Introduction. Book History and the Hebrew Book in Italy, in: dies. (Hgg.), The Hebrew Book in Early Modern Italy, 1–16, 197–205, hier 2 mit Anm. 4, 197 f. Vgl. auch Art. »Incunabula« in der Encyclopaedia Judaica, 758; hier wird die Zahl von 175 bekannten Wiegendrucken angegeben.

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nie war offensichtlich aber ein anderes, qualitatives Kriterium. Das inhaltliche Spektrum des in den hebräischen Büchern transportierten Wissens war sehr begrenzt, verglichen mit der Mannigfaltigkeit der Themen und Wissensgebiete, denen sich der Buchdruck mit lateinischen Lettern bereits sehr früh widmete: neben der theologischen Literatur die Werke der Humanisten, die wiederentdeckten Autoren der Antike, die Wörterbücher und Weltchroniken, die botanischen und zoologischen Nachschlagewerke, die medizinischen und juristischen Kompendien, die Werke zur Baukunst und die praktischen Anleitungen für Angehörige aller Berufe, eben die ganze Bandbreite menschlichen Wissens zur Zeit der Renaissance – alles, worauf David Gans in seiner Würdigung der Erfindung enthusiastisch hingewiesen hatte.14 Der hebräische Buchdruck reproduzierte zu seiner Zeit und noch bis in das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts hinein im Wesentlichen das Korpus sakralen jüdischen Wissens, wie es beim Übergang von der Manuskriptkultur zum Buchdruck vorgelegen hatte und wie es dann im Laufe der Zeit durch die rabbinische Auslegungspraxis ergänzt worden war. Traditionsperiphere oder gar traditionsfremde Stoffe waren zwischen 1470 und 1600 kaum präsent, und »äußeres«, säkulares oder von anderen Kulturen beeinflusstes gedrucktes Wissen kleidete sich häufig in ein jüdisch-traditionelles Gewand, wie etwa die Grammatiken David Kimchis (1160–1235) oder Moses Maimonides’ (1135/38–1204) philosophische Werke mit ihren griechisch-arabischen Einflüssen zeigen. Nur wenige hebräische Drucke, so der 1492 in Neapel aufgelegte medizinische Qanun Ibn Sinas (Avicenna, ca. 980–1037), gingen auf nichtjüdische Gelehrte und Kompilatoren zurück. Für einen universal denkenden Menschen wie David Gans mag dies zu wenig gewesen sein, dennoch musste und wollte er der Tradition – und der jüdischen Leserschaft – Tribut zollen. Der Eintrag für das Jahr 5271 zeigt denn auch Gans’ ambivalente Haltung: Er ist an Knappheit kaum zu unterbieten und markiert dennoch den Charakter der in Venedig gedruckten Bücher als »heilig«.

Sakrales Wissen und profane Technik Bereits mit dem Aufkommen des hebräischen Buchdrucks in Italien um 1470 hatten zeitgenössische jüdische Stimmen die mit der neuen Erfindung einhergehende Verbreitung »heiligen« Wissens gepriesen. Nicht zufällig waren es oft die Drucker selbst, die in den Kolophonen ihrer Werke betonten, dass nun dem Mangel an Schriften zum Studium abgeholfen sei und jeder Jude, wo immer er wohnen 14 Siehe Elizabeth L. Eisenstein, The Printing Revolution in Early Modern Europe, Cambridge u. a. 22005, 123–163, 209–285; Stephan Füssel, Gutenberg und seine Wirkung. Katalog zur Ausstellung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen vom 23. Juni bis zum 29. Oktober 2000, Frankfurt a. M. u. a. 1999, 48–72.

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möge, sich für geringes Geld sein eigenes Buch beschaffen könne. Gewürdigt wurde das mit dem Buchdruck nun verbreitet auftretende Phänomen der gleichzeitigen Erfassbarkeit sich aufeinander beziehender Texte unterschiedlicher Gattungen: Heiliger Text und Kommentar bedürften nicht mehr wie bisher verschiedener Bücher, sondern könnten nebeneinander auf einem Blatt untergebracht und gemeinsam studiert werden, was für den Leser mit einer bedeutenden Zeitersparnis verbunden sei. Das Studium der Bibel und des Talmuds wie auch aller anderen religiösen Schriften werde erleichtert, und die Erde werde voller Erkenntnis sein – ähnliche Worte, wie sie auch von Kirchenleuten nach 1450 gebraucht wurden, um die Segnungen des Buchdrucks für das religiöse Leben zu preisen.15 Jene zeitgenössischen Stimmen verweisen auf ein Phänomen, das die Historikerin Elizabeth L. Eisenstein als eines der drei zentralen Charakteristika des frühneuzeitlichen Buchdrucks  – im Vergleich zur vorausgegangenen Manuskript­ kultur  – ausgemacht hat. Unter Diffusion bzw. Dissemination versteht sie die Tatsache, dass eine Vielzahl identischer Texte durch die gedruckte Verbreitung eine immer größere Leserschaft erreichte. Die Ubiquität und Erschwinglichkeit bestimmter Texte – es wurde leichter, Texte zu konsultieren oder gar in den Besitz dieser Texte zu kommen, ohne den Wohnort verlassen zu müssen – führten zur »Ausstreuung« von Wissen. Die Gründung umfassender Bibliotheken und die Zusammenarbeit zwischen Gelehrten an unterschiedlichen Orten wurden hierdurch erst ermöglicht. Ubiquität, Erhältlichkeit, Vergleichbarkeit und Diskutierbarkeit von Texten gingen einher mit dem Effekt der gegenseitigen Inspiration (»cross fertilization«) und des interkulturellen Austauschs (»cross-cultural interchange«) und bildeten neue Systeme des Wissens aus.16 Darüber hinaus führt Eisenstein zwei weitere Merkmale an, die dem Buchdruck zu seinem Siegeszug verhalfen. Mit Verweis auf die »konservierende« Funktion des Buchdrucks betont sie erstens die durch ihn verfügte Dauerhaftigkeit bzw. Textstabilität als ein Ergebnis der Massenproduktion von Druckerzeugnissen. Nicht durch die Dauerhaftigkeit des einzelnen Mediums, sondern durch die produzierte Vielzahl identischer Medien blieben Texte über lange Zeiträume erhalten und »abrufbar«.17 Zweitens fasst Eisenstein unter dem Begriff der Standardisierung den Prozess der Vereinheitlichung von Ausdrucksformen und Bebilderungen verschiedener Texte. Die Erzeugung einer Vielzahl identischer Texte und die formale Gleichförmigkeit ihres Erscheinens, vor allem hinsichtlich bestimmter »visueller Hilfen« – Illustrationen, Karten, Tabellen – und »Navigationshilfen«, also Paratexten wie Seitenzahlen, Titelblättern und Indexen, führten zu wiederholten Begegnungen mit den

15 Abraham Berliner, Über den Einfluss des ersten hebräischen Buchdrucks auf den Cultus und die Cultur der Juden, Frankfurt a. M. 1896, 4 f. 16 Eisenstein, The Printing Revolution, 47–56. 17 Ebd., 87–99.

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immer gleichen Abbildern.18 Oder, wie Elizabeth Eisenstein jüngst noch einmal das Zusammenwirken der drei genannten Faktoren zusammenfasste: »Early modern Europeans were much better able than their forebears had been to consult more or less the same text, chart, or table at more or less the same time and to­ correspond with one another about the same items on the same page.«19 Fast vergessen ist heute der Versuch Abraham Berliners (1833–1915), den »Einfluss des ersten hebräischen Buchdrucks auf den Cultus und die Cultur der Juden«, so der Titel seiner schmalen Studie von 1896, zu analysieren. Der am Rabbinerseminar in Berlin tätige Dozent für jüdische Geschichte und Literatur hatte bereits früh auf solche durch den Buchdruck in der liturgischen Praxis und Wissenskultur der Juden hervorgerufenen Phänomene verwiesen, die Elizabeth L. Eisenstein 80 Jahre später als Dissemination, Standardisierung und Textstabilität beschrieb. Er demonstrierte diese Wirkungen des Buchdrucks insbesondere anhand der Textgestalt der gedruckten hebräischen Bibel seit Soncino und Bomberg, benannte aber auch seine Folgen für die liturgisch-praktische Sphäre, indem er auf die abnehmende Bedeutung des Vorbeters im Synagogengottesdienst verwies, die durch die allgemeine Verfügbarkeit von Gebetbüchern ver­ ursacht wurde.20 Unter die jüdischen Stimmen, die die Verbreitung des göttlichen Wortes und die Beförderung des Religionsstudiums durch den Buchdruck priesen, mischten sich, wie Berliner zeigte, auch solche der Skepsis und Vorsicht. Vor dem Hintergrund der halachischen Vorschriften zur schriftlichen Vervielfältigung von sakralen Texten wurde die Frage der Profanierung des Gotteswortes durch den Akt der mechanischen Reproduktion aufgeworfen. Noch bis weit in das 17. Jahrhundert hinein wurde von Rabbinern diskutiert, ob dem gedruckten Text die gleiche Heiligkeit beizumessen sei wie dem handgeschriebenen.21 Die Geschwindigkeit, mit der sich das neue Medium trotz derartiger Bedenken in der jüdischen Diaspora ausbreitete, kam jedoch den Pragmatikern zugute. Als eine Wissenskultur, die bereits wesentliche Schritte auf dem Weg von der mündlichen Tradierung zur schriftlichen Fixierung zurückgelegt hatte und sich unter diasporischen Bedingungen kaum gegenüber den medientechnischen Neuerungen abschotten konnte, stellte das Judentum dem Buchdruck nicht denselben Widerstand ent­ gegen wie der Islam, dessen sakrale Aufladung von Wort und Schrift die Einführung einer arabischen Druckerpresse lange verhinderte.22 18 Ebd., 56–70. 19 Sabrina Alcorn Baron/Eric  N. Lindquist/Eleanor  F. Shevlin, A Conversation with Elizabeth L. Eisenstein, in: dies. (Hgg.), Agent of Change. Print Culture Studies after Elizabeth L. Eisenstein, Amherst, Mass., u. a. 2007, 409–419, hier 416. 20 Berliner, Über den Einfluss des ersten hebräischen Buchdrucks, 19–22 und 25–31. 21 Ebd., 9–14. 22 Siehe Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005, 107–144, hier bes. 127–133.

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Typografische Standardisierung und Wissenstradierung Eines der augenfälligsten Beispiele der durch den hebräischen Buchdruck erfolgten Standardisierung von Texten im Sinne Elizabeth Eisensteins ist das Erscheinungsbild des Babylonischen Talmuds.23 Seit fast 500 Jahren dient der gedruckte Talmud in einheitlicher Gestalt frommen Juden zum Studium und zur Rechtsfindung. Jede Ausgabe eines bestimmten Talmudtraktats hat eine standardisierte Folierung, eine fixe Anzahl von Blättern bzw. Seiten und eine definierte Textanordnung – Mischna, Gemara, Kommentare, Indices. Jeder Traktat beginnt mit der Vorderseite des zweiten Blatts. Erst ein derartiges standardisiertes Erscheinungsbild erlaubt Eisenstein zufolge das Anbringen von Querverweisen und eine einheitliche Zitierweise und ermöglicht trotz räumlicher Distanz einen intensiven Austausch zwischen Gelehrten über den Text. Wie andere Manuskripte und die meisten der Wiegendrucke kannten Handschriften von Talmudtraktaten keine Paginierung, da diese ebenso wie Querverweise nur sinnvoll sind, wenn die einzelnen Exemplare eines bestimmten Texts einheitlich strukturiert sind. Dies ist bei der Anfertigung von Manuskripten jedoch nicht möglich, und kein noch so geschulter Schreiber konnte die einzelnen Textteile über ein gesamtes Buch so anordnen, dass auf jeder Seite der Bezug unter ihnen hergestellt war. So erscheint in Talmudhandschriften zumeist ein ganzes Kapitel der Mischna am Anfang des jeweiligen Traktats, ehe die dazugehörige Gemara »im Stück« geboten wird. Dies bedingte häufiges »Zurückblättern« und einen entsprechenden Zeit- und Konzentrationsverlust beim Studium. Kommentare fehlten bei den meisten Talmudmanuskripten, sie waren als separate Bücher verbreitet. Bereits die beiden ersten gedruckten Talmudtraktate  – Brachot und Betza (Soncino  1483/1484)  – wiesen gegenüber den Handschriften eine Weiterentwicklung auf, die eine wesentlich größere Benutzerfreundlichkeit bot und einen wichtigen Schritt in Richtung Standardisierung darstellte: Der Text der Gemara – die Mischnajot standen auch hier noch getrennt von der Gemara am Anfang des Traktats  – befand sich in der Mitte der Seite und wurde in Quadratschrift gedruckt. Die entsprechenden Abschnitte der beiden maßgeblichen Kommentare – Raschi und Tosafot – wurden auf derselben Seite präsentiert. Sie waren um den Text herum angeordnet und wurden in einer halbkursiven Schrifttype dargeboten, der sogenannten »Raschi-Schrift«. Der Kommentar Schlomo ben Jizchaks (Raschi, 1040–1105) erschien auf der inneren, an der Bindung liegenden Seite, die Tosafot (12. und 13.  Jahrhundert) waren an der Außenseite platziert. Die

23 Siehe zum Folgenden insbesondere Marvin J. Heller, Designing the Talmud. The Origins of the Printed Talmudic Page, in: ders., Studies in the Making of the Early Hebrew Book, Leiden/Boston, Mass., 2008, 92–105; ders., The Earliest Printings of the Talmud, in: ders., Further Studies in the Making of the Early Hebrew Book, Leiden/Boston, Mass., 2013, 421–449.

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Kommentare überragten den Haupttext um exakt vier Zeilen. Mit wenigen Ausnahmen hielten sich alle in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten erscheinenden Talmud-Editionen an dieses »Layout«. Die erste Gesamtausgabe des Talmud wurde in den Jahren 1519 bis 1523 in Venedig durch Daniel Bomberg aufgelegt. Bomberg übernahm die Textgestaltung von Soncino, druckte nun allerdings auch die einzelnen Mischna-Abschnitte mit der Gemara zusammen fortlaufend durch die jeweiligen Traktate. Er stellte ihnen ein rudimentäres, schmuckloses Titelblatt voran und führte die Blattzählung ein. Der Bomberg’sche Talmud wurde für alle folgenden Ausgaben verbindlich: Mit wenigen Ausnahmen wies jeder einzelne Traktat, der in den folgenden Jahrhunderten erschien, exakt dieselbe Blattzahl auf wie sein Venezianisches Pendant von 1519–1523; Textumfang und Textanordnung einer jeden Seite richteten sich nach diesem Vorbild. Selbst die Talmudausgaben des späten 19. Jahrhunderts, wie etwa die bis heute benutzte Ausgabe der Gebrüder Romm (Wilna 1880–1886) wiesen keine signifikanten gestalterischen Veränderungen gegenüber dem Bomberg’schen Druck auf. Wie Marvin Heller festgestellt hat, lag keine zwingende Notwendigkeit in der von Soncino bzw. Bomberg gewählten Gestaltung der Talmudseite. Es hätten sich auch andere Möglichkeiten der Organisation der Textteile denken lassen. Dass sich gerade dieses Format langfristig durchsetzte und bis in die Gegenwart anerkannter Standard ist, sei im Wesentlichen seiner ästhetischen und funktionalen Qualität zuzuschreiben. Die Entwicklung und Verbreitung dieses Formats zeige damit auf eindrucksvolle Weise das modifizierende und standardisierende Potential der Druckerpresse im Vergleich zum Manuskript.24 Die Wirkungen des hebräischen Buchdrucks beschränkten sich nicht nur auf die äußere Gestalt der Texte. Wenn auch die Skepsis gegenüber traditionsexternem Wissen das Eindringen nichtjüdischer, säkularer Stoffe erschwerte, so war das Korpus sakralen Wissens dennoch selbst Veränderungen unterworfen. Das vielleicht bedeutendste Beispiel für den mit dem Phänomen der Wissensdissemination verbundenen interkulturellen Austausch zwischen verschiedenen Judenheiten und den damit einhergehenden Wissenswandel stellt der Siegeszug des Schulchan aruch dar. Dieser zwischen 1555 und 1563 von Josef Karo (1488–1575) in Safed verfasste religionsgesetzliche Kodex dürfte der erste maßgebliche halachische Text gewesen sein, der nach seinem Abschluss nicht handschriftlich vervielfältigt werden musste, sondern fast unmittelbar nach Vollendung und noch zu Lebzeiten seines Verfassers den Weg auf die Druckerpresse fand – die vier Bände des Werks wurden 1565/1566 erstmals in Venedig aufgelegt. Wie Elchanan Reiner gezeigt hat, bietet die Rezeption, die der Schulchan aruch innerhalb der aschkenasischen Judenheit erfuhr, ein klassisches Beispiel dafür, wie

24 Heller, Designing the Talmud, 105.

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der Buchdruck das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der jüdischen Wissens- und Lernkultur zugunsten der letzteren veränderte.25

Hebräischer Buchdruck und säkulares Wissen in Aschkenas Der hebräische Buchdruck sorgte für die breite Verfügbarkeit jüdischen Wissens, zu dessen Rezipienten nicht nur jüdische Leser, sondern auch des Hebräischen kundige christliche Gelehrte gehörten.26 Die neue Technik veränderte die grafische Präsentation des Wissens und erleichterte intertextuelle Lektüren; der Charakter des präsentierten Wissens jedoch blieb weitgehend unverändert, und dies über Jahrhunderte und zumal in Aschkenas. Bibel, Midrasch und MidraschKommentare, Talmud und Talmudkommentare, vor allem aber Gebetbücher machten noch zwischen 1670 und 1770 gut drei Viertel der gesamten hebräischen Buchproduktion auf dem Boden des Heiligen Römischen Reichs aus. Bei etwa zehn Prozent handelte es sich um moralisch-erbauliche Schriften (sogenannte Musarliteratur), weitere zehn Prozent fielen in den Bereich der Unterhaltungsliteratur auf Jiddisch, und nur etwa fünf Prozent waren Philosophie, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte, Grammatik oder Pädagogik vorbehalten.27 Dennoch lässt sich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert an der Buchproduktion der hebräischen Druckereien in Deutschland ein langsam erwachendes Interesse an grammatischen, naturwissenschaftlichen und historischen Stoffen erkennen, wenngleich die eingewurzelte Skepsis gegenüber den chochmot chitzoniot (»äußere«, d. h. traditionsperiphere bis -externe »Weisheiten« bzw. Disziplinen) die Wiederentdeckung der rationalen jüdischen Philosophie des Mittel 25 Elchanan Reiner, The Ashkenazi Elite at the Beginning of the Modern Era. Manuscript versus Printed Book, in: Polin 10 (1997), 85–98. 26 Siehe Stephen  G. Burnett, Christian Hebraism in the Reformation Era (1500–1660).­ Authors, Books, and the Transmission of Jewish Learning, Leiden/Boston, Mass., 2012; Allison P. Coudert (Hg.), Hebraica Veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe, Philadelphia, Pa., 2004; Giuseppe Veltri/Gerold Necker (Hgg.), Gottes S­ prache in der philo­logischen Werkstatt. Hebraistik vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, Leiden/­Boston, Mass., 2004. Zur Wirkung der katholischen Bücherzensur auf das gedruckte Korpus jüdischen Wissens vgl. Amnon Raz-Krakotzkin, The Censor, the Editor, and the Text. The Catholic Church and the ­Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century, Philadelphia, Pa., 2007. 27 Dieser Schätzung liegt eine eigene Auszählung der im Thesaurus of the Hebrew Book (Otsar ha-sefer ha-ivri) von Yeshayahu Vinograd, 2 Bde., Jerusalem 1995, aufgeführten Werke zugrunde. Die folgenden Druckorte fanden hierbei Berücksichtigung: Altona, Berlin, Dessau, Dyhernfurth, Frankfurt an der Oder, Frankfurt am Main, Fürth, Halle, Hamburg, Hanau, Homburg, Jeßnitz, Leipzig, Neuwied, Offenbach, Prag, Sulzbach, Wandsbek, Wilhermsdorf. Vgl. auch Menachem Schmelzer, Hebrew Printing and Publishing in Germany, 1650–1750. On Jewish Book Culture and the Emergence of Modern Jewry, in: Leo Baeck Institute Year Book 33 (1988), 369–383, hier bes. 380.

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alters oder die Dissemination neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse noch hinauszögerte. In einigen Druckereien erschienen vermehrt historische Werke vor allem in jiddischen Übersetzungen, Reiseberichte oder geografische Beschreibungen des Heiligen Landes. Festzustellen ist auch eine Zunahme an grammatischen, pädagogischen und ethisch-philosophischen Schriften. Bachja Ibn Pakudas (ca. 1050–1120) Chovot ha-levavot (»Pflichten der Herzen«), ein ethischer Text aus dem 11. Jahrhundert, erschien etwa 1691 in Sulzbach und 1726 in Wilhermsdorf und wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht weniger als 26 Mal aufgelegt.28 Unter den historischen Texten war Salomo Ibn Vergas (1460–1554) Schevet Jehuda (»Das Zepter Judas« – u. a. Sulzbach 1669 und 1699, Fürth 1724) verbreitet, und auch David Gans’ Chronik Tsemach David wurde 1692 in Frankfurt neu aufgelegt; 1715 erschien in Offenbach eine gekürzte Fassung auf Jiddisch.29 Der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende, noch sehr vorsichtige Wandel im Hinblick auf den Charakter des gedruckten jüdischen Wissens lässt sich just an einem Werk von David Gans demonstrieren. Es handelte sich, nach dem Tsemach David, um die zweite bedeutende Schrift des Prager Gelehrten, die auf die Druckerpresse gelangte. Doch während Gans’ Chronik noch zu seinen Lebzeiten erschienen war, wurde dieses zweite Buch mit dem Titel Sefer nechmad ve-na’im (»Ein liebliches und angenehmes Buch«) erst 130 Jahre nach seinem Tod gedruckt. Einen knappen Auszug daraus hatte Gans 1612 unter dem Titel Magen David (»Schild Davids«) als Ankündigungsschrift für das gesamte Werk noch selbst auf die Druckerpresse gebracht. Doch kam es nicht mehr zum Druck des Gesamtmanuskripts. Alle, die sich in den Jahrzehnten darauf für das komplette Werk interessierten, mussten versuchen, an eine der wenigen existierenden handschriftlichen Kopien zu gelangen.30 Das Titelblatt des 1743 in der Jeßnitzer Druckerei Israel bar Avrahams erschienenen Sefer nechmad ve-na’im verkündete dann auch, dass dieses Werk seit dem Jahr 1613 »als Handschrift verborgen und verwahrt« gewesen sei und dass »bis zu dem heutigen Tage kein Mensch diese Schrift zu Gesicht bekommen« habe. Es enthalte »die Regeln der Wissenschaft der Astronomie und der Heiligung des Neumonds, die Messung der Sterne mit den [dafür vorgesehenen] Beobachtungsinstrumenten, die Kenntnis aller Himmelsstriche und das Verstehen der Weltkarte [sowie] viele weitere wunderbare Dinge«.31 Das gedruckte Buch bot in zwölf Kapiteln einschlägiges astronomisches und geografisches Wissen vor dem Hintergrund des ptolemäischen Weltmodells, be 28 Vgl. den Eintrag zu Chovot ha-levavot bei Vinograd, Thesaurus of the Hebrew Book, Bd. 1, 46. 29 Vgl. die entsprechenden Einträge bei Vinograd, Thesaurus of the Hebrew Book, Bd. 1, 128 (für Tsemach David) und 144 (für Schevet Jehuda). 30 Neher, Jewish Thought, 77–81. 31 Sefer nechmad ve-na’im, Jeßnitz 1743, Titelblatt.

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zog aber auch zeitgenössische Entdeckungen und Erfindungen ein. Es informierte über die Elemente und Sphären, den Erd- und den Himmelsglobus, den Tierkreis, die Zeitberechnung, den Lauf der Sonne, des Monds und der Planeten, über Finsternisse und Kometen und die Möglichkeiten ihrer Vorhersage. Sefer nechmad ve-na’im enthielt die erste korrekte hebräische Beschreibung der beiden amerikanischen Kontinente und der Geschichte ihrer Entdeckung und machte den Leser auf detaillierte Weise mit der Funktionsweise und den Anwendungsmöglichkeiten des Quadranten vertraut. Nur ein Versprechen der Titelei löste das Buch nicht voll ein, nämlich das einer Darstellung der Regeln zur »Heiligung des Neumonds« – kiddusch ha-chodesch. Diese auf dem Titelblatt verwendete Formel verweist auf die sakrale Zweckgebundenheit astronomischen Wissens im vormodernen Judentum. Im 12. Jahrhundert hatte Maimonides im dritten Buch seines Mischne tora, Sefer ha-zmanim (»Buch der [Fest]zeiten«), die astronomischen Modelle und mathematischen Formeln für die korrekte Berechnung des Neumondeintritts und für die Interkalation  – die Einschiebung von Schalttagen und -monaten in den jüdischen Mondkalender zwecks Ausgleichs mit dem Sonnenjahr – unter der Überschrift Hilchot kiddusch ha-chodesch (»Vorschriften zur Heiligung des Neumonds«) aufgenommen und gleichzeitig seine auf griechischer und arabischer Wissenschaft gründenden Anschauungen über den Aufbau des Kosmos dargelegt.32 Bei den meisten der im 16.  Jahrhundert in Aschkenas verfassten astronomischen Abhandlungen handelte es sich um Kommentare zu Maimonides’ Berechnungen und Diagrammen. Laien konnten auf Werke wie Eliezer Ja’akov Beilins Sefer ha-evronot (»Buch der Hinzufügungen«) zurückgreifen; erstmals im Jahr 1614 gedruckt, erlebte es im 17.  und 18.  Jahrhundert zahlreiche Neuauflagen. Auch dieses Werk bot eine rudimentäre Einführung in die Wissenschaft der Astronomie, im Mittelpunkt stand jedoch die praktische, rituelle Anwendbarkeit dieses Wissens. Zu diesem Zweck enthielt das Buch zahlreiche Diagramme, Tabellen und bewegliche Kalkulationsscheiben.33 David Gans’ Werk hingegen enthielt weder Berechnungsmodelle oder Tabellen zur zeitgenauen Bestimmung des Neumondeintritts noch Anweisungen zur korrekten Interkalation. Das Werk berührte das komplexe System der Einschaltungen und die »Heiligung des Neumondes« nur insofern, als es ihre astronomischen Voraussetzungen beschrieb und die Methoden der Beobachtung und Berechnung erläuterte, die jener rituellen Praxis zu Grunde lagen. Die Dar­bietung von Wissen erfolgte um des Wissens, nicht um eines sakralen Zweckes willen. 32 Sasha Stern, Calendar and Community. A History of the Jewish Calendar, 2nd Century BCE–10th Century CE, Oxford 2001, 155–181; Sylvie Anne Goldberg, Zeit und Zeitlichkeit im Judentum, Göttingen 2009, 235–254, 515–520. 33 B. Barry Levy, Planets, Potions and Parchments. Scientifica Hebraica from the Dead Sea Scrolls to the Eighteenth Century, Montreal u. a. 1990, 101–103.

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Mit der religionsneutralen Beschreibung der Himmelsmechanik ging eine Säkularisierung des Zeitbegriffs einher: Das aus dem Lauf der Gestirne abgeleitete Zeitmaß diente nicht als Mittel des Kults, sondern war intrinsisches Wissensobjekt und lebenspraktisches Hilfsmittel gleichermaßen. Auffällig an dem Buch war weiterhin das Fehlen weit ausholender theologischer Rechtfertigungen für die Beschäftigung mit säkularem Wissen wie Geografie und Astronomie. Die gelegentliche Berufung auf die astronomischen Kenntnisse der Rabbinen hatte vor allem strategische Bedeutung und schloss die Anerkennung wissenschaftlichen Fortschritts wie auch umwälzender Entdeckungen keinesfalls aus. Mit der Wendung vom Ritual zur Methode, von der sakral definierten Nützlichkeit astronomischen Wissens zur rationalen Beschreibung der Naturgesetze sowie mit seiner hohen Dichte wissenschaftlicher Information stellte das Sefer nechmad ve-na’im schon um die Zeit seines Entstehens ein Novum im »jüdischen Bücherregal« dar. Jedoch konnte es als Handschrift zunächst kaum Verbreitung finden, im Gegensatz zu dem 1629 in Amsterdam gedruckten Sefer Elim (»Das Buch Elim«) des sefardischen Gelehrten Joseph Salomon Delmedigo (1591–1655), eine theoretisch fundierte Darstellung philosophischer, mathematischer, astronomischer und geografischer Probleme. Delmedigos Werk war das erste gedruckte hebräische Buch mit detaillierten wissenschaftlichen Illustrationen. Neben Diagrammen zur Himmelsstruktur und zur Mondphasenberechnung enthielt es eine Vielzahl von Grafiken zur Erläuterung der euklidischen Geometrie und mehrere Zeichnungen, die mittelalterliche und zeitgenössische Erfindungen repräsentierten.34 Doch gehörten Delmedigos Werk wie auch andere wissenschaftlich-enzyklopädische Kompendien, etwa das 1612 in Mantua gedruckte Schilte ha-giborim (»Heldenschilde«) von Avraham Portaleone (1542–1612), zum sefardisch-italienisch geprägten, säkularem Wissen gegenüber aufgeschlosseneren Teil der jüdischen Kultur.35 Hingegen mag der Umstand, dass David Gans’ Werk 130 Jahre auf seine Erstveröffentlichung warten musste, als ein Indiz für die Skepsis gegenüber der Beschäftigung mit nicht-traditionellem Wissen in der Welt des asch­kena­ sischen Judentums in der Frühen Neuzeit dienen. Wenn auch von einer seit dem Mit­telalter durchgehenden Ignoranz oder gar Feindschaft der aschkenasischen

34 Zu Delmedigos Sefer Elim vgl. Isaac Barzilay, Yosef Shlomo Delmedigo (Yashar of Candia). His Life, Works, and Times, Leiden 1974, 95–102. 35 Siehe Abraham Ben David Portaleone, Die Heldenschilde, vom Hebräischen ins Deutsche übersetzt und kommentiert von Gianfranco Miletto, Frankfurt a. M. u. a. 2002. Vgl. Gianfranco Miletto, Glauben und Wissen im Zeitalter der Reformation. Der salomonische Tempel bei Abraham ben David Portaleone (1542–1612), Berlin/New York 2004; Abraham Melamed, The Hebrew Encyclopedias of the Renaissance, in: Steven Harvey (Hg.), The Medieval Hebrew Encyclopedias of Science and Philosophy, Dordrecht/Boston, Mass./London, 441–464, hier 454–463.

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Juden gegenüber den Wissenschaften nicht die Rede sein kann,36 so wirkten doch die Kontroversen des 12.  und 13.  Jahrhunderts um das philosophische Werk des Maimonides und insbesondere um seinen More nevuchim (»Führer der Unschlüssigen«), der die Prämissen der aristotelischen Naturlehre enthielt, bis weit in die Frühe Neuzeit hinein. Dass sich die Schärfe der antimaimonidischen Polemik, wie sie etwa in der Prager bzw. Posener Kontroverse von 1559 und in der Auseinandersetzung zwischen Moses Isserles und Salomon Luria (MaHaRSchaL, 1510–1573) deutlich wurde, auch aus der Ablehnung neuen, gedruckten Wissens speiste, das nach 1500 vor allem von Italien aus in den aschkenasischen Kanon eindrang, hat Elchanan Reiner gezeigt. Das kulturelle und mentale Gewebe der aschkenasischen Judenheit, die hier akzeptierten Lehrmethoden und Traditionen erklären nach Reiner die Indifferenz gegenüber den säkularen Wissenschaften.37

Jeßnitz und das Wissen der frühen Haskala Der Druck von David Gans’ Sefer nechmad ve-na’im im Jahre 1743 in Jeßnitz stellt nur ein Element eines typografisch-wissenshistorischen Geschehens dar, in dessen Zentrum der kleine Ort im Fürstentum Anhalt-Dessau und die hier seit 1719 tätige hebräische Druckerei stand. Der Ausstoß von Werken der »äußeren Wissenschaften« – Grammatik, Naturwissenschaften, Philosophie – den die sogenannte »Wulffsche Presse«38 zwischen 1719 und 1726 und erneut von 1738 bis 1745 zu verzeichnen hatte, ist beeindruckend und weist in die Richtung einer frühen jüdischen Aufklärung.39 Bereits unter den ca. 40 Werken der ersten Druck 36 Ja’akov Elbaum, Petihut we-histagrut. Ha-jetzira ha-ruhanit ha-sifrutit be-polin u-wearzot aschkenaz be-schilhe ha-me’a ha-16 [Offenheit und Selbstisolation. Das geistig-literarische Schaffen in Polen und in den aschkenasischen Ländern zum Ende des 16. Jahrhunderts], Jerusalem 1990; David Ruderman, The Legitimation of Scientific Activity Among Central and Eastern European Jews, in: ders., Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, Detroit 2001, 54–99; Elchanan Reiner, The Attitude of Ashkenazi Society to the New Science in the Sixteenth Century, in: Science in Context 10 (1997), 589–603. 37 Siehe Reiner, The Attitude of Ashkenazi Society to the New Science, 597–601; ders., The Ashkenazi Elite. Vgl. auch David Ruderman, Early Modern Jewry. A New Cultural History, Princeton, N. J./Oxford 2010, 99–103. 38 Zur Geschichte der Wulff ’schen Druckerei vgl. Max Freudenthal, Aus der Heimat Mendelssohns. Moses Benjamin Wulff und seine Familie, die Nachkommen des Moses Isserles, Berlin 1900 (Nachdruck Dessau 2006), 155–231; Stefan Litt, Jüdische Druckereien auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt, in: Giuseppe Veltri/Christian Wiese (Hgg.), Jüdische Bildung und Kultur in Sachsen-Anhalt von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus, Berlin 2009, 115–132. 39 Zum Begriff einer »frühen Haskala« vgl. Shmuel Feiner, Jüdische Aufklärung. Geschichte einer kulturellen Revolution, Hildesheim u. a. 2007, 35–54; David Sorkin, The Early Haskalah, in: Shmuel Feiner/ders. (Hgg.), New Perspectives on the Haskalah, London/Portland, Oreg., 2001, 10–26.

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periode kann etwa ein Sechstel dem traditionsperipheren Wissen zugeordnet werden. Darunter stechen mehrere Werke zur hebräischen Grammatik und ein außergewöhnliches Kompendium der Naturwissenschaften hervor. Gleich 1719 erschien das Wörterbuch biblischer Termini Ohale Jehuda (»Die Zelte Judas«) des Gelehrten Jehuda Arie Löb aus Carpentras. Die Pflege der hebräischen Sprache, die Verbreitung der Kenntnis ihrer Grammatik war eines der zentralen Anliegen der frühen Maskilim der ersten Hälfte des 18.  Jahrhunderts. Zu ihnen gehörte Salomon Hanau (1676–1746), dessen grammatischer Gebetbuchkommentar Scha’are tefila (»Die Tore des Gebets«) 1725 in Jeßnitz gedruckt wurde. Er begleitete eine von Hanau nach philologischen Gesichtspunkten verbesserte Ausgabe des Siddur und enthielt deutliche Kritik am überlieferten Text des Gebetbuchs und seinen zeitgenössischen Tradenten.40 Im Jahr 1721, mehr als zwei Jahrzehnte vor David Gans’ Sefer nechmad­ ve-na’im, wurde in Jeßnitz zudem das enzyklopädische Kompendium der Naturwissenschaften Ma’ase Tuvija (»Werk des Tuvija«) gedruckt. Das 1707 erstmals in Venedig veröffentlichte Werk versammelte Wissen aus Medizin, Astronomie, Geografie, Physik und Botanik und trat mit dem Anspruch auf, den jüdischen Leser auf den Kenntnisstand der zeitgenössischen Naturwissenschaften zu bringen und ihn so in die Lage zu versetzen, in Diskussionen über diese Gegenstände mit christlichen Gesprächspartnern zu bestehen. Das Buch war um 1700 in Adrianopel und Konstantinopel von dem Arzt Tuvija ha-Cohen (1652–1729) verfasst worden, der zwei Jahrzehnte zuvor zu den ersten jüdischen Studenten an der Universität in Frankfurt an der Oder gehört hatte. Das Ma’ase Tuvija zeichnete sich durch eine Vielzahl medizinischer und naturwissenschaftlicher Illustrationen aus. Es bot das Lehrwissen der modernen Medizin und enthielt ein umfang­ reiches Kapitel über den Aufbau des Weltalls nach traditioneller jüdischer und ptolemäischer Vorstellung und entsprechend der modernen Modelle des Universums von Kopernikus und Tycho Brahe.41 Unter den ersten Jeßnitzer Drucken befand sich außerdem das Religions­ brevier Lekach tov (»Gute Lehre«) des Abraham Jagel (1553–1623) in einer hebräisch-jiddischen Ausgabe. Der Druck dieses Werkes deutete ebenfalls in eine moderat aufgeklärte Richtung: Im Vorwort des Buchs äußerte der Drucker, der in

40 Freudenthal, Aus der Heimat Mendelssohns, 208–212. Zu Salomon Hanau, seinen Werken und den Kontroversen, die sie verursachten, vgl. Andrea Schatz, Sprache in der Zerstreuung. Die Säkularisierung des Hebräischen im 18. Jahrhundert, Göttingen 2009, 140–165. 41 Zu Tuvija ha-Cohen und seinem Werk Ma’ase Tuvija vgl. David B. Ruderman, On the Diffusion of Scientific Knowledge within the Jewish Community. The Medical Textbook of­ Tobias Cohen, in: ders., Jewish Thought and Scientific Discovery in Early Modern Europe, ­229–255; Dirk Sadowski, Jupitermonde und »verschlossene Gärten«. Tuvija Cohens Enzyklopädie der Naturwissenschaften und der Medizin ›Ma’ase Tuvija‹ (1707), in: Jahrbuch des SimonDubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 9 (2010), 247–277.

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diesem Fall auch als Herausgeber fungierte, Kritik an der herkömmlichen Lehrund Lernweise der aschkenasischen Juden, die das Studium der Tora zugunsten der Beschäftigung mit dem Talmud vernachlässigten und daher kaum noch die Grundlagen ihrer Religion kennen würden.42 Historische Stoffe gelangten in Jeßnitz hingegen nicht auf die Druckerpresse. Doch fanden sich neben dem kanonisierten religiösen Wissen in Gestalt von Gebetbüchern, halachischer Literatur und Bibel- und Midraschkommentaren, einigen wenigen kabbalistischen Texten sowie den genannten Werken der »äußeren Wissenschaften« unter den frühen Erzeugnissen der Jeßnitzer hebräischen Presse auch Werke aus anderen, populären Bereichen des jüdischen Wissens: Moralliteratur, Gesundheitsbreviere und Darstellungen mythologischen Inhalts, so etwa das Buch Eldad ha-dani (»Eldad, der Daniter«), eine Spekulation über den Aufenthaltsort der »verschollenen zehn Stämme« in Gestalt eines mittelalterlichen Reiseberichts, die weite Verbreitung genoss und in Jeßnitz gleich zweimal aufgelegt wurde, einmal in hebräischer und einmal in jiddischer Sprache (1722 und 1723). Die Offenheit gegenüber nicht-kanonischem jüdischem Wissen, die das Jeßnitzer Druckrepertoire zwischen 1719 und 1726 kennzeichnete, lässt sich mit mehreren Faktoren erklären. Zunächst spielten Fragen des Absatzmarkts und des Zielpublikums eine entscheidende Rolle. Die Jeßnitzer Presse scheint nicht vorrangig für die Institutionen jüdischen Lernens im mitteldeutschen Raum gearbeitet zu haben, deren Bedarf offensichtlich von anderen Druckereien gedeckt wurde – so finden sich bis 1726 kaum Talmudtraktate und kein bedeutender halachischer Kodex unter den Jeßnitzer Erzeugnissen. Zur potentiellen Leserschaft gehörten hingegen christliche Gelehrte und Universitätsprofessoren, Theologen und Orientalisten, wie Ankündigungen in relevanten Gelehrtenzeitschriften der Zeit belegen.43 Neben dieser spezifischen Zusammensetzung des Zielpublikums spielte offensichtlich die nur schwach ausgeprägte innerjüdische Zensur vor Ort bzw. im nahegelegenen Dessau mit seiner kleinen und noch relativ jungen jüdischen Gemeinde eine Rolle im Hinblick auf das Jeßnitzer Sortiment und seine Offenheit gegenüber traditionsperipheren Stoffen. Der entscheidende Faktor ist jedoch in der Person des Druckers zu sehen. Über das Leben Israel bar Avrahams, der bereits 1717 die »Wulffsche Presse« übernommen und mit ihr zunächst in Köthen gedruckt hatte, ist kaum etwas bekannt. Mit einiger Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei ihm um einen Konvertiten zum Judentum. Zeitgenossen mutmaßten, dass er einst ein Kleriker, wenn nicht gar ein Kapuzinermönch gewesen sei. Sollte dies zugetroffen haben, so liegt es nahe, in der einstigen theologischen, wahrscheinlich hebraistischen Ausbildung des Druckers einen Grund für sein gesteigertes Interesse an bestimmten Stoffen, vor allem an hebräischer Grammatik, 42 Lekach tov, Jeßnitz 1719, Vorrede des Druckers, fol. 10b. 43 Freudenthal, Aus der Heimat Mendelssohns, 199.

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aber auch an ausgesuchten, sefardischen Bibelkommentaren, wie sie die Jeßnitzer Presse in den 1720er Jahren verließen, zu sehen.44 Dass Israel bar Avrahams persönliche Interessen eine gewisse Rolle für die Auswahl der Stoffe spielten, die auf seine Druckerpresse gelangten, geht aus den Vorworten hervor, die der Drucker zu mehreren Werken beisteuerte. Auch mag seine Neugier und Offenheit gegenüber ungewöhnlichen Stoffen streitbare Gelehrtenpersönlichkeiten wie den erwähnten Salomon Hanau angezogen haben, die ihre nonkonformen Werke auf seiner Presse herausgeben wollten, wie auch der Drucker selbst durch den Umgang mit jenen frühen Maskilim Impulse für seine weitere Drucktätigkeit erhalten haben mag. Dieser Umstand bestätigt anhand der jüdischen Typografiegeschichte die These Elizabeth Eisensteins, die in der frühneuzeitlichen Druckwerkstatt nicht nur einen Ort wirtschaftlicher Kalkulation und handwerklicher Tätigkeit, sondern auch ein Zentrum intellektuellen Austauschs erblickte und im Drucker nicht nur den Unternehmer sah, sondern ihm eine aktive, vermittelnd kreative Rolle bei der Herausbildung des früh­ modernen Wissenskorpus zubilligte.45 Bei der außerordentlichen Kumulation von Werken der »äußeren Wissenschaften«, die die Jeßnitzer Presse in der zweiten Phase ihrer Drucktätigkeit zwischen 1738 und 1745 verließen, kamen weitere Faktoren hinzu. Vermutlich war hierfür die Begegnung Israel bar Avrahams mit dem Kaufmann, Gelehrten und Dessauer Landesrabbiner David Fränkel  (1707–1762) entscheidend. Nachdem der Drucker nach 1726 mehrere Jahre in Wandsbek tätig gewesen war, ließ er sich 1738 wahrscheinlich auf Fränkels Bitte erneut in Jeßnitz nieder. Unter Fränkels Herausgeberschaft erschienen bis 1742 die vier voluminösen Bände von Maimonides’ autoritativem halachischem Kodex Mischne tora einschließlich der Hilchot kiddusch ha-chodesch und aufwendigen, eigens dafür gefertigten astronomischen Tafeln. Der Kodex war zuvor das letzte Mal 1702 in Amsterdam gedruckt worden, und offenbar bestand in Aschkenas ein zunehmendes Interesse an M ­ aimonides’ Werk, das bisher immer im Schatten von Josef Karos Schulchan aruch gestanden hatte. Eine Art Revolution im aschkenasischen Wissenskosmos des 18.  Jahrhunderts war der Druck des umstrittenen philosophischen Hauptwerks von Maimonides, des More nevuchim (»Führer der Unschlüssigen«), 189 Jahre nachdem das Buch das letzte Mal in Sabbioneta erschienen war. Der Drucker selbst, Israel bar Avraham, hatte die Einleitung verfasst. In ihr verwies er auf den nicht ungefährlichen Charakter dieser Art des Wissens und auf die Warnungen, die er im Vorfeld des Drucks von Freunden und Gegnern erhalten und die er zu ignorieren 44 Dirk Sadowski, »Gedruckt in der heiligen Gemeinde Jeßnitz«. Der Buchdrucker Israel bar Avraham und sein Werk, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 7 (2008), 39–69. 45 Eisenstein, The Printing Revolution, 46–70, hier bes. 49 f.

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beschlossen hatte. Der More nevuchim sei für ihn wie für alle, die nach Wissen dürsten, der »Baum der Erkenntnis [und] der Baum des Lebens«, von dessen Früchten zu kosten nicht im Verderben enden könne, denn »wenn es dem Herrn gefiele, mich zu töten, so hätte er mir all dies nicht gezeigt«.46 Selbstbewusstsein, Stolz und auch ein gewisses aufklärerisches Pathos sprachen aus diesen Zeilen. Der in Jeßnitz 1742 gedruckte »Führer der Unschlüssigen« stand im Zentrum eines kleinen Korpus von Werken, dessen Herausgabe sich als ein buchdruckerisches Signal der frühen Haskala und ihrer Hinwendung zu Naturwissenschaften, Philosophie und hebräischer Grammatik verstehen lässt. Mit dem Druck von David Gans’ Sefer nechmad ve-na’im im Jahre 1743 wandte sich Israel bar Avraham erneut den Naturwissenschaften zu, denen er bereits 1721 mit der Herausgabe des Wissenskompendiums Ma’ase Tuvija gehuldigt hatte. Naturwissenschaftlich-philosophischen Charakter hatte auch der Kommentar, den Israel Zamość (1700–1773), ein Vertreter der frühen Haskala und später in Berlin Lehrer des jungen Moses Mendelssohn, zum Traktat Ruach chen (»Geist der Anmut«) beisteuerte, der 1744 in Jeßnitz gedruckt wurde. Das mittelalterliche Werk war als einleitender Kommentar zu Maimonides’ »Führer der Unschlüssigen« gedacht und bot Erläuterungen zentraler Begriffe der aristotelisch-jüdischen Philosophie. Ähnlich wie der More nevuchim war auch Ruach chen über die Dauer mehrerer Generationen nicht mehr auf die hebräische Druckerpresse gelangt. Der neu hinzugekommene Kommentar von Israel Zamość vertiefte zum einen die naturphilosophischen Begriffe und Konzepte des Ruach chen; zum anderen machte er den jüdischen Leser mit den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften vertraut.47 Ebenfalls 1744 erschien in Jeßnitz Bachja Ibn Pakudas moralphilosophisches Werk Chovot ha-levavot (»Pflichten der Herzen«) aus dem 11. Jahrhundert. Es hat den Anschein, dass die zwischen 1742 und 1744 in Jeßnitz gedruckten philosophischen und naturwissenschaftlichen Werke kein zufälliges Korpus von Texten darstellen. Wenn man das im Vorwort zum More nevuchim angekündigte, letztlich jedoch nicht mehr gedruckte Sefer ha-schoraschim (»Buch der Wurzeln«) des mittelalterlichen Grammatikers David Kimchi  (1160–1235) hinzunimmt und zudem eine Verbindung zu den grammatischen und enzyklopädischen Werken der ersten Druckperiode herstellt, so erscheint das späte Œuvre des Jeßnitzer Druckers wie eine Hinwendung zu einem Wissen, das lange jenseits des Hauptstroms jüdischen Wissens in Aschkenas gestanden hatte. Es handelte sich um ein in mancher Hinsicht hybrides Wissen: Hier das mittelalterliche Wissen­ 46 Divre ha-madpis, More nevuchim, Jeßnitz 1742, o. P. 47 Gad Freudenthal, Hebrew Medieval Science in Zamość, ca. 1730. The Early Years of Rabbi Israel ben Moses Halevi of Zamość, in: Resianne Fontaine/Andrea Schatz/Irene E. Zwiep (Hgg.), Sepharad in Ashkenaz. Medieval Knowledge and Eighteenth-Century Enlightened­ Jewish Discourse, Amsterdam 2007, 25–67.

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sefardischer Prägung, entstanden im Kontakt zwischen der jüdischen Tradition und der islamischen Wissenskultur, die wiederum bereits das antike griechische Denken tradiert, dabei teilweise in eigene Konzepte und Begriffe übersetzt und an die mittelalterliche jüdische Philosophie weitergegeben hatte. Daneben standen neue Konzepte, die weder aus der aschkenasischen noch aus der mittelalterlichen sefardischen Wissenskultur abgeleitet waren: Reflexionen über die Entstehung der Sprachen, die Entdeckungen von Kopernikus und Galilei, die Beschreibung neuer Kontinente und von Erfindungen wie dem Quadranten. Indem diese Werke den jüdischen Leser mit den Erkenntnissen der neueren Naturforschung bekannt machten, grenzten sie sich nicht nur von den aristotelisch-ptolemäischen Voraussetzungen der mittelalterlichen sefardischen Wissenskultur ab, sondern propagierten ganz offensichtlich modernes, fremdes und bisher noch nie in jüdische Traditionszusammenhänge übersetztes Wissen. So kann man hinter der letzten Phase der buchdruckerischen Tätigkeit Israel bar Avrahams ein editorisches Programm erkennen, das – in noch sehr kleinem Maßstab – das Repertoire der späteren Hauptdruckerei der Haskala, der Orientalischen Buchdruckerey in Berlin unter der Leitung des Maskil Isaak Satanow (1732–1805), vorwegnahm.48

Mendelssohn, Maimon und die Werke der Jeßnitzer Druckerei Es sind zwei Erzählungen über ›Buchentdeckungen‹, die die Bedeutung der Jeßnitzer Druckerei für den Wandel der jüdischen Wissenskultur zum Beginn der Moderne verdeutlichen. Beide sind auf den Effekt beim Leser hin konstruiert, enthalten sicherlich aber mehr als nur einen Kern an Wahrheit. Da ist zum einen jene Stelle aus Isaak Euchels Biografie Moses Mendelssohns, an der Euchel über die klandestine Lektüre des Knaben Moses aus Dessau berichtet. Mendelssohn muss etwa zwölf Jahre alt gewesen sein, als ihm, vermutlich noch in Dessau, der More nevuchim in die Hände fiel: »Und Moses sah, dass es gut sei zur Belehrung und seine Untersuchungen angenehm. So bemühte er sich mit seiner ganzen Energie, es zu lesen und zu studieren, Tag und Nacht, bis er die Tiefe seiner Gedanken erfasst hatte. […] Da er Tag und Nacht über die Weisheit nachdachte und sich mit seinen Gedanken in sie vertiefte, um zur endgültigen Absicht des Führers [der Unschlüssigen, D. S.] zu gelangen, schadete er seinem Körper, und er erkrankte; seine Erscheinung wurde entstellt, und er magerte bis auf den Tod ab. In seinem Freundeskreis äußerte er manchmal zum Spaß: ›Maimonides war der Grund zur Entstellung meiner Erscheinung. Er verdarb meinen Leib, und seinetwegen wurde 48 Uta Lohmann, »Sustenance for the Learned Soul«. The History of the Oriental Printing Press at the Publishing House of the Jewish Free School in Berlin, in: Leo Baeck Institute Year Book 51 (2006), 11–40.

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ich schwächlich. Trotz alledem brachte ich ihm große Liebe entgegen, denn er verwandelte viele Stunden meines Lebens vom Leid zur Freude; und wenn er mir auch unabsichtlich Böses antat, indem er meinen Körper schwächte, so machte er es siebenfach wieder gut, indem er durch seine erhabenen Lehren meine Seele heilte‹.«49

Es ist aufgrund der zeitlichen Koinzidenz, der vermuteten räumlichen Nähe und der möglichen Beteiligung seines Mentors David Fränkel sehr wahrscheinlich, dass Moses Mendelssohns der physischen Gesundheit so abträgliche, für seinen Geist und den Verlauf der jüdischen Aufklärung aber so förderliche MaimonidesEntdeckung in einem direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Druck­ legung des More nevuchim in Jeßnitz stand. Die zweite Buchentdeckung, von der hier die Rede sein soll, ereignete sich etwa um 1760 im Haus eines Rabbiners in einem weißrussischen Dorf. Schlomo, der siebenjährige Sohn des Rabbiners, entdeckte im Bücherschrank seines Vaters neben dem Talmud mehrere ihm unbekannte Bücher, die er bei sich bietender Gelegenheit trotz väterlichen Verbots näher in Augenschein nahm: »Die vorzüglichsten darunter waren: eine hebräische Chronik (unter dem Titel Zemach David, von einem gescheiten Rabbiner in Prag, namens Rabbi David Gans abgefasst […] und, was mich am stärksten anzog, ein astronomisches Buch. Hier eröffnete sich mir eine neue Welt, ich machte mich also mit dem größten Fleiße darüber. Man denke sich ein Kind von ungefähr sieben Jahren, das noch nie von den ersten Elementen der Mathematik etwas gesehen oder gehört hat, dem ein astronomisches Buch in den Wurf kommt und seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, worüber ihm aber niemand Anweisung geben kann […]; wie muss dieses seinen nach Wissenschaften schmachtenden Geist nicht entflammt haben.«50

Der Ich-Erzähler schildert weiter, wie sich der Knabe des Nachts im Licht eines Kienspans in das astronomische Buch vertieft und sich nach einer der Abbil­ dungen aus Weidenruten einen Himmelsglobus, eine Sphaera armillaris, bastelt, und wie sein geheimnisvolles Tun den Argwohn seiner Familienangehörigen weckt. Der Knabe Schlomo war niemand anderes als der spätere jüdische Aufklärer und Philosoph Salomon Maimon (1753–1800), der diese Episode in seiner­ »Lebensgeschichte« berichtete. Bei dem geheimnisvollen astronomischen Buch handelte es sich um das 1743 in Jeßnitz gedruckte Sefer nechmad ve-na’im von David Gans. Der zu den »unorthodoxesten« Vertretern der Haskala gehörende Denker, der sich aus Verehrung für den mittelalterlichen Philosophen den Nach­ 49 Isaak Euchel, Toldot rabenu he-chacham Mosche ben Menachem [Geschichte unseres weisen Meisters Moses ben Menachem], Berlin 1788, 7 f. (deutsche Übersetzung von Reuven Michael, in: Alexander Altmann u. a. [Hgg.], Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 23, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 113 f.). 50 Salomon Maimons Lebensgeschichte. Von ihm selbst geschrieben, hg. von Octavia Winkler, Berlin 1988, 32.

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namen Maimon gab, sollte zu Beginn der 1790er Jahre gemeinsam mit Isaak­ Euchel in der Orientalischen Buchdruckerey in Berlin den »Führer der Unschlüssigen« in einer neuen Fassung herausgeben und seinen Kommentar Giv’at ha-more (»Hügel des Führers [der Unschlüssigen]«) dazu beisteuern, in dem er versuchte, den mittelalterlichen Text aus der Perspektive der Kantischen Philosophie neu zu interpretieren. Doch nicht nur der Kommentar machte die Neuausgabe des More nevuchim zu einem modernen Buch. Die fünfzig Jahre, die vergangen waren, seitdem Israel bar Avraham in Jeßnitz das Werk zuletzt gedruckt hatte, hatten vor allem das typografische »Gesicht« des Buchs verändert: Ein Titelblatt in Latein stand neben der hebräischen Titelseite, die nicht mehr als klassisches Eingangstor (scha’ar) in schwerer Ornamentalik daherkam, sondern nüchtern allein aus Schrift gestaltet war. Und auch im Inneren des Buchs hatte sich das Erscheinungsbild grundlegend geändert. Die Jeßnitzer Ausgabe von 1742 war in dieser Hinsicht noch der Ausgabe von 1553 gefolgt; sie suchte dem Leser durch die Textgestaltung den Eindruck eines heiligen Werkes zu vermitteln und glich einer standardisierten Talmudseite nach Bomberg, mit dem Haupttext in Quadratschrift im Zentrum und den darum angeordneten Kommentaren in Raschi-Schrift sowie den Querverweisen und Referenzen in winziger Type am äußeren Rand. Die Gestaltung der Berliner Edition von 1791 hatte sich von diesem Paradigma vollkommen gelöst: Sie zeigte eine viel klarere Einteilung von Text und (klassischem) Kommentar ohne winzige Referenzhinweise am Rand und mit dem modernen Kommentar von Salomon Maimon im unteren Teil der Seite. Diese grafische Veränderung hatte aus dem »heiligen« Text einen philosophischen gemacht. Es gab keine Notwendigkeit mehr, die zentrale Stellung des umstrittenen mittelalterlichen Texts im Kanon jüdischen Wissens durch visuelle Strategien hervorzuheben. Durch die Änderung der Textanordnung deuteten die beiden Kantianer Euchel und Maimon zudem an, dass die neue Philosophie die aristotelische Art des Denkens in ihrer mittelalterlichen jüdischen Gestalt überholt hatte. An die Stelle der Metaphysik war die Kritik der Vernunft getreten.

Fazit Über 300 Jahre, vom Einsetzen des Drucks mit hebräischen Lettern um das Jahr 1475 bis zum Beginn der Drucktätigkeit im Zeichen der Haskala im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, war das Repertoire der hebräischen Druckerpresse weitgehend unverändert geblieben und umfasste fast ausschließlich traditionelle Stoffe: Gebetbücher, Rabbinerbibeln, Talmud- und Midrasch-Ausgaben sowie ältere und jüngere rabbinische Kommentare in großer Zahl, daneben etwas Unterhaltungsliteratur in jiddischer Sprache. Zwar druckten die hebräischen Pressen Italiens im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder auch Werke der jüdischen

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Philosophen des Mittelalters, astronomische und geografische Abhandlungen sowie Geschichtsdarstellungen zumeist jüdischer Provenienz. Die rabbinische Skepsis gegenüber den sogenannten »äußeren Weisheiten« verhinderte jedoch, dass jene Wissensbestände in bedeutendem Maß in der hebräischen Buchproduktion sichtbar werden konnten. Das revolutionäre Potential der Erfindung des Drucks mit beweglichen Lettern äußerte sich im Bereich der jüdischen Wissenskultur zunächst nicht in der medialen Erschließung und Verbreitung neuen, im Wesentlichen säkularen Wissens, wie es in der christlichen Welt der Fall war. »Standardization« und »cross-cultural interchange«, zwei zentrale Merkmale der neuen Buchkultur nach Elizabeth  L. Eisenstein, wirkten durchaus auch in der jüdischen Sphäre. Das Studium der Bibel und des Talmud wurde durch die druckgrafische Aufteilung der Texte und ihre Standardisierung deutlich erleichtert; neue Einsichten und hermeneutische Methoden waren die Folge.51 Mit dem Buchdruck gelangte das Wissen Sefarads und der Juden Italiens nach Aschkenas, Traditionen der Auslegung wurden amalgamiert, wie das Beispiel der Rezeption des Schulchan aruch Josef Karos zeigt. Doch blieb dieser interkulturelle Austausch auf die unterschiedlichen Judenheiten und ihre Kommunikation untereinander beschränkt. ›Fremde‹ Einflüsse fanden sich ›nur‹ in Gestalt mittel­alterlicher jüdischer Anverwandlungen griechischen und arabischen Wissens  – hybride Stoffe, die sporadisch von den italienischen Pressen aus verbreitet wurden. Während christliche Unterhaltungsstoffe an die jüdische Lebenswelt und ihre Symbolik adaptiert und in jiddischer Sprache gedruckt wurden, spiegelte sich zeitgenössisches naturwissenschaftliches Wissen, von wenigen Ausnahmen wie Delmedigos Sefer elim abgesehen, kaum im Repertoire des hebräischen Buchdrucks des 16., 17. und teilweise auch des 18. Jahrhunderts. Ein Wandel im Hinblick auf den Druck und die Verbreitung traditionsperipherer und -externer Stoffe ist in Aschkenas erst unter dem Einfluss einer »frühen Haskala« erkennbar. Hier ragt vor allem der Jeßnitzer Buchdrucker Israel bar Avraham hervor. In den aus seiner Presse zwischen 1726 und 1745 hervorgegangenen grammatischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Schriften drückte sich nicht nur das wiederentdeckte Wissen des jüdisch-arabisch-spanischen Mittelalters aus, sondern hier erhielten auch zahlreiche unkonventionelle, »moderne« Gelehrte wie Salomon Hanau, Tuvija ha-Cohen und Israel Zamość die Gelegenheit, sich in Kompendien und Kommentaren auszudrücken und ihren jüdischen Lesern das Wissen der Zeit zu präsentieren. Doch war auch dies ein eher vorsichtiger Beginn. Erst die Maskilim der 1780er Jahre bedienten sich des Mediums Buchdruck auf geschickte Weise, um ihre Agenda und das mit ihr verknüpfte Wissen zu verbreiten. Sie schufen mit der »Orientalischen Buch 51 Elchanan Reiner, Beyond the Realm of Haskalah. Changing Learning Patterns in Jewish Traditional Society, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 6 (2007), 123–133.

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druckerey« und entsprechenden Vertriebsnetzen eine eigene Infrastruktur zur Produktion und Verbreitung säkularen Wissens aus eigener Feder; und sie präsentierten darüber hinaus die Werke mittelalterlicher jüdischer Philosophie und Grammatik nicht nur zusammen mit neuen Auslegungen, sondern auch in neuem typografischem Gewand. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass dieser Durchbruch des neuen, aufgeklärten Wissens in hebräischen Lettern zugleich bereits das Ende der säkularen hebräischen Buchkultur im deutschsprachigen Raum in sich barg. Der mit ihrer Verbürgerlichung einhergehende und durch die Emanzipation beschleunigte Sprachwandel der Juden und ihre zunehmende Lesefähigkeit von lateinschriftlichen Texten machten die Verbreitung von säkularem Wissen in hebräischer Sprache in Mitteleuropa zu einer sehr kurzlebigen Erscheinung.

Imanuel Clemens Schmidt

Kulturkampf, Protestantisierung, Wissenschaft Matthias Jacob Schleidens Konzeption vom Judentum

Im Preußischen Abgeordnetenhaus wurde am Montag, dem 22.  November 1880, eine zwei Tage zuvor eröffnete Debatte fortgeführt, zu der Albert Hänel ­(1833–1918), Jurist und Abgeordneter der Fortschrittspartei, durch eine Interpellation »betreffend die Agitation gegen die jüdischen Staatsbürger« vom 13. November angeregt hatte.1 Hänel hatte bei der Königlichen Staatsregierung angefragt, wie sie mit der jüngst erhobenen Forderung nach der Aufhebung der rechtlichen Gleichstellung der jüdischen Staatsbürger umzugehen gedenke. Die Interpellation bezog sich damit auf die zuvor an den Reichskanzler Bismarck gerichtete Petition aus dem Umfeld einflussreicher deutscher Antisemiten, die – besorgt um den »innige[n] Zusammenhang von deutschem Brauch und deutscher Sitte mit christlicher Weltanschauung und christlicher Ueberlieferung«2  – eine Einschränkung der Einwanderung von Juden gefordert hatte. Ferner verlangte sie, dass Juden von jeder Form der obrigkeitlichen Stellung ausgeschlossen, allein Christen als Volksschullehrer eingestellt und eine amtliche Statistik der jüdischen Bevölkerung erarbeitet würden.3 Als einem der ideologischen Väter der Petition wurde in der Debatte auch dem Hof- und Domprediger Adolf Stoecker (1835–1909), seit 1879 Abgeordneter des Preußischen Landtags, das Wort erteilt. Stoecker verteidigte die Petition unter anderem mit dem Verweis auf die in jüdischen Schriften der jüngeren Vergangenheit offen artikulierte Verachtung und Feindschaft gegenüber dem Christentum wie auch Überheblichkeit gegenüber dessen Geschichte. Dabei benannte Stoecker eine Reihe von jüdischen Autoren namentlich. So hielt er A ­ braham­ 1 Interpellation des Abgeordneten Dr. Hänel im preußischen Abgeordnetenhause betreffend die Agitation gegen die jüdischen Staatsbürger, in: Der »Berliner Antisemitismusstreit« 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung bearbeitet von Karsten Krieger, 2 Bde., München 2003, Bd. 2, hier 555 f. 2 Der »Berliner Antisemitismusstreit«, Bd. 2, 579–583, hier 580. 3 Ebd., 581. Zum Kontext der Debatte vgl. Moshe Zimmermann/Nicolas Berg, Art. »Berliner Antisemitismusstreit«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (nachfolgend EJGK), hg. von Dan Diner, Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2011, 277–282.

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Geiger (1810–1874) vor, das Christentum pauschal und ohne konfessionelle und räumliche Differenzierung als feindlich gegenüber Freiheit und Bildung charak­ terisiert zu haben. Ein anderer, der Botaniker und Pionier der Zellforschung Matthias Jacob Schleiden (1804–1881), habe sich erlaubt, in seiner Schrift zum jüdischen Martyrium im Mittelalter von »christlicher Nichtswürdigkeit« zu sprechen. Doch mit Blick auf Schleiden erntete Stoecker Widerspruch: In wiederholten Zwischenrufen und Wortwechseln wandten verschiedene Abgeordnete ein, dass Schleiden selbst nicht jüdischer Herkunft sei. Stoecker war sich seiner Sache jedoch sicher: Matthias Jacob Schleiden sei ein angesehener jüdischer Autor, und anderslautenden Zwischenrufen entgegnete er mit der Nennung einer weiteren Schrift Schleidens. Als unfehlbarer Beweis von Schleidens jüdischer Herkunft diente Stoecker dessen Text Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wieder­ belebung der Wissenschaften im Mittelalter aus dem Jahr 1877, deren bereits im Titel angelegte, auf den historischen kulturellen Leistungen von Juden begründete Apologetik S­ toecker offenbar davon ausgehen ließ, dass der Verfasser nur jüdischer Herkunft sein könne.4 Der folgende Beitrag möchte diese Fehldeutung Stoeckers für historische Erkenntnis fruchtbar machen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen gilt es nachzuvollziehen, wie Schleiden als protestantischer Wissenschaftler in einer von Trennungen charakterisierten Öffentlichkeit des Kaiserreichs zu seiner ebenso wohlgesonnen wie marginalisierten Einschätzung über den jüdischen Beitrag zur Wissenschaft gelangte; zum anderen, inwieweit die seit ihrer Publikation auch in jüdischer Rezeption dominante Lesart der Texte als Apologie den Blick für deren Funktion als Ort der Verhandlung protestantischer Selbstverständnisse verstellt hat. So schrieb noch im Jahr 1931 die Zeitschrift Der Israelit anlässlich des 50. Todestags von Schleiden, dieser dürfe »zu den Besten der Völker der Welt« gezählt werden und seine Gedanken mögen sich weiterhin verbreiten.5 Dieser Wunsch bezog sich auf ebenjene zwei Werke, die Stoecker im Landtag angeprangert hatte, und die es verdienten »noch heutzutage von jedem Nichtjuden zur Belehrung und Mahnung, von jedem Juden zur Erhebung gelesen zu 4 Die Judenfrage. Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses über die Interpellation des Abgeordneten Dr.  Hänel am 20.  und 22.  November. Separatabdruck der Amtlichen Stenographischen Berichte des Hauses der Abgeordneten, Berlin 1880, 133. Vgl. Rosemarie Schuder, Deutsches Stiefmutterland. Wege zu Berthold Auerbach. Mit einem Nachwort von Thomas Scheuffelen, Teetz 2003, 340. Als Grundlage ihrer szenischen Darstellung dient Schuder das Protokoll der 12. und 13. Sitzung im Haus der Abgeordneten zu Berlin, Geheimes Staatsarchiv, Berlin Dahlem. Vgl. zudem Marianne Scholz, Letzte Lebensstationen. Zum post­ akademischen Wirken des deutschen Botanikers Matthias Jacob Schleiden (1804–1881), Berlin 2001, 174 f. 5 Arthur Bernhard Posner, Matthias Jacob Schleiden. Einem Judenfreund zum 50. Todes­tage, in: Der Israelit. Ein Centralorgan für das orthodoxe Judentum 72 (1931), Nr. 34 [20. August], 11, Sp. 3.

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werden.«6 Der Verfasser des Artikels, der Kieler Rabbiner und Religionslehrer Arthur Bernhard Posner (1890–1962), war es auch, der ein Jahr zuvor einen Beitrag zu Schleiden für das Jüdische Lexikon verfasst hatte.7 Schleidens Werk über Die Romantik des Martyriums bei den Juden im Mittelalter, so die Einschätzung Posners, habe seinerzeit bereits alle antisemitischen Argumente widerlegt, weshalb er es umso mehr begrüßte, dass der vergriffene Text 1931 in Wien als Nachdruck erschien.8 Wie richtig Posner mit seiner eher beiläufigen Feststellung lag, dass die hier vermittelten Tatsachen Schleiden »gelegentlich auch die Möglichkeit [geben], ein scharfes Wort gegen seine Glaubensbrüder zu sagen«9, dürfte ihm selbst, der diese Texte vornehmlich unter apologetischer Perspektive las, nicht bewusst gewesen sein.

Judentum zwischen Wissenschaft und Protestantismus Die erste von Schleidens beiden Schriften zur jüdischen Geschichte war von Oktober 1876 bis März 1877, etwa vier Jahre vor der Debatte im Preußischen Landtag, in Einzellieferungen in dem populären Westermann’s Jahrbuch der Illus­trirten deutschen Monatshefte erschienen und noch im gleichen Jahr in drei unveränderten Separatdrucken vom Ausschuss des Deutsch-Israelitischen Gemeindebunds zu Leipzig herausgegeben worden.10 Gemessen an der Anzahl weiterer Neuauflagen11 und der auf die Erstveröffentlichung rasch folgenden Übersetzungen ins Französische (1877), Italienische (1878) und Englische (1883, 1911) darf die unter dem Titel Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter veröffentlichte Arbeit zu Schleidens erfolgreichsten populären Schriften gerechnet werden.12 Ihr zentrales Anliegen besteht darin, zu zeigen, dass die jüdische Geschichte in kultureller Hinsicht kein Mittelalter 6 Ebd., Sp. 1. 7 Ders., Art. »Schleiden, Matthias Jakob«, in: Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hgg.), Jüdisches Lexikon. Ein enzyklopädisches Handbuch des jüdischen Wissens in vier Bänden, Bd. IV/2, Berlin 1930, 222. 8 Ders., Matthias Jacob Schleiden, Sp. 2. Vgl. Matthias Jacob Schleiden, Die Romantik des Martyriums bei den Juden im Mittelalter, Wien 1931. 9 Posner, Matthias Jacob Schleiden, Sp. 1. 10 Matthias Jacob Schleiden, Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter, in: Westermann’s Jahrbuch der Illustrirten Deutschen Monatshefte 41, 3. F. 9 (October 1876–März 1877), 52–60, 156–169; ders., Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter, Leipzig 1877. 11 Vierte, neu durchgesehene und ergänzte Auflage 1879; fünfte und sechste Auflage 1912 und 1922 bei Engel in Leipzig. 12 Matthias Jacob Schleiden, Les Juifs et la science au moyen âge. Trad. et imprimé avec l’autorisation de l’auteur par l’Alliance Israélite Universelle, Paris 1877; ders., Gl’Israeliti in­ rapporto alla scienza nel medioevo. Trad. dall’originale tedesco con permesso dell’autore da­

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durchlief. Ohne Unterbrechung hätten Juden die vielfältigsten wissenschaftlichen Disziplinen gepflegt, ausgebaut und spätestens ab der Frühmoderne der christlichen Umgebungsgesellschaft übermittelt.13 Der Ausgangspunkt von Schleidens wissenschaftlichem Interesse an diesem Gegenstand lag in seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Geschichte der Naturwissenschaften und insbesondere seines engeren Fachgebiets, der ­Botanik. Seinem wissenschaftshistorischen und -theoretischen Denken, das die Bedeutung der Übertragung von Wissensbeständen hervorhebt, entspricht seine Beschäftigung mit der Übermittlung arabisch tradierten antiken Wissens in die christliche Scholastik. Dabei war er auf die in den allgemeinen Geschichts­werken seiner Zeit vernachlässigte Bedeutung von Juden für die Geschichte der kulturellen Entwicklung der Menschheit gestoßen.14 Für die Rezeption seiner Studie notierte Schleiden zudem den Wunsch, damit »wenigstens den Anfang zu machen, um einen Theil des unsäglichen Unrechts, welches die Christen an den Juden begangen haben, wieder gut zu machen.«15 Nicht zuletzt durch die abfäl­ ligen Bemerkungen eines Wiener Kollegen gegenüber jüdischen Studenten aus dem östlichen Europa sah sich Schleiden zu dieser Aufgabe veranlasst. Während er die Äußerungen des Professors für Chirurgie, Christian Albert Theodor Billroth (1829–1894), in seiner zweiten Schrift über die Romantik des Martyriums bei den Juden im Mittelalter zum Ausgangspunkt der gesamten historischen Darstellung wählt, wird dieser Bezug in der Schrift über den jüdischen Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften erst in einer Fußnote gegen Ende des Texts hergestellt: ­Billroth kenne »offenbar die ungeheuere Bedeutung der Juden für die Medicin nicht und hat daher nicht bedacht, daß es ohne die Juden vielleicht nie einen Professor Billroth gegeben h ­ aben würde.«16 Stärker noch als Billroths antiGiuseppina Lattes, Milano 1878; ders., The Science Among the Jews Before and During the Middle Ages, Translated from the Fourth German Edition, Baltimore 1883; ders., The Importance of the Jews for the Preservation and Revival of Learning During the Middle Ages. Translated into English from the Fourth Revised and Augmented Edition by Maurice Kleimenhagen. With an Introduction by the Rev. Professor Hermann Gollancz, London 1911. 13 Schleiden, Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften im Mittelalter, Leipzig 1877, 12. 14 Ebd., 5. Vgl. Ulrich Charpa, Judentum und wissenschaftliche Forschung. Einstellungs­ cluster im späten 19. Jahrhundert und ihr Fortwirken, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 3 (2004), 175–219, hier 191–197; sowie ders., Matthias Jakob Schleiden (1804–1881). The History of Jewish Interest in Science and the Methodology of Microscopic Botany, in: Aleph. Historical Studies in Science and Judaism 3 (2003), 213–245. 15 Schleiden, Die Bedeutung der Juden, 3. Von Reue, Scham und Sühne spricht ders., Die Romantik des Martyriums bei den Juden im Mittelalter, Leipzig 1878, 56: »Der Christ steht gegenwärtig dem Judenthum gegenüber, wie ein Mann der Asche und den rauchenden Trümmern eines herrlichen Tempels, den er selbst in Brand gesteckt. Wenn noch eine Faser sittlichen Gefühls in ihm zuckt, so muß ihn Reue und tiefe Scham erfüllen und er muß alle Mittel ergreifen, um frühere Schandthaten zu sühnen.« 16 Ders., Die Bedeutung der Juden, 40.

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jüdische Ressentiments rügt Schleiden dessen Desinteresse an historischer Kontextualisierung und das fehlende Vermögen, die eigene Position als Glied einer Wissenskette einzuschätzen, deren Kontinuität und Ausbau durch jüdische Wissenschaftler überhaupt erst gesichert worden sei. Dass sich die Wissenschaften unter Juden so günstig entwickeln konnten, führt Schleiden erstens auf eine durch weitreichende Handelstätigkeit und die Etablierung von übernationalen Netzwerken unterstützte Mobilität von Juden und ihrer intellektuellen Güter zurück. Die Zentren jüdischen Lebens mochten sich im Laufe der Geschichte verschoben haben, blieben als kulturelle Bezugspunkte jedoch stets erhalten. Als weiteren Faktor benennt Schleiden das Wirken von Gelehrtenschulen als Ort der Bildung und Wissenschaft, der christlichen Geistlichen lange fehlte und von denen er einige als die Vorbilder christlicher Akademien erachtet. Schließlich verweist Schleiden auf eine ausgeprägte Mehrsprachigkeit unter Juden, die er auf die diasporische Existenz in zahlreichen Ländern ebenso zurückführt, wie auf eine religiöse Ernsthaftigkeit, die zur Beherrschung aller zum Studium der sakralen Texte notwendigen orientalischen Sprachen anhalte. Schleiden geht von einer weitgehenden Alphabetisierung der Juden bereits im Mittelalter aus und verweist für die Gegenwart auf die amtliche preußische statistische Erhebung des Jahres 1875, der zufolge Analphabetismus unter Juden in weit geringerem Maße verbreitet war als unter Protestanten und, mit umso größerer Kluft, unter Katholiken.17 Tiefgreifender noch als solche historisch bedingten Faktoren meint Schleiden das Judentum selbst als eine Religion begreifen zu können, die der wissenschaftlichen Entwicklung optimale Bedingungen verschaffe. So beschränke sie sich auf den Glauben an einen einzigen »reingeistig gefaßten Gott«18 und verlange nichts weiter als die Befolgung des »Sittengesetzes«19 als wahren Gottesdienst, wodurch die Religion vollständig mit der menschlichen Vernunft harmonisiert werden könne und auf nichts weiter als auf das menschliche Streben nach moralischer Vervollkommnung und intellektueller Bildung abziele. In solchem Telos sieht Schleiden das einigende Band der Juden durch ihre gesamte Geschichte hindurch und die Verwirklichung von Ideen, die der Botschaft der biblischen Propheten entsprächen. Da das Judentum keine Dogmen kenne, da es nur Lehrer anstelle einer klerikalen Elite (wie die katholischen Priester) akzeptiere, ermögliche es das ungehinderte Forschen, frei von der Bevormundung durch eine Geistlichkeit. Nicht zuletzt jedoch durch den Verzicht auf die Ausübung physischer Gewalt zur Durchsetzung religiöser Wahrheitsansprüche hätten Juden ihren geistigen Tätigkeiten ungestört nachgehen können. Schleiden betont des­ wegen, dass die jüdische Religion aufgrund eines hohen Bildungsstands durch 17 Ebd., 7–11, 18. 18 Ebd., 11. 19 Ebd., 27.

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alle sozialen Schichten hinweg keine klerikalen Hierarchien kenne und jeder Einzelne die Wahrung des rechten Glaubens sicherstelle. Wäre die Figur des Priesters bei Schleiden nicht derart negativ besetzt, würde er wohl von einem »Priestertum aller Gläubigen« sprechen.20 Den Anstoß zur Ausbildung und Diversifikation der Wissenschaften und somit einen genealogischen Ausgangspunkt europäischer Wissenskulturen und Professionen verortet Schleiden gerade in der unaufhörlichen und ernsthaften Hinwendung zur Traditionsliteratur. Aus der religiösen Texttradition leitet Schleiden ebenso die Herausbildung einer Bibelexegese ab, die auch christliche Theologen im Mittelalter konsultierten, wie auch eine anerkannte Bibelkritik.21 Mit der Vordatierung dieser eher protestantisch konnotierten wissenschafts­ metho­dischen Innovation des 19. Jahrhunderts oder, anders formuliert, mit der Antiquisierung dieser die Gegnerschaft traditioneller Glaubenspraxis auf sich ziehenden Methode gelingt Schleiden mehrerlei: Die Bibelkritik erlangt Legitimität angesichts ihrer klerikalen Verächter, wird sie doch zum historisch bewährten Normalzustand jüdischer Frömmigkeit erklärt. Bibelkritik wird zudem einer jüdischen Texttradition zugeordnet, womit zum einen eine symbolische Restitution von Souveränität über den jüdischen Text einhergeht und zum anderen der historisch-kritischen Methode ihre inter- und innerkonfessionelle polemische Re­ levanz entzogen wird. Das Judentum ist Schleiden somit religiöse Wissenschaftstradition und wissenschaftliches Denken und Handeln fördernde Religion zugleich. So verliert auch die Unterscheidung zwischen religiösem und weltlichem Wissen an Bedeutung; ein gemeinsamer sakraler Ursprung wird allen Disziplinen unterstellt. Diese Ergebnisse jener ununterbrochenen geistigen Tätigkeit und den Nutzen für seine kulturelle Entwicklung habe Europa und die Christenheit wertschätzend an­ zuerkennen. Die zeitgenössische Linguistik etwa finde ihre Vorläufer in Studien, die jüdische Autoren seit dem frühen Mittelalter im Bereich der Grammatik und Lexikografie angefertigt haben. Die Vermittlung der hebräischen Sprachkenntnisse durch Juden zu Beginn der Neuzeit erlaubte erst eine dreisprachige Renaissance, wie auch die Kirchengeschichte ohne jüdisches Wissen anders verlaufen wäre: »ohne Hebräisch keine Reformation und ohne Juden kein Hebräisch, da sie darin die einzigen Lehrmeister waren.«22 Basierend auf Schleidens Verständnis von jüdischer Religion, deren Kern ein ethischer sei und die Moral und Recht kaum voneinander scheide, vermag er auch juristische Innovationen aus religiöser Wissenschaftsentwicklung heraus 20 Ebd., 10–12, 15, 26 f. 21 Ebd., 14–16, hier bes. 15: »Die meisten Christen glauben wohl, die sogenannte Bibelkritik sei ihre Sache und ein Product der neueren Zeit; wenn sie fünfzehn Jahrhunderte in der Geschichte zurückgehen, so kommen sie der Wiege dieser Wissenschaft schon etwas näher.« 22 Ebd., 18–20, hier 20.

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zu würdigen. Dies geschieht bezeichnenderweise durch die Präsentation der Einführung von Wechsel und Kreditbriefen als für Wirtschaft und Kultur belebenden Beitrag und als eine Befreiung aus der Starre des römischen Rechts. Überhaupt gelten Juden in allen Disziplinen, die Schleiden behandelt, mindestens bis ins 13.  Jahrhundert hinein ihren christlichen Zeitgenossen als intellektuell und moralisch überlegen: in der Medizin, den Naturwissenschaften, der Mathematik, der Astronomie, als Reisende und Entdecker, als Dichter und Übersetzer, in politischen Ämtern und als Finanzverwalter.23 Christen dagegen seien in ihrem Aberglauben befangen gewesen und finden – wenn etwa über jüdische Astronomen gesprochen wird – nur als Astrologen ein Pendant.24 Schleidens Wertschätzung des Judentums, wie überhaupt die Konstitution seines Bildes von ihm, ist aufs engste mit seiner Kritik am Christentum als institutionalisierte, auf Orthodoxie drängende Religion verbunden. Sie artikuliert sich im historischen Vergleich zwischen Juden und Christen und wird auf der sprachlichen Ebene als Klerus-­Kritik wahrnehmbar.25 Aus dem Blick in die mittelalterliche Epoche leitet Schleiden zudem polemische Seitenhiebe ab, die deutlich Bezug auf zeitgenössische Debatten nehmen. So lobt er die theoretische und praktische Anerkennung der Gültigkeit jeweiliger Landesgesetze durch die Juden im Mittelalter  – ganz im Gegensatz zu »unseren katholischen Bischöfen« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.26

Jüdische Geschichte als europäischer Kulturkampf Bereits in Schleidens wissenschaftshistorischem Text scheint eine antiklerikale Polemik in der vergleichenden Gegenüberstellung von jüdischer und mittelalterlich-christlicher kultureller Entwicklung auf. In der Schrift Die Romantik des Martyriums bei den Juden im Mittelalter, die ein Jahr später, 1878, ebenfalls in Leipzig und gleichsam als zweiter Teil zu Die Bedeutung der Juden für Erhaltung und Wiederbelebung der Wissenschaften erschien, wird dieser polemische Zug zum dominanten Motiv. Ein aufschlussreicher Interpretationsrahmen – die Bedeutung des europäischen Kulturkampfs für Schleidens Bild von jüdischer Geschichte  – eröffnet sich, wenn man Schleidens Texte anhand seiner biografischen Erfahrungen untersucht und sie in verschiedene kulturhistorische Kontexte einordnet. Das Motiv einer jüdischen Leidensgeschichte, das bereits seine erste Schrift charakterisierte, wird in seinem zweiten Text zum zentralen Thema 23 Ebd., 29–39. 24 Ebd., 32. 25 So etwa die Charakterisierung des spanischen katholischen Königspaars als »Pfaffen­ sclaven« sowie des Großinquisitors Torquemada als »Molochspfaffe« (ebd., 35). 26 Schleiden, Die Bedeutung der Juden, 28.

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erhoben und geradezu als Kehrseite der kulturellen und wissenschaftlichen Produktivität präsentiert.27 Mit seiner gedrängten historischen Darstellung vom Mit­ tel­alter bis in seine Gegenwart hofft Schleiden nun, zu einem Wandel im christlichen Bewusstsein beizutragen.28 Der Titel der Schrift Die Romantik des Martyriums bei den Juden ist dahingehend irreführend, dass Schleiden kaum auf jüdische martyriologische Selbstverständnisse, eben auf die »Romantik des Martyriums« eingeht, sondern vielmehr von Beschuldigungen, Verfolgung und Vertreibung der Juden in christlichen Herrschaftsgebieten berichtet. Durch Untersuchungen zur jüdischen Martyriolo­gie hätte er zwar der Behauptung Billroths entgegentreten können, den Juden fehle es an einem mit Verfolgungsleiden verbundenen und mit geschichtsphilosophischer Bedeutung aufgeladenem Selbstverständnis, doch hätte seine Schrift dann eine gänzlich andere Argumentation genommen.29 Weder der Abwehr des Anti­semi­ tis­mus, noch der Selbstverortung Schleidens, die er im Schreiben über jüdische Geschichte vollzieht, wäre mit einer Darlegung jüdischer narrativer Selbstbehauptung gedient gewesen, die, wie wir heute wissen, Analogien zur mittelalterlichen christlichen Frömmigkeit aufweist.30 Schleidens Narrativ zielte stattdessen auf die Gegenüberstellung der in ihrer Kreativität ungebrochenen Opfer und der mittelalterlichen christlichen Täter. Die Charakterisierung letzterer hält einiges Erkenntnispotenzial bereit, während der Abriss der jüdischen Geschichte für sich genommen lediglich eine Synthese von Forschungsergebnissen der Wissenschaft des Judentums und insbesondere der Werke von Heinrich Graetz (1817–1891) darstellt. Durch eine genauere Betrachtung von Schleidens Konstruktion jüdischer 27 Ders., Die Romantik des Martyriums, 2. 28 Ebd., 56–58. 29 Entscheidend für die Wahl des Titels ist zum einen die von Billroth aufgegriffene Formulierung selbst gewesen. Vgl. Theodor Billroth, Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der Deutschen Nation nebst allgemeinen Bemerkungen über Universitäten. Eine Culturhistorische Studie, Wien 1876, 152–154. Zum anderen aber bietet sich mit der Einbeziehung des hier bewusst vage verwendeten Begriffs der »Romantik« die Möglichkeit, gegen eine historiografische Verklärung des Mittelalters anzuschreiben (vgl. Schleiden, Die Romantik des Martyriums, 46). Eine jüdische »Romantik des Martyriums« kann Schleiden mit einem Verweis auf jüdische Dichtung nur behaupten, in der folgenden Darstellung aber nicht mit seinem Gegenstand der Verfolgung verbinden (ebd., 1). Eine Brücke zwischen Dichtung und historischer Leiderfahrung zu schaffen gelingt Schleiden lediglich durch ein Zitat aus Leopold Zunz’ Buch Die synagogale Poesie der Juden im Mittelalter: »[…] wenn eine Literatur reich genannt wird, die wenige klassische Trauerspiele besitzt, welcher Platz gebührt dann einer Tragödie, die anderthalb Jahrtausende währt, gedichtet und dargestellt von den Helden selber?« (zit. nach Schleiden, Die Romantik des Martyriums, 2). 30 Im Kontext der rheinischen Verfolgungen von 1096 vgl. etwa Jeremy Cohen, Sanctifying the Name of God. Jewish Martyrs and Jewish Memories of the First Crusade, Philadelphia, Pa., 2004. Allgemein zur jüngeren Erforschung jüdischer Martyriologie vgl. Simha Goldin, The Ways of Jewish Martyrdom, Turnhout 2008 sowie Shmuel Shepkaru, Jewish Martyrs in the Pagan and Christian Worlds, New York 2006.

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Geschichte als Kulturkampf wird – neben dem auf den ersten Blick sich übermächtig aufdrängenden Abwehrmotiv – deutlich, dass seine Texte der Jahre 1877/1878 der religiösen Selbstverständigung dienten und dabei auf spezifischen biografischen Erfahrungen beruhten. Als Initiator der Verfolgung der Juden im mittelalterlichen Europa gilt Schleiden ausschließlich der Klerus. Fanatische Bischöfe und Priester hätten die vormals die Juden schützenden Fürsten durch Intrigen in Instrumente ihres Willens verwandelt und das naive Volk aufgehetzt, die Juden zu ermorden.31 Ausdrücklich betont Schleiden die Unschuld der einfachen Leute, die den judenfeindlichen Unterstellungen der Geistlichkeit, wie etwa dem Vorwurf der Hostienschändung, ausgeliefert und im Aberglauben gehalten worden seien. In ihrer Illiteralität seien sie abhängig vom Klerus geblieben, der ihnen Aufklärung verweigert habe. Was weltliche Herrschaftsträger und das Papsttum lange versäumt hatten, ließ sich im späten Mittelalter nicht mehr durch offizielle Verlautbarungen zugunsten der Juden nachholen, wie die Wirkungslosigkeit päpstlicher Bullen im Angesicht des Schwarzen Todes zeige: »Die Kirche mußte nun selbst die Folgen ihrer Volkserziehung, ihrer systematischen Verdummung und Entsittlichung der Massen tragen.«32 Zudem wird im Text jeder päpstliche Anspruch auf Infallibilität durch den Verweis auf einen beständigen Wandel in der päpstlichen Judenpolitik untergraben, womit Schleiden auf das noch junge Unfehlbarkeitsdogma anspielte, das im Jahr 1870 im Rahmen des ersten Vatikanischen Konzils formuliert worden war.33 Aus der Geschichte leitet der Text ein allgemeines klerikales Bedürfnis zur Unterdrückung der Juden und ihrer Religion ab, wobei Schleiden das Augustinische Diktum von der Funktion der diasporischen Juden als lebendige Zeugen des Evangeliums quasi umkehrt: »Jeder lebendig herumwandelnde Jude war aber auch ein scharfer Protest gegen die hohlen Declamationen, daß durch die Kirche Christi das Judenthum aufgehoben und vernichtet sei; gegen den aus heidnisch alexandrinischer Philosophie hervorgegangenen Trinitätsglauben; gegen Bilder und Heiligenverehrung und sonstigen kirchlichen Aberglauben.«34 31 Schleiden, Die Romantik des Martyriums, 18, 20. »Bald hatten die Bischöfe die verkommenen Fürsten mit ihren Lügen und Intriguen so umsponnen, daß sie jeder Ehre und selbständigen Würde bar verächtliche gehörsame Sclaven der Bande verworfener Pfaffen wurden, welche auf diese Weise die rohe physische (weltliche)  Gewalt zu ihrer Waffe machten […]« (ebd., 20). 32 Ebd., 25 f., 48, hier 48. 33 Ebd., 44: »Die unfehlbaren Päpste benahmen sich im Ganzen genommen den Juden gegenüber wie unzurechnungsfähige dumme Jungen. Der eine verfolgte sie, der andere schützte sie, was der eine decretirte, hob oft der unmittelbare Nachfolger wieder auf und bestimmte das Gegentheil, oder auch derselbe Papst schlug in der Mitte seiner Regierung in das Gegentheil um.« 34 Ebd., 19.

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Gerade weil in der historischen Realität die Kirche vielfach nicht über die Syna­ goge triumphierte, sei die Geistlichkeit in eine hasserfüllte Opposition den Juden gegenüber getreten. Religiöse Wahrheit wird, dieser Umkehrung Augustins zufolge, durchaus von den Juden als lebendige Zeugen der Schrift bestätigt. Nur ist es gerade, einer protestantischen Denkfigur folgend, die Verfälschung jener Religion durch Heidentum und Aberglauben, die sich im Abgleich mit dem Judentum offenbart. Insbesondere aufgrund seiner kulturellen, intellektuellen und moralischen Unterlegenheit habe sich der Klerus durch Juden bloßgestellt gesehen. Disputationen seien für die christlichen Geistlichen aufgrund argumentativer Schwächen häufig beschämend verlaufen und veranschaulichten einen Mangel an grundlegenden Bibelkenntnissen. Schleiden charakterisiert den mittelalterlichen Klerus generell als dumm und borniert, faul, der Völlerei und der Unsittlichkeit erlegen und nicht zuletzt als geldgierig. Sein kostspieliges, unmoralisches Leben habe sich auch durch die Ausplünderung der Juden finanziert; mit Blick auf die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden verteidigt Schleiden nicht allein deren moralische Integrität, sondern richtet den mittelalterlichen Wuchervorwurf gegen die christliche Geistlichkeit selbst. Während jene Unterstellung überhaupt erst im 13. Jahrhundert aufgekommen sei, hält Schleiden eine seit dem vierten Jahrhundert an­ haltende unmoralische Finanzpraxis des Klerus für hinreichend aus den Quellen bewiesen. In ihr sieht er das Vorbild einer christlichen Laienschaft, die »unter dem Namen Lombarden, Etrusker, Florentiner, Caorsiner, Ultramontane (nomen et omen)« in ihren betrügerischen Geschäften von Rom unterstützt worden sei. Einmal mehr suggeriert Schleiden damit eine historische Kontinuität zum zeit­ genössischen Kulturkampf und macht dies auch in einer Fußnote (»Name und Vorbedeutung«) kenntlich.35 Es entspricht diesem historischen Kontext, dass Schleidens klerikales Feindbild anhand der römisch-katholischen Kirche illustriert wird.36 Wie die jüngere Forschung aber betont, ist die Auseinandersetzung zwischen antiklerikalen, liberalen und kirchlichen, um die Herstellung von Orthodoxie bemühten Kräften im Plural anzusprechen und sollte als gesamteuropäisches Phänomen des 19. Jahrhunderts begriffen werden.37 Anhand von Schleidens dichotomem Denken und seiner Annahme einer Konfrontation zwischen einer fortschrittsorientierten 35 Ebd., 16–19, 23 f., 28 f., hier 28. 36 Siehe Michael B. Gross, The War Against Catholicism. Liberalism and the Anti-Catholic Imagination in Nineteenth-Century Germany, Ann Arbor, Mich., 2004; Wolfram Kaiser, Kampf der Ultramontanen. Der Antiklerikalismus im Kulturkampf der zwei Europa, in: Christopher Clark/ders. (Hgg.), Kulturkampf in Europa im 19. Jahrhundert, Leipzig 2003, 38–62. 37 Christopher Clark/Wolfram Kaiser, Kulturkampf in Europa im 19. Jahrhundert, in: ebd., 7–13. Der Untertitel einer einschlägigen neueren Studie von Manuel Borutta weist sowohl auf diese Pluralisierung als auch auf den gesamteuropäischen Epochencharakter hin: Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen 2011.

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Zivilisation und entgegengesetzten klerikalen Bestrebungen ist darüber hinaus auch die Bedeutung jener Kulturkämpfe hinsichtlich der innerprotestantischen Konfliktlinien näher zu untersuchen, zumal sich in Schleidens Texten »Kulturkampf« geradezu zum geschichtsphilosophischen Prinzip essentialisiert. Dies offenbart sich bereits in seinen Kommentierungen der jüdischen Geschichte in der hellenistischen Epoche, als Antiochos IV. Epiphanes – mit Blick auf die Geschichte der Juden – der erste gewesen sei, der die Religion als Vorwand für Verfolgung und Unterdrückung genutzt habe. Doch auch Juden wie Vertreter der Hasmonäischen Dynastie seien im Folgenden durch eine verfehlte Herrschaftsausübung, die den Konflikt zwischen antagonistischen religiösen Strömungen beförderte, an verheerenden historischen Entwicklungen beteiligt gewesen. Vor diesem Hintergrund wird die römische Besatzung in günstigerem Licht beurteilt, da sie allein der Herstellung von Ordnung gegolten habe. Während Rom von rein politischen Erwägungen geleitet worden sei, macht Schleiden auf Seiten der Juden Selbstsucht und den Hass der Sekten aus. Wie zahlreiche Protestanten vor und nach ihm, greift auch Schleiden die Beschreibung der jüdischen religiösen Strömungen jener Zeit in Engführung zu den religionspolitischen Konflikten seiner Gegenwart auf. So spricht er von den Zeloten als den »Orthodoxen oder strengen Altgläubigen« und stellt sie den Hellenisten gegenüber, den »Reformirten, die sich den veränderten Verhältnissen anzupassen suchten, soweit es möglich war ohne wahrhaft Wesentliches aufzuopfern«. An der Verteilung von Schleidens Sympathien kann kein Zweifel bestehen. Die Zeloten gelten ihm als die Urheber des folgendes Religionskriegs und der chaotischen Zustände, denen Rom als derjenige Staat begegnen musste, der Schleiden zufolge der toleranteste der Weltgeschichte, frei von jedem religiösen Fanatismus gewesen sei.38 Wenn Schleiden im weiteren Verlauf seiner Darstellung von Juden nur noch als Objekten eines klerikalen Fanatismus zu sprechen weiß, kehrt er zugleich ein christlich-polemisches Geschichtsbild um, das im nachbiblischen Judentum allein eine Verfallserscheinung zu erkennen gewillt war. Schleiden hingegen spricht von einer unter Leiden vollzogenen »Bildungszeit« hin »zu einem reinen innigen Gottvertrauen und zur strengen sittlichen Zucht«, die seither zum Unterscheidungsmerkmal gegenüber allen anderen Nationen und zu Einheit stiftenden Faktoren wurden. Das Fehlen einer Geistlichkeit würde die Juden vor neuerlichem Unglück bewahren, wie auch die Akzeptanz der jeweiligen Landesgesetze den unproblematischen Vollzug jener Transformation gewährleistete.39

38 Schleiden, Die Romantik des Martyriums, 4–9, hier 7. 39 Ebd., 8.

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Die Konversionen des Matthias Jacob Schleiden Als Schleiden wenige Jahre vor seinem Tod seine beiden Schriften zur jüdischen Geschichte verfasste und etwa zur selben Zeit die Arbeit an einem Manuskript zum Verhältnis von Christenthum, Wissenschaft, Philosophie und Glaube erneut aufnahm, lag bereits eine akademische Karriere hinter ihm, in der er sich zahlreichen naturwissenschaftlichen Disziplinen zugewandt hatte. Seit der Aufgabe seines Lehrstuhls in Jena im Jahr 1863 hatte er sich stärker noch als es ihm zuvor möglich gewesen war anthropologischen und kulturhistorischen Fragestellungen zugewandt und im Jahr 1864 seinen zweiten, höchst produktiven Lebensabschnitt als Privatgelehrter eingeleitet.40 Dazwischen lag ein Semester Lehrtätigkeit im estnischen Dorpat (Tartu). In diesem halben Jahr bekleidete er zum letzten Mal ein akademisches Lehramt und durchlebte eine transitorische Lebensphase; und dies auch mit Blick auf die Beschreibung des Verhältnisses von Christentum und seiner eigenen Religiosität. Möglicherweise wäre Schleiden auch ohne die Dorpater Erfahrung und aus der Rezeption jüdischer historiografischer Werke zu jenem Schamempfinden gelangt, das sich in seinen Schriften zum Judentum und zur jüdischen Geschichte artikuliert. Besonders in seiner Veröffentlichung von 1878 wird die Spannung sichtbar, die sich aus seiner Wertschätzung gegenüber dem Judentum und dem bedrückenden Umstand eingestellt hatte, sich – im Angesicht des historischen verfolgenden und wissenschaftsfeindlichen Charakters seiner Herkunftsreligion  – weiterhin als Christ bezeichnen zu müssen.41 Die Betrachtung der Dorpater Episode verdeutlicht jedoch die enge Verquickung von Schleidens Bild vom Judentum und der Narration seiner Spätschriften. Zugleich verweist sie auf den Jahre später am jüdischen Gegenstand vollzogenen Versuch, zu einer konsequenten religiösen Selbstverortung jenseits von protestantischer Ortho­doxie und Glaubensverlust zu gelangen. Auf Initiative der Petersburger Regierung wurde Schleiden nach seinem Abschied aus Jena zum Extraordinarius für Botanik und Anthropologie an die Universität Dorpat berufen. Aber noch vor Schleidens Eintreffen und unabhängig von seiner Person bestand ein besonderes Spannungsverhältnis an dieser Universität, die sich auf der Grundlage eines baltendeutschen Selbstverständnisses Souveränität gegenüber einer reformorientierten russischen Oberschicht zu verschaffen suchte. Damit war auch der öffentliche Einfluss der evangelisch-lutheri 40 Vgl. Scholz, Letzte Lebensstationen; dies., Matthias Jacob Schleiden in Tartu (Dorpat) 1863–1864, Essen 2001. Beide Studien bespricht Ulrich Charpa, in: Journal for General Philosophy of Science 34 (2003), 363–369. 41 Schleiden, Die Romantik des Martyriums, 31: »Es ist eine traurige Aufgabe, der man sich nur mit Widerwillen unterzieht, besonders, wenn man selbst Christ heißt, die endlose Reihe der Scheußlichkeiten aufzuzählen, die die Christen unter Mißbrauch des Namens ihres Gottes begangen haben«; ebd., 33: »Muss man sich nicht fast schämen ein Christ zu heißen?«

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schen Theologen in Dorpat verbunden, den Schleiden in diesem Ausmaß zuvor an keiner anderen deutschen Universität erfahren hatte.42 Noch vor Beginn des neuen Semesters begann Schleiden Vorlesungen zur Anthropologie zu halten; die offizielle Eröffnungsvorlesung am 16.  Oktober 1863 musste aufgrund des hohen Andrangs von beinahe 1000 Hörern kurzfristig in die Aula der Universität verlegt werden. Die Dörptsche Zeitung berichtete anschließend über Schleidens theoretisches Verständnis von Natur und Naturwissenschaft, aber auch durchaus kritisch von seiner Position zur Bibel. Diese gelte ihm »als ein Schatz erhabener Gedanken und heiliger Wahrheiten, aus großen Menschenseelen hervorgegangen, […] nicht aber als das Werk unmittelbarer göttlicher Inspiration; dagegen spreche allein schon, daß sie, wenigstens in der Ursprache durchaus nicht den Charakter der Einheit an sich trage«. In den folgenden Monaten teilte sich die Stimmung innerhalb Dorpats in Anhänger und Gegner Schleidens. Während sich Schleidens Lehrveranstaltungen enormer Beliebtheit erfreuten und etwa 85 Prozent aller Studenten der Universität und weitere interessierte Bürger der Stadt bei ihm hörten,43 erregte insbesondere Schleidens entwicklungsbiologisches Denken Anstoß. Schließlich ließ sich Schleidens Publikationen entnehmen, dass er in den Forschungsergebnissen Charles ­Darwins nichts weiter als konsequente Zusammenführungen von bereits in den Naturwissenschaften vorhandenen Erkenntnissen sah, die keiner besonderen Diskussion bedürften.44 Nach Semesterende ließ sich Schleiden im Sommer 1864 beurlauben und verließ mit seiner Familie Dorpat; im September bat er offiziell um die Entbindung von seiner Position.45 In einem Brief vom 20. Oktober 1864 an seinen Bruder Heinrich berichtet Schleiden rückblickend von seinen unangenehmen Erfahrungen, die ihn bewogen hatten, seine Universitätsstelle aufzugeben. Zahlreiche Briefe habe er zuvor bereits versandt, deren Verlust er Dorpatern zuschreibt: »die 42 Ilse Jahn/Isolde Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden (1804–1881). Sein Leben in Selbstzeugnissen, Halle  (Saale)/Stuttgart 2005, 163–166, 172. Zur Geschichte der Universität Dorpat/Tartu vgl. Roderich von Engelhardt, Die Deutsche Universität Dorpat in ihrer geistes­ geschichtlichen Bedeutung, München 1933, zur »Schleiden-Affäre« hier 122–131; Gert von Pistohlkors/Toivo  U. Raun/Paul Kaegbein (Hgg.), Die Universitäten Dorpat/Tartu, Riga und Wilna/Vilnius 1579–1979. Beiträge zu ihrer Geschichte und Wirkung im Grenzbereich zwischen West und Ost, Köln/Wien 1987. 43 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 167–169, hier 168. 44 Siehe Ulrich Charpa, Darwin, Schleiden, Whewell, and the »London Doctors«. Evolu­ tionism and Microscopical Research in the Nineteenth Century, in: Journal for General Philosophy of Science 41 (2010), 61–84, hier 69–72. 45 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 180–182. Im Oktober 1864 entließ ihn der Zar aus seinen Diensten und gewährte Schleiden – nachdem seine Frau zuvor die Kaiserin darum gebeten hatte – ein jährliches Gehalt, das mit dem Wunsch verbunden wurde, es mögen ihr dann und wann Schriften zur Naturwissenschaft aus Schleidens Feder übersandt werden (ebd., 173 f.).

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vielen frommen Leute […], denen ich jede Nichtswürdigkeit zutraue.« Mit der Charakterisierung Dorpats als Ort, an dem konfessionelle Verfolgung weiterhin Urstände feiere, fährt Schleiden schließlich fort: »[…] Dorpat ist ein kurioses Nest und ich bin auch an interessanten Lebenserfahrungen von dort zurückgekehrt. Denke dir recht lebhaft die Zustände des XVII. Jahrhunderts und das […] mitten in den Ostseeprovinzen, wie sie jetzt sind. In Dorpat könnte morgen […] Crell noch einmal wegen Kryptocalvinismus hingerichtet werden, Hofprediger Mirus giebt es dort zur Genüge.« Schleiden sah sich dabei selbst in der Lage des durch intrigierende Geistliche Verfolgten. Diese Atmosphäre belastete seine akademische Arbeit wie auch sein familiäres Leben: »Ich bin von Anfang bis Ende eine Zielscheibe dessen gewesen, was Priesterhass, Intrigue, Verläumdung nur boshaftes ersinnen können. […] Nach den ganz verrükten Universitätsstatuten hatten die Gesellen die Macht, mir meine Universitätsvorlesungen zum großen Theil zu ruiniren und benuzten dieselbe auf jede Weise. – Allsonntäglich wurde in allen Kirchen gegen mich gepredigt und da die bekannten Künste der Verdrehung, Fälschung, Verleumdung und Lüge nicht gespart. Jede Woche brachte irgend eine neue Infamie […]. Ich konnte ja nicht einmal meine Kinder zur Kirche schiken, wo sie regelmässig ihren Vater verlästern und beschimpfen hörten.«46

Jenseits der Kanzel war es vor allem die Dorpater Lokalpresse, die gegen Schleiden polemisierte. So publizierte etwa der Geograf und Professor für Geschichte, Carl Christian Gerhard Schirren (1826–1910), im Februar und März 1864 ano­ nym eine Artikelserie im Dorpater Tagesblatt zu Schleidens Abhandlung Ueber den Materialismus, die im Vorjahr veröffentlicht worden war.47 Während Schirren sich noch darauf verlagerte, die Widersprüchlichkeit der Argumentation Schleidens und seiner Auffassung von »Materialismus« und »Atheismus« zeigen zu wollen, zog die Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst drastischere Schlüsse aus der Lektüre der Schrift. In einem Beschwerdebrief an den Innenminister bezichtigte sie Schleiden »des Aberglaubens und der Gotteslästerung«. Seine Veröffentlichungen hätten gezeigt, dass Schleiden »nicht als Lehrkraft der Universität geeignet« und sogar »gefährlich für die Macht des Zaren« sei.48 Mit seiner Schrift zum Materialismus von 1863 hatte sich Schleiden sowohl gegen konservative Positionen, die naturwissenschaftliche Erkenntnis mit Reli­ gionskritik gleichsetzten, wie auch gegen materialistische Schlussfolgerungen aus naturwissenschaftlicher Forschung gewandt.49 Dieser Materialismus der neue 46 Zit. nach ebd., 181 f. 47 Wiedergegeben im Anhang von Scholz, Matthias Jacob Schleiden in Tartu (Dorpat), ­190–211, 214–224. 48 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 175–177; zit. nach ebd., 176. 49 Matthias Jacob Schleiden, Ueber den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaften, sein Wesen und seine Geschichte. Zur Verständigung für die Gebildeten, Leipzig 1863; jüngst abgedruckt in: Kurt Bayertz/Myriam Gerhard/Walter Jaeschke (Hgg.), Der Ma-

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ren deutschen Naturwissenschaft, wie Schleiden ihn bezeichnet, gilt ihm als wissenschaftlicher Rückschritt, der auf einer inkonsequenten Anwendung der Methoden einer exakten induktiven Naturwissenschaft und auf ihrer Sezession von der Philosophie beruhe.50 Während die induktive Methode und die Erkenntnis der Zentralität von Erfahrung für wissenschaftliche Forschung sich ohnehin nur langsam in den deutschen Wissenschaften durchgesetzt hätten, sei ihre Etablierung in der Chemie und Physiologie noch dazu durch »die Fieberdelirien der Schellingschen Thorheiten« ausgebremst worden; die Philosophie seiner Gegenwart befände sich »durch die Oberflächlichkeit Schellings, durch die Ignoranz Hegels« gar gänzlich auf Abwegen.51 Das zentrale Problem für die Naturwissenschaften bestehe aber in deren Vernachlässigung der Philosophie und Geisteswissenschaften aufgrund des miserablen Zustands einer Philosophie, die über keinerlei Kenntnisse in den Naturwissenschaften und vor allem der Mathematik verfüge, die Logik vernachlässige und begriffliche Klarheit aufgegeben habe.52 Den idealistischen »Afterphilosophen«, wie Schleiden sie nennt, stellt er mit geradezu hymnischem Lob die Philosophie von Jakob Friedrich Fries (1773–1843) entgegen, als Kants einzigem wahren Schüler, und leitet von ihm seine zentralen Argumente gegen eine materialistisch beschränkte Erkenntnisfähigkeit des Menschen ab. So plädiert Schleiden für die Anerkennung des inneren Sinns, der Instrument und Untersuchungsgegenstand der Philosophie sein soll, während er die Mathematik als Wissenschaft aus reiner Anschauung versteht und die Naturwissenschaften ihre Erkenntnisse aus den äußeren Sinnen bezögen.53 Von zentraler Bedeutung – Schleiden spricht von der »erste[n] Regel für den exacten Naturforscher« – sei die Beschränkung von wissenschaftlichen Aussagen auf Gegenstände, die im jeweiligen Wahrnehmungs- und Erfahrungsbereich liegen: Das heißt, sich als Naturwissenschaftler allein auf Materie als Untersuchungsgegenstand zu beschränken und dennoch in ihr nicht das Ende des Erkennbaren anzunehmen.54 terialismus-Streit. Texte von L. Büchner, H. Czolbe, L. Feuerbach, I. H. Fichte, J. Frauenstädt, J. Froschammer, J. Henle, J. Moleschott, M. J. Schleiden, C. Vogt und R. Wagner, Hamburg 2012, 283–338. Der Text ist auch Bestandteil einer 1989 von Ulrich Charpa herausgegebenen Anthologie: Matthias Jakob Schleiden. Wissenschaftsphilosophische Schriften, mit kommentierenden Texten von Jakob Friedrich Fries, Christian G. Nees von Esenbeck und Gerd Buchdahl, Köln 1989, 265–308. Angegeben wird im Folgenden die Paginierung des Leipziger Drucks von 1863. 50 Schleiden, Ueber den Materialismus, 48, 56. 51 Ebd., 23. Vgl. auch Matthias Jacob Schleiden, Schelling’s und Hegel’s Verhältniss zur Naturwissenschaft. Als Antwort auf die Angriffe des Herrn Nees von Esenbeck in der Neuen ­Jenaer Lit.-Zeitung, Mai 1843, Leipzig 1844 [abgedruckt in: Charpa (Hg.), Matthias Jakob Schleiden: Wissenschaftsphilosophische Schriften, 196–264]; sowie Walentin Kanawrow, Schleidens Kritik der Schellingschen und Hegelschen Naturphilosophie. Warum entfremden sich Philosophie und Naturphilosophie immer weiter?, Berlin 1995. 52 Schleiden, Ueber den Materialismus, 25, 36–40. 53 Ebd., 36, 28–32. 54 Ebd., 45 f., 52.

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Einer vehement abgelehnten Beschränkung menschlicher Erkenntnis auf Materie stellt Schleiden jedoch nicht das religiöse Dogma, sondern ein wissenschaftstheoretisches System entgegen, das seine Sphären klar abzugrenzen weiß und dadurch auch Raum für religiöse Erfahrung bewahrt, die es in Zukunft ebenfalls wissenschaftlich zu durchdringen gelte. Dem von Schleiden beschriebenen Materialismus werde seine Grundlage nur entzogen, indem »die Methode der Erfahrung vollständig auf das ganze Gebiet des Wahrnehmbaren« angewandt werde.55 Daher fordert Schleiden am Ende seiner Schrift auch die Einführung von empirisch-psychologischen Gegenständen und einer darauf aufbauenden Logik im allgemeinen Schulunterricht.56 In seiner Schrift über den Materialismus beschreibt Schleiden das Verhältnis von Wissenschaft und Religion im 19. Jahrhundert als ein Oszillieren zwischen jeweils unangemessenen Positionen: Infolge der Aufklärung habe sich die Theologie einem trockenen und inkonsequenten Rationalismus verschrieben, der sein Gegengewicht in einer neuen, lebendigeren Religiosität erhalten habe, schließlich aber wieder in Feindschaft gegen die Naturwissenschaft verfallen sei. In dieses Wechselwirken sieht Schleiden auch die Naturforscher verwickelt, die durch gedankenleere klerikale Provokationen gleichermaßen in Einseitigkeiten hineingetrieben worden seien und deren Partei Schleiden ebenfalls nicht zu ergreifen vermag. Den Kampf gegen die Religion hält er für unberechtigt und hoffnungslos: »Denn die Kirche wird getragen von den religiösen Ueberzeugungen der Menschen, die unvertilgbar sind und es liegt zur Zeit wenigstens außer den Grenzen menschlicher Vorausbestimmung, ob und wann diese religiösen Ueberzeugungen allgemeiner eine so geläuterte Gestalt gewinnen werden, daß sie ihre mangelhafte Erscheinungsform, die Kirche, wesentlich umgestalten.«57

Der persönliche Wille zum Glauben und die Suche nach Möglichkeiten seiner angemessenen Artikulation hat Schleiden sein Leben lang beschäftigt. Bereits während seines Jurastudiums in Heidelberg von 1824 bis 1827 und verstärkt im Zuge des beruflichen Scheiterns als Anwalt in Hamburg und einer psychischen Krise im Jahr 1832 bezeugt familiäre Korrespondenz zunächst die Frömmigkeit der Hamburger Kaufmannsfamilie und die Sorge der Eltern um das Seelen­heil des Sohnes. Von einem Versäumnis in frühen Jahren, das die­ Mutter beklagt, spricht auch Schleiden einige Zeit später, nach einer weiteren Lebenskrise, und er beschreibt dieses geradezu als Ausbleiben religiöser Erfah 55 Ebd., 56: »Dann tritt sogleich der empirischen Naturforschung = die psychische Anthropologie, der Induction = die Kantsche Kritik, der theoretischen Naturwissenschaft = die Metaphysik vollkommen ebenbürtig und gleichberechtigt an die Seite und immer stellt sich das Zweite sogar über das Erste, weil dieses ohne Erkenntnißtheorie keine Sicherheit hat, die Erkenntnißtheorie aber nur dem Zweiten angehört.« 56 Ebd., 57. 57 Ebd., 46–48, hier 48, Fn.

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rung und der Etablierung einer Glaubensgrundlage im Kindesalter. Er sei damals innerlich leer geblieben und suche nun als Mann von 35 Jahren das Versäumte nachzuholen.58 Im Jahr 1832 aber verblieb zunächst das quälende Gefühl, die eigene »Bestimmung eigentlich verfehlt zu haben« und die Erwartungen des Vaters zu enttäuschen. Was auch immer man für ausschlaggebend für Schleidens ersten Suizidversuch halten mag – die als verfehlt wahrgenommene berufliche und spirituelle Entwicklung oder auch der Kummer über eine gescheiterte Liebesbeziehung –, biografische Weichen wurden im Nachgang dieses inneren Zusammenbruchs neu gestellt. Ab November 1832 nahm Schleiden ein Medizinstudium in Göttingen auf, wo auch sein jüngerer Bruder Carl Heinrich Schleiden ­(1809–1890) zu dieser Zeit sein Theologiestudium fortsetzte. Dieser war es auch, der ihn mit der Philosophie von Jakob Friedrich Fries vertraut machte, die Schleiden bis zum Ende seines Lebens begleitete. Zu einer radikalen Umwandlung scheint es aber erst infolge Schleidens zweiter Lebenskrise von Dezember 1838 bis August 1839 gekommen zu sein. Er hatte sein Studium in Berlin fortgesetzt, um anstelle des zunächst angestrebten medizinischen Berufs eine naturwissenschaftliche Karriere als Botaniker einzuschlagen, und konnte hier in den Jahren 1835 bis 1838 durchaus schon akademische Erfolge erzielen. Anfang Dezember 1838 verließ Schleiden jedoch Berlin und versuchte zum zweiten Mal seinem Leben ein Ende zu setzen. Ausschlaggebend für diesen Schritt sind wohl eine nicht standesgemäße Liebesbeziehung und der Versuch der Partnerin gewesen, Schleiden durch den Verweis auf eine Schwangerschaft an sich zu binden.59 Es folgte ein längerer Aufenthalt im Pfarrhaus der St.  Johannes-Kirche in Wernigerode bei dem Pastor Ferdinand Friederich (1798–1874), wo Schleiden nicht nur seine botanischen Untersuchungen wiederaufnahm und gelegentlich Vorträge hielt, sondern sich vor allem geistlichen Fragen zuwandte. Seine verstärkte Frömmigkeit äußerte sich in der intensiven Lektüre der Bibel und erbaulicher Schriften, sie wurde in seelsorgerischen Gesprächen mit dem Pfarrer Friederich genährt und von Schleiden selbst in seiner Korrespondenz mit der Mutter und dem Bruder ausgiebig diskutiert. Vor allem der Briefwechsel mit Heinrich veranschaulicht diese neue Frömmigkeit, die sich in ihrem Biblizismus von der Religiosität des Bruders unterschied und Schleiden sogar veranlasste, diesem geistliche 58 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 20 f., 28 f. So gestand die Mutter in einem Brief an Schleidens jüngeren Bruder: »Das Mutterherz, mein lieber Heinrich, kommt bei einem Gemüth wie Mathias seins nie zur Ruhe, bis er selbst die Seelenruhe und Festigkeit gewonnen hat, die sein Glück für dieses Leben und für das Zukünftige sichert. Seine bürgerliche Existenz ist es nicht, worum ich mir Sorge mache, sondern das Versäumen so mancher heiligen Pflichten, das Schwanken in seinem Caracter, und die Unzufriedenheit mit der Außenwelt; […] es hätte wohl manches bei seiner Erziehung anders sein sollen und müssen, und das Versäumte nach­ zuholen scheint mir eine heilige Pflicht; […]« (zit. nach ebd., 28). 59 Ebd., 32–37, 41 f., 54–56.

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Ermahnungen zukommen zu lassen. In einem mehr als 21 Seiten umfassenden Brief an Heinrich, datiert vom 19. bis 22. Juni 1839, schildert Schleiden sein Erweckungserlebnis, das ihm die Bedeutung einer persönlichen religiösen Überzeugung eingetragen habe, ohne die das menschliche Leben orientierungslos sei. Er weist in diesem Zusammenhang den Superioritätsanspruch einer Philosophie, die sich von der Sphäre des Glaubens losgelöst auf menschliche Vernunft zu gründen sucht, entschieden zurück. Sein philosophisches Erkenntnisstreben richte er demgegenüber nun durch die Anknüpfung an den Kant-Fries’schen transzendentalen Idealismus und ein paralleles Bibelstudium neu aus. In diesen Wernigeröder Monaten spricht Schleiden noch von seiner Zurückstellung aller Philosophie, sofern sie im Konflikt steht mit der religiösen Wahrheit des »ächte[n] biblische[n] Christenthum[s]«, das »in sich die Gewähr trägt, höheren Ursprungs zu seyn als irgend eine menschliche Philosophie […].«60 Fries, dessen Schüler Heinrich als erster der beiden Brüder geworden war, sollte für Matthias Schleiden nunmehr eine wichtige, bis zum Ende seines Lebens anhaltende Rolle als philosophischer Leitstern einnehmen.61 Während Schleiden dem Bruder schrieb, dass er nicht mehr in der Lage sei, zum Rationalismus zurückzukehren, wurde sein Bruder Heinrich in Hamburg eben von orthodoxen Theologen als Rationalist angegriffen, die, wenn auch erfolglos, ein Kanzelverbot beim geistlichen Ministerium anstrengten.62 Heinrich Schleiden wandte sich im Folgenden von der Theologie als Beruf ab und gründete 1842 eine Privatschule. In einer gänzlich anderen Lebenssituation befand sich Matthias Jacob Schleiden: Er hatte noch nicht die Konflikte in Dorpat erlebt, soeben aber eine Konversion vollzogen. Aus solchem Eifer einer jungen religiösen Erfahrung heraus sah er sich genötigt, auch den Bruder wieder für eine gelebte persönliche Frömmigkeit zu gewinnen: Heinrich möge doch einmal die Bibel im Ganzen lesen und versuchen, ihren »Geist« als Einheit zu erfassen. Seine Philosophie würde der höheren Wahrheit, die sich ihm auf diese Weise eröffnen werde, nicht standhalten können. Die Entscheidung, die Schleiden seinem Bruder im Juni 1839 vorlegt, gewährt nur zwei einander ausschließende Optionen: die Beurteilung von Religion als menschliche Erfindung oder als göttliche Offenbarung (des Christentums), die dann aber den gesamten Menschen durchdringen müsse – »entweder den Christen ganz aufgeben, oder zum Bibelglauben«.63

60 Ebd., 56–63, hier 61. 61 Siehe Ilse Jahn, The Influence of Jakob Friedrich Fries on Matthias Schleiden, in: William R. Woodward/Robert S. Cohen (Hgg.), World Views and Scientific Discipline Formation, Dordrecht 1991, 357–365. 62 Siehe Peter Goldammer, Theodor Storm – Heinrich Schleiden. Briefwechsel. Kritische Ausgabe, Berlin 1995, 11. 63 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 61–63; Zitat ebd., 63.

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Der Auszug der Israeliten aus Ägypten, Abbildung aus Matthias Jacob Schleidens Werk Die Landenge von Suês, Leipzig 1858.

In Wernigerode nahm Schleiden jene Studien zum Christentum erstmals auf, an denen er noch am Ende seines Lebens, im Anschluss an seine Studien zur jüdischen Geschichte, in Wiesbaden fortschrieb, Überarbeitungen vornahm und das letztlich 1070 Seiten umfassende Manuskript Christenthum, Wissenschaft, Philosophie und Glaube für den Druck abschloss. Veröffentlicht wurde das Werk, auch infolge des Todes von Schleidens Freund und Verleger Wilhelm Engelmann im Dezember 1878, bis heute nicht. Eine wissenschaftliche Erschließung dieser Schrift dürfte aber für die Beurteilung des Verhältnisses von naturwissenschaftlichem Denken und protestantischen Rekonzeptualisierungen von Religion im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe neue Erkenntnisse bereithalten.

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Mit Blick auf die Transformationen von Schleidens persönlicher Frömmigkeit könnte eine kritische Edition zudem auch die Frage nach subtileren Bruchlinien in Schleidens religionsphilosophischem Denken zu beantworten helfen, die letztlich eine Schrift hervorgebracht haben, die das historische und institutionalisierte Christentum einer radikalen Kritik unterzieht.64 So stellt sich etwa die Frage, wie Schleidens Aussage im auf das Jahr 1877 datierten Vorwort des Manuskripts verstanden werden kann, derzufolge seine daraufhin dargelegten Auffassungen sich seit dem Beginn seiner Studien vor vierzig Jahren nicht grundlegend geändert hätten.65 Von einem orthodoxen protestantischen Christentum und vom »Bibelglauben«, wie Schleiden ihn in Wernigerode gepflegt hatte, scheint er sich jedenfalls weit entfernt zu haben. Die Freundschaft zu David Friedrich Strauß (1808–1874) in Wiesbaden, vertieft durch Gespräche während gemeinsamer Spaziergänge, dürften dabei eher Schleidens Positionen verfestigt und seinen textkritischen Zugang bestätigt haben, den er bereits in einer in Jena erarbeiteten geografischen Studie angewandt hatte.66 Das »alte Gerede über den angeblichen Widerstreit zwischen den bibli­ schen Ueberlieferungen und den Resultaten der Naturwissenschaften« habe Schleiden dazu bewogen, mittels der Arbeit Die Landenge von Suês dem Weg des Exodus der Israeliten aus Ägypten nachzuspüren.67 Erst nachdem Schleiden die geografische Grundlage ausführlich quellenkritisch gelegt hat, gelangt er im neunten und letzten Kapitel dieser Schrift zur Rekonstruktion des Auszugs der Israeliten. Dabei nutzt er, mit Verweis auf die Forschungen des Theologen und Bibelwissenschaftlers Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), die Unterscheidung von elohistischer und jehovistischer Urkunde zur Trennung der Bearbeitungsschichten älterer Traditionen als entscheidende Methode seiner Rekonstruktion. Daneben preist Schleiden die sich erst jüngst aus Linguistik und Völkerkunde eröffnenden Einblicke in eine von der israelitischen Tradition unabhängigen Geografie der im biblischen Narrativ genannten Landschaften.68 Dieser wissenschaftliche Erkenntnisgewinn ist dabei aufs Engste mit einem erhofften Wandel der bestehenden Religion verbunden,

64 Ebd., 245 f. Das handschriftliche Manuskript befindet sich im Privatarchiv von Volker Loeschke, Professor für Evolutionsbiologie an der Universität Århus in Dänemark. 65 Ebd., 61. 66 Vgl. ebd., 243 f. 67 Matthias Jacob Schleiden, Die Landenge von Suês. Zur Beurtheilung des Canalprojects und des Auszugs der Israeliten aus Aegypten. Nach den älteren und neueren Quellen dargestellt, Leipzig 1858, v. 68 Ebd., 177–180, 183. Die Bezugnahme auf de Wette erfolgt unter der Angabe »Vergl. hierzu de Wette, Einleitung in die Schriften des Alten Testaments«, wobei Schleiden wohl dessen zweibändiges Werk Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament (Halle 1806/1807) im Sinn hatte.

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»indem sie den religiösen Geist nach und nach von den Banden des historisch-geo­ graphischen Körpers befreien wird, indem sie die Menschen zu der Einsicht führt, dass es völliger Wahnsinn ist, die ewige Seligkeit eines Menschen davon abhängig machen zu wollen, ob er über einen geographischen Irrthum im alten Testament klug oder einfältig urtheilt.«69

Die Kehrseite einer solchen Anforderung an die Religion, ihr Heilsversprechen nicht von menschlicher Erkenntnisfähigkeit abhängig zu machen, ist ihre Verpflichtung auf die Freiheit nach wissenschaftlichem Erkenntnisstreben, wie Schleidens Versuch, die Route der Israeliten auf der Grundlage einer textkritisch rekonstruierten ursprünglichen Tradition nachzuvollziehen, nahelegt. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Israeliten anstatt des als »Schilfmeer« bezeichneten Roten Meeres das »mittelländische Meer« durchquerten.70 In einigem Unterschied zu seiner im brieflichen Austausch mit dem Bruder erklärten Ablehnung von rationalistischen Erklärungen biblischer Wunder und seinem Wunsch, Widersprüchlichkeiten durch »höhere Naturgesetze« zu harmonisieren,71 geht Schleiden bereits in seiner geografischen Jenaer Studie nur noch von einem gewöhnlichen Naturphänomen  – einem starken Ostwind und darauf folgendem heftigen Windwechsel – als Erklärung der für die Israeliten glücklichen Meeresüberquerung aus.72 Der biblische Text behält für Schleiden seinen Wert im Rahmen einer Moral und Wissenschaft fördernden Religion. Sein Verständnis von Religion verpflichtet Schleiden aber auch zur gelassenen Fest­stellung der relativen Bedeutungslosigkeit von Raum und Zeit für den Aussagegehalt der biblischen Schriften und der dichterischen Elemente ihrer narrativen Ausgestaltung.73 Nur vom Christentum wollte Schleiden, wenige Jahre bevor er seine Schriften zum Judentum verfasste, nicht mehr sprechen. In einem Brief, den er am 30. Juni 1872 aus Darmstadt an Heinrich sandte, knüpfte Schleiden an vorangegangene mündliche Diskussionen an und argumentierte, »wenn man alles das fallen läßt, was man nach einer gesunden Philosophie, nach dem Ergebnis der wissenschaftlichen Kritik und dem besseren Geschichtsstudium fallen lassen muß, daß man dann das, was bleibt, nicht mehr Christenthum nennen darf, ohne unredlich zu sein.« In diesen Überlegungen zur Konsequenz eines liberalen Protestantismus folgte Schleiden David Friedrich Strauß, dessen persönliche Bekanntschaft er 69 Ebd., 178. 70 Ebd., 186, 189–201. 71 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 62. 72 Schleiden, Die Landenge von Suês, 194. 73 Ebd., 178, 187–189, 200; 189: »Zum Unsinn wird eine solche Zahl [der aus Ägypten ausgezogenen Israeliten, I. C. S.] aber nicht durch sich selbst, sondern erst durch diejenigen, deren beschränktes Urtheil hier wie überall an dem Buchstaben kleben bleibt; […]. Jede wahre Poesie hat göttlichen Gehalt, alberne Prosa wird sie aber dadurch, wenn der Pedant, der ihren Geist nicht fassen kann, sie beim Worte nimmt.« (Kursivierungen in der Vorlage gesperrt)

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soeben gemacht hatte. Entscheidendes für Schleidens Infragestellung seiner Zugehörigkeit zur christlichen Religion liegt dabei in der historischen Evaluierung des Christentums begründet, das mit jenen protestantischen Idealen seiner Gegenwart nichts gemein gehabt habe.74

Conclusio: Jüdische Protestantisierung als Quelle der Verhandlung von Protestantizität Schleidens Schriften zur jüdischen Religion und Geschichte wurden von jüdischen Zeitgenossen nicht durchweg gepriesen. So las auch Moritz Stein­schneider (1816–1907) die Texte Schleidens als gut gemeinte Apologie und beklagte dessen fachliche Inkompetenz und daraus resultierende wissenschaftshistorisch unhaltbare Behauptungen. Einen Teil der Schuld wies Steinschneider dabei jüdischen Gelehrten zu, denen Schleiden explizit für ihre Unterstützung gedankt hatte und die ihn hätten besser beraten sollen, namentlich den am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau lehrenden Heinrich Graetz und David R ­ osin ­(1823–1894).75 Darüber hinaus und grundsätzlicher sieht Steinschneider in den Texten Schleidens die Verkörperung eines der Wissenschaft des Judentums Schaden zufügenden instrumentellen Umgangs mit jüdischer Geschichte und Literatur: »Das grösste Unrecht der Christen bestand und besteht aber darin, dass sie das Juden­ thum nicht um seiner selbst willen, sondern nur wegen seiner Beziehungen zum Christen­thum studierten und studieren […].«76

Die Erzählung jüdischer Geschichte im beständigen Abgleich mit den negativ gezeichneten mittelalterlich-christlichen Entwicklungen bei Schleiden konnten Steinschneider nicht entgangen sein. Dennoch las er, wie auch seine Schleiden mit Dankesbriefen adressierenden jüdischen Zeitgenossen,77 dessen Schriften als Apologie, die mit Blick auf das Christentum zum Zweck seiner Entsühnung verfasst worden sei. Ein bisher übersehener Aspekt der späten Werke Schleidens ist aber deren selbstreferenzielle Verhandlung von Protestantizität: »das Studium des Judentums«, um Steinschneiders Formulierung aufzugreifen, »wegen seiner Beziehungen zum Christenthum«, das mit Schleidens Konzeptualisierung einer gewünschten wissenschaftskompatiblen Religion kontrastiert wird. 74 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 226–228, hier 226. 75 Moritz Steinschneider (Hg.), Hebräische Bibliographie 17 (1877), 34 f. Vgl. Schleiden, Die Bedeutung der Juden, 4. 76 Steinschneider, Hebräische Bibliographie 17 (1877), 35. Vgl. Charles H. Manekin, The Genesis of »Die Hebraeischen Übersetzungen des Mittelalters«, in: Reimund Leicht/Gad Freudenthal (Hgg.), Studies on Steinschneider. Moritz Steinschneider and the Emergence of the­ Science of Judaism in Nineteenth-Century Germany, Leiden 2012, 480–529, hier 509. 77 Jahn/Schmidt (Hgg.), Matthias Jacob Schleiden, 244.

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Schleidens Texte zur jüdischen Geschichte suchen in der Tat geschichtsapologetisch dem aufkommenden Antisemitismus entgegenzutreten. Ein respektvolles Narrativ der Geschichte des Christentums konnte Schleiden wie bereits gezeigt aus verschiedenen Gründen nicht aufbringen: sowohl wegen der religiös motivierten Verfolgungen der Juden, aber auch aufgrund einer von Schleiden prognostizierten klerikalen Wissenschaftsfeindlichkeit. Nicht die mit der Annahme jüdischer Apologie verbundene Zuschreibung einer jüdischen Herkunft, wie sie etwa Stoecker irrtümlich behauptete, sollte uns heute als relevant erscheinen, sondern vielmehr Schleidens Affinität zu Inhalten der jüdischen Geistesgeschichte und seine Suche nach religiöser Zugehörigkeit. Schleiden hat außerhalb des Texts niemals eine Konversion zum Judentum vollzogen. Insofern überhaupt von einer diskursiven jüdischen Zugehörigkeit gesprochen werden kann, hat Schleiden diese in erster Linie durch eine Konstruktion des Judentums realisiert, die seinen wissenschaftsphilosophischen Vorstellungen entsprach. Von einer wissenschaftshistorischen Ableitung von Disziplinen aus religiöser Texttradition gelangte Schleiden zur Verschränkung von Judentum, Wissenschaft und Protestantismus. Denn Schleidens Konzeption vom Judentum speiste sich vornehmlich aus protestantischen Vorstellungswelten und Bebilderungen. In seinem Zugriff auf den sakralen Text fühlte er sich – ebenso wie Abraham Geiger – den progressiven protestantischen Methoden seiner Zeit stärker verbunden. Analog zu dieser Annäherung jüdischer Religion an Wissenschaft und Protestantismus nimmt Schleiden in seinen Schriften auch eine Engführung von jüdischer Leidensgeschichte und seinem Selbstverständnis als angefeindeter Wissenschaftler vor, der sich vergleichbaren klerikalen Verfolgern ausgeliefert sieht. In seiner Suche nach einem alternativen Modell zum Kulturprotestantismus, den Schleiden letztlich nicht mehr als historisches Christentum anzuerkennen vermochte, und dem für ihn indiskutablen Aufgeben des Glaubens als Modus menschlichen Erkenntnisstrebens entwirft er ein Judentum, das im Zuge seiner Modernisierung bereits neu gedacht worden war. Schleiden kann demnach ein jüdisches Selbstverständnis referieren, das mit dem Begriff der »Protestantisierung« treffend beschrieben ist.78 Bezugspersonen, die er in kritisch-metho­ discher wie religionsphilosophischer Hinsicht mit Abraham Geiger gemeinsam hatte (z. B. David Friedrich Strauß) und die Prägung durch Konzepte Schleiermachers, etwa dessen Wertschätzung des prophetischen Judentums,79 ermöglichten Schleiden eine Annäherung an ein Judentum, das sich bereits einem protestan­ 78 Siehe Christian Wiese, Art. »Protestantisierung«, in: EJGK, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2013, 642–646. 79 Ebd., 644 f. In vielerlei Hinsicht erinnert Schleidens Judentum auch an die Konstruktion eines »protestantischen Judentums« im Werk des Neukantianers Hermann Cohen (­ 1842–1918); vgl. David  N. Myers, Hermann Cohen and the Quest for Protestant Judaism, in: Leo Baeck­ Institute Year Book 46 (2001), 195–214.

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tischen Religionsverständnis angenähert hatte und das ihm in der Form von Religionsbeschreibungen jüdischer Reformer vertraut erscheinen musste. Während ein Denken in der Opposition von römisch-katholisch und protestantisch, von romanisch und germanisch die sprachliche Gestaltung der Texte Schleidens kennzeichnet und der Zeithorizont des europäischen Kulturkampfs darin augenfällig wird, bietet sich zu ihrer Deutung als Methode insbesondere die Dechiffrierung der biografischen Erfahrung Schleidens an. Dabei hat sich gezeigt, dass die im Text realisierte protestantische Auseinandersetzung mit Rom vornehmlich als Folie für die Verhandlung innerprotestantischer Selbstverständnisse anhand der Beschäftigung mit dem Judentum und jüdischer Geschichte dient. In ihr meint Schleiden auch seine eigenen Kämpfe als entwicklungsbiologischer Naturforscher und Bibelkritiker zu erkennen. Zudem ist deutlich geworden, dass die historiografische Einschätzung von Schleidens Texten zur jüdischen Geschichte durch den Fokus auf den aufkommenden, rassisch argumentierenden Antisemitismus die Wahrnehmung des zeitgenössischen Kontexts der europäischen Kulturkämpfe verstellt. Das Beispiel Schleidens lässt ein allgemeineres historiografisches Problem vermuten und verlangt von kommenden Studien, jenes Paradigma des europäischen Kulturkampfs auch als Interpretationskategorie jüdischer Geschichte im multikonfessionellen Kontext des 19. Jahrhunderts zu erschließen und theoretisch zu durchdringen. Jedenfalls bietet es sich zur adäquaten Beschreibung eines komplexen religionshistorischen Wechselspiels der Wahrnehmungen unter den vielfältigen religiösen Bekenntnissen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. Wie Schleidens Beispiel zeigt, sind Rekonzeptuali­ sierungen jüdischen Selbstverständnisses nicht allein mit Blick auf protestan­ tische Bebilderungen zu verstehen. In einer dem Prozess jüdischer Protestantisierung zeitlich nachgelagerten ideengeschichtlichen Bewegung sind auch aus der protestantischen Rezeption eines rekonfigurierten Judentums selbstreferenzielle Stützen zur Verhandlung von Protestantizität erwachsen. Schleidens Texte zur Geschichte der Juden dürften in diesem Sinne kaum eine exzeptionelle Erscheinung darstellen.80

80 Mein besonderer Dank gilt Nicolas Berg (Leipzig), der mich auf Schleidens Schriften zur jüdischen Geschichte aufmerksam gemacht hat.

Walid Abd El Gawad

Dreifache Vermittlung Israel Wolfensohn als Pionier der israelischen Orientwissenschaft

Bereits ein Blick auf die unterschiedlichen Namen des jüdischen Gelehrten Israel Wolfensohn  (1899–1980) vermittelt ein vielfältiges Bild vom heterogenen Œuvre dieses polyglotten Orientalisten: In Jerusalem als Israel Wolfensohn geboren, veröffentlichte er unter diesem Namen auch eigene Arbeiten, die er in deutscher Sprache verfasst hatte. Im Rahmen eines mehrjährigen Aufenthalts in Kairo publizierte er zudem auf Arabisch, zeichnete seine Texte hier aber als Abū Ḏuaib, um nach seiner Rückkehr nach Palästina im Jahre 1938 nunmehr als Israel Ben Zeev auf Hebräisch zu publizieren. Nicht nur sein Name und seine Schriften, sondern auch sein Bildungsweg weist enge Berührungen mit diesen drei Sprachen und Kulturen auf. So vereinen sich in seiner Biografie und in seinem wissenschaftlichen Werk gleichsam drei Dimensionen: eine europäisch-deutsche, eine hebräische und eine arabische Wissenschaftstradition. Der Lebensweg Israel Wolfensohns kann damit als exemplarisch für die Pionierarbeit einer ganzen Generation von Gelehrten der Orientforschung gelten. Es ist eben diese Verbindung und Vermittlung zwischen der modernen Orientalistik in Deutschland, Palästina/Israel und Ägypten, eine dreifache Kontur einer Wissenskonstellation, die es heute wieder zu entdecken gilt.1 Zwar gab es bereits vor Israel Wolfensohn europäische Orientalisten wie etwa Carlo Alfonso Nallino  (1872–1938) aus Italien, den Franzosen Louis Massig 1 Zur Biografie vgl. den Lebenslauf von Israel Wolfensohn, in: ders., Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Ḥadith und in der islamischen Legendenliteratur, Dissertationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität zu Frankfurt, Gelnhausen 1933, 95 (ohne Paginierung). Kurze Hinweise finden sich bei Donald Malcom Reid, Cairo University and the Making of Modern Egypt, Cambridge u. a. 2002, 154; Gudrun Krämer, Minderheit, Millet, Nation? Die Juden in Ägypten 1914–1952, Wiesbaden 1982, 329 f.; Nağīb al-ʿAqīqī, Al-Mustašriqūn [Die Orientalisten], Bd. II, 4. erweiterte Auflage, Kairo 1979, 460. Zudem sei auf Islam Dayeh hingewiesen: »Israel Wolfensohn, Taha Hussain and the Introduction of Semitic Philology in Cairo«, Vortrag im Rahmen des Workshops »Semitic Philology within European Intellectual History. Constructions of Race, Religion, and Language in Scholarly Practice«, Berlin, 21. Juni 2013. Aviv Deri analysierte in einer an der Ben-Gurion-Universität in Beer Sheva verfassten Masterarbeit im Jahre 2013 die Entwicklungen der israelischen Orientforschung vor und nach der Staatsgründung anhand von Wolfensohns Werk.

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Walid Abd El Gawad

non (1883–1962) oder Enno Littmann (1875–1958), die an der Kairo-Universität in Ägypten auf Arabisch unterrichtet hatten.2 Jedoch war Wolfensohn der erste Wissenschaftler, der in der arabischen Sprache an dieser Universität nicht nur studierte, sondern auch publizierte und lehrte. Gerade in diesen Beiträgen Wolfensohns spiegelt sich seine heterogene Wissenstradition in besonderer Weise; dieser Umstand erklärt aber zum Teil auch seine Abwesenheit in der westlichen Forschung. Dass Wolfensohn überwiegend auf Arabisch und Hebräisch publizierte und eine Beschäftigung mit seinem Werk neben deutschen, englischen und französischen Sprachkenntnissen gleichermaßen arabische, hebräische und aramäische erfordert, weist zudem auf einen weiteren Grund für diese bisher eher marginale Wahrnehmung Wolfensohns wissenschaftlicher Beiträge hin: Während eine Kenntnis dieser Sprachen und der wechselseitige Bezug von Judentum und Islam aufeinander in der europäischen Wissenschaftstradition der Orientalistik im 19. Jahrhundert und noch bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein als selbstverständlich galt, sind in der aktuellen Forschung nur wenige Forscher zu finden, die auf diesen Gebieten gleichermaßen ausgewiesen sind.3 Eine Wiederentdeckung dieser gerade durch jüdische Gelehrte begründeten besonderen Wissenschaftstradition scheint deswegen für die heutige Orientwissenschaft nicht nur von großer Bedeutung, sondern könnte gleichermaßen erkenntnisfördernd sein.4 Denn der 16. Januar 1933, das Datum des Rigorosums von Israel Wolfensohn an der Goethe-Universität in Frankfurt, steht auch für den tragischen Abbruch eines spezifischen Wissenschaftsverständnisses als eine der Folgen der nationalsozialistischen Machtübernahme. Das Ende dieser Wissenschaftstradition hängt zudem mit der Zunahme gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern im Mandatsgebiet Palästina zusammen, die in den Jahren 1936 bis 1939 einen Höhepunkt erreichte. Später weiteten sich diese im Zuge des israelischen Staatsgründungskriegs und mit dem Aufstieg des arabischen Nationalismus zum Nahostkonflikt aus. Dieser Beitrag versteht sich somit als ein Versuch der Wiederentdeckung dieser bedeutenden, aus dem 19. Jahrhundert erwachsenen Wissenschaftstradition in der Orientalistik. Ein Ziel dieses Texts ist es, die drei Dimensionen der wis 2 Siehe dazu ʿAbdarraḥmān Badawī, Mausūʿat al-mustašriqīn [Enzyklopädie der Orientalisten], Beirut 42003, 583–587, 529–535 und 512 f. 3 Zu dieser speziellen Ausrichtung und einer ihrer Begründungsfiguren, dem Leipziger Orientalisten Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888), siehe Sabine Mangold-Will, Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004. 4 Siehe dazu Ismar Schorsch, Converging Cognates. The Intersection of Jewish and Islamic Studies in Nineteenth Century Germany, in: Leo Beck Institute Yearbook 55 (2010), 3–36; Angelika Neuwirth, »Im vollen Licht der Geschichte«. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, in: Dirk Hartwig/Walter Homolka/Michael J. Marx/dies. (Hgg.), »Im vollen Licht der Geschichte«. Die Wissenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, Würzburg 2008, hier 25–34.

Israel Wolfensohn als Pionier der israelischen Orientwissenschaft

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senschaftlichen Arbeit Wolfensohns vor seiner Rückkehr nach Palästina im Jahre 1938 zu rekonstruieren. Im Fokus der Darstellung stehen deswegen folgende Fragen: Welche Rolle nehmen die jüdischen, arabischen und deutschen Kulturen und Sprachen sowie die damit verbundenen Räume und Zugehörigkeiten im Denken Wolfensohns ein? In welcher besonderen Konstellation stehen diese Anteile in seinem Werk zueinander? Dafür wird zunächst Wolfensohns Lebens- und Bildungsweg skizziert und im Anschluss daran die grundlegenden Aspekte seiner Forschungen dargestellt.

Drei Sprach- und Wissenstraditionen – Leben und Bildungsweg Die Bildungsgeschichte Israel Wolfensohns lässt sich in Form einer Dreiecksbewegung zwischen Palästina/Israel, Ägypten und Deutschland nachzeichnen. Am Vorabend der Jahrhundertwende, am 24. August 1899, wurde er in Jerusalem als Sohn des Bankbeamten Menachem Wolfensohn geboren. Einer seiner Vorfahren war der Rabbiner Avraham Wolfensohn (1783–1855), der als Anhänger des Gaons von Wilna, Elijah Ben Salomon Salman (1720–1779), die Ansicht vertrat, dass die Rückkehr der Juden aus dem Exil in das Heilige Land den Anbruch der messianischen Ära bewirken würde. Rabbi Wolfensohn gründete die Organisation Ḫazon Tsion (Die Prophezeiung von Zion), die sich eben diesem Ziel verschrieb, und emigrierte 1809 mit einer ersten Gruppe Gleichgesinnter zunächst nach Safed in Galiläa und später nach Jerusalem. Dort wurde er Kopf der aschkenasischen Gemeinde. Zudem war er ein Mitbegründer der ersten jüdischen Apothek, des Krankenhauses in Palästina sowie des orthodoxen Viertels Mea Shearim und der neuen jüdischen Siedlungen außerhalb der Mauern der Altstadt von Jerusalem.5 In diesem streng orthodox geprägten Umfeld erhielt Israel Wolfensohn als Kind in Jerusalem eine traditionelle Bildung in einer Talmud-Thora-Schule und besuchte anschließend von 1905 bis 1911 die im 19. Jahrhundert gestiftete Lämelschule des Hilfsvereins der deutschen Juden, an der er auch die deutsche Sprache erlernte. Danach wurde er am Lehrerseminar dieser Einrichtung ausgebildet und arbeitete nach dem erfolgreichen Abschluss ab 1916 für vier Jahre als Lehrer in Jaffa und Jerusalem. Am Lehrerseminar des Hilfsvereins wurden die gleichen Fächer wie in Deutschland unterrichtet, jedoch war parallel zum Deutschen auch das Hebräische als Lehrsprache obligatorisch. Neben Jiddisch und Deutsch, Hebräisch und Aramäisch sowie Englisch und Französisch konnte Israel Wolfensohn hier auch Arabischkenntnisse erwerben, die er später durch den Besuch der arabischen Mittelschule Dār al-Muʿallimīn (Lehreranstalt) in Jerusalem von 5 Siehe David Tidhar, Entsiklopedyah le-halutse ha-yishuv u-vonav [Enzyklopädie der Begründer und Erbauer Israels], Bd. I, 1947, 304 f., 378 f.

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1920 bis 1922 zu vervollkommnen beabsichtigte.6 Wolfensohn war der erste und einzige jüdische Schüler dieser Einrichtung; zudem stellt die Schule auf seinem Bildungsweg eine wichtige Verbindung nach Ägypten dar.7 Schließlich war Dār al-Muʿallimīn im Jahre 1918 durch die englische Militärverwaltung als eine Eliteschule in Jerusalem errichtet worden, um ähnlich wie die von dem ehemaligen ägyptischen Bildungsminister ʿAlī Pascha Mubārak (1823–1893) fünf Jahre vorher im Jahre 1872 gegründete Hochschule Dār al-ʿulūm (Wissenschaftsanstalt) Lehrer für die Grund- und Sekundarschulen sowohl in traditionellen wie in modernen Fächern auszubilden.8 In der Jerusalemer Schule wurden die gleichen Lehrmaterialien verwendet, die auch für die ägyptischen Bildungseinrichtungen entwickelt worden waren; hier unterrichteten Lehrer aus Ägypten, Großbritannien und dem Irak. Die Studierenden sollten durch die Ausbildung in der englischen Sprache für ein Studium im Ausland insbesondere in den Vereinigten Staaten und in England vorbereitet werden.9 Nach dem Abschluss an der Dār al-Muʿallimīn ging Wolfensohn jedoch zum Studium nach Ägypten, wo er sich im Jahre 1922 als erster jüdischer Student aus Jerusalem an der Kairo-Universität – damals noch Ägyptische Universität (al-Ğāmiʿa al-Miṣrīya) – immatrikulierte und ein Studium der semitischen Sprachen, Islamkunde, Philosophie, Geschichte und englischen Literatur aufnahm.10 Er besuchte dort auch den Unterricht zur antiken Geschichte bei Ṭāhā Hussain (1889– 1973), einem herausragenden ägyptischen Intellektuellen jener Zeit, der durch seine Studie »Über die vorislamische Poesie«  (Fiš-Šiʿr al-ğāhilī), die 1926 erschien und heftige Debatten in politischen, theologischen und akademischen Kreisen ausgelöst hatte, bekannt geworden war.11 Seinem Lehrer fiel Wolfensohn durch das große Interesse an der Forschung, die akribische Arbeit und außerge 6 Die biografischen Daten basieren auf dem Lebenslauf Wolfensohns in ders., Kaʿb alAḥbār und seine Stellung im Hadith und in der islamischen Legendenliteratur, 95. Zum Teil variieren die Jahreszahlen um etwa ein Jahr von den bei David Tidhar vermerkten Angaben. 7 Samīr Ḥāğ, Biʾr al-ḥadāṯa. al-mūsīqa war-ramz fī adab ğabra ibrāhīm ğabra [Brunnen der Moderne. Musik und Symbol in der Literatur von Ğabra Ibrāhīm Ğabra], Beirut 2012, 30 f. 8 Zu Biografie und Werk ʿAlī Mubaraks siehe Ignaz Goldziher, ʿAlī Bāscha Mubārak: Al-Ḫuṭaṭ at-taufīqīya al-ğadīda li-miṣr al-qāhira wa-mudunahā al-qadīma waš-šahīra, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 4 (1890), 347–352; Karl Vollers, Ali Pascha Mubārak, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 47 (1893), 720–722; Lorne M. Kenny, ʿAlī Mubārak: Nineteenth Century Egyptian Educator and Administrator, in: Middle East Journal 21 (1967), H. 1 [Winter], 35–51. 9 Zur Geschichte von Dār al-ʿulūm und Dār al-Muʿallimīn siehe Reid, Cairo University and the Making of Modern Egypt, 33–37, sowie Ḥāğ, Biʾr al-ḥadāṯa, 29–84, bes. 29–44. 10 Siehe Wolfensohn, Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Hadith und in der islamischen Legendenliteratur, 95. Sowie ders., Kaʿb al-Aḥbār, arabische Fassung, Jerusalem 1976, 11.  11 Siehe dazu Abdelhamid Muhammad Ahamad, Die Auseinandersetzung zwischen der alAzhar und der modernistischen Bewegung in Ägypten von Muhammad Abduh bis zur Gegenwart, Dissertation, Hamburg 1963, 45–55.

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Titelblatt der am 16. Januar 1933 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main verteidigten Dissertationsschrift von Israel Wolfensohn.

wöhnlichen Fleiß auf. Ṭāhā Ḥussain förderte seinen Schüler, der bei ihm im Jahre 1927 mit einer Arbeit über die »Geschichte der Juden in Arabien in der vor- und frühislamischen Zeit« (Tārīḫ al-yahūd fī bilād al-ʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr alislām) promovieren konnte. Die Dissertation wurde auf Arabisch verfasst und noch im selben Jahr mit einem Vorwort von Ḥussain herausgegeben.12 Im Anschluss arbeitete Wolfensohn zunächst als Dozent für die hebräische und syrische Sprache an der Philosophischen Fakultät der Kairoer Universität und als Lehrer für semitische Sprachen an der Hochschule Dār al-ʿUlūm. In die 12 Israel Wolfensohn, Tārīḫ al-yahūd fī bilād al-ʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr al-islām [Geschichte der Juden in Arabien in der vor- und frühislamischen Zeit], Kairo 1927, III–V.

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ser Zeit pflegte er intensive Kontakte zu arabischen Intellektuellen und den in Ägypten ansässigen Orientalisten, und veröffentlichte zahlreiche Artikel in ägyptischen Zeitungen und Zeitschriften. Zudem erschien noch im Jahre 1929 seine ebenfalls auf Arabisch verfasste Studie über die »Geschichte der semitischen Sprachen« (Tārīḫ al-luġāt as-sāmīya), die er seinem ägyptischen Mentor Ṭāha Ḥussain widmete. Jene Schrift und seine Dissertation waren die ersten arabischen Forschungsarbeiten überhaupt zu diesen Themen. Auch der arabische Name des Autors erlangte dadurch Bekanntheit: Abū Ḏuaib.13 Mit seinen in Jerusalem und Kairo erworbenen Qualifikationen studierte Israel Wolfensohn ab 1930 noch einmal, dieses Mal an den Universitäten in Berlin und Frankfurt semitische Sprachen, Islamkunde sowie neuere Geschichte und Philosophie. Zu seinen Lehrern in Europa gehörten die führenden Orientalisten jener Zeit, unter anderem Carl Heinrich Becker  (1876–1933), Josef Horovitz  (1874–1931), Eugen Mittwoch  (1876–1942), Hans Heinrich Schäder (1896–1957) und Gotthold Weil (1882–1960). Unter der Betreuung von Martin Plessner (1900–1973) und Gotthold Weil schloss Israel Wolfensohn sein Studium in Frankfurt im Jahr 1933 mit einer zweiten Doktorarbeit ab: Das Thema war der jüdische Konvertit Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Ḥadīṯ und in der islamischen Legendenliteratur. Sie erschien noch im selben Jahr auf Deutsch. Das Rigorosum fand am 16. Januar 1933, nur zwei Wochen vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten statt. In der Folge kehrte Wolfensohn nach Ägypten zurück. Ab 1933 war Wolfensohn wieder als Assistent an der Schule Dār al-ʿUlūm und der Philosophischen Fakultät der Kairo-Universität sowie als Sekretär der jüdischen Gemeinde in Ägypten tätig. Dem Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde und ehemaligen ägyptischen Finanzminister Yūsuf Qaṭṭāwī Pascha (1861–1942) widmete Wolfensohn im Jahre 1936 seine dritte arabischsprachige Publikation. Dabei handelte es sich um die Biografie Moses Maimonides. Sein Leben und sein Werk (Mūsā ibn maimūn. Ḥayātuh wa-muṣannafātuh), die zum Gedenken an den 800.  Geburtstag des mittelalterlichen jüdischen Gelehrten herausgegeben wurde. Das Vorwort dazu schrieb Muḥammad ʿAbdus Schüler Muṣṭafa ʿAbdarrāziq (1885–1947), der in den Jahren 1945 bis 1947 auch Scheich der Azhar wurde.14 Während seines Aufenthalts in Ägypten machte Israel Wolfensohn außerdem Aufnahmen, Skizzen und Zeichnungen von jüdischen Altertümern in Kairo, Fosṭāt, Alexandria und Maḥallat Rašīd als Vorbereitung für sein nächstes Buch in hebräischer Sprache, dem er den Titel Archivalien der Juden in Ägypten

13 Ders., Tārīḫ al-luġāt as-sāmīya [Geschichte der semitischen Sprachen], Kairo 1929, I–VIII. 14 Ders., Mūsā ibn maimūn. Ḫayātuh wa-muṣannafātuh [Moses Maimonides. Sein Leben und seine Werke], Kairo 1936, I–IV.

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(Gnise ha-jehudim be-mizraim) geben wollte, das jedoch, wie weitere Schriften Wolfensohns, niemals publiziert wurde.15 Im Jahre 1938 kehrte Israel Wolfensohn ins damalige britische Mandatsgebiet zurück.16 Dieser Zeitpunkt stellte eine Wendung in der dortigen Bildungspolitik dar, die auch in seinem Werk Niederschlag finden sollte. Im Jahre 1936 brach unter Anführung von Wolfensohns ehemaligem Kollegen, dem Groß-Mufti von Jerusalem Muḥammad Amīn al-Ḥusainī (1893–1974), vor allem aufgrund der steigenden Zahlen der vor dem zunehmenden Antisemitismus in Europa und insbesondere in Deutschland in das Mandatsgebiet fliehenden Juden der Arabische Aufstand aus, der auch als »Große Revolution Palästinas« (Ṯaurat filasṭīn al-kubrā) bezeichnet wurde. Bis zur Niederschlagung durch die Briten im Jahre 1939 kam es zu Attentaten der arabischen Bevölkerung auf Juden und Briten und landesweit zu Angriffen auf deren Einrichtungen in bisher unbekanntem Maße. Die dramatischen Ereignisse dieser Revolte führten zu einem Umdenken im Bildungsbereich, wo die Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern die Überzeugung beförderte, dass die in erster Linie von deutschen Gelehrten historisch und philologisch angelegte Methode der Orientforschung und die von ihnen entwickelten Lehrbücher für den Arabischunterricht in den jüdischen Schulen wenig adäquat seien. Ein »praxisorientierter Zugang« zu arabischer Sprache und Region sollte nun der gewandelten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Situation gerecht werden. Dieser Ansatz reagierte auf die geänderte politische Lage und hatte unter anderem militärische und sicherheitspolitische Ziele. Auch Wolfensohn vertrat im Jahre 1939 die Ansicht, dass der Arabischunterricht »nicht nur akademischen Zwecken« dienen sollte, sondern die Schüler zusätzlich befähigen müsse, Arabisch »auf praktischem Wege« in Alltagssituationen anzuwenden, ohne ausschließlich die »klassische arabische Sprache« zu kennen. Er betonte, dass deswegen die Ausrichtung der bisherigen theoretischen und forschungsorientierten Arabischstudien geändert werden müssten, denn »diese Unterrichtsmethode möge vielleicht zu den arabischen Studien an einer europäischen Universität passen. Wir brauchen aber Arabisch für den realen praktischen Gebrauch.« Wolfensohn setzte die bisherige Orientforschung nicht fort, sondern beschäftigte sich nun mit einem gegenwartsbezogenem Gegenstand: dem Unterricht der arabischen Hoch- und Umgangssprache für Anfänger und Fortgeschrittene, für den er die Lehrbücher entwickelte. Ab 1941 war er zudem als Inspektor für den Arabischunterricht an jüdischen Schulen im Jischuw tätig und organisierte Kurse für die Lehrerausbildung in dieser Sprache.17 15 Tidhar, Entsiklopedyah le-halutse ha-yishuv u-vonav, Bd. I, 1947, 378. 16 Wolfensohn, Kaʿb al-Aḥbār, arabische Fassung, Jerusalem 1976, 11. 17 Vgl. Tidhar, Entsiklopedyah le-halutse ha-yishuv u-vonav, Bd. I, 1947, 378. Zu Wolfensohns Aktivität im Bereich des Arabischunterrichts nach seiner Rückkehr nach Palästina/Israel siehe Yonatan Mendel, The Creation of Israeli Arabic. Security and Politics in Arabic Studies in Israel, London 2014, hier 29–40; ders., A Sentiment-Free Arabic. On the Creation of the Israeli

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Diese Veränderungen wurde auch vom Institut für Orientalische Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem getragen, das ursprünglich von Wolfensohns Lehrer in Frankfurt, dem deutsch-jüdisch Gelehrten Josef Horovitz, begründet worden war. In Jerusalem konnte Gotthold Weil, Horovitz’ Nachfolger und Wolfensohns Doktorvater, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre seine Orientforschung – wenn auch nur eingeschränkt – fortsetzen und als Direktor der Universitäts- und Nationalbibliothek arbeiten, nachdem er zuvor als Nachfolger von Horovitz das Institut für Orientalische Studien in Jerusalem noch von Frankfurt aus geleitet hatte.18 Vor diesem eher lebensgeschichtlichen Hintergrund gilt es nun, die dreidimensionale Konstellation der jüdischen, arabischen und europäischen Kulturen im Werk Israel Wolfensohns vor jenem Umbruch darzustellen.

Im Spiegel des Anderen – Juden und Muslime im Werk Wolfensohns vor 1938 Ein Blick auf die Werke Wolfensohns zeigt, dass im Zentrum seiner Forschung vor seiner Rückkehr nach Palästina im Jahre 1938 die arabischen und jüdischen Lebenswelten seiner Umgebung standen, zwischen denen er unermüdlich Brücken zu bauen suchte. Im Vergleich zu seinen Aufenthalten in Ägypten stellte Europa schließlich nur eine kurze, wenn auch äußerst wichtige Zwischenstation dar, betrachtete er doch die europäische Orientalistik als unerlässliches Fundament für seine Forschungen. Einerseits lernte er von dieser Wissenschaftstradition und vermittelte sie seinen arabischen Lesern in unterschiedlichen Formen durch seine Lehre und seine Werke. Anderseits stand er ihr auch kritisch gegenüber und machte auf mitunter einseitige, manchmal kolonial, nicht selten theologisch imprägnierte, eurozentrische oder sogar rassistische Anteile aufmerksam. Er appellierte an seine arabischen Leser von der europäisch-westlichen Wissenstradition zu lernen, um eine eigenständige zu begründen. Diese sollte nach Wolfensohns Vorstellung in engem Austausch mit jüdischen Wissenskulturen entstehen, um die eng verbundene Geschichte von Juden und Muslimen zu erforschen und darauf aufbauend eine gemeinsame Zukunft zu gestalten.19

Accelerated Arabic Language Studies Programme, in: Middle Eastern Studies 49 (2013), H. 3, 383–401; ders., From German Philology to Local Usability. The Emergence of ›Practical‹ Arabic in the Hebrew Reali School in Haifa 1913–48, in: Middle Eastern Studies 52 (2016), H. 1, 1–26, hier 15. 18 Siehe Sabine Mangold-Will, Gotthold Weil, die Orientalische Philologie und die deutsche Wissenschaft an der Hebräischen Universität, in: Naharaim 8 (2014), H. 1, 74–90, hier bes. 83–86. 19 Wolfensohn, Tārīḫ al-luġāt as-sāmīya, Kairo 1929, V f.

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Am Anfang von Wolfensohns Bemühungen, diese gemeinsame Wissenstradition zu begründen, steht die bereits erwähnte Dissertation Geschichte der Juden in Arabien in der vor- und frühislamischen Zeit (Tārīḫ al-yahūd fī bilād alʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr al-islām), die im Jahre 1927 durch die Kommission für das Verfassen, die Übersetzung und Publikation (Lağnat at-Taʾlīf wat-Tarğama wan-Našr) herausgegeben wurde.20 Wolfensohns Arbeit war die erste arabischsprachige wissenschaftliche Studie in der Moderne zu diesem Thema. In seiner Einleitung hielt er fest: »Wer die Geschichte der Araber in der vor- und frühislamischen Zeit studiert, wird merken, dass die arabische Sprache einen Autor vermisst, der auf die Geschichte der Juden spezialisiert ist, deren Einfluss auf die arabische Halbinsel zu jener Zeit keiner leugnen kann. Er wird sich wundern, wie der arabischen Sprache ein solcher Autor bis heute vorenthalten blieb.«21

In diesem Pionierwerk ging Wolfensohn von einer nahen Verwandtschaft zwischen Juden und Arabern und einer großen Bedeutung der jüdischen Geschichte für die arabische und islamische Geschichte aus. Die bisher ausstehende Forschung führte er darauf zurück, dass zeitgenössische arabische Historiker die vorislamische Geschichte ungenügend erfassten und deshalb die Geschichte der Juden außer Acht ließen, die in der vor- und frühislamischen Zeit einen großen Teil der Bewohner der arabischen Halbinsel ausmachten und in historischer, politischer und sozialer Hinsicht die Geschichte der Region maßgeblich prägten. Es sei ihnen schlicht nicht bekannt, welche Einsichten bei der Erforschung ihrer eigenen durch eine Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte erzielt werden könnten. Gerade die Geschichte der Juden im arabischen Raum im Allgemeinen und in den Regionen von Hedschas auf der westlichen Seite der arabischen Halbinsel entlang der Küste des Roten Meeres im Besonderen biete, so Wolfensohn, einen unerlässlichen Schlüssel zur Erforschung der vorislamischen Geschichte. Wolfensohn wies deswegen gerade auf die in alten arabischen Quellen vorhandene Fülle an Informationen hin.22 Ṭāha Ḥussain bestätigte in seinem Vorwort die Befähigung Wolfensohns, ein neues Tor zur Erforschung der jüdischen Geschichte im arabischsprachigen Raum zu öffnen. Mit Stolz stellte er »dem aufgeklärten und an der Literatur- und Geschichtsforschung interessierten Publikum« deshalb den jungen jüdischen Wissenschaftler vor: Wolfensohn beherrsche die wichtigsten europäischen Sprachen, die für eine »wissenschaftlich historische Forschung vor allem im Bezug auf orientalisch-arabische Fragen« vonnöten seien, zudem meistere er »von den semitischen Sprachen die reichsten an wertvollen Traditionen in der Religion, Li 20 Ders., Tārīḫ al-yahūd fī bilād al-ʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr al-islām. 21 Ebd., VI. 22 Ebd.

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teratur und Wissenschaft.« Auch würde sich Wolfensohn mit der Forschungsliteratur gut auskennen und vereine deswegen in seiner Arbeit »ausgewogen das alte semitische und das neue europäische Wissen, was ihn am besten qualifizierte, die feinen historischen und literarischen Fragen zu behandeln«, indem er moderne europäische Forschungsmethoden anwende.23 Im Urteil Ḥussains war diese Pionierarbeit deshalb nicht nur im Vergleich zu den arabischsprachigen Forschern eine bemerkenswerte Leistung, sondern auch mit Blick auf die westlichen Orientalisten, die zwar andere und modernere Forschungsmethoden anwandten, sich aber häufig nicht gut genug mit der arabischen und semitischen Kultur auskannten und deswegen Fehler aufweisen würden. Ṭāha Ḥussain betrachtete die europäische Orientalistik dennoch als unerlässlich für eine moderne Universität in Kairo  – somit sei Wolfensohns Schrift ein doppeltes Verdienst zuzuschreiben: Sie habe neue Ergebnisse erzielt und darüber hinaus die Studien und Methoden der westlichen Forschung zu dem behandelten Thema erstmals in der arabisch­ sprachigen Welt präsentiert.24 Die Schrift Wolfensohns richtete sich jedoch nicht nur an das aufgeklärte muslimische oder christliche Publikum. Sie war auch für jene Juden gedacht, die im arabischen Raum lebten, und sollte ihnen die eigene Tradition und das historische Erbe bewusst machen. Wolfensohn hatte beobachtet, wie sich das ägyptische Nationalgefühl in der Zwischenkriegszeit mit der Entstehung des unabhängigen ägyptischen Staats ausformte, und erkannte zugleich die davon ausgehende Bedeutung für die in Ägypten lebenden Juden. Dort, wie in vielen anderen Teilen der Welt auch, waren sie durch das Aufkommen des modernen Nationalstaats und den damit verbundenen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen mit der Frage nach ihrer Eigenständigkeit und Zugehörigkeit konfrontiert. Sie mussten für ihre Umgebungskultur und sich selbst ihr Jüdisch-Sein neu bestimmen: Waren sie Ägypter jüdischen Glaubens oder Juden aus Ägypten, die der jüdischen Nation angehören? Wolfensohn gehörte zu denen, die zwischen einem jüdischen Selbstverständnis und der Zugehörigkeit zum ägyptischen Nationalstaat keinen Widerspruch sahen. Er war Gründungsmitglied der Société d’Etudes Historiques Juives d’Egypte (1925–1947), die sich der Erforschung der jüdischen Geschichte und Literatur in der arabischen Welt und im Nahen Osten widmete. Diese wurde von ägyptisch-jüdischen Patrioten wie Yūsuf Qaṭṭāwī Pascha und dem türkischstämmigen Großrabbiner Haim Nahum ­(1873–1960) geleitet und gefördert.25 So galt die Schrift Wolfensohns auch als ein Beitrag zur Auseinandersetzung der ägyptischen Juden mit ihrem historischen und kulturellen Erbe sowie ihrer Zugehörigkeit zur Geschichte und Kultur 23 Ebd., III. 24 Ebd., IV f. 25 Krämer, Minderheit, Millet, Nation?, 326–332; Joel Beinin, The Dispersion of Egyptian Jewry. Culture, Politics, and the Formation of a Modern Diaspora, Kairo 2005, 33–35.

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der arabischen Region. Und doch war ein solcher Blick zugleich mit den politischen Verwerfungen der Gegenwart konfrontiert, denen sowohl Wolfensohn als auch sein ägyptischer Mentor mit ihren Texten entgegenzuwirken suchten. Die Hürde jüdisch-arabischer Spannungen galt es laut Ḥussain zu überwinden, denn »das Thema [des Werkes] an sich ist sehr wertvoll und von sehr großer Relevanz für die Literatur-, Politik- und Religionsgeschichte der arabischen Nation.«26 Wolfensohn betonte in seiner Arbeit deshalb vor allem die positiven Aspekte der jüdisch-muslimischen Geschichte und eine Notwendigkeit ihrer wissenschaftlichen Erforschung durch beide Seiten. So beschreibt er die Juden als eine Nation mit eigener Sprache und Tradition sowie mit eigenem Territorium, historischem Erbe und eigenem Geist. Die »Israeliten« (banū isrāʾīl) bildeten schließlich »die älteste semitische Nation, die ein großartiges geistiges Erbe in der Literatur und Religion hinterließ.« Im Vergleich zu anderen semitischen Nationen besäßen die Israeliten, so Wolfensohn, das größte erhalten gebliebene Erbe des semitischen »schöpferischen Geistes«. Noch älter als die Israeliten selbst sei aber ihre Sprache, das Hebräische, die Sprache ihrer »Heimat« (mauṭin) Palästina und von vielen Stämmen auf dem Sinai und im Ostjordanland. Diese sei in der Region für lange Zeit vorherrschend gewesen, bis sie vom Aramäischen und später vom Arabischen zurückgedrängt wurde. Deshalb betrachtete Wolfensohn das Hebräische und seine Literatur als eine wichtige Voraussetzung für die Erforschung aller weiteren semitischen Sprachen. Darüber hinaus präsentierte er dem arabischen Leser die Geschichte der Juden auf der arabischen Halbinsel als ein wichtiges Mittel zur Erkundung der Dialekte, Religionen und Gewohnheiten der Araber. So diagnostizierte er zwischen ihnen ein unauflösliches historisches Band: Die arabische Sprache sei dem Hebräischen ähnlich und es bestehe eine ausgeprägte soziale, kulturelle und religiöse Nähe.27 Feindschaften zwischen Muslimen und Juden, die aus den Konflikten der früh­islamischen Zeit resultierten, fanden laut Wolfensohns Darstellung ihren Abschluss bereits nach Beendigung der politisch und wirtschaftlichen begründeten Kämpfe zwischen ihnen.28 In der muslimischen Herrschaft sah Wolfensohn einen historischen Vorteil für die Juden, da sie so von dem im Römischen Reich erfahrenen Unrecht befreit wurden. Die Einschränkungen der Juden unter dem Islam seien nach Wolfensohns Einschätzung nicht mit den »großen Vorteilen zu vergleichen, welche die Juden durch den Aufbruch des Islam« gewannen. So kämpften Juden beispielsweise in den muslimischen Armeen in Andalusien und bildeten mit ihnen eine Hochkultur, die die Geschichte der jüdischen und arabischen Literatur sehr lange beeinflusste. Wolfensohn betonte die historischen Ver 26 Wolfensohn, Tārīḫ al-yahūd fī bilād al-ʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr al-islām, IV. 27 Ebd., VII f, und 4. 28 Siehe dazu Bernard Lewis, Die Juden in der islamischen Welt, übers. aus dem Englischen von Liselotte Julius, München 2004, 19 f.

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bindungen der Verwandtschaft, die Nähe von Sprache, Kultur und Religion zwischen Juden und Muslimen. Schließlich glaubten beide Religionen an den Gott Moses und Abrahams.29 Wolfensohn teilt in seiner Darstellung die Geschichte der Juden im arabischen Raum in zwei Phasen. Eine erste, frühere Periode erstreckte sich bis gegen Ende des 5. Jahrhunderts. Im Anschluss daran beginnt die zweite Phase, die mit der Vertreibung der Juden von der arabischen Halbinsel durch den zweiten Kalifen der Muslime ʿUmar Ibn al-Ḫaṭṭāb in seiner Amtszeit  (634–644) endet.30 Während die jüdischen Ansiedlungen in der ersten Phase durch militärische Gewalt und Vertreibung der arabischen Ureinwohner geprägt waren, erfolgten spätere jüdische Migrationen in der zweiten Phase vor allem aufgrund der Angriffe des Römischen Imperiums auf Palästina im ersten und zweiten Jahrhundert, der Unterdrückung und Vertreibung der Juden und der Zerstörung des »unabhängigen jüdischen Staats« und des Tempels. Die Beschreibungen, die Wolfensohn von jener historischen Zeit gibt, lassen eine utopische Vorstellung des Zusammenlebens von Juden und Arabern aufscheinen. Schließlich kamen die Juden nicht als Eroberer, sondern als »gezwungene Gäste«, die »vor den Krallen des römischen Adlers flohen« und die arabische Halbinsel »aufgrund ihrer freien beduinischen Lebensformen« und ihrer vor den Römern sicheren Lage bevorzugten. In den arabischen Wüstenregionen bauten sie mit ihren Stammes- und Glaubensbrüdern Städte, Dörfer und Burgen, führten neue Technologien aus ihrer Heimat in die Agrarwirtschaft, die Schmiedekunst und die Textilarbeit ein, sie bohrten Brunnen und bauten Industrie, Handel und Märkte auf, sodass man von einer Blütezeit sprechen könne.31 Vereint durch Verwandtschaft und »das gemeinsame religiöse Gefühl (al-ʿāṭifa ad-dīnīya)« gewann die jüdische Bevölkerung eine große Bedeutung in der arabischen Region. Sie bildete schließlich »eine unab­hängige Nation«, die mit ihren arabischen Nachbaren und den an­ deren Nationen verkehrte.32 Wolfensohn belegt insbesondere durch die philologische Untersuchung von Ortsnamen, dass die Juden ihre Verbindung zu ihrer ursprünglichen Sprache und den Bezug zu ihrer Heimat zu keiner Zeit auf­ gegeben hatten.33 Das hier beschriebene eigenständige jüdische Kollektiv teilte mit den Arabern das politische, wirtschaftliche und geistige Leben und bildet mit ihnen eine kulturelle und soziale Einheit. So könnte man, laut Wolfensohn, die Juden von Hedschas hinsichtlich ihres Geists und ihrer Religion von den Arabern zwar unterscheiden, jedoch sei dies im Bezug auf Sitten, Bräuche und das Sozialverhalten 29 Wolfensohn, Tārīḫ al-yahūd fī bilād al-ʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr al-islām, IX f. 30 Ebd., 1 f. 31 Ebd., 8–10 sowie 17–19. 32 Ebd., 10 f. 33 Ebd., 14–17 und 20. 

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nicht möglich. Die angesiedelten Juden hätten die Sitten und Gewohnheiten der Araber sehr schnell angenommen und fügten sich in deren soziale Strukturen ein. Darüber hinaus verfassten sie Gedichte im Stil der Araber und mit denselben Motiven. In Anlehnung an Ṭāha Ḥussains Thesen geht Wolfensohn gar von einer großen Bedeutung jüdischer Dichter für die arabische Poesie aus. Die Gemeinsamkeit der poetischen Begabung von Juden und Arabern nimmt Wolfensohn als weiteren Beleg für deren Verbundenheit: Seiner Ansicht nach teilten das Arabische und Jüdische gleichermaßen eine poetische Neigung, die von Juden bereits geprägt wurde, bevor sie sich auf der arabischen Halbinsel niederließen.34 Diese historische Nähe zwischen Juden und Arabern verteidigt Wolfensohn mit Belegen aus der Thora, der modernen westlichen Forschung und den Thesen des ägyptischen Historikers ʿAbdalwahhāb an-Nağār (1862–1941) gegen zeitgenössische Anfeindungen.35 Wolfensohns Schilderung zufolge lebten Juden und Araber für lange Zeit in Harmonie und galten als Partner und Verbündete. Der eigentliche Gegner der Juden seien nicht die Araber gewesen, sondern das Römische Reich, das mit politischem Kalkül Zerwürfnisse und Feindschaften zwischen beiden Gruppen schürte. Die entscheidende Konfrontation zwischen Römern und Juden wurde nur durch die Angriffe der Perser auf die römischen Grenzen und den Aufbruch des Islam verhindert.36 Im Vergleich zum Christentum, dessen Lehre durch die Einflüsse der griechischen Philosophie den Arabern fern lag, bestand laut Wolfensohn eine Affinität zwischen dem arabischen Geist und dem Judentum, die zur schnellen Verbreitung jüdischer Traditionen unter ihren arabischen Nachbarn führte. Wolfensohn leugnet zwar nicht den Einfluss des Christentums auf die Araber, jedoch sei dieser eher marginal gewesen. Hierfür ana­ lysiert er zentrale Begriffe der jüdischen Tradition und weist deren Aufnahme in das arabische religiöse und soziale Leben nach.37 Damit integriert Wolfensohn auch die Thesen von Gustav Weil (1808–1898) und Abraham Geiger (1810–1874) in Bezug auf den Ursprung und die Natur des Islam und dessen Propheten: »Wir glauben, wenn dort ein Jude mit ausgeprägtem religiösen Gefühl erschienen wäre, der die Araber zum Bekennen zu einer Religion aufruft, die in ihrem Kern dem Judentum ähnlich ist und in ihren Bräuchen und ihrer Seele arabisch bleibt, hätte seine Botschaft Gehör gefunden und wäre auf achtsame Herzen gestoßen.« Diese Aufgabe habe Muḥammad übernommen, und er »zwang [damit] die Geschichte dazu, ihren Verlauf zu ändern.38 Wolfensohn bezeichnete Muḥammad als einen auf der arabischen Halbinsel vor dem 34 Ebd., 22–25. 35 Ebd., 75–78. 36 Ebd., 55–62. 37 Ebd., 78–86. 38 Ebd., 90 f., vgl. Gustav Weil, Biblische Legenden der Muselmänner. Aus arabischen Quellen zusammengetragen und mit jüdischen Sagen verglichen, Frankfurt a. M. 1845, 7 f.; Abraham Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen, Bonn 1833, 22, 32 f.

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Islam verbreiteten aḥnāf: einen jener »arabische[n] Denker, die unter dem Einfluss jüdischer und christlicher Lehre den Götzendienst leugneten. Einige davon bekannten sich zum Judentum und andere zum Christentum, wobei sich manche auf keine Religion festlegten« und sich bloß als Anhänger von Abrahams Glauben bezeichneten. Die Verbreitung jüdischer Bräuche auf der arabischen Halbinsel bereitete der Botschaft Muḥammads den Boden, so Wolfensohn.39 Am Anfang seiner historischen Darstellung von Muḥammads Biografie versucht Wolfensohn die traditionelle Sicht auf dieses Thema mit den modernen historisch-kritischen Forschungsmethoden und Maßstäben in Einklang zu bringen. In Anlehnung an Theodor Nöldeke (1836–1930) stellte Wolfensohn die Verwandtschaft und Parallele zwischen dem Korantext und den wesentlichen Prinzipien der Thora sowie Muḥammads Teilhabe an der jüdischen Tradition fest.40 Ferner betonte er den gegenseitigen Respekt und sogar die Affinität zwischen dem Verkünder des Islam nach seiner Auswanderung nach Medina und den Juden, die in der neuen monotheistischen Botschaft eine Ähnlichkeit zu ihrer Religion und eine Hoffnung auf Versöhnung und Vereinigung der verstrittenen arabischen Stämme sowie auf Förderung des Friedens und Wohlstands in Medina erkannten. Den monotheistischen Glauben stellte Wolfensohn stets als eine der wichtigsten Kräfte dar, die Juden und Muslime vereinen und deren Bund unter keinen Umständen gebrochen werden darf.41 Die späteren Konflikte zwischen Muḥammad und den jüdischen Stämmen führte Wolfensohn auf politische und wirtschaftliche Gründe zurück,42 trotz derer Muḥammad die jüdische Religion und deren Textkorpus weiterhin mit Respekt behandelte.43 Die historische Darstellung der Geschichte der Juden im arabischen Raum durch Wolfensohn zeigt drei wichtige Akteure: Juden, Araber und Römer. Die Schrift war sowohl an die Juden als auch an die Araber gerichtet und vermittelte ihnen wechselseitig erhellende Perspektiven auf die Geschichte und einen Aufruf zu respektvollem Umgang in Gegenwart und Zukunft. Das Existenzrecht beider Völkergruppen in der Region wird von Wolfensohn nicht nur verteidigt, sondern stellt die Grundlage seiner Sichtweise auf die gemeinsame Geschichte dar. Dazu werden die kulturellen, sozialen und religiösen Verbindungen vorgestellt und betont. Im Vergleich zur Geschichte der Juden im römischen Reich wird ein Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen unter arabischer Herrschaft als historisch gegeben und in der Gegenwart möglich betrachtet. Im Gegensatz zur westlichen und häufig kolonialen Sichtweise findet in der Arbeit Wolfensohns somit ein äußerst wichtiger Paradigmenwechsel statt: Hier 39 Wolfensohn, Tārīḫ al-yahūd fī bilād al-ʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr al-islām, 80, 90 f. und 101. 40 Ebd., 92–96. 41 Ebd., 105, 111–116, 140. 42 Ebd., 119, 122–127. 43 Ebd., 170.

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werden Juden und Araber nicht als stetige Feinde, sondern als historische Verwandte dargestellt.44 Der Gelehrte Wolfensohn unterscheidet in seinem Blick auf die Araber die politische Gegenwart von der kulturellen, sozialen und religiösen Geschichte beider Völker, die von ihm nicht als Hindernis, sondern als positiver Ausgangspunkt zum Lösen politischer Kontroversen betrachtet wird.45 Zudem versuchte Wolfensohn in seiner Forschung historische und politische Fragen von wissenschaftlichen zu trennen. Einerseits werden Bilder der Konflikte jüdischer Existenz im europäischen Raum aus der Geschichte herangezogen, die in erster Line als Kontrastfolie zur historisch gewachsenen Beziehung zwischen Judentum und Islam dienen und Anspielungen auf die zeitgenössische Situation erkennen lassen. Andererseits wird die europäische Wissenschaftstradition mit Respekt behandelt und integriert. Sie erscheint unerlässlich für eine Behandlung der Geschichte von Juden und Muslimen und dadurch zum Lösen der gegenwärtigen Probleme. Pointiert formuliert kann man also sagen, dass Juden und Muslime sich nur im Spiegel des jeweils anderen sehen können, und dass dieser Reflektionsraum nur unter Zuhilfenahme der Wissenschaft – auch der europäischen und deutschsprachigen Traditionen – entstehen kann.

Die deutsche Wissenschaftstradition als Vermittler eines allgemeinen humanistischen Wertehorizonts Bei der zweiten hier zu behandelnden arabischen Schrift Wolfensohns handelt es sich um seine Studie Geschichte der semitischen Sprachen, die im Jahre 1929 ebenfalls bei der Kommission für das Verfassen, die Übersetzung und Publikation erschienen war. Hier erörtert Wolfensohn bereits in der Einleitung die Tatsache, dass das europäische Interesse an der Geschichte der semitischen Sprachen häufig theologischen und kolonialistischen Zwecken gedient habe. Trotzdem führte dies zu einem Fortschritt und Vorsprung der europäischen Wissenschaft in diesem Bereich, eine Aufgabe, die nun von den »Söhnen der orientalischen Nationen« übernommen werden sollte. Wolfensohn appellierte an die zeitgenössischen arabischen Forscher, dieser Aufgabe nachzukommen und das Erbe ihrer Vorfahren zu erkunden. Dafür war für ihn eine historisch-philologische Forschung unerlässlich, denn die Geschichte der arabischen Sprache sei ohne Kenntnis »ihrer Geschwister unter den semitischen Sprachen« kaum zu erschließen. Er begrüßte deswegen das Ansinnen der Universität Kairo, die bekanntesten Orientalisten jener Zeit zum Unterrichten der semitischen Sprachen an die Philoso­ phische Fakultät einzuladen, das zwanzig Jahre zuvor mit der Einladung von Ignaz

44 Ebd., 9–11, 55–63. 45 Ebd., 17–34, hier bes. 17–25.

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Goldziher und Carlo Alfonso Nallino begonnen hatte.46 Anfangs waren der Einfluss und die Präsenz deutschsprachiger Orientalisten noch wesentlich geringer gewesen, vor allem im Vergleich zu ihren englischen, italienischen und französischen Kollegen, die oft unmittelbar den kolonialen Interessen ihrer Heimat­ länder dienten. Diese Verhältnisse änderten sich aber grundlegend in der Zwischenkriegszeit, als die ägyptische Universität einen Rückgang der italienischen, französischen und englischen Einflüsse und parallel einen Aufstieg der deutschen Orientalisten erlebte.47 Die besondere Bedeutung der deutschen Orientforschung in dieser Zeit spiegelte sich gerade in der Arbeit Wolfensohns wieder, auch deshalb, weil ihm das Deutsche als bedeutende Wissenschaftssprache vertraut war. Auf dem Gebiet der historisch-philologischen Forschung schätzte Wolfensohn besonders drei Orien­ talisten, die alle dieser Wissenschaftstradition angehörten: Theodor ­Nöldeke, Carl Brockelmann  (1868–1956) und Gotthelf Bergsträßer  (1886–1933). Umgekehrt wurde aber auch Wolfensohns Forschung von deutschen Orientalisten wahrgenommen, so zum Beispiel von Enno Littmann  (1875–1958), einem Schüler Nöldekes, der in den Jahren 1910 bis 1912 an der Universität Kairo vergleichende semitische Sprachen und Literaturen unterrichtet hatte und nun im Jahre 1929 als Gastprofessor an die Universität zurückkehrte.48 »Geschenk an den großartigen Meister Enno Littmann von dem Verfasser Israel Wolfensohn, 25. März 1929«, so lautete die handschriftliche Widmung, die Wolfensohn seinem ersten Buch über die Geschichte der Juden in arabischer Sprache voranstellte.49 Seinerseits würdigte Littmann die Leistung von Wolfensohns Studie mit folgenden Worten: »Ihr Buch hat als erstes seiner Art in arabischer Sprache seinen grossen Verdienst. Auch Ihre arabische Schreibweise, die mir sehr gefällt, verdient grosses Lob. Auch viele Ihrer Ausführungen und Ansichten sind durchaus richtig. (22.07.1929)«50 Für die zweite Dissertation über den jüdischen Konvertiten Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Ḥadīṯ und in der islamischen Legendenliteratur ging Wolfensohn schließlich selbst nach Europa. Er wählte als Ort seiner Forschung jedoch nicht eine Universität in Italien, Frankreich oder England, sondern reiste nach Frankfurt am Main. Dies war sicher keine zufällige Entscheidung, vertrat doch hier Gotthold Weil als Professor für semitische Philologie und Islamkunde an der Frankfur 46 Wolfensohn, Tārīḫ al-luġāt as-sāmīya, Kairo 1929, V. 47 Reid, Cairo University and the Making of Modern Egypt, 37–42; ders., Cairo University and the Orientalists, in: International Journal of Middle East Studies 19 (1987), H. 1 [February], 51–76, hier bes. 54–56. 48 Siehe dazu Reid, Cairo University and the Making of Modern Egypt, 41, sowie Wolfensohn, Tārīḫ al-luġāt as-sāmīya, Kairo 1929, VI–VIII. 49 Wolfensohn, Tārīḫ al-yahūd fī bilād al-ʿarab fil-ğāhilīya wa-ṣadr al-islām, Kairo 1927, Vorsatzblatt (Exemplar der Universitätsbibliothek Tübingen). 50 Ebd., VII.

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ter Stiftungsuniversität eben jene deutschsprachige Forschung, die die Idee einer sprachlichen Verwandtschaft und religiös-kultureller Analogien zwischen Juden und Muslimen aufnahm. Weil stand damit in einer langen Tradition von Orientalisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die von der Wissenschaft des Judentums ausgehend eine vergleichende Orientforschung betrieben und dabei Judentum und Islam eng aufeinander bezogen.51 Auf dem Gebiet der Islamstudien trat damit eine philologisch grundierte historisch-kritische Forschung an die Stelle der bisherig polemisch-theologischen Beschäftigung mit dem Gegenstand. Diese Gelehrten des 19. Jahrhunderts können mithin als die Begründer einer modernen Wissenschaft des Islam angesehen werden, deren Weg unter anderem Abraham Geiger ein Jahrhundert zuvor mit seiner preisgekrönten Dissertationsschrift Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? bereitet hatte. Zu diesem Kreis gehörte zudem Ignaz Goldziher, der aufgrund seiner Forschung vom renommierten Orientalisten Carl Heinrich Becker als Begründer der Islamwissenschaft bezeichnet wurde.52 Wolfensohn kannte diese Forschungen genau und trat noch vor seiner Abreise aus Ägypten im Jahre 1930 in die Deutsche Morgenländische Gesellschaft (DMG) ein; bis heute eine der wichtigsten Gelehrten­ organisationen auf diesem Fachgebiet.53 Seine Arbeit stellt sich bewusst in diesen spezifischen Wissenschaftskontext. Die Monografie widmet sich dem jüdischen Gelehrten Kaʿb al-Aḥbār (gest. ­652–655), der aus dem Jemen unter dem zweiten Kalifen ʿUmar Ibn al-­Ḫaṭṭāb (reg. 634–644) nach Medina kam, sich zum Islam bekannte und als hoch angesehene Autorität der Überlieferung vor allem im Bereich des Hadith und Koranauslegung großen Einfluss auf Muḥammads Gefährten ausüben konnte. Kaʿb al-Aḥbār gilt als eine der wichtigsten Quellen, aus der sich zahlreiche Überliefe-

51 Siehe dazu neben Schorsch, Converging Cognates, auch Mangold-Will, Gotthold Weil, die Orientalische Philologie und die deutsche Wissenschaft an der Hebräischen Universität, hier bes. 76; Susannah Heschel, German Jewish Scholarship on Islam as a Tool for De-Orientalizing Judaism, in: New German Critique 39 (2012), H. 117, 91–107. 52 Ignaz Goldziher, Vorlesungen über den Islam, Darmstadt 1963. Siehe den Nachruf von Carl Heinrich Becker, Ignaz Goldziher, in: ders., Islamstudien. Vom Werden und Wesen der islamischen Welt, Bd. 2, Leipzig 1932, 499–513. Zu Goldziher und seinem Wissenschaftsverständnis siehe auch Éva Apor/István Ormos (Hgg.), Goldziher Memorial Conference [June ­21–22, 2000, Budapest], Budapest 2005; Hamid Dabashi, Ignaz Goldziher and the Question Concerning Orientalism, in: ders., Post-Orientalism. Knowledge and Power in Time of Terror, New Brunswick, N. J., 2009, 17–122; Céline Trautmann-Waller (Hg.), Ignác Goldziher. Un autre orientalisme?, Paris 2011, sowie Ottfried Fraisse, Ignác Goldzihers monotheistische Wissenschaft. Zur Historisierung des Islam, Göttingen/Bristol, Conn., 2014. 53 Siehe den Hinweis in den »Mitgliedernachrichten«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 84 (1930), 59, Mitgliedsnummer 2645: »Herr Dr. Israel Wolfensohn, Egyptian University, Gizeh, Cairo/Egypt.«

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rungen in der islamischen Tradition ableiten lassen.54 Für die Bezeichnung des Korpus jüdischer und christlicher Überlieferungen in der islamischen Literatur wurde der Fachbegriff »israelitische Überlieferungen« (Isrāʾīlīyāt) geprägt.55 Ignaz Goldziher war der erste Gelehrte in Europa, der diesen Begriff in der Forschung erwähnte, definierte und kulturhistorisch behandelte, und an dessen Thesen nun auch Wolfensohn anknüpfen konnte.56 Damit vertrat die Frankfurter Dissertation Wolfensohns den Ansatz, die bestehenden Forschungen zu jüdischen und christlichen Einflüssen auf die islamische Überlieferungsliteratur zu ergänzen, die mit Abraham Geiger begann und von Ignaz Goldziher, Abraham Mordechai Mark (Marcellus) Lidzbarski (1868–1928), Josef Horovitz und Leone Caetane  (1869–1935) weitergeführt wurde. Neben diesen Autoren berief sich Wolfensohn auch auf Moritz Steinschneider (1816–1907) und Abraham Geigers Schüler Hartwig Hirschfeld (1854–1934).57 In der bisherigen Forschung konnte anhand der Isrāʾīlīyāt und ihrer Autoritäten ein Einfluss der mündlichen jüdischen Überlieferung auf die islamische Tradition nachgewiesen und die Rolle jüdischer Texte in der islamischen Überlieferung beschrieben werden.58 Wolfensohns Arbeit war nun insofern ein Novum, als sie eine erste ausführliche Monografie über einen konvertierten Zeitgenossen Muḥammads darstellte und auf die Relevanz solcher Arbeiten für die Religionsgeschichte des Islam aufmerksam machte.59 In seiner Schrift sammelte Wolfensohn mittels islamischer und westlicher Quellen die Namen und Kurzbiografien von Juden aus dem Jemen und Medina, die im ersten Jahrhundert der islamischen Geschichte zum Islam konvertierten und deren Überlieferungen in die kanonischen Werke des Hadith und der Koranauslegung Eingang fanden. Darüber hinaus dienten die Familien dieser Konvertiten im zweiten Jahrhundert als wichtige Quelle für die Historiker und die Biografen Muḥammads. Damit kann Wolfensohn einen großen Einfluss dieser Quellen auf die Geschichte der islamischen Tradition nachweisen: »Der bei weitestem bedeutendste unter den jüdi-

54 Wolfensohn, Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Hadith und in der islamischen Legendenliteratur, 7. 55 Für die historische Entwicklung der Anwendung dieses Begriffs in der islamischen Literatur siehe Roberto Tottoli, Origin and Use of the Term Isrāʾīliyyāt in Muslim Literature, in: Arabica. Journal of Arabic and Islamic Studies 46 (1999), 193–210. 56 Siehe ebd., 210; Goldziher, Muhammedanische Studien, Bd.  II, Hildesheim 2004, ­166–170; Wolfensohn, Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Hadith und in der islamischen Legendenliteratur, 62. 57 Ebd., 7, 12. 58 Vgl. dazu z. B. Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen, 23 f.; Ignaz Goldziher, Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, Leiden 1920, 67–69; Weil, Biblische Legenden der Muselmänner, 5 f. sowie 9 f. 59 Wolfensohn, Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Hadith und in der islamischen Legendenliteratur, 7.

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schen Konvertiten war jedoch Kaʿb al-Aḥbār«.60 In seiner Darstellung erscheint Kaʿb al-Aḥbār als hybride Figur, die eine synthetische Beziehung von jüdischem und islamischem Gedankengut und eine Art symbiotisches Verhältnis zwischen Juden und Muslimen gegen das Römische Reich symbolisiert. Damit erscheint die Frankfurter Dissertation Wolfensohns auch als eine Fortsetzung und Vertiefung seiner ägyptischen Doktorarbeit. Wolfensohn vertrat auch hier die These, dass die Verbreitung jüdischer Tradition in arabischen Regionen entscheidend zur schnelleren Annahme des Islam an diesen Orten beitrug.61 Dabei weist er Narrative über die Gründe der Konversion von Kaʿb al-Aḥbār zunächst zurück, nach denen Kaʿb den Islam angenommen haben soll, weil er Verweise auf Muḥammad und den Islam in einem Buch entdeckte, das sein Vater für ihn mit Auszügen aus der Thora versiegelt hinter­ lassen hatte.62 Wolfensohn zufolge bewahrte sich Kaʿb »auch noch nach seiner Bekehrung dem Judentum« gegenüber »Anhänglichkeit«. So habe er nie von einer »Verfälschung« der Thora gesprochen und lobpreiste in seiner Überlieferung nicht die Stätten Mekka oder Medina, sondern Orte jüdischen Lebens in Ägypten, Syrien, Jemen und Palästina. »Besonders hob er Jerusalem hervor«, betonte Wolfensohn, die Heilige Stadt, mit der er sich auf emphatische Weise verbunden sah.63 Wolfensohn entwirft Kaʿb al-Aḥbār damit als Beispiel für einen Juden, der im Aufkommen des Islam eine Erlösung für das Judentum erblickte und sich für eine Allianz zwischen Islam und Judentum einsetzte. Er betont die hohe Stellung Kaʿb al-Aḥbars bei dem zweiten Kalifen ʿUmar und die guten Beziehungen zwischen dem Gelehrten und dem Herrscher, die eine islamisch-jüdische Koalition für die Eroberung der Stadt Jerusalem und ihre Öffnung für Juden und Muslime bildeten. Schließlich durften Juden erst unter muslimischer Herrschaft die Stadt Jerusalem wieder betreten und ihre Religion dort frei ausüben, so Wolfensohn.64 Während dem ersten, biografischen Teil der Monografie also ein Gründungscharakter für die Forschung zukam, ist die Darstellung der Rolle von Kaʿb alAḥbār als Exeget unmittelbar als eine Fortsetzung der deutschsprachigen Orientund vor allem Koranforschung des 19.  und 20.  Jahrhunderts zu verstehen. So zeigten die in der Tradition der Wissenschaft des Judentums stehenden Orientalisten wie Abraham Geiger, Gustav Weil und Ignaz Goldziher wiederholt die bedeutenden Einflüsse der mündlichen jüdischen Überlieferung auf den islamischen Kanon auf, ohne deren Erforschung fast kein Zugang zum Islam möglich ist. Mit der Monografie über Kaʿb al-Aḥbār belegte und vertiefte Wolfen 60 Ebd., 7–12. 61 Ebd., 16 f. 62 Ebd., 17–20. 63 Ebd., 40 f. 64 Ebd., 22, 27.

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sohn diese Auffassung durch zahlreiche Beispiele aus dem Leben und Werk des jüdischen Gelehrten, »dessen Verdienst im wesentlichen darin bestanden hatte, koranische Ideen in ihrer Abhängigkeit von jüdischem Gedankengut aufzuzeigen«.65 In seiner Darstellung verwies er auch auf eine starke jüdische Prägung des ersten Wirkungsorts von Kaʿb al-Aḥbar, Medina, wo er muslimische Gelehrte in der Thora unterrichtet habe. Die exegetische Methode Kaʿbs habe darin bestanden, dass er bei der Auslegung vor allem bei solchen Koranversen, die sich auf biblische Erzählungen und Legenden beziehen, aus der hebräischen Bibel, dem Talmud und dem Midrasch schöpfte, was seine anhaltende Anbindung an die jüdische Tradition zeigt und ihn zu einem begehrten Lehrer für bedeutende muslimische Exegeten machte.66 Wolfensohn erkannte Kaʿb als eine der wichtigsten Quellen von Muḥammads Cousin ʿAbdallāh Ibn ʿAbbās  (619–668), dem Begründer der ältesten und anerkanntesten Schule der islamischen Koranauslegung. So wie Ignaz Goldziher schließt sich Wolfensohn der Bezeichnung dieser Schule durch den Orientalisten Otto Loth (1844–1881) als eine »jüdisch geprägte Schule« an und vertiefte die Thesen Goldzihers bezüglich des starken jüdischen Einflusses auf die frühislamische Koranexegese am Beispiel von Kaʿb al-Aḥbār.67 Nicht nur als Exeget, sondern auch in der Tradition schreibt Wolfensohn seinem Protagonisten eine wichtige Rolle zu: So sei Kaʿb der älteste und einflussreichste Überlieferer von Prophetenlegenden in der islamischen Tradition gewesen.68 Zu seinen Schülern gehörte vor allem Muḥammads enger Gefährte und der in der islamischen Tradition am besten bekannte und am meisten zitierte Überlieferer Abū Huraira. Dieser berichtete von einem Austausch mit Kaʿb, indem Kaʿb ihn die Thora lehrte und er umgekehrt die Traditionen Muḥammads vortrug. Zahlreiche jüdische Überlieferungen von Kaʿb und anderen jüdischen Konvertiten flossen in diesen Strang von Abū Huraira und anderen Überlieferern und Exegeten ein, die in der islamischen Lehre später zum Teil nicht auf diese jüdischen Gelehrten, sondern auf ihre muslimischen Schüler wie Ibn ʿAbbās oder auf Muḥammad selbst zurückgeführt wurden.69 Nach Wolfensohns eigenen Entdeckungen in ägyptischen Handschriften sollen Kaʿbs Überlieferungen ihre Verbreitung auch in schiitischen Kreisen gefunden haben. Kaʿbs jüdische Traditionsbestände waren laut Wolfensohn nicht nur in persischer, sondern auch in spanischer und ägyptischer Literatur feststellbar und erstreckten sich über das Mittelalter bis in die jüngere Zeit hinein, wo sie in 65 Ebd., 52. 66 Ebd., 36–40. 67 Vgl. dazu ebd., 42–47 mit Goldziher, Richtungen der islamischen Koranauslegung, 65–69. 68 Wolfensohn, Kaʿb al-Aḥbār und seine Stellung im Ḥadith und in der islamischen Legendenliteratur, 65. 69 Ebd., 47 f sowie 58.

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eine Art Volksliteratur mündeten. Anhand von Wolfensohns Entdeckungen in Handschriften aus Algier, in der Berliner Staatsbibliothek sowie in der Kairoer Bibliothek, die aus dem 18. Jahrhundert stammen, konnte er rekonstruieren, welche bedeutende Rolle Kaʿb in der islamischen Volksliteratur seinerzeit einnahm und was für ein hohes Ansehen er dort genoss. Des Weiteren zeigt Wolfensohn unter anderem durch die Handschriftenfunde in der Kairoer Geniza, wie die jüdischen Überlieferungen aus der islamischen Literatur ihren Eingang wiederum in die jüdischen Legendensammlungen fanden, indem sie entweder ins Hebräische übersetzt oder in Judäo-Arabisch transkribiert wurden, wobei man die islamischen Einflüsse und die Reste arabischer Stilelemente durchaus erkennen kann.70 Diese Ergebnisse von Wolfensohns Forschung verweisen auf die anhaltende Notwendigkeit, den islamischen Kanon der Hadith und der Koranauslegung einer historisch-kritischen Untersuchung zu unterziehen, in der auch ein Vergleich mit der jüdischen Tradition unerlässlich scheint.

Zusammenfassung In Leben und Werk Israel Wolfensohns treffen drei Sprachen und kulturelle Zugehörigkeiten zusammen: Deutsch als Bildungs- und Wissenschaftssprache, das Hebräische als ureigene Sprache der jüdischen Tradition sowie das Arabische als Sprache der Umgebungskultur, die ihm gleichermaßen als Grundlage jüdischer Tradition galt. Wolfensohn beschreibt seine Zugehörigkeit zur jüdischen Nation mit einer eigenen Sprache, die in der arabischen Region historisch, kulturell und sozial verwurzelt und mit der arabischen Kultur verwandt ist. Gelehrte aus dem Umfeld der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums erscheinen in seinen Schriften als Vermittler und Träger von Tradition und Kultur. Dafür greift er vor allem auf philologische und historisch-kritische Methoden zurück, die er in der deutschsprachigen Orientforschung kennengelernt hatte und den arabischen Lesern in seinen Schriften näherbringen wollte. So trat Wolfensohn als Orientalist und Gelehrter mehrfach als Vermittler auf: Mit seiner Ausarbeitung eines gemeinsamen Orienterbes war er einerseits Mittler zwischen jüdischer und arabischer Tradition, um andererseits auch einen Transfer der von ihm geschätzten europäischen Wissenschaftstradition im arabischen Raum zu fördern. Das Ansinnen, das Wolfensohns Doktorvater Gotthold Weil dem gemeinsamen Lehrer und Begründer des Orientalischen Seminars an der Hebräischen Universität ­Jerusalem, Josef Horovitz, zuschrieb, scheint dabei auch Wolfensohns Intentionen auszudrücken:

70 Ebd., 82–90.

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»Dort [in Jerusalem] wollte er eine Stätte schaffen, in der wissenschaftlich die Methodik des Abendlandes die Stoffülle des Orients gestalten, und in der menschlich die jüdischen und arabischen jungen Studenten sich gegenseitig formen sollten, damit auf diese Weise aus wissenschaftlicher Forschung menschliche Werte erwüchsen.«71

In den Forschungsarbeiten von Israel Wolfensohn erkennt man die fruchtbare Fortsetzung einer im 19.  und zu Beginn des 20.  Jahrhunderts maßgeblichen deutschsprachigen orientalistischen Wissenschaftstradition, die mit Abraham Geiger begann und im Werk von Ignaz Goldziher weite Verbreitung fand. Durch den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus sowie den Aufstieg des arabischen Nationalismus wurde diese Linie jedoch jäh unterbrochen. Es gilt, sie als eine wichtige Grundlage für eine zeitgemäße Beschäftigung mit der arabischen und jüdischen kulturellen Tradition neu zu entdecken.

71 Gotthold Weil, Josef Horovitz zum Gedächtnis, in: Monatszeitschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 75 (1931), 321–328, hier 328. Zitiert nach Sabine MangoldWill, Ignaz Goldziher und Gotthold Weil. Deutsch als Wissenschaftssprache in der Orientalistik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Arndt Engelhardt/Susanne Zepp (Hgg.), Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur, Leipzig 2015, 103–121, hier 120.

Judith Ciminski

Die Gewalt der Zahlen Preußische »Judenzählung« und jüdische Kriegsstatistik

Im Herbst 1916 erschien im Israelitischen Familienblatt Hamburg ein Beitrag des deutsch-jüdischen Publizisten Fabius Schach (1869–1930), der mit dem Titel Zählen und wägen überschrieben war. Im Stil einer Zeitdiagnose formulierte der Verfasser hierin eine Kritik an dem sich zunehmend in der Gesellschaft durchsetzenden Glauben, mittels Zahlen, Statistik und quantitativer Verfahren die soziale Welt adäquat erfassen und begreifen zu können. In Hinsicht auf die seit dem 19. Jahrhundert wachsende Durchsetzung von wissenschaftlichen Rationalisierungs- und Objektivierungsprozessen warnte Schach – gewissermaßen vernunftskritisch  – vor einer Schwächung und Einschränkung menschlicher Urteilskraft im Hinblick auf die qualitativen Dimensionen des sozialen Lebens in Folge der von ihm attestierten Dominanz der Zahl. Im Gegensatz zur ökonomischen Sphäre stehe dort, wo es nicht um Wirtschaftlichkeit und Zweckrationalität gehe, sondern um den Menschen selbst, der Sinn des »Wägens«, also die Fähigkeit zu unterscheiden und zu beurteilen, auf einer »ungemein höheren Stufe« als der Sinn fürs Zählen. Um diesen Punkt zu unterstreichen, proklamierte Schach mit großer Emphase: »[W]ir sind Individuen und nicht Nummern.«1 In einer Zeit, in der sich alle der »Heiligkeit der Zahlen« beugen würden, müsse an solche, an sich »triviale Wahrheiten« immer wieder erinnert werden, mahnte der Verfasser seine Leserinnen und Leser. »Man glaubt heute, mit Zahlen alles beweisen zu können«, schrieb Schach in Bezug auf die wachsende gesellschaftliche Wirkungsmacht der Wirtschafts- und Naturwissenschaften, und hielt diesem oberflächlichen Eindruck entgegen: »Nichts ist so irreführend, als das Argument der Zahlen.« Schließlich sei die »Sprache der Zahlen« ohne nähere Erläuterung für Laien und damit die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur unverständlich, sondern sogar missverständlich. Zwar verwarf der Autor das Instrument der Statistik nicht vollständig, doch hob er hervor, dass es gewisser Fähigkeiten für ihren sinnvollen Einsatz bedürfe. Man müsse Künstler sein, um mit ihr Musik zu machen: »In der Hand eines Pfuschers gibt es nur unharmonische Töne von sich.« 1 Fabius Schach, Zählen und wägen, in: Israelitisches Familienblatt Hamburg 19 (1916), H. 47, 2 f., hier 2 (Kursivierung im Original gesperrt).

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Seine Skepsis begründete er dabei auch mit der jüdischen Tradition, indem er betonte, dass im Judentum bei allem Universalismus ein tiefes Verständnis für die individualistische Natur des Menschen und die Differenzierung der Erscheinungen vorherrsche und nie viel Wert auf die Zahl gelegt worden sei: »Der Jude zeigte immer einen Widerwillen gegen die mechanische zahlenmäßige Auffassung der Welt.«2 Tatsächlich war Schachs Beitrag mehr als ein allgemeiner Kommentar zu den ambivalenten Effekten gesellschaftlicher Rationalisierung und Säkularisierung im wilhelminischen Deutschland, für die der Soziologe Max Weber kein Jahr später den Begriff der »Entzauberung der Welt« prägte.3 Mit seinem Artikel reagierte er vor allem auf ein sehr konkretes Ereignis, das zu diesem Zeitpunkt die jüdische Gemeinschaft im kriegsführenden Deutschland in Atem hielt: Sechs Wochen vor Erscheinen von Schachs Beitrag, am 11. Oktober 1916, war vom preußischen Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn ­(1860–1925) ein Erlass an die Truppen gegangen, die jüdischen Heeresangehörigen in den eigenen Reihen zählen zu lassen.4 Geradezu als Ironie des Schicksals empfand Schach dieses Vorhaben vor dem Hintergrund der jüdischen Bedenken gegenüber jeder Zählung. Er erkannte unmittelbar, dass das Instrumentarium der Statistik hier gegen die Juden angewandt werden sollte, sie stigmatisierte, ausgrenzte und in letzter Konsequenz das Emanzipationsversprechen einer vollständigen rechtlichen Gleichheit auflöste: »Man zählt uns überall da, wo man uns nicht wägen will.« Dem von Regierungsseite vorgebrachten Argument einer vermeintlichen Abwehr von Verdächtigungen durch eine »objektive« Erhebung hielt Schach deswegen entgegen: »Man bekämpft die Lüge nicht, wenn man sie systematisiert.«5 Darüber hinaus richtete sich seine Kritik gegen ein weiteres statistisches Vorhaben der Kriegsdokumentation, die sogenannte »Konfessionsstatistik«, die im Haushaltsausschuss des Reichtages am 19.  Oktober 1916 beschlossen worden war. Letztlich sprach er sich damit implizit auch gegen die zeitgleich von jüdischen Institutionen betriebene jüdische Kriegsstatistik aus: In einer Glaubenssta 2 Ebd. 3 Vortrag Max Webers über Wissenschaft als Beruf gehalten am 7. November 1917 vor Studenten in München. Max Weber, Wissenschaft als Beruf (1917/1919)/Politik als Beruf (1919), in: Max Weber Gesamtausgabe Bd.  I/17, hg. von Wolfgang  J. Mommsen/Wolfgang Schluchter, in Zusammenarbeit mit Birgit Morgenbrod, Tübingen 1992. Siehe dazu auch: Wolfgang Schluchter, Die Entzauberung der Welt. Sechs Studien zu Max Weber, Tübingen 2009; Andreas Anter, Entzauberung und Säkularisierung, in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hgg.), MaxWeber-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2014, 47  f.; Hans-Peter Müller, Wissenschaft als Beruf (1917/1919), in: ebd., 210–215. 4 Zum Erlass des Kriegsministeriums siehe die grundlegende Studie von Jacob Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«. Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen, Frankfurt a. M. 2007, hier 63. 5 Schach, Zählen und wägen, 3.

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tistik über das Heer konnte Schach keinen Nutzen erkennen, denn nicht als Protestanten, Katholiken oder Juden seien die Soldaten ins Feld gezogen, sondern als Deutsche. Sie alle würden gemeinsam für die »Ehre des großen Vaterlandes« unabhängig von ihrer Konfession kämpfen. In diesem Sinne appellierte er abschließend an den Gemeinsinn: »Entweiht den Geist des Volkes nicht durch bureaukratische [sic!] Engherzigkeit und zersetzende Hader!«6 Der Erlass des preußischen Kriegsministeriums zur »Judenzählung« bildete tatsächlich den Kulminationspunkt dessen, was im Folgenden als »Komplex der Kriegsstatistik« nachgezeichnet werden soll und sich zeitlich im engeren Sinne auf die Jahre 1914 bis 1921 eingrenzen lässt. Zentrale Elemente bilden drei statistischen Vorhaben, einerseits die von staatlich-administrativer Seite ausgehende »Judenzählung« des Kriegsministeriums und der parlamentarische Vorstoß zur »Konfessionsstatistik« sowie andererseits die »jüdische Kriegsstatistik« als ein davon unabhängiges Projekt mehrerer deutsch-jüdischer Organisationen. Gute Gründe sprechen zwar dafür, den Komplex der Kriegsstatistik zeitlich auch in einem weiteren Sinne zu fassen, denn ihre diskursiven Nachwirkungen reichen über das Repertoire antisemitischer Agitationen und jüdischer Abwehrkämpfe in der Weimarer Republik bis hin zum systematischen und statistisch dokumentierten Verfolgungs- und Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten.7 Gerade in Anerkennung dieser tragischen Verknüpfung scheint es aber angemessen, zunächst den Komplex der Kriegsstatistik im oben skizzierten engeren Sinne für sich und auf seinen engeren Wirkungszusammenhang hin zu untersuchen, um eine teleologische Perspektive zu vermeiden. Warum kommt es überhaupt zum kriegsministeriellen Erlass der »Juden­ zählung« im Herbst 1916, also genau zu dem Zeitpunkt, als mit der SommeSchlacht an der Westfront eine der größten und bittersten Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs wütete? Warum nimmt die Auseinandersetzung − in ihren von außen auferlegten genau wie ihren von innerjüdischen Impulsen geprägten Elementen − gerade die Form der Statistik bzw. des Streits um Statistik an? Und wie ist die folgenschwere ideologische Dynamik dieser Ereignisse zu erklären? Es scheint, dass die besondere Form des Handelns – eben das statistische Verfahren – alles andere als zufällig war. Sie ist vielmehr spezifisch für eine besondere historische Vergesellschaftungskonstellation und Rationalitätsauffassung. Begreift man die Statistik  – als Erkenntnismethode und soziale Praxis – im weitesten Sinne als Diskurs oder spezifische Form der Kommunikation, dann scheint es hilfreich, Jürgen Habermas’ sprechakttheoretische Überlegungen zur Differenzierung unterschiedlicher Geltungsansprüche des Kommunikations­ 6 Schach, Zählen und wägen, 3. 7 Vgl. Norbert Kampe, Dokumente zur Wannsee-Konferenz, in: Ders./Peter Klein (Hgg.), Die Wannsee-Konferenz am 20.  Januar 1942. Dokumente, Forschungsstand, Kontroversen, Köln/Weimar/Wien 2013, 17–114, 20 f.

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aktes als ein Werkzeug für die historische Forschung zu nutzen. Neben dem Anspruch auf Verständlichkeit unterscheidet Habermas im Diskurs zwischen dem Geltungsanspruch auf objektive Wahrheit, auf normativ-soziale Richtigkeit und auf intentional-subjektive Wahrhaftigkeit.8 Eine solche Differenzierung des allgemeinen Wahrheitsanspruchs für den Komplex der Kriegsstatistik erlaubt es somit, neue Maßstäbe für die analytische Rekonstruktion dieses konflikthaften Handlungszusammenhangs zu entwickeln. Denn im Komplex der Kriegsstatistik geht es nicht nur um einen Methodenstreit zur Erzeugung objektiver Ergebnisse, vielmehr stehen die impliziten und expliziten Prämissen der Statistik, ihre normativ-gesellschaftliche Dimension sowie Motivlagen und Handlungsmuster der beteiligten Akteure im Mittelpunkt des Interesses. Die Gewalt der Zahlen, wie sie uns im Komplex der Kriegsstatistik begegnet, verweist insofern in paradigmatischer Form auf die widersprüchlichen Momente zwischen bürgerlichem Erkenntnis- und Wissenschaftsideal und staatlicher Machtpolitik im beginnenden 20. Jahrhundert und ist gleichermaßen ein Sinnbild für die ambivalenten Selbstverortungsprozesse der deutschen Juden zwischen Emanzipationsversprechen und dem gesellschaftlichen Zwang zur Identifizierung.

Der Staat zählt. Die kriegsministerielle »Judenzählung« und die Konfessionsstatistik Während Fabius Schach in seinem Beitrag prinzipiell eine Eignung der Statistik bestritt, den Patriotismus, die Einsatz- und Opferbereitschaft der deutschen Juden im Kriegsfall angemessen erfassen und darstellen zu können, hatte das Kriegsministerium die Frage nach der Angemessenheit einer statistischen Erhebung bereits für sich beantwortet. Genauer gesagt: Indem es sie anordnete, setzte sie die Statistik als gültiges Instrument voraussetzungslos ein. Der Erlass vom 11. Oktober 1916 sah vor, durch eine statistische Erhebung binnen eines Monats dem Kriegsministerium Aufschluss über Anzahl und Einsatzort der deutschen Juden im Ersten Weltkrieg zu geben. Es gehe darum, so hieß es offiziell im Erlass, Klagen aus der Bevölkerung, dass die deutschen Juden sich entweder ganz dem Kriegsdienst entziehen oder sich besonders dem Frontdienst enthalten würden und stattdessen »in dem Etappen- und Heimatsgebiet und in Beamten- und Schreiberstellen« Dienst täten, »nachzuprüfen und ihnen gegebenenfalls entgegentreten zu können.«9 Tatsächlich waren in den vorgehenden Monaten beim Kriegsministerium Beschuldigungen der »Drückebergerei« gegenüber den deut-

8 Siehe Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a. M. 1981. 9 Fragebögen des Kriegsministeriums, abgedruckt in: Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, Abbildungen 3 a, b und c.

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schen Juden eingegangen; mit Beginn des zweiten Kriegsjahres waren solche Vorwürfe auch im Reichstag lautstark geäußert worden.10 Dieser ministerielle Erlass ging an alle Militärdienststellen des Deutschen Reiches: an die Armeeoberkommandos, die stellvertretenden Generalkommandos, die Generalinspektionen sowie die Generalgouvernements in Warschau und Brüssel. Diese erhielten damit die Anordnung, jüdische Angehörige der deutschen Streitkräfte zu zählen. Dabei sollte nach folgendem Muster vorgegangen werden: Auf einem doppelseitigen Formular, das bereits ausgearbeitet und dem Erlass beigefügt worden war, hatten die Zählenden auf der ersten Seite zunächst die Anzahl »der beim Heere befindlichen […] wehrpflichtigen Juden« einzutragen, getrennt nach den Kategorien A. Feldheer, B. Etappe und C. Besatzungsheer. Dafür war auf dem Formular eine dreigliedrige Tabelle vorgedruckt. Die drei Teile waren wiederum unterteilt, denn für A, B und C sollte jeweils noch die Anzahl der freiwillig in den Kriegsdienst Eingetretenen, der Gefallen sowie der mit dem Eisernen Kreuz erster und zweiter Klasse Ausgezeichneten registriert werden. Auf der zweiten Seite des Fragebogens waren alle »noch nicht zur Einstellung gelangte, auf Reklamation zurückgestellte und als kr. u. [kriegsuntauglich] befundene Juden« zu verzeichnen.11 Untersucht man diesen Erlass nun nach seinen expliziten wie impliziten Geltungsansprüchen im Habermas’schen Sinne, so ist auf erster Ebene bedeutsam, dass hier die Statistik als quantitative sozialwissenschaftliche Methode voraussetzungslos tauglich erscheint, um die Einsatzbereitschaft der deutschen Juden durch Erfassung der Anzahl der jüdischen Kriegsbeteiligten objektiv ermitteln zu können. Das positivistische Postulat, das sich mit dieser Vorstellung verbindet, ist die Idee, die Statistik könne intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar »wahre« Ergebnisse liefern. Mit Blick auf den Geltungsanspruch einer Erhebung objektiver Wahrheit sollte sich der Komplex der Statistik demgegenüber als erbitterter Methodenstreit darüber darstellen, wie und welche Daten notwendiger­ weise erhoben werden müssen, um die jüdische Kriegsbeteiligung umfassend bewerten zu können. Aus den vorhandenen Primärquellen lässt sich nicht rekonstruieren, inwieweit es vor dem Erlass des Kriegsministeriums eingehendere Diskussionen über angemessene Methoden, Prämissen und Definitionen innerhalb des Ministeriums gab oder ob eine Fachexpertise etwa aus den Statistischen Ämtern eingeholt wurde. Öffentlich bekannt wurde der Erlass erst am 3. Novem-

10 Neben Rosenthal bilden die grundlegenden Forschungen zur »Judenzählung« immer noch die Studien von Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969, und die Arbeiten von Werner T. Angress, Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 19 (1976), 77–146; ders., The German Army’s »Judenzählung« of 1916. Genesis, Consequences, Significance, in: Leo Baeck Institute Yearbook 23 (1978), 117–137. 11 Zitiert nach Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 63.

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ber 1916 durch einen Kommentar des stellvertretenden Kriegs­ministers General Oberst Ernst von Wrisberg (1863–1927) im Reichstag, also zu einem Zeitpunkt, als die Zählung im Felde bereits im vollen Gang war.12 Wrisbergs Einlassung vorausgegangen war der Beschluss des Haushaltsausschusses des Reichstags vom 19. Oktober des gleichen Jahres, auf Antrag des Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger (1875–1921) und weiterer Reichstagsmitglieder seiner Partei, eine Statistik über alle Personen und ihre jeweiligen Konfession in den Kriegsgesellschaften und dem Kriegsernährungsamt anfertigen zu lassen.13 Die eklatanten methodischen Mängel der kriegsministeriellen Erhebung, die bereits in der Anweisung und dem beschriebenen Formular angelegt waren, werden im Kontrast zur beschlossenen »Konfessionsstatistik« ganz unmittelbar sichtbar: Wie sollte eine stichtagsbezogene, reine Zählung jüdischer Armeeangehöriger aussagekräftig sein, ohne die Relation zur Anzahl anderer Konfessionen und damit zu einer absoluten Bezugsgröße zu beschreiben? Der Beschluss zur »Konfessionsstatistik« offenbart dabei mehr als ein Moment einer innerstaatlichen Korrektur oder impliziter Methodenkritik. Gerade jenseits der Geltungsdimension objektiver Wahrheit ist dieser Vorgang so wichtig, weil sich an ihm explizit zentrale Aspekte des Anspruchs auf normative Richtigkeit von statistischen Verfahren aufzeigen lassen.

Öffentliche Diskussionen über die Macht der Vermessung Betrachtet man beide statistischen Vorhaben im Spiegel der Pressereaktionen, wird deutlich, dass gerade der Aspekt der Normativität der Statistik, das heißt die Frage ihrer sozialen Richtigkeit im Habermas’schen Sinne, das umkämpfte Feld eines öffentlichen, aus ungleichen Machtpositionen sich vollziehenden Aushandlungsprozesses bildet. Während der Debatten im Reichstag erschien eine beachtliche Zahl an Beiträgen in der jüdischen und allgemeinen Presse im Deutschen Reich sowie im Ausland, die über diese Ereignisse berichteten, sie kommentierten und kritisch dazu Stellung nahmen.14 Die Artikel vermitteln eindrucksvoll, wie die deutschsprachige Judenheit über alle gesellschaftlichen Schichten und

12 Siehe dazu ebd., 64 f. 13 »Kommission wolle beschließen! Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, den Reichstag alsbald um eine eingehende Übersicht über das gesamte Personal aller Kriegsgesellschaften zu unterbreiten und zwar getrennt nach Geschlecht, militärpflichtigem Alter, Bezüge, Konfession.« Handgeschriebener Antrag Erzbergers abgedruckt in Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, Abbildung 2. Zur Debatte um den Antrag im Haushaltsausschuss siehe Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 525–527. 14 Zur Rezeption der »Judenzählung« durch die jüdischen Organisationen siehe Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 85–88.

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politischen Fraktionen hinweg durch die »Judenzählung« betroffen war: Als eine der ersten hatte im zionistischen Umfeld die Jüdische Rundschau bereits eine Woche nach Erzbergers Antrag im Haushaltsausschuss ihre Leser und Leserinnen informiert – da war der Erlass zur Judenzählung im Heer wohl kaum öffentlich bekannt. Auch wenn der Beschluss damit begründet worden sei, »durch die Erhebung […] eine im Volk weit verbreitete Meinung« zu widerlegen, wonach in den Kriegsgesellschaften besonders viele »›jüdische Drückeberger‹ säßen«, so werde dadurch einer antisemitischen Verdächtigung durch Parlamentsbeschluss besonders Gewicht gegeben, urteilte die Jüdische Rundschau. Als solche stelle die Zählung eine »ungeheuerliche Verletzung der Ehre und der bürgerlichen Gleichberechtigung des deutschen Judentums« dar. Die Weigerung, sich gegenüber dieser »antisemitische[n] Insinuation« einer vermeintlichen »jüdischen Drückebergerei« zu rechtfertigen sei deshalb die wichtigste Form des Protests gegen die Zählung als solche.15 Fast zeitgleich erschien in einer der größten jüdischen Zeitungen Im Deutschen Reich, herausgegeben vom einflussreichen Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.), eine eigene Stellungnahme zu den Vorgängen im Haushaltsausschuss. Den Antrag Erzbergers bewertete man hier, ähnlich der zionistischen Einschätzung, als Teil des neuerdings in ganz Europa wieder zunehmenden Antisemitismus. Die Neigung, den Juden überall etwas anzulasten und sie für jede unwillkommene Erscheinung verantwortlichen zu machen, ihr Ansehen zu minimieren und ihre Rechte einzuschränken wo irgend möglich, trete immer massiver und unverhüllter in Erscheinung. Der Central-Verein rief deswegen zu Abwehr, Wachsamkeit und Vorsicht auf.16 Im Detail wurde hier der scharfe Protest des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Philipp Scheidemann (1865–1939) wiedergegeben, den er gegen den Beschluss im Haushaltsausschuss geäußert hatte. Scheidemann hatte die Zählung eben gerade nicht als eine Maßnahme zum Schutze der Juden vor antisemitischer Hetze wahrgenommen, sondern als dessen Gegenteil. Auch hob er auf ihre zutiefst parteiische Prägung ab. Den Umstand, dass der Beschluss gefasst wurde, wertete er als Symptom dafür, »daß nach dem Kriege eine entschieden freiheitliche Richtung und eine reaktionär-demagogisch-nationalistische Richtung um die Herrschaft im Innern kämpfen werden.« Wenn man schon Juden zählen wolle, dann solle man sie nicht nur in den Kriegsgesellschaften zählen, sondern eben auch in den Reihen der Kriegsfreiwilligen und in den Gräbern an der Front. Der Empfehlung Scheidemanns, »[m]an solle sie überall da zählen, wo sie im Leben der Nation Tüchtiges geleistet und Verdienstvolles geschaffen haben, nicht aber nur dort, wo man Material zu finden hofft, um sie ungerechter 15 Alle Zitate aus M[ax] M[eier], Judenzählung, in: Jüdische Rundschau 21 (1916), H. 43, 351. 16 J[ulius] L[andau], Umschau, in: Im Deutschen Reich. Zeitschrift des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 22 (1916), H. 9/10, 198−205, hier 203.

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weise in Bausch und Boden zu verdammen«, pflichtete der Central-Verein entschieden bei.17 Nachdem kurze Zeit später auch die kriegsministerielle Judenstatistik der breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, nahm der Central-Verein in seiner Zeitung erneut Stellung zu den Ereignissen. In ihrer November-Ausgabe druckte die Redaktion die Rede des jüdischen Reichstagsabgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei Ludwig Haas (1875–1930) ab, mit der er auf die erste offizielle Stellungnahme des Kriegsministeriums zur »Judenzählung« reagiert hatte und die nicht nur im Reichstag »guten Eindruck gemacht«, sondern auch »im ganzen Lande lebhaften Widerhall« gefunden habe.18 Haas hatte im Reichstag gegen die Erklärungen des Kriegsministeriums angemerkt, dass der Erlass »ungeschickt« und »militärisch grundverfehlt« gewesen sei. Wenn auch unbeabsichtigt, so habe der Erlass den jüdischen Soldaten die »Ehre« genommen. Haas berichtete von Briefen jüdischer Soldaten, die er erhalten habe und durch die »Tränen ins Auge kommen« würden. Alle Briefe bestätigten den tiefen Eindruck jüdischer Soldaten, »nun gezeichnet« und offiziell zu Soldaten zweiter Klasse gemacht worden zu sein.19 Vom heutigen Standpunkt aus ist es unzweifelhaft, dass sowohl der ministerielle »Erlass zur Judenzählung« als auch der Beschluss zur »Konfessionsstatistik« in ihrer Ausrichtung beide gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Gleichbehandlung verstießen.20 Dass genau dieser normative Grundsatz auch im Jahre 1916 nicht nur formell gültig war, sondern durchaus Wirkungsmacht besaß, zeigt sich darin, dass der Beschluss zur »Konfessionsstatistik« nach der politischen Intervention letztlich nicht durchgeführt wurde.21 Auch die Erklärung des stellvertretenden Kriegsministers Wrisberg im Reichstag vom 3. November 1916, in der er nochmals betonte, mit der Erhebung seien antisemitische Absichten »in keiner Weise verfolgt worden«, bestätigte, wenn auch kontrafaktisch, im Kern die Gültigkeit des normativen Prinzips der Gleichheit.22 Auf der Interpretationsebene der Auseinandersetzung um die beiden Zählungsvorhaben war außerdem die starke Bezugnahme auf die innergesellschaftlich 17 Ebd., 204. 18 O. A., Die Rede des Abgeordneten Dr. Haas, in: Im Deutschen Reich 22 (1916), H. 11/12, 258–264, hier 258. 19 Ebd., 261. 20 Siehe Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd.: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaften 1800–1914, München 1992. Zur sozialphilosophischen Dimension Stefan Gosepath, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, Frankfurt a. M. 2004. 21 Siehe Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 526 f. sowie Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 55. 22 Wrisberg hatte erklärt, dass der Erlass vom 11. Oktober 1916 nur den Zweck gehabt habe, statistisches Material zu sammeln, um damit Vorwürfe gegenüber Juden prüfen zu können. Zit. nach Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 65.

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dominante Norm des sogenannten »Burgfriedens« entscheidend.23 Die Kritiker der ministeriellen »Judenzählung« wie der »Konfessionsstatistik« argumentierten gleichermaßen, dass durch diese beiden Maßnahmen das Volk geradezu gespalten, die jüdischen Soldaten entehrt und die Armee letztlich geschwächt werde − Staat und Politik unterminierte hiermit die kaiserliche Normsetzung des Burgfriedens selbst.24 Gleichwohl muss kritisch angemerkt werden, dass in der programmatischen Losung Kaiser Wilhelms II., »ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, zugleich die implizite Drohung enthalten war, mit aller Härte gegenüber einer Abweichung von seiner Linie vorzugehen.25 In diesem Sinne verweist der »Komplex der Kriegsstatistik« in besonderem Maße darauf, wie der fatale Mechanismus des Konformitätszwangs, der jedes Mitglied der deutschen Gesellschaft in den Kriegsjahren betraf, im Zuge der sich verselbstständigenden Kriegsdynamiken gerade an den deutschen Juden als permanenter Generalverdacht exekutiert wurde.26 Wie anerkannt und wirkmächtig das Gebot des Burgfriedens noch im Herbst 1916 war, zeigt sich auch daran, dass es selbst führende Köpfe der »Jüdischen Kriegsstatistik« mit Verweis auf die Worte des Kaisers ablehnten, eigene Schritte gegen den Beschluss der »Konfessionsstatistik« einzuleiten.27 Faktisch schuf das 23 Siehe dazu das Unterkapitel »Vom Burgfrieden zur Judenzählung« des zweiten Kapitels bei Avraham Barkai, »Wehr Dich!« Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938, München 2002, 55–66. 24 Auf der Generalversammlung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus am 23. November 1916 äußerte sich der Abgeordnete der deutschen Fortschrittspartei Georg Gothein (1857–1940) enttäuscht zum Burgfrieden, schließlich sei man ohne Ansehen der Konfession begeistert in den Krieg gezogen. Die Zahl der jüdischen Freiwilligen sei groß gewesen, jedoch habe der proklamierte Burgfriede nicht lange gehalten. Die »böse Saat des Antisemitismus« sei aufgegangen, jüdische Soldaten wurden zurückgesetzt und ihre Kampfesfreudigkeit abgestritten. Unter den jüdischen Soldaten habe es tausende Tote und Verwundete gegeben, und trotzdem würden sie als »Drückeberger« denunziert. Es sei bedauerlich, dass der Kriegsminister dies noch gewürdigt habe, in dem er die Judenzählung anordnete. Der zweite Erlass könne die üble Wirkung des ersten nicht aufheben. O. A., Die Generalversammlung des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus, in: Im Deutschen Reich 22 (1916), H. 11/12, 256–258. 25 Siehe Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974; Ottokar Luban, Der Kampf der Berliner SPD-Basis im ersten Kriegsjahr gegen die Kriegskreditbewilligung, in: JahrBuch zu Forschungen der Geschichte der Arbeiterbewegung 2 (2014), 53–65. 26 Im Falle vergleichbaren Misstrauens der Sozialdemokratie und der elsässischen Bevölkerung gegenüber gab es von staatlicher Seite keinerlei Bestrebungen, deren Loyalität statistisch zu überprüfen. 27 Als am 30. Oktober 1916 im jüdischen Ausschuss darüber beraten wurde, wie mit dem Beschluss einer konfessionellen Zählung in den Kriegsgesellschaften umzugehen sei, war es Heinrich Silbergleit, der es prinzipiell und unter Berufung auf »das Kaiserwort von den Parteien« ablehnte, sich dazu zu äußern. Er sei nicht gegen die Aufnahme dieser Statistik durch die Behörden, sondern nur gegen deren Veröffentlichung. Die Mehrheit der Ausschussmitglieder sprach sich jedoch für eine klare Stellungnahme des Ausschusses aus. Mit fünf zu vier Stimmen wurde

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staatlich initiierte Zusammenwirken von Burgfrieden und »Judenzählung« ein paradoxes Postulat für das Selbstverständnis der deutschen Juden: Während das erste Konzept »nur noch Deutsche« zur Norm setzte, stigmatisierte die zweite Maßnahme die deutschen Juden aufgrund ihrer jüdischen Zugehörigkeit. Die Auseinandersetzungen um »Judenzählung« wie »Konfessionsstatistik« zeigen damit deutlich auf, dass die Statistik ein mächtiges und gleichzeitig wirklichkeitskonstruierendes Dispositiv bildete, machtvoll dabei auch in dem Sinne, dass die Statistik selbst die Form des gesellschaftlichen Diskurses dominierte. So betonte auch Haas bei seiner Kritik am Erlass, dass die Statistik – wenn man sie denn richtig durchführe – nicht zu einer Entehrung der deutschen Juden hätte führen müssen: Man müsse jedoch »richtig zählen« um festzustellen, »wie viele bei der kämpfenden Truppe, wie viele in der Etappe und wie viele im Heimatdienst sind.« Schon der Versuch, die Juden allein bei den Kriegsgesellschaften zu zählen – und damit kritisierte er auch Erzbergers Antrag –, hätte zu einer falschen Statistik geführt. Wenn man statistisch die Realität erfassen wolle, dann müsse man alles zählen und nicht nur einen Teilbereich. Und schließlich gelte es, die erhaltenen Gesamtziffern aller Konfessionen miteinander in Bezug zu setzen.28 Die Redaktion der C. V.-Zeitung schien die von Haas geäußerte Kritik an der »Judenzählung« in wesentlichen Punkten zu teilen. Als Ausdruck eines »patriotisch gesunden deutsch-jüdischen Empfindens« sei Haas’ Rede bei den deutschen Juden nicht nur als sachlich richtig, sondern auch als »Genugtuung« empfunden worden.29 Die Novemberausgabe von Im Deutschen Reich spiegelt damit eindringlich das Ringen um Differenzierung seitens der Redaktion wider, die Frage der wissenschaftlichen Exaktheit der staatlichen statistischen Vorhaben formal von der Frage nach der Intention der treibenden politischen Akteure zu entkoppeln. In einer eigenen dreiseitigen Stellungnahme unter der Überschrift Die Glaubens-Statistik im Heer unterschied man noch einmal beide »ganz verschiedenen und nur zufällig zeitlich wie der Tendenz nach zusammenfallende Vorgänge« von Zählung und »Konfessionsstatistik« in ihrer Intention und Motivation voneinander.30 In diesem Artikel war außerdem zu lesen, dass der Antrag auf Zählung der Juden in den Kriegsgesellschaften, der von der Zentrumspresse zunächst als ein eine Resolution an den Verband der Deutschen Juden (VdDJ) verabschiedet, in der sich der Ausschuss prinzipiell gegen die Aufnahme einer konfessionellen Zählung wendete. Sollte die Zählung nicht zu umgehen sein, so müsse Sorge getragen werden, dass sie nach den Grundsätzen der statistischen Wissenschaften erfolge, hieß es in der Resolution weiter. Silbergleit ließ explizit zu Protokoll nehmen, dass er dagegen gestimmt habe. Centrum Judaicum, Archiv (CJA), 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokolle des Ausschusses für die Kriegsstatistik, Bl. 93–96, hier 94 f. 28 O. A., Die Rede des Reichstagsabgeordneten Dr. Haas, 263. 29 Ebd., 258 f. 30 O. A., Die Glaubens-Statistik im Heer, in: Im Deutschen Reich 22 (1916),  H.  11/12, ­242–245, hier 242.

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»zeitgemäßer« eingeschätzt worden war, sich als »unzeitgemäß« herausgestellt habe, was nun auch die Befürworter des Antrags selbst eingesehen hätten. So sei der Antrag auf dem »Wege vom Ausschuß zur Vollversammlung des Reichstags seiner Entkräftung erlegen«. Mit den Konservativen hatten nur noch die Mitglieder des Zentrums und die Nationalliberalen dafür gestimmt. Ob der starken Kritik von einzelnen Regierungsmitgliedern, den linken Parteien wie von Seiten der jüdischen Bevölkerung und der »unbefangenen Öffentlichkeit« sei er wortlos aufgegeben worden und nicht in den Reichstag gelangt. Dies zeige, so revidierten die Autoren ihre Einschätzung aus dem vorangegangenen Heft, dass weder Zentrumspartei noch Nationalliberale im Kern antisemitisch seien, da sie den Antrag selbst als Fehlgriff und Irrtum erkannt hätten.31 Daraus lasse sich schließen, dass der Erlass des Kriegsministeriums »keineswegs gehässigen Absichten entsprungen« sei.32 Vielmehr sei etwas Unbeabsichtigtes geschehen: das, was einer »Beruhigung« hatte dienen sollen, habe eine »starke und nachhaltige Beunruhigung« hervorgerufen.33 An dieser Stelle informierte die C. V.-Zeitung ihre Leserschaft zudem darüber, dass bereits nach Bekanntwerden der kriegsministeriellen »Judenzählung« durch die Debatte im Reichstag, der Central-Verein zusammen mit dem Verband der Deutschen Juden (VdDJ) begonnen habe, den »Quellen jener Maßnahmen nachzuspüren und den schädlichen, irreführenden und verwirrenden Folgen, die zu befürchten waren, entgegenzuwirken.«34 Als Ergebnis dieser Bemühungen habe man feststellen können, dass weder »unfreundliche Stimmung« noch »feindselige Absicht den jüdischen Kriegsteilnehmern gegenüber die Zählung hervorgerufen hat.« Damit war der zweite Erlass gemeint, den der neue Kriegsminister Hermann von Stein (1854–1927) zur Erläuterung des ersten Erlasses vom 11. Oktober 1916 auf eben jene jüdischen Interventionen hin am 11. November verordnet hatte, um »jeder übelwollenden, oder auch nur missverständlichen Auslegung der ersten Verfügung vor[zu]beugen«. Es habe sich nämlich im Verlauf der Zählung herausgestellt, dass der Zählungserlass dazu beitrug, nicht nur allgemein das Ansehen der jüdischen Soldaten zu schädigen, sondern auch die Autorität der jüdischen Vorgesetzten zu untergraben und neue Unterscheidungen zwischen den Kameraden an der Front zu schaffen. Die ausführenden militärischen Organe konnten 31 Ebd. 32 Ebd., 243. 33 Ebd., 242. 34 Ebd., 244. Am 4. November, einen Tag nach der Reichstagsdebatte und dem Bekanntwerden der »Judenzählung«, hatte der preußische Landtagsabgeordnete Oscar Cassel (1849‒1923) für den Verband der deutschen Juden im Kriegsministerium vorgesprochen. Siehe Angress, The German Army’s ›Judenzählung‹ of 1916, 127 f. Zu »Judenzählung« und C. V. zudem Barkai, »Wehr Dich!«. Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893–1938, 55–100. Siehe auch Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Sodaten«, 68–87; Angress, Das deutsche Militär und die Juden im Ersten Weltkrieg, 83–88.

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den Eindruck gewinnen, es gäbe tatsächlich Anlass, den jüdischen Kriegsteilnehmern zu misstrauen und man befürchtete, dass sich die jetzt schon festzustellende ungleiche Behandlung jüdischer Soldaten noch verschärfen würde.35 Mit dem Ergänzungserlass vom November 1916 sah der Central-Verein zwar zumindest teilweise sein Anliegen erfüllt, den befürchteten Missverständnissen und Verschiebungen vorzubeugen. Zusammenfassend resümierte der Artikel über »die Glaubens-Statistik im Heer« aber dennoch, dass, selbst wenn »die Absicht der angeordneten Zählung dem Verdachte der Unfreundlichkeit [nun] entrückt« sei, doch jedenfalls »der Einwand übrig [bliebe], daß jede Rücksicht auf die Grundbedingungen statistischer Erhebungen außer Acht gelassen« wurde. Mit dem neuerdings vorhandenen Wissen sei zwar zu hoffen, dass man bestrebt sein werde, potentielle Fehlerquellen zu korrigieren. Jedoch bestehe weiterhin die Gefahr, dass es ohne »guten Willen« zu weiteren Missdeutungen und Verdrehungen der Statistik kommen könne. Um den vieldeutigen Charakter von Statistiken im Allgemeinen zu unterstreichen, wurde an den ehemaligen Reichskanzler Fürst Otto von Bismarck erinnert, der das Wort geprägt habe: »Ich bin kein Freund statistischer Zahlen, seitdem die Erfahrung mich gelehrt hat, wie leicht sie trügen!«36 Überblickt man das Echo der zeitgenössischen jüdischen Presse auf den »Erlass des Kriegsministeriums zur Zählung der im preußischen Heer dienenden jüdischen Soldaten«, so wird die Erschütterung des Selbstverständnisses der deutschen Juden, die aus dem staatlichen Vorgehen resultierte, deutlich sichtbar. Die Vermessung des jüdischen Anteils an den Kriegsmaßnahmen verwies auf grundlegende Fragen der jüdischen Zugehörigkeit, wie sie der deutschen Judenheit im 20. Jahrhundert in immer schärferer Form begegneten. Es erstaunt, mit welcher Weitsicht die zeitgenössischen Kommentatoren die Folgen der staatlichen Maßnahmen erkannten und durch die öffentliche Berichterstattung einerseits die Konfliktfelder benannten, andererseits an Vermittlung und einem Kompromiss zwischen den vermeintlich »richtigen« Interessen des Staatswesens und den Grundlagen ihres politischen, kulturellen und sozialen Verständnisses interessiert waren.

»Jüdische Kriegsstatistik« – Wissenschaftliche Methode und jüdische Teilhabe Von den beiden staatlich-administrativen Vorhaben, die im gewissen Sinne durch ein »Top-Down«-Verhältnis und eine äußere, formal-institutionelle Legitimität charakterisiert waren, muss die von jüdischen Verbänden betriebene »jüdische Kriegsstatistik« grundsätzlich unterschieden werden. Sie war zeitlich dem minis­ 35 O. A., Die Glaubens-Statistik im Heer, 244. 36 Ebd., 243.

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teriellen Erlass zur »Judenzählung« vorgelagert. Bereits in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch, am 19.  September 1914, gründete sich auf Initiative des Büros für Statistik der Juden, des Verbandes der deutschen Juden und des Central-Vereins in Berlin ein Ausschuss für Kriegsstatistik.37 Unter der Leitung des Staatswissenschaftlers und langjährigen Leiters des Berliner Statistischen Amtes Heinrich Silbergleit (1858–1939) und des Nationalökonomen Jacob Segall ­(1883–1959) gehörten ihm fraktionsübergreifend die größten jüdischen Vereine an: Neben den bereits genannten waren dies der Deutsch-Israelitische Gemeindebund, die Zionistische Vereinigung für Deutschland, die Großloge für Deutschland des Unabhängigen Orden Bnai Brit (U. O. B. B.), der Jüdische Frauenbund, der Verband der jüdischen Jugendvereine Deutschlands, das Büro für Statistik der Juden, das Kartell jüdischer Verbindungen, der Kartell-Convent, der Verein zur Abwehr des Antisemitismus und der Kriegshilfsausschuß der Berliner Logen. Während seines siebenjährigen Bestehens war es das zentrale Anliegen des Ausschusses, »objektives«, »zuverlässiges« und nach »wissenschaftlichem Standard« gewonnenes Zahlenmaterial über die Beteiligung der deutschen Juden am Ersten Weltkrieg zu sammeln.38 Die Forderung nach einer eigenen jüdischen Statistik und Demografie lassen sich bereits bis in das Jahr 1901 und den V. Zionistenkongress in Basel zurückverfolgen. Max Nordaus hier formulierter Appell an die Delegierten – »Wir müssen mehr wissen!« – gilt zugleich als Initialzündung und Leitmotiv der jüdischen Statistik.39 Besonders früh hatten sich in kulturzionistischen Kreisen Persönlichkeiten wie Martin Buber (1878–1965), Chaim Weizmann (1874–1952) und Leo 37 In der Literatur wird häufig fälschlicherweise das Frühjahr 1915 als Gründungsdatum angegeben, siehe z. B. Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 53. Rolf Vogel gibt als Gründungsmonat den Oktober 1916 an, ders., Ein Stück von uns. Deutsche Juden in deutschen Armeen 1813–1976, Mainz 1977, 154. Seine Mitglieder kamen während des Bestehens des Ausschusses ­(1914–1921) zu regelmäßigen, in der Regel monatlich stattfindenden Sitzungen zusammen. CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Geschäftsordnung für die statistischen Erhebungen über die Beteiligung der Juden am Kriege, Bl. 67–69, hier 67. Die Protokolle der Sitzungen sind durch die Akten des VdDJ vollständig überliefert, während die Akten des eigentlichen Bureaus für Statistik der Juden nicht mehr vorhanden sind. CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokolle des Ausschusses für die Kriegsstatistik, Nr. 223, 012486 und Nr. 224, 012847. 38 Diese Begriffe sind zentral für das Selbstverständnis der jüdischen Statistiker. Bruno Blau, Die Jüdische Statistik, in: Die Welt 12 (1908), H. 8, 7 f. und H. 9, 5 f. sowie CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokolle des Ausschusses für die Kriegsstatistik, Nr. 223, 012486 und Nr. 224, 012847. 39 Stenografisches Protokoll der Verhandlungen des V.  Zionisten-Congress in Basel, 16. und 27.–30. Dezember 1901, Wien 1901, 100. Siehe dazu Nicolas Berg, Vertrauen in Zahlen: Über Gründung und Selbstverständnis der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (1905), in: Kopf oder Zahl. Die Quantifizierung von allem im 19. Jahrhundert, Oberhausen 2011, 2­ 57–275; Mitchell B. Hart, Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity, Stanford, Calif., 2000, Kap. 1 »Wir müssen mehr wissen«: Institutional and Ideological Foundations of a Jewish Statistics, 28–55.

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Motzkin (1867–1933) dafür engagiert, ein eigenes statistisches Büro für Juden zu gründen. Aus diesen Initiativen heraus entstand im Jahr 1902 in Berlin der Verband für Statistik der Juden, in dessen Folge sich im Deutschen Reich und in weiteren europäischen Städten statistische Vereine gründeten. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich bereits ein transnationales Netzwerk jüdischer Statistiker etabliert.40 Dies ist wiederum auf den bereits erwähnten allgemeinen Säkularisierungsund gesellschaftlichen Transformationsprozess im langen 19.  Jahrhundert zurückzuführen, der mit seiner Herausbildung eines hegemonialen Paradigmas des Messens und Zählens auch die jüdische Welt erfasste.41 Die jüdische Statistik musste sich dabei zunächst nach Innen, gegen das jüdische Religionsgesetz, durchsetzen, das ein Zählen von Menschen untersagte. Die Ausbildung von Statistik als eigener Gegenstandsbereich einer jüdischen Wissenschaft war Resultat intensiver Debatten um die Modernisierung jüdischer Lebenswelten, wobei be­ son­ders von zionistischer Seite große Kritik an der vermeintlichen Eingeschränkt­ heit der traditionellen Wissenschaft des Judentums auf rein judaistische Themengebiete wie religiöse Praktiken, Religionsgesetze und religiöse Literatur geübt wurde. Sowohl in thematischer als auch in methodologischer Hinsicht sollte sich die jüdische Wissenschaft öffnen. Es ging den Pionieren einer jüdischen Statistik nicht nur um ein »mehr wissen«, wie es Nordau programmatisch formuliert hatte, sondern um verlässliches Wissen: »Wir müssen zuverlässig erfahren, wie das Volksmaterial beschaffen ist, womit wir zu schaffen haben werden. Wir brauchen eine ganze anthropologische, biologische, ökonomische und intellektuelle Statistik des jüdischen Volkes.«42 Bezeichnet man die amtliche Statistik aufgrund der dominanten Rolle des Staates zugespitzt als »nationales Projekt«, so schlug sich dieses Primat des Nationalen und eines »Staates vor dem Staat« in den innerjüdischen Debatten um 40 Siehe Judith Ciminski, Jüdische Statistik. Ein Netzwerk europäischer Topografien, in: Hans-Joachim Hahn u. a. (Hgg.), Kommunikationsräume des Europäischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen, Leipzig 2014, 61–75. Zur Entwicklung der Jüdischen Statistik ist grundlegend Hart, Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity. 41 Zur allgemeinen Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen siehe u. a. Theodore M. Porter/Dorothy Ross (Hgg.), The Modern Social Sciences, Cambridge u. a. 2003 sowie die Hinweise bei Amos Morris-Reich, The Quest for Jewish Assimilation in Modern Social Science, New York/London 2008. 42 Nordau auf dem V. Zionistenkongress Stenografisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten-Congress, 100. Zwei programmatische Texte von Buber zur Neukonzeption jüdischer Wissenschaft waren einige Wochen vor dem Kongress in der Zeitung Die Welt erschienen. Martin Buber, Jüdische Wissenschaft I., in: Die Welt 5 (1901), H. 41, 1 f. und ders., Jüdische Wissenschaft II., in: Die Welt 5 (1901), H. 43, 1 f. Siehe dazu Ciminski, Jüdische Statistik, 63 f.; Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, München 2000; ders., Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, hier bes. 212–214.

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eine jüdische Statistik in ähnlicher Weise nieder. Die Frage des Bezugsrahmens der statistischen Erhebungen war dabei von besonderer Bedeutung, musste doch entschieden werden, ob man eine einzelstaatliche Perspektive oder eine der diasporischen Kondition der jüdischen Lebenswelten entsprechende transnationale Erhebung vorzog. Unmittelbar damit verbunden war die Frage von Repräsentation bzw. Nicht-Repräsentation der Juden in den bestehenden amtlichen Statistiken. Waren die frühen Jahre der jüdischen Statistik noch von einer Pluralität der Zugriffe und damit einer Anerkennung unterschiedlicher Konzepte von Zugehörigkeit und Selbstverständnis geprägt, changierten sie also zwischen einer konfessionellen und einer nationalen Bestimmung des Jüdischen, so setzte sich im Zuge des Ersten Weltkrieges mit dem jüdischen Ausschuss für Kriegsstatistik eine spezifische Vereindeutigung der Aufgabenfelder hin zu einer Bestätigung des deutschen Patriotismus durch. Der innenpolitische Druck hatte sich während des Krieges so verschärft, dass vorrangig wissenschaftliche Modelle für die eigene Statistik übernommen und befürwortet wurden, die in der Umgebungsgesellschaft dominierten. Zudem erfuhr die jüdische Statistik mit dem Ersten Weltkrieg ihre größte Popularität. Sie hatte sich bereits in den Jahren 1914 bis 1916 als nicht-amtliche, unabhängig vom Staat und ohne staatliche finanzielle Unterstützung operierende Wissenschaft mit eigenen Institutionen und einem eigenen Publikationsorgan, der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, etabliert. Das Unternehmen einer eigenen Kriegsstatistik, an dem sich das deutsche Judentum fraktions­ übergreifend beteiligte, wäre ohne das Know-how und die Infrastruktur des 1904 gegründeten Berliner Büro für Statistik der Juden und die fachliche Erfahrung seiner Mitarbeiter nicht möglich gewesen. Bei der Umsetzung der jüdischen Kriegsstatistik war das Büro federführend. Sein Vorhaben war zunächst vor allem von einem wissenschaftlichen Interesse an einer Statistik über die Militärtauglichkeit der Juden geleitet, das schon seit langem im Gespräch war.43 Als privates Unternehmen jedoch, das keine staatliche Unterstützung erfuhr, waren 43 Noch vor Kriegsbeginn gab es im Verein für Statistik der Juden Pläne einer umfassenden Untersuchung über die Militärtauglichkeit und Wehrfähigkeit der deutschen Juden. Ende Juli 1914 hatte man sich im Verein zu einer Vorbesprechung zusammengefunden. Der Krieg schien nun »Gelegenheit zu tendenzloser Feststellung« der jüdischen Kriegsteilnehmer zu geben. CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 224, 012847, Protokoll der ersten Sitzung des Ausschusses für Kriegsstatistik vom 19. September 1914, Bl. 2–8, hier 2. Nach Mobilmachung und Kriegsbeginn hatte der C. V. zusammen mit dem VdDJ auf der Titelseite der Augustausgabe von Im Deutschen Reich die deutschen Juden dazu aufgerufen »über das Maß der Pflicht hinaus ihre Kräfte dem Vaterlande zu widmen und freiwillig zu den Waffen zu eilen.« Gleich darunter wurden »alle, die nicht mit der Waffe dem Vaterland dienen können,« gebeten, dem Büro des C. V. »alles auf die Beteiligung der Juden am Kriege Bezügliche mitzuteilen, da der Umfang der Beteiligung der deutschen Juden am Feldzuge für spätere Zeiten festgestellt werden muss.« O. A., An die Ortsgruppen und die Mitglieder des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Im Deutschen Reich 20 (1914), H. 9, 339. Mit dem Ausschuss für Kriegsstatistik sollten diese be-

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die jüdischen Statistiker zugleich auf die breite und aktive Mithilfe der jüdischen Bevölkerung angewiesen. Dabei ging es nicht nur um finanzielle Unterstützung, sondern es war auch ein aktiver Einsatz von Freiwilligen gefragt. In Berlin etwa, wo angesichts der großen Dichte der jüdischen Bevölkerung eine besonders zuverlässige Zählung von Haus zu Haus durchgeführt werden konnte, mussten mehr als 1000 ehrenamtliche Zähler und weitere Zählkommissare gewonnen werden, um die Arbeit des Büros in Sachen Kriegsstatistik zu unterstützen.44 Darüber hinaus war jedes jüdische Gemeindemitglied aufgerufen, Mitteilung über Personen zu machen, die in irgendeiner Weise dem Militär angehörten. Dafür hatte das Büro entsprechende Formulare ausgearbeitet und mit der Bitte um Rücksendung den einschlägigen jüdischen Zeitschriften beigelegt.45 Im Verlauf des Krieges rückte mehr und mehr der Charakter einer umfassenden Abwehraktion gegen den wachsenden Antisemitismus in das Zentrum der eigenen Kriegsstatistik. Die Brisanz der Aufgabe kulminierte mit dem Erlass des Kriegsministers im Oktober 1916. Erst unter dem Eindruck der unter ungleichen Voraussetzungen unternommenen Konkurrenzerhebungen wurde die Relevanz der jüdischen Kriegsstatistik tatsächlich erkannt und mit Verve betrieben: Die Spendenbereitschaft nahm enorm zu und der Rücklauf der Listenformulare erhöhte sich deutlich.46 Diese »private«, nicht-amtliche Statistik war dennoch auf das Wohlwollen staatlicher Institutionen und hier besonders der Militärbehörden angewiesen. Zeitweise kam das Projekt zum Erliegen und drohte gar an den Widerständen der obersten Armeebehörden zu scheitern, so zum Beispiel als im Mai 1916 das Oberkommando in den Marken das Sammeln von Adressen im Felde stehender Soldaten verbot – eine Verordnung, der sich andere Armeekorps anschlossen.47 Erst nach mehreren Fürsprachen und Eingaben seitens des Aus­schusses war im Januar 1917 die Erlaubnis zur Feststellung der jüdischen Feldzugsteilnehmer vollständig erteilt worden, sodass schließlich in ganz Deutschland die Erhebung mit behördlicher Genehmigung vorgenommen werden gonnen Arbeiten zentralisiert und professionalisiert werden. CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 224, 012847, Protokoll der ersten Sitzung des Ausschusses für Kriegsstatistik vom 19. September 1914, 2. 44 Siehe Segalls Einschätzung zur Berliner Zählung. CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Kriegsstatistik am 16. Oktober 1915, 43–46, hier 44. 45 Besonders 1915, im ersten Jahr des Bestehens des Ausschusses, wurden auf den Sitzungen das Vorgehen und die Methoden der jüdischen Kriegsstatistik verhandelt. CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, 2–74. Siehe auch Jacob Segall, Einiges über die Methoden der jüdischen Kriegsstatistik, in: Der Schild 1 (1922), 1 f. 46 CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Kriegsstatistik am 4. Dezember 1916, Bl. 98–100, hier 100; CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Kriegsstatistik am Montag, den 15. Januar 1917, Bl. 101–104, hier 101 und 103. 47 CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Kriegsstatistik am Dienstag, den 30. Mai 1916, Bl. 86–90, hier: 86 f.

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konnte.48 Die Arbeiten der jüdischen Statistiker wurden allerdings erst drei Jahre nach Kriegsende abgeschlossen. Während Fabius Schach in seinen programmatischen Überlegungen eine Beweisführung jüdischer Opferbereitschaft unter Zugrundelegung statistischer Verfahren aus Inkommensurabilitätsgründen abgelehnt hatte, hob sich die Position des jüdischen Ausschuss für Kriegsstatistik davon deutlich ab. Hier wurde gerade eine solche Beweisführung vorbereitet und damit den bereits erläuterten ambivalenten empirischen und politischen Herausforderungen ausgesetzt. Unter prinzipieller Anerkennung der Axiomatik, also der Ermittlung repräsentativer Beteiligung der Juden am Kriege durch statistische Erhebung, sprachen die jüdischen Akteure der kriegsministeriellen Statistik aufgrund eklatanter Formfehler nach statistischen Standards ihren Anspruch auf Abbildung objektiver Wahrheit ab. Eine fehlerhafte Methode und Ausführung könne keine wahren Ergebnisse erzielen, so der Vorwurf von Seiten der jüdischen Statistiker.49 Aus heutiger Sicht kann die Einschätzung des Ausschusses nur bestätigt werden, da sich die kriegsministerielle Statistik auf der Ebene von Methode und wissenschaftlichen Standards tatsächlich als fehlerhaft erwies, und als eine »Unstatistik« vor dem Maßstab ihrer eignen Zieldefinition bezeichnet werden muss.50 Der Soziologe Franz 48 In einem von Wrisberg unterzeichnetem Erlass Nr. 1267/7.16.A. I. vom 2. Oktober 1916 berichtete das Kriegsministerium, dass verschiedene Vereine deutscher Juden im Hinblick auf einen Erlass vom Mai 1916 angefragt hätten, »inwieweit das Sammeln von Material über Teilnahme der deutschen Juden am Feldzug erlaubt sei.« Es wurde mitgeteilt, dass gegen die Fortführung der Listen über die jüdischen Feldzugsteilnehmer keine Bedenken zu erheben seien, »sofern künftig in den Listen die Bezeichnung des Truppenteils, des Ortes der Verwundung, der Erkrankung, des Vermißtseins und des Todes weggelassen wird« und die Veröffentlichung der Listen während des Krieges unterbliebe. Zit. n. Vogel, Ein Stück von uns, 154 f. Siehe dazu auch CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 222, 012845, Protokoll der Sitzung des Ausschusses für Kriegsstatistik, 15. Januar 1917, 101. 49 Die ministerielle Statistik berücksichtigte nur den 1. Novembers 1916 als Stichtag für die Aufnahme der Zählung. 1922 äußerte sich Löwenthal, der damals für den VdDJ Mitglied im jüdischen Ausschuss war, auf einer Sitzung des Verbandes dahingehend, dass die amtliche Statistik nur eine »Augenblicksdarstellung gibt, die vorher bereits Ausgeschiedenen und die später hinzukommenden nicht berücksichtigt«, während die jüdische Zählung die ganze Kriegszeit erfasste. Die Ergebnisse des Kriegsministeriums seien daher nicht erschöpfend, sondern zu Ungunsten der Juden verfälscht, wenn man die Gesamtdauer des Krieges berücksichtige. CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 223, 012486, Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses vom 22. Januar 1922, Bl. 64–66, hier 65. Vgl. auch O. A., Ueber die technischen Mängel der Glaubensstatistik, in: Im Deutschen Reich 23 (1917), H. 1, 38 f. 50 Die Methode der Zählung und ihre Durchführung waren fragwürdig, da sie lediglich an einem einzigen Tag vorgenommen wurde und der Krieg bereits mehr als zwei Jahre dauerte. Gezählt wurden nur die jüdischen Soldaten, so dass jede Vergleichsbasis fehlte. Vielfach wurden jüdische Soldaten am Tag der Zählung von der Front in die Etappe abkommandiert, um das Ergebnis vorsätzlich zu verfälschen. Es gab weder Erläuterungen zur praktischen Durchführung des Zensus noch wurden unabhängige Fachkräfte instruiert. Die Zählung lag in den Händen der Kommandierenden, deren antisemitische Einstellung in vielen Fällen belegt ist, und die

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Oppenheimer hat 1922 in seiner Schrift Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums eine Bewertung der »Judenzählung« unter dem Aspekt wissenschaftlicher Methodenlehre vorgenommen und kam zu dem später in der historischen Forschung viel zitierten Schluss, die ministerielle Kriegsstatistik sei die »größte statistische Ungeheuerlichkeit, deren sich jemals eine Behörde schuldig gemacht hat.«51 Die jüdische Kriegsstatistik wurde mit ihrem eigenen Verfahren dem Qualitätsanspruch wissenschaftlicher Erhebung eher gerecht.52 Mit großem Aufwand wurde über die sieben Jahre der »jüdischen Kriegsstatistik« gezählt, katalogisiert, und immer wieder geprüft und nachgezählt. Die Erhebung und ihre Quellen sollten aber erst veröffentlicht werden, nachdem die Zählung vollständig abgeschlossen war. Schließlich wurde 1921, drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, das Resultat der mühsamen und umfassenden Arbeiten unter dem Titel Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914–1918 veröffentlicht.53 Die wichtigsten Ergebnisse der Studie lassen sich dabei in vier Punkten zusammenfassen: Etwa 100 000 deutsche Juden hatten an dem Feldzug teilgenommen, insgesamt waren ca.  80 000 jüdische Kriegsteilnehmer an der Front, von denen etwa 12 000 im Krieg getötet wurden. Zudem sind etwa 35 000 Juden kriegsdekoriert und 23 000 jüdische Soldaten befördert worden, davon 2000 zu Offizieren.54 Schon kurz nach Veröffentlichung erhielten die jüdischen Statistiker positive Rückmeldungen sowohl von höheren Militärangehörigen als auch innerhalb der deutschen Presselandschaft.55 Die Zahlen des Kriegsministeriums hingegen wurden nie von offizieller Seite veröffentlicht. Sie tauchten jedoch in der Zwischenkriegszeit in antisemitischen Zeitschriften, Zeitungsartikeln und anderen Publikationen auf. Meist wurden wenig Skrupel hatten, jüdische Soldaten, die verwundet oder kriegsbeschädigt waren, als Etappensoldaten zu zählen. Nach Werner Jochmann konnte eine Erhebung, die in den Händen der Offiziere und Unteroffiziere lag, gar nicht »objektiv und gerecht« durchgeführt werden, was auch dem Kriegsministerium klar gewesen sein müsste. Vgl. ders., Die Ausbreitung des Antisemitismus, in: Werner Mosse (Hg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916–1923, Tübingen 1971, 409–510, hier 425; ders., Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870–1945, Hamburg 1988, 110 f. 51 Franz Oppenheimer, Die Judenstatistik des preußischen Kriegsministeriums, München 1922, 14. 52 Laut Rosenthal ermöglichte die jüdische Statistik, obwohl sie auf rein privater Initiative entstanden war und ohne jede amtliche Unterstützung auskommen musste, eine »lückenlose Registratur« der jüdischen Kriegsteilnehmer. Verglichen mit dieser namentlichen Registrierung der jüdischen Kriegsteilnehmer war die kriegsministerielle Zählung »höchst dilettantisch«. Siehe ders., »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 54 und 64. 53 Jacob Segall, Die deutschen Juden als Soldaten im Kriege 1914–1918. Eine statistische Studie. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Heinrich Silbergleit, Direktor des Statistischen Amtes der Stadt Berlin, Berlin 1921. 54 Ebd., 38. 55 Siehe dazu CJA, 1,75 C Ve 1, Nr. 223, 012486, Schlusssitzung des Verbandes für Kriegsstatistik, 26. November 1921, Bl. 57–64, hier 59.

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diese Angaben aus der Schrift Die Juden im Heere. Eine statistische Untersuchung nach amtlichen Zahlen übernommen. Unter dem Pseudonym Otto Armin gab deren Autor Alfred Roth (1879–1948), Geschäftsführer des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, Anfang 1919 hier an, die vermeintlich korrekten Zahlen des Kriegsministeriums verwandt zu haben.56

Die Bedeutung des Komplexes der Kriegsstatistik Kann eine Statistik auf der Handlungsebene in ihrem Anspruch als Abbild objektiv wahrer Tatsachen anerkannt, ignoriert oder hinterfragt werden, trat sie im konkreten Fall der Kriegsstatistik eher als ein Gravitationsfeld auf, dessen Wirkung man sich kaum entziehen konnte. In der aus den Kampfhandlungen des Krieges heraus verlängerten Arena der negativen und positiven Zahlen, so scheint es, konnte ebenfalls nur allein mit der Potenz der Zahlen als Material gefochten werden. Am Komplex der Kriegsstatistik wird zudem sichtbar, dass die Auseinandersetzung über die vermeintlich »objektive Wahrheit« der Statistik vor dem Hintergrund einer wechselseitigen Anerkennung implizierter Prämissen geführt wurde, die sich durch die angewandten Verfahren als jeweils gültig bestätigen ließen. Doch die scheinbar selbstverständliche unwissenschaftliche Vorannahme, die der Kriegsstatistik zugrunde lag  − wenn Krieg herrscht, muss jeder bereit sein, für den Staat sein Leben einzusetzen −, diese Prämisse bewegt sich selbst gar nicht im Geltungsbereich einer objektiven Wahrheit, sondern ist im Kern eine Frage normativ-ethischen Charakters. Dass dieser normative Kern – die Legitimität von Gewalt und Mord – unhinterfragt blieb im Streit um die Statistik, kann als charakteristisch angesehen werden für das Ineinanderwirken von Politik und Wissenschaft während des Ersten Weltkriegs. Demgegenüber wurde den deutschen Juden in erster Linie unterstellt, sich dieser letzten Konsequenz, der Aufopferung für das kriegsführende Kaiserreich, zu verweigern. Von staatlicher Seite wurden sie deshalb gezwungen, weitere Beweise für ihre Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen zu liefern. Was hier tatsächlich auf der Ebene normativer Richtigkeit verhandelt wurde, war die Frage des Verstoßes des kriegsministeriellen Erlasses zur »Judenzählung« gegen das Prinzip des Gleichbehandlungsgrundsatzes. Diese Frage steht beispielhaft für die widersprüchliche Konstellation, dass Statistiken zwar »objektiv« erscheinen mögen, aber normativ falsch sein können. Dass die Gleichheit vor dem Gesetz und das Prinzip der Gleichbehandlung im Jahr 1916 durchaus Wirkungsmacht besaß, zeigt sich darin, dass der Beschluss zur »Konfessionsstatistik« nach politischer Intervention nicht durchgeführt wurde. Auch der Ergänzungserlass des stellvertretenden Kriegsministers Wrisberg im Reichstag vom November 56 Siehe Rosenthal, »Die Ehre des jüdischen Soldaten«, 116–121.

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1916, der unterstrich, inwiefern der kriegsministerielle Erlass nur den Zweck gehabt habe, statistisches Material zu sammeln, um damit Vorwürfe gegenüber Juden prüfen zu können, bestätigt diese Schieflage. Seine Behauptung, dass antisemitische Absichten »in keiner Weise verfolgt worden« seien, bezeugen im Kern die Gültigkeit des normativen Prinzips der Gleichheit – unabhängig davon, ob Wrisberg nun strategisch agierte oder nicht. Auf Seite des deutschen Judentums lässt sich im Komplex der Kriegsstatistik noch ein anderer, mit der Debatte um gesellschaftliche, kulturelle und politische Teilhabe verbundener Aspekt aus­ machen: Viele deutsche Juden waren davon überzeugt, dass die aktive Kriegsteilnahme und die damit verbundene Untermauerung jüdischer Opferbereitschaft nicht nur formelle Gleichberechtigung, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung erwirken könne. Nicht zuletzt hierfür sollte die jüdische Kriegsstatistik eine objektive Beweisführung liefern. Die ganze Ambivalenz des Komplex der Kriegsstatistik zeigt sich wiederum deutlich in einem Beitrag der Novemberausgabe des Israelitischen Familien­blatts von 1916. Unmittelbar vor Spalte zwei und drei, auf der Fabius Schachs zahlen­ skeptische Ansichten erschienen, hatte die Redaktion ein Gedicht gesetzt, das wenig früher im Berliner Tageblatt unter dem Kürzel A. M. erschienen war.57 Das Gedicht mit dem Titel Die beiden Statistiken erzählt von zwei alten Frauen, die als Schwestern im selben statistischen Amt und aus denselben Wurzeln geboren wurden und sich nach langer Zeit wieder begegnen. Auf die Frage der einen Schwester, woran die andere aktuell arbeite, antwortet jene, sie mache etwas sehr Wichtiges: »Ich wand’re und wand’re durch viele Gesellschaften, viele Bureaus und da notiere ich fehlerlos Und ohne Anseh’n der Personen Die Konfessionen«

Danach, so berichtet sie weiter, teile sie diese in Rubriken ein, und ermittle die Anzahl der Juden, die in den Büros vorhanden seien. Schließlich rechne sie anhand der Zahlen alles in Prozente aus, denn das liefere erst die »besondere Charakteristik«. Und damit erfülle sie ihre Pflicht, denn sie sei ja schließlich Statistik. Das sei sie selbst auch, antwortet da die Zweite. Auch sie wolle wie ihre Schwester »statistische Wahrheit bieten« und zähle in ähnlichem Duktus die »Israeliten«: »Es ist ein gewisser Unterschied bloß, Denn andres verlangt mein Auftraggeber: Ich zähle sie nicht in den Bureaus, – Nein, Schwester, – ich zähle die Heldengräber!« 57 A. M., Die beiden Statistiken, in: Israelitisches Familienblatt Hamburg 19 (1916), H. 47, 2.

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Das Gedicht verweist auf die grundlegenden Fragen, denen die deutschen Juden in jener hitzigen Atmosphäre des wilhelminischen Kaiserreichs während des Ersten Weltkriegs begegneten. Sie waren gesellschaftlichen Kräften ausgesetzt, die ihren Anteil an der Gesamtbevölkerung zu erfassen suchten und dabei von einem nationalstaatlichen Paradigma geleitet waren. Genauso spiegelt sich in den Debatten um die Statistik die spezifische Situation der deutschsprachigen Juden im Fin de Siècle, insbesondere die Assimilationsleistungen, die ihnen im Prozess der Transformation ihrer eigenen Tradition in eine Konfession abgefordert wurden. Das akademische Fach der Statistik war insofern Ausdruck eines Paradigmenwechsels hin zu den exakten Wissenschaften, durch den quantitative Methoden und Verfahren eine besondere Bedeutung erhielten und für einen neuen Wahrheitsanspruch einstanden. Philosophische Grundfragen von Wahrheit und Erkenntnis wurden damit durch quantitative Verfahren des Messens, Zählens und Bilanzierens ersetzt. Wirkmächtig war die Wissenschaft der Statistik vor allem deshalb, weil sie mit der Aura der Objektivität versehen war. Wie gezeigt werden konnte, wurden ihre streng logischen, mathematischen Elemente und allgemeingültigen Schlussprinzipien jedoch durch gesellschaftliche Wahrnehmungen, Vorurteile und normative Setzungen überlagert. Damit wird auch das Paradoxon einer ausgeprägten Tendenz zur Selbstevidenz sichtbar, die ohne Begründung oder Reflexion vorausgehender normativer Setzungen den Anschein objektiver Wahrheit in sich trägt. Die deutsche Judenheit versuchte diese dominierende und allgemein anerkannte Entwicklung zu adaptieren und gerade im umfassenden Abwehrkampf gegen den Antisemitismus zu nutzen. Es bestand die wissenschaftsimmanent genährte Hoffnung, dass gerade die Macht der Zahlen ein besonderes Vertrauen mit sich bringen könne und damit auch die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft von den positiven Wirkungen der Emanzipation überzeugt werden würde. In den öffentlichen Debatten wurde jedoch sichtbar, dass eben dieser Anspruch durch politische Grenzziehungen ad absurdum geführt wurde. Der Komplex der Kriegsstatistik, der auf unterschiedliche Ebenen ansetzte und von verschiedenen, jüdischen wie nichtjüdischen Initiativen geprägt war, verweist damit darauf, dass Juden nicht als Deutsche, in einem kulturellen oder staatsbürgerlichen Verständnis, sondern mittels des sie als »Andere« stigmatisierenden Zählens nun als Juden wahrgenommen wurden. Durch die Vermessung ihres Anteils am Kriegsgeschehen erfolgte gleichsam eine Unterscheidung, die deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens als Individuen kollektivierte und den zentrifugalen Kräften der deutschen Gesellschaft aussetzte.

GESCHICHTE Gesetz · Philosophie · Gedächtnis

Inka Sauter

Weltwende Spuren der Geschichte im Werk Isaac Breuers

»[N]icht Abschluß war der Weltkrieg für die Gewaltgeschichte der Nationen, sondern die entscheidende Wende zu ihrer höchsten Steigerung. In diesen zwei Jahrzehnten des ›Friedens‹ hat die Gewaltgeschichte der Nationen dem Recht schlimmere Kränkungen und grausamere Schmach und schneidenderen Hohn angetan, als in ganzen Jahrhunderten der Vorzeit.«1 Fünf Jahre nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und nur wenige Wochen vor dem Novem­ berpogrom war es der Jurist Isaac Breuer (1883–1946), der unter dem programmatischen Titel Weltwende jenen gewaltvollen Geschichtsverlauf seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs rekonstruierte, der im Zeichen vollständigen Rechtsverlusts zur existenziellen Gefahr für die deutschen Juden wurde. Innerhalb der Geschichte, dem Zusammenleben der Nationen, schien ihnen jede Handlungsfähigkeit verwehrt. Der Gewaltgeschichte setzte Breuer zugleich eine meta­ geschichtliche Sphäre entgegen, in der er das sakral interpretierte jüdische Kollek­ tiv situierte. Mit dieser Denkfigur von Geschichte und Metageschichte bot er eine gleichermaßen von jüdischer Gesetzestradition wie von moderner Geschichtsphilosophie geprägte Deutung seiner Zeit – einer Zeit, in der er angesichts des Nationalsozialismus die Entfaltung des deutschen Judentums an ihr Ende gekommen sah. Breuer selbst war noch zwei Jahre zuvor nach Palästina ausgewandert, um der Bedrohung durch die neuen Machthaber zu entkommen. Mit seiner Auffassung einer messianisch interpretierten doppelten Geschichte, der sakralen jüdischen und der profanen, stand Breuer in der Tradition der Neo-Orthodoxie. Diese war von Samson Raphael Hirsch  (1808–1888), seinem Großvater, im 19. Jahrhundert eingeführt worden, um das sakrale Gesetz des Judentums in der unmittelbaren Konfrontation mit Modernisierung und neuzeitlichem Geschichtsbegriff zu bewahren. Breuer wiederum hatte diese Positionierung im Zuge des Ersten Weltkriegs verändert – für ihn verband sich in der Idee eines anzustrebenden Weltfriedens der sakrale Messianismus des Judentums mit dem

1 Isaac Breuer, Weltwende. Jerusalem 1938, in: ders., Weltwende, Jerusalem 1979, 1–120, hier 103.

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Erwartungshorizont der Geschichte. Zwanzig Jahre später war diese Utopie indes zerbrochen: Die Geschichte hatte sich nun gegen die Juden selbst gewandt. 1883 in Österreich-Ungarn geboren, wirkte Breuer den Großteil seines Lebens in Frankfurt am Main.2 Bereits früh interessierte er sich sowohl für die jüdische Tradition als auch für die Weltgeschichte. So erinnerte er sich in seiner 1946 abgefassten Autobiografie mit dem Titel Mein Weg: »In meinen kindlichen Träumen schwankte ich freilich zuweilen, ob ich es meinem Vater im Talmud oder – Napoleon Bonaparte in der Geschichte gleichtun sollte.«3 Damit deutete Breuer einen Zwiespalt an, den er mit seiner Reflexion der jüdischen Geschichtsvorstellung in gewissem Sinne aufzulösen suchte: die weltlichen Ereignisse und die jüdische Tradition in einer Weltauffassung zu harmonisieren. Er entwickelte entsprechend ein reges Interesse an Philosophie und Geschichte und wandte sich insbesondere den Schriften Immanuel Kants zu4 – betonte aber, Kant nicht »ins Judentum hineingetragen«, sondern »[a]ls Jude […] Kant studiert« zu haben.5 Letztlich entschied sich Breuer jedoch für das Studium der Rechtswissenschaft.6 1913 ließ er sich als Jurist in Frankfurt nieder und leistete von 1915 bis 1918 Militärdienst.7 In diesen Jahren des Ersten Weltkriegs entfaltete er zunächst seine geschichtsphilosophisch-geprägte Interpretation jüdischer Geschichte, die er in einer 1918 publizierten Schrift mit dem bezeichnenden Titel Messiasspuren ausführte und die er später in den Jahren des Nationalsozialismus, unter veränderten historischen 2 Zu Isaac Breuers Leben und Werk siehe vor allem: Matthias Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem. Isaac Breuer und die Geschichte des »Austrittsstreits« in der deutsch-jüdischen Orthodoxie, Tübingen 1995. Zur Krisenzeit in den ersten Jahrzehnten des 20.  Jahrhunderts siehe: Denis Maier, Isaac Breuer (1883–1946). Philosophie des Judentums angesichts der Krise der Moderne, Berlin/Boston, Mass., 2015. Bezüglich der Antisemitismuskritik Breuers siehe besonders: David Jünger, »Wo aber Nationen nicht begreifen können, da hassen sie.« Isaac Breuer, die deutsche Orthodoxie und der Judenhass zwischen den Weltkriegen, in: Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hgg.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944, Berlin/München/Boston, Mass., 2015, 234–260. 3 Isaac Breuer, Mein Weg, Zürich 1988, 37. 4 Vgl. ebd., 58. Breuer entwickelte eine Affinität zum Neukantianismus Wilhelm Windelbands und Heinrich Rickerts, nicht aber zu dem Hermann Cohens. Er erinnerte sich 1946: »Zwei Semester studierte ich in Marburg, wo dieser gefeierte Philosoph [Hermann Cohen] wirkte. Ich konnte mich niemals entschließen auch nur eine einzige seiner Vorlesungen zu hören.« Breuer ging davon aus, dass Cohen die »Grundlagen seiner ›jüdischen‹ Welt- und Lebensanschauung« von Kant bezogen habe (ebd.). Er setzte sich zweimal dezidiert mit den Arbeiten Hermann Cohens auseinander: einmal 1911 in einer Artikelserie in Der Israelit, wo er den von Cohen 1910 gehaltenen Vortrag Die Bedeutung des Judentums für den religiösen Fortschritt der Menschheit kritisierte und einmal 1915 in den Jüdischen Monatsheften mit Cohens Schrift Deutschtum und Judentum. Vgl.: Isaac Breuer, Was läßt Hermann Cohen vom Judentum übrig? in: Der Israelit, 16. März 1911, 2 f.; 23. März 1911, 1 f.; 30. März 1911, 3 f. und 12. April 1911, 3 f.; und: Ders., Von deutscher Zukunft, in: Jüdische Monatshefte 2 (1914/15), H. 10, 341–352. 5 Breuer, Mein Weg, 56. 6 Vgl. ebd., 66. 7 Vgl. Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem, 217.

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Bedingungen, wieder aufnahm. Bereits 1912 hatte Breuer zudem an der konstituierenden Versammlung der orthodoxen Partei Agudat Jisra’el in Kattowitz teilgenommen; im Ausgang des Ersten Weltkriegs engagierte er sich für die Errichtung eines »jüdischen Nationalheims« in Palästina.8 Seine Vorstellung von Geschichte war also mit einem politischen Programm verbunden, das er zuerst als »Messianismus« oder »Agudismus« bezeichnete und später auch als »Thedaismus« – allesamt Begriffe, in denen Breuer seine Agenda der Etablierung eines »Gottesstaats« im verheißenen Land kondensierte.9 Dafür entwickelte er über die Jahre einen Begriff der jüdischen Nation, den er vom modernen Nationalismus abgrenzen und in einem sakralen Sinn fassen wollte. Breuer betrachtete sich selbst dementsprechend als »antizionistischen Nationaljuden« und lehnte sowohl den Zionismus als auch – den Auffassungen seines Großvaters folgend – die Reformbewegung ab. Mit seinem Wirken steht Breuer gleichsam paradigmatisch für den Aushandlungsprozess einer gesetzestreuen jüdischen Existenz in der Moderne, die sich in Konfrontation mit Säkularisierung und modernem Geschichtsbegriff neu zu konstituieren suchte  – eine Problematik, der sich in ihren Grundzügen bereits sein Großvater im 19. Jahrhunderts gestellt hatte, die im Spiegel der historischen Verwerfungen seiner Zeit aber für den Enkel anders und mit neuer Dringlichkeit virulent wurde. Bereits Samson Raphael Hirsch hatte die Moderne als Wirkungs- und Reflexionsraum anerkannt, doch sollte seiner Auffassung nach das als sakral verstandene Gesetz im Judentum trotz aller Transformationen jüdischen Denkens uneingeschränkt bewahrt werden.10 Vom entstehenden und als universal aufgefassten Geschichtsbegriff herausgefordert, war dieses Verständnis des Judentums somit in einem spezifischen Sinn von den Wandlungen der Zeit beeinflusst. Während die Reform und deren intellektuelle Resonanz in der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums sich einer geschichtlichen Deutung des Judentums uneingeschränkt öffneten und die Orthodoxie die diametral entgegengesetzte Reaktion zeigte – sich also gegen die Moderne abdichtete –, begaben sich zuerst Hirsch und in dessen Nachgang auch Breuer in das umkämpfte Feld dazwischen. Vor dem Hintergrund der Zäsur des Ersten Weltkriegs stellten sich die Fragen nach dem Verhältnis von Geschichte und Gesetz für Breuer indes neu. Er verblieb zwar in einem Spanungsverhältnis von jüdischer Tradition und moderner Denkform, aber im Angesicht des Kriegs führte er vermittels geschichtsphilosophischer Motive eine Synthese der beiden Seiten der neo-ortho 8 Siehe dazu bes. Isaac Breuer, Das jüdische Nationalheim, Frankfurt a. M. 1925. 9 Breuer, Mein Weg, 118. Den Begriff »Gottesstaat« verwendet Breuer in den 1930er Jahren; in Mein Weg spricht er wieder vom »Nationalheim«, siehe dazu etwa: ebd., 201–210; ders., Zur Lage, in: Nahalat Zwi. Eine Monatsschrift für Judentum in Lehre und Tat 3 (1932/33), H. 6/7, 171–174, hier 173 f.; ders., Von Kattowitz bis Jeruscholajim, in: Nahalat Zwi 7 (1936/37), H. 7/8/9, 202–207, hier 206 f. und ders., Weltwende, 128. 10 Siehe etwa: Matthias Morgenstern, Art. »Neo-Orthodoxie«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, hg. von Dan Diner, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2013, 341–346.

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doxen Vorstellungswelt aus. So setzte er 1918 eine messianische Hoffnung auf den Völkerbund, durch den im Allgemeinen ein Weltfriedenszustand erreicht und im Besondern ein jüdisches Nationalheim ermöglicht werden sollte. Als sich die Frage nach dem Sinn des Geschehens zwanzig Jahre nach dem Ersten Weltkrieg jedoch in neuer Drastik stellte, reagierte Breuer auch auf diese Veränderung seiner Zeit. Noch bevor der Bezugsrahmen deutsch-jüdischer Existenz durch den Holocaust vollständig zerstört war, sah er bereits keine Hoffnung mehr. Allein in einem Rückzug auf sich selbst, auf die eigene Partikularität erkannte er Bedingung und Möglichkeit einer jüdischen Existenz. So verschlug ihn die Geschichte im Jahre 1936 nach Palästina, wo sein Leben 1946, zwei Jahre vor der Ausrufung des jüdischen Staates, zu Ende ging.

Geschichte und Gesetz Seit dem Beginn der Haskala, der jüdischen Aufklärung, und unter dem Einfluss ihres berühmtesten Gelehrten Moses Mendelssohn (1729–1789) hatte sich das jüdische Leben in den deutschsprachigen Ländern sukzessive verändert. Die »Emanzipation« der Juden wurde zur zentralen Forderung in den politischen Auseinandersetzungen des beginnenden 19. Jahrhunderts und traf zugleich auf vehemente Gegenwehr. War in den von Frankreich unter Napoleon besetzten Gebieten zeitweise eine rechtliche Gleichstellung ermöglicht, so wurde diese mit dem Wiener Kongress wieder rückgängig gemacht. Die rechtliche Stellung der Juden sollte noch über ein halbes Jahrhundert regional unterschiedlich bleiben.11 Erst mit der Gründung des wilhelminischen Kaiserreichs erstritten die deutschen Juden schließlich ihre staatsbürgerliche Gleichstellung. Parallel dazu hatte der Emanzipationsprozess Reformen im Inneren angestoßen, um Ritus und Lebenswelten des Judentums der neuen Lage anzupassen. Zunehmend wurde die Allgemeingültigkeit des sakralen Gesetzeskanons hinterfragt und das religiöse Erleben verstärkt nach innen verlagert. Daraus folgte eine wachsende Distanzierung von den traditionellen Lebenswelten, zahlreiche Konversionen zum Christentum und die Entstehung der liberalen Gemeinden, die sich viel stärker an den christlichen Konfessionen orientierten.12 Diese Veränderungen trugen einer allgemeinen und von Max Weber als »Entzauberung der Welt«13 bezeichneten Entwicklung Rechnung: Das 19.  Jahrhundert war gekennzeichnet von der zunehmenden Durchsetzung eines Primats des Geschichtlichen, das in der Idee des Fortschritts 11 Reinhard Rürup, Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur ›Judenfrage‹ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975. 12 Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer (Hgg.), Deutsch-jüdische Geschichte der Neuzeit. Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation 1780–1871, München 1996. 13 Max Weber, Wissenschaft als Beruf, München 1919, 488.

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der Menschheit einen Sinnhorizont eröffnete, der die religiös-überzeitlich geprägte Weltsicht ablösen konnte.14 Eine geistesgeschichtlich wirksame Säkularisierung brach sich Bahn. In der Philosophie hatte sich jene Idee des Fortschritts der Menschheit allmählich durchgesetzt und fand vor allem im deutschen Idealismus Entfaltung. Im Umfeld dieser Denkströmung suchte der Kulturprotestantismus das Christentum mit der Moderne zu vereinbaren. Doch die Veränderungen des Denkens fanden nicht nur in christlichen Reaktionen auf die Moderne ihren Niederschlag. Mit der Entstehung der »Wissenschaft des Judentums« wurde auch das Judentum selbst zum Gegenstand historischer Forschung und geschichtsphilosophischer Interpretation. Die Geschichte – so das berühmte Wort von Y ­ osef Hayim Yerushalmi – war »zum Glauben ungläubiger Juden« geworden.15 Als Begründer der modernen jüdischen Historiografie gilt an erster Stelle Heinrich Graetz (1817–1891) mit seinem ab 1853 erschienen elfbändigen Opus magnum­ Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart.16 Es waren diese wissenschaftlichen wie auch lebensweltlichen Veränderungen in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts, auf die auch Samson Raphael Hirsch reagierte. 1808 in Hamburg geboren, war der Großvater Isaac Breuers zuerst in Oldenburg, Emden und Nikolsburg als Rabbiner tätig, um schließlich 1851 die neugegründete Israelitische Religionsgesellschaft in Frankfurt am Main zu übernehmen, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1888 wirkte. Die von ihm in Frankfurt in Abkehr von der liberal geprägten Einheitsgemeinde etablierte Austrittsgemeinde entsprach seinen Überzeugungen einer an den Fragen der Zeit orientierten Orthodoxie.17 Die so genannte Neo-Orthodoxie konnte schließlich 1876 durch das »Gesetz über den Austritt aus der Synagoge« in Preußen rechtlich abgesichert und formalisiert werden.18 Diese von Hirsch begründete Strömung im Judentum stand zwischen den Fronten von Reform und Orthodoxie – gleichsam zwischen Geschichte und Gesetz. Während die traditionelle Orthodoxie sich der Moderne weitgehend verschloss, verfolgten mehrheitlich liberale Reformer eine Dynamisierung und Anpassung des Judentums an die moderne Lebenswelt. Sie waren im Großen und Ganzen davon ausgegangen, dass sich das Judentum in 14 Reinhart Koselleck, Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, 647–691. 15 Yosef Hayim Yerushalmi, Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1996, 92. 16 Siehe dazu etwa Michael Brenner, Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006, 82. 17 Mit der Begründung dieser neuen Strömung ging eine tiefgreifende Auseinandersetzung innerhalb der deutsch-jüdischen Orthodoxie einher, die als Austrittsstreit bekannt wurde. Zum Disput zwischen Seligmann Bär Bamberger und Hirsch siehe Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem, 144–150. 18 Ebd., 144.

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einem historischen Prozess verändere. Die Neo-Orthodoxie, wie Hirsch sie begründete, stand zwar der traditionellen Orthodoxie näher als beispielsweise dem radikalen Reformer Abraham Geiger, aber vermittels der postulierten Öffnung hin zur modernen Lebenswelt blieben auch für Samson Raphael Hirsch Neuerungen insbesondere in der religiösen Praxis nicht aus. Der von ihm gegründeten Austrittsgemeinde fühlten sich also diejenigen verbunden, die im Rahmen der modernen Lebenswelt die Treue zur Thora und eine an den Gesetzen orientierte Existenz aufrechterhalten wollten.19 Hirsch war unmittelbar durch das Denken der Zeit geprägt und zeigte sich offen gegenüber einzelnen Reformen, etwa wenn er sich für den Unterricht von Mädchen einsetzte oder auch als einer der ersten traditionellen Rabbiner einen Synagogenchor einführte. Für ihn selbst zählte abgesehen von der unangefochtenen Geltung von Thora und Talmud auch ein weltliches Bildungsideal.20 Seine Studien widmeten sich – neben den Quellen der jüdischen Tradition – vor allem der Philosophie Immanuel Kants oder auch den Schriften Goethes und Schillers.21 Somit setzte er das Judentum und die moderne Welt insgesamt in ein zwar separates, aber dennoch notwendiges Verhältnis zueinander und suchte damit die Fragen seiner eigenen Zeit einzufangen. »[S]ich selbst begreifendes Judentum!«22 wurde die von ihm aufgebrachte – an den deutschen Idealismus gemahnende – zentrale Forderung, die sich dem Prinzip thora im derech erez verpflichtet sah, in dem die angestrebte Verbindung von orthodox interpretierter jüdischer Lehre mit Elementen der weltlichen Bildung fundiert war.23 Diese Aushandlungsprozesse fanden in Hirschs Werk Abbildung. Unter dem Pseudonym Ben Usiel hatte er mit dieser Absicht bereits 1836 Neunzehn Briefe veröffentlicht, die den jungen Heinrich Graetz so sehr beeindruckten, dass er daraufhin drei Jahre bei Hirsch lernte, bevor er sich schließlich von ihm ab- und der jüdischen Geschichtsschreibung zuwandte. Hirschs Erstlingsschrift war als fiktiver Briefwechsel konzipiert. Es korrespondieren hier Benjamin, der Zweifler, der die Fragen der Moderne an das Judentum heranträgt, und Naphtali, der Gottesfürchtige, der diese beantwortet. Als Ausgangspunkt hatte Hirsch bezeichnenderweise die Frage nach der Bestimmung des Menschen gewählt und von hier aus die Gültigkeit der jüdischen Lehre in der Moderne auszutarieren versucht.24 Im 19 Siehe zur Einführung Morgenstern, Neo-Orthodoxie, 341. 20 Siehe Roland Tasch, Samson Raphael Hirsch. Jüdische Erfahrungswelten im historischen Kontext, Berlin 2011,166. 21 Zu den verschiedenen Prägungen von Hirsch wie auch zur diesbezüglichen Forschungsdiskussion siehe ebd., 15. 22 Ben Usiel [Samson Raphael Hirsch], Neunzehn Briefe über Judenthum, Altona 1836, 100. 23 Die Formel ist dem talmudischen Traktat Pirke Avot entnommen. Vgl. Morgenstern, Neo-Orthodoxie, 341. 24 Vgl. Dan Diner, Über das Menschsein, in: Detlev Ganten u. a. (Hgg.), Was ist der Mensch?, Berlin/New York 2008, 40–44.

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zweiten Brief, der zugleich das erste Antwortschreiben darstellt, formulierte der Verfasser im Namen Naphtalis einen »Eintritt in die Geschichte«, beharrte aber auf der Begründung dieser geschichtsphilosophisch interpretierbaren Formel aus den sakralen Quellen.25 Demnach sei das Judentum zwar in die Geschichte eingetreten, vermittels der göttlichen Offenbarung aber eben nicht vollends den Bewegungen der Weltgeschichte unterworfen. So müsse auf der einen Seite der höchste Zweck im Judentum immer Gottes Wille bleiben, denn »durch dieses Volkes Geschick und That [wird] die Lehre über Gott und Menschenberuf unmittelbar zur Anschauung gebracht«.26 Auf der anderen Seite solle »die Menschheit« aber »mittelbar durch Geschichtserfahrung« an Gottes Willen »heranerzogen werden«.27 Damit eröffnete Hirsch letztlich auch eine Perspektive auf die Geltung der jüdischen Tradition als ethischen Maßstab für den Fortschrittsbegriff vom »Sein und Sollen« der Völker.28 Geschichtsphilosophische Motive finden sich im Werk von Hirsch jedoch eher angedeutet als systematisch ausgeführt, und seine Vorstellung von Geschichte blieb konstitutiv mit der sakralen Zeit verbunden. So unterstrich er in Neunzehn Briefe, dass im Judentum die »Stimmen« des Anfangs gehört werden müssten, »die dieses Volkes Bestimmung [anzeigten], für die und zu der es eintrat in die Geschichte, und mit ihr sein Geschick«.29 Dies war keine Abwehr der Verhandlung jüdischer Geschichte überhaupt. Aber die als von Gott gegeben betrachteten Quellen, Thora und Talmud, sollten für Hirsch der unhinterfragbare Ausgangspunkt im Judentum bleiben, das Gesetz nicht zum Gegenstand bloßer historischer Untersuchung werden und damit seine uneingeschränkte Gültigkeit bewahren. Es war diese Selbstabschließung gegen eine Historisierung der sakral aufgefassten Quellen, die letztlich auch den Bruch mit Heinrich G ­ raetz herbeiführte. 1854 veröffentlichte Hirsch erstmals das Periodikum Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule. Im Prospectus zur ersten Ausgabe, datiert auf September 1854, wurden die Aufgaben, die sich die Zeitschrift stellte, programmatisch zusammengefasst: »Belehrung zur Erkenntnis und richtigen Würdigung der Institutionen des Juden­ thums und seiner Anforderungen einerseits, prüfender Einblick in die wirkliche Lösung dieser jüdischen Aufgabe in der Gegenwart zur Erkenntnis vorhandener Mängel und ihrer Abhülfe andererseits«.30 Im selben Jahr setzte sich Hirsch in Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt explizit mit dem Begriff des »Fortschritts« 25 Hirsch, Neunzehn Briefe, 7. 26 Ebd., 36. 27 Ebd. 28 Ebd., 7. 29 Ebd. 30 [Wahrscheinlich Samson Raphael Hirsch], Prospectus, in: Jeschurun. Ein Monatsblatt zur Förderung jüdischen Geistes und jüdischen Lebens in Haus, Gemeinde und Schule 1 (1854/55), H. 1, 4 Seiten ohne Paginierung, hier [3].

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und damit zugleich auch mit der Geschichte selbst auseinander, wie sie im 19. Jahrhundert vorgestellt wurde und in der Reformbewegung ihren Niederschlag fand. Den Text veröffentlichte er separat und ebenfalls ohne seinen Namen zu nennen, doch mit der Unterzeile »von einem Schwarzen« gab er seine Sprecherposition als gesetzestreuer Jude zu erkennen.31 Er antwortete damit auf eine Broschüre, mit der, in den Worten Hirschs, eine »neue Heilsoffenbarung« suggeriert werde, gegen die sich der Verfasser der Replik nun richten wolle.32 Hirsch versuchte zu explizieren, was seine eigene Auffassung von jener der »Reformer« unterscheide und konstatierte: »Sie wollen die Religion im Bunde mit dem Fortschritte – und wir haben gesehen, wie dieses Prinzip von vorn herein [sic] die göttliche Wahrhaftigkeit dessen, was sie Religion nennen, negirt [sic] – wir aber wollen den Fortschritt im Bunde mit der Religion.«33 Während seinen Kontrahenten der »Fortschritt« das Maßgebliche sei, durch das die »Religion« bedingt werde, sei ihnen die »Religion« das Erste und der »Fortschritt« durch sie bedingt.34 Der Verfasser schloss mit den kämpferischen Worten: »Bei Philippi sehen wir uns wieder.«35 In seinem Werk wandte sich Hirsch insgesamt gegen die fortschreitende Verwandlung des Judentums in eine konfessionalisierte Religionsgruppe und setzte sich für die Bewahrung des Gesetzes ein. »›Religion‹ nennt man die Thora, jüdische Religion; […] konnte man einen ehrwürdigern, heiligern [sic] Namen für die Thora finden?«, schrieb der Repräsentant der Neo-Orthodoxie 1855 in seinen Betrachtungen des jüdischen Kalenderjahres zum Monat Siwan in der Zeitschrift Jeschurun: »Und doch hat man mit diesem Namen das Wesen der Thora getödtet [sic].«36 Nachgerade apodiktisch stellte er gegenüber dieser als geschichtsphilosophisches Verdikt begriffenen Ansicht auf das jüdische Gesetz fest, dass die Thora »von vornherein ihren außermenschlichen Ursprung dokumentiert, die […] keine Entwicklung und keine Geschichte hat, deren Volk vielmehr allein eine Geschichte hat und dessen Geschichte eben nichts anderes ist, als die fortgesetzte Erziehung zu der unwandelbar ewigen Höhe dieser Thora«.37 Nur vier Monate später wurde der erste Teil seiner in zwölf Artikel aufgeteilten Besprechung des 1853 erschienenen vierten Bands der Geschichte der Juden von Heinrich Graetz veröffentlicht.38 Hirsch machte seinem ehemaligen Schüler 31 [Samson Raphael Hirsch], Die Religion im Bunde mit dem Fortschritt, Frankfurt a. M. 1854. 32 Ebd., 3. 33 Ebd., 15. 34 Vgl. ebd. 35 Ebd., 41. 36 Samson Raphael Hirsch, Siwan, in: Werke, Bd. 2, 70–113, hier 83 (Hervorhebung im Original gesperrt). 37 Ebd., 85 (Hervorhebung im Original gesperrt). 38 In der Werkausgabe von Hirsch umfassten diese insgesamt fast 200 Seiten: Samson Raphael Hirsch, Geschichte der Juden, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von Naphtali Hirsch, Frankfurt a. M. 1910, 318–509.

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darin den Vorwurf, sich dem anzubiedern, was als »Wissenschaftlichkeit« bezeichnet werde.39 Schlimmer noch: Graetz sehe in den rabbinischen Autoritäten nicht Träger, sondern Schöpfer der Tradition.40 Er habe die Zeit der Entstehung des Talmud auf ihre politisch-historischen Umstände zurückführen wollen und sie damit, auch wenn Hirsch das so nicht benannte, versucht zu historisieren. Der frühere Lehrer warf dem Historiker im letzten Teil seiner Besprechung vor, dass er es nicht habe unterlassen können, »Sätze […], die als integrierende Bestandteile des göttlichen Gesetzes und in seinem Inhalt nachgewiesen überliefert sind, als aus dem politischen Drange der Zeiten resultiert zu lehren«.41 So nimmt es nicht Wunder, dass das primäre Anliegen von Hirsch auf Bildung und Erziehung im Sinne eines gesetzestreuen Judentums gerichtet war. Zwar war Hirsch mit dieser Praxis letztlich selbst den aufklärerischen Traditionen des beginnenden 19. Jahrhunderts verpflichtet, an jener Schwelle verweigerte er sich aber der sich Bahn brechenden Säkularisierung. Hirschs Haltung schlug sich zuletzt in seiner Vorstellung von einem künftigen jüdischen Staat nieder, der auf der Grundlage der jüdischen Gesetze stehen solle. Während er einen solchen im Hinblick auf das Ende der Zeiten avisierte, ging er jedoch bereits vor der Entstehung der zionistischen Bewegung davon aus, dass ein Staat nicht unmittelbar durch politisches Engagement herbeigeführt werden könne: »Eine Zukunft, die als Ziel des Goluß gesteckt, verheißen ist,« schrieb er in den Neunzehn Briefen über seine Vorstellungen eines prospektiven Gemeinwesens, »aber ja nicht thätig von uns gefördert werden darf, nur erhofft; und zu der wir erzogen werden«.42 Mehr als ein halbes Jahrhundert später sollte nun Isaac Breuer an die Grundposition seines Vorfahren anknüpfen und ihr im Spiegel seiner Zeit zugleich eine neue Richtung geben: Geschichte und Gesetz sollten sich zusehends weniger als unvereinbar gegenüberstehen. Im veränderten historischen Kontext begann Breuer die Rolle des gesetzestreuen Judentums geschichtsphilosophisch zu deuten. Was der Enkel Hirschs in gezielter Abgrenzung zur Wissenschaft des Judentums in den Jahren des Ersten Weltkriegs entfaltete, wurde schließlich zu einer eigenen jüdischen Geschichtsvorstellung, die er dennoch in der Tradition seines Großvaters verortete. Denn nicht die historische Forschung war es, die Breuer interessierte, sondern eine Sinnstruktur, eine Art Fingerzeig Gottes in der Geschichte, die er zuvorderst in der jüdischen Lehre fand. Statt einer Rekonstruktion historischer Fakten bemühte er eine geschichtsphilosophisch geprägte Interpretation der jüdischen Prophetie. In seiner Autobiografie formulierte er entsprechend pointiert: »In höchst bedeutsamer Weise ergänzen sich also Talmud und

39 Ebd., 321. 40 Vgl. ebd., 322. 41 Ebd., 495. 42 Hirsch, Neunzehn Briefe, 79.

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Geschichte.«43 Damit sind in nuce die Achsen angezeigt, in deren Spannungsfeld sich das Denken Breuers bewegte. Zwar orientierte er sich an den Ansichten Hirschs, ließ sogar seine Autobiografie mit einem Rückblick auf dessen Wirken beginnen, aber die Geschichte als Reflexionsmedium, das in eine Spannung zu einem sakral verstandenen Sinnhorizont geraten kann, nahm einen wesentlich konstitutiveren Bestandteil seines Denkens ein als es noch im Werk des Großvaters der Fall war. Hatte der Ältere den »Mensch-Israel«44 als Bildungsideal, das zugleich im Sinne eines thoratreuen Judentums wie auch allgemein anthropologisch verstanden werden konnte, ins Zentrum seiner Reflexion gestellt und die Moderne allein als dessen notwendigen Wirkungsraum akzeptiert, so suchte der Jüngere diese Auffassung in seine eigene Zeit zu übertragen.

Messianismus und Weltfrieden »Mir hat der Krieg von der ersten Stunde an die von den Propheten Israels insgesamt verkündete jüdische Geschichtstheorie in solch eindringlicher Weise illustriert und damit aktualisiert,« schrieb Isaac Breuer in seiner Autobiografie Mein Weg über den Ersten Weltkrieg, »daß ich mich ihrem Banne fürderhin nicht mehr entziehen konnte und alles Geschehene zu ihr in Beziehung setzen mußte.«45 Die Zäsur des »Großen Krieges« führte zu einer Vielzahl von Erosionen und Veränderungen bisheriger Geschichtsvorstellungen. Insbesondere die für das 19.  Jahrhundert gültige Vorstellung eines Fortschritts der Menschheit wurde durch die katastrophischen Ereignisse der beispiellos gewaltsamen Kriegsführung radikal in Zweifel gezogen. So sah etwa Karl Kraus Die letzten Tage der Menschheit gekommen, und Ernst Troeltsch diagnostizierte die Krisis des Historismus.46 Mit seiner 1918 erschienenen Schrift Messiasspuren sollte auch Isaac 43 Breuer, Mein Weg, 42. 44 Siehe dazu etwa Tasch, Samson Raphael Hirsch, 9; Morgenstern, Von Frankfurt nach Jerusalem, 169. 45 Breuer, Mein Weg, 106. 46 Kraus verfasste das Stück in den Jahren 1915 bis 1922; Troeltsch veröffentlichte seinen entsprechenden Artikel 1922. Siehe Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien/Leipzig 1922 und Ernst Troeltsch, Krisis des Historismus, in: Die neue Rundschau 33 (1922), 572–590. Auch Franz Rosenzweig veröffentlichte im Angesicht dieser Erfahrung 1921 seine Schrift Der Stern der Erlösung, in der sich gewisse Affinitäten zu den Geschichtsreflexionen Breuers ausmachen lassen. Siehe Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt a. M. 1921. Zu den Parallelen im Denken von Breuer und Rosenzweig siehe David N. Myers, Resisting History. Historicism and its Discontents in GermanJewish Thought, Princeton, N. J., 2003; Rivka Horwitz, Exile and Redemption in the Thoughts of Isaac Breuer, in: Tradition. A Journal of Orthodox Thought 26 (1992), H. 2, 77–98; Josef R. Lawitschka, Metageschichte. Jüdische Geschichtskonzeptionen im frühen 20. Jahrhundert. Franz Rosenzweig, Isaac Breuer und das Echo, unveröff. Diss., Freie Universität Berlin 1996.

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Die Synagoge an der Friedberger Anlage in Frankfurt am Main (Aufnahme um 1910), langjährige Wirkungsstätte von Isaac Breuer.

Breuer auf diese Erfahrung reagieren, indem er in eindrucksvoller Form die Geschichtsphilosophie Immanuel Kants mit einer endzeitlichen Deutung jüdischer messianischer Erwartungshaltung verschmelzen ließ. Bereits seit 1914 hatte Breuer das Kriegsgeschehen in den Jüdischen Monatsheften verfolgt, kommentiert und in seiner historischen Bedeutung interpretiert.47 Von 1915 bis 1918 war er, wenn auch nicht an der Front,48 so doch mittelbar ins Geschehen involviert: »Von der ersten Stunde an habe ich den Krieg geschichtlich erlebt. Von April 1915 bis zum Ende des Kriegs war ich eingezogen, blieb jedoch vom Felddienst wegen starker Kurzsichtigkeit verschont«, erinnerte sich Breuer in Mein Weg an die Jahre des Kriegs.49 Im Gegensatz zu vielen seiner 47 Vgl. Breuer, Mein Weg, 106. Von 1914 bis 1918 veröffentlichte Breuer diverse Artikel in den Jüdischen Monatsheften, diese hatten bezeichnende Titel wie etwa Friedenskrieg (1914), Die deutsche Orthodoxie im Jahre des Weltkriegs (1915), Die Opfer des Krieges (1915), Die Wurzel des Krieges (1916), Neuorientierung des deutschen Judentums (1917) und Die Mobilmachung des Judentums (1918). 48 Breuer verfasste in den Kriegsjahren ein Tagebuch, das er unter den Titel Ich und der Krieg stellte, aber unveröffentlicht ließ. Darin zeigte er sich laut Rivka Horwitz als ein »German humanist«, dem der Krieg als »absolute evil« erschien. Rivka Horwitz, Voices of Opposition to the First World War Among Jewish Thinkers, in: Leo Baeck Institute Year Book 33 (1988), ­233–259, hier 242 f. 49 Breuer, Mein Weg, 105. Ein weiterer Repräsentant des orthodoxen Judentums in Deutschland, Jakob Rosenheim, berichtete dazu in seinen Erinnerungen: »Es fehlte auch nicht an jüdisch-orthodoxen Kriegsfreiwilligen in unserem Kreise, für die der Krieg gegen das zaristische,

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Zeitgenossen hatte er sich aber schon von Beginn an nicht für den Krieg begeistert und bereits im Herbst 1914 einen kurzen, aber programmatischen Text mit dem Titel Friedenskrieg verfasst: »[W]ir, das Volk der Dichter und Denker,« hieß es hier, »das Volk Kants und Goethes nicht minder wie das Volk des Moses und des Jesajah, [wollen] mit doppelter Eindringlichkeit die ewige Forderung […] uns vor Augen halten: Es soll kein Krieg sein!«50 An dieses Postulat anknüpfend, sah Breuer den Ersten Weltkrieg als vom Verschwinden der Menschheit in der gewaltförmigen Geschichte der Nationen gekennzeichnet. So stellte er 1915 programmatisch fest: »Die Menschheit hat Schiffbruch erlitten. In unerhörtem Hass sind die Menschheitvölker [sic] auseinander gestoben. Die Idee der Menschheit, diese ureigenste Idee des Judentums, und die daraus sich ergebende Forderung der Staatenverbrüderung, gilt es von Neuem aufzurichten«.51 Breuers Grundlegung des Menschheitsbegriffs im Judentum mochte einer Wiederaneignung des zuerst vom Christentum und anschließend von der Geschichtsphilosophie vereinnahmten Begriffs entsprochen haben. Darüber hinaus deutete er aber auch die philosophisch interpretierte Geschichte nicht als unmittelbare Menschheitsgeschichte, sondern als Völkergeschichte, durch die hindurch der universalistische Topos wieder seine Entfaltung finden müsse. Denn einerseits sei die »Souveränität […] von Gott über die Menschheit an die Nationen übergegangen«, wie Breuer 1918 in Messiasspuren diagnostizierte, andererseits erkannte er in den Nationen zugleich die »legitimen Kinder der Menschheit«, ohne die »die Menschheit unfruchtbar« sei.52 Die universalistische Idee nahm für den Verfasser eine Mittlerposition zwischen Gott und den Nationen ein, wenn er anschließend herausstellte: »Die Menschheit sucht ihren Vater, und die Menschheit sucht ihre Kinder. Ihre Kinder will sie ihrem Vater zuführen.«53 Die von Breuer nachgerade als Agens vorgestellte Menschheit sollte demnach durch eine friedvolle Ver­bindung der Nationen letztlich zu ihrer Geltung kommen. Mit der Folgerung, dass sich aus dem Begriff der Menschheit eine Staatenverbrüderung ableiten ließe, trat auch die Kantische Philosophie in Erscheinung, die konstitutiver Bestandteil seiner Schrift von 1918 war. In Erweiterung der postulierten Verbindung von Menschheit und Nationen entfaltete Breuer in Messiasspuren eine sakrale Interpretation jüdischer Kollekantijüdische Rußland, von allem Patriotismus abgesehen eine Ehrenpflicht war. Dazu gehörte z. B. auch mein junger Freund und literarischer Gegner, Isaac Breuer, der stolz darauf war, an einer Brücke bei Frankfurt als militärischer Wachposten zu stehen.« Jakob Rosenheim, Erinnerungen 1870–1920, Frankfurt a. M. 1970, 140. 50 Isaac Breuer, Friedenskrieg, in: Jüdische Monatshefte 1 (1914), H. 10, 345–347, hier 346 (Hervorhebung im Original gesperrt). 51 Ders., Rückblick und Ausblick, in: Jüdische Monatshefte 2 (1915), H. 8/9, 302–307, hier 305 (Hervorhebung im Original gesperrt). 52 Ders., Messiasspuren, Frankfurt a. M. 1918, 15 f. 53 Ebd., 16.

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tivität mit philosophischem Instrument: eine Anrufung endzeitlicher MessiasHoffnungen und einen Rückgang in die Geschichtsphilosophie Immanuel Kants. Breuer sah im Denken des Königsberger Philosophen ein Portal ins Judentum, wenn er noch in Mein Weg betonte, dass die grundlegenden Begriffe seiner späteren Geschichtsvorstellung darin angezeigt seien: »Das menschliche Bewußtsein als Schnittpunkt von Sein und Sollen – der Mensch als Bürger zweier Welten – das Reich naturhaften Begehrens, naturhafter Tat, und das Reich reinen Wollens, freier Tat – des Menschen empirischer und intelligibler Charakter«.54 Die zentrale Denkfigur, die Breuer vertrat, war die einer doppelten Geschichtsvorstellung. Auf der einen Ebene sah er die ihn umgebenden katastrophischen Ereignisse der Völkergeschichte, die er als Bereich des Seins begriff. Auf einer anderen Ebene situierte er die Geschichte des jüdischen Kollektivs, das durch die Zerstreuung keine weltgeschichtliche Repräsentanz im Sinne eines Nationalstaats innehatte, im Bereich des Sollens. Kant hatte diese Sphäre des unbedingten Sollens als eine beschrieben, in der die moralisch-interpretierte Figuration des Menschen als Ding-an-sich ihren Ort habe; analog dazu verortete Breuer das auch geschichtsphilosophisch verstandene jüdische Kollektiv als noch nicht (wieder-)verwirklichte Nation in dieser Sphäre. Zugleich hatte Kant im Ausgang des 18. Jahrhunderts eine teleologische Vorstellung entfaltet, nach der der Endzweck des Geschehens im Menschengeschlecht liege und im Rahmen seiner politischen Philosophie eine anzustrebende internationale Ordnung entworfen, die »[z]um ewigen Frieden« (1795) führen sollte. Kein Weltstaat, sondern ein Staatenbund schwebte ihm als Ziel vor. 120 Jahre später nahm Isaac Breuer auch diese Vorstellung wieder auf und setzte seine Hoffnung in den sich im Ausgang des Ersten Weltkriegs etablierenden Völkerbund. Der Jurist rekurrierte damit implizit auf seine Profession, da nun völkerrechtliche Überlegungen Eingang in seine geschichtsphilosophisch geprägte Interpretation des – noch nicht in die Völkergeschichte eingetretenen – jüdischen Kollektivs erhielten und er diese zugleich durch eine sakrale Dimension erweiterte. Kreisten seine Gedanken 1918 um die Begriffe von Souveränität, Nation und Recht, so kam ihnen zugleich ein Doppelcharakter zu: Sie eigneten ebenso die profane Semantik der Völkergeschichte wie die sakrale Semantik der jüdischen Nation. Eine Verbindung dieser Bedeutungsebenen wurde von ihm im Bereich des Endgeschichtlichen situiert, denn seine Vorstellung einer an­ zustrebenden jüdischen Nation blieb mit dem universalistischen Gedanken verbunden: »Die jüdische Nation entsteht nicht im Gegensatz zur Menschheit. Die jüdische Nation muß entstehen, weil den Nationen der Erde die Menschheit verloren gegangen.«55 So lag das vorgestellte Ziel der Geschichte für Breuer in der messianisch aufgefassten Nation, deren Verwirklichung er durch ein Mandat des 54 Breuer, Mein Weg, 61. 55 Ders., Messiasspuren, 20.

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Völkerbunds sich anbahnen sah, das wiederum mit der Etablierung eines Staatenbunds ermöglicht werden sollte. 1918 prognostizierte er, dass »der Stern des Menschheitrechts« damit im Aufgehen begriffen sei.56 Der Verfasser der Messias­ spuren vertrat am Ende des Ersten Weltkriegs eine zweidimensionale Vorstellung vom Ende der Zeiten: Durch die Nationen in der Verbrüderung eines ewigen Friedens solle die Idee der Menschheit wieder zur Geltung kommen und der im Entstehen begriffene Völkerbund wurde für Breuer zugleich zum Zeichen, dass sich das jüdische Kollektiv der Völkergeschichte annähere. So sehr sein sakral geprägtes Denken mit der Weltgeschichte konvergierte, so weit war Breuer auf Distanz zum politischen Zionismus gegangen. Kurz vor den Messiasspuren veröffentlichte er 1918 noch eine andere Schrift unter dem Titel Judenproblem, in der die Spannung zwischen sakraler und profaner Dimension seiner Erwartungshaltung bereits zum Ausdruck kam. Sie beinhaltete eine Kritik am Zionismus und am Reformjudentum, sowie – auf anderer Ebene – auch eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und der deutschen Rassenideologie. Vermittels der Reflexion auf die Geschichte der Nationen kritisierte er die vermeintlich überzeitlich gültige Ideologie der »Rasse« und richtete dagegen den geschichtlichen Sinn des Judentums. Breuer prognostizierte in Judenproblem abschließend gegen die zionistische Vorstellung eines jüdischen Staates gerichtet: »Wird der kommende Weltfriedenskongreß sich mit der jüdischen Nation befassen wollen, so wird er sich angelegen sein lassen müssen, die wahre Stimme der jüdischen Nation zu vernehmen. Aus ihrer Geschichte spricht sie.« Denn nicht auf eine »Nation« im modernen Verständnis, sondern auf eine von Gott gewollte richtete Breuer seine Hoffnung und schloss den Text mit einem Diktum, das zu seiner zweiten Schrift des Jahres 1918 überleitete: »Zwei Weis­ sagungen leben im Herzen der jüdischen Nation.« Die erste – aktive – sei auf die Herbeiführung des Messias vor seiner Zeit durch den »Verdienst der Nation« gerichtet, »in deren Mitte das Gottesgesetz blüht«. Damit wandte sich Breuer an die deutsche Orthodoxie und spielte letztlich auf sein eigenes Engagement in der Agudat Jisra‘el an. Die zweite bestehe in einer  – passiven  – Hoffnung in auswegloser Situation, in der der Messias »als letzte Hilfe« erwartet werde, »wenn das Gottesgesetz im Begriffe steht, der Vergessenheit anheimzufallen«.57 Nicht die Ankunft des Messias an sich, sondern deren Grund stand für Breuer also zur Disposition, wenn er anschließend proklamierte: »Der Weltkrieg bringt die Entscheidung.«58 Während die Schrift Judenproblem sonst stärker auf die politischen Umstände konzentriert war, klang in diesen letzten Worten das Programm der Messiasspuren an. So sah der Enkel Samson Raphael Hirschs den Krieg zuletzt als Anbahnung der messianischen Entscheidung, wenn er in jener 56 Ebd., 84. 57 Alle Zitate hier Isaac Breuer, Judenproblem, Halle (Saale) 1918, 92. 58 Ebd.

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zweiten Publikation des Jahres 1918 diagnostizierte: »In den Moderduft des europäischen Leichenfeldes mischt sich messianischer Hauch: Erlösung der Menschheit, der Einzelnen wie der Nationen, durch den ewigen Friedensbund freier Völker!«59 Deutete er den Weltkrieg insgesamt als Entscheidungszeit, die sich dem ewigen Friedenszustand und mehr noch: der Errichtung einer jüdischen Nation in seinem eignen Verständnis nähern könne,60 so verband er diese Hoffnung mit einem »Programm des Messianismus,« das er in einer Ankündigung zu den Messias­spuren auf den Punkt brachte: »Der Messianismus erstrebt die Bereitstellung der jüdischen Nation und des jüdischen Landes für ihre Wieder­vereinigung unter der Herrschaft Gottes. Seines Rechtes und Seines [sic] Gesalbten nach prophe­tischer Verheißung.«61 Diese Agenda versuchte Breuer in der Agudat Jisra’el durchzusetzen. Sein Versuch misslang.

Verfangen in der Geschichte »Die Erwartung, die ich mit dem Weltkrieg verbunden hatte, er werde die deutschen Juden, im besonderen [sic] die orthodoxen deutschen Juden, nachhaltig und endgültig zu geschichtlichem Leben wachrütteln, hat sich nicht erfüllt«,62 rekapitulierte Breuer 1933 in einem Artikel mit dem richtungsweisenden Titel Zeitenwende das Scheitern der von ihm anfänglich noch als nahe bevorstehend ausgemachten »nationalen Emanzipation«.63 Es war ein Scheitern, mit dem er das Ende einer ganzen Epoche gekommen sah. Der Nationalsozialismus und der mit ihm verbundene Rechtsverlust der deutschen Juden wurden ihm gleichsam zum Anlass eines historischen Resümees, in dem er erneut auf die Zeit der rechtlichen Gleichstellung zurückblickte und die Frage aufwarf, ob die Schriften von Samson Raphael Hirsch nach dem 19.  Jahrhundert ihre Gültigkeit bewahrt hätten. Jetzt waren sie zum Zeugnis einer Zeit der Emanzipation geworden, deren Ende Breuer mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten konstatieren musste. »Wir Heutigen wissen, daß der Einbruch von Natur und Geschichte in die jüdische Gasse, wie Rabb. [sic] Hirsch ihn erlebte, keine Episode und noch weniger ein lediglich deutsch-jüdisches Ereignis war«, diagnostizierte Breuer entsprechend im Frühjahr 1936 in Hundert Jahre »19 Briefe«, einem Text, der dem Andenken seines Großvaters zugedacht war: »Wir Heutigen wissen, daß das Volk der Thora aus jahrhundertelanger Isolierung mit immer noch wachsender Gewalt 59 Breuer, Messiasspuren, 8 (Hervorhebung im Original gesperrt). 60 Vgl. ebd., 20. 61 Breuer, Messiasspuren. Eine Selbstanzeige, in: Jüdische Monatshefte 5 (1918), H.  12, ­358–362, hier 359. 62 Ders., Zeitenwende, in: Nahalat Zwi 3 (1932/33), H. 10/11, 334–339, hier 335. 63 Ebd., 337.

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in N ­ atur und Geschichte hineingerissen wird«.64 Zwar hatte die zunehmende Verschlechterung der Situation der deutschen Judenheiten seit der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten Breuer 1934 noch dazu veranlasst, ein »Zurück in die Geschichte« zu fordern.65 Dem von ihm anvisierten Ziel der Einrichtung eines Gottesstaates im verheißenen Land entsprach indes kein weltgeschichtlicher Erwartungshorizont mehr. »Zurück in die Geschichte« bedeutete nun vielmehr, das jüdische Kollektiv aus der passiven Position eines bloßen Objekts der Gewaltgeschichte zu befreien und zum geschichtlich-handlungsfähigen Akteur zu erheben.66 Selbst ausgestoßen aus seiner Umwelt, war Breuers postulierte Rückkehrbewegung zwar auf die Geschichte der Juden gerichtet, aber wenn er bereits in Zeitenwende schrieb, dass der »totale Staat […] Deutschlands Juden […] aus deutscher Geschichte aus[schließt], ohne daß sie in jüdischer Geschichte Wurzel gefaßt haben«, zeigte sich ein reaktives Moment seines Postulats und nahm nachgerade seinen eigenen Weg nach Palästina vorweg.67 Es war das Resultat eines historischen Prozesses und letztlich ein Rückzug auf sich selbst. Auch im begrifflichen System Breuers hatten diese historischen Entwicklungen ihren Niederschlag gefunden – als zunehmende Aufspaltung der vor­malig erhofften Verschmelzung von geschichtsphilosophischem Erwartungs­horizont und messianischen Endzeitvorstellungen, die sich insbesondere in seiner Verabschiedung von dem zuvor erwarteten Weltfriedenszustand Ausdruck verschaffte. Hatte er im Ausgang des Ersten Weltkriegs die Völkergeschichte, die im Bereich des Seins ablaufe, von der jüdischen, die im Bereich des Sollens situiert sei, separat gesehen und ein Aufeinandertreffen der beiden Sphären im »ewigen ­Frieden« erwartet, veränderte er in den 1930er Jahren seine Terminologie.68 Aus dem Bereich des Sollens wurde derjenige der Metageschichte der jüdischen Nation, und aus dem des Seins die profane Geschichte der Nationen. Beide Bereiche standen sich nunmehr unvermittelt gegenüber. Die Situation der deutschen Juden, die wachsende Einschränkung ihrer Rechte und die damit einhergehende zunehmende Bedrohungslage ließen Breuer verstärkt die Sinnlosigkeit der sich vollzie 64 Isaac Breuer, Hundert Jahre »19 Briefe«, in: Nahalat Zwi 6 (1936), H.  4/5/6, 113–128, hier 125. 65 Ders., Zurück in die Geschichte, in: Nahalat Zwi 4 (1933/34), H. 9/10, 228–236. Denis Maier stellt als Grund für eine Veränderung von Breuers Geschichtsbild und damit letztlich auch für diese Forderung seine Reise im Winter 1933/1934 nach Palästina heraus. Vgl. Maier, Isaac Breuer (1883–1946), 171. 66 Vgl. Breuer, Weltwende, 111. 67 Ders., Zeitenwende, 335. 68 So stellte er nachgerade definitorisch 1932 in Der neue Kusari fest: »Nicht Meta-­Physik, sondern Meta-Geschichte. […] Für die Erkenntnis des Menschen ist daher die Geschichte genau das, was für die Erkenntnis der Dinge die Natur ist.« Der Begriff der Metageschichte tritt jenseits davon erst in den Jahren nach seiner Emigration in den Vordergrund. Siehe Isaac Breuer, Der neue Kusari (11.  Fortsetzung), in: Nahalat Zwi 2 (1931/32), H.  7/8, 239–253, hier 243.

Spuren der Geschichte im Werk Isaac Breuers

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henden Geschichte reflektieren.69 Die ehedem erhoffte weltgeschichtliche Entsprechung des sakralen Sinnzusammenhangs blieb der zentrale Bezugspunkt, aber nun in gefährdeter Position und nicht mehr in der Formation, die er im Ausgang des Ersten Weltkriegs sich hatte anbahnen sehen. Während der Verfasser der Messiasspuren 1918 noch die Hoffnung in einen gleichermaßen göttlich-gewiesenen wie weltlichen Friedenszustand mit dem Völkerbund gesetzt hatte, war dieser Optimismus in den ausgehenden 1930er Jahren verschwunden. »Immer klarer erweist es sich, daß dem Weltkrieg kein Friede folgte; daß der Weltkrieg keine Episode, sondern Weltwende war; […] daß er die Völkergeschichte auf jene abschüssige Bahn trieb, an deren Ende die Selbstzertrümmerung des souveränen Nationalismus winkt,« so resümierte er in Weltwende seine Erfahrung der letzten Jahre: »Der überhitzte souveräne Nationalismus zerrt die jüdische Nation in seinen eigenen Weltzertrümmerungsprozeß und will sie zuvor noch  – zerreiben.«70 In diesem Text wurde »der Stern des Menschheitrechts« nicht mehr als im Aufgehen begriffen verstanden,71 sondern – im Gegenteil – die Menschheit selbst stellte sich nur noch als »unter den Fußtritten der Gewalt sich krümmende« und »verzweifelte« dar.72 Ganz vollständig wollte Breuer das Band zwischen Menschheitsgeschichte und jüdischem Gesetz aber dennoch nicht zerreißen lassen und hielt weiterhin auch an der endzeitlichen Deutung des Geschehens fest. So resümierte er: »Die fürchterliche Krise der jüdischen Nation und die fürchterliche Krise der Nationen sind wesensgleich. Beider Verbannungsgeschichte tritt in das entscheidende Stadium. Die Zeiten erfüllen sich …«73 Wenn die Metageschichte des Judentums und die Geschichte der Nationen zusammenträfen, dann könnte demnach noch in der Zeit existenzieller Not das Ende der Zeiten eingeleitet werden. So war es die Verzweiflung der drohenden Katastrophe gegenüber, die zu einer Verschiebung im Denken Breuers führte. Sein Blick auf das Geschehen war zwar von sakral-­ fundierter Hoffnung geprägt, die jedoch das Signum der Ausweglosigkeit trug. So konstatierte er in Weltwende: »Es gibt keine Flucht aus der Geschichte, denn sie reißt euch in ihren Wirbel.«74 Gerade aufgrund der drohenden Gefahr verstärkte Breuer deshalb seine Erwartung an einen jüdischen Staat: »Nur den Namen hat der jüdische Nationalismus mit dem heidnischen Nationalismus gemein. Zwischen beiden steht die Offenbarung des himmlischen Vaters als Gott der Geschichte, als Völkerkönig.«75 Jedoch fand er nach seiner Ankunft in Jerusalem nicht seine Vorstellung eines »jüdischen Nationalheims« realisiert, sondern die 69 Siehe etwa Breuer, Weltwende, 7, 18 und 33. 70 Ebd., 101. 71 Ders., Messiasspuren, 84 (wie Anm. 52). 72 Ders., Weltwende, 34 und 104. 73 Ebd., 68. 74 Ebd., 7. 75 Ebd., 18.

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zionistische: Statt eines Staates der Thora entwickelte sich hier eine moderne hebräische Nation. Noch 1942 würdigte Isaac Breuer die Wirkung von Samson Raphael Hirschs Denken in Zur Erinnerung an das deutsche Judentum: »Mit den ›19 Briefen‹ begann er die Reihe unvergänglicher Werke, deren Grundthema der Nationalismus der Thora, die Verbindung und die Auseinandersetzung zwischen Meta­ geschichte und Geschichte, deren Grundforderung der flammende Weckruf ans jüdische Volk bildet: Zurück in die Geschichte!«76 So wie Breuer keinen jüdischen Nationalstaat, sondern einen Gottesstaat anstrebte, so bewahrte auch dieses »Zurück« messianische Anklänge. Und doch unterlegte Breuer dem Denken von Samson Raphael Hirsch seine eigene, durch die historischen Geschehnisse geformte Position. Der Ältere hatte noch Fortschritt und Menschheit als selbstverständliche Topoi annehmen können und sich auf dieser Basis der Frage von jüdischer Erziehung und Bildung gewidmet. Für den Jüngeren dagegen war die Geschichte selbst zum existenziellen Grundproblem geworden und so ins Zentrum seiner Reflexion gerückt. Die Überlegungen Breuers kreisten nicht mehr um das Verhältnis von Judentum und Fortschritt – im Zeichen von dessen Scheitern thematisierten sie vielmehr den Sinn von Geschichte überhaupt. Hatte er die Wirkmacht historischer Ereignisse wiederholt verspürt, wurden nicht zuletzt durch diese Erfahrung seine Schriften sukzessive in einen geschichtsphilosophischen Modus überführt. Er wandte sich gerade aufgrund der Vorstellung, dass es kein Entrinnen aus der Geschichte gebe, der Frage nach dem Sinn des Geschehens zu. Während geschichtsphilosophische Interpretationen des Judentums vorrangig der Wissenschaft des Judentums zugerechnet wurden und werden, lag im Fall Breuers eine solche Deutung im Bereich der Neo-Orthodoxie vor, in der sich philosophische Motive mit jüdischen Traditionen verbanden – die Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie war aber gerade auch eine Annäherung an Paradigmen dieser Epoche. Nicht nur Reformbestrebungen im Judentum hatten Anteil an einem Prozess der Säkularisierung, auch ein Denker der NeoOrthodoxie wie Breuer, der diesen Prozess aufzuhalten suchte, wurde in den Wissenshorizont der Moderne hineingezogen. Und wenn Isaac Breuer im Jahr 1942 seine Schrift mit dem Titel Zur Erinnerung an das deutsche Judentum verfasste, dann zeigte er damit das Ende einer Tradition an, in der er selbst noch gedacht hatte: die deutsch-jüdische Kultur des 19. Jahrhunderts.

76 Isaac Breuer, Zur Erinnerung an das deutsche Judentum, Jerusalem 1942, in: ders., Weltwende, 121–281, hier 162 (Hervorhebung im Original). Dass sich der nationale Gedanke Breuers nicht in gleicher Intensität bei Hirsch findet, hat Benjamin Brown aufgezeigt, vgl. Benjamin Brown, Breuer, Hirsch and Jewish Nationalism. Change and Continuity – Principle versus Supra-Principle, in: Journal of Jewish Studies 64 (2013), H. 2, 383–402.

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Im Modus des Als-Ob Günther Anders und das postmoderne Denken

Eine Trouvaille aus der Moderne Im Frühjahr des Jahres 2014 erreichte eine Anfrage das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Die Herausgeber des Journals Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung baten um den Abdruck unveröffentlichter Materialien aus dem Nachlass von Günther Anders, der seit dem Jahr 2004 in Wien aufbewahrt wird. Mit der Praxis des Wieder- oder gar Erstabdrucks historischer und zum Teil unveröffentlichter Nachlasstexte von Philosophen und Kritikern des 20. Jahrhunderts geht es den heutigen Herausgebern von ­Tumult, Frank Böckelmann und Horst Ebner, erklärtermaßen darum, »mit befremdetem Blick« unsere Gegenwart anzuschauen.1 Mit einer posthumen Veröffentlichung von Texten aus der Exilzeit schien die Zeitschrift einen Auftrag ernst zu nehmen, den Günther Anders im Hinblick auf sein Schaffen aus den Jahren in Paris und den Vereinigten Staaten formuliert hatte: Es handele sich um Texte, so schrieb Anders, »für übermorgen«, »für den Handkoffer, den wir bald in Deutschland würden öffnen können«.2 Übermorgen, das war hinsichtlich der Interessenbekundung der Tumult-Herausgeber jedoch nicht die von Anders herbeigesehnte Zeit nach dem erhofften Ende des Nationalsozialismus, sondern die Jetztzeit eines flexibilisierten globalen Kapitalismus. Dieser, so die Herausgeber, sei durch medial vermittelten »Konsensdruck«, Karrierismus und erzwungene Toleranz geprägt, zudem weiche die »Auseinandersetzung zwischen Positionen, Bekenntnissen und Lebensweisen dem Werben für die Gleichberechtigung aller (toleranten) Überzeugungen.«3 Tumult verstehe sich in diesem Kontext als »unabhängiges Organ der Gegenwartserkundung fernab akademischer und volkspädagogischer Sprachregelungen«, in dem eine souverän selbst 1 Vgl. (14. Februar 2016). 2 »Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an?«. Gespräch mit Günther Anders, in: Matthias Greffrath (Hg.), Die Zerstörung einer Zukunft. Gespräche mit emigrierten Sozialwissenschaftlern, Frankfurt a. M./New York 1989, 19–57, hier 30. 3 Vgl. (14. Februar 2016).

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denkende, intellektuelle Elite zu Wort komme. In der Zeitschrift schreiben Personen aus unterschiedlichen politischen Kontexten, die direkte Konfrontation kontroverser wie existenziell gegenläufiger Positionen in einem bestimmten historischen Kontext wird jedoch gemieden – so finden sich in einem Heft Ernst Noltes Erinnerungen an Martin Heidegger aus dem letzten Kriegsjahr 1944/45 und Herbert Marcuses Überlegungen zur Sprache in der technologischen Welt, nicht jedoch dessen Brief an Heidegger von 1947, in dem er seinen ehemaligen Lehrer zu einer Stellungnahme zur Judenvernichtung herausfordert. Hans Magnus­ Enzensberger findet sich unter den Autoren ebenso wie der einstige SDSler und mittlerweile neurechte Publizist Günter Maschke. Carl Schmitt wird mit unveröffentlichten, notizenhaften Selbstreflektionen aus der Nachkriegszeit präsentiert, aus denen das Zitat »Der Besiegte schreibt die Geschichte« stammt, das einer der Ausgaben vorangestellt ist.4 Einige Ausgaben zuvor war die Perspektive eines anderen Besiegten nachzulesen: die Übersetzung des von Walter Benjamin auf Französisch verfassten Texts Über Scheerbart  – einem seiner letzten Texte, bevor er sich auf der Flucht vor den Nationalsozialisten das Leben nahm.5 Auch Anders sollte in diesen schillernden Kreis der Konsensstörer aufgenommen werden. Die Zeitschrift hatte zur Zeit ihrer jüngsten Entdeckung von ­Günther Anders bereits eine fast vierzigjährige Publikationsgeschichte hinter sich: In den späten 1970er Jahren von jungen theorieorientierten Intellektuellen wie Ulrich Raulff, der damals u. a. Michel Foucault, Paul Virilio und Gilles Deleuze ins Deutsche übersetzte, und dem Mitbegründer des Berliner MerveVerlags Hans-Peter Gente, gegründet, hatte man sich zunächst als Zeitschrift für Verkehrswissenschaften der Popularisierung französischer postmoderner Theoriebildung in Deutschland verschrieben.6 Bis 2013, vor der Neuherausgabe als Vierteljahresschrift für Konsensstörung, war Tumult jahrelang als unregelmäßige Schriftenreihe von Frank Böckelmann und dem Soziologen Dietmar Kamper veröffentlicht worden. Während die Gründungserklärung der Tumultianer aus den späten 1970er Jahren sich noch als ein spielerischer Versuch lesen lässt, der Krise des Marxismus in theorie-ästhetischen Versuchsanordnungen zu begegnen und den »Jargon des Ableitungsmarxismus abzuschütteln«,7 kann man das seit 2013 neu aufgelegte Heft nun dem Feld der konservativen Kulturkritik mit immer schärferen nationalistischen Untertönen zurechnen. So wird jüngst gegen die totale Vereinheitlichung einer ökonomisch und durch Migration global vernetzten 4 Carl Schmitt, Glossarium. Aus unveröffentlichten Aufzeichnungen 1951–1958, in: Tumult (Winter 2014/2015), 48–55. 5 Walter Benjamin, Über Scheerbart (dt. Erstveröffentlichung), aus dem Französischen von Helmut Kohlenberger, in: Tumult (Frühjahr 2014), 23 f. 6 Vgl. erstmals und ausführlich zur Gründungsgeschichte der Zeitschrift Tumult: Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie, München 2015, 162–169. 7 Ebd., 163.

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Welt die Berechtigung kulturalistischen Denkens und die Verteidigung nationaler Identität bis zum Bürgerrecht auf Widerstand proklamiert.8 Von Seiten des österreichischen Literaturarchivs war der Zeitschrift zunächst das von Anders verfasste Typoskript Die Zahnräder und andere geschichtsphilo­ sophische Tagebuchblätter sowie die ebenfalls in der Zeit des amerikanischen Exils ab 1936 entstandenen Früheren Ketzereien aus Amerika angeboten worden – eine Auswahl, die auf Zustimmung der Redakteure stieß. Interessanterweise handelte es sich hierbei jedoch gerade nicht um jene Texte, mit denen Anders sich in der Nachkriegszeit seinen Ruf als pessimistischer Technikkritiker und apokalyp­ tischer Mahner eines nuklearen Menschheitsendes erschrieben hatte, die für das kulturkritische Profil der Tumult ganz offensichtliche Anknüpfungspunkte hätten bieten können. Bei genauerer Betrachtung gehören die Nachlass-Texte eher in die Vorgeschichte seiner technikkritischen und posthistorischen Zeitdiagnosen. Mit ihnen hätte eine wenig bekannte Seite von Anders’ Schaffen zu einer Öffentlichkeit finden können, die ein Licht auf die biografische Erfahrung des Geschichtsverlusts, auf den Moment der Auflösung philosophischer, lebensweltlicher, ja ontologischer Gewissheiten hätte werfen können. Doch zur beabsichtigten Publikation dieser bislang unbekannten Texte kam es gar nicht erst: »Die Freude war von kurzer Dauer«  – so antwortete Gerhard Oberschlick in seiner Eigenschaft als der von Günther Anders selbst eingesetzte Nachlassverwalter und Herausgeber einiger wichtiger Schriften den Tumult-Redakteuren.9 Es käme nicht infrage, den gegenwärtigen Herausgebern Schriften aus dem Nachlass anzuvertrauen.10 In einem ausführlichen »Rechenschaftsbericht« formulierte er seinen Einspruch gegen die Publikation, der nicht nur politisch begründet war, sondern sich in seiner Argumentation vor allem auf Anders’ eigene Positionierungen im diffusen und verschiedene politische Lager übergreifenden Feld der Kultur- und Modernekritik Nachkriegsdeutschlands berief.11 Nicht so sehr die Tatsache, dass 8 Vgl. Tumult (Winter 2015/2016), insbesondere Frank Böckelmann, Völkerfusswanderung 2015? Zur aktuellen Ausgabe, 4–6; zum Bürgerrecht auf Widerstand siehe Wolfgang Hetzer, Wer schützt das Deutsche Volk?, 11–16. 9 Gerhard Oberschlick gab etwa einen wichtigen Band zu Anders’ Auseinandersetzung mit seinem philosophischen Lehrer Martin Heidegger heraus: Günther Anders, Über Heidegger, München 2003, sowie 2012 auch die zweite, erweiterte Auflage von Günther Anders’ Exilroman Die molussische Katakombe. Von 1985 bis 1995 war er Herausgeber der österreichischen Kulturzeitschrift FORVM, für die Anders schrieb und in der kurz nach seinem Tod im Jahr 1992 erstmals Manuskripte aus dessen Pariser Exiljahren veröffentlicht wurden. 10 E-Mail von Gerhard Oberschlick an Horst Ebner vom 27. März 2015, der Autorin von Oberschlick zur Verfügung gestellt. 11 Dieser Rechenschaftsbericht wurde zunächst per Email an die Tumult-Redaktion wie an die mit dem Nachlass von Anders im Österreichischen Literaturarchiv betrauten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen versandt und später unter folgendem Titel veröffentlicht: Gerhard Oberschlick, Nicht genügend kontrovers. Warum aus Günther Anders’ Nachlass nichts im Tumult erscheint, in: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 6 (2015), 234–241.

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im Tumult »rechtslastige Autoren« wie Carl Schmitt, Günter Maschke und Ernst Nolte erscheinen konnten, sei für ihn jedoch Grund der Verweigerung der Nachlasstexte. Es sei vielmehr die Fahrlässigkeit des kontroversen Anspruchs der Zeitschriftenmacher, dass sie Texte dieser Autoren als »unveröffentlichte Kostbarkeiten, ohne erkennbare Ambition mehr als einen bewundernden Blick darauf zu verschwenden«, gar dem Anflug eines Befremdens präsentierten. Anders selbst, darauf konnte sich Oberschlick berufen, sei es keineswegs egal gewesen, mit welchen Autoren er sich eine »Wohnung oder Herberge« teilte.12 So hatte dieser im Jahr 1985 in der Wochenzeitung Die ZEIT in einem offenen Brief an Karl-Heinz Bohrer, seinerzeit Herausgeber des Merkur, dargelegt, warum er nicht in einem Heft mit Ernst Jünger erscheinen wollte, der kurz zuvor in einer Fernsehsendung mit Stolz den durchschossenen Stahlhelm eines britischen gefallenen Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg als »Trophäe« präsentiert hatte.13 Was Oberschlick jedoch in Anders’ Sinne gegen Tumult vorbrachte, war das von diesem für wichtig erachtete Kriterium der Gestaltung eines Heftes als Ensemble von Texten. Der Tumult hätte Günther Anders auch schon zu dessen Lebzeiten wahrnehmen und herausgeben können. Dem seinerzeit noch postmodernen Theorie­ organ hätte Anders jedoch weniger als Konsensstörer denn als noch ganz in der Moderne verhafteter Kulturpessimist gegolten. Als die Zeitschrift »nach zweijähriger Inkubationszeit«14 im Jahr 1979 erstmals im Berliner Merve-Verlag erschien, kam es zugleich nach einem knappen Vierteljahrhundert »Inkubationszeit« im Zuge der westdeutschen Friedensbewegung, die sich gegen den sogenannten NATO-Doppelbeschluss zu formieren begann, zu einer Fort­setzung, Neuentdeckung und Neuauflage von Anders’ technikkritischen und endgeschichtlichen Zeitdiagnosen. Der Tumult hatte sich in dieser frühen Phase wohl nicht für Anders als Theoretiker interessiert, obwohl es thematische (wie semantische) Überschneidungen mit der in Westdeutschland geführten Postmodernismus-Debatte gab, in deren Zentrum die Reflexion eines neuen Bewusstseins geschichtlicher Zeit und die Erfahrung eines Endes der Geschichte standen. Von Philosophen wie Peter Sloterdijk und Dietmar Kamper wurde Anders neben anderen Autoren der Nachkriegszeit, in der dieses Thema unter dem französischen Begriff Posthistoire schon einmal Konjunktur gehabt hatte, für eine Neuauflage nachgeschichtlichen Denkens zitiert.15 Die Frage, ob Anders’ geschichtsphilosophische Notizen aus dem amerikani­ schen Exil nicht gerade als Ausdruck einer spezifischen Geschichtserfahrung und 12 Günther Anders, Ein Brief aus Wien. Nein, Herr Bohrer!, in: Die ZEIT, 10. Mai 1985, 50, (14. Februar 2016). 13 Ebd. 14 Felsch, Der lange Sommer der Theorie, 163. 15 Peter Sloterdijk, Nach der Geschichte, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 262–273; Dietmar K ­ amper, Nach der Moderne. Umrisse einer Ästhetik des Posthistoire, in: ebd., 163–174.

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einer daraus resultierenden Distanznahme gegenüber dem Erwartungshorizont der Geschichte gelesen werden müssen, soll Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Bei genauer Betrachtung stehen sie sowohl der zu befürchtenden kontextlosen Einreihung in das kulturkritische Potpourri der jüngsten Tumult als auch der früheren Bezugnahme in postmodernen Nachgeschichtskonzeptionen entgegen. Dietmar Kamper sah die Gegenwart der frühen 1980er Jahren vor zwei Alternativen gestellt: Katastrophe oder Posthistoire – »entweder Eschatologie, d. h. Lehre von den letzten Dingen, die auf Realisierung drängt, oder das Erschlaffen der geschichtlichen Bewegung in einem ›état final‹«.16 Für eine, wie Kamper es ausdrückte, »kupierte« und gleichermaßen säkularisierte Apokalypse, einen menschengemachten katastrophischen Untergang der Welt ohne neuen Anfang lieferte Anders mit seinen Ausführungen zur technischen Selbstüberschreitung und der daraus folgenden Antiquiertheit des Menschen – so der Titel seines zweibändigen Hauptwerkes – die notwendigen Stichworte.17 In den 1950er Jahren hatte er eine »Apokalypseblindheit« des Menschen ausgemacht, die im Zeitgeist der 1980er Jahre behoben schien. Gerade eine Relektüre der biografischen Notizen aus dem Exil zeigt jedoch, dass Anders’ gebrochenes Geschichtsbewusstsein auf eine komplexere historische Verlusterfahrung rekurriert.18 Sein nachgeschichtliches Denken, in das vor allem Erfahrungen der 1940er Jahre eingingen und das eine ontologische Überformung durch die atomare Bedrohung erfuhr, erhielt im Übergang zu den 1980er Jahren eine politisch wie sozioökonomisch begründete Plausibilisierung – eine Verschiebung, die es hier nachzuzeichnen und kritisch zu befragen gilt.

16 Dietmar Kamper, Die kupierte Apokalypse. Katastrophe oder Posthistoire, in: ders., Zur Soziologie der Imagination, München 1986, 59−66, hier 59. 17 Zur Diskussion um die Frage, ob der symbolische Verweis auf die Apokalypse überhaupt säkular verstanden werden kann, und zu einer umfänglichen Rekonstruktion apokalyptischen Denkens in Deutschland vgl. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, bes. 49–65. Vondung sieht im Zuge der Nachrüstungsdebatte eine erneute Konjunktur apokalyptischen Denkens gekommen. 18 Diese Lesart entspricht einer These, die Lutz Niethammer zum Ausgangspunkt für seine umfassende Untersuchung des Begriffs Posthistoire macht. Niethammer endet chronologisch mit der Untersuchung der Schriften des Sozialpsychologen Peter Brückner, seine Grundannahmen können aber, so die hier verfolgte Annahme, auch für die spätere Reflexionen des Posthistoire Geltung beanspruchen, vgl. Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Hamburg 1989.

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Die Antiquiertheit des Menschen und das Ende der großen Erzählungen Die Beobachter der gesellschaftlichen Verkehrsformen rückten Ende der 1970er Jahre im Tumult Konstellationen in den Fokus, denen auch Anders’ Interesse gegolten hatte. Ihr Anspruch, zugleich »anarchisch und ästhetisch« zu sein, war vor allem als eine »Distanzgeste« zur alten, von Parteien, Interessen und Ideologien geprägten repräsentativen Politik zu verstehen.19 Ulrich Raulff, Heraus­geber der ersten Stunde, führte die Gründung der Zeitschrift vor allem auf den Einfluss von Michel Foucaults Macht- und Diskurstheorie in der postmarxistischen bundesrepublikanischen Linken zurück.20 Bereits im Titel kam das mangelnde Vertrauen in zielgerichtete Formen des Widerstands zum Ausdruck; es ging um ein »im Unterschied zu ›Aufruhr‹, ›Revolte‹, ›Rebellion‹ unabsichtliches, unwill­kürliches Zusammen- und Auseinanderströmen.«21 Die Abkehr vom Verständnis gesellschaftlicher Strukturen über eine deterministische Auffassung von Sein und Bewusstsein äußerte sich auch im »Materialismus der kleinen Form«, dem Interesse an der alltäglichen Objektwelt, der visuellen Vermittlung von Welt im Bild. Auf der sprachlichen Ebene galt es vor allem, dem marxistischen Jargon durch literarische und künstlerische Darstellungstechniken zu entgehen.22 In diesen formalen Vorlieben äußerte sich auch ein Bruch mit der Temporalform der modernen Fortschrittserzählung. Das Basteln, die Bricolage und die Materialverliebtheit wurden zum Ausdruck für ein »kaleidoskopisches Denken […] auf der Höhe einer Zeit ohne Entwicklungsperspektive.«23 Man orientierte sich an französischen Vorbildern wie Jean Baudrillard oder Paul Virilio, die als Heraus­geber der Zeitschrift Traverses Theorien, Bildern und Objekten gleichermaßen Erkenntnispotential zukommen ließen und deren Ideen durch die bei Merve und in Tumult erschienenen Erstübersetzungen ins Deutsche eine begeisterte Anhängerschaft in Deutschland fanden.24 Für Virilio wie für Baudrillard – und hier liegt eine Ähnlichkeit zu Anders vor – prägte die beschleunigte technische und mediale Entwicklung eine 19 Vgl. Ulrich Raulff, Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014, 102. 20 Zum Besuch Michel Foucaults in Berlin im Jahr 1977 als einem zweitem Gründungsakt der Zeitschrift Tumult, vgl. ebd., 105 f. 21 Frank Böckelmann, Bericht über Verhandlungen mit Roger und Bernhard, 5. Mai 1978, zit. nach: Felsch, Der lange Sommer der Theorie, 163. 22 Ebd. 167−168. 23 Wolf Lepenies, Der Artist im Posthistoire, zit. nach: ebd., 169. 24 Felsch verweist auf ein Gespräch mit Paul Virilio mit dem Titel »Versuche per Unfall zu Denken« in der ersten Ausgabe von Tumult sowie dessen Artikel »Projekt für eine Katastrophenzeitschrift« in der darauffolgenden Nummer, vgl. Felsch, Der lange Sommer der Theorie, 156; bei Merve erschien Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978.

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katastrophisch gedeutete Realität.25 Das Ende von Geschichte stand Baudrillard als eine im Verschwinden begriffene Wirklichkeit vor Augen, deren Referentialität durch zunehmende Simulationsfähigkeit abhandengekommen war. Er erkannte dies in der Zerstörung einer symbolischen Sinnstruktur durch technische und wissenschaftliche Machbarkeit, der Ersetzung des Subjekts durch die Technik und einer zunehmenden Verdrängung und Entsakralisierung des Todes in der kapitalistischen Ökonomie, die dessen Bedrohlichkeit beständig reproduziert.26 Ob diese »hyperrealistische« Welt der referenzlosen und unendlichen Simulation bereits als Ende der Geschichte verstanden wurde, oder dieses Ende durch einen subversiven Akt auf der Ebene der Zeichen – etwa durch terroristische Gewalt – als ein apokalyptischer Zustand herbeigeführt werden sollte, blieb offen.27 Für Anders hingegen hatte die Apokalypse eine klar umrissene Gestalt – und dies nicht erst seit dem ersten Abwurf der Atombombe im August 1945. Seit ihrer Konstruktion war sie als »Ding gewordene Erpressung«28 ein »perennie­ render Teil der Welt« des Kalten Krieges und zugleich – so beschrieb Gerhard Scheit ihre Doppeldeutigkeit – die »vorweggenommene Abstraktion dessen, was in weiteren technologischen Expansionen erst ausbuchstabiert wird: Die Zerstörung der Welt und des Menschen.«29 Im Übergang zu den 1980er Jahren hatte auch die von Günther Anders mit Blick auf die Atombombe bereits drei Dekaden zuvor explizierte Betrachtung der technischen Selbstüberschreitung des Menschen, des »prometheischen Gefälles«, erneute Popularität erfahren. Diese war aber weniger der neuesten Theoriebildung einer posthistorischen Ästhetik geschuldet als der weltpolitischen Situation des Kalten Krieges und den Auflösungserscheinungen einer vormals kommunistisch und fortschrittsorientiert geprägten Linken.30 Die lange Phase der Détente war durch den sogenannten NATO-Doppelbeschluss, der die Stationierung von atomaren Mittelstrecken­ raketen u. a. in Westdeutschland vorsah, beendet worden. Abermals konnten weite Bevölkerungsteile in ihrer Angst vor einem atomaren Schlagabtausch auf 25 Für eine Parallellektüre von Anders und Baudrillard, die einige Ähnlichkeiten in Methode und Denkfiguren zutage fördert, siehe Wolfgang Kramer, Technokratie als Entmateria­ lisierung der Welt. Zur Aktualität der Philosophien von Günther Anders und Jean Baudrillard, Münster 1998. 26 Zur Suspendierung des Todes in der Moderne vgl. Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. 27 Felsch, Der lange Sommer der Theorie, 156. 28 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1987 (1. Aufl. 1956), 257. 29 Gerhard Scheit, Notbremse (II). Die Vertreibung aus dem Paradies der Produktivkräfte. Von Karl Marx zu Günther Anders, in: FORVM (März/April 1992), 24−31, hier 27. 30 Für die Geschichte der neuen sozialen Bewegungen und ihrer Abkehr vom orthodoxen Marxismus vgl. Andrei S. Markovits/Philip Gorski, Grün schlägt rot. Die deutsche Linke nach 1945, Hamburg 1997, sowie Silke Mende, Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, Göttingen 2013, bes. Kap. 5, 168−212 und Kap. 6, 214−240.

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deutschem Boden mobilisiert werden. Mit der Ökologiebewegung wurde man sich zunehmend der negativen Rückkopplungen der kapitalistischen Wachstumsdynamik auf Mensch und Natur bewusst. Anders, der bereits seine technikkritischen Analysen der Nachkriegszeit als Übertreibungen in Form einer »prognostischen Hermeneutik«31 formuliert hatte, wurde gewissermaßen durch die weltgeschichtlichen Entwicklungen des Kalten Krieges und die ökonomische Krise der 1970er Jahre eingeholt. Der erste Band seiner Analyse des industriellen Zeitalters, Die Antiquiertheit des Menschen von 1956, war fast ein Vierteljahrhundert später, im Jahr 1980, mit einem zweiten Band fortgesetzt worden. Eine Neuauflage erschien im selben Jahr. Der erste Band war als eine lose zusammengehaltene Aufsatzsammlung publiziert worden. Erst der Abschluss des darin enthaltenen Kapitels Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit schien Anders zur Veröffentlichung der zu weiten Teilen bereits im amerikanischen Exil verfassten Texte veranlasst zu haben, ganz als ob die Bedrohung durch die Atombombe seiner Technikkritik einen existenziellen Fluchtpunkt verliehen habe.32 Dennoch ließ Anders selbst die Zusammenstellung des Bandes als zufällig erscheinen – in einem Brief an seinen Freund Herbert Marcuse schrieb er, die Antiquiertheit sei »cobbled together«.33 In drei Kapiteln seines Buches zeichnet Anders das Szenario eines in seiner Vorstellungskraft hinter der Technik zurückbleibenden Menschen nach, das er als »prometheisches Gefälle« bezeichnet.34 Ihm schwebt mit seinem Werk nichts weniger als eine Kritik der »Grenzen des Menschen« vor, »nicht nur der seiner Vernunft, sondern der Grenzen aller seiner Vermögen (der seiner Phantasie, seines Fühlens, seines Verantworten usf.)«, die er in Zeiten des entgrenzten Produzierens als ein Desiderat der Philosophie begreift.35 Unter gewandelten historischen Voraussetzungen greift Anders damit ein Thema wieder auf, das ihn seit den späten 1920er Jahren beschäftigt hatte: die Frage nach der möglichen Vermittlung von Mensch und Welt, die er bis in die Zeit seines Pariser Exils noch in Form einer systematischen Ausformulierung einer »negativen« Anthro­ pologie bearbeitet hatte.36 Die Welt von heute sei nunmehr ein »Gerätesystem«, 31 Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1984 (1. Aufl. 1980), 424−426. 32 Die Vorgeschichte der Veröffentlichung kann man nachvollziehen im Briefwechsel zwischen Hans Paeschke und Joachim Moras, den Herausgebern der renommierten Kulturzeitschrift Merkur, und Günther Anders, D: Merkur, Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA). 33 Günther Anders an Herbert Marcuse, 2. September 1978, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (nachfolgend LIT), Nachlass Günther Anders, 237/B1501. 34 Anders, Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, 16.  35 Ebd., 18. 36 Günther Stern [Anders], Une interprétation de l’a postériori, in: Recherches Philosophiques 4 (1934/1935), 65–80; und ders., Pathologie de la liberté. Essais sur la non-identification, in: Recherches Philosophiques 6 (1936/1937), 22–54; eine genaue Untersuchung der philoso-

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in der Geräte – oder besser: Technik – nicht mehr Mittel für eine menschliche ersonnene Zwecksetzung darstellten, sondern »Vorentscheidungen«, in denen die »Einzelgeräte« für eine freie menschliche Bestimmung nicht mehr zur Verfügung stünden. Kurzum: Die Technik habe den Menschen als Subjekt der Geschichte abgelöst. Während das medienphilosophische Kapitel Die Welt als Phantom und Matrize und die Ausführungen zur Prometheischen Scham sich spezifischen Phänomenen des Verhältnisses von Technik und Mensch zuwenden, lässt sich das Kapitel Die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit auch als ein historischer Deutungsversuch lesen. Anders setzt hier die nationalsozialistischen Vernichtungslager und den Atombombenabwurf in einen strukturellen Zusammenhang: Beide Ereignisse wurden ihm erklärbar als Ergebnis eines »medial«-konformistischen Prinzips37, eines arbeitsteilig und technisch verfassten Tuns, dessen Ausgang dem Subjekt nicht vor Augen steht.38 Darüber hinaus setzt Anders beide Ereignisse jedoch auch geschichtsphilosophisch ins Verhältnis. Während er die industriell verwirklichte Judenvernichtung noch als historische Zäsur beschreibt, somit als ein Ereignis innerhalb der Geschichte, stellt sich ihm der Atombombenabwurf als »geschichtlich überschwelliges« Ereignis, als eine ontologische Zäsur dar, die alles hinter sich lässt, was als geschichtlicher Zustand gemeint seien könnte.39 War dieser erste Band seiner Technikanalysen ursprünglich als Zeit­diagnose der unmittelbaren Nachkriegszeit gelesen worden, die jedoch maßgeblich auf seinen Erfahrungen aus den Jahren des amerikanischen Exils beruhte, durchlief die von Anders niemals aus den Augen verlorene Weiterführung verschiedenste Rekonzeptionierungen und Anpassungen an politische Fragestellungen späterer Dekaden. So ist seinen Briefen an den Herausgeber des Merkur zu entnehmen, dass Anders gleich an einer Fortsetzung zu arbeiten begonnen hatte – aller­ dings mit sich über die Jahre ändernden Zielstellungen. Im Sommer des Jahres 1959 teilte er mit, dass er sich nun wieder an den zweiten Band gesetzt habe, »der abscheulich lang werden wird, weil ich in diesem nun alles, was zur Epoche Schilderung gehört, zusammenstopfen will, um mich im dritten Band, sofern ich auf so lange planen darf, ausschließlich auf ›Antworten‹ beschränken zu können.«40 Im Verlauf der 1960er Jahre sah Anders den Band zunächst als Teil  des von­ Hannah Arendt in der Vita activa bearbeiteten Problemkomplexes menschlicher

phischen Anthropologie bei Anders und eine Einordnung der Antiquiertheit des Menschen in diese Disziplin unternimmt Marcel Müller, Von der Weltfremdheit zur Antiquiertheit. Philo­ sophische Anthropologie bei Günther Anders, Marburg 2012. 37 Anders, Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, 288. 38 Ebd., 289. 39 Ebd., 262. 40 Günther Anders an Joachim Moras, 19. August 1959, D: Merkur, DLA Marbach.

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Arbeit und menschlichen Handelns.41 Später äußerte er die Einschätzung, dass der Band eine »ganze Theorie des Konformismus« enthalte42, und im Jahr 1968, während seiner Tätigkeit im Vietnam War Crimes Tribunal, erschien es ihm anlässlich der amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam schließlich denkbar, in der Antiquiertheit eine »Praxis des heutigen Genozids« zu formulieren.43 Im Rahmen der Tribunale hatte Anders sich gemeinsam mit Jean-Paul Sartre zum Ziel gesetzt, in einer Erweiterung der Genozid-Definition Raphael Lemkins, die der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen zugrunde lag, die Kriegsverbrechen der U. S. Army als Genozid zu kategorisieren.44 Die Fokussierung auf die Frage des Völkermords wurde jedoch im Fortgang der Arbeit nicht weiterverfolgt. Als eine Epochenschilderung, wie Anders den Band schließlich später charakterisierte, kann das Werk wohl noch am ehesten verstanden werden – dies jedoch nur als Negation, hatte doch für Anders die herkömmliche Bedeutung einer Epocheneinteilung ihren Sinn verloren. »Die Epoche der Epochenwechsel«, so ist in der Einleitung zu lesen, sei seit dem Jahr 1945 vorüber. An die Stelle der Einteilung menschlicher Traditionszusammenhänge in geschichtliche Abschnitte sei die »Frist« getreten.45 Bereits im Jahr 1960 hatte Anders diesem speziellen Zeitwahrnehmungsmodus einen ganzen Aufsatz gewidmet. Geschichte, so ist dort zu lesen, sei mit der Atombombe auf ein Intermezzo vor der möglichen Menschheitsvernichtung degradiert worden. Das Ende der Geschichte war für Anders nicht in Gestalt der »Selbstverwirklichung des Weltgeistes« zu denken, sondern in Gestalt technischer Selbstüberschreitung.46 Mehr noch als der erste Band reflektiere der zweite Band nun »die Intérieurs dieser Frist«, die Kapitel handelten von den verschiedenen Facetten eines »zur Unkenntlichkeit veränderten 41 Günther Anders an Hans Paeschke, 2.  September 1960, D: Merkur, DLA Marbach. Anders spricht hier davon, dass in einem »hervorragend[en]« Artikel Hannah Arendts im Merkur viele Gedanken auftauchten, die auch Gegenstand seines zu erwartenden zweiten Bandes sein würden; gemeint ist Hannah Arendt, Der Mensch und die Arbeit, in: Merkur 14 (1960), H. 8, 7­ 01–719, dieser Artikel wurde wiederaufgenommen in dies., Vita activa oder Vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. Dieses zentrale philosophische Werk Arendts war zunächst 1958 in eng­ lischer Sprache unter dem Titel The Human Condition erschienen. 42 Günther Anders an Hans Paeschke, 1. April 1963, D: Merkur, DLA Marbach. Die von Anders verfassten Teile zu einer Theorie des Konformismus wurden kurzerhand in den Band integriert. Anfang der 1960er Jahre hatte Anders geplant, als Anschlussband an die Antiquiertheit einen Band mit dem Titel Der sanfte Terror und andere Konformismus-Studien herauszugeben. 43 Vgl. Günther Anders an Hans Paeschke, 6. Januar 1968, D: Merkur, DLA Marbach. 44 Günther Anders, Remarks on Genocide, unveröffentlichtes Memorandum, LIT 237/S39; Jean-Paul Sartre, On Genocide, in: Peter Limqueco/Peter Weiss (Hgg.), Prevent the Crime of­ Silence. Reports from the Sessions of the International War Crimes Tribunal founded by Ber­ trand Russell, London 1971, 350−365. 45 Anders, Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, 20.  46 Günther Anders, Die Frist, in: ders., Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation, München 1972, 170−221.

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Menschen.«47 Diese Unkenntlichkeit deklinierte Anders im zweiten Band an verschiedenen handlungsleitenden Begriffe der Moderne sowie der (marxistischen) Gesellschaftstheorie durch, die allesamt noch an der Idee gesellschaftlichen Fortschritts ausgerichtet waren. So widmet er die Kapitel in diesem Band der Antiquiertheit der Produkte, der Masse und des Materialismus ebenso wie der Antiquiertheit der Ideologien, der Arbeit und der Geschichte selbst. Mit dieser geschichtsphilosophischen Charakterisierung seiner Zeit als einer »nachgeschichtlichen«, von ihrem Ende her gedachten, in der auch die Rolle des Menschen als historischem Subjekt einer als zukunftsorientierten Bewegung verstandenen Geschichte obsolet geworden war, kam Anders den geschichts­ theoretischen Reflexionen postmoderner Provenienz sehr nahe. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard hatte 1979 in seinem Buch La Condition post­ moderne (dt. Das postmoderne Wissen) das Ende der großen Erzählungen ausgerufen. In dieser wissenstheoretischen Schrift ging es ihm darum, die Gültigkeit jener großen geschichtsphilosophisch gespeisten Metaerzählungen wie Hegels idealistischer »Dialektik des Geistes«, eine historistisch gedachte »Hermeneutik des Sinns« oder die sowohl in der Aufklärung als auch im Marxismus fokussierte »Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts« als Legitimationsgrund des modernen Wissens infrage zu stellen.48 In seinem Sendschreiben zu einer allgemeinen Geschichte formuliert er diese Skepsis hinsichtlich des modernen Begriffs von Geschichte und des sie tragenden Subjektes in Form einer Frage: »Können wir heute damit fortfahren, die Fülle der Ereignisse, die aus der menschlichen und nicht-menschlichen Welt auf uns zukommen, [zu] organisieren, indem wir sie der Idee einer allgemeinen Geschichte der Menschheit unterordnen?«49 Nach Lyotard sind Zweifel angebracht am »moderne[n] Modus«, die Zeit dahingehend zu organisieren, dass sie an der Idee der Emanzipation, auf die »universelle Freiheit, Befreiung der gesamten Menschheit« ausgerichtet ist.50 Ganz offensichtlich, so seine Feststellung, gäbe es Gegebenheiten, die auf das »Versagen des modernen Subjekts« hinweisen.51 Lyotard legt die historischen Gründe für seine Skepsis offen, in seinem Sendschreiben benennt er Auschwitz als Widerlegung der spekulativen geschichtsphilosophischen Doktrin des Rationalismus, die Aufstände gegen die realsozialistischen Regime in Berlin 1953, Budapest 1956, der Tschechoslowakei 1968 und in Polen 1980 als Widerlegung der Doktrin des historischen Materialismus und, als aktuellen Anlass, die ökonomischen Krisen-

47 Siehe dazu Albert von Schirnding, Dem Verhängnis entgegen. Der Philosoph Günther Anders hat sein Hauptwerk abgeschlossen, in: Süddeutsche Zeitung, 9./10. August 1980, 106. 48 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz/Wien 1986, 13 f. 49 Ders., Sendschreiben zu einer allgemeinen Geschichte, in: Postmoderne für Kinder, Wien 1987, 38−56, hier 38. 50 Ebd., 40. 51 Ebd., 44.

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erscheinungen der 1970er Jahre.52 Dass Auschwitz nicht nur den Rationalismus, sondern auch die um das Verhältnis von Produktionsverhältnis und Produktivkraft zentrierte marxistische Geschichtsteleologie widerlegt hatte, dafür sind wohl die Reflexionen des mediatisierten Arbeitsprozesses von Anders das beste Beispiel. Lyotard spricht angesichts des Endes der Emanzipationserzählung von »Melancholie« und »Kummer«, die in seinen Augen zu einer bestimmten Trauerarbeit verleiten müssten. Diese hätte nicht nur dem Objekt der enttäuschten Hoffnung um das moderne Emanzipationsversprechen zu gelten, sondern auch dem Verlust des Subjekts, »dem dieser Horizont versprochen wurde.53

Die Antiquiertheit der Geschichte In Anders’ Zeitdiagnose der Antiquiertheit des Menschen wurden die Reflexionen des Exils und die Ereignisgeschichte der 1940er Jahre von jenen späteren Er­ eignissen gewissermaßen überblendet, denen auch Lyotard zäsuralen Charakter zugesprochen hatte. Sowohl das Jahr 1956, in dem sich mit dem Aufstand in Ungarn und der Suezkrise die Konfrontation des Kalten Krieges verschärft hatte, als auch die sich in den 1970er Jahren mehrenden Zweifel am Wachstumsparadigma der Nachkriegsjahre waren dafür bestimmend. Anders’ Eindrücke des in den Vereinigten Staaten der späten 1930er Jahre im Vergleich zu Europa weitaus fortgeschritteneren Kapitalismus, mit dem er ganz persönlich als Arbeiter am Fließband und in den Filmstudios von Hollywood konfrontiert worden war, rahmten seine Deutungsversuche der ins Exil einbrechenden Ereignisse. In chronologisch dichter Abfolge erfuhr Anders zunächst von den Morden der Einsatzgruppen während des Vernichtungsfeldzugs der Wehrmacht, dann von den industriell und arbeitsteilig verrichteten Massentötungen in Auschwitz und wenige Zeit später von den beiden Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki. Während die Deutung von Auschwitz dem Buch eher latent zu unterliegen schien, gingen die Veränderung der Produktionsverhältnisse und die Atombombe explizit ein in die Zählung der industriellen Revolutionen, die die Untertitel der beiden Bände der Antiquiertheit des Menschen bilden: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution und Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. Anders sah das entscheidende Kriterium für eine neue Phase kapitalistischen Wachstums und seine Zählung einer zweiten wie dritten industriellen Revolution in erster Linie in den philosophischen Veränderungen, die die in seinen Augen letzte Epoche der mensch 52 Ebd., 45. 53 Ebd., 42 f.; Lyotard schlägt schließlich als Umgang mit der Verlusterfahrung ein ver­ ändertes Verständnis unserer diskursiven Strukturen und dem darin enthaltenen sprachlich Inkommensurablen vor, hierzu: ders., Der Widerstreit, München 1987.

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lichen Produktions- bzw. Destruktionsverhältnisse als sich potenzierendes »Prinzip des Maschinellen« hervorgebracht hatte.54 Als zweite industrielle Revolution begreift Anders die sich entwickelnde Konsumgesellschaft, also die Produktion von Bedürfnissen, die erst den Weitergang der Produktion ermöglichten.55 Die dritte Revolution wird durch die Entwicklung der Atombombe ausgelöst, die Anders in paradoxer Nüchternheit als Auswirkung eines »spektakuläre[n] Produktionsmittel[s], […], das die Menschheit zum ersten Mal dazu instandegesetzt hat, ihren eigenen Untergang zu produzieren«, beschreibt. Diese Stufe der Revolution sei damit von »metaphysischer Natur«.56 Da sich beide Entwicklungen parallel vollziehen, ist seine Zählung keinesfalls als chronologische zu verstehen. Als der zweite Band der Antiquiertheit erscheint, beschreibt Anders als dessen Zentrum zwei »interne Revolutionen«: die sich bedingenden Verwandlungen des Menschen in einen homo creator und einen homo materia, d. h. die Verwandlung des Menschen in einen Rohstoff, sowie »der Trend, den Menschen […] überflüssig zu machen.«57 Es waren die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise, die seine phänomenologisch-prognostischen Beschreibungen der Nachkriegszeit zwanzig Jahre später bestätigen sollten. Gerhard Scheit schrieb treffend über den Mehrwert dieser verzögerten Veröffentlichung und der damit ver­ änderten Resonanzräume von den 1950er in die späten 1970er Jahre: »die Wahrheit seiner Übertreibungen liegt in gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, um die er sich selber wenig gekümmert hat.«58 In den ausgehenden 1970er Jahren stand die Frage nach der Zukunft der Arbeitsgesellschaft, der zunehmenden Rationa­ lisierung und Arbeitslosigkeit im Zentrum der Wahrnehmung weltwirtschaftlich bedingter Transformationsprozesse der westlichen Industriegesellschaften, mit denen in einem »Erdrutsch« das »Goldene Zeitalter« der Nachkriegsjahrzehnte als beendet angesehen wurde.59 Dass Anders nicht nur auf sein prognostisches Gespür setzte, sieht man daran, dass der zweite Band nicht ganz ohne Aktua­ lisierung auskam. Mit den zwei letzten Kapiteln vor der endgültigen Veröffent­ lichung stellte er schließlich einen Gegenwartsbezug her: In Die Antiquiertheit der Arbeit aus dem Jahr 1977 war eine neue Einschätzung der Arbeit zu lesen, die »durch den Hinweis auf die Rationalisierung nicht erschöpfend bezeichnet« werden könne, vielmehr werde die Arbeitsbeschaffung zur Aufgabe und die Arbeit selbst zu einem herzustellenden Produkt.60

54 Anders, Antiquiertheit des Menschen Bd. 2, 15.  55 Ebd., 16.  56 Anders zit. nach ebd., 20 (Kursivierung im Original). 57 Ebd., 26.  58 Scheit, Notbremse (II), 28. 59 Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1998, 501. 60 Anders, Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, 99.

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In einem weiteren, ebenfalls erst Ende der 1970er Jahre verfassten ausführlichen Kapitel mit dem Titel »Die Antiquiertheit der Geschichte«, das Anders neben dem Kapitel zur Arbeit als das zentrale Stück seiner Schrift qualifiziert hatte, griff er einen zweiten Problemkomplex seiner Gegenwart auf: die Frage nach dem historischen Bewusstsein.61 Bezeichnenderweise nimmt Anders für diese Überlegungen auf das bekannte Bild von Walter Benjamin Bezug: den »Engel der Geschichte«, die zentrale Figur der IX. These aus den Thesen über den Begriff der Geschichte.62 Der Engel kann hier als Figur des Übergangs von einem fortschritts- in ein katastrophengeleitetes Geschichtsbild verstanden werden. Der von ­Benjamin 1940 auf seiner Flucht vor den Nazis evozierte angelus novus diente Anders in seiner Neubetrachtung des Geschichtsbegriffs jedoch als Kontrastfolie für eine Beschreibung des Status quo: »Sehr im Unterschied zu dem von Benjamin als Symbolfigur eingeführten Klee’schen ›Engel‹, der (obwohl von dem in seinen Fittichen verfangenden Geschichtssturm vorwärtsgetragen) sein Gesicht zurückwendet. Denn die heutige Menschheit blickt ebensowenig zurück, wie sie vorwärtsblickt. Vielmehr bleiben ihre Augen während des Sturmfluges geschlossen, oder bestenfalls auf den jeweiligen Augenblick fixiert.«63

Benjamins Engel war von einer zweifachen, gegenläufigen Dynamik geprägt: Die als Fortschritt verstandene historische Bewegung trägt ihn fort – sein entsetzter Blick richtet sich jedoch zurück auf die Trümmer des Vergangenen. Auf ihnen, so lässt sich aus Benjamins Fragment gebliebenen Thesen verstehen, habe sich ein neues geschichtliches Denken zu errichten, mit dem die verschüttete historische Tradition der Besiegten der Geschichte in der Jetztzeit zitierbar werden könne. In Abgrenzung zu Benjamin beschreibt Anders den heutigen Menschen als primär von der Gegenwart geprägten und äußert die Befürchtung, dass die »heutige Gesellschaft im Begriff [stehe], ihre Geschichtlichkeit, sofern sie als ganze (was sehr fraglich ist) eine solche je besessen hat, wieder zu verlieren, also wieder a-historisch zu werden.«64 Geschichte, so lässt sich aus diesen Ausführungen verstehen, blieb für Anders ein zu erhaltender Begriff: In der Gegenwart beschränke sich die Zeitwahrnehmung jedoch auf eine »pausenlose Geschichte des Vergessens des jeweiligen Jetzt«, sie verkomme zu einem »unbeobachtete[n] Nacheinander«.65 Es ist nicht erwiesen, ob Anders je Notiz nahm von den theoretischen (und sukzessive auch akademischen) Entwicklungen der Postmoderne, die sich sowohl von den Prämissen des orthodoxen Marxismus als auch von der 61 Vgl. Günther Anders an Herbert Marcuse, 2. September 1978, LIT 237/B1501. 62 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 2.2, Frankfurt a. M. 1980, 690−708. 63 Ebd., 297 f. 64 Anders, Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2, 273 f. 65 Ebd., 298 (Kursivierung im Original).

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Formierung einer postmateriellen Linken abgegrenzt hatte. Stimmte Anders mit der postmodernen Weltsicht zumindest hinsichtlich der »Antiquiertheit des Marxismus« überein, der beiden nicht mehr zum gedanklichen Ausgangspunkt einer Beschreibung und Interpretation der Gesellschaft taugte, so könnte man seine zu Beginn der 1980er Jahre geäußerte Kritik an der reinen Gegenwärtigkeit der Gesellschaft durchaus auch als Kritik an postmodernen Zeitkonzeptionen lesen. In seinem Jacob Taubes gewidmeten, Nach der Geschichte betitelten und für die deutsche Postmodernismus-Debatte wohl programmatisch zu erachtenden Text benennt Peter Sloterdijk das Dilemma seiner Gegenwart: Es stehe »kein Geschichtsbild mehr zur Verfügung […], das es der Gegenwart erlaubt sich zu datieren.«66 In dieser Auffassung sind es weder die »Erzählbarkeit« noch die »Vorhersagbarkeit« und noch viel weniger ein »geschichtsphilosophisches Schema«, die einer Gegenwart der »entfesselten Realitäten« ihren historischen Platz zuweisen könnten.67 Wie zuvor schon Anders, stellte Sloterdijk die Postmoderne als eine Gegenwart vor, die keinen »Epochenbegriff mit Anspruch auf geschichtsphilo­ sophische Substantialität« für sich reklamieren könne.68 Anders’ Behauptung, das Geschichtsbewusstsein seiner Gegenwart beschränke sich auf ein unverbunden erlebtes Nacheinander, war also durchaus zutreffend. Unbeobachtet war diese Gegenwart hingegen nicht. In den Selbstbeschreibungen der Gegenwart führte das neue nachgeschichtliche Denken zu einer Reflexions- wie Ästhetisierungsteigerung sondergleichen.

Futur Zwei und Konjunktiv. Anders und die Temporalformen der Postmoderne Die Einsicht, dass die Welt am Ende der Geschichte angekommen war, durchzog postmoderne Gegenwartsentwürfe auf unterschiedliche Weise. Während Lyotard eine Kette von historischen Enttäuschungen als Widerlegung der großen geschichtsphilosophischen Erzählungen und damit der Geltung des Begriffs »Geschichte« überhaupt anführte, beriefen sich nicht wenige der Theorieproduzenten auf die bedrückenden Posthistoire-Diagnosen der frühen Nachkriegszeit.69 Die geschichtsphilosophisch seit Hegel tradierte Annahme eines geschicht 66 Sloterdijk, Nach der Geschichte, 62. 67 Ebd. Jacob Taubes, dem dieser Text gewidmet ist, veranstaltete an der Berliner Freien Universität im Jahr 1982 gemeinsam mit Dietmar Kamper ein Seminar mit dem Titel Ästhetik des Posthistoire, von Felsch als »Theorie-Ereignis« bezeichnet. Im Nachgang dieses Diskussionszirkels entstanden einige Aufsätze, die sowohl von einer neuen Endgeschichtserfahrung als auch vom Einfluss der Seminarlektüre zeugen, vgl. Felsch, Der lange Sommer der Theorie, 190 f. 68 Sloterdijk, Nach der Geschichte, 62. 69 Vgl. Norbert Bolz/Willem van Reijen (Hgg.), Ruinen des Denkens. Denken in Ruinen, Frankfurt a. M. 1996, 23.

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lichen Endzustandes, der zwar nicht mehr in der Verkörperung des Weltgeistes in einem Vernunftstaat, sondern in einer Art technisch beschleunigtem Stillstand der Wohlstandsgesellschaft erschien, ließ die Gegenwart in einem anderen Licht erscheinen. Es waren jedoch nicht die Schriften von Günther Anders, auf die man sich zu deren Deutung primär bezog, auch wenn man nicht umhin kam, einige seiner markantesten Schlagwörter zu zitieren. Einen prominenteren Platz nahm etwa Arnold Gehlen ein, der mit seiner These Über kulturelle Kristallisation den gesellschaftlichen Erstarrungszustand eher gelassen als melancholisch zu fassen vermochte und dennoch dem technischen Fortschritt Positives abgewinnen konnte.70 Die Bedrückung über das Ende der Geschichte in einem emphatischen Sinn war über drei Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dem ästhetischen Spiel mit ihren Hinterlassenschaften gewichen. Die zeitliche Imagination zielt nicht mehr auf einen (marxistisch gedachten) Moment der Befreiung, in dem erst aus der von Unfreiheit und Herrschaft gezeichneten »Vorgeschichte« eine menschengemachte Geschichte wird. Die Ersetzung der Silbe »Vor« durch ein »Nach« beinhaltet vielmehr ein »ironisches Arrangement mit der Unmöglichkeit, die Zukunft zu imaginieren«.71 Dieser spezifische nachmoderne Zugang zu Zeitlichkeit begünstigt das Denken und Sprechen in bestimmten Temporalstrukturen, denen allesamt ein Moment von Kontingenz anhaftet: Als eine ihr eigene Zeitstruktur wird von unterschiedlichen Autoren das Futur II genannt. Norbert Bolz nennt dies die Rhetorik des »Es wird gewesen sein«72. Es überwiege das Sprechen in der Konstruktion des vorausgreifenden Epilogs, so Sloterdijk. Die Aufklärung vollende sich »in einer Koinzidenz von Prognose und Nachruf«, schrieb er in seinem Beitrag Nach der Geschichte.73 Deswegen sei »die Gegenwart gezwungen, von sich selbst in einem tragischen Futur zu reden.«74 Er beruft sich in seiner Bestimmung der spezifischen Zeitstruktur der 1980er Jahre direkt auf den von Anders starkgemachten Begriff der Frist und bezieht sich auf dessen 1972 erschienenen Band mit dem Titel Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation: »Sollte man die spezifische Zeitstruktur des gegenwärtigen Lebens charakterisieren, so käme man auf den Begriff einer Zwischenzeit nach der Prognose des Schlimmsten und vor der Verifikation der Prognosen durch das Wirkliche. Für eine solche Lage gibt es keinen passenderen Begriff als den der Frist. Weil unsere Frist aber auf keinen präzisen Termin zuläuft, sondern die Katastrophe nach Tag und Stunde und Ursache offenläßt, 70 Arnold Gehlen, Studien zur Anthropologie und Soziologie, Neuwied/Berlin 1963; dieser Aufsatz wurde 25 Jahre später in das Kompendium von Schlüsseltexten der Postmoderne aufgenommen, vgl. Welsch, Wege aus der Moderne, 133−142. 71 Bolz/van Reijen, Ruinen des Denkens, 20.  72 Ebd., 20. 73 Sloterdijk, Nach der Geschichte, 266. 74 Ebd.

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kann sich auch das Leben, das von seiner Riskantheit und Ehrlichkeit weiß, in der gedehnten Frist einrichten und ausbreiten, als wäre es seiner sicher.«75

Während für Anders’ Beschreibung der Frist das Jahr 1945 maßgeblich ist, in dem mit dem Abwurf der Atombombe die »Degradierung der Geschichte«76 Realität wurde, kommt Sloterdijks epiloghafte Beschreibung der Nach-Moderne vollständig ohne eine geschichtliche Datierung aus. In dieser Konjunktiv-Konstruktion – »in der gedehnten Frist« richte sich das Leben ein, »als wäre es seiner sicher« – spielt er auf einen weiteren Zeitreflexionsmodus der Postmoderne an, in dem ihre Geschichtsdistanziertheit zum Ausdruck kommt: den Gebrauch des »Alsob«. Dietmar Kamper sieht dieses Als-ob als eine ästhetische Strategie im Umgang mit der Frage, »was wäre […], wenn das Ende der Geschichte eingetreten ist ohne Rücksicht auf die Plädoyers für ihr Fortbestehen […] und ohne Rücksicht auf die Prophetien und Visionen der Apokalypse?«77 Diese Distanzierungsgeste zielt somit auf Geschichte als Prozess und die Voraussagen ihres Endes gleichermaßen. Sie enthält notwendigerweise eine Umwertung von geschichtlich vernünftiger Handlungslogik, sei diese nun orientiert an einer Vorstellung, dass aus der reflektierenden Rückschau ein »Vorentwurf« kreiert werden könne, oder nur auf die Vermeidung des Schlimmsten, den »unbegrenzten Aufschub des Endes« ausgerichtet.78 Die kleine Silbe »Vor« hatte in der Marx’schen Geschichts­ teleologie stets die Möglichkeit markiert, in der Gegenwart Zukunft sehen zu können.79 »Die Postmodernen«, so bemerkte Frithjof Hager kritisch in einem Gespräch mit Leo Löwenthal, »leben in einem Zauberberg, aus dem sie nicht heraus wollen, so daß sie, anstatt die wirklichen Verhältnisse zu ermessen […], in diese Welt des Als-ob flüchten, wo kein Vorentwurf mehr gedacht werden kann […]«80 In der »Nach«-Geschichte«, so lesen wir bei Kamper, geschieht alles so, »als würden wir weiterhin Geschichte machen«.81 In seiner Lesart – hier übernimmt er den französischen Theoretiker Jean Baudrillard – folgt eine Ära der Simulation, der Akkumulation von Zeichen des Sozialen, des Politischen, des Fortschritts und der Veränderung. Diesen, so ließe sich ergänzen, fehle jedoch allesamt das Referential eines historischen Weltzusammenhangs, in dem sie sinnhaft aufeinander bezogen werden können. Auch Kamper, der das Thema der Nachgeschichte im Jahr 1982 im Seminar Ästhetik des Posthistoire gemeinsam mit Jacob­ Taubes auf den Lehrplan der Freien Universität Berlin gesetzt hatte, bezieht sich 75 Ebd., 266 f. 76 Anders, Die Frist, 172. 77 Kamper, Nach der Moderne, 163. 78 Ebd., 164. 79 Leo Löwenthal/Frithjof Hager, Gespräche, in: Frithjof Hager (Hg.), Geschichte Denken. Ein Notizbuch für Leo Löwenthal, 28−77, hier Gespräch 1: Anschein/Vorschein, 58. 80 Ebd., 34. 81 Kamper, Nach der Moderne, 164.

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in seinem Text über die Ästhetik des Posthistoire auf Günther Anders. Er greift zur Beschreibung des Umschlags der Produktiv- in Destruktivkräfte auf dessen zentrale Denk­figur des »prometheischen Gefälles« zurück, welches die bedrohlich aufklaffende Lücke beschreibt, die sich zwischen den menschlichen Kapazitäten des Vorstellens und den technischen Fähigkeiten des Herstellens auftut. »Die Lücke zwischen Herstellen und Vorstellen«, so führt Kamper nun Anders’ Denkfigur weiter und entkleidet sie zugleich der in ihr enthaltenen Erfahrungsgehalte, »kann nicht mit den Bruchstücken des Unvordenklichen angefüllt werden. Überhaupt ist das Verstopfen der großen schwarzen Löcher der Erfahrung im Posthistoire kein zwangsläufiges Geschäft.«82 In einer Zeit der »Dehnung der Katastrophe« weist Kamper unter Rückgriff auf Anders’ These des »prometheischen Gefälles« der Vorstellungskraft eine neue Funktion zu. Die Imagination, so ließe sich aus dem vorangegangenen Zitat folgern – und dies macht den fundamentalen Unterschied zu Anders aus – könne sich nicht aus Erfahrung speisen, sondern »habe neue Spielregeln zu erfinden« und »nicht die Blöße des alten Menschheitskörpers neu zu bedecken.«83 Auch für Anders war der »Menschheitskörper« spätestens nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki veraltet. Seine zweibändige Zeit­ diagnose konnte so im Jahr 1956 wie im Jahr 1980 denselben Haupttitel tragen: Die Antiquiertheit des Menschen. Doch seinen Schriften war ihr Erfahrungs­ kontext ganz offensichtlich eingeschrieben. Die Kluft zwischen Vorstellen und Herstellen hatte Anders vor allem einen Deutungshorizont bereitgestellt, in dem er die chronologisch so dicht aufeinander folgenden Ereignisse des Holocaust und der Atombombenabwürfe begreifen konnte, denen als »erratische Stücke« in ihrer Isoliertheit gar keine Realität zukäme.84 Die anthropologische Veränderung des Menschen im technisch und arbeitsteilig organisierten Arbeits- und Tötungsablauf wurde für ihn zu einer narrativen Klammer. In dieser Latenzzeit des Verstehens zweier Katastrophen machte auch Anders Gebrauch von den später in postmodernen Gegenwartsdeutungen favorisierten Temporalstrukturen des Futur II. Die Atombombe, die Anders als ontologische Zäsur begriff, hatte ihn auch zu einer Befragung dessen gezwungen, was vor ihrem Horizont überhaupt noch als geschichtlich begriffen werden könne. »Umgekehrt aber gibt es Ereignisse«, so schrieb Anders im ersten Band der Antiquiertheit, »die so unberechenbar groß sind, daß sie die Dimension dessen, was wir als geschichtlichen Zustand auch nur meinen können, hinter sich lassen.«85 Die Vernichtungslager erschienen ihm angesichts des universalen Destruktionspotentials der Bombe wie ein letztes 82 Ebd., 171. 83 Ebd., 170. 84 Anders, Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1, 288. 85 Ebd., 262.

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Ereignis in der Geschichte. Mit der Atombombe ist ein Experiment zu einem geschichtlichen Ereignis geworden, das wiederum die Geschichte als sinnhafte Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft affiziere. Mit seiner Reflexion des Futur II, des »Ich werde niemals gewesen sein«, imaginiert Anders vor dem Hintergrund dieser Zäsur aus einem nachgeschichtlichen, zukünftigen Zustand das Historische.86 Ein Rezensent von Anders’ im Jahr 1967 erschienenen philosophischen und mit dem prophetischen Titel Die Schrift an der Wand versehenen Tagebüchern machte den Gebrauch »der Negation dieses ohnehin schon wenig verbreiteten Tempus einer vergangenen Zukunft« nach seiner Lektüre gar als augenscheinlichstes Merkmal seiner autobiografischen Notizen der Jahre 1941 bis 1967 aus. Was in der erzählerischen Form des »Ich werde niemals gewesen sein« zum Ausdruck käme, so das treffende Resümee dieser Besprechung, sei das Überschreiten des »Erfahrungsbereichs einer heilen Welt.«87 Von dieser Passage handelten Anders’ Tagebücher. 

Erfahrene Ungleichzeitigkeit. Die Tagebücher des Exils Die Archiv-Trouvaille, die der Redaktion der Zeitschrift Tumult vorenthalten wurde und somit aus den Tiefen des Wiener Anders-Nachlasses bislang nicht zu einer Leserschaft gefunden hat, ist ein kleines Konvolut von unveröffentlichten Tagebuchnotizen mit dem Titel Die Zahnräder und andere geschichtsphiloso­ phische Tagebuchblätter. Es ist in die 1967 veröffentlichten Tagebücher nicht eingegangen. Der erste Eintrag des Buches, genauso wie die erste Notiz der unveröffentlichten Sammlung, stammen aus dem Jahr 1941, dem Jahr also, das in der europäischen Chronologie der Ereignisse für den deutschen Angriffskrieg gegen die Sowjetunion und den beginnenden Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten im östlichen Europa steht. Doch Anders verfasst den Einstieg in seine biografisch-philosophischen Überlegungen fernab von Europa an der »Grenze der westlichen Welt«.88 Die Einträge des Jahres 1941 tragen die Ortsangabe Los Angeles. Anders hatte sich im französischen Exil bereits 1936 zur Weiterreise in die Vereinigten Staaten entschlossen und konnte so der zunehmenden Bedrängnis von Verfolgung, Internierung, und schließlich Deportation entgehen, der ihm nahestehende deutsch-jüdische Emigranten und Emigrantinnen wie etwa Walter Benjamin oder seine damalige Ehefrau Hannah Arendt nach der Kapitulation 86 Ebd. 87 Manfred Rieger, Nichts wird gewesen sein. Rezension zu Anders, Die Schrift an der Wand, in: Frankfurter Hefte 1 (1970), 66−68. 88 Günther Anders, Leichenwäscher der Geschichte, in: ders., Die Schrift an der Wand. Tage­bücher 1941−1966, München 1967, 3.

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Frankreichs ausgesetzt waren. Es ist wohl das Bewusstsein des Überlebenden, mit dem Anders den raumzeitlichen Rahmen seiner Tagebücher setzt: Sie reichen vom Kalifornien des Jahres 1941 bis nach Polen im Jahr 1966. Die Kapitel aus Die Schrift an der Wand folgen explizit den geografischen Stationen seiner Emigration und Rückkehr, nicht jedoch einer chronologischen Struktur.89 Das Schlusskapitel bilden die Aufzeichnungen einer Reise, die ihn im Jahr 1966 gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Charlotte Zelka zunächst in das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz, kurz darauf in seine Geburtsstadt Breslau führte, wo er 1902 unter dem Namen Günther Stern in ein assimiliertes deutsch-jüdisches Milieu geboren worden war. Sie wurden treffenderweise einmal als »Geschichtsphilosophie des Individuums« bezeichnet, geht Anders doch anhand einer räumlichen Illusion von Kontinuität der Frage nach, ob sich Biografie weiterhin als linearer Fortgang denken ließe.90 Während also die Frage nach der Möglichkeit biografisch-historischen Denkens implizit den veröffentlichten Notizen unterliegt, betitelt Anders das kleine unveröffentlichte Konvolut schlicht und ganz explizit als »geschichtsphilosophische Tagebuchblätter«. Die knappen Texte decken die Zeitspanne des amerikanischen Exils und der ersten Jahre nach der Rückkehr in Wien ab, sie sind zwischen 1941 und 1954 verfasst worden. Ein kurzes, Sehnsüchte betiteltes imaginäres Gespräch behandelt die Frage des Verlangens nach einer stets andernorts imaginierten »wahren« Vergangenheit. Anders lässt darin einen Kalifornier als Repräsentanten einer von Geschichte und Tradition vermeintlich wenig affizierten westlichen Welt diese Vergangenheit weiter östlich, in den »echten Museen von New York« wähnen, während die New Yorkerin entgegnet, in »Paris wäre das Museum die Straße«. Das Interesse am Musealen erscheint im Fortgang der historischen Ereignisse zunehmend zur verzweifelten Suche nach einer »unzertrümmerten Welt« zu werden.91 Diesen Zusammenhang hatte Anders ausführlich auch in den ebenfalls 1941 geschriebenen Tagebuchnotizen Leichenwäscher der Geschichte aus dem kalifornischen Los Angeles thematisiert. Aus den Kostümarsenalen von Hollywood, dem Herzen der amerikanischen Kulturindustrie, in dem ihm in Gestalt von Requisiten und historischen Kostümen das unterdessen zerstörte Europa als Imitation, als versteinertes, »dreifach vermittelte[s] und zehnfach derivierte[s] Stück« begegnete, richtete er den Blick zurück nach

89 Hierzu ausführlicher Ann-Kathrin Pollmann, Die Rückkehr von Günther Anders nach Europa. Eine doppelte Nach-Geschichte, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 11 (2012), 389–409. 90 Stephanie Dobiesz, Besuch im Hades, Über Günther Anders’ Geschichtsphilosophie des Individuums, in: Harald Welzer (Hg.), Nationalsozialismus und Moderne. Tübinger Beiträge zu Philosophie und Gesellschaftskritik 5, Tübingen 1993, 12–25. 91 Günther Anders, Geschichte heute/Die Zahnräder der Geschichte und andere geschichts-­ philosophische Tagebuchblätter, 1941‒1954, LIT 237/W115.

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Günther Anders während eines Besuchs in seiner Heimatstadt Breslau, Aufnahme von 1966.

Europa.92 In der »Lügenwelt des Films«, so die Wendung von Anders’, spiegele sich für ihn in einer nachgerade »akademischen Genauigkeit« bis in die Knopf­ löcher der Kostüme hinein eine hinter ihm liegende geschichtliche Ordnung.93 Die von Anders in den Vereinigten Staaten beobachtete »Dialektik von alt und neu«, das wachsende Interesse an historischen Artefakten, sei nunmehr von der »Geschichte selbst« notwendig gemacht worden.94 Die in Hollywood verfassten Passagen dieses Tagebuchs lesen sich als eine Vorahnung der in Europa begonnenen realen Zerstörung: 92 Anders, Leichenwäscher, 14; vgl. zum Zusammenhang der kalifornischen Tagebuch­ passagen und Anders’ Medienkritik seinen Aufsatz »Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen von Rundfunk und Fernsehen«, siehe dazu Christian Dries, Günther Anders. Eine Einführung, Paderborn 2009, 14. Allgemeiner zum Zusammenhang von Film und Technikkritik bei Anders vgl. Werner Fuld, Zwischen Film und Bombe. Die Kontinuität Andersschen Denkens, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Günther Anders kontrovers, München 1992, 114−123. 93 Anders, Leichenwäscher, 2 f. 94 Ebd., 15.

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»[…] wenn nun aber drüben – was ja durchaus denkbar ist – alles zu Schutt und Asche zerfallen würde; und wenn als Zeugnis des einmal gewesenen Europa nichts anderes übrigbliebe als dieses Klamottenarsenal hier […]. Würde nicht unser Palast am Morgen plötzlich als ein Museum dastehen?«95

In seinen Beschreibungen der »gespenstischen« Szenerie des kalifornischen Kostümfundus kommt ein Gespür für den Zusammenhang von Zerstörung und dinghafter Materialisierung – postmodern gesprochen: der Simulation – der hinter ihm liegenden historischen Welt zum Ausdruck. Die Materialisierung seiner Vergangenheit in historischen Abbildern, das Als-ob des in Europa Zurückgelassenen entspringt in Hollywood allerdings einer ganz besonderen Konstellation: »Der für die historische Zuverlässigkeit der Stücke eingesetzte research staff setzt sich nämlich zum größten Teil aus europäischen, meist jüdischen, Historikern und Archivaren zusammen, die, von Hitler verjagt, erst hier an der Grenze der westlichen Welt zur Ruhe gekommen sind.«96

In den zwei Jahre später verfassten, mit Distanz überschriebenen Passagen beschäftigt sich Anders mit der Geschichte als Deutungshorizont für die Gegenwart. Er setzt sich mit der verbreiteten Auffassung auseinander, erst die zeitliche Distanz befähige zu einer angemessenen Deutung eines Ereignisses. Anders bezieht sich hier explizit auf die geschichtsphilosophischen Entwürfe von Hegel und Marx, die zuallererst einem (politischen) Verständnis der Gegenwart aus ihrer Geschichte entsprangen. »Warum«, fragt Anders, »sollte die Geschichte erst wahr werden?« Eine Distanz zum historischen Geschehen wirke sich in seiner Auffassung negativ auf das Verständnis eines Ereignisses aus: »In der Tat ist ein geschichtliches Ereignis das, was es ist, allein durch seine Profilierung gegen das Mögliche, das zur geschichtlichen Situation gehört hatte. Diese Grundierung des Möglichen kann man aber, da, was überliefert wird, immer nur das Wirklichgewordene ist, von dem Distanzpunkt aus nicht mehr erkennen.«97

Aus der kurzen Tagebuchpassage geht nicht hervor, auf welches geschichtliche Ereignis sich Anders’ Reflexionen beziehen, möglicherweise wusste er bereits im Jahr 1943 von der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Angesichts der zurückliegenden oder aus der räumlichen Distanz verfolgten katastrophischen Ereignisse in Europa drängt sich Anders jedoch sogleich die Frage nach dem Maßstab historischer Deutung auf. Gegenwart und Vergangenheit erscheinen hier auf das engste verquickt: Zum einen stellt sich Anders Gegenwart als »wirklichgewordene«, als eine (unter anderen) mögliche verwirklichte Ver 95 Ebd., 13 f. 96 Ebd., 3. 97 Anders, Geschichte heute/Die Zahnräder der Geschichte, o. S.

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gangenheit dar. Daraus folgt zum anderen, dass die Nähe der Gegenwart zu der aus ihr gedeuteten Vergangenheit das Verstehen wie auch die Überlieferung der geschichtlichen Ereignisse begünstige. Die Gegenwart ist demnach immer auch als Teil der geschichtlichen Situation zu begreifen, in der sich eine Möglichkeit des Vergangenen realisiert hat. Die Geschichte – um die Formulierung Peter Sloterdijks noch einmal negativ aufzugreifen und zuzuspitzen – und der in ihr angelegte Horizont der Möglichkeiten nur erlaube es der Gegenwart, sich zu datieren. Oberflächlich betrachtet mag Anders die Strukturen des postmodernen Zeitbewusstseins vorweggenommen haben. Sein Werk ist voll von Distanzierungsgesten, sei es die Abkehr vom Fortschrittsoptimismus im Verständnis der Zeit nach 1945 als einer Frist, seien es die eigenwilligen Temporalkonstruktionen in seinen Tagebüchern, das zweite Futur und das Als-ob. In diesen Tagebüchern lässt seine Distanzierung von der eigenen biografischen Zeit – die retrospektive Außenschau auf die Erfahrung des geschichtlichen Bruchs mit der Emigration, der distanzierte Blick aus dem Exil auf die Geschehnisse in Europa und die Illusion der Anknüpfbarkeit nach der Rückkehr – gar seine eigene Biografie als eine kaleidoskopische Zusammenschau von Zeiten erscheinen. Und dennoch, im Jahr 1943, als Anders im Exil die Notwendigkeit geschichtlicher Distanz reflektierte, wie auch über dreißig Jahre später, als die Postmoderne den Begriff der »Geschichte« als eines ihrer zentralen Dekonstruktionsfelder benannte, scheint es für ihn keinen Zweifel an der Notwendigkeit geschichtlichen Erzählens und einem normativen Maßstab für die Deutung der Geschichte und der Gegenwart als einer historischen gegeben zu haben. Die Tatsache, dass Anders Ende der 1970er Jahre bei aller inhaltlichen Nähe nicht zu einem Vordenker postmodernen Denkens erklärt werden konnte, sowie die kürzlich erfolgte Ablehnung einer nachgeholten Veröffentlichung im Tumult als Konsensstörer in einer schwer durchschaubaren globalisierten Welt könnten als Ausdruck derselben Einschätzung verstanden werden. Der von ihm erfahrene Geschichtsverlust lässt sich schwerlich von der Ereigniskonstellation der 1940er Jahre lösen und taugt damit weder für das spielerische »Als-ob« der Postmoderne noch für einen befremdeten, nonkonformistischen Blick auf die Gegenwart.

Robert Zwarg

Figuren des Nachlebens Die Kritische Theorie in Amerika

Jede Objektivierung des menschlichen Geistes, ob in der Kunst oder der Wissenschaft, erhebt einen Anspruch auf die Zukunft. Zwar entstehen Kunstwerk wie Text unter spezifischen historischen und gesellschaftlichen Umständen. Aber ihr Geltungsanspruch weist über den partikularen Moment ihrer Genese hinaus. Mit dem Fortschreiten der Zeit ändert sich jedoch die Dynamik zwischen der im Werk verdichteten und seinen Gehalt bestimmenden Geschichte und der neuen Gegenwart. Für die Kunst hat Theodor  W. Adorno jenes Verhältnis als spannungsvolle Konstellation zweier geradezu gegensätzlicher Impulse beschrieben: »Das Nachleben der Werke, ihre Rezeption als Aspekt ihrer eigenen Geschichte, findet statt zwischen dem Nicht-sich-verstehen-Lassen und dem Verstandenwerden-Wollen«.1 Aufmerken lässt nicht nur die Hervorhebung zweier gleichzeitig in das Kunstwerk eingesunkener Intentionen, sondern auch das Substantiv am Beginn des Zitats: Nachleben. Es ist ein eigentümliches Wort, das Adorno hier verwendet. Wie sich dem Grimm’schen Wörterbuch entnehmen lässt, kannte man das Kompositum schon im 18. und 19. Jahrhundert. Ein Wort von Goethe und einen Satz aus Georg Gottfried Gervinus Geschichte der deutschen Dichtung führen die Brüder als Beleg seiner Verbreitung an. Der Sache nach reicht es freilich weiter zurück: Schon der Wahrheitsanspruch der griechischen Tragödien oder von Dantes Göttliche Komödie zielte auf nichts weniger als die Ewigkeit. Und dennoch ist das Nach- und Überleben solcher und anderer Schriften keineswegs selbstverständlich. Es war Aby Warburg, der im Kontext seiner Studien zur Renaissance den Begriff des Nachlebens ins Zentrum seines Forschungs- und Bibliotheksprogramms gehoben hat.2 Nicht als lineare, chronologische Abfolge von »Einflüssen« solle die Geschichte der Bilder und Texte verstanden werden, sondern als eine »unreine« Zeit der Metamorphosen, des Überlebens und geister 1 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Darmstadt 1998, 448. 2 Vgl. Georges Didi-Huberman, Artistic Survival. Panofsky vs. Warburg and the E ­ xorcism of Impure Time, in: Common Knowledge  9 (2003), H.  2, 273−285. Ausführlich: Ders., Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg, Berlin 2010.

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haften Fortlebens.3 Tatsächlich enthält die Rede vom Nachleben die Vorstellung einer anhaltenden Wirkung und Präsenz, während das, was sich da zeigen soll, eigentlich schon verschwunden, verblichen oder gestorben ist. Anders als beim Begriff der Aktualität schwingt in jenem des Nachlebens immer ein Moment Vergänglichkeit mit – schlichtes Leben müsste schließlich nicht Nachleben genannt werden. Zuweilen scheint es, als ob sich die Bedeutung eines kulturellen Gutes überhaupt erst nach dessen Zeit entfaltet. »Die großen Werke warten«, schreibt Adorno in diesem Sinne in der posthum veröffentlichten Ästhetischen Theorie.4 Auch Warburgs Idee des Nachlebens zielte auf eben diesen Umstand: dass Werke sich dem Wechsel der Stile und Moden widersetzen, dass sie dem Vergessen anheimfallen und dann plötzlich nicht einfach mechanisch, in ihrer vermeintlichen Urgestalt »wiederentdeckt«, sondern auf komplexe und das Werk selbst verwandelnde Weise »erinnert« werden.5 Warum sollte es Ideen anders ergehen? Auch die geistig-intellektuelle Gegenwart ist profund anachronistisch, also durchsetzt von Relikten vergangener Zeiten, deren Geschichte mit der Rede vom »Einfluss« nicht annähernd gefasst werden kann. Sein ganzes Deutungspotenzial könnte der Begriff des Nachlebens gerade anhand jener Schriften entfalten, die die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aktualität explizit aufnehmen, also den Geltungsanspruch für die Zukunft nicht nur implizit voraussetzen, sondern selbst zum Thema machen. Dies trifft auf die Kritische Theorie im Allgemeinen und die Philosophie Adornos im Besonderen in hohem Maße zu. Zwar verwehrte sich Max Horkheimer, dem die Kritische Theorie ihren Namen verdankt, gegen Ende seines Lebens dagegen, jemals die Bildung einer Schule intendiert zu haben. Dass aber gerade die Programmatik eines Aufsatzes wie Traditionelle und kritische Theorie sowie Horkheimers wissenschaftspolitische Aktivitäten am Institut für Sozialforschung um der Zukunft willen geschahen, daran kann kein Zweifel bestehen. Als sich eben dieser Zukunftshorizont dramatisch verdunkelte, in der Zeit des durch die Nationalsozialisten erzwungenen Exils, schrieb Adorno entsprechend konsterniert: »Die Tatsache, dass wir keine ›Nachkommen‹ haben, fügt sich der Katastrophensituation stimmig ein.«6 Wie kaum eine andere Theorietradition ist die Kritische Theorie von einem Schwanken zwischen Vergänglichkeit und Aktualität, zwischen Vergangen-Sein und Gegenwärtigkeit geprägt, das in verdichteter Weise in dem Wort »Nachleben« zum Ausdruck kommt. Viel stärker noch als zu Lebzeiten der Gründungsväter zeigt sich dies in der Rezeption durch die sogenannte »zweite Gene 3 Vgl. ders., Artistic Survival, 274. 4 Adorno, Ästhetische Theorie, 67. 5 Vgl. Didi-Huberman, Artistic Survival, 275. 6 Theodor W. Adorno an Walter Benjamin, 27. November 1937, in: Theodor W. Adorno/ Walter Benjamin, Briefwechsel 1928–1940, Nachgelassene Schriften, Bd.  1, Frankfurt a. M. 1994, 300. Vgl. dazu Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. 2003, 23. 

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ration« – und zwar nicht in Deutschland, sondern an einem Ort, an dem die Entfernung zwischen der Gegenwart der Rezeption und der in die Kritische Theorie eingegangenen Geschichte besonders groß ist: den Vereinigten Staaten von Amerika. Bekanntermaßen spielte die Neue Welt eine ebenso entscheidende Rolle in der Internationalisierung der Frankfurter Tradition wie für das Weiterleben der Kultur Weimars im Allgemeinen. Durch die Emigration an die Ostküste oder ins kalifornische Pacific Palisades überlebten die meisten Protagonisten der ersten Generation – Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal und andere – sowie zahlreiche weitere Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler der Zwischenkriegszeit. Einige, wie Marcuse oder Franz Neumann, stellten ihre wissenschaftlichen Aktivitäten explizit in den Dienst der Feindaufklärung durch die Alliierten. Weniger bekannt mag sein, dass die Kritische Theorie vielleicht nirgends eine solche Aufmerksamkeit und Verbreitung erfuhr wie in Amerika – allerdings erst, als ihre Gründer längst nach Europa zurückgekehrt und verstorben waren. Während sich an den Schriften Adornos ablesen lässt, dass die Kritische Theorie in doppelter Weise mit dem Begriff des Nachlebens gedeutet werden kann, zeigt die Rezeption der Frankfurter Tradition in Amerika nicht nur, wie eine nachgeborene Generation dieser zeitlichen und geschichtsphilosophischen Bestimmung gewahr wird, sondern auch, wie darin ein entscheidendes Moment der amerikanischen Besonderheit sichtbar wird. Denn in der literarischen, historischen und ursprungsmythologischen Imagination zeichnet sich das Land durch eine Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit aus, die sich durch den Begriff des Nachlebens erhellen lässt. Zum einen lebt das Gemeinwesen von der Anrufung seines revolutionären Ursprungs, zum anderen erlegen die Vereinigten Staaten als Einwanderungsgesellschaft jedem Mensch das Zurücklassen der eigenen Vergangenheit auf – die freilich verwandelt fortlebt und in vielfältiger Weise erinnert wird. Aus dieser Spannung verschiedener Zeiten bezieht Amerika nicht nur seine anhaltende Faszination, sondern sie beeinflusst auch die Ideen, die ihren Weg aus der Alten in die Neue Welt finden.

Post mortem: Der Zeitkern der Kritischen Theorie Seit Georg Wilhelm Friedrich Hegel sie in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts prominent erwähnte, ist die Eule der Minerva eine kanonische Metapher für das Verhältnis von Philosophie und Geschichte. Die Philosophie, so Hegels teleologische Vorstellung, erscheint erst als »Gedanke der Welt […], nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozess vollendet und sich fertig gemacht hat.«7 Aller Philosophie ist damit ein Moment der Nachträglichkeit 7 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Werke in 20 Bänden, Bd. 7: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Frankfurt a. M. 1986, 28.

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eigen, eine Art konstitutives Zu-spät-Kommen, an dem sich vor allem jene Theorien rieben, denen es emphatisch um die Zukunft zu tun war. Dazu zählt auch und vor allem der Marxismus. Mehr noch als Karl Marx selbst ging die an ihn und Friedrich Engels anschließende Tradition von einer notwendig fortschreitenden Geschichte aus, die aus dem Widerspruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen unweigerlich auf den Kommunismus zutreibe. Dem Marxismus wohnte das geschichtsmächtige Bewusstsein einer bevorstehenden, besseren Zukunft und das Vertrauen auf einen geradezu logischen Gang der Dinge inne. Freilich war der kommunistischen Arbeiterbewegung alles andere als eine Erfolgsgeschichte beschieden. Die Zementierung des historischen Determinismus als politisches Dogma zu Beginn des 20.  Jahrhunderts mochte bereits der Ahnung geschuldet gewesen sein, dass die Geschichte jene Erlösungshoffnung enttäuschen könnte. »Die Marxistische Einheitslehre«, so kommentierte Adorno, »galt, wohl aus dem Vorgefühl heraus, sonst könne es zu spät werden, dem Jetzt oder Nie.«8 Der Statthalter einer offenen Zukunft, Mittel und Zweck zugleich, war und ist dabei der Begriff der Praxis. Oder besser gesagt: das Begriffspaar von Praxis und dem Denken, das sie konzipiert, ja anleiten oder begründen soll, der Theorie. Es ist mindestens eine Untertreibung, dass Adorno einen seiner letzten zur Lebzeiten verfassten Texte ausgerechnet mit Marginalien zu Theorie und Praxis überschrieb. Weder handelt es sich bei dem Essay lediglich um eine »Randnotiz« – die wörtlichen Bedeutung von »Marginalie« –, noch bei dem Thema um ein abseitiges. In den 1960er Jahren war die Frage nach Theorie und Praxis höchst virulent und für die nach Frankfurt zurückgekehrten Denker mehr als ein philosophisches Problem. Nachdem sich die Studentenbewegung in der Hochzeit der »antiautoritären Phase« emphatisch auf die Kritische Theorie bezogen hatte, wandte sie sich, als der Optimismus der Stagnation und Resignation wich, gegen die intellektuellen Väter. Während man Marcuse 1967 in Berlin noch begeistert empfing, wurde er ein Jahr später bereits von einem Großteil der Studenten ausgepfiffen. 1968, so Detlev Claussen, war der »kurze Sommer der Theorie« schon wieder vorbei.9 Anders als später in den Vereinigten Staaten war das Verhältnis der Studenten zur Kritischen Theorie von einer räumlichen, historischen und gesellschaftspolitischen Nähe bestimmt, die noch im Moment des Bruchs und dessen Vehemenz spürbar war. Bekanntermaßen gipfelten die Differenzen in der Besetzung des Instituts für Sozialforschung am 7. September 1968. An Adornos Entscheidung, die Polizei zu rufen, entzündeten sich auch innerhalb des Frankfurter Kreises Differenzen, die das jeweilige Bild der Kritischen Theoretiker ent 8 Theodor W. Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Darmstadt 1998, 759−782, hier 781. 9 Detlev Claussen, Der kurze Sommer der Theorie, in: ders., Aspekte der Alltagsreligion, Frankfurt a. M. 2000, 154–163.

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scheidend prägen sollten. In diese Zeit der Erregung fällt die Arbeit an dem Aufsatz zu Theorie und Praxis, der nicht zuletzt eine verzögerte und verschlüsselte Replik auf das Geschehen darstellte. Marcuse war mit den Entscheidungen des Freunds nicht einverstanden und schrieb an Adorno: »Ich glaube immer noch, daß unsere Sache (die ja nicht nur die unsere ist), eher bei den rebellierenden Studenten aufgehoben ist, als bei der Polizei«.10 Der in den Vereinigten Staaten gebliebene Marcuse war da bereits zum »Guru« der amerikanischen New Left erklärt worden und reagierte auf die deutsche Situation nicht zufällig mit einer genuin angloamerikanischen Formulierung, als er das unbedingte Recht auf »civil disobedience« verteidigte.11 Er sah die Kritische Theorie vor allem durch die Ereignisse in der Neuen Welt bestätigt und begriff die Protestierenden als natürliche Verbündete. »[H]ier in Kalifornien«, so schrieb er nach Frankfurt, werde ihm dies »beinahe jeden Tag vordemonstriert (und nicht nur in Kalifornien).«12 Obwohl Adorno in seiner Antwort betonte, bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis nicht weit von Marcuse entfernt zu sein, hatte der nach Deutschland Zurückgekehrte doch einen anderen Blick auf die Studentenbewegung.13 Ihr Aktionismus, so schrieb er schließlich in den Marginalien, galt ihm als »Pseudo-Aktivität«14, als Praxis um ihrer selbst willen, der eine neue »Theoriefeindschaft«15 entspreche. Gerade weil das Ziel einer umfassenden Veränderung der Gesellschaft in weite Ferne zu rücken schien, versteife man sich umso mehr auf das blinde Mit-Tun: »Wo Erfahrung versperrt oder überhaupt nicht mehr ist, wird Praxis beschädigt und deshalb ersehnt, verzerrt, verzweifelt überwertet.«16 Dass Adorno mit Marcuse nicht übereinkam, liegt keinesfalls in einem Adorno immer wieder reduktionistisch als Charaktereigenschaft zugeschriebenen Pessi­ mismus begründet. Vielmehr durchzieht die Reflexion auf das Verhältnis von Theorie und Praxis Adornos gesamtes Werk und spiegelt die sich wandelnden historischen Erfahrungen wider. Bereits in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie, gehalten im Mai 1931, nimmt Adorno auf den wohl berühmtesten Beitrag zum Verhältnis von Theorie und Praxis Bezug, Karl Marx’ Thesen über Feuerbach aus dem Jahr 1845: »Wenn Marx den Philosophen vorwarf, sie hätten die Welt nur verschieden interpretiert und ihnen entgegenhielt, es käme darauf an, sie zu verändern«, schreibt Adorno, »so ist der Satz nicht bloß aus der politischen Praxis, sondern ebensowohl aus der philosophischen 10 Zit. nach Theodor  W. Adorno/Max Horkheimer, Briefwechsel 1950–1969, in: Theodor W. Adorno, Nachgelassene Schriften, Bd. 4/IV, Frankfurt a. M. 2006, 851. 11 Herbert Marcuse an Theodor  W. Adorno, 4.  Juni 1969, zit. nach ebd., 733 [Engl. im Orig.]. 12 Herbert Marcuse an Theodor W. Adorno, 5. April 1969, zit. nach ebd., 718. 13 Zit. nach ebd., 854. 14 Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, 760. 15 Ebd., 763. 16 Ebd., 760.

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Theorie legitimiert.«17 Dass Praxis ihren Grund und ihre Berechtigung überhaupt in der Theorie hatte, teilte Marx’ Materialismus mit dem Idealismus, den Adorno in einer tiefen Krise begriffen sah. Die Totalität zu begreifen, wie es einst der Anspruch des Hegel’schen Systems gewesen war, schien bereits in der Abenddämmerung der Weimarer Republik unmöglich, noch bevor klar wurde, dass die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg einmal »Zwischenkriegszeit« genannt werden sollten. Als falsch galten Adorno jedoch all die Entwürfe, die auf die eine oder andere Weise den überzogenen Rationalismus entweder durch einen geläuterten Irrationalismus ersetzen wollten – wie die Lebensphilosophie und die durch Heidegger vertretene Ontologie – oder versuchten, es den Naturwissenschaften gleichzutun, wie der Positivismus oder Edmund Husserls Phänomenologie. Jede Philosophie, so Adorno, »der es heute nicht auf Sicherheit des bestehenden geistigen und gesellschaftlichen Zustandes, sondern auf Wahrheit ankommt, sieht sich dem Problem einer Liquidation der Philosophie selber gegenüber.«18 Und dennoch sah Adorno 1931 prinzipiell noch die Möglichkeit, dass echte philosophische Deutung Praxis herbeizwingen könne.19 Mehr als dreißig Jahre später war das anders. Negative Dialektik (1966) ist wie kaum ein weiteres Buch­ Adornos geprägt von der Überzeugung, dass die Philosophie sich angesichts des Weltlaufs gänzlich anders positionieren müsse. Das berührt auch den vorsich­ tigen Bezug auf Marx: Dieser habe »die These vom Primat der praktischen Vernunft von Kant und dem deutschen Idealismus empfangen und geschärft zur Forderung, die Welt zu verändern anstatt sie zu interpretieren.« Nun entdeckte Adorno darin das »Programm absoluter Naturbeherrschung, ein Urbürgerliches«.20 Die Kategorien, an denen im Marxismus das Versprechen der Revolution und des Fortschritts hing – Klasse, Proletariat oder schlicht: die Geschichte – waren problematisch geworden. Die Konsequenzen, die Adorno daraus zog, sind bekannt und gelten bis heute als Beleg der Resignation des Kritischen Theoretikers. Dabei ist zum einen die vermeintliche Hoffnungslosigkeit bei Adorno immer gebrochen durch eine Art kämpferisches Festhalten an den Bedingungen der Möglichkeit des Denkens überhaupt. Und dieses Denken wird zum anderen gerade durch die Praxis umso notwendiger: »Das Verzweifelte, daß die Praxis, auf die es ankäme, verstellt ist, gewährt paradox die Atempause zum Denken, die nicht zu nutzen praktischer Frevel wäre.«21 Verschwunden war das Beharren auf einer offenen Zukunft also nie, so wenig wie schlicht von einer Ablösung der Kritischen Theorie vom Marxismus die Rede sein kann. Vielmehr hatte sich gleich 17 Theodor  W. Adorno, Die Aktualität der Philosophie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Darmstadt 1998, 338. 18 Ebd., 331. 19 Ebd., 339. 20 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Darmstadt 1998, 242. 21 Ebd., 243.

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sam die Statik im Verhältnis von Theorie und Praxis geändert. War der Theorie einst die Aufgabe vorbehalten, Praxis zu begründen und vorzubereiten, fiel ihr nun die traurige Pflicht zu, die Frage zu beantworten, warum Praxis gescheitert war. Dazu gehörte auch, dass die Theorie selbst dem ihr eigenen Moment der Nachträglichkeit gewahr wird. Kaum zufällig kehrt deswegen in Adornos Dissonanzen Hegels Metapher aus der Rechtsphilosophie zurück: »Der Hegelsche Satz, die Eule der Minerva beginne am Abend ihren Flug, bewährt in der Geschichte des Geistes sich daran, daß der Gedanke sich auf Begriffe zu konzentrieren pflegt, wenn sie, wie man so sagt, problematisch geworden sind; wenn ihnen nicht mehr angemessen ist, was sie bezeichnen, und wenn sie zum Verschwinden verurteilt scheinen.«22 Die Konzentration, in der die Begriffe festgehalten werden, ist nichts anderes als das, was hier zu Anfang als Nachleben bezeichnet wurde. Die Gründe, warum bestimmte Begriffe der Wirklichkeit nicht mehr angemessen sind, warum sie also problematisch wurden, diese Gründe sind allerdings nicht nur politischer Art, sondern reichen weit tiefer als die Frage nach dem Subjekt der Geschichte. Auch das verdeutlicht Negative Dialektik, deren erster Satz den hier verhandelten Begriff des Nachlebens mit der bereits bei Warburg vorhandenen Assoziation des Überlebens versieht: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.«23 Anders gesagt, die Kritische Theorie selbst kann nicht nur insofern als ein Nachleben in Begriffen gelten, weil der Moment der Verwirk­ lichung der Philosophie versäumt war, sondern auch, weil etwas eingetreten ist, »was so noch nie zu fürchten war.«24 Ebenso bekannt wie Adornos Kritik an blinder Praxis und mindestens ebenso missverstanden ist ein Satz aus Minima Moralia, den der Kritische Theoretiker in Negative Dialektik wieder aufnimmt: »Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.«25 Auch Adornos eigenes Überleben ist nicht zuletzt der Weitsicht Horkheimers zu verdanken, der das Frankfurter Institut für Sozialforschung zeitig in ein Land verlegte, das »weit vom Schuss« war und den Kritischen Theoretikern ermöglichte, von der anderen Seite des Atlantiks zu beobachten, wie das europäische Festland in ein Trümmerfeld verwandelt wurde. Bereits während der Zeit des Exils vermutete Adorno, dass nicht nur die Idee der Praxis beschädigt wurde, sondern auch der Begriff der Theorie. Die 22 Theodor W. Adorno, Dissonanzen, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 14, Darmstadt 1998, 127. 23 Ders., Negative Dialektik, 15. 24 Ebd., 355. 25 Ebd.

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zukünftigen Anstrengungen der exilierten Frankfurter, schrieb Adorno an Horkheimer, dürften keinen »Theorien im herkömmlichen Sinn« gelten, sondern »Gesten aus Begriffen«.26 Kein Buch ist so sehr von dem Versuch geprägt, sich in jenen Gesten aus Begriffen zu realisieren und zu verstehen, was sich in den Jahren 1939 bis 1945 vollzog, wie die gemeinsam von Adorno und Horkheimer verfasste Dialektik der Aufklärung. Heute gilt sie als eine der ersten Schriften, die den Holocaust in ihre Denkbewegung aufgenommen und zu erklären versucht hat, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«27 Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit; nämlich insofern als die Geschichte, die in das Buch einging, keinesfalls auf jeder Seite dieselbe ist. Anders als Negative Dialektik spricht die Dialektik der Auf­klärung kaum von dem, was später Holocaust genannt wurde, sondern meistens vom »Faschismus«. Mit anderen Worten: Das Buch ist selbst unentschieden bezüglich der Dimensionen des Grauens, das zu Beginn der 1940er Jahre in Amerika öffentlich wurde. Das verändert auch den Ton der Dialektik der Aufklärung und die Reichweite ihrer Argumente: was immer wieder als Hyperbolie wahrgenommen und moniert wird, ist keine bloße Pose, sondern der Ausdruck eines begrifflich entfalteten Erschreckens. Streng genommen ist erst am Ende der Schrift der Untergang geschehen, von dem die Autoren in der Vorrede sprechen. Die Rede vom »Zeitkern« der Kritischen Theorie meint damit nicht vorrangig ihr Entstanden-Sein in partikularen historischen Umständen, sondern die Sedimentierung von Geschichte in den Worten und Begriffen selbst. So kommt in der Dialektik der Aufklärung mehrfach das Wort »Katastrophe« vor; erst aber in der siebten, als letztes geschriebenen These der »Elemente über den Antisemitismus« ist das gemeint, was heute mit dem Wort verbunden wird.28 In Negative Dialektik wiederum, die gut 20 Jahre nach den »Philosophischen Fragmenten« erscheint, ist das Bewusstsein um die Katastrophe erkenntnisleitend. Sie verdichtet sich, so Adorno, in dem neuen Imperativ, den Hitler der Menschheit aufgezwungen habe, nämlich »ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.«29 Insofern ist das zeitliche Präfix im Begriff des Nachlebens, mit dem die Kritische Theorie hier beschrieben wurde, doppelt bestimmt: nach dem Scheitern der Praxis und nach der Katastrophe. 26 Theodor W. Adorno an Max Horkheimer, 21. August 1941, zit. nach Willem van Reijen/Gunzelin Schmid-Noerr (Hgg.), Vierzig Jahre Flaschenpost. »Dialektik der Aufklärung« 1947−1987, Frankfurt a. M. 1987, 9. 27 Theodor  W. Adorno/Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Theodor  W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Darmstadt 1998, 11. 28 »Die Angehörigen anderer Sparten der Arbeitsteilung können mit der Gleichgültigkeit zusehen, die der Zeitungsleser angesichts der Meldung über Aufräumungsarbeiten am Schauplatz der Katastrophe von gestern nicht verliert.« Ebd., 232. 29 Adorno, Negative Dialektik, 358.

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Post festum: Tradition in Amerika Es war diese in die Kritische Theorie eingegangene Geschichte, die in der Rezeption der Frankfurter Tradition sich nicht unmittelbar verstehen ließ  – um den eingangs zitierten Satz Adornos wieder aufzunehmen – und doch verstanden werden wollte; und dies zumal in einem Land, das ein ganz eigenes Verhältnis zur Zeitlichkeit ausgebildet hat. Es gibt eine Erzählung, die vielleicht wie keine andere verdeutlicht, warum der Begriff des Nachlebens Entscheidendes an der eigentümlichen Konstitution Amerikas trifft, die seit jeher den Diskurs über die Unterschiede von Alter und Neuer Welt beflügelt und inspiriert. Washington­ Irvings Rip van Winkle (1819) zählt zu den kanonischen literarischen Texten der amerikanischen Literatur. Der titelgebende Protagonist der Erzählung ist ein gut­ mütiger Bewohner eines von holländischen Kolonisten gegründeten Dorfes in den Catskill Mountains zur Zeit der britischen Kolonialherrschaft. Beliebt beim weiblichen Geschlecht (aber in ständiger Flucht vor seiner eigenen Frau), einfältig und der körperlichen Arbeit abhold, lebt er in den Tag hinein und streift am liebsten mit seinem Hund Wolf durch die Wälder. Kaum etwas ist ihm wichtiger, als den Mühen, die das Dorf- und Familienleben für ihn darstellen, aus dem Weg zu gehen. Auf einem dieser Spaziergänge findet sich Rip van Winkle auf einmal an einem sonderbaren Ort, inmitten einer sonderbaren Prozession einer sonderbaren Gesellschaft wieder. Freundlich lassen sie ihn in ihre Mitte und laden ihn ein, den Inhalt eines mysteriösen Fläschchens zu trinken: »Ein Zug veranlaßte den andern; und er wiederholte die Besuche bei der Flasche so oft, daß seine Sinne endlich überwältigt wurden, seine Augen im Kopfe schwammen, sein Haupt sich allmählig neigte, und er in einen tiefen Schlaf verfiel.«30 Als er wieder erwacht, ist seine Welt auf den Kopf gestellt. Das Haus, in dem er einst wohnte, ist verfallen, keiner der Dorfbewohner erkennt ihn – sein Bart ist lang gewachsen  – und selbst sein Hund hat ihn vergessen. Die Schenke, in der er gerne zu Gast war, ist inzwischen ein Hotel geworden. Auf dem Marktplatz werden politische Reden gehalten, deren Sprache van Winkle wie »babylonisches Kauderwelsch« vorkommt. Schließlich entdeckt er sogar sein Ebenbild aus der Zeit, da er in die Wälder gezogen war. Verzweifelt ruft er aus: »Ich bin nicht Ich selbst, – ich bin Jemand anderes, – das dort bin Ich – nein – das ist Jemand anders, der sich in meine Schuhe gesteckt hat. – Ich war gestern Abend Ich selbst, aber ich schlief auf dem Berge ein, und sie haben mir meine Flinte vertauscht und Alles ist verändert, und Ich bin verändert, und weiß nicht mehr wie ich heiße, oder wer ich bin!«31 Erst der Chronist des Dorfs kann das Rätsel, das Rip van Winkle den Verstand raubt, lösen; doch dem aufmerksamen Leser ist 30 Washington Irving, Rip van Winkle, in: ders., Gottfried Crayon’s Skizzenbuch, Hamburg 2012, 41–62, hier 41. 31 Ebd., 58.

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bereits vorher klar, was hier geschehen ist, denn der Verfasser gibt einen Hinweis: Anstelle des Baums, der dem Gasthaus Schatten zu spenden pflegte, befindet sich dort nun »eine Flagge, auf welcher eine sonderbare Zusammenstellung von Sternen und Streifen zu sehen war.«32 Rip van Winkle ist in einer holländischen Kolonie unter der Herrschaft des englischen Königs eingeschlafen und nach zwanzig Jahren tiefen Schlummers in Amerika erwacht, als »freier Bürger der vereinigten Staaten«.33 Der Bruch in der Zeit, der Austritt aus Gewohnheit und Alltag, der Verlust des eigenen Selbst und die Konfrontation mit einer fremden Sprache, ja einem fremden Leben – mit diesen Momenten erweist sich Irvings Rip van Winkle als parabelhafte Literarisierung der Idee des Neuanfangs, die wie keine andere die Wahrnehmung und das Selbstverständnis Amerikas als Neue Welt geprägt hat. Zwar wird der Schock des unfreiwilligen Vergessen-müssens durchaus in der Erzählung thematisiert; an ihrem Ende jedoch triumphiert der Neubeginn. Was sich in zahllosen Biografien von Emigranten oder der mythisch aufgeladenen Figur des Siedlers verdichtet, hat eine Entsprechung in Amerikas Gründungsmythos. Erkämpft mit einem heroischen Sieg über die Kolonialherrschaft, konstituiert durch den Akt einer Revolution, mit der die Grundlage für eine historisch einzigartige Selbstgesetzgebung gelegt wurde, und somit der Versuch einer radikalen Ablösung von den Übeln Europas – dies sind die Topoi, mit denen die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika immer wieder verbunden wurde. Die Existenz der Amerikanischen Republik, so schreibt Hannah Arendt in Über die Revolution, verdanke sich keiner »historischen Notwendigkeit« und keiner »organischen Entwicklung«, »sondern einzig einem voll bewußten und wohl überlegten Akt der Gründung der Freiheit.«34 Bereits der Schauplatz von Irvings Erzählung nimmt Momente dieser Ursprungserzählung auf: Die Dorfgemeinschaft in den Catskill Mountains er­innert daran, dass die Besiedelung des Westens, also die beständige Verschiebung der frontier, im Osten begann und dass sich der radikaldemokratische Republikanismus in den Vereinigten Staaten vor allem den kleinen, überschaubaren Gemeinden verdankt, die mit den town halls eine eigene Form der Mitbestimmung hervorgebracht haben. Der Mann auf dem Markt, der laut über den Bürger und dessen Rechte spricht, symbolisiert die Emphase der Öffentlichkeit, die Arendt so vehement gegenüber den europäischen Gemeinwesen hervorhob. In Amerika geschah die Revolution um des Politischen willen, nicht als Lösung einer sozialen Frage. Der Reichtum, den die Neue Welt den Emigranten des 18. und 19.  Jahrhunderts versprach, schob sich vor das Elend, dem viele aus Europa entfliehen wollten; Rip van Winkle ist dementsprechend zwar arm, »aber nicht 32 Ebd., 54. 33 Ebd., 61. 34 Hannah Arendt, Über die Revolution, München 2011, 279.

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verelendet«.35 Dennoch ist der Neuanfang weder im Falle van Winkles noch bei der Konstitution Amerikas absolut. Über van Winkle berichtet der fiktive Erzähler, dass er seine wunderliche Geschichte immer wieder erzähle, dabei kleine Details verändere und als »Chronik aus den alten Zeiten«36 verehrt werde. Ganz ähnlich funktioniert auch die in der amerikanischen Öffentlichkeit alternierende Rezitation des revolutionären Ursprungs, der zwar als radikaler Bruch erinnert wird, aber keiner war. »Schließlich ist es auch der Amerikanischen Revolution nicht gelungen, den novus ordo saeclorum, der heute noch auf jedem Dollarschein an den ursprünglichen Anspruch der Revolution gemahnt, zu etablieren; und die amerikanische Verfassung, ihr größtes und bleibendes Dokument, ist auch keineswegs zu einer ›Grammatik der Freiheit‹ geworden.«37 Nicht eine Wirklichkeit wurde mit dem Neuanfang gestiftet, sondern ein Ideal.38 So handelt es sich bei den Vereinigten Staaten um ein Gemeinwesen, dessen Gegenwart eine beständige Bewährung am revolutionären und mythisch auf­ geladenen Ursprung ist; die Gegenwart Amerikas ist das Nachleben seines Anfanges. Und gerade weil der Anfang Amerikas die Loslösung der Neuen von der Alten Welt darstellt und damit negativ immer auf Europa bezogen bleibt, lebt auch Europa nach. Insofern ist die Rede vom Bruch, hypostasiert zum Gründungsakt ex nihilo, wahr und falsch zugleich. Sie ist wahr, weil sie ein Bedürfnis und eine Besonderheit bezeichnet, die in Amerika niemals vollständig verschwunden sind. Sie verdeckt allerdings – so Hannah Arendt, die selbst die Alte und die Neue Welt antithetisch gegenübergestellt hat – dass »Amerika von Anfang an im Guten wie im Bösen eine Angelegenheit Europas gewesen und geblieben ist.«39 Das aber affiziert die Art und Weise, wie Zeit in Begriffe, das Vorher mit dem Nachher in Zusammenhang gebracht wird: den Status von Geschichte. Nicht ohne Sarkasmus schreibt der Historiker Daniel J. Boorstin: »For nearly every country in Europe, the past is the storehouse of greatness and romance, which declines into the prosaic, insoluble problems of the present.«40 Selbst wo die Größe der Vergangenheit längst verfallen und im wörtlichen wie metaphorischen Sinne zur Ruine geworden ist, zeugten die Reste mittelalterlicher, feudaler, aristokratischer oder monarchischer Kultur immer noch von mehr Glorie als ein Neubau. Die ameri­ kanischen Pfade in die Vergangenheit, also das Verhältnis zur Tradition, sei aber ein anderes. Nostalgie, Respekt vor dem Alten nur weil es alt ist, sei die amerikanische Sache nicht: »The great men and great works of our national history seem 35 Ebd., 86. 36 Irving, Gottfried Crayon’s Skizzenbuch, 51. 37 Arendt, Über die Revolution, 85. 38 Vgl. dazu Trent Schroyer, Cultural Surplus in America, in: New German Critique 26 (1982), 81–117. 39 Arendt, Über die Revolution, 178. 40 Daniel J. Boorstin, America and the Image of Europe. Reflections on American Thought, New York 1960, 81.

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great to us precisely, because they are still alive.«41 Nicht als Abfolge sich gegenseitig ablösender Epochen begreife man in Amerika Geschichte, sondern als ewige Gegenwart: »a single broad stream, the unbroken living current of an American Way of Life«.42 Diese Gegenwart als beständige Erneuerung vertrage sich nicht mit der Vergötzung einer Ruine, sondern brauche die Erneuerung auch im wörtlichen architektonischen Sinne: originalgetreuer Aufbau statt der hermetischen Versiegelung verfallener Größe.43 Die Altstadt Bostons oder das neu errichtete Colonial Williamsburg  – das damals Boorstin vor Augen stand  – zeugen von der Neigung zum Reenactment statt der Aneignung von Vergangenem zur sinnstiftenden Anreicherung der Gegenwart. In Amerika, so bemerkte bereits einer der berühmtesten europäischen Besucher der Neuen Welt seiner Zeit, Alexis de Tocqueville, gelte für die Vergangenheit ungefähr dasselbe wie für die Zukunft: »[I]t does not exist.«44 Wert wäre es, der These nachzugehen, ob in Amerika nicht die Natur das Residuum von Geschichte ist, wie in Bernard Malamuds Roman A New Life (1961) en passant angedeutet: »Die wahre Geschichte der Stadt war die Natur; in den Straßen und im Park gab es keinen Springbrunnen und keine Plastik zu Ehren irgendeines bedeutenden Menschen oder irgendeines Ereignisses aus der Vergangenheit.«45 Mit der Besiedelung des Westens und nicht zuletzt der Vertreibung und Ermordung der als »Wilde« imaginierten indigenen Bevölkerung hatte sich schließlich realgeschichtlich vollzogen, was Adorno und Horkheimer »Naturbeherrschung« genannt hatten; was erfolgreich besiegt wurde, kann auch gefahrlos erinnert werden. Wovon man sich aber nie ganz trennen kann, wie vom europäischen Erbe, das zieht umso stärkere Abwehr nach sich. Louis Hartz hat diese Form der Beschneidung des Zeitbewusstseins um Vergangenheit und Zukunft auf eine beharrliche Gegenwart, und die Dynamik (beziehungsweise deren Mangel), die daraus resultiert, als eigentümliche Form des Traditionalismus, will sagen: der Unbeweglichkeit beschrieben.46 »Neue« Gesellschaften wie die Vereinigten Staaten, Australien oder Kanada seien alle durch die Herauslösung eines spezifischen Teils der europäischen Geistes- und Sozialgeschichte entstanden. Im Falle Amerikas sei es das Element des Bürgerlichen, das aus seinem spannungsvollen Zusammenhang von Feudalismus und Sozia 41 Ebd., 82. 42 Ebd., 83. 43 Vgl. ebd., 86. 44 Alexis de Tocqueville, Democracy in America. Historical-Critical Edition, hg. von Eduardo Nolla, Indianapolis, Ind., 2010, 643, Fn. n. De la démocratie en Amérique erschien in zwei Bänden 1835 und 1840. Tocqueville war im Auftrag der französischen Regierung in den Jahren 1831/1832 zwei Mal in die Vereinigten Staaten gereist. 45 Bernard Malamud, Ein neues Leben, Köln 1984, 89. 46 Vgl. Louis Hartz, The Founding of New Societies. Studies in the History of the United States, Latin America, South Africa, Canada, and Australia, San Diego, Calif./New York/London 1964, 3.

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lismus – von dem sich das Bürgertum jeweils nach hinten und nach vorne absetzte – entfernt und nach Amerika transferiert wurde. Das Produkt bezeichnet Hartz als »fragment tradition«; die neuen Gesellschaften sind naturalisierte, verewigte Bruchstücke eines einst europäischen, dynamischen und dramatischen Gesamtzusammenhangs. »In every case the conservatism of the fragment un­ looses the drama, the embryonic telos, that Europe has contained and stifled. The world has shrunk, but precisely for that reason, it has blossomed as well.«47 Insofern ist Hartz’ Terminologie irreführend. Um Traditionen im strengen Sinne, die doch begrifflich die Weitergabe geistiger und praktischer Belange durch die Zeit hindurch bedeuten, handelt es sich hier gerade nicht. Traditionen sind vielmehr das, was herüber gerettet wurde und subkutan in den neuen Gesellschaften weiterwirkt: das europäische Erbe, von dem die Abtrennung nie vollständig gelingt. Dies aber widerspricht dem Selbstverständnis eines Gemeinwesens, das sich selbst als creatio ex nihilo imaginiert, und wird weiterhin erschwert durch die Dynamik einer bürgerlichen Gesellschaft, in der alles »Ständische und Stehende verdampft« und alles »Heilige entweiht« wird.48 »In einem radikal bürgerlichen Land wie Amerika«, schreibt Adorno, »wurde daraus allseitig die Konsequenz gezogen. Tradition sei verdächtig oder Importartikel mit vermeintlichem Seltenheitswert. Die Abwesenheit traditioneller Momente drüben, und der Erfahrungen, die mit ihnen verbunden sind, verhindert ein Bewußtsein zeitlicher Kontinuität.«49 Diese Diagnose eines Mangels an Tradition war für Adorno keineswegs das Produkt einer alteuropäischen Überlegenheit, sondern wurzelte im »gesellschaftlichen Verhältnis selber«; auch die in Deutschland zu beobachtende »Krise jeglichen historischen Bewußtseins«50 galt ihm als Symptom ein und desselben Zusammenhangs. Und dennoch wirkt im Topos der Traditionslosigkeit auch etwas von der Besonderheit der Vereinigten Staaten als bürgerlicher Gesellschaft par excellence nach, die sich auch in der Rezeption der Schriften Adornos, Horkheimers et al. Geltung verschafft.

Post scriptum: Die Kritische Theorie in Amerika Wenn es stimmt, dass sowohl die Kritische Theorie als auch die Vereinigten Staaten in mehrfacher Weise von Formen des Nachlebens bestimmt sind, ja wenn sie selbst Theorie und Gemeinwesen gewordene Arten des Nach- und Fort­ lebens sind, dann ist kaum überraschend, dass sich auch das Schicksal der Kriti 47 Ebd., 9. 48 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-EngelsWerke, Bd. 4, Berlin 1969, 459–493, hier 465. 49 Theodor W. Adorno, Über Tradition, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, Darmstadt 1998, 310–320, hier 310 f. 50 Ebd., 311.

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schen Theorie in Amerika seit den 1960er Jahren als das Nachleben einer Tradition beschreiben lässt. Damit ist jedoch weniger die Zeit Adornos, Horkheimers, ­Marcuses oder Blochs im Exil gemeint, deren Kontext und Wirkung inzwischen hinlänglich erforscht ist,51 sondern vielmehr die Zeit ab den 1960er Jahren, als die Quellen, bis auf wenige Ausnahmen, auf sich allein gestellt und der freien Aneignung anheimgefallen waren. Zwar waren die Texte und Denkfiguren Adornos, Marcuses und anderer präsent, wurden häufig übersetzt, kommentiert und haben einen eigenen Forschungsbereich hervorgebracht, der sich heute kaum noch überblicken lässt. Nicht zu überschätzen ist die Intensität, mit der sich die Zeitschriften Telos (1968 in Buffalo gegründet) und New German Critique (gegründet 1973 in Madison) der Kritischen Theorie und dem sogenannten Westlichen Marxismus widmeten und zu ihrer Verbreitung beitrugen. Doch wurde spätestens um 1989 herum deutlich, dass den Ideen gewissermaßen die Lebensenergie ausgegangen war – ganz als hätte sich der Satz Jean-Paul Sartres realisiert, dass »die Intellektuellen in den Vereinigten Staaten die europäischen Ideen zu einem Strauß zusammenstellen, einen Augenblick daran riechen und dann wegwerfen, weil Sträuße drüben schneller verwelken als in anderen Klimazonen«.52 Mit anderen Worten: Um 1989 wurde die Kritische Theorie als Nachleben, das nicht lebt, wahrgenommen. Kaum jemand hat diesen allmählichen Verlust der Spannkraft einst glühender politischer Ideen und deren Domestizierung im akademischen Betrieb aufmerksamer registriert als der 2004 verstorbene Telos-Herausgeber Paul Piccone. Der 1950 aus Italien nach Amerika emigrierte Piccone hatte sich aufgrund von Beharrlichkeit, Charisma und einer schier unendlichen Lust an Streit und Diskussion nach nur drei Ausgaben als Chefredakteur von Telos durchgesetzt; ab 1973 übernahm er darüber hinaus fast zwei Jahrzehnte lang Druck und Satz für New German Critique. Seine früheste Prägung war nicht etwa die Kritische Theorie gewesen, sondern die Phänomenologie Edmund Husserls, die seit der Nachkriegszeit für nicht wenige Studierende der Philosophie in den Vereinigten Staaten das Einfallstor zur später so genannten »continental philosophy« darstellte. Sein Leben lang versuchte Piccone, die Phänomenologie mit dem Marxismus und der Frankfurter Tradition zu versöhnen.53 Umstritten wegen seiner zuweilen recht freimütigen Eingriffe in die bei Telos veröffentlichten Texte und einem durchaus rüden Ton, avancierte er nichtsdestotrotz zum Energiezentrum des Denkraums Kritischer Theorie in Amerika. Eine akademische Karriere blieb ihm nach einer kontroversen und schließlich vor Gericht entschiedenen tenureVerweigerung Anfang der 1980er Jahre verstellt. Von da an widmete er sich voll 51 Vgl. ausführlich Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile, Minneapolis, Minn., 2009. 52 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur?, Reinbek bei Hamburg 1981, 187. 53 Vgl. Paul Piccone, Phenomenological Marxism, in: Telos 9 (1971), 3–31.

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ständig der Zeitschrift, die mit ihm nach New York umzog und dort noch heute ihre Redaktion in der Lower East Side unterhält. Zu Piccone wie zu Telos gehörten nicht nur Polemik, Streit und Ironie, sondern auch die ständige Reflexion auf sich selbst und die eigene Mission. In diesem Sinne veranstaltete die Zeitschrift 1990 eine Konferenz in Elizabethtown (Pennsylvania), die den Titel »Does Critical Theory have a future?« trug.54 Die Antwort, die in dieser Frage bereits mitschwang, wurde von Piccone kurz darauf in aller Deutlichkeit im internen Newsletter der Zeitschrift gegeben. Kritische Theorie bedeute heute überhaupt nichts mehr: »The words were the same but the spirit was gone.«55 Was war das für ein »spirit«, für ein »Geist«, dessen Verschwinden Piccone hier gewahr wurde? Gemeint war die Zeit der 1960er und 1970er Jahre, als man die Schriften der Kritischen Theorie ausschließlich durch das »Prisma der Erwartung« (Nabokov) wahrgenommen hatte. In der Bundesrepublik war die Kritische Theorie vor allem in der optimistischen Anfangsphase rezipiert worden. In Amerika hingegen war die Aneignung der Frankfurter Tradition die Reaktion auf ein wachsendes Krisenbewusstsein. Sie begann genau in jenem Moment an Schwung zu gewinnen, als die New Left eine historische Spaltung durchlief und sich an der Schwelle einer beispiellosen Radikalisierung befand. Bei der Jahresversammlung der Students for a Democratic Society in Chicago 1969 trennten sich das eher liberale und das militant leninistische Lager. Aus letzterem ging die berüchtigte Weatherman-Gruppe hervor, die bis in die 1970er Jahre aus dem Untergrund Anschläge verübte. Obwohl Marcuse bereits vorher medial als Vordenker der New Left inszeniert wurde, begann die Auseinandersetzung mit seinen Schriften eigentlich erst nach dem Höhepunkt der Studentenbewegung, im Moment ihres Zerfalls. Die Hoffnung, mit den Mitteln der Kritischen Theorie nicht nur eine gescheiterte Praxis begreifen, sondern auch durch die Theorie wieder Praxis generieren oder begründen zu können, entstand in einer Zeit der Orientierungslosigkeit. Die Ergebnisse des Rezeptionsprozesses, der Ende der 1960er Jahre begann, waren mit der deutschen Situation allerdings durchaus vergleichbar. So war an der Kritischen Theorie all das umstritten, was sich der politischen Erwartung widersetzte. Während Marcuse eher als optimistischer Verbündeter wahrgenommen wurde, haftete Adorno auch in Amerika das Klischee des »pessimistischen« und »resignativen« Denkers alteuropäischer Prägung an. Seine Negative Dialektik, so ein zeitgenössischer Kommentar der Philosophin Susan Buck-Morss, habe zwar die philosophische Methode revolutioniert, sei jedoch keine Methode für Revolutionäre.56 Und ebenso waren auch diejenigen Kommentatoren umstrit 54 Vgl. Telos Staff, Does Critical Theory have a Future? The Elizabethtown »Telos« Conference (February 23–25, 1990), in: Telos 82 (1990), 111–130. 55 Paul Piccone, in: Telos Public Sphere (Oktober 1990), 3 f. 56 Vgl. Susan Buck-Morss, The Dialectics of T. W. Adorno, in: Telos 14 (1972), 137–144, hier 144.

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ten, deren Erwartungen entweder weniger hoch gesteckt waren oder die schlicht Zweifel hegten, ob mit Adorno, Marcuse und Horkheimer der Übergang von der Theorie in die Praxis überhaupt gelingen konnte. Das paradigmatische Beispiel dafür sind die Diskussionen um die erste um­ fassende und heute in viele Sprachen übersetzte Studie zur Kritischen Theorie, Martin Jays Dialectical Imagination (1973). Sein Werk, das nicht nur viele bis dahin im englischsprachigen Raum unbekannte Materialien nutzte, sondern auch auf zahlreichen Gesprächen mit Max Horkheimer, Leo Löwenthal und anderen beruhte, war einerseits selbst ein Versuch, der Kritischen Theorie bis 1950 eine verbindliche und somit tradierbare Gestalt zu geben. Andererseits ereilte den Autor von seinen zeitgenössischen Lesern – neben vielem Lob – auch das Verdikt, die Kritische Theorie vorzeitig zu den Akten gelegt und sie nicht in ihrer lebendigen Aktualität präsentiert zu haben: »The flaw is not that this is an intellectual history«, schrieb Russell Jacoby, »but that it is a history of intellectuals; its weakness is not that it abstracts concept from a socio-economic reality and gives them a life of their own, but it gives them no life, reducing them to functions of particular people.«57 An den Debatten um den Historiker, der aus seiner Ferne zur praktischen wie theoretischen Militanz nie einen Hehl gemacht hat, zeigten sich auch die akademischen Erwartungen sowie deren sukzessive Enttäuschung. Die Kritische Theorie hatte vor allem vor dem Hintergrund einer analytisch und pragmatisch dominierten Philosophie und einem als verstaubt und lebensfern wahr­ genommenen Universitätsbetrieb an Attraktivität gewonnen. Doch bereits in den 1980er Jahren war spürbar, dass sich die mit jener Attraktivität einhergehende Hoffnung möglicherweise nicht realisieren würde. Dies lag nicht zuletzt daran, dass sich die politische Erwartung vorrangig an jene marxistischen Begriffe geknüpft hatte, die nicht nur historisch problematisch geworden waren, sondern denen in Amerika generell keine große Anziehungs- oder Beschreibungskraft zukam – vor allem der Begriff der Klasse. Dies war auch der Grund, warum bis dahin so oft darüber gestritten worden war, ob und wie sehr die Kritische Theorie als marxistisch zu kennzeichnen sei. Verstärkt wurden diese Zweifel darüber hinaus durch den Import einer anderen europäischen Denktradition. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der französischen, später als »postmodern« apostrophierten Theorieentwürfe, die in Amerika zur French Theory verschweißt wurden, war die Kritische Theorie zu einer Strömung unter anderen geworden.58 Gemeinsam mit dem Marxismus fiel auch sie unter die so intuitiv eindrückliche Rubrik der »Großen Erzählungen« (Lyotard), von denen sich nun nach und nach verabschiedet werden sollte. Zudem schienen die Demokratisie 57 Russell Jacoby, Marxism and the Critical School, in: Theory and Society 2 (1974), ­231–238, hier 237. 58 Vgl. ausführlich François Cusset, French Theory. How Foucault, Derrida, Deleuze & Co. Transformed the Intellectual Life of the United States, Minneapolis, Minn., 2008.

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Max Horkheimer 1948 in Kalifornien.

rungsbestrebungen in Osteuropa sowie die stärker werdende Friedens- und AntiAtombewegung alles andere als ein Ende der Praxis zu indizieren. Während New German Critique ihr Profil einer Kulturkritik europäischer Prägung schärfte – nach dem Vorbild beispielsweise von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer – und sich auch den Neuen Sozialen Bewegungen offen gegenüber zeigte, begab sich Telos auf die Suche nach neuen Quellen, um dereinst eine Gesellschaftstheorie zu formulieren, die den amerikanischen Verhältnissen angemessen wäre. Die politischen Bewegungen der 1980er Jahre betrachtete der innere Kreis der Redaktion um Paul Piccone kritisch, was zu kontroversen Debatten führte, in denen das Verhältnis von Theorie und Praxis erneut verhandelt wurde. Die intellektuelle Sinnsuche führte bei Telos schließlich zur Beschäftigung mit einem Denker, dessen bloße Diskussion die Redaktion spaltete und der Zeitschrift bis heute den Ruf einbringt, eine »konservative Wende« vollzogen

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zu haben.59 Ausgerechnet mit dem Werk des Staatsrechtlers Carl Schmitt glaubten ­Piccone und andere, einerseits des »Politischen« als fehlendem Fundament habhaft zu werden und andererseits der Theorie von Jürgen Habermas ­etwas entgegenzusetzen.60 Denn auch in den Vereinigten Staaten rückte der Name Haber­ mas und das Programm einer kommunikationstheoretischen Rekonstruktion zunehmend in den Vordergrund und verdrängte die nun als »orthodox« paraphrasierte Kritische Theorie. Während Habermas’ Verteidigung der Moderne als zeitgenössisches Gegenmodell der Entwürfe französischer Provenienz populär wurde, unterlag das Werk der ersten Generation der Kritischen Theorie wesentlich zwei Entwicklungen: entweder seiner Historisierung, wie sie mit Genauigkeit und anhaltender Attraktivität beispielsweise in den German Studies gepflegt wird, oder der Eingliederung in ein Potpourri »radikaler Theorien«, wie es in den Literaturwissenschaften oder den Cultural Studies geschah und im Programm eines der populärsten linken Verlage, Verso, noch heute sichtbar ist. Retrospektiv liest sich die Kontroverse um Carl Schmitt als Teil einer Entwicklung, die man als eine Rückkehr der Geschichte bezeichnen könnte; kurz darauf wurde in Amerika ähnlich über Paul de Man und Martin Heidegger gestritten.61 In dem Maße, wie man das Verhältnis eines erklärten Nationalsozialisten zur Frankfurter Tradition diskutierte oder die Frage verhandelte, wie sich einem Denker wie Carl Schmitt überhaupt zu nähern sei, in dem Maße trat auch der historische Gehalt der Kritischen Theorie stärker hervor. Weder die Tatsache, dass es ein Fortleben des Nationalsozialismus gab, noch dass die Schriften Adornos et al. eine Reflexion auf jenes Nachleben darstellen, war bei Telos wahrgenommen worden. In New German Critique war wiederum genau diese historische Dimension der Kritischen Theorie, jene, die sie zum Ausdruck einer jüdischen Erfahrung macht, nach und nach ins Zentrum gerückt. Das Programm der Zeitschrift, wie es sich seitdem verfestigt hat, wirkt geradezu wie die Verlängerung einer spezifisch deutsch-jüdischen Seite der Weimarer Republik und hat die amerikanische Germanistik tief geprägt; noch 2001 monierte Mark Anderson eine Rekanonisierung sondergleichen: An die Stelle von Goethe, Schiller und Lessing seien 59 Vgl. als eine von vielen Quellen: Paul Breines, Recalling Telos, in: Telos 75 (1988), ­36–47, hier 44. So auch in einer Randbemerkung Lutz Niethammer, Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Hamburg 2000, 171 f. 60 Am Beginn dieses Prozesses stand bei Telos die Kontroverse um einen Beitrag Ellen Kennedys, die Habermas polemisch in die Nähe Carl Schmitts rückte. Vgl. Ellen Kennedy, Carl Schmitt and the Frankfurt School, in: Telos 71 (1987), 37–66. Der Text erfüllte redaktionell einerseits die Funktion, Habermas zu diskreditieren, und andererseits jene, Schmitt als Denker überhaupt diskutierbar zu machen. 61 Vgl. dazu Cusset, French Theory, 177 f. Die Debatte hatte auch ein Echo in Deutschland. Vgl. o. A., Verstörte Jünger. Ein Theoretiker der Postmoderne ist unter Nazi-Verdacht geraten, in: Der Spiegel, 7. März 1988, 252 f. Vgl. auch Richard Wolin (Hg.), The ­Heidegger Controversy. A Critical Reader, Cambridge, Mass., 1993.

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Kafka, Celan, Adorno und Benjamin getreten.62 Insofern als sich die German Studies seit den 1970er Jahren in wachsendem Maße dem Werk deutsch-jüdischer Intellektueller angenommen hatten, kam es hier nicht nur zu einer Wiederbelebung und Weiterentwicklung geistiger Traditionsbestände, die in Europa durch den Nationalsozialismus der Vernichtung anheimgefallen waren – vielmehr wandelte sich das Fach grundlegend. Es nahm durch den spezifischen historischen Index, der bei einer solchen intellektuellen Profilbildung mit zu verhandeln war, regelrecht den Charakter verdeckter Holocaust Studies an, und gewann gerade dadurch unter Studierenden an Attraktivität. Die Geschichte Deutschlands, so Frank Trommler, war zu einer dramatischen »Story« über Aufstieg, Fall und Wiedergeburt eines demokratischen Gemeinwesens geworden.63 Textimmanent oder rein ideengeschichtlich ist die Frage, wie es zu dieser Entwicklung, zu einer solchen Profilverdichtung kommen konnte, nicht zu klären. Stattdessen führt die Suche nach einer Antwort noch einmal an den Anfang zurück, und zwar weniger an den (sowieso meist willkürlichen) historischen Ursprung, sondern den subjektiven, erfahrungsgeschichtlichen Anfang, der eigentlich nur in der reflektierenden Rückschau einzuholen ist; jenen Moment also, in dem Büchern, Texten und Ideen noch eine Art affektiver Überschuss eigen ist, der überhaupt erst zur Lektüre und zum Denken anregt. Denn dass die Kritische Theorie relevant und attraktiv wurde, war das Ergebnis einer komplexen Affinität von Text und Lebenswelt, eine, die sich von der Erfahrungswelt der deutschen Rezeption unterschied. Die amerikanische Aneignung der Kritischen Theorie koinzidierte mit einer Zeit, in der dem Begriff der Eindimensionalität eine lebendige Erfahrung entsprach, weswegen man Marcuse auch nicht zu lesen brauchte, um ihn zu verstehen. Eindimensional, das war die stählerne Hermetik des Kalten Kriegs, die Ödnis der amerikanischen Vorstädte, die in den 1960er Jahren ex­ plodierten und die Einsamkeit der sich unendlich ziehenden, kurvenlosen Highways und der sie säumenden kargen Motels. Darin konvergieren die Erfahrungen der jungen Studenten der sechziger Jahre mit den Eindrücken europäischer Emigranten. »In der Öde amerikanischer Vorstädte oder auch den Wohnbezirken der Großstädte«, schrieb Hannah Arendt, »wo das gesamte Straßenleben sich auf der Fahrbahn bewegt und man auf den zu Fußsteigen zusammengeschmolzenen Trottoirs oft kilometerweit nicht einem Menschen begegnet, hat man das genaue Gegenteil von Paris vor Augen.«64 Diese Konvergenz hatte ihren Grund auch in der Tatsache, dass die Kritische Theorie und der Westliche Marxismus im ganz 62 Mark M. Anderson, German Intellectuals, Jewish Victims. A Politically Correct Solidarity, in: Chronicle of Higher Education, 19. Oktober 2001. 63 Vgl. dazu ausführlich Frank Trommler, Die Lesbarkeit der deutschen Kultur, in: ders. (Hg.), Germanistik in den USA. Neue Entwicklungen und Methoden, Opladen 1989, 2­ 22–259, hier bes.. 228 f. 64 Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, hg. von Ursula Ludz, München/Zürich 2012, 212.

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wörtlichen Sinne vermittelt wurden – und zwar nicht nur von den verbliebenen Vertretern der ersten Generation wie Marcuse, der seine Studenten ohnehin lieber Aristoteles und Immanuel Kant lesen ließ als Karl Marx. Vielmehr waren es Konstellationen wie in Madison (Wisconsin), wo New German Critique gegründet wurde, in denen eine Vielzahl von Emigranten dafür sorgten, dass die Zwischenkriegszeit, mit der sie assoziiert wurden, fortlebte. Geradezu mythisch aufgeladen wurde Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen zum positiven Gegenentwurf amerikanischer Geschichtslosigkeit. »We were still searching for our Weimar«, brachte es die in Madison studierende Eleanor Hakim auf den Punkt.65 Die Aufführungen des Schönberg-Studenten Rudolf Kolisch, die Vorlesungen der Camus-Freundin und ehemaligen Résistance-Kämpferin Germaine Brée oder die monumentale Büchersammlung des Soziologen Hans Gerth, der in den 1920er Jahren dem Institut für Sozialforschung nahegestanden hatte – sie alle sorgten in Madison für eine Atmosphäre, in der die Zeit vor dem Nationalsozialismus zum Arsenal der Lösungen für amerikanische Probleme imaginiert werden konnte. Eine Person hatte auf das Milieu von New German ­Critique einen ganz besonderen Einfluss: der Historiker George L. Mosse. Selbst kein Marxist, aber ein Freund der Marxisten, scharte er eine Gruppe von Schülern und Schülerinnen um sich, die in ihrer Zeitschrift im Grunde dasselbe Narrativ verwirklichten, wie er es in dem späten Essay Jews beyond Judaism darlegte: Hier wurden die Juden als verbliebene Retter einer Tradition von Bildung und Aufklärung betrachtet, die in Deutschland gescheitert war. Nicht nur seine engagierten Vorlesungen über das 19. Jahrhundert oder die faschistische Ideologie, sein dynastisches, großbürgerliches Auftreten oder die Totenmaske von Ernst Toller in seinem Büro sorgten für anhaltende Faszination; dass sich im Milieu von New German Critique selbst nicht wenige »Jews beyond Judaism« befanden, mochte ebenso eine Rolle gespielt haben.66 Es ist diese Erfahrungs- und Bedürfniskonstellation, die die Rezeption der Kritischen Theorie in Amerika motivierte und die Texte subkutan durchwirkt. Das Nachleben der Frankfurter Tradition war dergestalt auch ein »HinterherLeben« oder »Nach(er)leben«. Während die Kritische Theorie ihre Attraktivität nicht zuletzt als Erinnerung an ein im Verschwinden begriffenes Bürgertum und – wie gebrochen auch immer – die einstige Stärke der Arbeiterbewegung zu entfalten schien, gründete die amerikanische Rezeption in einer transatlantischen Differenz. Die Texte Adornos, Horkheimers und Marcuses verwuchsen sich mit einem Europa, das zu einer wahren Sehnsuchtslandschaft und zur Antithese der 65 Eleanor Hakim, The Tragedy of Hans Gerth, in: Paul Buhle (Hg.), History and the New Left. Madison Wisconsin 1950–1970, Philadelphia, Pa., 1990, 252–263, hier 254. 66 Gespürt hat dies frühzeitig: Paul Breines, Germans, Journals and Jews/Madison, Men, Marxism and Mosse. A Tale of Jewish-Leftist Identity Confusion in America, in: New German Critique 20 (1980), 81–103.

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amerikanischen Gegenwart wurde. Es mag darum kein Zufall sein, dass ein Beteiligter bei seinen Erinnerungen an Herbert Marcuse nicht dessen Werk an den Anfang stellt, sondern den von Marcuse einmal beiläufig geäußerten Satz: »Look at the blue of that sky! This particular shade of blue can be seen only in the Ile de France«67

67 Jeremy Shapiro, Herbert Marcuse (1898–1979), in: Telos 41 (1979), 186–188, hier 188.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Das folgende Verzeichnis enthält in chronologischer Folge die Publikationen von Dan Diner bis zum 31. Dezember 2015. Aufgeführt sind sämtliche bis dahin er­ schienenen Buchpublikationen, Herausgeberschaften sowie akademische und publizistische Beiträge, die in einer Gesamtschau einmal mehr den Umfang und die Vielfalt der Forschungsinteressen des Jubilars wiedergeben. Auch Übersetzungen sind erfasst worden. Mit diesem Verzeichnis wird keine Vollständigkeit beansprucht, erst recht, da noch weitere Publikationen zu erwarten sind; jedoch ist mit ihm der Wunsch verbunden, die Auffindbarkeit der Arbeiten von Dan­ Diner für die zukünftige Forschung zu erleichtern.

2015

Rituelle Distanz. Israels deutsche Frage, München: Deutsche Verlagsanstalt 2015. (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 6 [Ta–Z], Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2015. Zwischenzeit 1945 bis 1949. Über jüdische und andere Konstellationen. Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 65 (2015), H. 16/17, 16–20. The Interim Period from 1945 to 1949. On Jewish and Other Constellations, in: 1945/2015: Of German Responsibility, Federal Foreign Office, [Berlin] 2015, 75–85 [Wieder­abdruck und englische Übersetzung des Bandes].

Vom Rande her erzählt. Elemente einer Gedächtnisgeschichte des Zweiten Weltkriegs, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 8 (2015), H. 14, 141–158. Laudatio, in: Ludwig Börne Preis 2015. Preisverleihung an Jürgen Kaube am 12. Juli 2015 in der Frankfurter Paulskirche, Frankfurt a. M.: Ludwig-Börne-Stiftung 2015, 20–29. Kontinuität trotz Wandel? Einsichten in das deutsch-israelisch/jüdische Verhältnis, in: Stefan Hagemann/Roby Nathanson (Hgg.), Deutschland und Israel heute. Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?, Gütersloh: Bertelsmann 2015, 58–65. Continuity in Spite of Change? Thoughts on the Relationship between Germany and Israeli Jews, in: Stefan Hagemann/Roby Nathanson (Hgg.), Germany and Israel Today. United by the Past, Divided by the Present?, Gütersloh: Bertelsmann 2015, 52–58 [englische Übersetzung].

Language and Restitution. The German-Israeli Encounter in Luxembourg, 1952, in: Arndt ­Engelhardt/Susanne Zepp (Hgg.), Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur; 9), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, 281–295.

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

(mit Joachim Küpper), Vorwort, in: Arndt Engelhardt/Susanne Zepp (Hgg.), Sprache, Erkenntnis und Bedeutung. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur; 9), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, 9 f. Art. »Verschwörung«, »Weltgeschichte«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften hg. von Dan Diner, Bd. 6 [Ta–Z], Stuttgart: J. B. Metzler 2015, 272–277, 356–361. Geleitwort, in: David Biale, Traditionen der Säkularisierung. Jüdisches Denken von den Anfängen bis in die Moderne, Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 7 f. Zukunft der Erinnerung. Dan Diner, im Interview mit Josephine Evens, in: bpb-Magazin (2015), H. 7, 9–11. Rituelle Distanz, in: Die Welt, 28. Februar 2015. »Zum Glück ist die Geschichte offen«. Dan Diner im Gespräch mit Duygu Özkan, in: Die Presse, 21. Februar 2015. Deutschland und Sefarad. Die Geschichte einer schwierigen Annäherung, in: Rotary Magazin 4 (2015), 65–68. »Die Vergangenheit ist Teil  des deutschen Selbstverständnisses.« Dan Diner im Gespräch mit Dr.  Susanna Keval, in: Jüdische Gemeindezeitung Frankfurt 48 (2015), H. 2, 32 f.

2014

(Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 5 [Pr–Sy], Stuttgart: J. B. Metzler 2014. Point and Plane. On the Geometry of Jewish Political Experience, in: Julia König/Sabine Seichter (Hgg.), Menschenrechte, Demokratie, Geschichte. Transdisziplinäre Herausforderungen an die Pädagogik, Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2014, 95–104. Judentum und Islam. Affinitäten und Differenzen im Zeichen des Monotheismus, in: Ina Wunn/Beate Schneider (Hgg.), Das Gewaltpotenzial der Religionen (Religions­ forum; 11), Stuttgart: Kohlhammer 2014, 183–201. Am Grab von Max Horkheimer, in: René Bloch/Jacques Picard (Hgg.), Wie über Wolken. Jüdische Lebens- und Denkwelten in Stadt und Region Bern, 1200–2000 (Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz; 16), Zürich: Chronos 2014, 413–415. Metamorphosen des Antisemitismus, in: Europäische Rundschau. Vierteljahreszeitschrift für Politik, Wirtschaft und Zeitgeschichte 42 (2014), H. 1, 5–10. Lernen am »dritten Ort«. Dan Diner im Gespräch mit Werner Hanak-Lettner/Learning in the »Third Place«. Dan Diner Talking with Werner Hanak-Lettner«, in: Danielle Spera/Werner Hanak-Lettner (Hgg.), Jüdische Museen zwischen gestern und morgen. Reflexionen aus involvierter Außenperspektive, Innsbruck/Wien/Bozen: Studien­Ver­ lag 2014, 100 f. Der kategorische Imperativ der Erinnerung, in: Hans-Böckler-Stiftung (Hg.), Impulse für eine Arbeitswelt in schwierigen Zeiten. Dokumentation der Verabschiedung von ­Nikolaus Simon, 27.02.2014 in Berlin, Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung 2014, 28–32.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

399

Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 9–11. Vorwort, in: Ottfried Fraisse, Ignác Goldzihers monotheistische Wissenschaft. Zur Historisierung des Islam (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 12), Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 7 f. Wenn Russland erwacht, in: Neue Zürcher Zeitung, 26. Mai 2014.

2013

(Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 4 [Ly–Po], Stuttgart: J. B. Metzler 2013. Jüdische Studien heute. Zwischen Beteiligung und Beobachtung, in: Verena Lenzen (Hg.), Das Studium des Judentums und die jüdisch-christliche Begegnung, Göttingen: V&R unipress 2013, 41–48. Über die Poetik der Fassungslosigkeit, in: Norbert Frei/Wulf Kansteiner (Hgg.), Den Holocaust erzählen. Historiographie zwischen wissenschaftlicher Empirie und narrativer Kreativität (Vorträge und Kolloquien/Jena-Center Geschichte des 20. Jahrhunderts; 11), Göttingen: Wallstein 2013, 101–106. Angesichts der Krise. Wegstrecken europäischer Gedächtnisse, in: Heimo Reinitzer (Hg.), Deutschland und Europa. Wächst zusammen, was zusammen gehört? (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Hamburg; 3), Berlin/Boston, Mass.: De Gruyter 2013, 45–56. Between Empire and Nation State. Outline for a European Contemporary History of the Jews, 1750–1950, in: Omer Bartov/Eric D. Weitz (Hgg.), Shatterzone of Empires. Coexistence and Violence in the German, Habsburg, Russian, and Ottoman Borderlands, Bloomington, Ind./Indianapolis, Ind.: Indiana University Press 2013, 61–80. Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 9–11. Geleitwort, in: Eran Rolnik, Freud auf Hebräisch. Geschichte der Psychoanalyse im Jüdischen Palästina, Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 11 f. Vorwort, in: Jan Eike Dunkhase, Spinoza der Hebräer. Zu einer israelischen Erinnerungsfigur (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 11), Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2013, 7 f. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 14 (2012), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013, 9 f. Gesetz und Geschichte. Jüdische Verwandlungen in der Moderne, in: Neue Zürcher Zeitung, 2. Februar 2013. Linker »Judenknacks«, in: Die Welt, 23. Februar 2013. L’Allemagne paiera!, in: Sonntaz, 1./2. Juni 2013. Schicksal und Revolte, in: Neue Zürcher Zeitung, 15. November 2013.

400

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

2012 (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 2 [Co–Ha], Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2012. (Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 3 [He–Lu], Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2012. (Hg. mit Yfaat Weiss und Gideon Reuveni), Deutsche Zeiten. Geschichte und Lebenswelt. Festschrift zur Emeritierung von Moshe Zimmermann, Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2012. (mit Yfaat Weiss und Gideon Reuveni), Zum Geleit, in: Dan Diner/Yfaat Weiss/Gideon Reuveni (Hgg.), Deutsche Zeiten. Geschichte und Lebenswelt. Festschrift zur Emeritierung von Moshe Zimmermann, Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 9–14. World War II Reframed. History’s Memory in an Era of Globalization, in: Dan Diner/ Yfaat Weiss/Gideon Reuveni (Hgg.), Deutsche Zeiten. Geschichte und Lebenswelt. Festschrift zur Emeritierung von Moshe Zimmermann, Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 324–335. Im Zeichen des Banns, in: Michael Brenner (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft, München: C. H. Beck 2012, 15–66. »Zivilisationsbruch« – oder der Verfall ontologischer Gewissheit, in: Ulrich Bielefeld/ Heinz Bude/Bernd Greiner (Hgg.), Gesellschaft, Gewalt, Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg: Hamburger Edition 2012, 458–470. Verschobene Erinnerung. Jean Amérys »Die Tortur« wiedergelesen, in: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Institutes für Sozialforschung 21 (2012), H. 2, 21–27. Memory Displaced. Re-Reading Jean Amérys »Torture«, in: Eurozine, 8. Mai 2012 [englische Übersetzung]. Verschobene Erinnerung. Jean Amérys »Die Tortur« wiedergelesen, in: Ulrich Bielefeld/ Yfaat Weiss (Hgg.), Jean Améry »… als Gelegenheitsgast, ohne jedes Engagement« (Makom; 10), München: Wilhelm Fink 2014, 73–78 [Wiederabdruck].

Topography of Interpretation. Reviewing Timothy Snyder’s »Bloodlands«, in: Contemporary European History 21 (2012), H. 2, 125–131. Elmauer Gespräche. Gesprächsrunde über jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland mit Michael Brenner, Awi Blumenfeld, Dan Diner und Rachel Salamander. »Ich bin eigentlich nach Deutschland eingewandert, obwohl ich in Deggendorf geboren bin.«, in: Münchner Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 6 (2012), H. 1, 41–60. Fer-se càrrec de la modernitat, in: L’Espill. Revista fundada per Joan Fuster. Segona Època 40 (2012), 214–224. Reimagining Enlightenment. In Pursuit of Prudent Modernity, in: New German Cri­ tique 39 (2012), H. 117: Special Issue for Anson Rabinbach, 25–32. Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 11 (2012), Göttingen/Bristol, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 9–11.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 13 (2011), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2012, 9 f. An Auschwitz vorbei, in: Die Welt, 17. März 2012. Seismografen der Moderne. Ein Gespräch mit Dan Diner über jüdische Fragen, Lehren aus dem Holocaust und den »arabischen Frühling«, in: Neue Zürcher Zeitung, 31. März 2012. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Interview mit Dan Diner und Markus Kirchhoff, in: Deutschlandfunk, Tag für Tag (Online), 25. April 2012. Offenbarung und Wissenschaft, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Mai 2012. Im Zeichen des Banns, in: Die Welt, 15. September 2012. Ein europäischer Bürgerkrieg, in: Rotary Magazin 11 (2012), 60–63. Die jüdische Perspektive. Glaube, Gesetz und Ritus im Judentum, in: Deutschlandfunk, Wegmarken 2012. Die Macht der Religionen (Online), 31. Dezember 2012.

2011

(Hg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Bd. 1 [A–Cl], Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2011. Einführung, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften hg. von Dan Diner, Bd.  1 [A–Cl], Stuttgart/ Weimar: J. B. Metzler 2011, VII–XIX. Gegenläufige Gemeinsamkeiten. Der Pakt als Ereignis und Erinnerung, in: Anna Kaminsky/Dietmar Müller/Stefan Troebst (Hgg.), Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer (Moderne europäische Geschichte; 1), Göttingen: Wallstein 2011, 37–46. Erinnerungsort München, in: Jutta Fleckenstein/Tamar Lewinsky (Hgg.), Juden 45/90. Von da und dort – Überlebende aus Osteuropa, Berlin: Hentrich & Hentrich 2011, 117–120. Vom Stau der Zeit. Neutralisierung und Latenz zwischen Nachkrieg und Achtundsechzig, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hgg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen/Oakville, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 165–172. Gedächtnisse der Ungleichzeitigkeit. Über koloniale und kontinentale Erinnerung an Weltkrieg und Holocaust, in: Julia Matveev/Ashraf Noor (Hgg.), Zur Gegenwärtigkeit deutsch-jüdischen Denkens. Festschrift für Paul Mendes-Flohr, München: Wilhelm Fink 2011, 321–333. Ein neues Wir. Der Islam und Europa. Gudrun Krämer und Dan Diner. Kommentare und Diskussionsbeiträge zum Vortrag von Tariq Ramadan, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2011), 68–74. »Der Islam ist unsere eigene Frage als Gestalt«. Gudrun Krämer und Dan Diner im Gespräch mit Tariq Ramadan; moderiert von Susanne Stemmler, in: Susanne Stemmler (Hg.), Multikultur 2.0. Willkommen im Einwanderungsland Deutschland, Göttingen: Wallstein 2011, 269–278 [Wiederabdruck].

Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 10 (2011), Göttingen/Oakville, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2011, 9–11.

402

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Vorwort, in: Nicolas Berg (Hg.), Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur; 6); Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, 7 f. Vorwort, in: Jakob Hessing, Verlorene Gleichnisse. Heine, Kafka, Celan (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 10), Göttingen/Oakville, Conn.: Vanden­ hoeck & Ruprecht 2011, 7 f. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 12 (2010), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2011, 9 f. »Frieden mit Ägypten hat Bestand.« Dan Diner, Direktor des Simon-Dubnow-Instituts, sieht in Demonstrationen Chance zur Demokratie, in: Leipziger Volkszeitung, 8. Februar 2011. »Diese Stadt ist überaus urban.« Dan Diner im Interview über das von ihm geleitete Simon-Dubnow-Institut und dessen Standort Leipzig, in: Leipziger Volkszeitung, 23. Februar 2011. Von der islamischen Religion zur muslimischen Konfession. Im Gespräch mit Nader Alsarras äußert sich der renommierte Historiker Dan Diner über die Folgen der Säku­ larisierung in Europa, den notwendigen Wandel des Islam und den Zusammenhang von Islamfeindlichkeit und Antisemitismus, in: Qantara.de (Online), 4. März 2011. »Eine gewaltige Eruption«. Dan Diner im Interview zu den Ereignissen in der ara­ bischen Welt und der Rolle des Islam in Europa, in: Phase2. Zeitschrift gegen die Realität 39 (April 2011), 14–17.

2010

Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010. Amerika als religiöser Transformationsraum, in: Christoph Bieber/Benjamin Drechsel/ Anne-Katrin Lang (Hgg.), Kultur im Konflikt. Claus Leggewie Revisited (Edition Kulturwissenschaft; 4), Bielefeld: Transcript 2010, 86–89. »Wir werden lernen müssen, mit fundamentalen Konflikten gelassener umzugehen«. Ein Trialog zu Religion und Pluralismus, in: Christian Peters/Roland Löffler (Hgg.), Der Westen und seine Religionen. Was kommt nach der Säkularisierung?, Freiburg i. Br.: Herder 2010, 32–51. Deutsch-jüdisch-russische Paradoxien oder Versuch eines Kommentars aus Sicht des Historikers, in: Dmitrij Belkin/Raphael Gross (Hgg.), Ausgerechnet Deutschland! Jüdisch-russische Einwanderung in die Bundesrepublik, Begleitpublikation zur Ausstellung im Jüdischen Museum Frankfurt am Main, Berlin: Nicolai 2010, 18–20. Passionen der Ordnung, in: Corina Caduff/Anne-Kathrin Reulecke/Ulrike Vedder (Hgg.), Passionen. Objekte – Schauplätze – Denkstile, München: Wilhelm Fink 2010, 135–140. Kaleidoscopic Writing. On Saul Friedländer’s The Years of Extermination. Nazi G ­ er­ma­ ny and the Jews, 1939–1945, in: Christian Wiese/Paul Betts (Hgg.), Years of Persecution, Years of Extermination. Saul Friedländer and the Future of Holocaust S­ tudies, London: Continuum 2010, 55–65. »Fassungslosigkeit beschreiben«. Saul Friedländers Werk zum Holocaust, in: Einsicht. Bulletin des Fritz Bauer Instituts 8 (2012), 16–23 [überarbeitete deutsche Übersetzung].

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

403

Narrative der Vernichtung. Kaleidoskopisches Erzählen, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 187–206 [Wiederabdruck].

Les duplicitats de la història. La transformación de la memoria de la Segona Guerra Mundial en l’era de la globalització, in: L’Espill. Revista Fundada Per Joan Fuster, Segona Època, 36 (Winter 2010), 33–45. Les duplicitats de la història. La transformació de la memòria de la Segona Guerra Mundial en l’era de la globalització, in: Simona Škrabec (Hg.), Les distàncies d’Europa, Spanien: PUV Universitat de Valencia 2013, 21–35 [Wiederabdruck].

Skizze zu einer jüdischen Geschichte der Juden in Deutschland nach 45, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 4 (2010), H. 1: Eine deutsch-jüdische Nachkriegsgeographie, 8–16. Icons of European Memory Juxtaposed. The Spanish Civil War and the Holocaust, in: Antonio Gómez López-Quiñones/Susanne Zepp (Hgg.), The Holocaust in Spanish Memory. Historical Perceptions and Cultural Discourse (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur; 7), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 31–35. Narrative der Vernichtung. Historische Unterscheidungen, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 177–186.

Preface, in: Antonio Gómez López-Quiñones/Susanne Zepp (Hgg.), The Holocaust in Spanish Memory. Historical Perceptions and Cultural Discourse (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur; 7) Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 7 f. Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 9 (2010), Göttingen/Oakville, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 9–11. Vorwort, in: Doron Mendels/Arye Edrei, Zweierlei Diaspora. Zur Spaltung der antiken jüdischen Welt (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 8), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 7 f. Vorwort, in: Yfaat Weiss, Lea Goldberg. Lehrjahre in Deutschland 1930–1933 (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 9), Göttingen: Vandenhoeck & Rup­ recht 2010, 7 f. Vorwort, in: Viktor E. Kelner, Simon Dubnow. Eine Biografie, Göttingen/Oakville, Conn.: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 7–9. Vorwort, in: Israel Bartal, Geschichte der Juden im östlichen Europa, 1772–1881, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 7 f. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 11 (2009), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 9 f. Beitrag in »Stimmen zum Tod Ernst Cramers«, in: Die Welt, 20. Januar 2010. Islamische Aufklärung. Tamim Ansarys Geschichte des Orients aus muslimischer Sicht, in: Süddeutsche Zeitung, 29. März 2010 [Rezension von: Tamim Ansary, Die unbekannte Mitte der Welt. Globalgeschichte aus islamischer Sicht, Frankfurt a. M. 2010]. Türken nach Gaza! Aus ihrer geopolitischen und geokulturellen Situation erwächst der Türkei neue politische Verantwortung, in: Neue Zürcher Zeitung, 25. Juni 2010. Türkler Gazze’ye. Politik bir savunma, in: Radikal, 10. Juli 2010 [türkische Übersetzung].

Der algerische Blick, in: Die Welt, 4. September 2010.

404

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

»Der Kolonialismus kann nicht alles erklären«, in: Die Presse, 16. November 2010. Juden. Vormodern, modern und postmodern, in: science.ORF.at (Online), 18. November 2010.

2009

(Hg. mit Moshe Zimmermann), Disseminating German Tradition. The Thyssen Lectures, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009. (mit Moshe Zimmermann), Israel’s German Academic Legacy. An Introduction, in: Dan Diner/Moshe Zimmermann (Hgg.), Disseminating German Tradition. The Thyssen Lectures, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 7–13. Korporation, Gleichheit und Nationalität. Zur paradigmatischen Bedeutung der jüdischen Geschichte in der Moderne, in: Winfried Eberhard/Christian Lübke (Hgg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume. Beiträge einer internationalen Konferenz, Leipzig, 6. bis 9. Juni 2007, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 219–226. Corporation, Equality and Nationality. On the Paradigmatic Significance of Jewish History in the Modern Era, in: Winfried Eberhard/Christian Lübke (Hgg.), The Plurality of Europe, Identities and Spaces. Contributions Made at an International Conference Leipzig, 6–9 June 2007, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2010, 205–211 [englische Übersetzung].

Europa – Russland – Amerika. Konstellationen der Zukunft im Kontext der Geschichte, in: Weltpolitik  – auch im Zeichen Amerikas. Sozialwissenschaftliche Studien des Schweizerischen Instituts für Auslandsforschung 36 (2009), N. S., 47–61. Wertegeleitete Außenpolitik und der Beitrag der Religionen, Diskussion mit Katrin Göring-Eckardt, Konrad von Bonin, Heiner Bielefeldt, moderiert von Rolf Schieder, in: Auswärtiges Amt (Hg.), Weltmacht Religion. Vom Einfluss der Religionen auf die internationale Politik (Forum Globale Fragen; 18), Berlin: Auswärtiges Amt 2009, 58–72. Dialektik der Nichtanerkennung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2 (2009), 78–80. (Diskussionsbeiträge): Ist Ungleichheit Schicksal?; War die Nachrüstung 1983 not­ wendig und die Friedensbewegung hysterisch?; Wie deutsch ist die deutsche Geschichte 1949–1990?, in: Patrick Bahners/Alexander Camman (Hgg.), Bundesrepublik und DDR. Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers »Deutsche Gesellschaftsgeschichte« (Beck’sche Reihe; 1915), München: C. H. Beck 2009, 95, 246 f., 288 f. Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 8 (2009), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 9–11. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 10 (2008), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2009, 9 f. Vorwort, in: Susanne Zepp/Natasha Gordinsky, Kanon und Diskurs. Über Literarisierung jüdischer Erfahrungswelten (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 7 f. Vorwort, in: Shmuel Feiner, Moses Mendelssohn. Ein jüdischer Denker in der Zeit der Aufklärung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 7 f. »Das Sakrale verunmöglicht Politik.« Ohne die Anwesenheit fremder Truppen ist der

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Nahostkonflikt nicht zu lösen, sagt der prominente Historiker und Buchautor Dan Diner zu András Szigetvari, in: Album/Der Standard, 23./24. Mai 2009. Dialektik der Nichtanerkennung. Warum auch der jetzige Waffengang den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern nicht lösen wird, in: Neue Zürcher Zeitung, 8. Januar 2009. Die unheimliche Macht des Heiligen, in: Jerusalem. Geburtsstadt des Glaubens. Der Spiegel Geschichte 3 (2009), 116–118. Die unheimliche Macht des Heiligen. Der Kern des israelisch-arabischen Konflikts liegt in Jerusalem, in: Annette Grossbongardt/Dietmar Pieper (Hgg.), Jerusalem. Die Geschichte einer heiligen Stadt, München/Hamburg: Deutsche Verlagsanstalt/Spiegel Verlag 2009, 213–218 [Wiederabdruck]. Konflikte begreifen. Politisch-theologische Momente, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 84–89 [Wiederabdruck].

Das entscheidende Säkulum, in: Die Welt, 15. August 2009. Ideologie und Machtpolitik. Vor siebzig Jahren wurde in Moskau der Hitler-StalinPakt geschlossen  – ein unheimliches Zeichen der Zeit, in: Neue Zürcher Zeitung, 22. August 2009.

2008

Aufklärungen. Über Varianten von Moderne (Vontobel Schriftenreihe; 1850), Zürich: Vontobel Stiftung 2008. Moderne erkennen, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 11–31 [Wiederabdruck (Auszug)].

(Hg.), Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2008), H. 2: The Theo-Poli­tical Meaning of Diasporic Existence, Berlin: Akademie Verlag 2008. Restitution. Über die Suche des Eigentums nach seinem Eigentümer, in: Inka Bertz/ Michael Dorrmann (Hgg.), Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute, Göttingen: Wallstein 2008, 16–28. Eigentum restituieren, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 207–221 [Wiederabdruck].

Über das Menschsein, in: Detlev Ganten u. a. (Hgg.), Was ist der Mensch? (Humanprojekt; 3), Berlin/New York: Walter de Gruyter 2008, 40–44. Ursprünge und Tendenzen transatlantischer Verwerfungen, in: Bernd M. Scherer/Sven Arnold (Hgg.), Die Alte und die Neue Welt, Transatlantische Gespräche, Göttingen: Wallstein 2008, 52–61. Residues of Empire. The Paradigmatic Meaning of Jewish Trans-Territorial Experience for an Integrated European History, in: Y. Michal Bodemann (Hg.), The New ­German Jewry and the European Context. The Return of the European Jewish Diaspora, New York: Palgrave Macmillan 2008, 33–49. Ambiguous Semantics. Reflections on Jewish Political Concepts, in: The Jewish Quarterly Review 98 (2008), H. 1, 89–102. Epistemics of the Holocaust. Considering the Question of »Why?« and of »How?«, in: Naharaim. Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte/Journal of German-Jewish Literature and Cultural History 1 (2008), H. 2, 195–213.

406

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 7 (2008), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 9–11. ­ ssays Vorwort, in: Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher (Toldot. E zur jüdischen Geschichte und Kultur; 3), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 7 f. Vorwort, in: Thomas Meyer, Vom Ende der Emanzipation. Jüdische Philosophie und Theologie nach 1933 (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 6), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, 7 f. Editorial, in: Behemoth. A Journal on Civilisation 1 (2008), H. 2: Dan Diner (Hg.), The Theo-Political Meaning of Diasporic Existence, Berlin: Akademie Verlag 2008, 1–3. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 9 (2007), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2008, 9 f. Vorwort, in: Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden; 33), Göttingen: Wallstein 2008, 9 f. Rotkäppchen und der Prophet, in: Die Welt, 29. März 2008 [Rezension von Hans Jansen, Mohammed. Eine Biografie, München 2008]. Zwischen den Zeiten. Die Gründung des Staates Israel als Ergebnis unvorhergesehener historischer Umstände, in: Neue Zürcher Zeitung, 10. Mai 2008. Konflikte begreifen. Israel in Palästina, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 67–74 [Wiederabdruck].

Zwischen allen Fronten. Ein fremder Eingeborener, in: Die Welt, 19. Juli 2008. Post-postkoloniale Flaschenpost, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 233–240 [Wiederabdruck].

Wehlers Herzstück. Der Begriff der Klasse wird rehabilitiert, Beitrag zu »Podium. Ist Ungleichheit Schicksal?«, in: Frankfurter Allgemeine Lesesaal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990 (Online), 26. August 2008. Wehlers Generationserzählung, Beitrag zu »Podium. Der Leistungsfanatismus des Nationalsozialismus. Ressource für das Wirtschaftswunder?«, in: Frankfurter Allge­ meine Lesesaal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte ­1949–1990 (Online), 27. August 2008. Ziviler Ton, zivile Gestik, Beitrag zu »Podium. Adenauer, Brandt, Kohl. Was wurde aus dem Charisma nach Hitler?«, in: Frankfurter Allgemeine Lesesaal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990 (Online), 28. August 2008. Von der Latenz zur Präsenz, Beitrag zu »Podium. Sind die 68er politisch gescheitert?«, in: Frankfurter Allgemeine Lesesaal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990 (Online), 1. September 2008. Schwierigkeiten beim Vergleichen, Beitrag zu »Podium. Wie kann man Nationalsozialis­ mus und DDR vergleichen?«, in: Frankfurter Allgemeine Lesesaal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990 (Online), 3. September 2008. Gedächtnisgeschichtliche Endmoräne, Beitrag zu »Podium. War die Nachrüstung 1983 notwendig und die Friedensbewegung hysterisch?«, in: Frankfurter Allgemeine Lese­ saal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990 (Online), 8. September 2008.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

407

Freiheit als Produktivkraft, Beitrag zu »Podium. Die Epochenzäsur 1989/90. Eine deutsche Revolution?«, in: Frankfurter Allgemeine Lesesaal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990 (Online), 12. September 2008. Reflex einer Sonderzeit, Beitrag zu »Podium. Wie deutsch ist die deutsche Geschichte 1949 bis 1990?«, in: Frankfurter Allgemeine Lesesaal über Hans-Ulrich Wehlers Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949–1990 (Online), 13. September 2008. Vorreiter der Moderne. Warum sind die Vereinigten Staaten vielen Menschen so sus­ pekt?, in: USA. Aufstieg und Krise einer Weltmacht. Spiegel Special Geschichte 4 (2008), 21. Oktober 2008, 140–143.

2007 Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 7), Göttingen: Vandenhoeck  & Ruprecht 2007. Karşıt Hafızalar. Soykırımın Önemi ve Etkisi Üzerine, Istanbul: Iletişim 2011 [türkische Übersetzung].

(Hg. mit Gotthard Wunberg), Restitution and Memory. Material Restoration in Europe, New York/Oxford: Berghahn Books 2007. Memory and Restitution. World War II as a Foundational Event in a Uniting Europe, in: Dan Diner/Gotthard Wunberg (Hgg.), Restitution and Memory. Material Restoration in Europe, New York/Oxford: Berghahn Books 2007, 9–23. Zikaron, Rehush U’pitsui. Milchemet HaOlam HaShniya, HaShoah VeGibush Arahim Kanonim BeEuropa HaMeuhedet [Gedächtnis, Eigentum und Restitution. Der Zweite Weltkrieg, der Holocaust und die Ausbildung eines gemeinsamen Wertekanons im geeinten Europa], in: Yfaat Weiss/Gilad Margalit (Hgg.), Zikaron VeShichecha. Germania VeHaShoah [Erinnerung und Amnesie. Deutschland und der Holocaust], Tel-Aviv: HaKibbutz HaMeuchad 2005, 429–439 [hebräische Übersetzung].

Marranische Einschreibungen. Erwägungen zu verborgenen Traditionen bei Hannah Arendt, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 22 (2007), H. 22, 62–71. Marranische Einschreibungen. Erwägungen zu verborgenen Traditionen bei Hannah Arendt, in: Das Jüdische Echo 59 (2010/2011), 54–58 [Wiederabdruck]. Urteilen, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 240–249 [Wiederabdruck].

Jüdische Minderheitenerfahrung. Von der Korporation zur Nationalität, in: Mike Schmeitzner/Heinrich Wiedemann (Hgg.), Mut zur Freiheit. Ein Leben voller Projekte. Festschrift zum 80. Geburtstag von Wolfgang Marcus, Berlin: Lit 2007, 425–432. Reflections on Anti-Semitism and Islamophobia, in: Matti Bunzl (Hg.), Anti-Semitism and Islamophobia. Hatreds Old and New in Europe, Chicago, Ill.: Prickly Paradigm Press 2007, 47–53. Struktur ist Intention, in: Norbert Frei (Hg.), Martin Broszat, der »Staat Hitlers« und die Historisierung des Nationalsozialismus (Vorträge und Kolloquien/Jena-Center Geschichte des 20. Jahrhunderts; 1), Göttingen: Wallstein 2007, 181–187. Kaleidoskopisches Denken. Überschreibungen und autobiographische Codierungen in Hannah Arendts Hauptwerk, in: Jürgen Danyel/Jan-Holger Kirsch/Martin S­ abrow

408

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

(Hgg.), 50 Klassiker der Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 37–41. Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 6 (2007), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 9–12. Vorwort, in: Dan Miron, Verschränkungen. Über jüdische Literaturen (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 7 f. ­ ivi­ Preface, in: Elazar Barkan/Elizabeth A. Cole/Kai Struve (Hgg.), Shared History – D ded Memory. Jews and Others in Soviet-Occupied Poland, 1939–1941 (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur; 5), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2007, 9–11. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 8 (2006), Leipzig: Leipziger Uni­ versitätsverlag 2007, 9 f. Vorwort, in: Desanka Schwara, Unterwegs. Reiseerfahrung zwischen Heimat und Fremde in der Neuzeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 9 f. Imperativ Vergangenheit. Was amerikanische Juden, Israelis und Deutsche eint und trennt – eine Studie der Bertelsmann-Stiftung, in: Jüdische Allgemeine, 22. Februar 2007. Erinnerungsort München. Spuren der Zeitschichten – aus dem Vortrag zur Eröffnung des Jüdischen Museums, in: Süddeutsche Zeitung, 23. März 2007. Eine Chance für Palästina und Israel, in: Welt am Sonntag, 8. April 2007. Warten auf den siebten Tag. Vor vierzig Jahren hat der Sechstagekrieg von 1967 die Region des Nahen und Mittleren Ostens einschneidend verändert, in: Neue Zürcher Zeitung, 2. Juni 2007. Konflikte begreifen. Siebte Tage, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 75–83 [Wiederabdruck].

Die Moschee muss sich unterordnen. Was der Islam von den historischen Erfahrungen des Judentums im Westen lernen kann, in: Die Welt, 30. Juni 2007. Sakrales verstehen. Islam und Judentum, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 59–66 [Wiederabdruck].

Die Türkei sucht ihren Weg in allen Himmelsrichtungen, in: Welt am Sonntag, 18. November 2007.

2006

Vom »Anschluss« zur »Kristallnacht«. Das Krisenjahr 1938, in: Stiftung Jüdisches Museum Berlin/Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hgg.), Heimat und Exil. Emigration der Deutschen Juden nach 1933, Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2006, 22–25. Reims, Karlshorst, Sétif. Die multiple Bedeutung des 8. Mai 1945, in: Norbert Frei (Hg.), Was heißt und zu welchem Ende studiert man Geschichte des 20. Jahrhunderts?, Göttingen: Wallstein 2006, 190–195. Imperiale Residuen. Zur paradigmatischen Bedeutung transterritorialer jüdischer Erfahrung für eine gesamteuropäische Geschichte, in: Daniel Weidner (Hg.), Figuren des Europäischen. Kulturgeschichtliche Perspektiven (Trajekte), München: Wilhelm Fink 2006, 259–274.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

409

Icone della memoria  e coscienza storica. 8  maggio 1945, la prospettiva occidentale, orientale e coloniale, in: Marina Cattaruzza u. a. (Hgg.) Storia della Shoah. La crisi dell’Europa, la distruzione degli ebrei e la memoria del XX secolo, Bd. 4, Torino: UTET 2006, 383–409. Für Uns und für Sie. Überlegungen zum Diskurs über israelische Legitimität, in: Yotam Hotam/Matthias Schmidt/Noam Zadoff (Hgg.), Geschichte als Berufung. Ein Sammelband zu Ehren von Moshe Zimmermann anlässlich seines 60. Geburtstages, Jerusalem: Magnes Press 2006, 82–88 [hebr.]. In the Sphere of the Sacred. Modernity’s Predicament in the Middle East, in: The Berlin Journal. A Magazine from the American Academy in Berlin 12 (2006), 16–21. Sakrales verstehen. Krisen im Orient – Westliche Säkularisierung – Wege der Profani­ sierung, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 31–59 [erweiterte deutsche Fassung].

Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 5 (2006), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 9–13. Zur Einführung, in: Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 7–18. Vorwort, in: Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, hg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts von Stephan Wendehorst (Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur; 4), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2006, 9. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 7 (2005), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2006, 9 f. Hamas wird nicht so radikal handeln, wie sie sich gibt. Interview mit Dan Diner, in: Spiegel Online, 1. Februar 2006. Israelischer Historiker: »Hamas wird nicht so radikal handeln« (APA-Press Report; with Reference to the Interview on Spiegel Online from February 1, 2006), in:­ derStandard.at (Online), 2. Februar 2006. Im Widerstreit der Werte. Der Historiker und Nahost-Experte Dan Diner liest heute im Literaturhaus, in: Süddeutsche Zeitung, 23. Februar 2006. Islamismus, Iran und die Zukunft Europas. Gespräch zwischen Daniel Cohn-Bendit, Joschka Fischer und Dan Diner, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 51 (2006), H. 4, 419–435. Islam und Moderne. »Demütigung und Befreiung.« Der deutsch-israelische Historiker Dan Diner über die Angst der islamischen Welt vor der Moderne, in: Die Presse, 29. Juni 2006. »Deshalb spielt Israel verrückt.« Dan Diner zur Nahost-Krise, in: Spiegel Online, 17. Juli 2006. Er überschritt den Rubikon. Erst Scharon hat das Wagnis »Gaza« auf sich genommen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8. Januar 2006. Das Gesicht der Hamas. Wird sie ihren Haß auf Israel überwinden können?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29. Januar 2006. Dresden ’45  – Tod ist nicht gleich Tod. Eine Geschichte von der Bombennacht in­ Dresden, in: Welt Online, 4. Februar 2006 [gekürzte Version einer Rede, gehalten am 27. Januar 2006 im Sächsischen Landtag zu Dresden].

410

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner Narrative der Vernichtung. Ultimative Katastrophen, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 169–177 [Wiederabdruck]. Kosher HaHavhana. Al Auschwitz Ve᾿Dresden [Unterscheidungsfähigkeit. Über Auschwitz und Dresden], in: Tabur. Yearbook for European History, Society, Culture and Thought 1 (2008), 64–67 [hebräische Übersetzung].

Aus Libanon ragt eine Lunte in die Region. Der Krieg in Libanon ist nicht nur ein Konflikt zwischen Israel und dem Hizbullah. Er ist auch eine Auseinandersetzung zwischen Iran und den arabischen Staaten, in: Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 23. Juli 2006. Als ginge es um die Existenz. Dan Diner erklärt, warum die Israelis den Feldzug im Libanon fast einmütig unterstützen – und wieso ihn ausgerechnet ehemalige Friedensaktivisten am heftigsten befürworten, in: Welt am Sonntag, 23. Juli 2006. Als ginge es um die Existenz. Historiker Dan Diner erklärt, wieso ausgerechnet ehemalige israelische Friedensaktivisten den Libanon-Feldzug am heftigsten befürworten, in: Der Standard, 26. Juli 2006 [Wiederabdruck].

Europa? Welches Europa? Tony Judt erzählt die Geschichte des Alten Kontinents nach 1945: Ein erfolgreiches Gegenmodell zu den USA, in: Die Welt, 19.  August 2006 [Rezension von: Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München 2006]. Jahre der Vernichtung, in: Die Welt, 30. September 2006 [Rezension von: Saul Friedländer, Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939–1945, München 2006]. Das unrühmliche Ende einer Ära. Die Suezkrise von 1956 bereitete dem britischen und dem französischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts ein spätes Desaster, in: Neue Zürcher Zeitung, 28. Oktober 2006. Gedächtnis hier, Gedächtnis dort. Die Ungleichzeitigkeit der historischen Erinnerungen, die dramatische Kollision gegenläufiger Gedächtnisse und der Holocaust – eine Rede des diesjährigen Ernst-Bloch-Preisträgers, in: Welt Online, 30. November 2006. Gleichzeitigkeiten – Ungleichzeitigkeiten, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwarts­fragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 223–233 [Wiederabdruck].

2005

Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin: Propyläen 2005. Il tempo sospeso. Stasi e crisi nel mondo musulmano, Milano: Garzanti Libri 2007 [italienische Übersetzung]. Lost in the Sacred. Why the Muslim World Stood Still, Princeton, N. J./Oxford: Princeton University Press 2009 [englische Übersetzung]. Az-zaman al-makhtum. halit ar-rukud fi-l-‘alam al-islami, Freiberg am Neckar/Bagdad/ Beirut: Mansurat al-Gamal 2011 [arabische Übersetzung]. Mühürlenmiş Zaman. İslam Dünyasındaki Durgunluk Üzerine, Istanbul: Istanbul Bilgi Universitesi Yayinlari 2011 [türkische Übersetzung]. Zapečaćeno vrijeme. O zastoju u islamskom svijetu, Sarajevo: Šahinpašić 2015 [bosnische Übersetzung].

(Hg. mit Jonathan Frankel), Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism (Studies in Contemporary Jewry; 20), Oxford: Oxford University Press 2005.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

411

Introduction – Jews and Communism. The Utopian Temptation, in: Dan Diner/Jonathan Frankel (Hgg.), Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism (Studies in Contemporary Jewry; 20), Oxford: Oxford University Press 2005, 3–12. (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. Editorial, in: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 7–10. Ubiquitär in Zeit und Raum. Annotationen zum jüdischen Geschichtsbewusstsein, in: Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte (Toldot.­ Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 1), Göttingen: Vandenhoeck  & Ruprecht 2005, 13–34. Between Sovereignty and Human Rights. Juxtaposing American and European Tradition, in: Daniel Levy/Max Pensky/John Torpey (Hgg.), Old Europe, New Europe, Core Europe. Transatlantic Relations after the Iraq War, London/New York: Verso 2005, 91–94. Imperium und Diaspora. Das jüdische Exempel, in: Gabriella Gelardini (Hg.), Kontexte der Schrift, Bd. 1: Text, Ethik, Judentum und Christentum, Gesellschaft. Ekkehard W. Stegemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart: Kohlhammer 2005, 458–463. Jeckes. Ursprung und Wandel einer Zuschreibung, in: Moshe Zimmermann/Yotam­ Hotam (Hgg.), Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost, Frankfurt a. M.: Beerenverlag 2005, 100–103. Yekim. Gilgulav Shel Kinui [Jeckes. Die Wandlungen eines Rufnamens], in: Moshe Zimmermann/Yotam Hotam (Hgg.), Bein Hamoladot. Ha»Yekim« Be᾿machozoteihem [Zwischen zwei Heimatländern. Die »Jeckes« in ihrem Gebiet], Jerusalem: Salman Shazar Centre 2006, 89–91 [hebräische Übersetzung].

»Der Zweite Weltkrieg – revididus?«, in: Jürgen John/Dirk van Laak/Joachim von Puttkamer (Hgg.), Zeit-Geschichten. Miniaturen in Lutz Niethammers Manier, Essen: Klartext 2005, 62–65. Geopolitik und Glaubenswelt. Radikalisierung im islamischen Orient, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 50 (2005), H. 11, 1363–1369. Von Gesellschaft zu Gedächtnis. Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel, in: Verän­derte Weltbilder (Hannoversche Schriften; 6), Frankfurt a. M.: Neue Kritik 2005, 152–166.

From Society to Memory. Reflections on a Paradigm Shift, in: Doron Mendels (Hg.), On Memory. An Interdisciplinary Approach, Oxford u. a.: Peter Lang 2007, 149–163. Paradigmenwechsel, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 151–168 [Wiederabdruck].

Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 4 (2005), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 9–13. Editorial, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 3 (2005), München: K. G. Saur 2005, 7–9. Vorwort, in: Yuri Slezkine, Paradoxe Moderne. Jüdische Alternativen zum Fin de ­Siècle (Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur; 2), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 7 f.

412

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Vorwort, in: Simon Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, Bd. 2: 1903–1922, hg. im Auftrag des Simon-DubnowInstituts von Verena Dohrn, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 7 f. Vorwort, in: Simon Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, Bd. 3: 1922–1933, hg. im Auftrag des Simon-­DubnowInstituts von Verena Dohrn, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 7–10. Editorial, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 6 (2004), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2005, 7 f. EU-Krise, die Rolle der Türkei für Europa und die islamische Kultur. Ein Gespräch mit dem Historiker Dan Diner, in: Neue Zürcher Zeitung, 6. Juli 2005. Die Entmündigung des Orient. Ein Gespräch mit dem Historiker Dan Diner über den Islam, in: Süddeutsche Zeitung, 12. September 2005. »Es geht nicht um Schuld, es geht um Wissen.« Warum sind die arabischen Länder so resistent gegen Modernisierungsprozesse? Der Historiker Dan Diner meint: Dies ist kein spätes Erbe des Kolonialismus, sondern ein Ergebnis der Selbstblockade der sakralen arabischen Kultur, in: taz. Die Tageszeitung, 8. Oktober 2005. Zeitenwende in der arabischen Welt. Interview mit Historiker Diner, in: Spiegel Online, 21. Oktober 2005. Antisemitismus ist ein beständiges Phänomen, in: Jüdische Gemeindezeitung Frankfurt 38 (Dezember 2005), H. 4, 28 f. Lenins intellektuelle Reservearmee. Das Verhältnis der russischen Juden zur bolschewistischen Revolution und zur Sowjetunion, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Januar 2005. »Was der Union blüht«, Beitrag zu »Was wohl kommt. Angela Merkel steht vor der Tür des Kanzleramts. Fünf Intellektuelle sind nicht besorgt, haben kleine Hoffnungen – und frühe Zweifel«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 5. Juni 2005. Die EU darf kein volkseigener Betrieb sein. Das vereinte Europa sollte sich nicht am Modell des Nationalstaats, sondern am Alten Reich orientieren und mit Absicht vage bleiben, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19. Juni 2005. Sakrale Sprache. Limatha ta᾿akhara al-muslimun wataqaddama ghayruhum?, in: Die Welt, 24. September 2005.

2004 Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines »neuen Antisemitismus«, in: Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hgg.), Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte (edition suhrkamp; 2386), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, 310–329. Der Sarkophag zeigt Risse. Über Israel, Palästina und die Frage eines »neuen Antisemitismus«, in: Hanno Loewy (Hg.), Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien, Essen: Klartext 2005, 345–363 [Wiederabdruck]. Risse im Sarkophag, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 91–116 [Wiederabdruck].

Die Entwicklung zur Diktatur im Europa der Zwischenkriegszeit, in: Günther S­ chefbeck

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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(Hg.), Österreich 1934. Vorgeschichte – Ereignisse – Wirkungen (Österreich Archiv), Wien/München: Verlag für Geschichte und Politik/Oldenbourg 2004, 23–42. Vom Flüchtlingsschicksal zur Nation. Die Entstehung Israels aus der Diaspora 1947/48, in: Gabrielle Rosenstein u. a. (Hgg.), Jüdische Lebenswelt Schweiz, Zürich: Chronos 2004, 352–362. Cultural Engineering – oder die Zukunft der Geisteswissenschaften, in: Dorothee Kimmich/Alexander Thumfart (Hgg.), Universität ohne Zukunft (edition suhrkamp; 2304), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, 70–79. (mit Moshe Zimmermann, Wolfgang Schieder, Reinhard Rürup, Hartmut Lehmann und Steven Aschheim), Rav Siach Germani-Israeli. Askolat HaHistorya HaHevratit Begermania. Sofo Shel Idan? [Ein deutsch-israelisches Symposium. Die Schule der Sozialgeschichte in Deutschland. Das Ende einer Ära?], in: Historia. Journal of the Historical Society of Israel 14 (2004), 93–112 [hebr.]. Nazionalismi e fondamentalismi. Islam. Alle soglie della modernità, in: Il Regno Attualitá 953 (2004), H. 16, 515–522. Nazionalismo e fondamentalismo. L’islam alle soglie della modernità, in: I Libri de »Il Regno« (Hgg.), Nel suo nome. Conflitti, riconoscimento, convivenza delle religioni, Bologna: EDB 2005, 37–50 [Wiederabdruck].

Steht das ius in bello in Frage? Über Regulierung und Deregulierung der Anwendung von Gewalt, in: Erich Reiter (Hg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2004, Hamburg/Berlin/Bonn 2004, 59–71. Kriegsraison und Kriegsmanier, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 117–127 [Wiederabdruck].

Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 3 (2004), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 9–13. Editorial, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 2 (2004), München: K. G. Saur 2004, 9–11. Vorwort, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 5 (2003), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2004, 7 f. (mit Nicolas Berg), Nachwort zur Neuausgabe, in: Peter Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914. Mit einem Forschungsbericht des Autors, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 333–338. Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: Simon Dubnow, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, Bd. 1: 1860–1903, hg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts von Verena Dohrn, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, 7–10. Bush ist nur der Katalysator. Interview mit Historiker Diner, in: Spiegel Online, 5. November 2004. Zwischen Realismus und Ressentiment. Was hat der israelisch-palästinensische Konflikt mit Antisemitismus zu tun?, in: Die Welt, 11. Dezember 2004.

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2003 Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003. Von »Gesellschaft« zu »Gedächtnis«. Über historische Paradigmenwechsel, in: Dan­ Diner Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 7–15. Regimeverbrechen und Kollektivverbrechen, in: Matthias Middell/Charlotte Schubert/ Pirmin Stekeler-Weithofer (Hgg.), Erinnerungsort Leipziger Universitätskirche. Eine Debatte (Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; 2), Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003, 51–53. Den »Zivilisationsbruch« erinnern. Über Entstehung und Geltung eines Begriffs, in: Heidemarie Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20.  Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts (Gedächtnis – Erinnerung – Identität; 3), Innsbruck u. a.: Studien-Verlag 2003, 17–34. »Rupture in Civilization«. On the Genenis and Meaning of a Concept in Understanding, in: Moshe Zimmermann (Hg.), On Germans and Jews under the Nazi Regime. Essays by Three Generations of Historians. A Festschrift in Honor of Otto Dov Kulka, Jerusalem: Magnes Press 2006, 33–48 [englische Übersetzung]. »Zivilisationsbruch«. La frattura di civiltà come epistemologia della Shoah, in: Dan Diner u. a. (Hgg.), Storia della Shoah. La Crisi dell’Europa, lo sterminio degli ebrei e la ­memoria del XX secolo, Bd. 1: La crisi dell’Europa: le origini e il contesto, Torino: UTET 2005, 17– 43 [erweiterte italienische Übersetzung].

The Destruction of Narrativity. The Holocaust in Historical Discourse, in: Moishe Postone/Eric Santner (Hgg.), Catastrophe and Meaning. The Holocaust and the Twentieth Century, Chicago, Ill./London: University of Chicago Press 2003, 67–80. Das Prinzip Amerika, in: Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hgg.), Empire Amerika. Perspektiven einer neuen Weltordnung, München: Deutsche Verlagsanstalt 2003, 256–274. Amerika erschließen, in: Dan Diner, Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München: Pantheon 2010, 129–149 [Wiederabdruck].

Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 2 (2003), Stuttgart/München: Deutsche Verlagsanstalt 2003, 9–12. Vorwort, in: Bulletin des Simon Dubnow-Instituts 4 (2002), Leipzig: Leipziger Univer­ sitätsverlag 2003, 7 f. Editorial, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2003), München: K. G. Saur 2003, 9 f. In der Schütterzone. Europa, Amerika und Irak. Ein Gespräch mit Dan Diner, in: Frankfurter Rundschau, 5. März 2003. »Argumente für und gegen den Krieg waren allesamt sehr schlecht.« Der Geschichtsprofessor Dan Diner im Album-Interview, in: Album/Der Standard, 26./27.  April 2003. Anthropologisierung des Leidens. Interview mit dem Historiker Dan Diner, in: Phase2. Zeitschrift gegen die Realität 9 (2003). Spurenlese einer Verwandlung. Wie und warum aus Leopold Weiss in den zwanziger Jahren Muhammad Asad wurde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Januar 2003. Auferstehen aus der Krise, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 2. März 2003.

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Grenzenloses Recht. Europa kämpft territorial, Amerika für Werte, in: Süddeutsche Zeitung, 16. Juni 2003. Den Philosophen verstehen. Detlev Claussen forscht nach den Texten hinter Adornos Texten und findet dabei das 20. Jahrhundert, in: Die Welt, 6. September 2003 [Rezension von: Detlev Claussen, Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. 2003]. Mit östlichem Blick. Trotz der Anschläge muss Amerika durchhalten – in Bagdad und in Palästina, in: Die Zeit, 6. November 2003.

2002

Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments, Berlin: Propyläen 2002 [Erweiterte Neuausgabe von Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay, Frankfurt a. M.: Eichborn 1993]. Gedächtnis und Restitution – oder die Begründung einer europäischen Erinnerung, in: Susanne Düwell/Matthias Schmidt (Hgg.), Narrative der Shoah. Repräsentationen der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik, Paderborn u. a.: Schöningh 2002, 71–76. Gedächtnis und Restitution, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hgg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München: C. H. Beck 2002, 299–305 [Wiederabdruck; serbische Übersetzung des Bandes (2011)]. Restitution and Memory. The Holocaust in European Political Cultures, in: New German Critique 31 (2003), H. 90: Taboo, Trauma, Holocaust, 36–44 [englische Übersetzung].

Historische Anthropologie nationaler Geschichtsschreibung, in: Michael Brenner/David N. Myers (Hgg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen. Ein Schloss Elmau-Symposion, München: C. H. Beck 2002, 207–216. Geschichte der Juden. Paradigma einer europäischen Historie, in: Annäherungen an eine europäische Geschichtsschreibung (Archiv für österreichische Geschichte; 137), Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002, 85–103. Geschichte der Juden. Paradigma einer europäischen Geschichtsschreibung, in: Dan­ Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 246–262 [Wiederabdruck].

Von der Doktrin zum Glauben. Über die Neutralisierung von Religion und Ethnie, in: Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für internationalen Dialog (Hg.), Das Ende der­ Toleranz? Identität und Pluralismus in der modernen Gesellschaft, München: Piper 2002, 89–97. Farbenblindheit als Voraussetzung für Toleranz, in: Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für internationalen Dialog (Hg.), Toleranz. Vielfalt, Identität, Anerkennung (Frankfurter-Allgemeine-Buch), München: Piper 2002, 57–59. Varieties of Interpretation. »The Holocaust in Historical Memory«, in: Igal Halfin (Hg.), Language and Revolution. Making Modern Political Identities, London: Frank Cass 2002, 379–396. Israel und Deutschland. Über Nähe und Distanz ihrer Wissenschaftskulturen, in: Impulse geben – Wissen stiften. 40 Jahre Volkswagenstiftung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 491–506.

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Neutralisierung und Tolerierung von Differenz. Über institutionelle Internalisierungen von Religion und Ethnos, in: Herfried Münkler u. a. (Hgg.), Der demokratische Nationalstaat in den Zeiten der Globalisierung. Politische Leitideen für das 21. Jahrhundert. Festschrift zum 80. Geburtstag von Iring Fetscher, Berlin: Akademie 2002, 41–55. Säkularisierung und Differenz. Pluralistische Regulierung von Religion und Ethnos, in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 63–78 [Wiederabdruck].

The Irreconcilability of an Event. Integrating the Holocaust into the Narrative of the Century, in: Dan Michman (Hg.), Remembering the Holocaust in Germany, ­1945–2000. German Strategies and Jewish Responses (Studies in Modern European History; 48), New York u. a.: Peter Lang 2002, 95–107. Vergessen oder Erinnern? Müssen wir heute noch von Auschwitz reden oder ist endlich die Zeit des befreienden Vergessens gekommen? (Diskussionsrunde der Historiker Dan Diner und Jörn Rüsen, der Journalistin Eva Menasse und des Philosophen­ Rudolf Burger), in: Wespennest 127 (Juni 2002), 50–56. Von der Levante bis zum Hindukusch. Im Orient nichts Neues, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 17 (2002), H. 20, 36–43. Von Palästina bis Kaschimar. Nach Dekolonisierung und Kaltem Krieg, in: Dan ­Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, ­45–53 [Wiederabdruck].

Weder Heimat noch Exil. Walter Grab zum Gedenken, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 30 (2002), 361–368. Editorial, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 1 (2002), Stuttgart/München: Deutsche Verlagsanstalt 2002, 9–14. Vorwort, in: Markus Kirchhoff, Häuser des Buches. Bilder jüdischer Bibliotheken, Leipzig: Reclam Leipzig 2002, 7–9. Auf den Spuren von Lessing und Co. Toleranz in Nah-Ost, Privatisierung der Religion. Dan Diner über den Nah-Ost-Konflikt, die Privatisierung der Religion und die »inklusive Gesellschaft« – ein Gespräch mit dem deutsch-jüdischen Historiker, in: Die Presse, 13. Mai 2002. Vorwort, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 3 (2001), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2002, 5–7. Eigentum und Erinnerung. Europa hat heute einen verbindlichen Wertekanon, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. April 2002. Es redet aus ihnen heraus. Grass, Walser, Möllemann – über die Entstehung einer neuen Form des Antisemitismus in Deutschland, in: Die Welt, 15. Juni 2002. Es redet aus ihnen heraus, in: Michael Naumann (Hg.), Es muss doch in diesem Lande wieder möglich sein … Der neue Antisemitismus-Streit (Ullstein Taschenbuch; 36 425), München: Ullstein 2002, 230–235 [Wiederabdruck].

Sprachlos am Zaun. Israels Existenz hat drei Begründungen. Nur eine kann das Überleben des jüdischen Staates sichern, in: Die Zeit, 25. Juli 2002. Flugzeuge bauen, nicht entführen, in: Die Welt, 21. September 2002 [Rezension von: Bernard Lewis, Der Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor, Bergisch Gladbach 2002].

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Ein müßiger Wunsch. Für einen EU-Beitritt der Türkei, in: Süddeutsche Zeitung, 13. De­‑ zember 2002. Ein müßiger Wunsch. Für einen EU-Beitritt der Türkei, in: Claus Leggewie (Hg.), Die Türkei und Europa. Die Positionen (edition suhrkamp; 2354), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, 171–174 [Wiederabdruck].

2001

Von Kaschmir bis Palästina. Über Dekolonisierung – Islamismus und der arabisch-israe­ lische Konflikt, in: Hilmar Hoffmann/Wilfried  F. Schoeller (Hgg.), Wendepunkt 11. September 2001. Terror, Islam und Demokratie, Köln: DuMont 2001, 122–130. Zwangsgemeinschaften. Der Holocaust als Identitätsersatz. Zu Peter Novicks Nach dem Holocaust und Norman G. Finkelsteins Die Holocaust-Industrie, in: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen 2 (2001), 94–98. Von Homogenität zu Differenz. Israelische Selbstverständnisse im Wandel, in: Alfred Wittstock (Hg.), Israel in Nahost – Deutschland in Europa. Nahtstellen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2001, 167–180. Der Holocaust in den politischen Kulturen Europas. Erinnerung und Eigentum, in: Klaus-Dietmar Henke (Hg.), Auschwitz. Sechs Essays zu Geschehen und Vergegenwärtigung (Berichte und Studien; 32), Dresden: Hannah-Arendt-Institut für Tota­ litarismusforschung 2001, 65–73. Vorwort, in: Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2000), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001, 5 f. »Ein absolutes Recht gibt es nun mal nicht«. Der Historiker Dan Diner über die Rückkehr der Flüchtlinge und die Mythen, die sich Israelis und Palästinenser zunutze machen, in: Die Zeit, 15. Februar 2001. »Es darf keinen schwachen Staat geben.« Im Interview spricht Dan Diner über die multi-ethnische Gesellschaft in den USA, Islam, Anti-Amerikanismus und die möglichen Folgen nach dem Terrorakt auf das World Trade Center, in: Kreuzer. Die Leipziger Illustrierte 11, November 2001, 16. Deutschland kann sich Militäreinsatz nicht entziehen. Für die geplante Beteiligung deutscher Soldaten an Militäreinsätzen im Kampf gegen den Terror spricht sich der Zeithistoriker Dan Diner im Interview aus, in: Faz.net (Online), 14. November 2001. Gedächtnis und Restitution. Über die Begründung einer europäischen Erinnerung, in: Neue Zürcher Zeitung, 8. September 2001. Die Gesellschaft wird Staat. Amerika erlebt seine Neugründung, in: Frankfurter All­ gemeine Zeitung, 2. November 2001. Das große Nach-Spiel. Wo liegen die Wurzeln des Afghanistankonflikts?, in: Süddeutsche Zeitung, 13. November 2001.

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

2000 Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000. »Man hat mit der Sache eigentlich nichts mehr zu tun«, in: Richard Chaim Schneider (Hg.), Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute, Berlin: Ullstein 2000, 233–252. Gedächtnis und Erkenntnis. Nationalismus und Stalinismus im Vergleichsdiskurs, in: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 6 (2000), 698–708. Remembrance and Knowledge. Nationalism and Stalinism in Comparative Discourse, in: Helmut Dubiel/Gabriel Motzkin (Hgg.), The Lesser Evil. Moral Approaches to Genocide Practices (Totalitarian Movements and Political Religions), London/New York: Routledge 2004, 85–97 [englische Übersetzung].

Geschichtete Zeiten. Zur Konstitution von Ethnos und Nationalität, in: Kritik des Ethno­nationalismus. Hannoversche Schriften 2 (2000), 65–80. Konfliktachsen. Zum historischen Profil des 20. Jahrhunderts, in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 16–31 [Wiederabdruck].

Laudatio auf Hanna Krall, Hauptpreisträgerin des Leipziger Buchpreises zur Euro­ päischen Verständigung, verliehen vom Freistaat Sachsen, der Stadt Leipzig und dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels, in: Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (2000), 19–27. Zwischen Volk und Religion. Über jüdisch-deutsche Identitätsdiskurse in Deutschland, in: Universitas. Orientierung in der Wissenswelt 55 (2000), 283–290. Einführung in: Detlev Claussen, Aspekte der Alltagsreligion. Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen (Hannoversche Schriften; 3), Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik 2000, 6–11. Vorwort, in: Bulletin 1 (1999), Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2000, 3 f. Vorwort, in: Gideon Greif/Colin McPherson/Laurence Weinbaum (Hgg.), Die Jeckes. Deutsche Juden aus Israel erzählen, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2000, VII f. Vorwort, in: Dirk Rupnow, Täter, Gedächtnis, Opfer. Das »Jüdische Zentralmuseum« in Prag 1942–1945, Wien: Picus Verlag 2000, 9–11. Art. »Otto Bauer«, »1917«, »1933«, in: Elie Barnavi/Saul Friedländer (Hgg.), Les Juifs et le XXe siècle. Dictionnaire critique, Paris: Calmann-Lévy 2000, 480, 752, 759 [russische Übersetzung des Lexikons (2004)]. Historiker Dan Diner zur Konfliktbewältigung in Nahost: »Ein geteiltes Heiligtum ist kein Heiligtum mehr«, in: Leipziger Volkszeitung, 20. November 2000. Amnesie für den Frieden. Dan Diner über die neue/alte religiöse Dimension des Nahostkonfliktes, in: Der Freitag, 1. Dezember 2000. Brille des Totalitarismus. Woran das Hannah-Arendt-Institut wirklich leidet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 2000. Haider und der Schutzreflex Europas. Österreichs neue Regierung stört den wachsenden europäischen Gemeinsinn, in: Die Welt, 26. Februar 2000.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Auf dem Weg nach Westen. Heinrich August Winklers Deutsche Geschichte, Band I, in: Neue Zürcher Zeitung, 23. August 2000 [Rezension von: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000]. Welcher Richter soll das Heilige teilen? In der Gewalt zwischen Palästinensern und­ Israelis explodieren alle Schichten eines Jahrhundertkonflikts, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Oktober 2000.

1999

Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München: Luchterhand 1999.

Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 2000 [Taschenbuchausgabe]. Das Jahrhundert verstehen, 1917–1989. Eine universalhistorische Deutung, München: Pantheon 2015 [um ein Vor- und ein Nachwort erweiterte Neuausgabe]. Raccontare il Novecento. Una storia politica, Milano: Garzanti 2001 [italienische Übersetzung]. Raccontare il Novecento. Una storia politica, Milano: Garzanti 2007 [Taschenbuchausgabe der italienischen Übersetzung]. Cataclysms. A History of the Twentieth Century from Europe’s Edge (George  L. Mosse Series in Modern European Cultural and Intellectual History), Madison, Wisc.: University of Wisconsin Press 2008 [englische Übersetzung]. Zrozumiec stulecie, Warszawa: Wydawnictwo Naukowe Scholar 2009 [polnische Übersetzung]. Shever Zman. Lizkor Et Hamea HaEsrim, Tel Aviv: Am Oved 2009 [hebräische Über­ setzung]. Yüzyılı Anlamak. Evrensel Bir Tarih Yorumu, Istanbul: Iletişim 2009 [türkische Über­ setzung]. Porozumět dvacátému století, Brno: Centrum pro studium demokracie  a kultury 2010 [tschechische Übersetzung]. Razumjeti stoljeće. Općepovijesno tumačenje, Zaprešić: Fraktura 2013 [kroatische Übersetzung].

(Hg. mit Michael Stolleis), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv; 20), Gerlingen: Bleicher 1999. Zeitemblematik der Zugehörigkeit. Über die Konstruktion von Rang und Geltung im israelischen Selbstverständnis, in: Michael Brenner/Yfaat Weiss (Hgg.), Zionistische Utopie – israelische Realität. Religion und Nation in Israel (Beck’sche Reihe; 1339), München: C. H. Beck 1999, 173–190. The Temporal Emblematics of Belonging: Position and Validity in Israeli Political Discourse, in: John Bunzl/Benjamin Beit-Hallahmi (Hgg.), Psychoanalysis, Identity, and Ideology. Critical Essays on the Israel/Palestine Case, Boston, Mass./Dordrecht/New York/ London: Kluwer Academic Publishers 2002, 45–58 [englische Übersetzung]. Zeitembleme israelischer Zugehörigkeit. Von Säkularem und Profanem, in: Dan ­Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, ­228–245 [Wiederabdruck].

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Identität und Legitimität. Israelisches Bewußtsein im Wandel, in: Alte Synagoge Essen (Hg.), Status. Quo? 50 Jahre Staat Israel, Essen: Klartext 1999, 112–122. Europa, das ist der Rand. Völkerschicksale im Weltbürgerkrieg. Ein Blick in die Vorgeschichte der Balkankonflikte und ihre ideologische Überdeckung, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Der westliche Kreuzzug. 41 Positionen zum Kosovo-Krieg, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999, 159–168. Emanzipation und Identität. Juden in Ost und West. Gedächtnisrede zur Verleihung des Ricarda-Huch-Preises an Ignatz Bubis am 3. Oktober 1999, in: Ricarda-Huch-Preis. Reden zur Preis-Verleihung am 3. Oktober 1999 an Ignatz Bubis, Darmstadt: Magistrat der Wissenschaftsstadt Darmstadt 1999, 19–31. Editorial, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 28 (1999), Gerlingen: Bleicher 1999, 1–3. Der ganz Nahe Osten. Die Achtundsechziger und der Staat Israel: Ein Gespräch mit dem Historiker Dan Diner, in: Die Zeit, 4. Februar 1999. Dan Diner, neuer Direktor des Simon-Dubnow-Instituts Leipzig, »Jüdische Geschichte in den universellen Kontext stellen«, in: Leipziger Volkszeitung, 20. Mai 1999. Auf Odessas Treppe. Versuch, das 20. Jahrhundert zu verstehen, in: Neue Zürcher Zeitung, 6. März 1999. Europa, das ist der Rand. Völkerschicksale im Weltbürgerkrieg: Ein Blick in die Vorgeschichte der Balkankonflikte und ihre ideologische Überdeckung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Mai 1999. Ein Schlüsselereignis. Die atlantische Gegenwartskultur setzt auf dem Balkan ein unübersehbares Signal, in: Die Zeit, 10. Juni 1999, 45. Das Grab. Ignatz Bubis findet seine letzte Ruhestätte in Tel Aviv, in: Frankfurter All­ gemeine Zeitung, 17. August 1999. Von den Bergen. Die Golanhöhen haben vor allem symbolische Bedeutung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. September 1999. Gottesvolk am Scheideweg. Die deutsch-jüdische Identität steht im Schatten der Spannungen zwischen Religion und Nationalstaat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. November 1999. Konkurrierende jüdische Geschichtsbilder. Gemeinsames Narrativ für aschkenasische, sephardische und orientalische Juden?, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. November 1999.

1998 Was bleibt?, in: Micha Brumlik (Hg.), Mein Israel. 21 erbetene Interventionen (Fischer Taschenbuch; 13 938), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1998, 156–164. Für ein Israel der Gegenwart. Eli Löbel oder eine politische Gegenbiographie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 43 (1998), H. 5, 613–618 [Wiederabdruck].

Nation, Migration, and Memory. On Historical Concepts of Citizenship, in: Constellations 4 (1998), 293–306. Dio, patria  e nazione, in: MicroMega. Giustizia  e pace 3 (1999), 107–114 [italienische Übersetzung].

Goldhagen. Hirhurim Al Sefer Meorer Mahloket [Goldhagen. Reflections on a Contro-

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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versial Book], in: Historia. Journal of the Historical Society of Israel 2 (1998), ­133–137 [hebr.]. Editorial, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 27 (1998), Gerlingen: Bleicher 1998, 1–4. Athen in Jerusalem. Eine Studie zur Entstehung des modernen Judentums, in: Neue Zürcher Zeitung, 29. August 1998 [Rezension von: Yaacov Shavit, Athens in Jerusalem. Classical Antiquity and Hellenism in the Making of the Modern Secular Jew, London 1997].

1997

Elemente der Subjektwerdung. Jüdische DPs in historischem Kontext, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Überlebt und Unterwegs. Jüdische Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland (Jahrbuch 1997 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt a. M./ New York: Campus 1997, 229–248. »Meines Bruders Wächter« – Zur Diplomatie jüdischer Fragen 1840–1919, in: Barbara Picht (Hg.), Ich handle mit Vernunft. Ein Almanach zum Fünfzehnjährigen Bestehen der Literaturhandlung, München: C. H. Beck 1997, 24–38. »Meines Bruders Wächter« – Zur Diplomatie jüdischer Fragen, in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 113–124 [Wiederabdruck].

Zivilisationsbruch, Gegenrationalität, gestaute Zeit. Drei interpretationsleitende Begriffe zum Holocaust, in: Hans Erler (Hg.), »Meinetwegen ist die Welt erschaffen«. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Porträts, Frankfurt a. M./New York: Campus 1997, 513–520. On Guilt-Discourse and Other Narratives. Epistemological Observations Regarding the Holocaust, in: History and Memory 9 (1997): Passing into History. Nazism and the Holocaust beyond Memory. In Honor of Saul Friedländer on His Sixty-Fifth Birthday, 301–320 [englische Übersetzung]. Über Schulddiskurse und andere Narrative. Epistemologisches zum Holocaust, in: Gertrud Koch (Hg.), Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung (Beiträge zur Geschichts­ kultur; 20), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, 61–84. Vergangenheit und Schuld, in: Claudia Lepp/Kurt Nowak (Hgg.), Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90) (Sammlung Vandenhoeck), Göttingen: Vanden­ hoeck & Ruprecht 2001, 94–116 [Wiederabdruck]. On Guilt Discourse and Other Narrations. German Questions and Universal Answers, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./ London: University of California Press 2000, 218–230 [Wiederabdruck]. Discorsi sulla colpa  e altre narrative. Osservazioni sull’ epistemologia dell’Olocausto, in: Novecento. Rassegna di storia contemporanea 3 (2000), 27–40 [italienische Übersetzung]. Schulddiskurse und andere Narrative. Epistemisches zum Holocaust, in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, ­180–200 [Wiederabdruck].

Thesen zum Deutsch-Jüdischen Verhältnis nach 1989, in: Loccumer Protokolle 60/93 (1997), 34–48.

422

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Editorial, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 26 (1997), Gerlingen: Bleicher 1997, 1–6. Vorwort, in: Jacob Toury, Deutschlands Stiefkinder. Ausgewählte Aufsätze zur deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv; 18), Gerlingen: Bleicher 1997, 7 f. Katarakt des Schreckens. Nach dem Attentat in Israel: Was bezwecken die Islamisten?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 1997. Eine Flotte ist noch keine Seemacht. Land und Meer: Die geheime Aktualität der weltgeschichtlichen Betrachtungen Ludwig Dehios, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. September 1997. Kabale und Intrige. Hitlers Weg zur Kanzlerschaft in mikrologischer Betrachtung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Oktober 1997.

1996 Massenvernichtung und Gedächtnis. Zur kulturellen Strukturierung historischer Ereignisse, in: Hanno Loewy/Bernhard Moltmann (Hgg.), Erlebnis – Gedächtnis – Sinn. Authentische und konstruierte Erinnerung (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-BauerInstituts; 3), Frankfurt a. M./New York: Campus 1996, 47–55. Gedächtnis und Methode. Über den Holocaust in der Geschichtsschreibung, in: Fritz Bauer Institut (Hg.), Auschwitz. Geschichte, Rezeption und Wirkung (Jahrbuch 1996 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt a. M./New York: Campus 1996, 11–22. Memory and Method. Variance in Holocaust Narrations, in: Studies in Contemporary Jewry 13 (1997): Jonathan Frankel (Hg.), The Fate of the European Jews, 1939–1945. Continuity or Contingency?, New York/Oxford: Oxford University Press 1997, 84–99 [englische Übersetzung]. Varieties of Narration. The Holocaust in Historical Memory, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 173–186 [Wiederabdruck]. Memory and Method. Variance in Holocaust Narrations, in: James E. Young (Hg.), The Posen Library of Jewish Culture and Civilization, Bd.  10: 1973–2005, hg. von Deborah Dash Moore und Nurith Gertz, New Haven, Conn./London: Yale University Press 2012, 888–890 [Wiederabdruck (Auszug)].

Ereignis und Erinnerung. Über Variationen historischen Gedächtnisses, in: Nicolas Berg/Jess Jochimsen/Bernd Stiegler (Hgg.), Shoah  – Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst, München: Wilhelm Fink 1996, 13–30. Der Holocaust im Geschichtsnarrativ. Über Variationen historischen Gedächtnisses, in: Stephan Braese (Hg.), In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegsund Gegenwartsliteratur, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, 13–30 [Wiederabdruck]. Ereignis und Erinnerung. Über Variationen historischen Gedächtnisses, in: Bernd Faulenbach/Helmuth Schuette (Hgg.), Deutschland, Israel und der Holocaust. Zur Gegenwartsbedeutung der Vergangenheit, Essen: Klartext 1998, 55–70 [Wiederabdruck]. Meora veZikaron. AlVariatsiot BeZikaron HaHistori [Ereignis und Erinnerung. Über Variationen historischen Gedächtnisses], in: Moshe Zimmernann (Hg.), HaReich HaShlishi.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

423

Ma’azan Histori [Das Dritte Reich. Eine Historische Bilanz], Jerusalem: Magnes Press 1999, 40–51 [hebräische Übersetzung].

Mihuts LeGvulut HaDisiplina [Jenseits der Grenzen der Disziplin], in: Zmanim. ­Rivon leHistoryah [Zmanim. Eine historische Vierteljahreszeitschrift] 55 (1996), 108 [hebr.]. Zweierlei Osten. Europa zwischen Westen, Byzanz und Islam, in: Otto Kallscheuer (Hg.), Das Europa der Religionen. Ein Kontinent zwischen Säkularisierung und Fundamentalismus, Frankfurt a. M.: Fischer 1996, 97–116. Europas Gestalt. Zwischen Latinität, Byzanz und Islam, in: Dan Diner, Gedächtnis­zeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 32–44 [Wieder­ abdruck]. La configuración de Europa (Entre la Latinidad, Bizancio y el Islam), in: Pasajes. Revista de pensamiento contemporáne (2004), H. 15, 37–46 [spanische Übersetzung].

An der Jahrhundertwende. Über Periodisierungsfragen und Deutungsachsen, in: Internationale Politik 51 (1996), H. 12: In Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert, 3–10. Hannah Arendt Reconsidered. Über das Banale und das Böse in ihrer Holocaust-Erzählung, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 11 (1996), H. 16/17, 94–107. Hannah Arendt Reconsidered. On the Banal and the Evil in her Holocaust Narrative, in: New German Critique 24 (1997), H. 71: Memories of Germany, 177–190 [englische Übersetzung]. Hannah Arendt Reconsidered. Über das Banale und das Böse in ihrer HolocaustErzählung, in: Gary Smith (Hg.), Hannah Arendt Revisited. »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen (edition suhrkamp; 2135), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, 120–135 [Wiederabdruck].

Hannah Arendt. Jüdisches Selbstverständnis im Schatten der Eichmann-Kontroverse, in: Bernward Baule (Hg.), Hannah Arendt und die Berliner Republik. Fragen an das vereinigte Deutschland, Berlin: Aufbau 1996, 151–165. Hannah Arendt. Jüdisches Selbstverständnis im Schatten der Eichmann-Kontroverse, in: Alte Synagoge Essen (Hg.), »Treue als Zeichen der Wahrheit«. Hannah Arendt. Werk und Wirkung (Studienreihe der Alten Synagoge; 6), Essen: Klartext 1997, 109–120.

Editorial, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 25 (1996), Gerlingen: Bleicher 1996, 1–4. Denker des Raumes, Feind der Zeit. Vor fünfzig Jahren starb der Geopolitiker Karl Haushofer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März 1996. Bitterer Lorbeer. Werden Terror und Gegenterror Israels Politik versteinern?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Mai 1996. Das Ende der gestreckten Zeit. In den jüngsten Konflikten zwischen Israelis und Palästinen­sern werden uralte Ansprüche gegenwärtig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Oktober 1996.

1995

Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin-Verlag 1995. Krugovoroty. Nacional-socializm i pamjat’, Moskau: Rosspėn 2010 [russische Über­setzung].

Gestaute Zeit. Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur, in: Dan Diner, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin Verlag 1995, 123–139.

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner Gestaute Zeit. Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur, in: Sigrid Weigel/Birgit R. Erdle (Hgg.), Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus (Zürcher Hochschulforum; 23), Zürich: vdf Hochschulverlag 1996, 3–15.

Zum Selbstverständnis der zweiten deutschen Nachkriegsrepublik, in: Ansgar Klein u. a. (Hgg.), Kunst, Symbolik und Politik. Die Reichstagsverhüllung als Denkanstoß, Bonn: Leske + Budrich 1995, 299–306. Die Politisierung des Unterschieds. Über Religion und Nationalität im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts, in: Essener Unikate. Berichte aus Forschung und Lehre 6/7: Fremdsein – Historische Erfahrungen (1995), 121–129. Politisierung des Unterschieds. Religion und Nationalität im Osmanischen Reich, in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 54–62 [Wiederabdruck].

Individualität und Nationalität. Wandlungen im israelischen Geschichtsbewußtsein, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 10 (1995), H. 15, 5–27.

Cumulative Contingency. Legitimizing History in Israeli Discourse, in: History and­ Memory 7 (1995), 147–170. Kontingentiyut Mitstaberet. Al Historia Vetsiduk Atsmi Basiah HaIsraeli [Kumulative Kontingenz. Über Geschichte und Selbstlegitimation im israelischen Diskurs], in: ­Alpayim. For Contemporary Thought and Literature 12 (1996), 35–50 [hebräische Übersetzung]. Cumulative Contingency. Historicizing Legitimacy in Israeli Discourse, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 201–217 [Wiederabdruck]. Kumulative Kontingenz. Jüdische Erfahrung und israelische Legitimität, in: Dan D ­ iner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, ­201–227 [Wiederabdruck].

Zweierlei Emanzipation. Westliche Juden und Ostjuden in universalhistorischer Perspektive, in: Sächsischer Landtag (Hg.), Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur. Vorstellung des Forschungsprofils im Sächsischen Landtag am 9. November 1995, Dresden: Sächsischer Landtag 1995, 19–29.

Zweierlei Emanzipation. Westliche Juden und Ostjuden in universalhistorischer Per­ spektive, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. Januar 1996 [überarbeiteter Wiederabdruck]. Zweierlei Emanzipation. Westliche Juden und Ostjuden gegenübergestellt, in: Dan D ­ iner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, ­125–134 [Wiederabdruck].

Wird die Bundesrepublik ein westliches Land? Vom Umgang mit deutschen Zäsuren und Kontinuitäten. Ein »Blätter«-Gespräch mit Dan Diner, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 40 (1995), 545–555. Pfeiler der Nationsbildung. Tom Segevs vieldiskutiertes Buch über das Erinnern in­ Israel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. Juni 1995 [Rezension von: Tom S­ egev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Reinbek bei Hamburg 1995]. Fremde Federn. Verdoppeln heißt halbieren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Juni 1995. Die Wiederkehr der Orientalischen Frage, in: Die Zeit, 1. September 1995. Wissenschaft vom Orient unter dem Primat der Außenpolitik. Kai Hafez’ aufschlußreiche

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Studie über die Orientalistik in der DDR, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. September 1995 [Rezension von: Kai Hafez, Orientwissenschaft in der DDR. Zwischen Dogma und Anpassung, 1969–1989, Hamburg 1995]. Der Balkan als Ursprung der »ethnischen Säuberung«. Mazedonien und der »europäische Krieg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Oktober 1995. Die Zeit wird neu gezählt. Israel nach dem Attentat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. November 1995. Allah kennt die Seinen. Aber auch Bernard Lewis weiß, wer die Araber sind, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. November 1995. Bilder des Unsagbaren. Der französische Publizist und Dokumentarfilmer Claude Lanzmann wird siebzig, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. November 1995.

1994

Von der Deutschland- zur Außenpolitik. Ein historisches Plädoyer, in: Claus Leggewie (Hg.), Wozu Politikwissenschaft? Über das Neue in der Politik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, 106–119. Kontraphobisch. Über Engführungen des Politischen, in: Kursbuch 39 (1994), H. 116: Verräter, 109–118.

Kontraphobisch. Über Engführungen des Politischen, in: Dan Diner, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin Verlag 1995, 95–111 [Wiederabdruck].

Gedächtnis und Institution, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 546/547 (September/Oktober 1994), 943–946.

Gedächtnis und Institution. Über zweierlei Ethnos, in: Dan Diner, Kreisläufe. National­ sozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin Verlag 1995, 113–121 [Wiederabdruck]. Memoria e democrazia, in: MicroMega. Le ragioni della sinistra 5 (1994), 99–103 [italienische Übersetzung].

Nation/Nationalismus, in: Dieter Nohlen (Hg.), Internationale Beziehungen (Lexikon der Politik; 6), München: C. H. Beck 1994, 303–309. Editorial, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 23 (1994), Gerlingen: Bleicher Verlag 1994, 1 f. Feinde des Westens. Zwischen Gesellschaft und Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. Mai 1994. Grundbuch des Planeten. Haushofer hat nichts mehr zu sagen/Geopolitik heute, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. November 1994. Abreißende Westbindung. Der Nahe Osten nach Bernard Lewis, in: Frankfurter All­ gemeine Zeitung, 13. Dezember 1994.

1993

Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993. Verkehrte Welten. Antiamerikanismus in Deutschland. Ein historischer Essay, Frankfurt a. M.: Eichborn 1993. America in the Eyes of Germans. An Essay on Anti-Americanism, Princeton, N. J.: Markus Wiener 1996 [englische Übersetzung].

426

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Universelle Rechtsform und partikulare Differenz. Islam und Völkerrecht, in: Dan­ Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 165–195. Zur Ideologie des Antifaschismus, in: Bernhard Moltmann u. a. (Hgg.), Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland West und Deutschland Ost (Arnoldshainer Texte; 79), Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 1993, 21–30. Antifaschistische Weltanschauung. Ein Nachruf, in: Dan Diner, Kreisläufe. National­ sozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin Verlag 1995, 77–94 [Wiederabdruck]. On the Ideology of Antifascism, in: New German Critique 24 (1996), H. 67: Legacies of Antifascism, 123–132 [englische Übersetzung].

Nationalstaat und Migration. Zu Begriff und Geschichte, in: Friedrich Balke u. a. (Hgg.), Schwierige Fremdheit. Über Integration und Ausgrenzung in Einwanderungsländern (Fischer Taschenbuch; 11 882), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 21–40. Deutschland im Epochenwechsel, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 38 (1993), 1111–1118. L’incerto futuro dei tedeschi in Europa, in: MicroMega. Le ragioni della sinistra 1 (1993), 36–43 [italienische Übersetzung].

Widerstand als Sinngebung, in: taz. Die Tageszeitung, 17. April 1993. Schmerzhafte Wandlung. Vom ethnischen Deutschen zum deutschen Bürger, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 44 (1993), H. 5, 460. Vor allem ein historischer Kompromiß. Die Übereinkunft der Israelis und der Palästinenser, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. September 1993.

1992

Deutschland am Golf. Kollektive Erinnerung und ein aktueller Konflikt, in: Werner Boh­ leber/John S. Kafka (Hgg.), Antisemitismus, Bielefeld: Aisthesis-Verlag 1992, 20–35. Zwischen Deutschland und Rußland. 1919–1939. Ein historisches Arsenal politischer Erinnerung, in: Bruno Schoch (Hg.), Deutschlands Einheit und Europas Zukunft (Friedensanalysen; 26 / edition suhrkamp; 1783), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1992, 182–202. Zwischen Deutschland und Rußland. 1919–1939 als historisches Arsenal politischer Erinnerung, in: Dan Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 165–195 [Wiederabdruck].

Nationalsozialismus und Stalinismus. Über Gedächtnis, Willkür, Arbeit und Tod, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 7 (1992), H. 10/11, 110–124. Natzional-Socialism VeStalinism. Al Zikaron, Shrirut, Avoda VeMavet [Nationalsozialismus und Stalinismus. Über Gedächtnis, Willkür, Arbeit und Tod], in: Zmanim. Rivon leHistoryah [Zmanim. Eine historische Vierteljahreszeitschrift] 45 (1993), 76–85 [hebräische Übersetzung]. Massenverbrechen im 20. Jahrhundert. Über Nationalsozialismus und Stalinismus, in: Rolf Steininger (Hg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel (Schriften des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck und des Jüdischen Museums Hohenems; 1), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 1994, 468–481 [bearbeiteter Wiederabdruck].

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Nationalsozialismus und Stalinismus. Über Gedächtnis, Willkür, Arbeit und Tod, in: Dan Diner, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin Verlag 1995, 47–75 [Wiederabdruck]. Nazism and Stalinism. On Memory, Arbitrariness, Labor, and Death, in: Dan Diner,­ Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 187–200 [englische Übersetzung].

Rationalisierung und Methode. Zu einem neuen Erklärungsversuch der »Endlösung«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 40 (1992), 359–382. Rationalization and Method. Critique of a New Approach in Understanding the »Final Solution«, in: Yad Vashem Studies 24 (1994) 71–108 [englische Übersetzung]. Ratzionalizatsya VeShita. Al Nisayon LeMatan Hesber Chadash La »Pitaron Hasofi« [Rationalisierung und Methode. Zu einem neuen Erklärungsversuch der »Endlösung«], in: Yad Vashem. Kovets Mekhkarim 24 (1994), 55–77 [hebräische Übersetzung]. On Rationality and Rationalization. An Economistic Explanation of the Final Solution, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./ London: University of California Press 2000, 138–159 [Wiederabdruck].

Art. »The Final Solution 1941–1945«, »Resistance 1942–1944«, in: Elie Barnavi (Hg.), A Historical Atlas of the Jewish People. From the Time of the Patriarchs to the Present, London/New York: Hutchinson/Schocken Verlag 1992, 232 f., 236 f. [französische (1992), hebräische (1992), deutsche (1993), niederländische (1993), tschechische (1995) und russische (2014) Übersetzung des Bandes]. Die Unbilden der neuen Welt. Der Nationalismus und seine Vollstrecker, in: Frankfurter Rundschau, 2. Oktober 1992. Vertrag gegen den Wiederholungszwang, in: Süddeutsche Zeitung, 28. November 1992. Eine Geburtsurkunde für das neue Deutschland, in: taz. Die Tageszeitung, 3. Dezember 1992.

1991

Der Krieg der Erinnerungen und die Ordnung der Welt, Berlin: Rotbuch 1991. (Hg. mit Dirk Blasius), Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland (Fischer Taschenbuch; 10 524), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1991. (mit Dirk Blasius), Einleitung der Herausgeber, in: Dirk Blasius/Dan Diner (Hgg.), Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland (Fischer Taschenbuch; 10 524), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1991, 7–10. Die Katastrophe vor der Katastrophe. Auswanderung ohne Einwanderung 1938/39, in: Dirk Blasius/Dan Diner (Hgg.), Zerbrochene Geschichte. Leben und Selbstverständnis der Juden in Deutschland (Fischer Taschenbuch; 10 524), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1991, 138–160. The Catastrophe before the Catastrophe. 1938 in Historical Context, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 78–94 [englische Übersetzung].

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Täuschungen. Israel, die Linke und das Dilemma der Kritik, in: Marcel Marcus/Ekke­ hard  W. Stegemann/Erich Zenger (Hgg.), Israel und Kirche heute. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog. Für Ernst Ludwig Ehrlich, Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder 1991, 284–293. Täuschungen. Israel, die Linke und das Dilemma der Kritik, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail 1946–1995, Hamburg: Rogner & Bernhard 1998, 187–194 [Wiederabdruck].

Historisches Verstehen und Gegenrationalität. Der Judenrat als erkenntnistheore­tische Warte, in: Frank Bajohr/Werner Johe/Uwe Lohalm (Hgg.), Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne. Detlev Peukert zum Gedenken (Ham­ bur­ger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte; 27), Hamburg: Christians 1991, 307–321. Historical Understanding and Counterrationality. The Judenrat as Epistemological Vantage, in: Saul Friedländer (Hg.), Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«, Cambridge, Mass., u. a.: Harvard University Press 1992, 128–142 [englische Übersetzung]. Havana Historit VeRatsyonaliyut-Neged. Ha»Judenrat« Ke’emdat Tatspit [Historisches Verstehen und Gegenrationalität. Der Judenrat als erkenntnistheoretische Warte], in: Zmanim. Rivon leHistoryah [Zmanim. Eine historische Vierteljahreszeitschrift] 53 (1995), 44–53 [hebräische Übersetzung]. Historical Understanding and Counterrationality. The Judenrat as Epistemological Vantage, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 130–137 [Wiederabdruck]. Historical Understanding and Counterrationality. The Judenrat as Epistemological Vantage, in: Neil Levi/Michael Rothberg (Hgg.), The Holocaust. Theoretical Readings, New Brunswick: Rutgers University Press 2003, 75–81 [Wiederabdruck].

Historisierung und Rationalität. Bausteine zu einer Theorie über die »Endlösung«, in: Hans-Uwe Otto/Heinz Sünker (Hgg.), Politische Formierung und soziale Erziehung im Nationalsozialismus (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 927), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1991, 9–17. Den Westen verstehen. Der Golfkrieg als deutsches Lehrstück, in: Kursbuch 36 (1991), H. 104: Weiter denken, 143–155. Den Westen verstehen. Der Golfkrieg als deutsches Lehrstück, in: Dan Diner, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin Verlag 1995, 27–45 [Wiederabdruck].

Wahr-Nehmungen. Orient und Westen – anläßlich des Golfkrieges, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 6 (1991), H. 9, 7–19. Orient und Westen  – angesichts des Golfkrieges, in: Essener Hochschulblätter. Aus­ gewählte Reden im Studienjahr 1990/91, Universität GHS Essen (1991), 7–20 [Wiederabdruck].

Stabilität im Nahen Osten?, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 6 (1991), 488–492. Wieder einmal. Die Palästina-Frage, in: Der Überblick. Zeitschrift für ökonomische Begegnung und internationale Zusammenarbeit 27 (1991), 9–13. Blut und Öl. Über Traditionen politischer Kultur, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 42 (1991), H. 3, 140–145.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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»Dialogue Zmanim«. Bgidat HaAchraim [»Zmanim Dialog«. Der Verrat der Verantwortlichen. Gespräch mit Yigal Eilam], in: Zmanim. Rivon leHistoryah [Zmanim. Eine historische Vierteljahreszeitschrift] 38 (1991), 48–61 [hebr.]. (mit Haim Hanegbi), Shem HaMischak. Achrayut [Der Name des Spiels. Verantwortung], in: Haaretz, 15. März 1991, 3 [hebr.].

1990

Perspektivenwahl und Geschichtserfahrung. Bedarf es einer besonderen Historik des Nationalsozialismus?, in: Walter  H. Pehle (Hg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus. Annäherungen (Fischer Taschenbücher; 4445), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1990, 94–113.

Historical Experience and Cognition. Perspectives on National Socialism, in: History and Memory. Studies in Representation of the Past 2 (1990), H.  1, 84–111 [englische Übersetzung]. Die Wahl der Perspektive. Bedarf es einer besonderen Historik des Nationalsozialismus?, in: Wolfgang Schneider (Hg.), »Vernichtungspolitik«. Eine Debatte über den Zusammenhang von Sozialpolitik und Genozid im nationalsozialistischen Deutschland (Schriftenreihe des Hamburger Instituts für Sozialforschung), Hamburg: Junius 1991, 65–76 [Wiederabdruck]. Historical Experience and Cognition. Juxtaposing Perspectives on National Socialism, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./ London: University of California Press 2000, 160–170 [Wiederabdruck].

Juden in Frankfurt – Frankfurter Juden. Überlegungen zu gegebenem Anlass, in: Thomas Koebner/Erwin Rotermund (Hgg.), Rückkehr aus dem Exil. Emigranten aus dem Dritten Reich in Deutschland nach 1945. Essays zu Ehren von Ernst Loewy, München: Edition Text & Kritik 1990, 107–114. Jenseits des Vorstellbaren. Der »Judenrat« als Situation, in: Hanno Loewy/Gerhard Schoen­berner (Hgg.), »Unser einziger Weg ist Arbeit«. Das Ghetto Lodz 1940–1944. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Frankfurt am Main, Wien: Löcker 1990, 32–40. Me’ever Lekhol Dimyon. Ha»Judenrat« Kesug Shel Matsav [Jenseits des Vorstellbaren. Der »Judenrat« als Situation], in: Beshvil Hazikaron [Um der Erinnerung willen] 20 (1997), 24–32 [hebräische Übersetzung]. Die Perspektive des »Judenrats«. Zur Universellen Bedeutung einer Partikularen Erfahrung, in: Doron Kiesel u. a. (Hgg.), »Wer zum Leben, wer zum Tod  …«. Strategien Jüdischen Überlebens im Ghetto, Frankfurt a. M.: Campus 1992, 11–35 [erweiterter Wiederabdruck]. Jenseits des Vorstellbaren. Der »Judenrat« als Grenzsituation, in: Dan Diner, Gedächtnis­ zeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 135–151 [Wiederabdruck]. Beyond the Conceivable. The Judenrat as Borderline Experience, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 117–129 [englische Übersetzung].

Der Palästinakonflikt. Wege aus der Ausweglosigkeit, in: Kursbuch 36 (1990), H. 100: Die Welt von morgen, 173–190.

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Deutschland, die Juden und Europa. Vom fortschreitenden Sieg der Zukunft über die Vergangenheit, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 5 (1990), H. 7 96–104. Europa, Deutschland und die Juden, in: Kirche und Israel. Neukirchner Theologische Zeitschrift 8 (1993), 3–14 [Wiederabdruck]. Deutschland, die Juden und Europa. Vom fortschreitenden Sieg der Zukunft über die Vergangenheit, in: Dan Diner, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis, Berlin: Berlin Verlag 1995, 11–26 [Wiederabdruck]. L’Allemagne, l’Europe et la mémoire juive, in: Revue germanique internationale 3 (1996), H. 5: Germanité, judaïté, altérité, 73–82 [französische Übersetzung]. Germany, the Jews, and Europe. History and Memory and the Recent Upheaval, in: Y.  Michal Bodemann (Hg.), Jews, Germans, Memory. Reconstructions of Jewish Life in Germany (Social History, Popular Culture, and Politics in Germany), Ann Arbor, Mich.: University of Michigan Press 1996, 263–272 [englische Übersetzung]. Nitshon HeAtid Al HeAvar. Germania, HaYehudim VeEuropa [Der Sieg der Zukunft über die Vergangenheit. Deutschland, die Juden und Europa], in: Zmanim. Rivon leHistoryah [Zmanim. Eine historische Vierteljahreszeitschrift] 37 (1991), 52–58 [hebräische Übersetzung].

Europäische Gegenbilder. Zeitgeschichtliche Periodisierungsfragen und historische Erinnerung, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 19 (1990), 501–517. European Counterimages. Problems of Periodization and Historical Memory, in: Praxis International 10 (1990), 14–23 [englische Übersetzung]. European Counterimages. Problems of Periodization and Historical Memory, in: New German Critique 19 (1991), H. 53, 163–174 [Wiederabdruck]. Europäische Gegenbilder. Zeitgeschichtliche Periodisierungsfragen und historische Erinnerung, in: Dan Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 221–242 [Wiederabdruck].

Gzar Din Histori? [An Historical Sentence?], in: Haaretz, 15. März 1990, 4 [hebr.]. Weltbürgerkrieg oder Hegemonialkonflikte. Zeitenwende: Ist die Geschichte am Ende oder kehrt sie zurück?, in: Frankfurter Rundschau, 24. April 1990.

1989 Frankreich, Deutschland, Mitteleuropa. Skizzen zu einer neuen europäischen Ordnung. Dan Diner im Gespräch mit Claus Leggewie, in: Hans Leo Krämer/Claus Legge­ wie (Hgg.), Wege ins Reich der Freiheit. André Gorz zum 65. Geburtstag (Rotbuch-­ Rationen), Berlin: Rotbuch 1989, 293–305. Tradierte Herrschaft und soziale Modernisierung. Die Militärregime in Syrien und Irak, in: Rainer Steinweg (Hg.), Militärregime und Entwicklungspolitik (Friedensanalysen; 22 / edition suhrkamp; 1314), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 214–234. Von Universellem und Partikularem. Max Horkheimer, in: Rainer Erd u. a. (Hgg.), Kritische Theorie und Kultur (edition suhrkamp; 1557), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, 270–281. Austreibung ohne Einwanderung. Zum historischen Ort des »9. November«, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 4 (1989), H. 5, 22–28.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Das Hauptereignis als Nebenprodukt? Arno  J. Mayers Gesamtdarstellung der »End­ lösung«, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 4 (1989), H. 6, 107–112. Semel HaDegel Bimkom Semel HaBait [Das Symbol der Fahne anstelle des Symbols des Hauses], in: Politika. Iton Politi Israeli 26 (1989), H. 3, 3 [hebr.]. Rassistisches Völkerrecht. Elemente einer nationalsozialistischen Weltordnung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989), 23–56. Rassistisches Völkerrecht. Elemente einer nationalsozialistischen Weltordnung, in: Dan Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 77–123 [Wiederabdruck]. Norms for Domination. Nazi Legal Concepts of World Order, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 49–77 [englische Übersetzung].

1988 (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz (Fischer; 4398), Frankfurt a. M.:­ Fischer Taschenbuchverlag 1988. Aporie der Vernunft. Horkheimers Überlegungen zu Antisemitismus und Massenvernichtung, in: Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz (Fischer; 4398), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1988, 30–53. Reason and the »Other«. Horkheimer’s Reflection on Anti-Semitism and Mass Annihilation, in: Seyla Benhabib/Wolfgang Bonß/John McCole (Hgg.), On Max Horkheimer. New Perspectives (Studies in Contemporary German Social Thought), Cambridge, Mass.: MIT Press 1993, 335–363 [englische Übersetzung]. The Limits of Reason. Max Horkheimer on Anti-Semitism and Extermination, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 97–116 [Wiederabdruck]. Angesichts des Zivilisationsbruchs. Max Horkheimer’s Aporien der Vernunft, in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 152–179 [Wiederabdruck].

Zwischen Bundesrepublik und Deutschland, in: Hajo Funke (Hg.), Von der Gnade der geschenkten Nation. Zur politischen Moral der Bonner Republik (Rotbuch; 333), Berlin: Rotbuch 1988, 188–199. Strukturelemente des Palästinakonflikts, in: Klaus Jürgen Gantzel (Hg.), Krieg in der Dritten Welt. Theoretische und methodische Probleme der Kriegsursachenforschung. Fallstudien (Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konflikt­ forschung; 12), Baden-Baden: Nomos 1988, 351–374. Schichten der Erinnerung. Zum Börneplatzkonflikt, in: Michael Best (Hg.), Der Frankfurter Börneplatz. Zur Archäologie eines politischen Konflikts (Fischer Taschen­ bücher; 4418), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1988, 235–244. Schichten der Erinnerung. Zum Börneplatzkonflikt, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 3 (1988), H. 3, 18–26 [Wiederabdruck].

Erwägungen zu einer Historik des Nationalsozialismus, in: Forum für Philosophie in Bad Homburg (Hg.), Zerstörung des moralischen Selbstbewußtseins  – Chance oder

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

Gefährdung? Praktische Philosophie in Deutschland nach dem Nationalsozialismus (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 752), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, 49–65. Aufklärung nach Auschwitz, in: Jörn Rüsen/Eberhard Lämmert/Peter Glotz (Hgg.), Die Zukunft der Aufklärung (edition suhrkamp; 1479), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, 12–20. Der hebräische Mythos. Aus Anlaß des Buches von Jacob Shavit, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 3 (1988), H. 4, 119–123 [Rezension von: Jacob Shavit, Me Ivri ad Kena’ani (hebr.), Jerusalem 1984]. Constitutional Theory and the State of Emergency in Weimar Republic. The Case of Carl Schmitt, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 17 (1988), 303–322. On the Brink of Dictatorship. Carl Schmitt and the Weimar Constitution, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 11–25 [Wiederabdruck].

Ha»Yeshuv« Nokhah Shoat Yehudey Europa. Ma’amar Bikoret [Der Jischuw angesichts der Katastrophe der europäischen Juden], in: Zionism. Studies in the History of the Zionist Movement and the Jewish Community in Palestine 13 (1988), 301–308 [hebr.]. Nach vierzig Jahren. Israel in der Wüste, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 3 (1988), H. 4, 7–23. Internationale Beziehungen, in: Ekkehard Lippert/Günther Wachtler (Hgg.), Frieden. Ein Handwörterbuch (Studienbücher zur Sozialwissenschaft; 47), Opladen: Westdeutscher Verlag 1988, 182–192. »Begriffe sind besetzt und lassen sich nicht beliebig verlebendigen«. Über die »Mitte«, den »Osten« und den »Westen«. Eine Antwort an Peter Glotz und seine Idee, in: Frankfurter Rundschau, 25. Mai 1988.

1987

(Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit (Fischer Taschenbücher; 4391), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1987. Einleitung, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit (Fischer Taschenbücher; 4391), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1987, 7–16. The Historians’ Controversy. Limits to the Historization of National Socialism, in:­ Tikkun. A Bimonthly Jewish Critique of Politics, Culture and Society 2 (1987), H. 1, 74–78. Endogene Konfliktverursachung im Vorderen Orient und die Funktion globaler Einwirkungen, in: Rainer Steinweg (Hg.), Kriegsursachen (Friedensanalysen; 21 / edition suhrkamp; 1238), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1987, 308–333. Politische Theologie des Bürgerkrieges. Zur Theorie und Praxis des radikalen Islam, in: Jacob Taubes (Hg.), Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 3: Theokratie, Paderborn u. a.: Wilhelm Fink 1987, 233–247. Politischer Islam, in: Dan Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 197–219 [Wiederabdruck].

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Bolschewismus ohne Kommunismus. Ben-Gurion und der Holocaust, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 2 (1987), H. 2, 127–131. B. G. VeHa»Shoah«. Bolshevism Lelo Communism [B. G. (Ben-Guriyon) und der Holocaust. Bolschewismus ohne Kommunismus], in: Haaretz, 29. April 1987, 13 [gekürzte hebräische Version].

Zurück zur Nation?, in: Civis. Vierteljahresschrift für freie Bürger in einem freiheitlichen Staat 1 (1987), 47–50. Ribua Ma’agal HaMashber [Die Quadratur des Krisenkreises], in: Davar, 18.  Januar 1987, 4 [hebr.]. Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierung des Nationalsozialismus, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 38 (1987), H. 3, 153–159. Materialismus, Fortschritt und Utopie. Elemente europäischer Geistesgeschichte im Zionismus, in: Karlheinz Schneider/Nikolaus Simon (Hgg.), Der Zionismus und seine europäischen Wurzeln (Deutsch-Israelischer Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten; 15), Berlin: Reiner Bernstein 1987, 37–53.

1986

Über Rafik Schami, in: Heinz Friedrich (Hg.), Chamissos Enkel. Zur Literatur von Ausländern in Deutschland (dtv; 10 533), München: Deutscher Taschenbuchverlag 1986, 63–67. »Abu Nidal – Abu Schmiedal«. Zu Schiff/Ya’ari, Israel’s Lebanon War, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 1 (1986), H. 1, 118–121. Israels längster Krieg. Zu Ze’ev Schiff/Jacobo Ya’ari, Israel’s Lebanon War, in: Politische Vierteljahresschrift. Literatur 27 (1986), H. 2, 228–230 [Wiederabdruck].

Internationaler Terrorismus, in: Anno 86. Jahrbuch (1986), 62–65. Le radici mediorientali del terrorismo internazionale, in: Politica ed economia 10 (1987), 61 f. [italienische Übersetzung].

Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 1 (1986), H. 1, 9–20. Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit (Fischer Taschen­ bücher; 4391), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1987, 185–197 [Wieder­ abdruck]. Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz, in: Micha Brumlik u. a. (Hgg.), Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag bei Athenäum 1986, 243–257 [Wiederabdruck]. Negative Symbiosis. Germans and Jews after Auschwitz, in: Peter Baldwin (Hg.), Reworking the Past. Hitler, the Holocaust and the Historians’ Debate, Boston, Mass.: Beacon Press 1990, 251–261 [englische Übersetzung]. Negative Symbiosis. Germans and Jews after Auschwitz, in: Neil Levi/Michael Rothberg (Hgg.), The Holocaust. Theoretical Readings, New Brunswick: Rutgers University Press 2003, 423–430 [Wiederabdruck].

Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des National­ sozialismus, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 1 (1986), H. 2, 23–33.

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit (Fischer Taschenbücher; 4391), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch­ verlag 1987, 62–73 [Wiederabdruck]. Between Aporia and Apology. On the Limits of Historicizing National Socialism, in:­ Peter Baldwin (Hg.), Reworking the Past. Hitler, the Holocaust and the Historians’ Debate, Boston, Mass.: Beacon Press 1990, 133–145 [englische Übersetzung].

(mit Susann Heenen-Wolff, Gertrud Koch, Cilly Kugelmann und Martin Löw-Beer), Editorial, in: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart 1 (1986), H. 1, 7 f. Patrick Moreau, Nationalismus von links. Die »Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalisten« und die »Schwarze Front« Otto Straßers (1930–1935), Stuttgart 1985, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 15 (1985), 636–640; Leondik Luks, Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus, Stuttgart 1985, in: ebd., ­640–644; Christoph Müller/Ilse Staff (Hgg.), Der soziale Rechtsstaat. Gedächtnisschrift für Hermann Heller 1891–1933, Baden-Baden 1984, in: ebd., 644–646; Claus Arndt, Die Verträge von Moskau und Warschau. Politische, verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Aspekte, Bonn 1982, in: ebd., 657–659 [Rezensionen].

1985

Ideologie, Historiographie, Gesellschaft. Zur Diskussion der Pirenne-Thesen in der Geschichtswissenschaft. Ein Nachtrag, in: Henri Pirenne, Mohammed und Karl der Große. Untergang der Antike am Mittelmeer und Aufstieg des germanischen Mittel­ alters, Frankfurt a. M.: Fischer 1985, 207–237. Neutralisierung durch »Gesellschaft«. Henri Pirennes »Muhammed und Karl der Große«, in: Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München: C. H. Beck 2003, 79–112 [Wiederabdruck].

Percezione e identità. Considerazzioni storio-psicologiche sul sionismo e L’Olocausto, in: Gli ebrei dell’Europa orientale dall’utopia alla rivolta (Passato e presente; 19), Milano: Edizioni di Comunità 1985, 45–52. Universalismus, Imperialismus, Hegemonie. Zum Verhältnis von Politik und Ökonomie in der Weltgesellschaft, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hgg.), Politikwissenschaft. Begriffe, Analysen, Theorien. Ein Grundkurs (Rowohlts Enzyklopädie; 418), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1985, 326–360. Imperialism, Universalism, Hegemony, in: Law and State 39 (1988), 7–39 [englische Übersetzung]. Imperialismus und Universalismus. Versuche einer Begriffsgeschichte, in: Dan Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 17–59 [Wiederabdruck].

Hoge Mazav HaHirum. Be’Ikvot Muto Schel Carl Schmitt [Denker des Ausnahmezustands. Anlässlich des Todes von Carl Schmitt], in: Haaretz, 23. April 1985, 12 [hebr.]. Sehnsucht nach Normalität. Israel-Reise der Grünen, in: links. Sozialistische Zeitung 180 (März 1985), 6 f. Antisemitismus, Internationalismus, Nahostkonflikt. Ein Streitgespräch (Teilnehmer: Micha Brumlik, Daniel Cohn-Bendit, Dan Diner, Gunnar Heinsohn, Jürgen Reents,

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Otto Schily, Ulrich Tilgner, Peter Zollinger), in: links. Sozialistische Zeitung 180 (März 1985), 25–34. Aneignung der Geschichte, in: links. Sozialistische Zeitung 182 (Mai 1985), 8 f.

1984

Exkurs über einen »Sonderfall« von Integration. Antisemitismus und Nationalstaat, in: Ahmet Bayatz/Mario Damolin (Hgg.), Integration. Anpassung an die Deutschen? (Psychologie heute), Weinheim/Basel: Beltz 1984, 167–179. »Grundbuch des Planeten«. Zur Geopolitik Karl Haushofers, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 32 (1984), 1–28. »Grundbuch des Planeten«. Zur Geopolitik Karl Haushofers, in: Dan Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 125–163 [Wiederabdruck]. Knowledge of Expansion. On the Geopolitics of Karl Haushofer, in: Geopolitics 4 (1999), H. 3, 161–188 [englische Übersetzung]. Knowledge of Expansion. On the Geopolitics of Karl Haushofer, in: Dan Diner, Beyond the Conceivable. Studies on Germany, Nazism, and the Holocaust (Weimar and Now. German Cultural Criticism; 20), Berkeley, Calif./Los Angeles, Calif./London: University of California Press 2000, 26–48 [Wiederabdruck].

Linke und Antisemitismus. Überlegungen zur Geschichte und Aktualität, in: Karlheinz Schneider/Nikolaus Simon (Hgg.), Solidarität und Deutsche Geschichte. Die Linke Zwischen Antisemitismus und Israelkritik, Berlin: Deutsch-Israelischer Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten 1984, 61–77. Internationales Seerecht, in: Andreas Boeckh (Hg.), Internationale Beziehungen. Theorien, Organisationen, Konflikte (Pipers Wörterbuch zur Politik; 5), München: Piper 1984, 260–267. Völkerrecht, in: Andreas Boeckh (Hg.), Internationale Beziehungen. Theorien, Organisationen, Konflikte (Pipers Wörterbuch zur Politik; 5), München: Piper 1984, 514–523. Zur Konstruktion des Völkerrechts, in: Dan Diner, Weltordnungen. Zur Geschichte und Wirkung von Recht und Macht (Fischer Taschenbuch; 11 736), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1993, 61–75 [Wiederabdruck].

Zionismus, in: Andreas Boeckh (Hg.), Internationale Beziehungen. Theorien, Organisationen, Konflikte (Pipers Wörterbuch zur Politik; 5), München: Piper 1984, 552–554. Zypern, in: Andreas Boeckh (Hg.), Internationale Beziehungen. Theorien, Organisationen, Konflikte (Pipers Wörterbuch zur Politik; 5), München: Piper 1984, 554–557. Ethnische Differenzen und Diskriminierung, in: Friedhelm Ernst (Hg.), Zionismus, Opposition und Bi-Nationalität (Der schwierige Weg nach Palästina; 2), Stuttgart: Alektor-Verlag 1984, 21–26. Israels bi-nationale Gesellschaft. Martin Buber und das Problem jüdischer Humanisten, in: Süddeutsche Zeitung, 16. November 1984 [Rezension von: Martin Buber, Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, Frankfurt a. M. 1983]. Arye Gelbard, Der jüdische Arbeiter-Bund Rußlands im Revolutionsjahr 1917, Wien 1982, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK) 20 (1984), H. 2, 311–313 [Rezension].

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Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

1983

(Hg.), Grenzprobleme im Palästinakonflikt (Militärpolitik-Dokumentation; 28/29), Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 1983. Vorwort, in: Dan Diner (Hg.), Grenzprobleme im Palästinakonflikt (MilitärpolitikDokumentation; 28/29), Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 1983, 1–3. Israel und das Trauma der Massenvernichtung. Über jüdische Deutungsmuster im Palästinakonflikt, in: Dietrich Wetzel (Hg.), Die Verlängerung von Geschichte. Deutsche, Juden und der Palästinakonflikt, Frankfurt a. M.: Neue Kritik 1983, 25–42. Israel and the Trauma of the Mass Extermination, in: Telos. A Quarterly Journal of Critical Thought 57 (1983), 41–52. Israel VeHatrauma Shel HaHashmada. (Al Hatfisa HaIsraelit Et Hasihsuh HaIsraeli-Arvi) [Israel und das Trauma der Vernichtung. (Über das israelische Verständnis des israelischarabischen Konflikts)], in: Politika 8 (1986), 20–23 [hebräische Übersetzung].

Zionismus. Versuch einer politischen Begriffsbestimmung, in: Informationszentrum Dritte Welt (Hg.), Der Palästina-Konflikt und was wir damit zu tun haben, Freiburg i. Br.: Aktion Dritte Welt 1983, 28–38. Demographie und Territorium. Zur Logik israelischer Ausdehnung im Palästina­ konflikt, in: Weltpolitik. Jahrbuch für Internationale Beziehungen 3 (1983), 145–165. Zwei Völker in Palästina, in: links. Sozialistische Zeitung 157 (April 1983), 23 f. Hier stimmt was nicht. Mußmaßungen über die Angst, in: links. Sozialistische Zeitung 162 (September 1983), 21 f. Weder Tod noch Leben. Zur Fortsetzung des libanesischen Bürgerkriegs, in: links. Sozialistische Zeitung 163 (Oktober 1983), 20. Dem Frieden keine Träne, in: links. Sozialistische Zeitung 165 (Dezember 1983), 24.

1982

»Keine Zukunft auf den Gräbern der Palästinenser«. Eine historisch-politische Bilanz der Palästinafrage, Hamburg: VSA 1982. Die »nationale Frage« in der Friedensbewegung. Ursprünge und Tendenzen, in: ­Rainer Steinweg (Hg.), Die neue Friedensbewegung. Analysen aus der Friedensforschung (Friedensanalysen; 16 / edition suhrkamp; 1143), Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1982, 86–111. The »National Question« in the Peace Movement. Origins and Tendencies, in: New­ German Critique 11 (1983), H. 28, 86–107 [englische Übersetzung]. La »question de l’Allemagne« dans le mouvement éco-pacifiste, in: Hérodote. Revue de géographie et de géopolitique 8 (1983), H. 28: Géopolitiques allemandes, 86–106 [fran­ zösische Übersetzung].

Ich wäre glücklich wenn die USA und die UdSSR am Rande einer Konfrontation stünden. Interview, in: Pflasterstrand 134, 19. Juni–2. Juli 1982, 24–27. Eine Konfrontation der Supermächte könnte das Leben der Palästinenser retten. Auszüge eines Pflasterstrand-Interviews mit Dan Diner, in: taz. Die Tageszeitung, 16. Juni 1982 [Wiederabdruck (Auszug)].

Über den Eifer von Verhandlungen. Die Genfer »Abrüstungs«-Gespräche haben begonnen, in: links. Sozialistische Zeitung 142 (Januar 1982), 4.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

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Politische Geographie der Solidarität oder das Elend des Internationalismus, in: links. Sozialistische Zeitung 143 (Februar 1982), 24 f. Olympiade des Nationalismus? Anmerkungen zur Kontroverse zwischen André Gorz und Rudolf Bahro, in: links. Sozialistische Zeitung 145 (April 1982), 8 f. Olympics of Nationalism. Notes on the Gorz-Bahro Controversy, in: Telos. A Quarterly Journal of Critical Thought 51 (1982), 128–130.

Über Zionismus und Judentum. Ein Rundfunktinterview mit Dan Diner (SWR, 1982), in: Pflasterstand 9 (1982) [Sondernummer: Palästina. Ein Albtraum der deutschen Linken], 40 f. Ein Gespräch mit deutschen Juden. Die Teilnehmer sind: Christopher Sommerkorn, Peter Biro, Moishe Speier, Michael Friedmann, Dan Diner, Rossi Natansohn, in: Pflasterstand 9 (1982) [Sondernummer: Palästina. Ein Albtraum der deutschen­ Linken], 58 f. Über Antisemitismus in Polen, in: taz. Die Tageszeitung, 10. Mai 1982. Israelische Endlösungsstrategie. Leserbrief, in: taz. Die Tageszeitung, 30. Juni 1982. Israelische Endlösungsstrategie, in: Israel-Palästina-Komitee Wien (Hg.), Libanon ’82. Der israelisch-palästinensische Krieg. Eine Dokumentation, Wien: Vingron 1982, 79–81 [Wiederabdruck].

Editorial: »Frieden für Galiläa« – Krieg den Galiläern, in: links. Sozialistische Zeitung 148/149 (Juli/August 1982), 2. »Frieden für Galiläa«  – Krieg den Galiläern, in: Israel-Palästina-Komitee Wien (Hg.), Libanon ’82. Der israelisch-palästinensische Krieg. Eine Dokumentation, Wien: Vingron 1982, 53–55.

Zionismus und jüdisch-israelische Nation. Zur Begriffsbestimmung in der bundesrepublikanischen Debatte, in: Friedhelm Ernst (Hg.), Palästina (BRD und »Dritte Welt«; 4), Kiel: Magazin 1982, 22–24. Libanon. Der reale und der imaginäre Krieg. Interview mit Dan Diner und Micha Brumlik, in: Arbeiterkampf 224, 25. August 1982, 25–27. Die Entwicklung der israelischen Opposition, in: Israel-Palästina-Komitee Wien (Hg.), Libanon ’82. Der israelisch-palästinensische Krieg. Eine Dokumentation, Wien: Vingron 1982, 34–39 [Wiederabdruck (Auszug)].

Von der Mame zur Pflugschar. Zum Jiddisch-Hebräischen Sprachenstreit, in: Ronny Loewy u. a. (Hgg.), Das Jiddische Kino, Frankfurt a. M.: Deutsches Filmmuseum 1982, 81–86.

1981

Israel. Nationalstaatsprobleme und Nahostkonflikt, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml (Hgg.), Das Zwanzigste Jahrhundert III. Weltprobleme zwischen den Macht­ blöcken (Fischer Weltgeschichte 36), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuchverlag 1981, 165–212 [liegt auch in spanischer (1982) und italienischer (1984) Übersetzung vor]. Israels Nationalstaatsprobleme, in: Neue Rundschau 92 (1981), H. 1, 5–31 [Wieder­abdruck]. Zur Kritik der zionistischen Struktur Israels für Bi-Nationalität in Palästina, Wien: IsraelPalästina-Komitee 1981 [Wiederabdruck].

438

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner Die jüdisch-israelische Nationalität. Über die Dialektik der Anerkennung, in: Pflasterstand 9 (1982) [Sondernummer: Palästina. Ein Albtraum der deutschen Linken], 24 f. [Wiederabdruck (Auszug)]. Die Jüdisch-Israelische Nationalität. Über die Dialektik der Anerkennung, in: Dan Diner (Hg.), Grenzprobleme im Palästinakonflikt (Militärpolitik-Dokumentation; 28/29), Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 1983, 166–167 [Wiederabdruck (Auszug)]. Die jüdisch-israelische Nationalität: Über die Dialektik der Anerkennung, in: Friedhelm Ernst (Hg.), Zionismus, Opposition und Bi-Nationalität (Der schwierige Weg nach Palästina; 2), Stuttgart: Alektor-Verlag 1984, 15–20 [Wiederabdruck (Auszug)].

Elemente einer Theorie der Bi-Nationalität in Palästina, in: Friedhelm Ernst (Hg.), Der schwierige Weg nach Palästina, Arbeitsheft 1 (Beiträge zum ESG-Seminar Nahost. Stimmen der Opposition), Stuttgart: Alektor 1981, 67–72. Politischer Zwang und formelle Gleichheit. Über Geschichte und Rechtsformen der Ölausbeutung im Vorderen Orient, in: Volkhard Brandes/Jens Huhn (Hgg.), Wie Phönix aus der Asche? Energiekrise und »Modell Deutschland« (Links Pocket; 5), Offen­bach: Verlag Zweitausend 1981, 138–150. Traditionelle Ressentiments und ein aktueller Konflikt. Über Antisemitismus und Palästinafrage im öffentlichen Bewußtsein, in: Geographie heute 7 (1981), 36–49. Immanente Kritik oder militärische Alternative. Über linke Vernachlässigung, in: links. Sozialistische Zeitung 130 (Januar 1981), 16–18. Israels nukleare Option und das Trauma der Massenvernichtung, in: links. Sozialistische Zeitung 136 (Juli/August 1981), 8 f. Die Neutronenbombe. Trojanisches Pferd der USA, in: links. Sozialistische Zeitung 137 (September 1981), 4. Atlantischer Selbstmord oder kontinentale Perspektive, in: links. Sozialistische Zeitung 138/139 (Oktober 1981), 2 f. Amerika hat einen Freund verloren. Zur ambivalenten Bedeutung Sadats, in: links. Sozialistische Zeitung 140 (November 1981), 4 f.

1980

Israel in Palästina. Über Tausch und Gewalt im Vorderen Orient, Königstein/Ts.: Athenäum 1980. Landnahme und Grenze, in: Dan Diner (Hg.), Grenzprobleme im Palästinakonflikt (Militärpolitik-Dokumentation; 28/29), Frankfurt a. M.: Haag + Herchen 1983, 98–101 [Wiederabdruck (Auszug)].

Die Palästina-Frage im Vorderen Orient. Entwicklungen und Perspektiven, in: John Bunzl (Hg.), Israel  – Palästina. Klasse, Nation und Befreiung im Nahost-Konflikt, Hamburg: Junius 1980, 169–180. Anerkennung und Nichtanerkennung. Über den Begriff des Politischen in der gehegten und antagonistischen Gewaltanwendung bei Clausewitz und Carl Schmitt, in: Günter Dill (Hg.), Clausewitz in Perspektive. Materialien zu Carl von Clausewitz: Vom Kriege, Frankfurt a. M. u. a.: Ullstein 1980, 447–465. Israel in Palästina. Interview mit Dan Diner statt einer Buchbesprechung, in: taz. Die Tageszeitung, 25. Juli 1980.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

439

Falsches Gegeneinander, in: links. Sozialistische Zeitung 119 (Februar 1980), 8–11. (mit Jens Huhn und Anke Schulz), Psychoanalyse und Politik. Ein Gespräch mit dem Psychoanalytiker Paul Parin, in: links. Sozialistische Zeitung 120 (März 1980), 9–13. Krise im Mittleren Osten – Weltkrise, in: links. Sozialistische Zeitung 122 (Mai 1980), 3 f. Zur europäischen Nahost-Initiative. Interessenunterschiede zwischen USA und Europa, in: taz. Die Tageszeitung, 5. Juni 1980. Ein Rundschlag zum Ratschlag, in: links. Sozialistische Zeitung 124 (Juli 1980), 2 f. Vormärz-Ambivalenzen, in: taz. Die Tageszeitung, 18. August 1980. »Nach Ihnen Valéry!« Die neue Achse Bonn  – Paris, in: links. Sozialistische Zeitung 125/126 (August/September 1980), 10 f. Sinn und Unsinn, in: links. Sozialistische Zeitung 125/126 (August/September 1980), 24 f. Der grüne Bucht(r)ip. Der Mythos der Ressourcen-Knappheit, in: taz. Die Tageszeitung, 4. November 1980. Krieg zwischen Irak und Iran, in: links. Sozialistische Zeitung 128 (November 1980), 24.

1979

»Perser raus!«, in: links. Sozialistische Zeitung 106 (Januar 1979), 6. Das Erbe der Despotie. Iran: Volksbewegung, »Islamische Republik« oder ArmeePutsch?, in: links. Sozialistische Zeitung 107 (Februar 1979), 5–7. In Iran ist nicht alles anders, in: links. Sozialistische Zeitung 108 (März 1979), 6 f. Gerechtigkeit, Öffentlichkeit und Demokratie in Iran, in: links. Sozialistische Zeitung 111 (Juni 1979), 21. Rock und Politik in England und der BRD, in: links. Sozialistische Zeitung 112/113 (Juli/ August 1979), 42 f. Der Ayatollah in Kurdistan, in: links. Sozialistische Zeitung 114 (September 1979), 2. Falsche Moral und richtige Kritik, in: links. Sozialistische Zeitung 114 (September 1979), 8. Thesen I. Vorgetragen auf der Tagung der links-Redaktion »Strauß und die Folgen« am 20.10.1979, in: links. Sozialistische Zeitung 116 (November 1979), 8 f. Zum Tod von Genossen, in: links. Sozialistische Zeitung 116 (November 1979), 4. »Heiliger Krieg«, in: links. Sozialistische Zeitung 117 (Dezember 1979), 2. Fragmente von unterwegs. Über jüdische Sozialisation und politischen Identität in Deutschland, in: Autonomie. Materialien gegen die Fabrikgesellschaft 14 (1979), 52–57. Fragmente von unterwegs. Über jüdische und politische Identität in Deutschland, in: Ästhetik und Kommunikation 14 (1983), H. 51: Deutsche, Linke, Juden, 5–15 [Wiederabdruck]. Fragments of an Uncompleted Journey. On Jewish Socialisation and Political Identity in Germany, in: New German Critique 8 (1980), H. 20: Germans and Jews (Special Issue 2), 57–70 [englische Übersetzung]. Fragments of an Uncompleted Journey. On Jewish Socialisation and Political Identity in West Germany, in: Anson Rabinbach/Jack Zipes (Hgg.), German and Jews since the Holocaust. The Changing Situation in West Germany, New York/London: Holmes & Meier 1986, 120–134 [Wiederabdruck].

440

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

1978

Autoritärer Staat oder gewöhnlicher Faschismus?, in: links. Sozialistische Zeitung 95 (Januar 1978), 1, 10–12. Nahost. Frieden, Frieden und doch kein Frieden, in: links. Sozialistische Zeitung 96 (Februar 1978), 13 f. »Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein.«, in: links. Sozialistische Zeitung 101 (Juli 1978), 10 f. Iran. Rebellion und Islam, in: links. Sozialistische Zeitung 103 (Oktober 1978), 1 f. Vom imperialistischen Frieden zum Krieg der Klassen, in: links. Sozialistische Zeitung 104 (November 1978), 13 f.

1977

(mit Jens Huhn), Kreuther Aussichten, in: links. Sozialistische Zeitung 84 (Januar 1977), 3 f. Mythos gegen links, in: links. Sozialistische Zeitung 86 (März 1977), 7. Staatsschutz in Freiheit, in: links. Sozialistische Zeitung 87 (April 1977), 1 f. Zionismus nach der Wahl, in: links. Sozialistische Zeitung 90 (Juli/August 1977), 21 f. Geschichtsbewusstsein und Sowjetkritik. Zwischenbemerkung zur Debatte um den »realen Sozialismus«, in: links. Sozialistische Zeitung 91 (September 1977), 16 f. Partisanen des Staates, in: links. Sozialistische Zeitung 92 (Oktober 1977), 4 f. Sadats Poker, in: links. Sozialistische Zeitung 94 (Dezember 1977), 4 f.

1976

Tancos und das Verhältnis von Militär und Politik, in: links. Sozialistische Zeitung 74 (Februar 1976), 5–8. (mit Jens Huhn), Sozialisten und Verfassung. Zum Strategiebeitrag von Bernhard Blanke und Wolf-Dieter Narr, in: links. Sozialistische Zeitung 76 (April 1976), 19–21. Bürgerkrieg im Libanon, in: links. Sozialistische Zeitung 77 (Mai 1976), 9 f. Nah-Ost. Die Masken fallen, in: links. Sozialistische Zeitung 79 (Juli/August 1976), 7 f. (mit Heinrich Grün und Jens Huhn), Mao Tse-Tung, in: links. Sozialistische Zeitung 81 (Oktober 1976), 1–3. Syrien und das palästinensische Dilemma im Libanon, in: links. Sozialistische Zeitung  83 (Dezember 1976), 9–11.

1975

Marché mondial, sionisme et violence. Thèses sur l’integration capitaliste du Mashreq et ses consequences politiques, in: Khamsin. Revue des socialistes révolutionnaires du Proche-Orient 4 (1975), 66–87. Entwicklung in Nah-Ost. Sackgasse oder Wende?, in: links. Sozialistische Zeitung 66 (Mai 1975), 9. Portugal am Scheideweg, in: links. Sozialistische Zeitung 71 (November 1975), 3–6.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

441

1974

Sozialdemokratie und koloniale Frage – dargestellt am Beispiel des Zionismus, in: Die Dritte Welt 3 (1974), 58–87.

1973

Der Einfluß von Kriegsbegriff und Waffenstillstandsvertrag auf das Kriegsende im modernen Völkerrecht, Universität Frankfurt a. M., Fachbereich 1, Rechtswissenschaften, Dissertation 1973.

1972

Zionismus. Universales und partikularistisches Denken/Zionism within the Context of Universalism and Particularism, in: Zeitschrift für die Jüdische Jugend Europas/ Shalom Dialog. Magazine for Jewish European Youth 20/21 (1972), 70–78 [deutsch/ englisch]. Palästinenser, Panarabismus und Sozialismus/Panarabism, Zionism and the P ­ alestinians, in: Zeitschrift für die Jüdische Jugend Europas/Shalom Dialog. Magazine for Jewish European Youth 20/21 (1972), 93–99 [deutsch/englisch]. Zur Wohnungsfrage, in: Frankfurter Jüdisches Gemeindeblatt 5 (1972), H. 2/3/4, 16 f. Peretz Merchav, Die israelische Linke, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 17 (1972), H. 12, 1342–1344.

1971

Zur Demokratisierung der Gemeinde, in: Frankfurter Jüdisches Gemeindeblatt 4 (1971), H. 2/3/4, 8.  Sapir in Frankfurt, in: Frankfurter Jüdisches Gemeindeblatt 4 (1971), H. 2/3/4, 10. Zionistische Kritik am »Jerusalemer Programm«, in: Frankfurter Jüdisches Gemeindeblatt 4 (1971), H. 5, 12 f. Knesset-Mitglied Uri Avnery in Frankfurt, in: Frankfurter Jüdisches Gemeindeblatt 4 (1971), H. 6/7, 6. Zur Diskussion um das Westend, in: Frankfurter Jüdisches Gemeindeblatt 4 (1971), H. 11/12, 8 f.

1970

Zurückgebliebene Israeli. Zum Weltkongreß jüdischer Studenten in Arad, in: Neues Forum 17 (1970) H. 204/I/II, 1075 f. Der Zionismus und die jüdische Frage heute, in: Emuna. Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum 5 (1970), H. 3, 153–159.

442

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

1969

Vorwort, in: Ber Borochov, Die Grundlagen des Poale-Zionismus, Frankfurt a. M.: Borochov-Press 1969, 7–24. Preface to »The Foundations of Socialist Zionism« by Ber Borochov, o. O.: World Union of Jewish Students 1969.

Die Diskussionswoche und deren Folgen in unserer Gemeinde, in: Frankfurter Jüdisches Gemeindeblatt 2 (1969), H. 6/7/8, 6.

1965

Die SMV berichtet, in: Der Pennäler. Schülerzeitschrift des Ulrich-von-Hutten-Gymna­ siums Schlüchtern 17 (1965), H. 1, 13. Auschwitz…, in: Der Pennäler. Schülerzeitschrift des Ulrich-von-Hutten-Gymnasiums Schlüchtern 17 (1965), H. 1, 20 f.

1964

Betrifft: Kommunismus, in: Der Pennäler. Schülerzeitschrift des Ulrich-von-HuttenGymnasiums Schlüchtern 16 (1964), H. 2, 27 f. Die SMV berichtet, in: Der Pennäler. Schülerzeitschrift des Ulrich-von-Hutten-Gymna­ siums Schlüchtern 16 (1964), H. 2, 34. Quo vadis, SMV, in: Der Pennäler. Schülerzeitschrift des Ulrich-von-Hutten-Gymna­ siums Schlüchtern 16 (1964), H. 3, 14.

Kontinuierliche Herausgeberschaften

Archiv jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissen­ schaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014 ff. 1 (2014): Jüdische Gemeindestatuten aus dem aschkenasischen Kulturraum 1650–1850, hg. von Stefan Litt, 2 (2016): The Assassination of Symon Petliura and the Trial of Sholem Schwarzbard ­1926–1927. A Selection of Documents, hg. von David Engel.

Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart, Frankfurt a. M.: Verlag Neue Kritik 1986 ff. Bibliothek jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013 ff. 1 (2013): Simon Dubnow, Geschichte eines jüdischen Soldaten. Bekenntnis eines von vielen, hg. von Vera Bischitzky und Stefan Schreiner.

Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin: Blätter Verlagsgesellschaft [seit 1998 im Herausgeberkreis]. Bulletin des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur, hg. von Dan Diner, 14 Bde., Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 1 (1999) [2000] – 14 (2012) [2013]. Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, 7  Bde., Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2011–2016.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

443

Bd. 1 [A–Cl], 2011; Bd. 2 [Co–Ha], 2012; Bd. 3 [He–Lu], 2012; Bd. 4 [Ly–Po], 2013; Bd. 5 [Pr–Sy], 2014; Bd. 6 [Ta–Z], 2015; Bd. 7 [Register], 2016.

History and Memory. Studies in Representation of the Past, 10 Bde., Bloomington/Indianopolis, Ind.: Indiana University Press 1989–1998. Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook, hg. von Dan Diner, 13 Bde., München: Deutsche Verlagsanstalt 2002–2003/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004–2014, 1 (2002): Polnische Judenheiten der Zwischenkriegszeit; Formen jüdischer Selbstorganisation, 2 (2003): Zwischen Triest, Saloniki und Odessa. Über balkanische und angrenzende Judenheiten; Das jüdische Odessa, mithg. von Guido Hausmann, 3 (2004): Konversionen; Wissenschaftsgeschichte, mithg. von Ulrich Charpa und Ute Deichmann, 4 (2005): Minderheiten und Minderheitenschutz; Gewalt im Osten, 5 (2006): Jews in a Multi-Ethnic Network, mithg. von Dimitry Shumsky und Yfaat Weiss; »Judenforschung«. Zwischen Wissenschaft und Ideologie, mithg. von Nicolas Berg und Dirk Rupnow, 6 (2007): Early Modern Culture and Haskalah. Reconsidering the Borderlines of Modern Jewish History, hg. von David B. Ruderman und Shmuel Feiner, 7 (2008): Poles and Jews in the Public Sphere. Mutual Perceptions, mithg. von Marcos­ Silber; Analoga. Das zivilisatorische Projekt islamisch-jüdischer Kulturhermeneutik, mithg. von Ottfried Fraisse, 8 (2009): Science and Philosophy in Early Modern Ashkenazic Culture. Rejection,­ Toleration, and Appropriation, hg. von Gad Freudenthal, 9 (2010): Kaleidoscopic Knowledge. On Jewish and Other Encyclopedias, hg. von Arndt Engelhardt und Ines Prodöhl, 10 (2011): Jewish Participation in Municipal Self-Administrations in East-Central Europe, hg. von Hanna Kozinska-Witt und Marcos Silber; Über literarisierte Geschichte nach 1945, hg. von Susanne Zepp, 11 (2012): Gustav Mahler. Jüdische Topografien in der Musikkultur der Moderne, hg. von Jörg Deventer; Frühe jüdische Holocaustforschung, hg. von Klaus Kempter, 12 (2013): Juden im Militär. Verheißung und Erfahrung im 19.  und 20.  Jahrhundert, hg. von Christhardt Henschel; Hebräisch säkularisieren. Anverwandlungen einer heiligen Sprache, hg. von Jan Eike Dunkhase, 13 (2014): Der Erste Weltkrieg: Reiterarmeen. Jüdische Kriegsliteraturen (1914–1918), hg. von Natasha Gordinsky; »Die letzten Tage der Menschheit.« Schriften aus dem Großen Krieg, hg. von Carolin Kosuch.

Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur, hg. von Dan Diner, 9  Bde., München/Leipzig: K. G. Saur/Leipziger Universitätsverlag 2001–2015. Links. Sozialistische Zeitung, hg. von der Arbeitsgruppe Sozialistisches Büro, Offenbach: Verlag 2000, Mitglied der Redaktion 1976–1991. Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, hg. von Dan Diner, 26 Bde., München: Deutsche Verlagsanstalt 2001/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004–2016, 1 (2001): Gertrud Pickhan, »Gegen den Strom.« Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1918–1939,

444

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner 2 (2004): Gabriele Freitag, Nächstes Jahr in Moskau! Die Zuwanderung von Juden in die sowjetische Metropole 1917–1932, 3 (2004): Katrin Steffen, Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918–1939, 4 (2005): Kai Struve, Bauern und Nation in Galizien. Über Zugehörigkeit und soziale Emanzipation im 19. Jahrhundert, 5 (2005): Markus Kirchhoff, Text zu Land. Palästina im wissenschaftlichen Diskurs 1865–1920, 6 (2006): Yvonne Kleinmann, Neue Orte  – neue Menschen. Jüdische Lebensformen in St. Petersburg und Moskau im 19. Jahrhundert, 7 (2006): Anke Hilbrenner, Diaspora-Nationalismus. Zur Geschichtskonstruktion Simon Dubnows, 8 (2007): Alexis Hofmeister, Selbstorganisation und Bürgerlichkeit. Jüdisches Vereins­wesen in Odessa um 1900, 9 (2008): Olaf Terpitz, Die Rückkehr des Štetl. Russisch-jüdische Literatur der späten Sowjetzeit, 10 (2008): Philipp Graf, Die Bernheim-Petition 1933. Jüdische Politik in der Zwischenkriegszeit, 11 (2010): Yotam Hotam, Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und nationaljüdisches Denken, 12 (2010): Dirk Sadowski, Haskala und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782–1806, 13 (2010): Susanne Zepp, Herkunft und Textkultur. Über jüdische Erfahrungswelten in romanischen Literaturen 1499–1627, 14 (2013): Dimitry Shumsky, Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930, 15 (2012): Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis. Eine Diskursgeschichte 1945–1967, 16 (2012): Mirjam Thulin, Kaufmanns Nachrichtendienst. Ein jüdisches Gelehrtennetzwerk im 19. Jahrhundert, 17 (2014): Arndt Engelhardt, Arsenale jüdischen Wissens. Zur Entstehungsgeschichte der »Encyclopaedia Judaica«, 18 (2013): Klaus Kempter, Joseph Wulf. Ein Historikerschicksal in Deutschland, 19 (2013): Elisabeth Gallas, »Das Leichenhaus der Bücher«. Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, 20 (2014): Maria Gotzen-Dold, Mojżesz Schorr und Majer Bałaban. Polnisch-jüdische Historiker der Zwischenkriegszeit, 21 (2015): Hendrik Niether, Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg, 22 (2015): Sebastian Voigt, Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich, 23 (2015): Carolin Kosuch, Missratene Söhne. Anarchismus und Sprachkritik im Fin de Siècle, 24 (2016): David Jünger, Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938, 25 (2016): Lutz Fiedler, Matzpen. Eine andere israelische Geschichte, 26 (2016): Jan Gerber, Ein Prozess in Prag. Das Volk gegen Rudolf Slańský und Genossen.

Verzeichnis der Publikationen von Dan Diner

445

Schriftenreihe des Instituts für deutsche Geschichte Universität Tel Aviv, hg. von Dan­ Diner und Frank Stern, 7 Bde., Gerlingen: Bleicher Verlag 1994–1999, 15 (1994): Zvi Tauber, Befreiung und das »Absurde«. Studien zur Emanzipation des Menschen bei Herbert Marcuse, 16 (1997): Yeshayahu  A. Jelinek (Hg.), Zwischen Moral und Realpolitik. Deutsch-israelische Beziehungen 1945–1965, 17 (1997): Shlomo Na’ama, Marxismus und Zionismus, hg. von Shulamit Volkov, 18 (1997) Jacob Toury, Deutschlands Stiefkinder. Ausgewählte Aufsätze zur deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte, 19 (1998): Oded Heilbronner, Die Achillesferse des deutschen Katholizismus, 20 (1999): Dan Diner/Michael Stolleis (Hgg.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxta­ position, 21 (1999): Rakefet Sela-Sheffy, Literarische Dynamik und Kulturbildung. Zur Konstruktion des Repertoires deutscher Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Storia della Shoah. La crisi dell’Europa, lo sterminio degli ebrei e la memoria del XX secolo, 5 Bde., Turin: UTET 2005–2006. Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, hg. im Auftrag des Instituts für deutsche Geschichte von Dan Diner, 6 Bde., Gerlingen: Bleicher 1994–1999, 23 (1994): Nationalsozialismus aus heutiger Perspektive (mit Frank Stern), 24 (1995): Deutschland und Rußland (mit Frank Stern), 25 (1996): Historiographie im Umbruch, 26 (1997): Deutschlandbilder, 27 (1998): Historische Migrationsforschung, 28 (1999): Neue politische Geschichte.

Toldot. Essays zur jüdischen Geschichte und Kultur, hg. von Dan Diner, 13 Bde., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005–2016, 1 (2005): Dan Diner (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte, 2 (2005): Yuri Slezkine, Paradoxe Moderne. Jüdische Alternativen zum Fin de Siècle, 3 (2008/2014): Nicolas Berg, Luftmenschen. Zur Geschichte einer Metapher, 4 (2009): Susanne Zepp/Natasha Gordinsky, Kanon und Diskurs. Über Literarisierung jüdischer Erfahrungswelten, 5 (2007): Dan Miron, Verschränkungen. Über jüdische Literaturen, 6 (2008): Thomas Meyer, Vom Ende der Emanzipation. Jüdische Philosophie und Theo­ logie nach 1933, 7 (2007): Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, 8 (2010): Doron Mendels/Arye Edrei, Zweierlei Diaspora. Zur Spaltung der antiken jüdischen Welt, 9 (2010): Yfaat Weiss, Lea Goldberg. Lehrjahre in Deutschland 1930–1933, 10 (2011): Jakob Hessing, Verlorene Gleichnisse. Heine, Kafka, Celan, 11 (2013): Jan Eike Dunkhase, Spinoza der Hebräer. Zu einer israelischen Erinnerungsfigur, 12 (2014): Ottfried Fraisse, Ignác Goldzihers monotheistische Wissenschaft. Zur Histo­ risierung des Islam, 13 (2016): Christoph Schmidt, Israel und die Geister von ’68. Eine Phänomenologie.

Bildnachweis

S. 19: © bpk S. 53: Humboldt-Universität zu Berlin, Universitätsarchiv S. 59: Bundesarchiv-Lastenausgleichsarchiv, Bayreuth S. 89: Staatsarchiv Hamburg, Bestand der Fotoagentur Conti-Press, 11510 S. 108, S. 281 u. S. 291: Privatbesitz S. 121: © ullstein bild – Heritage Images/Ann Ronan Pictures S. 155: © ullstein bild – Mehner Klaus Mehnerd S. 167: Ośrodka KARTA, Warschau S. 213: Stiftung Stadtmuseum Berlin S. 226: Am Oved Publishers, Tel Aviv S. 241: National Library of Israel, Jerusalem S. 343: Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt a. M. S. 371: Nachlass Günther Anders, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien S. 391: T. W. Adorno Archiv, Frankfurt a. M.

Zu den Autorinnen und Autoren

Mohamed A. H. Ahmed studierte Orientalische Sprachen und Hebräisch an der Universität Mansura (Ägypten) und schloss 2010 seinen M. A. mit einer Arbeit zur literarischen Repräsentation der ersten und zweiten Generation irakischer Juden in Israel ab. Ab 2005 lehrte er dort modernes Hebräisch. Von November 2009 bis April 2010 förderte ihn der Deutsche Akademische Austauschdienst als Gastwissenschaftler, von 2012 bis 2015 als Doktorand am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur. In seinem 2015 an der Universität Leipzig verteidigten Dissertationsprojekt »Arabic Use of the Iraqi Jewish Novelists: A Stilistic Analysis of Selected Early and Late Hebrew Novels« untersuchte er die Verwendung des Arabischen in neun hebräischen Romanen, die zwischen 1950 und 2010 von irakisch-jüdischen Autoren verfasst wurden. Publikationen: Tel Aviv Mizrah. The Potential of Iraqi Cultural Identity Within Two Generations, in: Journal of Modern Jewish Studies 14 (2015), 430–445 (zus. mit Ashraf Elsharkawy); Hebrew and Arabic in Contact. Deviation and Interference in Iraqi Jewish Fiction, in: Miscelánea de Estudios Árabes y Hebraicos. Sección Hebreo 63 (2014), 11–25; Fictional Issues in the Hebrew Works of Iraqi Jewish Novelists (in Arabic), in: Mansoura University, Faculty of Arts Journal 46 (2010), 979–1010. Judith Ciminski studierte Neuere und Neueste Geschichte, Philosophie sowie Soziologie an den Universitäten Berlin und Münster und schloss 2006 ihr Studium an der Freien Universität Berlin mit einer Magisterarbeit zu jüdischen Entwürfen kollektiver Selbstbeschreibung ab. Zwischen 2007 und 2012 war sie Doktorandin am Simon-­ Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur mit einem Vorhaben zur Herausbildung der statistischen Wissenschaft von und über Juden im 19. und 20. Jahrhundert sowie bis April 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin des durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojekts »Kommunikationsräume des Europäischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen«. Publikationen: Jüdische Statistik. Ein Netzwerk europäischer Topographien, in: Hans-Joachim Hahn u. a. (Hgg.), Kommunikationsräume des Europäischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen, Leipzig 2014, 61–75; Zwischen »Untergang« und »kultureller Wiedergeburt«. Jüdische Krisenerfahrung in der Zeitschrift »Ost und West« in den Jahren 1901–1914, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hgg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900/Perceptions de la crise en Allemagne au début du XXe siècle. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich/Les pério­diques et la mutation de la société allemande à l’époque wilhelmienne, Brüssel u. a. 2010, 153–175. Walid Abd El Gawad studierte Islamwissenschaft, Arabistik und Orientalische Philologie an der Al-Azhar Universität in Kairo und der Universität Leipzig. Sein Studium schloss er im Jahr 2006 mit einer Arbeit zur arabischen Übersetzung von Adolf Hitlers Buch Mein Kampf an der Universität Leipzig als Magister Artium ab. Seit 2005 arbei-

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Zu den Autorinnen und Autoren

tet er als beeidigter Dolmetscher und Übersetzer für die arabische Sprache. Am SimonDubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur untersucht er seit 2012 im Rahmen eines Promotionsprojekts das Thema »Islamische Wissenstraditionen angesichts der Moderne. Die Koraninterpretation Amin al-Khulis«. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Koran- und Bibelforschung, jüdische und muslimische Wissenschafts- und Philosophiegeschichte, Ideengeschichte der jüdischen und deutschsprachigen Orientforschung sowie Säkularisierungsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Publikationen: Art.  »Tafsir (Koranauslegung)«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften hg. von Dan Diner, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2015, 1–6; Wissenschaft des Islam. Ansätze zur Entfaltung des Friedenspotenzials eines aufgeklärten und dialogfähigen Islam, in: Hermann Weber (Hg.), Globale Mächte und Gewalten – Wer steuert die Welt? Die Verantwortung der Weltreligionen, Ostfildern 2011, 149–163; Islamisches Recht, in: Gerdien Jonker/Pierre Hecker/ Cornelia Schnoy (Hgg.), Muslimische Gesellschaften in der Moderne. Ideen, Geschichten, Materialien, Innsbruck/Wien/Bozen 2007, 44–53 (zus. mit Hans-Georg Ebert). Jan Gerber ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur und leitet dort das Forschungsressort »Politik«. Er wurde 2009 mit einer Studie über die Reaktionen der deutschen Linken auf das Ende des Kalten Krieges promoviert. Zu den Schwerpunkten seiner Arbeit gehören die Geltungs- und Wirkungsgeschichte des Holocaust sowie die Geschichte der Arbeiterbewegung und der politischen Linken. Zuletzt hat Jan Gerber eine Studie über den Prager SlánskýProzess fertiggestellt, in der vermittels der Biografien der Schriftsteller Louis Fürnberg und F. C. Weiskopf zugleich der Zerfall des geschichtsphilosophischen Begriffs der Klasse und die Wahrnehmungsgeschichte des Holocaust verhandelt werden. In seinem aktuellen Forschungsprojekt »Karl Marx in Paris – Die Erfindung des Kommunismus« untersucht er die Entstehung zentraler Marx’scher Begriffe. Publikationen: Das letzte Gefecht. Die Linke im Kalten Krieg, Berlin 22016; Art.  »Slánský-Prozess«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2014, ­508–513; Michael Landmann, Das Israelpseudos der Pseudolinken (1971), Freiburg i. Br. 2013 (neuhg. zus. mit Anja Worm); Nie wieder Deutschland? Die Linke im Zusammenbruch des »realen Sozialismus«, Freiburg i. Br. 2010; Curt Geyer/Walter Loeb u. a., Fight for Freedom. Die Legende vom anderen Deutschland, Freiburg i. Br. 2009 (hg. zus. mit Anja Worm); Verborgene Präsenzen. Gedächtnisgeschichte des Holocaust in der deutschsprachigen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, Düsseldorf 2009. Stefan Hofmann ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften im Projekt »Europäische Traditionen – Enzyklopädie jüdischer Kulturen« im Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur. Er studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Theaterwissenschaft und Journalistik an den Universitäten Leipzig, Binghamton, NY, sowie Haifa und erwarb den Magister Artium 2011 an der Universität Leipzig. Sein Dissertationsprojekt trägt den Titel »Von Masken und Mimikry. Antisemitismus und die Theatralität jüdischer Erfahrung um 1900«. Stefan Hofmann ist als Redakteur der »Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur« sowie der Reihen »Bibliothek jüdischer Geschichte und Kultur« und »Archiv jüdi­scher Ge-

Zu den Autorinnen und Autoren

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schichte und Kultur« tätig. Publikationen: Geschichte choreografieren. Zur Theatralisierung der Gedächtnisse nach 1945 (Schwerpunkt), in: Jahrbuch des Simon-DubnowInstituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 157–290 (hg. zus. mit Jörg­ Deventer); Art. »Prag«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Bd. 5, Stuttgart/Weimar 2014, 1–9 (zus. mit Saul Friedländer); Art. »Regietheater«, in: ebd., 126–131; Bürgerlicher Habitus und jüdische Zugehörigkeit. Das Herrnfeld-Theater um 1900, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 445–480; Art.  »Piscator-Bühne«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2013, 580–588; Art. »König Lear«, in: ebd., Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2012, 402–405. David Jünger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Universität Berlin sowie dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und arbeitet derzeit an einem Habilitationsprojekt zum Leben und Werk des 1937 von Deutschland in die Vereinigten Staaten emigrierten Rabbiners Joachim Prinz (1902–1988). Er wurde 2012 am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur mit dem durch die HansBöckler-Stiftung geförderten Projekt »Jüdische Emigrationsfragen im nationalsozialistischen Deutschland 1933–1938« promoviert. David Jünger ist Mitherausgeber der Publika­tionsreihe »Relationen. Essays zur Gegenwart«, die im Neofelis-Verlag, Berlin, erscheint. Publikationen: Jahre der Ungewissheit. Emigrationspläne deutscher Juden 1933–1938, Göttingen 2016; Aspekte des Religiösen. Zweites Jahrbuch des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg, Berlin 2016 (hg. zus. mit Rainer Kampling, Alice Buschmeier und Sara Han); An Bord des Lebens. Die Schiffspassage deutscher Juden nach Palästina 1933 bis 1938 als Übergangserfahrung zwischen Raum und Zeit, in:­ Mobile Culture Studies. The Journal 1 (2015), H. 1: Joachim Schlör (Hg.), Die Schiffsreise als Übergangserfahrung in Migrationsprozessen, 147–163; »Wo aber Nationen nicht begreifen können, da hassen sie.« Isaac Breuer, die deutsche Orthodoxie und der Judenhass zwischen den Weltkriegen, in: Hans-Joachim Hahn/Olaf Kistenmacher (Hgg.), Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944, Berlin/München/Boston, Mass., 2015, 234–260. David Kowalski hat bis 2010 Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der Universität Marburg und der Józef-Tischner-Europahochschule in Krakau studiert. Anschließend begann er eine Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, wo er seit 2011 an einem Promotionsprojekt zu jüdischen Oppositionellen im Polen der 1960er Jahre geforscht hat, ab April des gleichen Jahres gefördert durch das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk. Seine Dissertation mit dem Titel »Polens letzte Juden. Die Krise von 1968 und die Wiederkehr jüdischer Zugehörigkeit im Nachkriegspolen« hat er im Frühjahr 2016 an der Universität Leipzig verteidigt. Publikation: Polnische Politik und jüdische Zugehörigkeit. Die frühe Oppositionsbewegung und das Jahr 1968, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 525–548. Iris Nachum studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Tel Aviv. Seit 2014 ist sie akademische Koordinatorin des vom European Research Council an der

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Zu den Autorinnen und Autoren

Hebräischen Universität Jerusalem geförderten Forschungsprojekts »JudgingHistories. Experience, Judgement, and Representation of World War II in an Age of Globaliza­ tion«. Zudem unterrichtet sie Politische Theorie am Interdisciplinary Center Herzliya, Israel. Im Mai 2010 wurde ihr der Margherita-von-Brentano-Preis der Freien Universität Berlin für die Mitherausgabe der Schriften aus Margherita von Brentanos Nachlass verliehen. Publikationen: Reconstructing Life after the Holocaust. The Lastenausgleichsgesetz and the Jewish Struggle for Compensation, in: Leo Baeck Institute Year Book 58 (2013), 53‒67; Margherita von Brentano – Das Politische und das Persönliche. Eine Collage, Göttingen 2010 (zus. mit Susan Neiman); Es muss nicht immer Wiedergutmachung sein. Walter Grab und das Minerva Institut für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 40 (2012), 237‒276; »Unwürdige« und »würdige« Opfer? Sudetendeutsche und Juden im Ringen um Wiedergutmachung am Beispiel der Generali-Versicherung, in: K.  Erik Franzen/Martin Schulze Wessel (Hgg.), Opfernarrative. Konkurrenzen und Deutungskämpfe in Deutschland und im östlichen Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, München 2012, 85‒100. Felix Pankonin arbeitet seit 2010 am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, wo er bis Oktober 2013 als studentische und bis Oktober 2014 als wissenschaftliche Hilfskraft tätig war. Derzeit arbeitet er an einem Promotionsvorhaben zu Richard Löwenthal und zur Bedeutung der Erfahrung des britischen Exils für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis zur deutschen Wiedervereinigung. Felix Pankonin studierte Mittlere und Neuere Geschichte sowie Philosophie an der Universität Leipzig und schloss sein Studium im Oktober 2013 mit einer Magisterarbeit über die Politikerin und Publizistin Ruth Fischer (­ 1895–1961) ab. Publikation: Profil einer Renegatin. Ruth Fischers exemplarische Biografie, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 491–521. Anna Pollmann ist seit 2010 Doktorandin am Simon-Dubnow-Institut. Sie studierte Mittlere und Neuere Geschichte und Kulturwissenschaften an der Universität Leipzig und schloss ihr Studium 2007 mit einer Arbeit über die Verknüpfung von Modernisierungsdeutung und Antisemitismus in der deutschen Frauenbewegung um 1900 ab. 2008 bis 2009 war sie Forschungsassistentin des Projekts »Geschichte der Juden in Deutschland seit 1945«, gefördert von der Volkswagen-Stiftung. Ihre Dissertation mit dem Titel »Fragmente aus der Endzeit. Günther Anders über Massenvernichtung und Geschichtsverlust« entstand im Forschungsverbund »Verborgene Präsenzen« mit Förderung der Hans-Böckler-Stiftung. Publikationen: Art. »Zeugenschaft«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2015, 447–452; Die Rückkehr von Günther Anders nach Europa. Eine doppelte Nach-Geschichte, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 11 (2012), 389– 409; Ein offener Brief an Eichmanns Söhne. Günther Anders schreibt Klaus Eichmann, in: Werner Renz (Hg.), Interessen um Eichmann. Israelische Justiz, deutsche Strafverfolgung und alte Kameradschaften, Frankfurt a. M. 2012, ­241–258; Fortschritt und Geschichte. Zum Begriff »Antiquiertheit« bei Günther Anders, in: Einsicht 3. Bulletin des Fritz Bauer Instituts (2010), 30–33.

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Eran J. Rolnik ist Facharzt für Psychiatrie, Historiker sowie Lehr- und Supervisionsanalytiker der Israel Psychoanalytic Society (IPV) und der International Psychoanalytic Association (IPA). Er studierte Biologie, Medizin und Geschichte an den Universitäten Gießen und Tel Aviv und lehrt als Dozent am Max Eitingon Institut für Psychoanalyse in Jerusalem und an der geisteswissenschaftlichen Fakultät sowie in einem psychotherapeutischen Ausbildungsprogramm für Postgraduierte an der medizinischen Fakultät der Universität Tel Aviv. Eran Rolnik ist als Autor zur Geschichte der Psychoanalyse, zur Freud’schen Theoriebildung und zum psychoanalytischen Training sowie als Übersetzer und Herausgeber mehrerer Bücher von Sigmund Freud ins Hebräische bekannt. Publikationen: Before Babel. Reflections on Reading and Translating Freud, in: The Psychoanalytic Quarterly 84 (2015), H. 2, 307–330; Freud auf ­Hebräisch. Geschichte der Psychoanalyse im jüdischen Palästina, Göttingen 2013 (hebr. 2007; engl. 2012); Therapy and Ideology. Psychoanalysis and Its Vicissitudes in Pre-State Israel, in: Science in Context 23 (2010), H. 4, 473–506; »Why is it that I see everything differently?« Reading a 1933 Letter from Paula Heimann to Theodor Reik, in: Journal of the American Psychoanalytic Association 56 (2008), H. 2, 409–430; Between Memory and Desire. From History to Psychoanalysis and Back, in: Psychoanalysis and History 3 (2001), H. 2, 129–151. Miriam Rürup übernahm 2012 die Leitung des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ), Hamburg. Von 2010 an forschte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am German Historical Institute, Washington, D. C., zuvor als wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Göt­tingen. Miriam Rürup hat Geschichte, Soziologie und Europäische Ethnologie in Göttingen, Tel Aviv und Berlin studiert und wurde im Jahr 2006 an der Technischen Universität Berlin promoviert. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin war sie u. a. in der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin, am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur sowie dem Franz Rosenzweig Minerva Research Center für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte der Hebräischen Universität Jerusalem tätig. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift WerkstattGeschichte und Fachredakteurin für jüdische Geschichte bei H-Soz-u-Kult. Ihre Forschungsinteressen umfassen die deutsch-jüdische Geschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus, Geschlechter­ geschichte sowie im Umfeld ihrer Habilitation die Geschichte von Migration, Staatsbürgerschaft und Staatenlosigkeit. Publikationen: Gewalt und Gesellschaft. Klassiker modernen Denkens neu gelesen, Göttingen 2011 (hg. zus. mit Uffa Jensen, Habbo Knoch und Daniel Morat); Praktiken der Differenz. Diasporakulturen in der Zeitgeschichte, Göttingen 2009 (Hg.); Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten (1886–1937), Göttingen 2008. Dirk Sadowski ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut – LeibnizInstitut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig, und Koordinator der Deutsch-Israelischen Schulbuchkommission. Er studierte von 1988 bis 1997 Israelwissenschaften, Judaistik sowie Neuere und Neueste Geschichte in Berlin und Jerusalem. Von 1998 bis 2001 war er wissenschaftlicher Projektmitarbeiter im Israel-Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung und von 2001 bis 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur. 2008 promovierte Dirk Sadowski an der Universität Leipzig zu einem Thema der Bildungs- und Wis-

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Zu den Autorinnen und Autoren

sensgeschichte. Seine Forschungsinteressen betreffen Haskala und jüdische Bildungs­ geschichte sowie den hebräischen Buchdruck vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Publikationen: Jüdische Geschichte im Schulbuch. Eine Bestandsaufnahme anhand aktueller Lehrwerke, Göttingen 2014 (hg. zus. mit Martin Liepach); The Jewish German Schools in Galicia ­(1782–1806). School Reality and Corporate Resistance, in: Jewish Culture and History 13 (2012), 153–172; Haskala und Lebenswelt. Herz Homberg und die jüdischen deutschen Schulen in Galizien 1782–1806, Göttingen 2010; »Gedruckt in der Heiligen Gemeinde Jeßnitz«. Der Buchdrucker Israel bar Avraham und sein Werk, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 7 (2008), 39–69. Inka Sauter ist Doktorandin am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig und seit April 2014 Stipendiatin des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks. Sie studierte Philosophie, Mathematik sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Leipzig und schloss ihr Magisterstudium im September 2011 ab. Von Juli bis November 2012 forschte sie als Gastwissenschaftlerin am Franz Rosenzweig Minerva Research Center für deutsch-jüdische Literatur und Kultur­ geschichte der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr Promotionsvorhaben »Säkularisierung und Geschichtsdenken. Eine jüdische Perspektive in der Krise des Historismus« befasst sich mit Franz Rosenzweigs Geschichtsreflexionen im Kontext der Denkbewegung der deutschsprachigen Wissenschaft des Judentums. Publikation: Dialogische Revisionen. Über die Versuchungen des Protestantismus, in: Jahrbuch des Simon-­ Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 14 (2015), 325–347. Imanuel Clemens Schmidt studierte Mittlere und Neuere Geschichte, Journalistik und Germanistik an der Universität Leipzig und erwarb seinen Magister Artium 2009 mit der Arbeit »Die Stellung der Juden im spätmittelalterlichen Europa im Spiegel der deutschsprachigen Forschung nach 1945«. Seitdem ist er Doktorand am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur und fungierte von 2010 bis 2012 als stellvertretender Leiter des Ressorts »Mobilität, Europäizität, Wissen«. Sein Dissertationsprojekt »Hebraistische Historiografie: Protestantische Texttradition und nachbiblische jüdische Geschichte« widmet sich dem Narrativ einer jüdischen Leidensgeschichte in der protestantischen Geschichtsschreibung der Juden zu Beginn des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund konkurrierender Martyriologien und jüdischer Konversionen. Publikationen: Aneignung und Überschreibung. Zur Interpretation frühneuzeit­licher christlicher Hebraistik, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 483–515; Art.  »Edom«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2012, 178–180. Maja Ščrbačić studierte Religionswissenschaft, Psychologie und Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Universität Leipzig sowie Islamische Theologie an der Universität Damaskus, gefördert durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Ihren M. A. erwarb sie 2012 an der Universität Leipzig zu einem Thema aus der orientalistischen Fachgeschichte. Seit September 2009 war sie als studentische Hilfskraft, von April 2012 bis Juni 2013 als wissenschaftliche Hilfskraft und ab Juli 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am

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Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur tätig. Ihr Dissertations­ vorhaben widmet sich der intellektuellen Biografie des Orientalisten Paul Kraus. Zurzeit forscht sie im Rahmen des vom European Research Council geförderten Projekts »JudgingHistories. Experience, Judgement, and Representation of World War II in an Age of Globalization« an der Hebräischen Universität Jerusalem. Publikationen: Art.  »al-Thaqāfah«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Bd. 6, Stuttgart/ Weimar 2015, 79–82; Von der Semitistik zur Islamwissenschaft und zurück. Paul Kraus (1904–1944), in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Year­ book 12 (2013), 389–416. Sebastian Voigt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München, Fellow am Institut für Soziale Bewegungen in Bochum und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Universität Leipzig. Er studierte Geschichte, deutsche Sprache und Literatur sowie Philosophie und Pädagogik in Freiburg i. Br., Amherst, Mass., sowie Leipzig und schloss sein Studium als Magister Artium und mit dem Ersten Staatsexamen für das gymnasiale Lehramt ab. Von 2003 bis 2012 war er am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur tätig, während seiner Promotionszeit gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung und die Studienstiftung des deutschen Volkes. Sein derzeitiges Forschungsprojekt steht unter dem Titel »Westdeutsche Gewerkschaften und der ›Strukturbruch‹. Die Politik des DGB, der HBV und der IG CPK in den 1970er und frühen 1980er Jahren«. Publikationen: Der jüdische Mai ’68. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich, Göttingen/Bristol, Conn., 2015; Art.  »Treblinka«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2015, 159–164; Jewish and Non-­ Jewish Spaces in the Urban Context, Berlin 2015 (hg. zus. mit Alina Gromova und Felix Heinert); »Es war mir nicht möglich, zu schweigen über das Erlebte.« Über die Bedeutung des Kravčenko-Prozesses 1949 in Paris für die politische Entwicklung Margarete Buber-Neumanns, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2015, ­161–180; Arbeiterbewegung, Nation, Globalisierung. Bestandsaufnahmen einer alten Debatte, Weilerswist 2014 (hg. zus. mit Heinz Sünker). Robert Zwarg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Er hat Übersetzungswissenschaft (Englisch/Spanisch) sowie Philosophie und Kulturwissenschaft an den Universitäten Leipzig, Mexiko D. F. und Davis, Calif., studiert. Nach einer Magisterarbeit zur Rolle der Religion im Spätwerk Max Horkheimers hat er 2015 seine Dissertation zur Rezeption der Kritischen Theorie in Amerika an der Universität Leipzig abgeschlossen. Im Rahmen seiner Forschung war er Visiting Scholar an der New School for Social Research in New York City. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Kritische Theorie, Ideengeschichte und -transfer im 20.  Jahrhundert sowie Kulturphilosophie. Publikationen: Adorno übersetzen oder »German is, or was, a Jewish language, too«, in: Arndt Engelhardt/Susanne Zepp (Hgg.), Sprache, Bedeutung, Erkenntnis. Deutsch in der jüdischen Wissenskultur, Leipzig 2015, 123–140; Europa in Amerika. Über die Akademisierung der Kritischen Theorie, in: Hans-Joachim Hahn u. a. (Hgg.), Kom-

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munikationsräume des Europäischen. Jüdische Wissenskulturen jenseits des Nationalen, Leipzig 2014, 255–274; Die Tat, die für den Täter zu groß wurde: Nietzsche und die zwei Enden der Moderne, in: André Reichert/Jaime de Salas/Ulrich Johannes Schneider (Hgg.), Nietzsche und die Postmoderne, Leipzig 2012, 195–230 (zus. mit Alexandra Schauer); Art. »Commentary«, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan D ­ iner, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2012, 17–19; Art. »Annales«, in: ebd., Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2011, 102–105.

Personenregister

ʿAbbās, ʿAbdallāh ibn  306 ʿAbdarrāziq, Muṣṭafa 292 ʿAbdu, Muḥammad 292 Abraham, Jacques  53 f. Achelis, Johann Daniel  49 f. Adenauer, Konrad  217 f. Adorno, Theodor W.  95, 206, 375–383, 386–390, 392–394 Al-Aḥbār, Kaʿb  303, 305 f. Al-Ḫaṭṭāb, ʿUmar ibn  298, 303 Al-Ḥusainī, Muḥammad Amīn  293 Ali, Muhammad  26 Alighieri, Dante  375 Al-Khuli, Amin  450 Amir, Eli  12, 222–225, 227–230, 234 f. Anders, Günther  13, 203, 351–373 Andrássy, Gyula  17 An-Nağār, ʿAbdalwahhāb 299 Aragon, Louis  130 Arendt, Hannah  32, 79–86, 89, 91, 117, 136, 359 f., 369, 384 f., 393 Aron, Raymond  118, 123–129, 134 f. Attlee, Clement  153 Avraham, Israel bar  250, 255–258, 260 f. Babinger, Franz  44–48 Bakunin, Michail  99, 119 Baky, Josef von  86 f., 203 Baldwin, Stanley  144 Ballas, Shimon  12, 221–226, 228–235 Balzac, Honoré de  98, 129 Barth, Jakob  50 Baudrillard, Jean  356 f., 367 Bauer, Bruno  100–102 Bauman, Zygmunt  166 Beauvoir, Simone de  130 Becker, Carl Heinrich  41, 44–47, 292, 303 Beilin, Eliezer Ja’akov  251 Ben Usiel, siehe Hirsch, Samson Raphael

Ben Zeev, Israel, siehe Wolfensohn, Israel Benda, Julien  125 f. Benjamin, Walter  191, 197, 352, 364, 369, 391, 393 Bergsträßer, Gotthelf  44, 47, 302 Berliner, Abraham  245 f. Bernard, Lazare Marcus Manassé, siehe Lazare, Bernard Bevin, Ernest  141, 143–146, 153 Billroth, Christian Albert Theodor  266, 270 Bismarck, Otto von  17, 20 f., 29–31, 34–36, 109, 263, 320 Björkman, Walther  47 Blanc, Louis  99 f. Blanqui, Auguste  99 f. Bleichröder, Gerson von  17–20, 29–32, 35–37 Bloch, Ernst  388 Blumsztajn, Seweryn  158 Bomberg, Daniel  242 f., 246, 248, 260 Bonaparte, Napoleon  102, 334, 336 Bönsch, Helmut  58 f., 61, 67, 70–73, 75–78 Bönsch, Josef  58, 76 Boorstin, Daniel J.  385 f. Borchert, Wilhelm  213 Borges, Jorge Luis  183, 191 Börne, Ludwig  99 Brahe, Tycho  254 Brandt, Willy  137 f., 140 Braunthal, Julius  149, 151 Brecht, Bertolt  85, 87–89, 95 f., 111, 114, 214 Brée, Germaine  394 Breuer, Isaac  13, 333–337, 341–350 Brockelmann, Carl  302 Brouckère, Louis de  149 Buber, Martin  321 f.

458 Cabet, Étienne  97, 100 Caetane, Leone  304 Camus, Albert  127, 394 Carol I. (Karl von Hohenzollern-­ Sigmaringen)  23, 26, 29 f., 36 Caskel, Werner  45 Celan, Paul  393 Chamberlain, Neville  147 Chruschtschow, Nikita  165 Churchill, Winston  142, 146, 148, 150 Cixou, Hélène  130 Cohen, Hermann  285, 334 Considerant, Victor  100 Crémieux, Adolphe  18, 25, 27, 29 f. Cripps, Stafford  145 Crossman, Richard  142, 150 Cuza, Alexandru Ioan  23 Darquier de Pellepoix, Louis  131 Darwin, Charles  275 Deleuze, Gilles  352, 390 Delmedigo, Joseph Salomo  252, 261 Deutsch, Ernst  219 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht  282 Disraeli, Benjamin  17, 32 Dmowski, Roman  159, 161, 173 Dreyfus, Alfred  117–126, 128 f., 131–135, 202 Dreyfus, Mathieu  119 Drumont, Édouard  119 f., 122, 134 Ḏuaib, Abū, siehe Wolfensohn, Israel  287, 292 Dumas, Alexandre  98 Dutschke, Rudi  156 Ebeling, Erich  48 Ebner, Horst  351 Eden, Anthony  149 Eichmann, Adolf  209, 218 Eisenstein, Elizabeth L.  242, 245–247, 256, 261 Eisenstein, Sergej  113 Eisler, Hanns  95 f. Eitingon, Max  181, 453 Engel, Erich  202 Engelmann, Wilhelm  281

Personenregister

Engels, Friedrich  95, 97, 104–112, 151, 378 Enzensberger, Hans Magnus  352 Epiphanes, Antiochos  273 Erzberger, Matthias  314 f., 318 Euchel, Isaak  258, 260 Fehling, Jürgen  202 Felix, Ernestine (geb. Kann)  58 Felix, Leo  73–75 Felix, Margarete Elisabeth  75 f. Felix, Sigmund (Siegmund)  57–59, 71–76 Ferenczi, Sándor  181 Feuchtwanger, Lion  95 Feuerbach, Ludwig  100, 379 Flaubert, Gustave  167 Fließ, Wilhelm  188 Forlani, Reinhold  71 f. Foucault, Michel  352, 356 Fourier, Charles  99 f. Franco, Francisco  145 Frank, Anne  216 f. Frank, Carl  48 Fränkel, David  256, 259 Freud, Sigmund  12, 179–197 Friederich, Ferdinand  279 Fries, Jakob Friedrich  277, 279 f. Frisch, Max  12, 199, 205 f., 209–215, 217, 219 Galilei, Galileo  258 Gans, David ben Salomon  239–244, 250–254, 257, 259 Gaulle, Charles de  126, 128 Gehlen, Arnold  366 Geiger, Abraham  263 f., 285, 299, 303–305, 308 Geremek, Bronisław  158 Gerth, Hans  394 Gervinus, Georg Gottfried  375 Geyer, Curt  149 Goethe, Johann Wolfgang von  338, 344, 375, 392 Goldman, Alter Mojsze  129 Goldman, Pierre  118, 129–135

459

Personenregister

Goldmann, Nahum  37 Goldziher, Ignaz  44, 47, 301–306, 308 Gollancz, Victor  141 f., 149, 151 f. Gomułka, Władysław  158, 164–166, 172 f. Gordon Walker, Patrick  142, 150 Gortschakow, Alexander  31 Gothein, Georg  317 Graetz, Heinrich  270, 284, 337–341 Grant, Ulysses S.  24 Gropius, Martin  19 Gross, Jan T.  163, 167 Gutenberg, Johannes  240–243

Illing, Paul  69 Irving, Washington  383 f. Isserles, Moses  253

Haas, Ludwig  316, 318 Habermas, Jürgen  311–314, 392 Ha-Cohen, Tuvija  254, 261 Hager, Frithjof  367 Hänel, Albert  263 Hanau, Salomon  254, 256, 261 Hardy, Oliver  86 Hartmann, Martin  44 f. Hartz, Louis  386 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  98, 103, 106, 111, 195, 277, 361, 365, 372, 377, 380 f. Heidegger, Martin  352 f., 380, 392 Heine, Heinrich  99 f., 103 Herzl, Theodor  121 f., 182 f. Hindenburg, Paul von  50 Hirsch, Samson Raphael (Ben Usiel)  333, 335, 337–342, 346 f., 350 Hirschfeld, Hartwig  304 Hobbes, Thomas  110 Hobsbawm, Eric  113 Hohenborn, Adolf Wild von  310 Hohenzollern-Sigmaringen, Karl von, siehe Carol I. Horkheimer, Max  95, 206, 376 f., 381 f., 386, 388, 390 f., 394 Horovitz, Josef  292, 294, 304, 307 Hugo, Victor  98, 132 Huraira, Abū  306 Hussain, Ṭāhā  221, 287, 290–292, 295–297, 299 Husserl, Edmund  380, 388

Kafka, Franz  129, 131, 393 Kahle, Paul  50 Kaiser, Joachim  212 Kamil, Murad  51 Kammer, Klaus  213, 216 Kampffmeyer, Georg  44 Kant, Immanuel  196, 277, 280, 334, 338, 343–345, 380, 394 Karo, Josef  248, 256, 261 Käutner, Helmut  86, 88 Kerenski, Alexander  113 Keynes, John Maynard  144 f. Kiejman, Georges  129 Kimchi, David  244, 257 Kinski, Klaus  216 Knoeringen, Waldemar von  150 Kołakowski, Leszek  166 Kolisch, Rudolf  394 Konew, Iwan  95 Kopernikus, Nikolaus  254, 258 Koppel, Walter  86, 88 Kortner, Fritz  86 f., 199–204, 212–219 Kotschenreuther, Hellmut  214 Kracauer, Siegfried  391 Kraus, Karl  342 Kraus, Paul  45, 48 Kreisler, Georg  219 Kuroń, Jacek  168 f., 173

Jaffe, Mordechai  239 Jagel, Abraham  254 Jaurès, Jean  114 Jawāhri, Mohammed Mahdi  228 Jellin, Avi’ezer  195 Jessner, Leopold  201 f., 204 Jizchak, Schlomo ben, siehe Raschi Jones, Ernest  192 f. Jünger, Ernst  354

Lansbury, George  145 Laski, Harold J.  141 f., 149, 152 f. Laurel, Stan  86

460 Lazare, Bernard (Bernard, Lazare Marcus Manassé)  118–125, 134 f. Lelewel, Joachim  99 Lemkin, Raphael  360 Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow)  99, 114, 167 Lessing, Gotthold Ephraim  392 Lidzbarski, Abraham Mordechai Mark  304 Littmann, Enno  40, 44, 49–51, 54, 288, 302 Löb, Jehuda Arie  254 Loeb, Walter  149 Loth, Otto  306 Louis-Philippe I. 99 Löwenthal, Leo  367, 377, 390 Löwenthal, Richard (Paul Sering)  137–156 Luckhardt, Emil  110 Luria, Salomon  253 Lüth, Erich  86 Luxemburg, Rosa  173 Lyotard, Jean-François  361 f., 365, 390 Mack, Julian  37 Maimon, Salomon  259 f. Maimonides, Moses  244, 251, 253, 256–259, 292 Malamud, Bernard  386 Man, Paul de  392 Manby, Aaron  106 Mannheim, Karl  140 Marcuse, Herbert  352, 358, 377–379, 388–390, 393–395 Marr, Wilhelm  33–35 Marshall, Louis  37 Martin, Karlheinz  201 Marx, Heinrich (Heschel)  102 Marx, Karl  95–115, 139, 151, 167, 367, 372, 378–380, 394 Maschke, Günter  352, 354 Massignon, Louis  287 Mazowiecki, Tadeusz  157 f., 174 Mehmet II. 240 Meissner, Bruno  48 Mendelssohn, Moses  257–259, 336

Personenregister

Mendès-France, Pierre  130 Michael, Sami  221 f, 227 Michnik, Adam  158–164, 166–171, 173–175 Mickiewicz, Adam  170 f. Millerand, Alexandre  113 f. Mittwoch, Eugen  39–55, 292 Moczar, Mieczysław  165, 172, 174 Modzelewski, Karol  168 f. Mommsen, Theodor  34 Montefiore, Moses  18, 24 f. Morgenthau, Henry  160 Mosse, George L.  394 Motzkin, Leo  37, 321 f. Mubārak, ʿAlī Pascha  290 Nahum, Chaim  296 Nallino, Carlo Alfonso  387, 302 Nansen, Fridtjof  85 Neumann, Alfred  202 Neumann, Franz  377 Niehoff, Karena  215 Nietzsche, Friedrich  183 Nöldeke, Theodor  300, 302 Nolte, Ernst  352, 354 Nordau, Max  183, 321 f. Ofenheim, Viktor  30 Ollenhauer, Erich  148 Oppenheim, Max Freiherr von  40 Oppenheimer, Franz  326 Oswald, Richard  88 Pakuda, Bachja ibn  250, 257 Palme, Anton  42 f. Parkinson, Richard  107 Pascha, Yūsuf Qaṭṭāwī  292, 296 Peixotto, Benjamin F.  24 f., 27–29 Pfeiffer, Herbert  217 Piasecki, Bolesław  165 Piccone, Paul  388 f., 391 f. Piłsudski, Józef  161, 167 Plato 196 Plessner, Martin  292 Pollock, Friedrich  95–97, 111, 114 Portaleone, Avraham  252

461

Personenregister

Posner, Arthur Bernhard  265 Proudhon, Pierre-Joseph  100 Raschi (Schlomo ben Jizchak)  247, 260 Remarque, Erich Maria  79, 81, 83–86, 91 Ritter, Heinz  215 Rosenzweig, Franz  342 Rosin, David  284 Roth, Alfred (Otto Armin)  327 Rothschild, Wilhelm von  18, 24 f., 29, 37 Rubensohn, Käthe  211 Rudolf II. von Habsburg  239 Ruge, Arnold  98, 100, 111 Rühmann, Heinz  86, 89 f. Rust, Bernhard  39, 43, 51 f., 54 f. Sachau, Eduard  41–43, 45 Saint-Simon, Henri de  99, 105 Salman, Elijah Ben Salomon  289 Sand, George  98 Sapir, Edward  184 Sartre, Jean-Paul  127, 130, 206 f., 360, 388 Sasson, Somekh  224 Satanow, Isaak  258 Schabinger von Schowingen, Karl Emil  40 Schach, Fabius  309–312, 325, 328 Schaeder, Hans Heinrich  44, 46–49, 51 Scheidemann, Philipp  315 Schelling, Friedrich Wilhelm  277 Schiller, Friedrich  204, 338, 392 Schirren, Carl Christian Gerhard  276 Schleiden, Carl Heinrich  279 f. Schleiden, Matthias Jacob  264–286 Schmidt, Hannes  216 Schmitt, Carl  352, 354, 392 Schneider, Adolphe  106 Schneider, Eugène  106 Schnitzler, Arthur  202 Schönberg, Arnold  394 Schuwalow, Pjotr  17, 31 Segall, Jacob  321, 324, 326 Semah, David  224 Sering, Paul, siehe Löwenthal, Richard

Shaddād al-ʻAbsī, Antarah ibn  234 Silbergleit, Heinrich  317 f., 321 Słonimski, Antoni  167 Snouck Hurgronje, Christiaan  41, 44, 49 Sobernheim, Moritz  40 Soncino, Gershon  242, 246–248 Spitzer, Leo  126 Stein, Hermann von  319 Stein, Lorenz von  105 Steinschneider, Moritz  284, 304 Stern, Fritz  20, 37 Stoecker, Adolf  33, 263 f., 285 Strachey, Alix  189, 192 f. Strachey, James  189, 192 f. Strauß, David Friedrich  282 f., 285 Strousberg, Henry  30 Stuckart, Wilhelm  49 Szechter, Ozjasz  160, 163 f. Szlajfer, Henryk  158, 171 Taubes, Jacob  365, 367 Tocqueville, Alexis de  109, 386 Toller, Ernst  201 f., 394 Torberg, Friedrich  209 Trebitsch, Gyula  86, 88, 90 Treitschke, Heinrich von  33–35 Troeltsch, Ernst  342 Ungar, Hermann  202 Vansittart, Robert  147–149 Verga, Salomo ibn  250 Virilio, Paul  352, 356 Vogel, Hans  148 Waddington, William Henry  17 Wagner, Richard  32 Waldeck-Rousseau, Pierre  114, 125 Wałęsa, Lech  157–159, 174 f. Warburg, Aby  375 f., 381 Warren, Earl  82 f., 91 Weber, Max  310, 336 Weil, Gotthold  292, 294, 302 f., 307 Weil, Gustav  299, 305 Weizmann, Chaim  37, 321 Westphalen, Jenny von  100

462 Whorf, Benjamin Lee  184 Wicclair, Walter  199, 217, 219 Wilhelm I.  30 f. Wilhelm II.  310, 317, 329, 336 Wise, Stephen S.  37 Wisten, Fritz  218 f. Wolf, Simon  28 Wolfensohn, Avraham  289 Wolfensohn, Israel (Abū Ḏuaib; Israel Ben Zeev)  287–308

Personenregister

Wolfensohn, Menachem  289 Wrisberg, Ernst von  314, 316, 325, 327 f. Yerushalmi, Yosef Hayim  337 Zamość, Israel  257, 261 Zelka, Charlotte  370 Zola, Émile  117, 125, 132 Zuckmayer, Carl  87, 90 f. Zunz, Leopold  270