Ehrenschutz im Verfassungsstaat: Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG [1 ed.] 9783428468133, 9783428068135


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Ehrenschutz im Verfassungsstaat: Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG [1 ed.]
 9783428468133, 9783428068135

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 577

Ehrenschutz im Verfassungsstaat Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG Von Rudolf Mackeprang

Duncker & Humblot · Berlin

RUDOLF MACKEPRANG

Ehrenschutz im Verfassungsstaat

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 577

Ehrenschutz im Verfassungsstaat Zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG

Von Dr. Rudolf Mackeprang

Duncker & Humblot - Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Mackeprang, Rudolf: Ehrenschutz im Verfassungsstaat: zugleich ein Beitrag zu den Grenzen der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG / von Rudolf Mackeprang. - Berlin. Duncker u. Humblot, 1990 (Schriften zum Öffentlichen Recht; Bd. 577) Zugl.: Bayreuth, Univ., Diss., 1989 ISBN 3-428-06813-0 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Luck + Schulze GmbH, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-06813-0

Ehr verfahren, ist alles verlohren.

(Sprichwörtlich, zitiert nach Christoph Lehmann, Politischer Blumen-Garten, 1639, Diseurs von der Ehr und Lob, Nr. 21)

Die Ehr ist verloren, aber nix sonst.

(Bertolt Brecht, Mutter Courage und ihre Kinder, 1939, 3. Aufzug)

Vorwort Die Arbeit wurde im Sommersemester 1989 von der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth als Dissertation angenommen. Wesentliche Änderungen sind nicht mehr erfolgt, jedoch konnten Rechtsprechungs- und Literaturnachweise für die Drucklegung noch vereinzelt aktualisiert werden. Es ist mir ein Anliegen, auch an dieser Stelle all jenen aufrichtig zu danken, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit menschlich und fachlich begleitet haben. Zuerst gilt mein herzlicher Dank meinem verehrten Lehrer und Doktorvater, Herrn Senator Prof. Dr. Walter Schmitt Glaeser, der mich schon während des Studiums, vor allem aber in meiner Zeit als sein Doktorand und seine wissenschaftliche Hilfskraft in besonderem Maße betreut und gefördert hat. Seine kritischen Anregungen, sein wissenschaftlicher Anspruch und sein großes Vertrauen gaben mir stets Rückhalt und waren mir immer aufs neue ein Ansporn. Beständige Förderung und nachhaltige geistige Prägung verdanke ich auch meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Peter Häberle, der das Zweitgutachten erstellte. Die jahrelange Teilnahme an seinem Bayreuther Seminar und manches persönliche Gespräch eröffneten mir zahlreiche neue Perspektiven und vertieften mein Interesse an verfassungsrechtlichen Fragen. Tiefe Dankbarkeit empfinde ich sodann für meine Freunde, die Rechtsreferendare Dr. iur. Bettina Bock und Dr. iur. Hans-Detlef Horn, die sich nicht nur in der Zeit meiner Promotion durch zuverlässigen Beistand und offene Kritik vielfach bewährt haben. Der Verbindung zu Ihnen verdanke ich ein Umfeld, wie es besser nicht hätte sein können. Von ganzem Herzen danke ich schließlich Herrn cand. inform. Gunter Horn für seine unschätzbare und stets präsente Hilfe beim Einsatz der Computertechnik. Ohne seine unermüdliche freundschaftliche Unterstützung hätte ich die Möglichkeiten moderner Textverarbeitung kaum so problemlos und effektiv nutzen können. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern. Bayreuth, im Oktober 1989 Rudolf Mackeprang

Inhaltsverzeichnis Einleitung

13

Erster Teil

A.

Bestandsaufnahme

18

Das Recht der persönlichen Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

18

I. II.

Begriffliche Orientierung

19

Wertentscheidung für den Schutz der persönlichen Ehre auf Verfassungsebene

22

1.

22

2. III.

B.

Die

Ehrenschutz im Grundgesetz a)

Das Recht der persönlichen Ehre als ausdrückliche Schranke der Meinungsfreiheit

23

b)

Das Recht der persönlichen Ehre als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts

27

Historische und kontemporäre Rechtsvergleichung

31

Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

36

1.

Strafrechtlicher Ehrenschutz

37

2.

Zivilrechtlicher Ehrenschutz

43

höchstrichterliche

Rechtsprechung

zum

Spannungsverhältnis

zwischen

Meinungsfreiheit und Ehrenschutz

I.

II.

64

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

65

1.

Entscheidungen zum Ehrenschutz aus Art. 5 Abs. 2 GG

66

2.

Entscheidungen zum Ehrenschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG

81

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

90

1.

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

91

2.

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

99

10

Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil

Auswertung und eigener Ansatz A.

Kritik an der bisherigen Entwicklung

I.

1.

Prononcierte Anerkennung des Persönlichkeitsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG 110

2.

Verkürzung des Ehrenschutzes aus Art. 5 Abs. 2 GG

b)

aa)

"Recht der persönlichen Ehre" und "allgemeine Gesetze" .. 121

bb)

"Recht der persönlichen Ehre" und "Wechselwirkungstheorie" 131

Überbetonung der Meinungsfreiheit im Kollisionsfall mit anderen Rechtsgütern 141

bb)

cc)

Die sogenannte "Vermutungsformel"

141

(1)

Objektiver Öffentlichkeitsbezug (Inhalt der Äußerung) 142

(2)

Subjektiver Öffentlichkeitsbezug (Zweck der Äußerung) 143

(3)

Kritik

144

Weitere typische Abwägungskriterien

149

(1)

Gegenschlagsprinzip

149

(2)

Sonderstellung im öffentlichen Leben stehender Personen 150

(3)

Spontaneität freier Rede

152

(4)

Reizüberflutung

153

Exkurs: Ausrichtung der Interpretation des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen 154

Wirkungsanalyse

156

1.

Abhängigkeit der Intensität des Ehrenschutzes von der verfassungsprozessualen Konstellation 157

2.

Akzentverschiebung innerhalb des grundrechtlichen Wertsystems

Versuch einer Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

I.

119

Unzutreffende Einordnung des "Rechts der persönlichen Ehre" in das Schrankensystem des Art. 5 Abs. 2 GG 120

aa)

B.

109

Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung zum Schutz der persönlichen Ehre 110

a)

II.

109

158 159

"Normbereich" und Struktur des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes

160

1.

160

Verfassungsrechtlicher Ehrbegriff

Inhaltsverzeichnis a)

Phänomenologie der Ehre

162

aa)

Ehre als objektives Phänomen

164

(1)

Ehre als sittliche Geltung

165

(2)

Ehre als soziale Geltung

168

bb)

b)

2.

Ehre als subjektives Phänomen

170

(1)

Ehre als Selbstachtung

171

(2)

Ehre als Geltungsbedürfnis

173

Die Ehre "im Sinne des Grundgesetzes"

176

aa)

Ehre als Persönlichkeitsrecht

176

bb)

Insbesondere: Zur Relevanz des Selbstverständnisses des Ehrträgers 183

cc)

Ehre als Fundament verfassungsstaatlicher Gemeinschaft.. 188

Ehrenschutz als Grundrechtsschutz a) b)

Das Recht der persönlichen Ehre als subjektives Abwehrrecht gegen den Staat 192 Das Recht der persönlichen Ehre als Element objektiver Ordnung des Gemeinwesens

II.

III.

191

193

aa)

(Mittelbare) Drittwirkung

194

bb)

Staatliche Schutzpflicht

200

c)

Das Recht der persönlichen Ehre als subjektives Schutzrecht

207

d)

Ehrenschutz durch Verfahren

209

Leitlinien für den Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz im Kollisionsfall

210

1.

Methodische Überlegungen

211

2.

Einzelne Ausgleichskriterien a) Werturteile

220 223

b)

232

Tatsachenbehauptungen

Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Ehrenschutzes . 241 1.

Ehrenschutz und Beweislast

242

2.

Rechtspolitische Überlegungen

251

Zusammenfassung in Thesen

264

Literaturverzeichnis

272

Einleitung Kaum je ist ein Gerichtshof des Bundes mit seiner Rechtsprechung auf so breite Ablehnung gestoßen wie das Bundesverfassungsgericht mit seiner Judikatur zum Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz. Namentlich in der politischen Auseinandersetzung, so wird gerügt, lasse es das Recht der persönlichen Ehre "oft fast bis zur Unkenntlichkeit verkümmern"1. In der Tat "ist nicht zu verkennen, daß in zahlreichen Entscheidungen der Ehrenschutz allzusehr in den Hintergrund gedrängt wird"2; vieles von dem, was früher als (rechtswidrige) Verletzung der persönlichen Ehre angesehen wurde, gehört heute zum Lebensrisiko, das der Betroffene selbst tragen - oder besser: ertragen - muß3. Vor allem seit Beginn der achtziger Jahre4 haben sich die kritischen Stimmen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum in auffälliger Weise gehäuft. Als einer der ersten konstatierte G. Roellecke bei seiner Analyse der verfassungsgerichtlichen Beschlüsse in Sachen "Kunstkritik"5, "Eppler"6 und "Böll"7, daß die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG "ziemlich morsch geworden" seien, und meinte, das Recht der persönlichen Ehre sei durch die "Wechselwirkungstheorie" und das "Gegenschlagsprinzip" "etwas herunter1

Κ Geppert, JR 1985,430,432.

2

/. Tenckhoff\ JuS 1989,198, 201. - Das "Nachsehen" gegenüber den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG hatte der Ehrenschutz etwa in BVerfGE 12, 113 ff. (Schmid/Spiegel); 24, 278 ff. (Tonjäger); 42,163 ff. (Echternach); 43, 130 ff. (Politisches Flugblatt); 54, 129 ff. (Kunstkritik); 60,234 ff. ("Kredithaie"); 61,1 ff. (Wahlkampf); 66,116 ff. (Springer/Wallraff); 68, 226 ff. ("Schwarzer Sheriff'). 3

Vgl. R Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443,459.

4

Bedenken gegen die Zurückdrängung des Ehrenschutzes äußerte in früheren Jahren vor allem G. Erdsiek, in: FS für H. C. Nipperdey, 1965, S. 257, 267 ff.; ders., NJW 1966, 1385,1385 ff.; ders., JZ 1969, 311, 311 ff.; ders., in: FS für R. Reinhardt, 1972, S. 69, 69 ff.; ferner E. Schwinge, GA1956,309, 309 ff.; ders., in: FS für J. Scheveling, 1972, S. 277,277 ff.; ders., MDR 1973,801,801 ff. 5 BVerfGE 54,129 ff. 6

BVerfGE 54,148 ff.

7

BVerfGE 54,208 ff.

14

Einleitung

gewirtschaftet" 8. Auch W. Schmidt stellte in seiner Stellungnahme zu diesen Entscheidungen fest, der Ehrenschutz werde durch den "Mechanismus des 'Gegenschlags' zwangsläufig relativiert"9. R. Weber kam sogar zu dem Ergebnis, die Ehre des einzelnen werde vom Bundesverfassungsgericht "sozusagen auf dem Altar der politischen Diskussion geopfert" 10. Nach und nach haben sich dann immer mehr Autoren dieser Kritik angeschlossen und ihrer Unzufriedenheit mit der Rechtsentwicklung auf dem Gebiet des Ehrenschutzes Ausdruck verliehen11. So resümierte etwa W. Schmitt Glaeser im Anschluß an den "Wahlkampf-Beschluß"12 des Bundesverfassungsgerichts kurz und bündig: "Der Ehrenschutz findet im Zweifel nicht statt, es sei denn der Äußernde verbreitet unrichtige Tatsachenbehauptungen oder falsche Zitate."13 Ganz ähnlich betonte Κ Otto in seiner Anmerkung zum Beschluß des Gerichts in Sachen "Anachronistischer Zug 1980"14, daß mit dieser Entscheidung "die Tendenz, den Ehrenschutz und damit den Schutz der Achtung der menschlichen Würde in der öffentlichen Auseinandersetzung bis zur Versagung hin einzuschränken, weiter untermauert"15 werde. Selbst von Autoren, bei denen die vom Bundesverfassungsgericht für die Abgrenzung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz herangezogenen Kriterien im wesentlichen auf Zustimmung gestoßen sind und die es daher in den meisten Fällen für richtig hielten, die Inanspruchnahme der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG letztlich zu favorisieren, wird eingeräumt, daß es "auch 8

G. Roellecke, JZ1980,701,703.

9

W. Schmidt, NJW1980,2066,2066.

10

R Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443,457 f.

11

Siehe etwa G. Arzt, JuS 1982, 717, 728; W Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95, 95; ders., AöR 113 (1988), 52, 96 ff.; R J. Tettinger, JZ 1983,317, 325; H. Otto, JR 1983,1,11; ders., JR 1983, 511,513; ders., NStZ 1985,213, 214 f.; ders., NJW 1986,1206,1210 f.; Th Würtenberger, NJW 1983,1144,1146; Κ Α. Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, 1984, S. 12 f.; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,816 ff.; ders., in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 474 f.; Κ Geppert, Jura 1985, 25, 33; ders., JR 1985, 430, 432; Hartmut Krüger, WissR 1986, 1, 4 ff.; E. Schwinge, Ehrenschutz heute, 1988, S. 11 ff. und passim; /. Tenckhoff, JuS 1989,198, 201 mit Fn. 66. - Weitgehend ablehnend auch G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, passim; ders., NJW 1983,1400,1400 ff. 12

BVerfGE 61,1 ff.

13

W. Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95, 95 (Hervorhebung durch den Verfasser); kritisch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Bereich von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz bereits ders., AöR 97 (1972), 60, 276, 288 ff. ("Paradebeispiel dogmatischer Fehlleistung"). 14

BVerfGE 67,213 ff.

15

H. Otto, NStZ 1985,213,214 (Hervorhebungen durch den Verfasser).

Einleitung

Fallkonstellationen (gab), bei denen die Herabstufung des Ehrenschutzes nachhaltige Bedenken hervorruft" 16. Die starke Verkürzung des Schutzes der persönlichen Ehre verwundert, wenn man bedenkt, daß der Persönlichkeitsschutz im übrigen seit Jahren "Hochkonjunktur" hat. Das aus den Garantien der Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG entwickelte "allgemeine Persönlichkeitsrecht" erfreut sich allseits größter Beliebtheit und wird in immer neuen Variationen17 zur Sicherung der geistig-seelischen Integrität des einzelnen herangezogen. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verständlich, daß ausgerechnet der Ehrenschutz, jene "seit altersher bekannte Seite des Persönlichkeitsschutzes"18, gegenwärtig nur noch einen geringen Stellenwert haben soll. Gerade die persönliche Ehre ist ein (Rechts-)Gut, dem die Menschen über die Jahrhunderte hinweg besondere Bedeutung beigemessen haben. Schon Aristoteles hielt sie für "das größte der äußeren Güter"19 2 0 , M Luther bezeichnete sie als einen "Schatz, ... welchen wir ... nicht entbehren können"21, und L Kant zählte sie zu den "Glücksgaben"22. Dagegen erscheint heute die Ehre des einzelnen bisweilen fast als Anachronismus. Von Ehre wird kaum noch gesprochen, und wer von ihr - und der Notwendigkeit ihres (verfas-

16

P. J. Tettinger, JZ 1983, 317, 325.

17

Vgl. aus jüngerer Zeit etwa BVerfGE 65, 1, 41 ff. (Volkszählung), mit der Entwicklung des18Rechts auf "informationelle Selbstbestimmung" aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. R Reinhardt, Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit, 1961, S. 5. 19 Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), Die Nikomachische Ethik, Viertes Buch, 7. Kapitel, 1123 b 15-20, neu übersetzt mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von O. Gigon, 2. Aufl. 1967, S. 137; ebenso Thomas von Aquin, Summe der Theologie (1265-1273), Zweiter Teil, Zweite Hälfte, 73. Untersuchung Zweiter Artikel, 103. Untersuchung Erster Artikel, 129. Untersuchung Erster Artikel, zusammengefaßt, eingeleitet und erläutert von J. Bernhart, Dritter Bd., 1938, S. 338 f., 423, 462. - Emphatisch heißt es etwa bei F. v.Schiller, Wallenstein, 1799, Wallensteins Lager, Elfter Auftritt: "Ja, übers Leben noch geht die Ehr!" 20

Für Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), Die Nikomachische Ethik, Viertes Buch, 7. Kapitel, 1124 a 15-20, neu übersetzt mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von O. Gigon, 2. Aufl. 1967, S. 139, waren "Macht und Reichtum" nur "wegen der Ehre begehrenswert"; siehe auch bereits Die Sprüche Salomos, 22,1: "Ein guter Ruf ist köstlicher als großer Reichtum". 21

M. Luther, Der Große Katechismus (1529), Das achte Gebot, in: Luther Deutsch, Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart hrsg. von K. Aland, Bd. 3,4. Aufl. 1983, S. 11,64. 22

/. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), Erster Abschnitt, hrsg. von K. Vorländer, Unveränderter Neudruck der 3. Aufl., 1947, S. 10.

16

Einleitung

sungs)rechtlichen Schutzes - spricht, wird leicht als "altmodisch" oder gar "reaktionär" angesehen23. Nicht hinreichend berücksichtigt wird dabei, daß es sich bei der Ehre um ein elementares Gut menschlichen Zusammenlebens handelt. Der Mensch ist als einzelnes Subjekt nicht autark, sondern in dem, was er ist und leistet, auf die Anerkennung anderer Menschen angewiesen24. Ohne daß er von der Gemeinschaft geachtet wird, kann der einzelne nicht leben25. Diesem Umstand trägt auch das Grundgesetz mit seiner Wertentscheidung für die Gewährleistung der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) Rechnung. Im Grundsatz hat danach jedermann Anspruch auf rechtlichen Schutz vor solchen Äußerungen, die ihn in seiner Ehre verletzen. Zu beachten ist freilich, daß das Recht auf freie (Meinungs-)Äußerung ebenfalls den Schutz der Verfassung genießt. Im Kollisionsfall geht es daher darum, eine Lösung zu finden, die einerseits möglichst weitgehend Ehrenschutz gewährt, ohne andererseits die Ausübung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG übermäßig einzuschränken. Ob das Bundesverfassungsgericht dieser Aufgabe gerecht geworden ist, muß bezweifelt werden26. Jedenfalls gibt die zum Teil heftige Kritik an seiner Rechtsprechung Anlaß, die Frage nach der Ausbalancierung der Gewichte zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz erneut zu stellen. Dabei dürfte die insgesamt unbefriedigende Entwicklung auf diesem Gebiet nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, daß der Stellenwert des Schutzguts "Ehre" auf Verfassungsebene bislang nicht hinreichend geklärt ist27. Während die besondere Bedeutung der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG für die freiheitlich-demokratische Grundordnung spätestens seit dem "Lüth-Urteil"28 des Bundesverfassungsgerichts ins allgemeine Bewußtsein gerückt ist, liegen Inhalt und Funktion des Rechts der persönlichen Ehre 23

In diesem Sinne schon G. Erdsiek, in: FS für R. Reinhardt, 1972, S. 69,70.

24

Siehe AT. Forschner, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Zweiter Bd., 1986, Sp. 150,150. 25 Vgl. H.-R Müller-Schwefe, in: R. Herzog/H. Kunst/K. Schlaich/W. Schneemelcher (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Bd. I, Sp. 657,657. 26

H. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 5. Aufl. 1983, Rn. 194, spricht resignierend von einer "traurige(n) Unterbilanz des Ehrenschutzes in Deutschland". 27 Mit Recht hält P. J. Tettinger, JZ 1983,317, 317 Fn. 11, das verfassungsrechtliche tum zum Schutzgut "Ehre" für "insgesamt defizitär". 28

BVerfGE 7,198 ff.

Schrift-

Einleitung

bis heute weitgehend im Dunkeln. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es daher in erster Linie, die spezifisch verfassungsrechtliche Bedeutung dieses Schutzguts herauszuarbeiten. Denn nur wenn der Gehalt beider Rechtspositionen offenliegt, werden sich sachgerechte Leitlinien für den im Kollisionsfall gebotenen Interessenausgleich entwickeln und "einäugige Gewichtungen"29 vermeiden lassen.

29

Ρ. l Tettinger, JZ 1983,317,320.

2 Mackeprang

Erster Teil

Bestandsaufnahme Im ersten Teil dieser Untersuchung sollen im Wege einer Bestandsaufnahme die Grundlagen für die Entwicklung einer Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes gelegt werden. Dazu gehört zunächst ein Überblick darüber, wie sich verfassungsstaatliche Rechtsordnungen des Rechts der persönlichen Ehre als Schutzgut annehmen. Anschließend ist die höchstrichterliche Rechtsprechung unter dem Grundgesetz zum Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

A. Das Recht der persönlichen Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen Das Bewußtsein von Wesen und Wert der menschlichen Persönlichkeit sowie ihrer Stellung in der Rangordnung der Werte ist im Laufe der abendländischen Geistes- und Rechtsgeschichte immer allgemeiner und klarer geworden1. Dies hat unter anderem dazu geführt, daß tragende Elemente der Individualität des Menschen heute in verfassungsstaatlichen Verfassungen verankert sind. Auch das Grundgesetz enthält zahlreiche Regelungen zum Schutz der menschlichen Persönlichkeit, namentlich in Form von Teilgewährleistungen durch Spezialgrundrechte2.

1 Zur Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins in der abendländischen Geistes- und Rechtsgeschichte vgl. umfassend H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 12 ff.

2

Dazu zählen etwa das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, die Gewährleistung der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, der Geheimnisschutz des Art. 10 GG und die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung durch Art. 13 GG; in der Literatur zum Privatsphärenschutz werden darüber hinaus auch noch Art. 6 sowie Art. 5, 8 und 9 GG als spezielle Verbürgungen genannt, vgl. die aus-

I. Begriffliche Orientierung

19

Das Recht der persönlichen Ehre ist dagegen, anders als weitere wichtige Teilaspekte des Persönlichkeitsschutzes, im Grundgesetz nicht als eigenständiges Grundrecht abgesichert. Nicht zuletzt aus diesem Grund bereitet es nicht unerhebliche Schwierigkeiten, den Stellenwert dieses Schutzgutes in der (Verfassungs-)Rechtsordnung eindeutig zu bestimmen.

I. Begriffliche Orientierung

Eine sachgerechte Einordnung des Rechtsguts "Ehre" in das Verfassungsrecht kann nicht erfolgen, ohne den Begriff "Ehre" inhaltlich zu präzisieren. Für eine erste Konturierung3 des verfassungsrechtlichen Ehrbegriffs bietet sich an, auf die einfachgesetzlichen Ehrenschutzbestimmungen zurückzugreifen 4. Dies sind auf strafrechtlichem Gebiet die Bestimmungen der §§ 185 ff. StGB in Verbindung mit den §§ 374 ff. StPO, auf zivilrechtlichem Gebiet vor allem die §§ 823 ff. BGB sowie das Recht der Klage auf Widerruf und Unterlassung5. Eine erste Auswertung der einschlägigen Literatur ergibt allerdings, daß von einem einheitlichen und klaren Verständnis des Ehrbegriffs auf diesen Gebieten keine Rede sein kann. In zivilgerichtlichen Entscheidungen wird der Begriff der Ehre überwiegend weder definiert noch problematisiert. Das hängt zum einen damit zusammen, daß die Frage der Ehrverletzung des Klägers zwischen den Parteien häufig gar nicht streitig ist6. Zum anderen besteht in der Rechtsprechung zum zivilrechtlichen Schutz der Ehre offenbar die Neigung, diesem Rechtsbegriff auszuweichen und nur von einer Verletzung des "allgemeinen Persönlichkeitsrechts" zu sprechen, (wohl) um Abgrenzungsschwierigführliche Darstellung bei D. Rohlfs Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 135 ff. 3

Siehe im übrigen ausführlich unten Zweiter Teil Β. 1.1. Vgl. R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 289; P. I Tettinger, JZ1983,317,318 ff.; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,824. 4

Zur Ausgestaltung des Ehrenschutzes auf unterverfassungsrechtlicher Ebene siehe näher unten III. 6 Gestritten wird dann lediglich über die Frage ihrer Rechtswidrigkeit, vgl. etwa BGH NJW 1974,1762,1762 (Deutschland-Stiftung); BGH NJW 1977,1288,1288 f. (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68, 331 ff. abgedruckt); OLG München NJW 1971, 844, 845; OLG München AfP 1976, 130, 131; OLG Karlsruhe OLGZ 77, 231, 232; OLG Celle AfP 1977, 233, 234; OLG München AfP 1977, 282, 283; OLG Celle AfP 1984, 223, 224 f.; OLG Köln AfP 1985,223,226.

2

20

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

keiten zu vermeiden und alle Möglichkeiten, die derflexiblere Begriff des Persönlichkeitsrechts einschließt, in der Hand zu behalten7. Soweit die Entscheidungen ausnahmsweise nähere Ausführungen zur Frage der Ehrverletzung enthalten8, sind sie "fragmentarisch und lassen eine einheitliche Definition des Begriffs der Ehre nicht erkennen"9. Das zivilrechtliche Schrifttum beschäftigt sich ebenfalls nur vereinzelt mit dem Ehrbegriff 10. Danach soll die Ehre den "Gesamtwert" der Individualität, "die Summe der ihr anhaftenden Werte" repräsentieren 11. Die Ehre einer Person wird als "ihr Ansehen im Urteil ihrer Mitmenschen und die davon nie ganz unabhängige Selbstachtung" bezeichnet12. Überwiegend finden sich aber lediglich Hinweise auf die Literatur zu den Ehrenschutzbestimmungen des Strafrechts 13, so daß davon auszugehen ist, daß ein eigenständiger zivilrechtlicher Ehrbegriff nicht existiert14. Auf dem Gebiet des Strafrechts gehen die Meinungen über Inhalt und Grenzen des Ehrbegriffs weit auseinander15. Die Rechtsprechung versteht unter der Ehre den Anspruch eines Menschen auf Achtung seiner Persönlichkeit16, wobei zwischen der dem Menschen als Träger geistiger und sittli-

7

Vgl. H. Stoll, Jura 1979, 576, 577; siehe auch G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 21 ff.; G. Walter, JZ 1986, 614,614. 8 Siehe z.B. BGHZ 39,124,127 ff. (Fernsehansagerin); 90,113,116 (Bundesbahnplanungsvorhaben); BGH NJW 1963, 904, 904 (Gerichtsberichterstattung); BGH NJW 1975, 1882, 1883 (Der Geist von Oberzell); OLG Düsseldorf NJW 1986,1262,1263.

9

R Wellbrock, Persönlichkeitsschutz und Kommunikationsfreiheit, 1982, S. 36 ff. m.z.N. Vgl. etwa H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 288 f.; E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 6 f.; Η Leßmann, AcP 170 (1970), 266,288; R Schlechtriem, DRiZ 1975,65,66. 10

11

So Η Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 288.

12

P. Schlechtriem, DRiZ 1975,65,66.

13

Vgl. z.B. P. Schwerdmer, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1,2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 252 mit Fn. 1017; siehe auch Η Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 289 mit Fn. 3. 14 Ebenso G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 20. 15 Ausführliche Darstellung der vertretenen Theorien bei K. Schmid , Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 21 ff., und /. Tenckhoff\ Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 26 ff. 16

Siehe BGHSt 1,288,289 (Hildegard).

I. Begriffliche Orientierung

21

cher Werte zukommenden "inneren" Ehre und seiner darauf beruhenden Geltung, seinem guten Ruf innerhalb der mitmenschlichen Gesellschaft, der "äußeren" Ehre, unterschieden wird. Wesentliche Grundlage der inneren Ehre und damit Kern der Ehrenhaftigkeit des Menschen sei die ihm unverlierbar von Geburt an zuteilgewordene Personenwürde17. In der Literatur reicht die Spannbreite unterschiedlicher Ehrbegriffe von mehr objektiven Betrachtungsweisen (Ehre als Leumund) bis zu streng subjektiven Auffassungen (Ehre als Ehrgefühl) 18. Innerhalb dieser Spannbreite ist weiterhin umstritten, ob tatsächliche Umstände oder wertende Gesichtspunkte maßgeblich sind und ob sittliche oder soziale Maßstäbe angelegt werden müssen19. Das Rechtsgut "Ehre" scheint mithin einer präzisen Konturierung nur schwer zugänglich zu sein. Ungeachtet der vielfältig divergierenden Standpunkte zu den Einzelheiten der Rechtsgutsbestimmung, macht der Rückgriff auf die zu den einfachgesetzlichen Ehrenschutzbestimmungen entwickelten Ehrauffassungen aber immerhin deutlich, daß unter "Ehre" die Achtung zu verstehen ist, die eine Person von anderen beanspruchen kann20. Dies mag zur ersten Orientierung genügen; ob der Achtungsanspruch einer Person nur den ihr kraft ihres Personseins zukommenden Geltungswert oder auch die Wahrung der ihr sonst entgegengebrachten Wertschätzung umfaßt und welche Gesichtspunkte im einzelnen diese Komponenten konstituieren, wird sich bei der Bestimmung des verfassungsrechtlichen Ehrbegriffs ohnehin nur unter Be17

Vgl. BGHSt (GrS) 11,67,70 f. (Beate Uhse).

18

Diese unterschiedlichen Perspektiven finden sich bereits im römischen und im germanischen Recht. Während der römisch-antike Ehrbegriff mehr auf die Verletzung des guten Rufs abstellte, stand im germanischen Recht die Erniedrigung des Betroffenen durch Kränkung seines Selbstwertgefühls im Vordergrund, vgl. Κ Geppert, Jura 1983, 530, 532 mit Fn. 13; W.-H Kiehl, Strafrechtliche Toleranz wechselseitiger Ehrverletzungen, 1986, S. 16,24. 19 Zum Streitstand siehe insbesondere//. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 1 ff., 14 ff., 45 ff.; H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71,73 ff.; ders., JR 1983,1,2 f.; J. Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 26 ff.; ders., JuS 1988, 199, 201 ff.; W.-H. Kiehl, Strafrechtliche Toleranz wechselseitiger Ehrverletzungen, 1986, S. 157 ff. - Trotz der vielfach noch vorgenommenen Einteilung in normative, faktische und normativ-faktische Ehrbegriffe ist davon auszugehen, daß alle zur Diskussion gestellten Ehrbegriffe normative und faktische Elemente enthalten, vgl. dazu vor allem K. Engisch, in: FS für R. Lange, 1976, S. 401,410 ff. 20 Kritisch zur Gleichsetzung von "Ehre" und "Achtungsanspruch" allerdings H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 30; dagegen wiederum K. Schmid , Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 30 f.

22

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

achtung der spezifisch verfassungsrechtlichen Vorgaben entscheiden las-

II. Wertentscheidung für den Schutz der persönlichen Ehre auf Verfassungsebene

Den Ausgangspunkt der Betrachtung des Rechts der persönlichen Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen muß die Verankerung dieses Rechtsguts in der Verfassung selbst bilden. Als "umfassende Lebensordnung der Gegenwart"22 vermag nur sie die grundlegende Wertentscheidung für die Integrität der menschlichen Ehre zu treffen und damit zugleich die Voraussetzungen für die Entwicklung effektiver Schutzsysteme zu schaffen. Zunächst ist daher zu untersuchen, welchen Niederschlag der Ehrenschutz im Grundgesetz gefunden hat; ergänzend wird sodann das umfangreiche geschichtliche und zeitgenössische Verfassungstextmaterial heranzuziehen sein.

1. Ehrenschutz im Grundgesetz

Dem Wortlaut nach erscheint das "Recht der persönlichen Ehre" im Grundgesetz nur in Art. 5 Abs. 2 GG als dritte Schranke der Freiheitsrechte des Art. 5 Abs. 1 GG neben den "allgemeinen Gesetzen" und den "gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend". Darüber hinaus ist die persönliche Ehre nach heute fast einhelliger Meinung aber auch ein essentielles Element des von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten "allgemeinen Persönlichkeitsrechts"23. Im folgenden soll auf 21

Zwar sprechen keine Anhaltspunkte dafür, daß der verfassungsrechtliche Ehrbegriff vom einfachen Recht vollkommen losgelöst ist, vgl. Κ Schmid , ebd., S. 18, sowie G. v.dDecken , Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 154; das bedeutet aber nicht, daß der Ehrbegriff auf beiden Ebenen identisch sein müßte, vgl. W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,99, und P. J. Tettinger, JZ 1983,317,318 mit Fn. 26. 22 P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 7. 23 Vgl. BVerfGE 54, 148, 154 (Eppler); 54, 208, 217 (Boll); deutlich auch BVerfGE 67, 213, 228 (Anachronistischer Zug 1980); 75, 369, 379 f. (Karikatur); aus der Literatur siehe etwa P. J. Tettinger, JZ 1983, 317, 318; Ä Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443, 444 f.; K. Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 475; Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1, Rn. 79, Art. 2 Abs. 1, Rn. 117;

II. Wertentscheidung für den Schutz der Ehre auf Verfassungsebene

23

diese beiden grundgesetzlichen Anknüpfungspunkte und die mit ihrer Auslegung und Anwendung verbundenen Probleme ein erster Blick geworfen werden.

a ) Das Recht der persönlichen Ehre als ausdrückliche Schranke der Meinungsfreiheit Als ausdrückliche Schranke der Meinungsfreiheit ist das "Recht der persönlichen Ehre" in Art. 5 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich positiviert. Bei den Beratungen im Parlamentarischen Rat wurde dazu bemerkt, die Begrenzung des Rechts der Meinungsäußerung durch die persönliche Ehre sei deshalb vorgesehen worden, weil Verleumdung und falsche Berichterstattung über das private und öffentliche Leben der Menschen nicht zulässig sein sollten24. Durch die Hervorhebung des Ehrenschutzes sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, daß die Betätigung der grundrechtlichen Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG erfahrungsgemäß die persönliche Ehre anderer in besonderem Maße gefährdet 25. Umstritten ist, ob das "Recht der persönlichen Ehre" unmittelbar grundrechtsbegrenzende Wirkung entfaltet oder ob es dazu einer einfachgesetzlichen Konkretisierung bedarf. Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts "bildet auch das Recht der persönlichen Ehre nur insoweit eine die Meinungsfreiheit zulässigerweise einengende Schranke, als es gesetzlich normiert ist"26. Zur Begründung führt das Gericht an, daß eine Grundrechtseinschränkung ohne gesetzliche Konkretisierung gegen das herrschende /. V.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2, Rn. 22; Hartmut Krüger y WissR 1986,1,11 f.; Ch. Degenhart, in: Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (1987), Rn. 118. - Daß das Recht der persönlichen Ehre seinem Wesen nach ein Persönlichkeitsrecht ist, formulierte besonders prägnant auch schon O. Gierke , Deutsches Privatrecht, Erster Bd. (1895), Neudruck 1936, § 53 I: "Aus der Persönlichkeit entspringt ein Recht auf Ehre. ... Unversehrte Ehre ist Grundlage des unversehrten Rechtes der Persönlichkeit." 24

So der Abgeordnete Th. Heuß (FDP) als Berichterstatter im Grundsatzausschuß, vgl. K-B. v.Doemming/R W. FüssleinfW. Matz (Bearb.), JöR 1 (1951), 79,80. 25

Siehe K G. Wernicke , in: Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 5 (Erstbearb.), Anm. II 2 d; O. Graehl, Das Verhältnis der freien Meinungsäußerung zur persönlichen Ehre nach dem Grundgesetz, 1960, S. 29; Κ Schmid , Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 16; CA. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 131. 26

BVerfGE 33,1,17 (Strafvollzug).

24

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

Grundrechtsverständnis verstieße, wonach Eingriffe in Freiheitsrechte nur auf gesetzlicher Grundlage zulässig seien27. Dem wird in der Literatur teilweise entgegengehalten, daß es sich bei der dritten Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG um einen ausdrücklichen Verfassungsvorbehalt handele, der direkte, eine gesetzliche Konkretisierung nicht benötigende Wirkung entfalte 28 . Der Wortlaut der Bestimmung sei insofern eindeutig. Anders als bei den beiden anderen Schranken der Meinungsfreiheit, bei denen von "Gesetzen" und "gesetzlichen Bestimmungen" die Rede sei, spreche Art. 5 Abs. 2 GG gerade nicht von "gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der persönlichen Ehre", sondern von dem "Recht der persönlichen Ehre"29, eine Differenzierung, die dem Grundgesetz durchaus geläufig sei, wie Art. 20 Abs. 3 GG ausweise30. Entscheidend dürfte sein, daß das "Recht der persönlichen Ehre" nicht nur als Schranke der Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 2 GG eine unmittelbare Verankerung im Verfassungstext erhalten hat, sondern auch als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG eine verfassungsrechtliche Absicherung erfährt. Dies macht deutlich, daß die persönliche Ehre selbst Verfassungsrechtsgut und nicht bloß Gesetzesrtchxsgul ist31. Bei der dritten Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG handelt es sich mithin um eine Begrenzung der Meinungsfreiheit durch die Verfassung selbst, die einer gesetzlichen Ausfor-

27

Vgl. BVerfGE 33,1,16 f. (Strafvollzug); zustimmend /. v.Münch, in: ders., GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 5, Rn. 57; E. Schmidt-Jortùg, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 635, 66228Rn. 48. So etwa G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 165; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 823; Hartmut Krüger, WissR 1986,1,10 f.; W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,97; G. Gornig, JuS 1988, 274,278. 29 Vgl. M. Rehbinder, JZ 1963, 314, 317; Κ Schmid , Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 15; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 165; W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,97; G. Gomig, JuS 1988,274,278. 30 Siehe Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 823; Hartmut Krüger, WissR 1986,1, 11 mit Fn. 66. 31 Vgl. Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 824; Hartmut Krüger, WissR 1986,1,11; ähnlich G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 162; ders., NJW 1983, 1400, 1402; siehe auch schon M. Rehbinder, JZ 1963,314,317.

II. Wertentscheidung für den Schutz der Ehre auf Verfassungsebene

25

mung nicht bedarf 32 3 3 . Soweit der Gesetzgeber in solchen Fällen die durch die Verfassung gezogenen Grenzen grundrechtlicher Freiheit gleichwohl (auch noch) in einfachen Gesetzen normiert, begrenzt er diese Freiheiten nicht selbst; er stellt nur deklaratorisch bereits gezogene Grenzen fest 34. Von zentraler Bedeutung für die Auslegung und Anwendung des Rechts der persönlichen Ehre als Schranke der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG ist die Frage nach dem Verhältnis dieser Grundrechtseinschränkung zu den beiden anderen Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG, insbesondere zu den "allgemeinen Gesetzen". Nach früher überwiegender Ansicht ist die besondere Erwähnung des Ehrenschutzes als Beispiel eines "allgemeinen Gesetzes" zu verstehen, die dritte Schranke soll also einen Unterfall der ersten Schranke darstellen35. Dieser Auffassung wird heute36 immer häufiger widersprochen37. Schon unter gesetzes- und verfassungsinterpretatorischen Gesichtspunkten sei es höchst unwahrscheinlich, daß die Schranke des "Rechts der 32

Widersprüchlich insoweit E. Schmidt-Jortzig, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 635, 662 Rn. 48, der das "Recht der persönlichen Ehre" zwar einerseits als (mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG kollidierendes) Verfassung?rechtsgut einordnet, andererseits aber meint, es bedürfe für seine Schrankenfunktion der gesetzlichen Konkretisierung; ähnlich auch A. Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 3. Aufl. 1989, S. 720 f. 33

Sofern es sich allerdings um strafrechtliche Eingriffe handelt, folgt der Gesetzesvorbehalt aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG niedergelegten Grundsatz "nulla poena sine lege", vgl. G. Gornig, JuS 1988,274,278. 34

Siehe Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 312. 35

So etwa H. Coing , Ehrenschutz und Presserecht, 1960, S. 10; O. Graehlj Das Verhältnis der freien Meinungsäußerung zur persönlichen Ehre nach dem Grundgesetz, 1960, S. 29 f.; H Reisnecker, Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und die Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. II GG, 1960, S. 165; A. Schule, in: A. Schüle/H. Huber, Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit, 1961, S. 1, 31; H Huber, ebd., S. 65,114; M. Geldbach, Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz, 1962, S. 140; P. Lerche, Werbung und Verfassung, 1967, S. 110; A Hamann/H. Lenz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 3. Aufl. 1970, Art. 5, Anm. B. 12.; siehe jetzt auch wieder Ch. Degenhart, in: Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (1987), Rn. 118. 36 Vgl. aber auch schon H. Ridder, JZ 1961, 537, 539; E. Schwenk, NJW 1962,1321,1322; M. Rehbinder, NJW 1962,2140,2140; Κ Α. Bettermann, JZ 1964,601,609. 37

Siehe vor allem G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140 ff.; ders., NJW 1983,1400,1401 f.; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,822 ff.; I. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 5, Rn. 57a; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 24; Hartmut Krüger, WissR 1986,1, 8 ff.; G. Gornig, JuS 1988,274,277.

26

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

persönlichen Ehre" in den Schranken der "allgemeinen Gesetze" enthalten sei; es könne kaum angenommen werden, daß sich der Verfassunggeber in derselben Vorschrift wiederholen wollte38. Teilweise wird auch geltend gemacht, daß Ehrenschutzbestimmungen gerade das Gegenteil "allgemeiner Gesetze" seien, nämlich Sondergesetze, die sich gegen die Meinungs(äußerungs)freiheit richten39. Nach der neueren Kommentarliteratur schließlich soll die Beziehung der beiden Schrankenvorbehalte zueinander wie die zweier sich überschneidender Kreise zu begreifen sein; beide sollen sich teilweise überdecken und sich nicht gegenseitig ausschließen40. Das Verhältnis der in Art. 5 Abs. 2 GG aufgeführten Schranken zueinander läßt sich ohne eine nähere Auseinandersetzung mit dem Begriff der "allgemeinen Gesetze" nicht abschließend bestimmen. Bereits an dieser Stelle41 kann aber festgehalten werden, daß der Umstand, daß neben den "allgemeinen Gesetzen" zwei besondere materielle Rechtsgüter als schrankensetzend benannt sind, bei der Interpretation des Art. 5 Abs. 2 GG Berücksichtigungfinden muß42; die besondere Erwähnung des Ehren- und Jugendschutzes in dieser Bestimmung muß wenigstens als die "Akzentuierung einer spezifischen Wertigkeit der damit angesprochenen Rechtsgüter"43 anerkannt werden44. 38

Vgl. G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140, mit eingehender Analyse der Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 2 GG, S. 142 f.; ders., NJW 1983,1400,1401 f.; zustimmend Hartmut Krüger, WissR 1986, 1,9; ähnlich auch R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 245. 39

Siehe G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140 f.; ders., NJW 1983,1400,1402; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 823; wohl auch Hartmut Krüger, WissR 1986, 1, 8 ff.; offengelassen bei W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 97; vgl. dazu auch schon H. Ridder, JZ 1961, 537, 539; Κ Α. Bettermann, JZ 1964,601,609; Η. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,153,157. 40 So R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 244,245; Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 117. 41 42

Vgl. im übrigen näher unten Zweiter Teil Α. 1.2. a) aa).

So auch Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 117. 43 W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 290; ders., JZ 1983, 95, 98; ders., AöR 113 (1988), 52,97. 44

Ähnlich A. Schüle, in: A.' Schüle/H. Huber, Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit, 1961, S. 1, 31 f.: "Das Grundgesetz ... hat durch die ausdrückliche Hervorhebung des Rechts der persönlichen Ehre diesem im Grundrechtssystem einen besonderen Akzent verliehen."

II. Wertentscheidung für den Schutz der Ehre auf Verfassungsebene

27

b) Das Recht der persönlichen Ehre als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Als Ausprägung des durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten allgemeinen Persönlichkeitsschutzes findet das Recht der persönlichen Ehre eine weitere Verankerung im Grundgesetz45. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung des sogenannten allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist inzwischen allgemein anerkannt46. Es ergänzt als "unbenanntes Freiheitsrecht"47 die speziellen ("benannten") Freiheitsrechte 48 , die ebenfalls konstituierende Elemente der Persönlichkeit schützen49. Seine Aufgäbe ist es, im Sinne des "obersten Konstitutionsprinzips"50 der "Würde des Menschen" (Art. 1 Abs. 1 GG) die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen zu gewährleisten, die sich durch die traditionellen Freiheitsgarantien nicht abschließend erfassen lassen51. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht enthält dabei jenes Element der "freien Entfaltung der Persönlichkeit", das sich als Recht auf Respek-

45

Nachweise oben Fn. 23.

46

Siehe aus der neueren Kommentarliteratur etwa CA. Starch , in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1, Rn. 78, Art. 2 Abs. 1, Rn. 39, 64 ff., sowie/. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 2, Rn. 22; in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich seit BVerfGE 34, 269 ff. (Soraya). - Sehr viel früher wurde die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Zivilrecht diskutiert, vgl. bereits H. Coing , SJZ 1947, Sp. 641 ff., und bahnbrechend dann H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 1. Aufl. 1953; siehe sodann die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs seit BGHZ13, 334 ff. (Leserbrief). - Darstellungen aus neuerer Zeit zur Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts finden sich etwa bei P. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977; ders., JuS 1978, 289 ff.; /. Simon, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht und seine gewerblichen Erscheinungsformen, 1981, insbesondere S. 155 ff.; H. E. Brandner, JZ 1983,689 ff. 47 Begriff wohl von J.-G. Schätzler, NJW 1953,818, 819; vgl. sodann H. Wehrhahn, AöR 82 (1957), 250, 253, und G. Dürig } in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Abs. I (1958), Rn. 3.

48

Etwa die Gewährleistung der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG; zur Kunstfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 3 GG als Ausdruck der Persönlichkeitsentfaltung siehe P. Häberle, AöR 110 (1985), 577,598 f. 49 Vgl. BVerfGE 54,148,153 (Eppler); 72,155,170 (Mindeijährigenschutz). 50 G. Dürigy AöR 81 (1956), 117,119; ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. I (1958), Rn. 4. 51

So BVerfGE 54,148,153 (Eppler); 72,155,170 (Mindeijährigenschutz).

28

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

tierung des persönlichen Bereichs von dem aktiven Element dieser Entfaltungsfreiheit, der allgemeinen Handlungsfreiheit 52, abhebt53. Wegen des übergreifenden Sinnzusammenhangs von Menschenwürde und persönlicher Entfaltungsfreiheit wirkt Art. 1 Abs. 1 GG hier als objektiv-rechtliche Interpretationsrichtlinie des Art. 2 Abs. 1 GG, der dadurch eine materielle Verstärkung erfährt 54. Freilich bestehen nicht unerhebliche Schwierigkeiten, den Normbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts näher zu bestimmen55. Gerade weil Art. 2 Abs. 1 GG hier erneut56 als systemöffnender 57 Freiheitssatz im Hinblick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen für den Schutz der menschlichen Persönlichkeit funktioniert 58, läßt sich der Inhalt des geschützten Rechts nicht abschließend beschreiben, sondern müssen seine Ausprägungen jeweils anhand des zu entscheidenden Einzelfalles herausgearbeitet werden59. So sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts inzwischen zahlreiche Schutzgüter des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt60. Mit der Zeit hat sich auf diese Weise der Inhalt des grundgesetzlichen Persönlichkeitsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1

52

Vgl. BVerfGE 6, 32, 36 ff. (Elfes), st. Rspr.; kritisch dazu etwa Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 426 ff.; enger auch W. Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes, 1968, S. 111 ff. 53

Siehe BVerfGE 54,148,153 (Eppler).

54

So vor allem Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2 Abs. 1, Rn. 11, 40; vgl. auch/. M. Wintrich, in: FS für W. Apelt, 1958, S. 1, 6; R Scholz, AöR 100 (1975), 80, 94; D. Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 226 f.; W. Schmidt, AöR 106 (1981), 497,504 f. 55

Ähnlich etwa P. J. Tettinger, JZ 1983,317,318.

56

Auch in seiner Ausformung als allgemeine Handlungsfreiheit steht Art. 2 Abs. 1 GG "immer bereit, unbenannte Freiheiten aufzunehmen und ihre Verletzung abzuwehren", vgl. G. Diirigy in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Abs. I (1958), Rn. 3. 57

Siehe R Scholz, AöR 100 (1975), 80,265,290.

58

Typisch insofern BVerfGE 65,1, 41 ff. (Volkszählung), mit der Entwicklung des Rechts auf "informationelle Selbstbestimmung" aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht. 59 Vgl. BVerfGE 54,148,153 f. (Eppler); 72,155,170 (Minderjährigenschutz). 60

Siehe die Aufzählung in BVerfGE 54, 148, 154 (Eppler); ergänzend sodann vor allem BVerfGE 63, 131,142 (Gegendarstellung); 65, 1, 42 (Volkszählung); 71, 183, 201 (Sanatoriumswerbung); 72,155,170 f. (Mindeijährigenschutz).

II. Wertentscheidung für den Schutz der Ehre auf Verfassungsebene

29

Abs. 1 GG immerhin punktuell verdichtet und ist in seinen Konturen deutlicher geworden61. Als wichtige Fallgruppe des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat sich dabei das auf dem Gedanken der Selbstbestimmung beruhende Recht des einzelnen auf Selbstdarstellung herausgebildet62. Der einzelne soll grundsätzlich selbst entscheiden können, ob und wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will63. Dieser Fallgruppe des grundgesetzlichen Persönlichkeitsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ist auch das Recht der persönlichen Ehre zuzuordnen64, das allgemein als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts65, zum Teil sogar als dessen "verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich"66 angesehen wird. Das Selbstdarstellungsrecht hat nämlich zwei Komponenten: das Bestimmungsrecht über den Umfang und das Bestimmungsrecht über den Inhalt der Darstellung der eigenen Person67. Während ersteres die Entscheidungsfreiheit des Bürgers darüber betrifft, ob bzw. inwieweit er persönliche Lebenssachverhalte offenbart 68, geht es bei letzterem um die Be61

Vgl. W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,56 Rn. 25,58 Rn. 29. 62

Siehe W. Schmitt Glaeser, ebd., S. 59 Rn. 30 f., S. 65 ff. Rn. 42 ff.

63

Vgl. BVerfGE 54,148,155 (Eppler); 63,131,142 (Gegendarstellung).

64

So auch die Einordnung bei H. D. Jarass, NJW 1989,857,858.

65

Siehe BVerfGE 54,148, 154 (Eppler); 54, 208, 217 (Boll); 67, 213, 228 (Anachronistischer Zug 1980); 75, 369,379 f. (Karikatur); P. J. Tettinger, JZ 1983,317, 318; R Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443,444 f.; Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473,475; Ch Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1, Rn. 79, Art. 2 Abs. 1, Rn. 117; /. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2, Rn. 22; Hartmut Krüger, WissR 1986,1, 11 f.; Ch Degenhart, in: Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (1987), Rn. 118. - Auch in der Zivilrechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht nimmt traditionell die Verletzung der Ehre einen breiten Raum ein, vgl. P. ScHwerdtner, JuS 1978, 289, 290, und H. E. Brandner, JZ 1983, 689, 690, jeweils m.w.N.; schon das Reichsgericht betrachtete die Ehre als Persönlichkeitsrecht (wenn auch nicht als ein durch § 823 Abs. 1 BGB geschütztes), vgl. z.B. RGZ 68, 229,231. 66

So etwa BGH NJW 1965,2395,2396 (Mörder unter uns).

67

Vgl. Λ Wellbrock,

Persönlichkeitsschutz und Kommunikationsfreiheit, 1982, S. 18,24.

68

Siehe dazu etwa BVerfGE 18, 146, 147 (Tagebuch/e.A.); 27, 1, 6 ff. (Mikrozensus); 27, 344,350 f. (Scheidungsakten I); 32, 373,378 ff. (Arztkartei); 33, 367,376 f. (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter); 34, 205, 209 (Scheidungsakten II); 44, 353, 372 ff. (Suchtkrankenberatungsstelle); 56, 37, 42 ff. (Selbstbezichtigung); 65, 1, 41 ff. (Volkszählung); 67, 100, 142 (Flick-Ausschuß).

30

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

fugnis des einzelnen zur Selbstgestaltung seines sozialen Geltungsanspruchs69 - und damit ist der Sache nach (auch) das Recht der persönlichen Ehre angesprochen. Das Bestimmungsrecht über den Inhalt der Darstellung der eigenen Person ist freilich umfassender als das Recht der persönlichen Ehre. Verletzungen der individuellen Verfügungsbefugnis über den Inhalt der Selbstdarstellung müssen nicht immer ehrenrührig sein; dafür reicht es vielmehr bereits aus, daß der Betroffene eine Störung des Bildes empfindet, das er anderen von sich vermitteln möchte70. Umgekehrt tangieren Ehrverletzungen immer auch das Recht des Betroffenen auf freie Bestimmung darüber, wie er sich anderen gegenüber darstellen will. Das gilt auch für Ehrverletzungen, die im privaten Bereich - etwa "unter vier Augen" - erfolgen. Denn das Recht auf Selbstdarstellung darf nicht auf die Befugnis zur Darstellung der eigenen Person in der Öffentlichkeit beschränkt sein, sondern muß ebenso dem Schutz der Selbstdarstellung im privaten Umfeld (Familie, Freunde, enger Kollegenkreis) dienen. Gerade dort nämlich braucht (und sucht) der Mensch die Anerkennung anderer, kommt es ihm darauf an, daß kein falsches Bild von ihm entsteht; dort bereits wird die Position des einzelnen in der Gesellschaft (sein "soziales Profil" 71) entscheidend (mit)geprägt. Die Selbstdarstellung im privaten Bereich ist für den einzelnen darum genauso wichtig wie die Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit, vielleicht sogar noch wichtiger, wenn man bedenkt, daß den meisten Menschen das Forum der (breiten) Öffentlichkeit für ihre Selbstdarstellung ohnehin nicht zur Verfügung steht. Zusammenfassend läßt sich somit sagen, daß zwar nicht jede Verletzung des Selbstdarstellungsrechts (und erst recht nicht jede Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts) auch das Recht der persönlichen Ehre berührt, umgekehrt aber Ehrverletzungen stets auch das Selbstdarstellungsrecht und damit das allgemeine Persönlichkeitsrecht beeinträchtigen72.

69 Vgl. dazu etwa BVerfGE 30, 173,193 ff. (Mephisto); 34, 269, 281 f. (Soraya); 35, 202, 219 ff. (Lebach); 54, 148,153 ff. (Eppler); 54, 208, 217 ff. (Boll); 63, 131,142 ff. (Gegendarstellung); 71,206,217 ff. (Veröffentlichung einer Anklageschrift).

70 71

Siehe dazu auch unten Zweiter Teil Β. 1.1. b) bb).

W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,66 Rn. 42. 72 Zweifelnd W. Schmitt Glaeser; AöR 113 (1988), 52,98 mit Fn. 285.

II. Wertentscheidung für den Schutz der Ehre auf Verfassungsebene

31

2. Historische und kontemporare Rechtsvergleichung

Hinweise auf Inhalt, Struktur und Funktion des Rechts der persönlichen Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen verspricht auch eine Analyse des umfangreichen geschichtlichen und zeitgenössischen Verfassungstextmaterials. Im Wege des historischen und kontemporären Vergleichs läßt sich die spezifisch verfassungsrechtliche Bedeutung des Ehrenschutzes möglicherweise näher erschließen73. Der Rückblick auf ältere Verfassungstexte erweist sich indessen als wenig ergiebig. Weder die frühen amerikanischen Verfassungen noch die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 kannten die persönliche Ehre als Grundrecht. Gleiches gilt für die frühkonstitutionellen Verfassungen in Deutschland. Auch die Paulskirchenverfassung (1849) erwähnte das Recht der persönlichen Ehre nicht, wenngleich sich hinter der Abschaffung der Strafen des "Prangers" und der "Brandmarkung"74 immerhin Aspekte des Ehrenschutzes ausmachen lassen. "Fehlanzeige" gilt sodann für die Preußische Verfassungsurkunde von 1850 sowie für die Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867) und die Bismarcksche Reichsverfassung (1871); in den beiden letztgenannten Verfassungen war eine Normierung individueller Rechte ohnehin (nahezu75) unterblieben76. Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthielt dann zwar einen ausgedehnten Katalog von "Grundrechten und Grundpflichten" 77; vom Schutz der persönlichen Ehre war jedoch auch in dieser Verfassung an keiner Stelle die Rede.

73

Zur Formulierung sowie (ausführlich) zur Bedeutung und zu den Möglichkeiten wissenschaftlicher Verfassungstextverarbeitung vgl. P. Häberle, AöR 112 (1987), 54, 56 ff.; so oder ähnlich auch schon ders:, AöR 109 (1984), 36, 52 ff., 57 mit Fn. 63; ders., AöR 110 (1985), 329, 33374f.; ders., AöR 110 (1985), 577,580. 1849.

Abschnitt VI, Artikel III, § 139 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 28. März

75

Vgl. aber immerhin jeweils Art. 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 16. April 1867 und der Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871. 76 Zu den Bemühungen um die Aufnahme von Grundrechten in diese Verfassungen vgl. E. R Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, Nachdruck der 2. Aufl., 1978, S. 665 f. bzw. S. 758; E. Forsthoff \ Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl. 1972, S. 148 bzw. S. 153; C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 5. Aufl. 1970, S. 161. 77 1919.

Zweiter Hauptteil, Art. 109 ff. der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August

32

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

Erst als nach 1945 in den deutschen Ländern neue Verfassungen geschaffen wurden, die die Neuordnung des staatlichen Gemeinwesens zumeist bewußt auf allgemeingültigen, unverrückbaren Wertvorstellungen, insbesondere dem Bekenntnis zur Würde des Menschen und der Anerkennung seines Persönlichkeitswertes, aufbauten, erfuhr zum Teil auch das Recht der persönlichen Ehre verfassungsrechtlichen Schutz. So stellt etwa die Verfassung des Landes Hessen (1946) die Ehre des Menschen auf eine Stufe mit besonders hochrangigen Verfassungsgütern. Art. 3 lautet: "Leben und Gesundheit, Ehre und Würde des Menschen sind unantastbar."

In der Verfassung für Rheinland-Pfalz (1947) ist der Schutz der Ehre sogar als eigenständiges Grundrecht normiert. In Art. 4 Satz 1 heißt es: "Die Ehre des Menschen steht unter dem Schutz des Staates."

Die übrigen Landesverfassungen haben das Recht der persönlichen Ehre zwar nicht ausdrücklich positiviert, zum Teilfinden sich aber doch Bestimmungen, die deutlich machen, daß der Verfassunggeber dem Schutz der Ehre sehr wohl Verfassungsrang beigemessen hat78. In dem Bekenntnis zur Achtung der Würde der menschlichen Persönlichkeit79 kann zudem wenigstens eine Teilgewährleistung des Ehrenschutzes gesehen werden. Der Blick auf die ausländische Verfassunggebung der letzten Jahrzehnte läßt ebenfalls erkennen, daß sich moderne Verfassungsstaaten 80 des Pro78

Vgl. etwa Art. 22 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Bayern (1946): "Wahrheitsgetreue Berichte über die Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Landtags oder seiner Ausschüsse bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei, es sei denn, daß es sich um die Wiedergabe von Ehrverletzungen handelt." - Die 1973 nachträglich in diese Verfassung eingefügte Bestimmung des Art. I l i a zur Freiheit des Rundfunks formuliert in ihrem Abs. 1 Satz 6: "Meinungsfreiheit, Sachlichkeit, gegenseitige Achtung Schutz vor Verunglimpfimg sowie Ausgewogenheit des Gesamtprogramms sind zu gewährleisten." 79

Siehe etwa Art. 100, 131 Abs. 2 der Verfassung des Freistaates Bayern (1946); Art. 5 Abs. 1 der Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen (1947); Art. 1 der Verfassung des Saarlandes (1947). 80 Eine eingehende Auseinandersetzung mit Normierungen des Rechts der persönlichen Ehre in sozialistischen Verfassungstexten (deren Betrachtung gleichsam als "Gegenbild" verfassungsstaatlicher Problemlösungen gelegentlich durchaus nützlich sein kann, vgl. dazu P. Häberle, AöR 110 [1985], 329, 343 ff., sowie ders., AöR 110 [1985], 577, 584 ff.) soll hier nicht erfolgen. Am Beispiel der UdSSR und der Volksrepublik China sei aber verdeutlicht, daß sich auch sozialistische Verfassungen mit dem Ehrenschutz beschäftigen. So heißt es etwa in Art. 57 Abs. 2 der Verfassung der UdSSR von 1977 (zit. nach M. Fincke [Hrsg.], Handbuch der Sowjetverfassung, 1983): "Die Bürger der UdSSR haben ein Recht auf gerichtlichen Schutz gegen Eingriffe in ihre Ehre und Würde, in Leben und Gesundheit, persönliche Freiheit und Ver-

II. Wertentscheidung für den Schutz der Ehre auf Verfassungsebene

33

blems des Ehrenschutzes zunehmend auch textlich annehmen. Während noch die Verfassungen aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts den Schutz der persönlichen Ehre allenfalls andeuten81, sichern die jungen Verfassungswerke der siebziger Jahre die Ehre des Menschen in der Regel ausdrücklich verfassungsrechtlich ab. Die griechische Verfassung von 197582 stellt den Schutz der Ehre sogar unmittelbar neben die klassischen Garantien von Leben und Freiheit. Art. 5 Abs. 2 Satz 1 lautet: "Alle, die sich innerhalb der Grenzen des griechischen Staates aufhalten, genießen ohne Unterschied der Nationalität, der Rasse oder Sprache und religiösen oder politischen Anschauungen den unbedingten Schutz ihres Lebens, ihrer Ehre und ihrer Freiheit."

Eine grundrechtliche Verbürgung der persönlichen Ehre enthält auch die Verfassung Portugals (1976/1982)83. Textlich-systematisch bringt die Regelung des Art. 26 Abs. 1 jedoch stärker den thematischen Bezug zum Privatsphärenschutz zum Ausdruck: "Das Recht eines Jeden auf die Identität der Person, auf die bürgerliche Geschäftsfähigkeit, auf die Staatsbürgerschaft, auf persönliche Ehre, den guten Namen und Ruf am eigenen Bild und auf die Achtung des privaten und familiären Lebensbereichs wird anerkannt."

Besonders ausführlich behandelt die spanische Verfassung von 197884 den Ehrenschutz. Art. 18 Abs. 1 formuliert - in auffälliger Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts85 - zunächst: mögen"; Art. 38 der Verfassung der Volksrepublik China von 1982 (zit. nach JöR 33 [1984], 423 ff.) lautet: "Die persönliche Würde der Bürger der Volksrepublik China ist unverletzlich. Jegliche Form von Beleidigung, Verleumdung oder falscher Anschuldigung und Diffamierung Bürgern ist verboten." In der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1968 in der Fassung von 1974 wird das Recht der persönlichen Ehre dagegen nicht erwähnt. 81 Vgl. z.B. Art. 3 Satz 1 der Verfassung der Republik Italien (1947): "Alle Staatsbürger genießen dieselbe soziale Achtung ..."; deutlicher schon Art. 40 Abs. 3 Nr. 2 der Verfassung der Republik Irland (1937): "Insbesondere schützt der Staat durch seine Gesetze nach bestem Vermögen das Leben, die Person, den guten Namen und die Vermögensrechte eines jeden Bürgers ..." - Texte zit. nach P. C. Mayer-Tasch (Hrsg.), Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 2. Aufl. 1975. 82

Zit. nach JöR 32 (1983), 360 ff.

83

Zit. nach JöR 32 (1983), 446 ff..

84

Zit. nach JöR 29 (1980), 252 ff.

85

Vgl. nur die zusammenfassende Aufzählung in BVerfGE 54,148,154 (Eppler). -P. Häberle , AöR 110 (1985), 329,337, weist in anderem Zusammenhang darauf hin, "wie viele Parallelen zwischen den urkundlichen Texten des Verfassungsstaates als T^pus und den 'Zutaten' bestehen, die Rechtsprechung und Wissenschaft (hier zur Wissenschaftsfreiheit) erarbeiten". 3 Mackeprang

34

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen "Jeder hat das Recht auf Ehre, auf die persönliche und familiäre Intimsphäre und das Recht am eigenen Bild."

Sodann wird der Schutz der Ehre noch an zwei weiteren Stellen hervorgehoben: Zum einen soll der Einsatz der Datenverarbeitung gesetzlich beschränkt werden, "um die Ehre sowie die persönliche und familiäre Intimsphäre der Bürger und die volle Ausübung ihrer Rechte zu garantieren" (Art. 18 Abs. 4); zum anderen finden die Kommunikationsfreiheiten des Art. 20 Abs. 1 ihre Grenze insbesondere "im Recht auf Ehre, Intimsphäre, am eigenen Bild und auf Schutz der Jugend und der Kindheit" (Art. 20 Abs. 4) 86 . In internationalen Menschenrechtstexten hat die "Ehre" ebenfalls ihren Platz. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 194887 befaßt sich mit ihrem Schutz. In Art. 12 heißt es: "Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim oder seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Ruf ausgesetzt werden. Jeder Mensch hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Anschläge."

Diese Formulierung wurde dann später fast wörtlich in den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 196688 (Art. 17) übernommen. Die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) aus dem Jahre 195089 verbürgt das Recht der 86

Hervorhebung verdient auch die Verankerung des Ehrenschutzes im Text der Staatsverfassung von Peru aus dem Jahre 1979 (zit. nach JöR 36 [1987], 641 ff.). Dort heißt es im Grundrechtskatalog des Art. 2: "Jeder hat ein Recht:... 5. AutEhre und guten Ruf auf persönliche und familiäre Intimsphäre und auf das eigene Bild. Jeder, der durch unrichtige oder belastende Behauptungen, die in einem der gesellschaftlichen Kommunikationsmittel veröffentlicht werden, in seiner Ehre verletzt wird, hat ein Recht auf kostenlose Richtigstellung, unbeschadet der gesetzlichen Verantwortlichkeit." 87 Zit. nach Sartorius II (Internationale Verträge - Europarecht), Nr. 19. 88

Zit. nach Sartorius II (Internationale Verträge - Europarecht), Nr. 20. - Eine ähnliche Formulierung findet sich auch in Art. 11 der American Convention on Human Rights von 1969 (Text bei F. Hartung/G. Commichau [Hrsg.], Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 5. Aufl. 1985, S. 306 ff.). 89 Zit. nach Sartorius II (Internationale Verträge - Europarecht), Nr. 130. - Die EMRK wurde in der Bundesrepublik Deutschland mit Gesetz vom 07. August 1952 (BGBl. II S. 685, 953) für direkt anwendbares Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes erklärt und ist als solches seit dem 03. September 1953 in Kraft (vgl. die Bekanntmachung vom 15. Dezember 1953, BGBl. 1954 II S. 14). Auch wenn sie danach nicht den Rang von Verfassungsrecht genießt, so ändert dies doch nichts an ihrer sachlichen Bedeutung; nach der Rechtsprechung des

II. Wertentscheidung für den Schutz der Ehre auf Verfassungsebene

35

persönlichen Ehre zwar nicht ausdrücklich. Indem sie aber (unter anderem) solche Einschränkungen der Meinungsfreiheit zuläßt, die "in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse... des Schutzes des guten Rufes ... unentbehrlich sind" (Art. 10 Abs. 2), bringt sie den besonderen Wert dieses Rechtsgutes gleichwohl zum Ausdruck. Im ganzen zeigt sich, daß die Ehre des Menschen heute sicherlich zu den verfassungsrechtlichen Fundamentalrechten des einzelnen zu zählen ist und daß dieses sachliche Gewicht mehr und mehr auch textlich erkennbar wird. Die Durchsicht des geschichtlichen Verfassungstextmaterials hat freilich auch erkennen lassen, daß das Recht der persönlichen Ehre in den "klassischen" Katalogen der Menschen- und Bürgerrechte noch nicht enthalten war. Dies kann indessen nicht verwundern. Historisch gesehen sind die Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat entstanden90. Gefahren drohen dem Rechtsgut "Ehre" erfahrungsgemäß aber vor allem von Seiten privater Dritter. Hinzu kommt, daß Ehrverletzungen regelmäßig durch (herabsetzende) Äußerungen erfolgen 91, also durch die Ausübung gerade jener Freiheiten, deren Gewährleistung zu den Hauptanliegen klassischer Grundrechtsnormierungen gehörte. Solange die Freiheit der Meinungsäußerung noch nicht verwirklicht war, konnte der Ehrenschutz mithin auf Verfassungsebene nicht aktuell werden.

Bundesverfassungsgerichts sind Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK bei der Auslegung des Grundgesetzes in Betracht zu ziehen, und dient insoweit auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, vgl. BVerfGE 74, 358, 370 (Unschuldsvermutung im Privatklageverfahren); ebenso Al Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 278. 90

Auf diese ursprüngliche und auch heute noch primäre Bedeutung der Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht im "Lüth-Urteil" (BVerfGE 7,198, 204 f.) hingewiesen: Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme von Grundrechten in die Verfassungen der einzelnen Staaten geführt haben. Diesen Sinn haben auch die Grundrechte des Grundgesetzes, das mit der Voranstellung des Grundrechtsabschnitts den Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates betonen wollte." In diesem Sinne auch BVerfGE 50,290,337 (Mitbestimmung). 91

Vgl. Κ Α. Bettermann, JZ 1964, 601, 609; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140 f.; ders., NJW 1983, 1400, 1401 f.; ähnlich auch schon H. Ridder, JZ 1961, 537,539. 3

36

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

Seit jedoch die Kommunikationsgrundrechte allgemein als für die demokratische Ordnung eines Gemeinwesens "schlechthin konstituierend"92 angesehen werden und heute gleichsam zum "Standard" moderner Verfassungsstaaten zählen, hat auch der Schutz der persönlichen Ehre zunehmend verfassungsrechtliche Bedeutung erlangt - zunächst als ausdrückliche Schranke der Meinungs(äußerungs)freiheit, deren Ausübung (namentlich angesichts neuartiger technischer Verbreitungsformen mit nahezu unbegrenzter Reichweite) eine immer größere Gefahr für die persönliche Ehre anderer darstellt, dann aber auch als eigenständiges Grundrecht. Diese Aufwertung des Rechts der persönlichen Ehre steht zugleich in unmittelbarem Zusammenhang mit der allgemeinen Aufwertung des Persönlichkeitsschutzes bis hin zur Anerkennung eines "allgemeinen Persönlichkeitsrechts". So wie der verfassungsrechtliche "Schutz der Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Beziehung"93 überhaupt immer mehr in den Vordergrund gerückt ist, hat auch das Rechtsgut "Ehre" inzwischen eine grundrechtliche Dimension bekommen.

I I I . Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

Um wirksam werden zu können, bedarf das grundgesetzlich verbürgte Recht der persönlichen Ehre der rechtlichen Ausgestaltung auf unterverfassungsrechtlicher Ebene94. Die Verfassung selbst vermag nur das "Leitbild" dieses Schutzguts zu normieren, "konkrete Gestalt" erlangt es erst durch die ausgestaltende Tätigkeit des Gesetzgebers95. Durch Schaffung einzelner Rechtsinstitute oder (und) ganzer Normenkomplexe auf den verschiedenen Teilgebieten des Rechts muß er dafür sorgen, daß der einzelne Rechtsgutsträger jederzeit in der Lage ist, unzulässige Eingriffe in seine persönliche Ehre abzuwehren, besser noch, daß er von solchen Angriffen nach Möglichkeit überhaupt verschont bleibt. Nur so kann die verfassungs92

BVerfGE 7,198,208 (Lüth).

93

BVerfGE 27,344,351 (Scheidungsakten I).

94

Zur gesetzgeberischen Funktion der (Grundrechts-)Ausgestaltung siehe vor allem P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 180 ff., und Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 303 ff. 95 Vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 182.

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

37

rechtliche Wertentscheidung für den Ehrenschutz Wirklichkeit gewinnen, wird die Verfassung in einem spezifischen Sinn "aktualisiert1196.

1. Strafrechtlicher Ehrenschutz

Auf strafrechtlichem Gebiet wird das Rechtsgut der persönlichen Ehre durch die Bestimmungen der §§ 185 ff. StGB geschützt. Dieser (14.) Abschnitt des Strafgesetzbuchs umfaßt als Straftatbestände die einfache und die tätliche Beleidigung (§ 185 StGB), die üble Nachrede (§ 186 StGB), die Verleumdung (§ 187 StGB), die sogenannte politische Ehrabschneidung (§ 187 a StGB als Qualifikation zu §§ 186,187 StGB) und die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB). Innerhalb der §§ 186,187 StGB sind als Erschwerungsgründe die Fälle genannt, in denen die Tat öffentlich, durch Verbreiten von Schriften (§11 Abs. 3 StGB) oder - nur im Falle des § 187 StGB - in einer Versammlung begangen wird. Als ergänzende Bestimmungen enthalten die §§ 190 und 192 StGB Regeln über den Wahrheitsbeweis, § 193 StGB normiert für den Bereich der Beleidigungsdelikte den besonderen Rechtfertigungsgrund 97 der "Wahrnehmung berechtigter Interessen", und § 199 StGB eröffnet dem Richter im Falle wechselseitiger Beleidigungen die Möglichkeit, einen oder beide Täter für straffrei zu erklären 98. Nach § 200 StGB ist in bestimmten Fällen auf Antrag die öffentliche Bekanntmachung der Verurteilung anzuordnen. Einigkeit besteht darüber, daß das geschützte Rechtsgut der §§ 185 ff. StGB die persönliche Ehre ist99. Inhalt und Grenzen dieses (Rechts-)Begriffs werden in der Strafrechtswissenschaft dagegen höchst kontrovers dis-

96

Dazu P. Häberle, ebd., S. 184 f.

97

Der rechtfertigende Charakter des § 193 StGB wird (vor allem im zivilrechtlichen Schrifttum) zum Teil verneint, vgl. etwa H. Westermann, JZ 1960, 692, 693; G. Erdsiek, NJW 1966,1385,1386 ff.; ders., JZ 1969, 311, 314 ff.; ders., in: FS für R. Reinhardt, 1972, S. 69, 71 ff.; Eike Schmidt, JZ 1970, 8, 9 ff.; H. Roeder, in: FS für E. Heinitz, 1972, S. 229, 240; P. Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 259. 98 Ausführlich zur ratio legis der §§ 199, 233 StGB W.-H. Kiehl, Strafrechtliche Toleranz wechselseitiger Ehrverletzungen, 1986. 99

Zu den wenigen Versuchen, den Beleidigungstatbeständen ein anderes Rechtsgut als die Ehre zugrunde zu legen, vgl. J. Tenckhoff\ Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 16 ff.

38

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

kutiert 100. Beleidigungsfähig ist nach allgemeiner Meinung jede natürliche Person101. Sie kann von der Beleidigung sowohl individuell als auch unter einer Kollektivbezeichnung erfaßt werden, letzteres allerdings nur, wenn die Kollektivbezeichnung den betroffenen Personenkreis so klar umgrenzt, daß er deutlich aus der Allgemeinheit hervortritt und die Zuordnung des einzelnen als möglicher Betroffener nicht zweifelhaft ist 102 . Umstritten ist, ob auch Personengesamtheiten als solche beleidigungsfähig sind. Aus § 194 Abs. 3 und 4 StGB folgt, daß jedenfalls Behörden, Kirchen, Gesetzgebungsorgane und politische Körperschaften beleidigt werden können103. Die Rechtsprechung geht heute darüber hinaus und billigt Kollektiven generell strafrechtlichen Ehrenschutz zu, wenn sie eine rechtlich anerkannte gesellschaftliche (auch wirtschaftliche) Aufgabe ("soziale Funktion") erfüllen und einen einheitlichen Willen bilden können104. Danach sind etwa auch 100

Vgl. dazu bereits den zusammenfassenden Uberblick oben I. - "Die Ehre ist das subtilste, mit den hölzernen Handschuhen des Strafrechts am schwersten zu erfassende und daher am wenigsten wirksam geschützte Rechtsgut unseres Strafrechtssystems." Dieser Satz R Maurachs (Deutsches Strafrecht, Besonderer Teil, 1. Aufl. 1952, S. 100; vgl. jetzt auch R Maurach/ F.-C. Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 1, 6. Aufl. 1977, § 24 I 1) spiegelt die Schwierigkeiten bei der begrifflichen Erfassung des Rechtsguts Ehre besonders anschaulich wider. H. J. Hirsch (Ehre und Beleidigung, 1967, S. 5 mit Fn. 16) meint sogar, der Streit um den Ehrbegriff habe zeitweilig das Bild eines "bellum omnium contra omnes" geboten. 101 Siehe Th. Lenckner, in: A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 23. Aufl. 1988, Vorbemerkungen zu den §§ 185 ff., Rn. 2 m.w.N., auch zur Beleidigungsfähigkeit von Kindern und Geisteskranken. - Im Hinblick auf die Strafvorschrift des § 189 StGB über die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener ist streitig, ob das geschützte Rechtsgut dieser Bestimmung die Ehre des Toten oder das Pietätsgefühl überlebender Angehöriger und der Allgemeinheit ist. Für die erstgenannte Ansicht (vgl. etwa H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 125 ff.; H. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 305; H. Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 2. Aufl. 1984, S. 115 f.) spricht, daß jedenfalls der durch Art. I Abs. 1 GG garantierte Kern menschlicher Ehre auch nach dem Tode des Betroffenen noch gegen Eingriffe geschützt werden muß, siehe BVerfGE 30,173,194 (Mephisto). 102 Vgl. BGHSt 2,38,39 (Entnazifizierungsbeteiligte); 11,207,208 (Die Juden); 14,48,49 f. (Landtagsfraktion); 19, 235, 236 ff. (Call-Girl-Ring II); 36, 83, 85 ff. (Gigantische Mordmaschinerie); BGHZ 75,160, 163 f. (Verfolgungsschicksal); KG JR 1978, 422, 423; OLG Düsseldorf MDR 1981, 868, 868; R Lamprecht, ZRP 1973, 215, 217; H. Wagner, JuS 1978, 674, 677; Κ Geppert, Jura 1983,530, 538 ff.; H. Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 2. Aufl. 1984, S. 104; G. Küpper, JA 1985, 453,455; /. Tenckhoff, JuS 1988,457,459 f.; Κ Dau, NJW 1988,2650,2651 f., 2653; einschränkend G. Arzt, JZ 1989,647,647 f. 103

Zur Beleidigungsfähigkeit der Bundeswehr (als Institution) siehe BGHSt 36, 83, 88 (Gigantische Mordmaschinerie). 104 Siehe BGHSt 6, 186, 191 (GmbH als Verlegerin einer Tageszeitung). - Zustimmend etwa R Maurach/F.-C. Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 1, 6. Aufl. 1977, § 24 II B; G. Küpper, JA 1985,453,455; Th. Lenckner, in: A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch,

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

39

politische Parteien105, Gewerkschaften 106 oder Arbeitgeberverbände 107, um nur einige am politischen Leben herausragend beteiligte Personengemeinschaften zu nennen, als strafrechtlich beleidigungsfähig anzusehen108 1 0 9 . Allen Beleidigungstatbeständen ist ihr Charakter als Kundgabedelikt gemeinsam: Ehrangriffe müssen nach außen gerichtet und zur Kenntnisnahme durch andere bestimmt sein110. Durch welche Handlung die Kundgabe geschieht, ist gleichgültig; es kommen nicht nur wörtliche Äußerungen, sondern namentlich auch symbolische Handlungen111 oder Tätlichkeiten (§ 185,2. Alternative StGB) in Betracht. Die Ehrverletzung kann in einer Tatsachenbehauptung oder in einem Werturteil liegen. Diese Unterscheidung spielt vor allem für das Verhältnis der einzelnen Beleidigungsdelikte zueinander eine wichtige Rolle. Die AbKommentar, 23. Aufl. 1988, Vorbemerkungen zu den §§ 185 ff., Rn. 3; /. Tenckhoff, JuS 1988, 457, 457 ff.; Κ Dau, NJW 1988, 2650, 2652; ablehnend oder einschränkend z.B. Arthur Kaufmann, ZStW 72 (1960), 418, 423 ff.; P.E. Krug, Ehre und Beleidigungsfähigkeit von Verbänden, 1965, S. 203 ff.; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 91 ff.; H. Wagner, JuS 1978, 674,676 f. 105

Vgl. OLG Düsseldorf MDR 1979,692,692; LG Würzburg NJW 1959,1934,1934.

106

Siehe BGH (Z) NJW 1971,1655,1655 (Sabotagevorwurf).

107

In diesem Sinne wohl BGHSt 6,186,190 (GmbH als Verlegerin einer Tageszeitung).

108

Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung: OLG Düsseldorf NJW 1966, 1235, 1235 (Kreistage, Stadt- und Gemeinderäte); OLG Frankfurt NJW 1977, 1353,1353 (Mannheimer Polizei); OLG Köln NJW 1979, 1723, 1723 (Kapitalgesellschaft als Inhaberin einer Bank); beachte auch § 90 b StGB. 109

Vgl. dazu auch schon Robert v.Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, 1932, S. 218 Fn. 3: "Jeder brauchbare Verband hält auf seine Ehre." 110 Siehe RGSt 71,159,160; 73, 385, 385; BayObLG NJW 1962,1782,1783; Κ Ritze, JZ 1980, 91, 91; G. Küpper, JA 1985, 453, 455 f.; /. Wessels, Strafrecht, Besonderer Teil-1, 12. Aufl. 1988, § 10 II 1; /. Tenckhoff, JuS 1988, 787,788. - Zur umstrittenen Frage, ob vertrauliche Äußerungen im engsten Familienkreis eine Kundgabe in diesem Sinne sind, vgl. z.B. OLG Oldenburg GA 1954, 284, 284 f. (keine Kundgabe); R Maurach/F.-C. Schroeder, Strafrecht, Besonderer Teil, Teilbd. 1, 6. Aufl. 1977, δ 24 III D (kein Kundgabevorsatz); /. Wessels, Strafrecht, Besonderer Teil-1,12. Aufl. 1988, δ 10 II 2 (teleologische Reduktion auf Tatbestandsebene); RGSt 71,159,164; H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71, 87 f. (Abwägung des Ausspracheinteresses des sich Äußernden im Intimkreis und des Schutzinteresses des in seiner Ehre Beeinträchtigten im Rahmen des δ 193 StGB); Th. Lenckner, in: A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 23. Aufl. 1988, Vorbemerkungen zu den δδ 185 ff., Rn. 9 (Strafausschließungsgrund); zusammenfassender Überblick bei Κ Geppert, Jura 1983,530,533 f.; siehe auch BGHZ 89,198,203 f. (Kleiner Kreis) m.w.N. 111

1073.

Etwa Tippen an die Stirn ("Kraftfahrergruß"), vgl. OLG Düsseldorf NJW 1960, 1072,

40

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

grenzung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil kann allerdings wegen der fließenden Übergänge im Einzelfall durchaus problematisch sein, obwohl über die relevanten Kriterien an sich Einigkeit besteht. Danach liegt eine Tatsachenbehauptung vor, wenn der Gehalt der Äußerung einer objektiven Klärung zugänglich ist und als etwas Geschehenes dem Beweis offensteht; ein Werturteil ist hingegen anzunehmen, wenn die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Behauptung Sache persönlicher Überzeugung (eben "Ansichtssache"112) bleibt113. Während die Tatbestände der §§ 186,187 StGB das Behaupten oder Verbreiten ehrenrühriger Tatsachen gegenüber Dritten erfassen, fallen abwertende Tatsachenbehauptungen gegenüber dem Betroffenen selbst sowie sämtliche Angriffe auf die Ehre in Form von Werturteilen unter § 185 StGB. Im Hinblick auf die Bedeutung der Wahrheit oder Unwahrheit ehrenrühriger Tatsachenbehauptungen ist zu differenzieren: Bei der Verleumdung (§ 187 StGB) gehört die Unwahrheit zum Tatbestand; "wider besseres Wissen" bedeutet sichere Kenntnis des Täters, daß die Tatsache erweislich falsch ist. Bei der üblen Nachrede (§ 186 StGB) ist die Unwahrheit der behaupteten Tatsache dagegen kein Tatbestandsmerkmal. Objektiv genügt, daß die Tatsache nicht erweislich wahr ist. Zudem ist die Nichterweislichkeit der Wahrheit nach herrschender Meinung114 nur objektive Strafbarkeitsbedingung, so daß sich der Vorsatz des Täters auf sie nicht zu beziehen braucht; den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllt daher auch, wer die ehrenrührige Tatsache für wahr hält und (unter Umständen schuldlos) irrig annimmt, die Wahrheit sei auch nachweisbar115. Umstritten ist, welche Bedeutung der Wahrheitsbeweis im Rahmen des § 185 StGB hat. Nach einer Ansicht ist die Unwahrheit der gegenüber dem Verletzten erfolgten Tatsachenbehauptung (ungeschriebenes) Tatbestandsmerkmal, das vom Vorsatz des Täters erfaßt sein muß; danach scheidet bei Gutgläubigkeit des Täters eine Verurteilung nach § 185 StGB auch dann aus, wenn sich nicht klären 112

G.Arzt y JuS 1982,717,719.

113

So die Formulierung von H. Otto, JR 1983,1,5.

114

Vgl. RGSt 65, 422, 425; 69, 80, 81; BGHSt 11, 273, 274 (Mieter); Th Lenckner, in: A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 23. Aufl. 1988, § 186, Rn. 10 m.w.N.; a.A. vor allem H. /. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 168 ff. (zustimmend E. A. Wolff \ ZStW 81 [1969], 886, 906 ff.), und H Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 313 f., die den Tatbestand des § 186 StGB nur dann als erfüllt ansehen, wenn der Täter sich in bezug auf die Wahrheit der Äußerung sorgfaltswidrig verhalten hat. 115

Siehe/. Tenckhoff,

JuS 1988,618,622 f.

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

41

läßt, ob die behauptete Tatsache wahr oder unwahr ist 116 . Nach anderer Ansicht ist es dagegen nicht nur im Bereich des § 186 StGB, sondern auch in dem des § 185 StGB irrelevant, ob der Täter seine ehrverletzende Behauptung für wahr gehalten hat; maßgeblich soll sein, ob sie erweislich wahr ist. Nach dieser Auffassung schließt nur der gelungene Wahrheitsbeweis die Ehrverletzung aus117. Von besonderem Interesse für den strafrechtlichen Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung ist die gegenüber §§ 186,187 StGB qualifizierte Strafbarkeit der üblen Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens gemäß § 187 a StGB 118 . Tatbestandliche Besonderheiten dieser sogenanntenpolitischen Ehrabschneidung sind objektiv der geschützte Personenkreis (Personen, die im politischen Leben des Volkes stehen119) sowie die Eignung der Tat, das öffentliche Wirken des Beleidigten erheblich zu erschweren120, und subjektiv das besondere Tatmotiv (Beweggründe, die mit der Stellung des Beleidigten im öffentlichen Leben zusammenhängen121). Kriminalpolitische Zielsetzung des 1951122 in das Strafgesetzbuch eingefügten § 187 a StGB war es, der Vergiftung des öffentlichen Lebens durch Ehrabschneidung und Verunglimpfung anderer sowie der Verhetzung im politischen Kampf entgegenzuwirken. Mit Rücksicht auf das erhöhte Vertrauen, dessen im öffentlichen Leben stehende Personen bedürfen, sollte Entartungen des politischen Lebens entgegengetreten und damit zugleich eine Besserung der politischen Sitten erreicht wer-

116

So etwa BayObLG NJW 1959, 57, 57 f.; OLG Köln NJW 1964, 2121, 2122; OLG Koblenz MDR 1977, 864, 864; Th. Lenckner, in: A. Schönke/H. Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 23. Aufl. 1988, § 185, Rn. 6 m.w.N. 117

So etwa OLG Frankfurt (Z) MDR 1980, 495, 495; F. Härtung, NJW 1959, 640, 640 f.; ders., NJW 1965,1743,1744 ff.; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 204 ff.; H. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 310; H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71,83 f.; ders., JR1983,1,5;/. Tenckhojf, JuS 1989,35,36 f. m.w.N. 118

Eingehend zum Straftatbestand des § 187 a StGB U. Bräuel, Ehrverletzung und Ehrenschutz im politischen Leben, 1984. 119 Zu den Einzelheiten vgl. BayObLG NJW 1982, 2511,2511 f., und OLG Frankfurt NJW 1981,1569,1569. 120 Vgl. dazu BGH MDR 1980, 455, 455 (§ 187 a StGB), und BGH NStZ 1981, 300, 300 (Verleumdung einer Person des politischen Lebens).

121

Dazu näher BGHSt 4,119,121 (Ministerpräsident und Sekretärin); 9,187,189 (Hetze gegen Deutschland und seine Soldaten); OLG Düsseldorf NJW 1983,1211,1212. 122

Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 (BGBl. IS. 739).

42

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

den123. Diese Erwartungen wurden durch das tatsächliche Geschehen freilich kaum erfüllt 124.

Die Rechtswidrigkeit einer Ehrverletzung kann zum einen durch das Eingreifen allgemeiner Rechtfertigungsgründe, insbesondere im Falle der Notwehr 125 oder aufgrund wirksam erteilter Einwilligung126, ausgeschlossen sein127. Zum anderen normiert § 193 StGB für den Bereich der Beleidigungsdelikte besondere Rechtfertigungsgründe, die dem Prinzip der Güterund Interessenabwägung folgen 128 und deren sachlicher Gehalt durch die verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen des Art. 5 GG mitbestimmt wird, soweit es um Fragen der öffentlichen Meinungsbildung oder der Kunstausübung geht129. Der wichtigste in § 193 StGB enthaltene Fall ist die "Wahrnehmung berechtigter Interessen". Für das Eingreifen dieses Rechtfertigungsgrundes lassen sich mehrere allgemeine Erfordernisse herausstellen: Zunächst muß der Ehrverletzung die Wahrnehmung eines rechtlich schutzwürdigen und sozialethisch billigenswerten Interesses gegenüberstehen, das den Täter nahe angeht. Sodann muß die beleidigende Äußerung zur Wahrnehmung des Interesses geeignet, erforderlich und vor allem auch angemessen sein. Im Fall ehrverletzender Tatsachenbehauptungen unterliegt der sich Äußernde einer in ihrem Ausmaß von den Umständen des Einzelfalles abhängigen Informationspflicht, so daß die Äußerung bewußt unwahrer oder leichtfertig aufgestellter Behauptungen nicht gerechtfertigt 123

Vgl. die Begründung zum Entwurf des Strafrechtsänderungsgesetzes, Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucks. Nr. 1307 vom 04. September 1950, S. 29,47 f. 124 So zu Recht U. Brauel, Ehrverletzung und Ehrenschutz im politischen Leben, 1984, S. 30, mit einer anschaulichen Dokumentation der Beleidigungskriminalität im politischen Leben, a.a.O., S. 96 ff. - Gleichwohl ist die Bedeutung des § 187 a StGB bei der Strafverfolgung denkbar gering; ausweislich der Statistik erfolgten in den Jahren 1975 bis 1985 insgesamt lediglich 79 (!) Verurteilungen nach dieser Bestimmung, in den Jahren 1986 und 1987 sogar keine einzige (Quelle: Statistisches Bundesamt, Rechtspflegestatistik, Fachserie 10, Reihe 3: Strafverfolgung). 125

126

Dazu BGHSt 3,217,218 (Erzkommunist). Dazu BGHSt 23,1,3 f. (Wille einer geisteskranken Frau). Vgl./. Tenckhoff, JuS 1989,198,198.

127

128

Siehe Κ Geppert, Jura 1985, 25,26 f.; /. Wessels, Strafrecht, Besonderer Teil-1,12. Aufl. 1988, § 11 V 2; /. Tenckhoff \ JuS 1989,198,198 m.w.N. - Zum Teil wird in der Literatur auch auf den Gedanken des "erlaubten Risikos" abgestellt, vgl. dazu etwa H.-H. Jescheck, Lehrbuch des129 Strafrechts, Allgemeiner Teil, 3. Aufl. 1978, S. 324 ff. m.w.N. in Fn. 6. Vgl. Κ Geppert, Jura 1985, 25, 27 m.z.N.; deutlich insoweit vor allem BGHSt 12, 287, 293 f. (Wahlkandidat). - Siehe im übrigen näher unten B.

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

43

wird. Schließlich muß die Äußerung auch subjektiv zur Wahrnehmung des berechtigten Interesses erfolgen 130. Die Beleidigungsdelikte sind als Antrags- und Privatlclagedelikte ausgestaltet, d.h. die Strafverfolgung findet nur auf Antrag des Verletzten statt (§ 194 StGB) und erfolgt grundsätzlich im Wege der Privatklage (§ 374 Abs. 1 Nr. 2 StPO), wenn nicht ausnahmsweise die Erhebung der öffentlichen Klage im öffentlichen Interesse liegt (§ 376 StPO). Dies bringt eine wesentliche Schwächung der Stellung des Verletzten mit sich131. Zum einen wird dem Privatkläger das Kostenrisiko des Ausgangs des Strafverfahrens aufgebürdet (§§ 379,471 StPO), zum anderen kommt es wegen des Zusammenhangs von Tatunrecht, Tatschuld und öffentlichem Interesse häufig zur Einstellung des Verfahrens nach § 383 Abs. 2 StPO 132 . In der Praxis hat sich aus diesem Grund "der Schwerpunkt der Auseinandersetzung(en) in zunehmendem Maß vom strafrechtlichen auf den zivilrechtlichen Sektor verlagert" 133.

2. Zivilrechtlicher Ehrenschutz

Im Zivilrecht stehen dem Opfer einer Beleidigung weitaus mehr und zum Teil unverkennbar attraktivere Möglichkeiten zur Verfügung. Wer sich in seiner Ehre verletzt sieht, kann frei wählen, ob er zum Schutz seiner Interessen den Strafrechtsweg (Privatklage) oder den Zivilrechtsweg - oder auch beide Verfahren zugleich - beschreiten möchte134. Ist der Zivilprozeß unter Kostengesichtspunkten mit dem Privatklageverfahren konkurrenzfähig, so fallen seine weiteren Vorzüge entscheidend ins Gewicht135.

130

Zu den Einzelheiten bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 193 StGB vgl. etwa H Otto, Grundkurs Strafrecht, Die einzelnen Delikte, 2. Aufl. 1984, S. 112 f.; Κ Geppert, Jura 1985,25,29 ff.; /. Tenckhoff, JuS 1989,198,200 ff. 131

Vgl. dazu Η: /. Hirsch, in: FS für R. Unge, 1976, S. 815 ff.

132

Eine solche Einstellung kann das Gericht "unmittelbar" beschließen oder die Einstellung baut auf einem mit dem Privatkläger und dem Angeklagten ausgehandelten Vergleich auf; siehe dazu sowie allgemein zum extrem hohen Einstellungs- und Kostenrisiko des Privatklägers G. Arzt, JuS 1982,717,724 m.w.N. 133

R Ricker, in: M. Löffler/R. Ricker, Handbuch des Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 263. Siehe R Ricker, ebd.

135

Vgl. G. Arzt, JuS 1982,717,724 f.

44

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

In verfahrensrechtlicher Hinsicht entfällt nicht nur das Risiko der Einstellung wegen Geringfügigkeit 136. Vor allem wird dem Verletzten im Zivilprozeß auch die Möglichkeit der Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes eröffnet; im Wege der einstweiligen Verfügung (§§ 935 ff. ZPO) kann er unter Umständen erreichen, daß durch alsbaldiges richterliches Eingreifen Schäden verhindert oder doch wenigstens in erträglichen Grenzen gehalten werden. Hinzu kommen die Vorteile auf materiellrechtlicher Ebene, und zwar sowohl im Hinblick auf die möglichen Rechtsfolgen widerrechtlicher Ehrverletzungen als auch, was deren Voraussetzungen betrifft. So kann der in seiner Ehre Betroffene vor den Zivilgerichten Ersatz seines materiellen und immateriellen137 Schadens fordern, die sogenannten "negatorischen" Ansprüche (Widerruf, Unterlassung) geltend machen und in bestimmten Fällen auch Bereicherungsausgleich oder Aufwendungsersatz verlangen; ergänzend stehen ihm diverse Hilfsansprüche sowie der medienrechtliche Gegendarstellungsanspruch zur Verfügung. Während das strafrechtliche Vorgehen des Verletzten ein vorsätzliches Handeln des Täters voraussetzt, haftet dieser im Zivilrecht schon bei Fahrlässigkeit auf Schadensersatz; die negatorischen Ansprüche sind sogar verschuldensunabhängig. Wegen des möglichen Rückgriffs auf das "allgemeine Persönlichkeitsrecht" kann der zivilrechtliche Rechtsschutz zudem auch bei Angriffen helfen, die strafrechtlich kaum mehr erfaßbar wären 138. Seine heutige Bedeutung für den Schutz der persönlichen Ehre hat das Zivilrecht allerdings erst im Laufe der Zeit erlangt. Das Bürgerliche Gesetzbuch schützt nach der ihm zugrunde liegenden Konzeption die Ehre des Menschen an sich nur mittelbar durch Anlehnung der zivilrechtlichen Haftung an Schutzgesetze außerhalb des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 823

136

Der Kläger kann daher viel freier entscheiden, ob er einen Vergleich akzeptieren will, als im Privatklageverfahren, wo er stets unter der (natürlich nicht immer expressis verbis ausgesprochenen) Drohung einer gerichtlichen Einstellung steht, die sogar noch im Berufungsverfahren erfolgen kann (§ 390 Abs. 5 StPO), vgl. G. Arzt, ebd., 724. 137

Die Zubilligung einer Geldentschädigung für zugefügten immateriellen Schaden kommt allerdings nur unter besonderen Voraussetzungen in Betracht, vgl. dazu sogleich. 138 Unabhängig vom Vorliegen einer Ehrverletzung schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht den einzelnen nämlich umfassend vor der Verfälschung oder Entstellung seines "Persönlichkeitsbildes". - Der Begriff "Persönlichkeitsbild" findet sich (soweit ersichtlich) erstmals in BGHZ 13, 334, 339 (Leserbrief), und umfaßt im Anschluß an Η Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 288 ff., das Erscheinungsbild, das Lebensbild, das Charakterbild und die Ehre einer Person.

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

45

Abs. 2 BGB) 139 ; Schadensersatz wegen Ehrverletzungen sollte ausschließlich 140 über die strafrechtlichen Bestimmungen der §§ 185 ff. StGB gewährt werden141. Während das Reichsgericht den Willen des historischen Gesetzgebers akzeptierte und einen Ehrenschutz aus § 823 Abs. 1 BGB in ständiger Rechtsprechung142 ablehnte, hat der Bundesgerichtshof das allgemeine Persönlichkeitsrecht schon früh 143 als "sonstiges Recht" im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannt144 und damit zugleich auch das Recht der persönlichen Ehre in den Schutzbereich dieser Bestimmung aufgenommen 145. Diese Entwicklung sowie der Ausbau des negatorischen Rechtsschutzes in Analogie zu § 1004 BGB 146 und die grundsätzliche Anerkennung der Verpflichtung zum Geldersatz auch für ideelle Schäden147 haben dazu geführt, daß der bürgerlich-rechtliche Ehrenschutz heute über die engen, im Bürgerlichen Gesetzbuch vorgezeichneten Grenzen weit hinausgeht148.

139

Siehe//. Stoll, Jura 1979,576,576.

140

Vernachlässigt wird insoweit der spezielle Schutz der "kaufmännischen Ehre" als Kredit sowie der Schutz der "Geschlechtsehre" der Frau durch §§ 824,825 BGB; in Extremfällen muß darüber hinaus auch an § 826 BGB gedacht werden. 141

Zur Behandlung des Ehrenschutzes in der Entstehungsgeschichte des Bürgerlichen Gesetzbuchs vgl. ausführlich W.-H. Bemotat, Die Beschränkung des Ehrenschutzes bei Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches und deren Auswirkungen für die Rechtsanwendung, 1976, S. 28 ff. 142 Von 1902 (RGZ 51,369,372 ff.) bis 1937 (RGZ156,372,374). 143

Seit BGHZ13,334,337 f. (Leserbrief).

144

Diese Rechtsprechung hat in der Folgezeit überwiegend Zustimmung erfahren, vgl. die Nachweise bei H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 5 f. mit Fn. 11. - Heute kann der Streit um die Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als erledigt betrachtet werden: "Es genügt festzustellen, daß das - vom Gesetzgeber des Bürgerlichen Gesetzbuchs noch abgelehnte - allgemeine Persönlichkeitsrecht sich im Lauf einer jahrzehntelangen Erörterung in der Wissenschaft durchgesetzt hat und ... nunmehr zum festen Bestandteil unserer Privatrechtsordnung geworden ist" (BVerfGE 34,269,281 [Soraya]). 145

Vgl. P. Schwerdtner, JuS 1978, 289, 289 f.; ders., in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1,2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 249. Schon das Reichsgericht hat es frühzeitig als ein "Gebot der Gerechtigkeit", bezeichnet, einem vom Gesetz geschützten Rechtsgut auch ohne Verschulden gegen objektiv rechtswidrige Eingriffe Schutz zu gewähren, und deshalb aus dem Rechtsgedanken der §§ 12,862,1004 BGB die Möglichkeit der "quasinegatorischen" Unterlassungsklage abgeleitet, vgl. RGZ 60, 6, 7; auch die "Ehre" wurde später ausdrücklich als Gegenstand einer solchen Klage anerkannt, siehe RGZ 82,59,62 f.; 156, 372,374. 147

Seit BGHZ 26,349,356 (Herrenreiter).

148

Vgl. H. Stoll, Jura 1979, 576, 576.

46

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

Zum geschützten Personenkreis gehören zunächst alle natürlichen Personen149. Problematisch ist insoweit nur, ob (und gegebenenfalls in welchem Umfang) das Recht der persönlichen Ehre auch über den Tod seines Trägers hinaus noch Wirkungen entfaltet. Nach zutreffender Ansicht150 endet der rechtliche Schutz der Persönlichkeit gemäß Art. 1 Abs. 1 GG 1 5 1 nicht mit dem Tod. Es wäre mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde unvereinbar, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Person(gewesen)seins zukommt, in diesem allgemeinen Wert- und Achtungsanspruch post mortem herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte 152. Deshalb muß das fortwirkende Lebensbild eines Verstorbenen (wenn auch nicht zeitlich unbegrenzt153) wenigstens gegen grobe, 149

Siehe z.B. P. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 101; ders:, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 205. - Zur Frage, ob Mindeijährigen mit Rücksicht auf ihre Persönlichkeit in bestimmten Bereichen schon vor Eintritt der Volljährigkeit ein eigener Verantwortungsbereich einzuräumen ist, vgl. BGH NJW 1974,1947,1949 f. (Nacktaufnahmen). 150 Vgl. dazu vor allem BVerfGE 30, 173, 194 (Mephisto); BGHZ 15, 249, 259 (Cosima Wagner); 50, 133, 136 ff. (Mephisto); BGH GRUR 1974, 797, 798 (Fiete Schulze); BGH MDR 1984, 997, 997 (Frischzellenkosmetik); angedeutet auch in BGHZ 26, 52, 68 (Sherlock Holmes); siehe ferner G. Dürig, AöR 81 (1956), 117,126; ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. I (1958), Rn. 26; H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 340, 344; A. Heldrich, in: FS für H. Lange, 1970, S. 163,166 ff.; A. Buschmann, NJW 1970, 2081, 2082 f.; G. Küchenhoff, in: FS für W. Geiger, 1974, S. 45, 49 ff.; /. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1, Rn. 7; Ch Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1, Rn. 14; B. Rüthers/M. Berghaus, JZ 1987,1093,1095 mit Fn. 19; weitere Nachweise bei P. Nikoletopoulos, Die zeitliche Begrenzung des Persönlichkeitsschutzes nach dem Tode, 1984, S. 57 ff.; kritisch P. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordi\ung, 1977, S. 101 ff.; ders. y JuS 1978,289, 292; ders., in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 208 ff.; P. Nikoletopoulos, a.a.O., S. 92 ff.; ihnen (wohl) folgend Κ Lorenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl. 1989, S. 130 mit Fn. 19 und 19a; einschränkend auch P. Häberle, Rechtstheorie 11 (1980), 389, 401 f., 419; ders., in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815,822 f. Rn. 9 ("Nachwirkung" der Menschenwürde). 151

Während der Bundesgerichtshof zunächst auch noch Art. 2 Abs. 1 GG miteinbezogen hatte (vgl. BGHZ 50,133,138 f. [Mephisto]), beschränkte das Bundesverfassungsgericht den postmortalen Schutz der Persönlichkeit von vornherein auf Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 30,173,194 [Mephisto]); so jetzt auch BGH MDR 1984,997,997 (Frischzellenkosmetik). 152 153

Vgl. BVerfGE 30,173,194 (Mephisto).

Die Dauer des "postmortalen Persönlichkeitsschutzes" hängt von der Intensität der Persönlichkeitsverletzung ab, vgl. H. Schack, JZ 1987, 776, 111', B. Rüthers/M. Berghaus, JZ 1987, 1093,1095. - So ist etwa Klaus Manns Roman "Mephisto" trotz des Verbots seiner Veröffentlichung durch Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20. März 1968 (BGHZ 50, 133 ff.) und der

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

47

d.h. in den durch Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten Kern menschlicher Ehre eingreifende Entstellungen geschützt werden. § 189 StGB stellt dementsprechend die Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener unter Strafe 154 . Neben den natürlichen Personen genießen (mit gewissen Einschränkungen) auch Personengesamtheiten zivilrechtlichen Ehrenschutz. Während Persönlichkeitsrechte, die mit dem Menschsein unmittelbar verbunden sind (Menschenwürde, Leben, Körper, Gesundheit usw.), juristischen Personen oder sonstigen Verbänden von vornherein nicht zukommen können155, nehmen sie am Persönlichkeitsschutz im übrigen durchaus teil 156 . Gerade der Ehrenschutz kann für die Funktiönsfähigkeit einer Personenvereinigung von entscheidender Bedeutung sein. Sie kann einen guten Ruf haben und soziales Ansehen genießen. Die (funktionsspezifische) Gewährleistung dieser Positionen durch die (Zivil-)Rechtsordnung ist daher unerläßlich, Bestätigung dieses Verbots durch Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 1971 (BVerfGE 30,173 ff.) Ende 1980,17 Jahre nach Gustaf Gründgens* Tod, unbeanstandet wieder auf den Markt gekommen und dann auch verfilmt worden (siehe dazu Κ Kastner, NJW 1982, 601 ff.); daß das Verbot nicht ad infinitum wirken werde, hatte freilich auch schon der Bundesgerichtshof in Erwägung gezogen (vgl. BGHZ 50,133,140 f.). 154

Zur Kontroverse um das geschützte Rechtsgut des § 189 StGB siehe bereits oben Fn. 101. 155 Siehe H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 335; P. Schwerdmer, JuS 1978,289,292; vgl. auch H. Leßmann, AcP 170 (1970), 266,268 ff., 273 ff. 156 Vgl. etwa BGHZ 78,24, 25 f. (Medizin-Syndikat I); 78,274, 278 f. (Scientology); 81, 75, 78 (Carrera); 98,94, 97 ff. (BMW - Bums Mal Wieder); BGH NJW 1971,1655,1655 (Sabotagevorwurf); BGH NJW 1974,1762,1762 (Deutschland-Stiftung); BGH NJW 1975,1882,1883 (Der Geist von Oberzell); BGH NJW 1980, 1685, 1685 (Straßen- und Autolobby); BGH GRUR 1981, 80, 83 (Medizin-Syndikat IV; insoweit nicht in BGHZ 78, 22 ff. abgedruckt); BGH NJW 1981, 2117, 2119 (Brutaler Machtmißbrauch); BGH NJW 1982, 2246, 2246 (Illegale Kassenarztpraxen); M. Brauer, Das Persönlichkeitsrecht der juristischen Person, 1962, S. 38 ff.; H. Leßmann, AcP 170 (1970), 266, 271 ff.; P. Schwerdmer, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 214 m.w.N.; ausführlich zuletzt auch D. Klippel, JZ 1988, 625, 625 ff. m.z.N. - Welche Persönlichkeitsrechte im Einzelfall in Betracht kommen, hängt freilich nicht zuletzt vom Tätigkeitsbereich und von den schutzwürdigen Interessen des jeweiligen Verbandes ab (vgl. H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 335; A. Kraft, in: FS für H. Hubmann, 1985, S. 201, 215 ff.). Auch Inhalt und Grenzen der für eine Personenvereinigung in Frage kommenden Persönlichkeitsrechte sind in erster Linie daran zu orientieren. So tritt etwa im Bereich der gewerblichen Wirtschaft an die Stelle des Namensrechts der Firmenschutz oder an die Stelle des Schutzes der Privat- und Intimsphäre der Schutz der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse sowie sonstiger vertraulicher Angelegenheiten (siehe P. Schwerdmer, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 122; ders., JuS 1978,289, 292).

1. Teil:

48

Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

um (rechtlich anerkannten) Personengemeinschaften eine angemessene Zweckverfolgung zu sichern157. Die Ehre einer Person kann durch herabsetzende Behauptungen tatsächlicher Art oder durch ehrenrührige wertende Kritik beeinträchtigt werden158. Auch für den zivilrechtlichen Ehrenschutz ist die Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil 159 von größter Bedeutung. Zum einen werden im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 GG (vor allem im politischen Meinungskampf) unterschiedliche Anforderungen an die Zulässigkeit ehrverletzender Werturteile und Tatsachenbehauptungen gestellt160, zum anderen hat die Rechtsprechung die Zubilligung bürgerlich-rechtlicher Widerrufsansprüche 161 auf die Abwehr herabsetzender Tatsachenbehauptungen beschränkt162. Bloße Werturteile können hingegen mit der Wi157

In diesem Sinne auch H. Leßmann, AcP 170 (1970), 266, 288 f. - Nach der Rechtsprechung kommt es allerdings nicht darauf an, ob die Personenvereinigung im konkreten Einzelfall diesen Schutz zur Verwirklichung ihres Zwecks tatsächlich benötigt; maßgebend soll allein sein, ob ihr Ansehen in der Öffentlichkeit durch rufschädigende Aussagen betroffen ist, vgl. BGHZ 78,24,26 (Medizin-Syndikat I); BGH GRUR 1981,80, 83 (Medizin-Syndikat IV; insoweit1 nicht «fi in BGHZ 78,22 ff. abgedruckt). Weiter differenzierend H Weitnauer, DB 1976, 1365, 1413, 1367 f., mit anschaulichen Beispielen; ihm folgend P. Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1,2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 252 mit Fn. 1016. 159

Zur Abgrenzung siehe bereits oben 1. - Aus der (nicht immer überzeugenden) Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu dieser Frage vgl. etwa BGH NJW 1965,35,36 (Ventilatorschöpfung); BGH NJW 1970, 187, 189 (Hormoncreme); BGH GRUR 1975, 89, 91 (Brüning-Memoiren I); BGH NJW 1975,1882,1883 (Der Geist von Oberzell); BGH GRUR 1977, 801, 802 f. (Halsabschneider); BGH NJW 1978, 751, 751 f. (Sachverständigengutachten); BGH NJW 1981, 1089, 1095 (Der Aufmacher I; insoweit nicht in BGHZ 80, 25 ff. abgedruckt); BGH NJW 1982, 2246, 2246 f. (Illegale Kassenarztpraxen); BGH NJW 1982, 2248, 2248 f. (Betrugsvorwurf); BGH NJW 1985,1621,1622 (Gastarbeiterflüge I); BGH NJW 1987, 1398,1399 (Kampfanzug unter der Robe); BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt); BGH NJW 1988, 1589, 1589 f. (Mit Verlogenheit zum Geld). - Im zivilrechtlichen Schrifttum wird zum Teil scharfe Kritik an der Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptung und Werturteil geübt, siehe dazu Η Stoll, Jura 1979,576,578 f. m.w.N. 160 Vgl. dazu sogleich. 161

Zum Widerruf ehrkränkender Behauptungen im öffentlichen Recht vgl. W Berg, JuS 1984, 521, 521 ff.; allgemein zum Ehrenschutz im öffentlichen Recht W. Frotscher, JuS 1978, 505, 505 ff.; zur spezielleren Problematik des Rechtsschutzes gegen "Rundfunk-Rufmord" Κ Α. Bettermann, NJW 1977, 513, 513 ff.; zum Rechtsschutz gegen Ehrverletzungen durch Richter G. Hager, NJW 1989,885,885 ff. 162

Siehe BGHZ 10,104,105 f. (Beleidigende Briefe); 65, 325,337 (Warentest II); 99,133, 138 (Oberfaschist); BGH NJW 1961, 1913, 1914 (Honoraivereinbarung); BGH NJW 1965, 35,36 (Ventilatorschöpfung); BGH NJW 1965,294,295 (Volkacher Madonna); BGH GRUR

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

49

derrufsklage selbst dann nicht bekämpft werden, "wenn die in ihnen zum Ausdruck kommende Kritik nicht haltbar ist"163. Ansprüche auf Widerruf ehrverletzender Tatsachenbehauptungen können sowohl als Maßnahme der Naturalrestitution (§§ 823, 249 BGB) 164 als auch unter dem Gesichtspunkt der Beseitigung eines fortwirkenden rechtswidrigen Störungszustandes (§ 1004 BGB analog) gerechtfertigt sein165. Die Gewährung dieses besonderen Rechtsbehelfs ist nach der Rechtsprechung jedoch davon abhängig, daß die Unwahrheit der beanstandeten Behauptung feststeht 166. Wenn sich nicht klären läßt, ob die behauptete Tatsache wahr oder unwahr ist, soll der Angreifer allenfalls zu der Erklärung gehalten sein, daß er den erhobenen Vorwurf nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht aufrechterhalten könne. Auch ein solcher einge-

1974, 797, 798 (Fiete Schulze); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1978, 751, 751 (Sachverständigengutachten); BGH NJW 1982, 2246, 2246 (Illegale Kassenarztpraxen); BGH NJW 1988,1589,1589 (Mit Verlogenheit zum Geld); BGH NJW 1989,774, 774 (Widerruf einer ärztlichen Diagnose). - Die Literatur ist dem überwiegend gefolgt, vgl. z.B. E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 30; ders., DRiZ 1970, 157, 157; H. Weitnauer, DB 1976, 1365, 1413, 1416; im Ergebnis auch P. Schwerdmer, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 313 ff.; a.A. /. Prien, Naturalrestitution als Schadensersatz bei deliktischer Verletzung der Ehre, 1985, S. 134 ff., für den der Widerruf auch zur Beseitigung ehrenrühriger Werturteile in Betracht kommt; weitergehend (wohl) auch R Reinhardt, in: FS für H. Lange, 1970, S. 195,197 f. 163 BGH NJW 1982, 2246, 2246 (Illegale Kassenarztpraxen); ähnlich auch schon BGH NJW 1965,294,295 (Volkacher Madonna), und BGH GRUR 1974,797,798 (Fiete Schulze). 164 Ausführlich dazu/. Prien, Naturalrestitution als Schadensersatz bei deliktischer Verletzung der Ehre, 1985, S. 118 ff. 165 Vgl. bereits BGH NJW 1953,1386,1386 (Beleidigende Briefe; insoweit nicht in BGHZ 10,104 ff. abgedruckt); ebenso//. Hubmann, JuS 1963, 98,100; H Weitnauer, DB 1976,1365, 1413, 1416; P. Schwerdmer, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 313; ders., JuS 1978, 289, 298; H. Stoll, Jura 1979, 576, 583; Κ Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 308. - Die deliktische Begründung ist freilich in der Praxis zunehmend in den Hintergrund gerückt, da der (verschuldensunabhängige) negatorische Widerrufsanspruch für den Betroffenen regelmäßig günstiger ist, vgl. E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 30; P. Schwerdmer, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 337. 166

Siehe BGHZ 37, 187,189 (Eheversprechen); 65, 325, 337 (Warentest II); 69, 181, 182 (Tätlichkeiten); 99, 133, 138 (Oberfaschist); BGH NJW 1965, 35, 36 (Ventilatorschöpfung); BGH VersR 1970, 670, 670 f. (Unrecht auf Unrecht); BGH GRUR 1974, 797, 799 (Fiete Schulze); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1978, 751, 751 (Sachverständigengutachten); BGH NJW 1982,2246,2246 (Illegale Kassenarztpraxen). 4 Mackeprang

5 0 1 .

Teil:

Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

schränkter Widerruf ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofs aber an die Voraussetzung geknüpft, daß bei objektiver Beurteilung wenigstens ernstliche Anhaltspunkte für die Wahrheit des Vorwurfs fehlen 167. In jedem Fall muß der Widerruf als das geeignete und erforderliche Mittel erscheinen, der Ehrverletzung entgegenzuwirken168. Ein entsprechendes Verlangen hat deshalb nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn der durch die Äußerung geschaffene Zustand für den Betroffenen eine stetig sich erneuernde Quelle der Ansehensschädigung bildet, zu deren Beseitigung er auf den Widerruf angewiesen ist 169 . Keinesfalls darf die Widerrufsklage nur dazu benutzt werden, die andere Seite ins Unrecht zu setzen und sich auf diese Weise Genugtuung zu verschaffen 170. "Insbesondere ist jede unnötige Bloßstellung oder Demütigung des Täters zu vermeiden, wie sie etwa mit einer Abbitte verbunden wäre."171 Für gewisse Fälle wurden im Laufe der Zeit Sonderformen des Widerrufs entwickelt. So kann etwa bei nicht schlechthin unwahren, aber unvollständigen, übertriebenen, einseitigen oder sonstwie irreführenden Behauptungen deren Richtigstellung 172 oder Ergänzung 173 verlangt werden174.

167 Vgl. BGHZ 37, 187, 190 (Eheversprechen); 65, 325, 337 (Warentest II); 69, 181, 182 (Tätlichkeiten); BGH NJW 1966, 647, 649 (Reichstagsbrand); BGH VersR 1970, 670, 671 (Unrecht auf Unrecht); BGH GRUR 1974,797,799 (Fiete Schulze). 168

Siehe BGHZ 10,104,105 (Beleidigende Briefe); 31, 308,320 f. (Alte Herren); 89,198, 201 f. (Kleiner Kreis); BGH NJW 1965, 35, 36 (Ventilatorschöpfung); BGH NJW 1977,1681, 1682 (Tätlichkeiten; insoweit nicht in BGHZ 69,181 ff. abgedruckt). 169

Vgl. BGHZ 10,104,104 f. (Beleidigende Briefe); 57, 325, 327 (Freispruch).

170

Siehe BGHZ 10, 104, 106 (Beleidigende Briefe); 14,163, 176 (Constanze II); 31, 308, 321 (Alte Herren); 68, 331, 337 (Abgeordnetenbestechung); 89, 198, 202 (Kleiner Kreis); BGH NJW 1977,1681, 1682 (Tätlichkeiten; insoweit nicht in BGHZ 69,181 ff. abgedruckt); BGH NJW 1989, 774,774 (Widerruf einer ärztlichen Diagnose). 171

E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 31; ders., DRiZ 1970,157,157; ähnlich etwa H. Weitnauer, DB 1976, 1365, 1413, 1416; J. Prien, Naturalrestitution als Schadensersatz bei deliktischer Verletzung der Ehre, 1985, S. 119; K. Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 361 ff.; in diesem Sinne auch BVerfGE 28,1, 9 f. (Augstein). 172 Vgl. BGHZ 31, 308, 318 (Alte Herren); BGH NJW 1961,1913,1914 (Honorarvereinbarung); BGH NJW 1984,1102,1103 (Wahlkampfrede); siehe dazu auch E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 34; P. Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1,2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 348. 173

Siehe BGHZ 57,325,327 ff. (Freispruch).

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

51

Heftig umstritten ist die Art der Zwangsvollstreckung für Widerrufsurteile. Nach (wohl) überwiegender Ansicht richtet sich die Vollstreckung des Widerrufsanspruchs nach § 888 Abs. 1 ZPO 1 7 5 , zum Teil wird aber auch eine analoge176 Anwendung des § 894 ZPO befürwortet 177. Entscheidend sollte sein, auf welche Weise der mit dem Widerruf bezweckte Erfolg (Beseitigung der Ehrverletzung) im Einzelfall am besten erreicht werden kann178. Danach dürfte die Fiktion des § 894 ZPO nur in Ausnahmefällen einen gleichwertigen Ersatz für die persönlich abgegebene Erklärung des Verurteilten darstellen. Wirkung und Bedeutung des Widerrufsanspruchs dürfen nicht überschätzt werden. Häufig vergehen einige Jahre bis er gerichtlich erstritten werden kann. Daß ein so später Widerruf nur noch vereinzelt Beachtung findet und deshalb die so lange zurückliegende Ehrverletzung kaum mehr beseitigen (oder auch nur wesentlich abmildern) wird, liegt auf der Hand. Zudem stellt sich der Widerruf nicht selten als letzte rechtlich zulässige Wiederholung und damit als Verstärkung des erhobenen Vorwurfs dar. Die Durchsetzung des Widerrufsanspruchs wird sich für den Verletzten daher in vielen Fällen als "Bumerang" erweisen179. Hinzu kommt, daß die Recht174

Das gleiche soll gelten, wenn die Tatsachenbehauptung nur in einem Teilaspekt unwahr ist, vgl. BGH NJW 1982,2246,2248 (Illegale Kassenarztpraxen). 175 Vgl. BGHZ 37,187,190 (Eheversprechen); BGH NJW 1961,1913,1914 (Honorarvereinbarung); offengelassen in BGHZ 68, 331, 336 (Abgeordnetenbestechung); H. Johannes, JZ 1964,317,317 f.; D. Leipold, ZZP 84 (1971), 150,161 mit Fn. 45; ders., JZ 1974,63,64 f.; F. L· Ritter, ZZP 84 (1971), 163,173 ff.; P. Schwerdmer, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 332 ff.; ders., in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1,2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 360 ff. m.w.N. - Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage zwar nicht entschieden, aber angedeutet, daß gegen die Vollstreckung nach § 888 Abs. 1 ZPO keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, vgl. BVerfGE 28,1,8 ff. (Augstein). 176

Daß der Widerruf keine Willenserklärung im Sinne von § 894 ZPO darstellt, ist unbestritten, vgl. E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 36; F. L. Ritter, ZZP 84 (1971), 163, 173 mit Fn. 73; R Bruns/ E. Peters, Zwangsvollstreckungsrecht, 3. Aufl. 1987, S. 304. 177 Siehe OLG Frankfurt JZ 1974, 62, 63; OLG Frankfurt NJW 1982, 113, 113; OLG Karlsruhe OLGZ 1985,124, 125; E. Helle, NJW 1963,129,131 ff.; ders., Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 36 f.; ders., DRiZ 1970, 157, 157; W. Rötelmann, NJW 1971, 1636, 1639; H. Weitnauer, DB 1976, 1365,1413,1416 mit Fn. 88; H. E. Brandner, JZ 1983,689,696. 178 179

Dazu näher R Bruns/E. Peters, Zwangsvollstreckungsrecht, 3. Aufl. 1987, S. 304 f.

Vgl. P. Schwerdmer, JuS 1978, 289, 298; in diesem Sinne auch V. Emmerich, BGBSchuldrecht, Besonderer Teil, 4. Aufl. 1985, S. 214. 4

52

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

sprechung auf dem Standpunkt steht, daß der zum Widerruf Verpflichtete in seiner Erklärung zum Ausdruck bringen darf, daß er sie "in Erfüllung des gegen ihn ergangenen rechtskräftigen Urteils" abgibt180. Dadurch wird dem Widerrufsanspruch zweifellos sehr viel von seiner Effektivität genommen Einen sachlich weit(er)reichenden Schutz der persönlichen Ehre gewährt dagegen der Anspruch auf Unterlassung (§ 1004 BGB analog)182. Zum einen ist er nicht auf Tatsachenbehauptungen beschränkt, sondern kann sich auch gegen Werturteile richten183; zum anderen kann die Unterlassung ehrverletzender Tatsachenbehauptungen grundsätzlich auch dann verlangt werden, wenn deren Unwahrheit nicht feststeht 184. Ziel einer Unterlassungsklage ist es, künftigen rechtswidrigen Ehrverletzungen vorzubeugen185. Sie setzt deshalb voraus, daß die Gefahr eines solchen Eingriffs besteht, sei es, weil eine Beeinträchtigung bereits erfolgt ist und Wiederholung droht, sei es, weil eine Ehrverletzung erstmals unmittelbar bevorsteht186. Sind ehrenrührige Tatsachenbehauptungen Gegenstand einer Unterlassungsklage, so ist dem Klagebegehren ohne weiteres stattzugeben, wenn die Unwahrheit der beanstandeten Behauptungen feststeht 187. Insbesondere kommt es dann nicht darauf an, ob der sich Äußernde die Behauptungen in

180 BVerfGE 28, 1, 10 (Augstein); der Bundesgerichtshof ist dem gefolgt, vgl. BGHZ 68, 331,181 337 f. (Abgeordnetenbestechung). Dazu ausführlich unten Zweiter Teil B. III. 2. 182

Siehe E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 38. 183 Vgl. aus neuerer Zeit etwa BGHZ 99, 133, 135 f. (Oberfaschist); BGH NJW 1982, 2246, 2246 (Illegale Kassenarztpraxen). 184 Siehe etwa BGH NJW 1979, 266, 267 (Caretens); BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt).

185

Zutreffend weist Η Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 356, darauf hin, daß die Rechtsordnung ihrer Aufgabe, die Persönlichkeit zu schützen, nicht gerecht werden würde, wenn sie nur Ansprüche aus einer entstandenen Verletzung gewährte; in diesem Sinne auch schon L. Enneccerus/H. Lehmann, Recht der Schuldverhältnisse, 15. Aufl. 1958, § 25211: "Schadensverhütung ist besser als Schadensvergütung". 186 Vgl. etwa V. Emmerich, BGB-Schuldrecht, Besonderer Teil, 4. Aufl. 1985, S. 238. 187 Siehe BGH NJW 1979, 266, 267 (Carstens); BGH NJW 1981, 2117, 2120 (Brutaler Machtmißbrauch).

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

53

Wahrnehmung berechtigter Interessen188 aufgestellt hat 189 . Denn mit dem Unterlassungsanspruch wird Rechtsschutz ja nur für die Zukunft begehrt 190, und an der Wiederholung einer Behauptung, deren Unwahrheit erwiesen ist, kann niemand ein berechtigtes Interesse haben191. Da unrichtige Tatsacheninformationen keine schützenswerte Basis für die öffentliche Meinungsbildung sind192, wird die Behauptung unwahrer Tatsachen auch nicht durch das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG geschützt193. Wie sich aus der über § 823 Abs. 2 BGB in das Zivilrecht transformierten Beweisregel des § 186 StGB 194 ergibt, kann die Unterlassung einer ehrverletzenden Tatsachenbehauptung im Grundsatz aber auch dann verlangt werden, wenn sich nicht klären läßt, ob die behauptete Tatsache wahr oder unwahr ist. In einem solchen Fall soll jedoch Voraussetzung des Unterlassungsanspruchs sein, daß sich der In-Anspruch-Genommene nicht auf ein Recht zu seiner Äußerung berufen kann195. Diese Beurteilung muß vor allem an der Wertung des Art. 5 Abs. 1 GG und an § 193 StGB ausgerichtet werden196. Fehlt es an der Feststellung der Unwahrheit der aufgestellten Behauptung, so ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofs "zugunsten des Mitteilenden davon auszugehen, daß seine Aussage wahr ist; von dieser

188 Dieser im Strafrecht (§ 193 StGB) positiv geregelte Rechtfertigungsgrund gilt nach allgemeiner Ansicht auch für das Zivilrecht (vgl. auch § 824 Abs. 2 BGB und § 14 Abs. 2 UWG). 189 Vgl. BGH GRUR 1975,89,90 f. (Brüning-Memoiren I). 10Ω

Siehe BGH GRUR 1975, 89, 91 (Brüning-Memoiren I); BGH NJW 1986, 2503, 2505 (Ostkontakte). 191 Vgl. BGH NJW 1974, 1762, 1762 (Deutschland-Stiftung); BGH GRUR 1975, 89, 91 (Brüning-Memoiren I); BGH NJW 1975,1882, 1883 (Der Geist von Oberzell); BGH NJW 1979, 266, 267 (Carstens); BGH NJW 1981, 2117, 2120 (Brutaler Machtmißbrauch); BGH NJW 1982, 2246, 2247 (Illegale Kassenarztpraxen); BGH NJW 1982,2248, 2249 (Betrugsvorwurf); BGH NJW 1986,2503,2504 (Ostkontakte). 192

Siehe BVerfGE 54,208,219 (Boll); 61,1,8 (Wahlkampf); BGH NJW 1985,1621,1623 (Gastarbeiterflüge I); BGH NJW 1987,1398,1398 f. (Kampfanzug unter der Robe). 193

Vgl. BVerfGE 61, 1, 8 (Wahlkampf); BGHZ 31, 308, 318 (Alte Herren); 90, 113, 116 (Bundesbahnplanungsvorhaben); 91,117,122 (Mordoro); BGH NJW 1985,1621,1623 (Gastarbeiterflüge I); BGH NJW 1987,1398,1398 f. (Kampfanzug unter der Robe). 194 Siehe BGHZ 95, 212, 216 (Nachtigall II); BGH NJW 1985, 1621, 1622 (Gastarbeiterflüge I); BGH NJW 1987,2225,2226 (Chemiegift einfach weggekippt). 195 Vgl. BGH NJW 1979, 266, 267 (Carstens); BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt). 196 Siehe dazu näher unten B.

54

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

Unterstellung aus ist dann zu fragen, ob er die Äußerung zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten durfte" 197. Hinsichtlich der für einen Unterlassungsanspruch unerläßlichen Gefahrenlage ist zu unterscheiden: Hat ein rechtswidriger Eingriff in das Recht der persönlichen Ehre bereits stattgefunden, besteht eine tatsächliche Vermutung für das Vorliegen der Wiederholungsgefahr 198; war dagegen eine Äußerung ursprünglich durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt und stellt sich erst nachträglich die Unwahrheit der Behauptung heraus, so reicht dies allein für die Annahme der erforderlichen Gefahrenlage nicht aus. Hier muß die Wiederholungsgefahr - richtiger: die Erstbegehungsgefahr - konkret festgestellt werden199. Das gleiche gilt, wenn eine Ehrverletzung erstmals unmittelbar bevorsteht. Unterlassungsklagen gegen herabsetzende Werturteile sind von den Zivilgerichten unter dem Einfluß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Tragweite des Art. 5 Abs. 1 GG und zur Einwirkung dieses Grundrechts auf die Auslegung privatrechtlicher Normen an äußerst strenge Voraussetzungen geknüpft worden. Mit Hinweis auf die grundlegende Bedeutung, die das Grundgesetz dem freien Austausch der Meinungen beimißt, wird selbst der Gebrauch starker, überspitzter oder gar polemisierender Ausdrücke für zulässig erachtet, solange der Kritiker hierdurch (nur) dem eigenen Standpunkt Nachdruck zu verleihen sucht. Die Schwelle, von der an eine Äußerung rechtswidrig und deshalb zu verbieten ist, soll (in aller Regel) erst bei einer diffamierenden Schmähkritik überschritten sein200.

197

BGH NJW 1987,2225,2226 (Chemiegift einfach weggekippt).

198

Vgl. BGH GRUR 1966,157, 159 (Wo ist mein Kind); BGH GRUR 1975, 89, 92 (Brüning-Memoiren I); BGH GRUR 1980, 1105, 1108 (Medizin-Syndikat III; insoweit nicht in BGHZ 78, 9 ff. abgedruckt); BGH NJW 1986, 2503, 2505 (Ostkontakte); BGH NJW 1987, 2225,2227 (Chemiegift einfach weggekippt). - Kritisch dazu E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 38 ff. 199 Siehe BGH NJW 1986, 2503, 2505 (Ostkontakte); BGH NJW 1987, 2225, 2227 (Chemiegift einfach weggekippt).

Vgl. BGHZ 45, 296, 308 ff. (Höllenfeuer); 65, 325, 333 (Warentest II); 91, 117, 121 f. (Mordoro); 99,133,139 (Oberfaschist); BGH NJW 1974,1762, 1763 (Deutschland-Stiftung); BGH NJW 1977, 626, 627 (Editorial); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1980, 1685, 1685 (Straßen- und Autolobby); BGH NJW 1981, 2117, 2119 (Brutaler Machtmißbrauch); BGH NJW 1982, 2246,2247 (Illegale Kassenarztpraxen); BGH NJW 1987, 1398,1398 (Kampfanzug unter der Robe); BGH NJW 1987, 2225, 2227 (Chemiegift einfach weggekippt). - Siehe dazu näher unten B.

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

55

Grundsätzlich sind Widerrufs- und Unterlassungsklagen, die den sozialen Geltungsanspruch des Betroffenen in der Öffentlichkeit schützen sollen, nichtvermögensrechtlicher Natur. Ungeachtet der Absicht des Klägers, auf diese Weise seine Ehre zu verteidigen, kann der vermögensrechtliche Charakter eines solchen Rechtsstreits jedoch ausnahmsweise dann zu bejahen sein, wenn sich aus dem Klagevorbringen oder sonstigen (offenkundigen) Umständen ergibt, daß wirtschaftliche Belange des Klägers für das Rechtsschutzbegehren in so wesentlicher Weise mitbestimmend sind, daß seine vermögensrechtlichen Interessen nicht außer Betracht bleiben können201. Von der Qualifikation des Anspruchs als vermögensrechtlich oder nichtvermögensrechtlich kann unter anderem im Hinblick auf § 546 ZPO die Zülässigkeit des Rechtsmittels der Revision abhängen. Ist ein Eingriff in das Recht der persönlichen Ehre nicht nur objektiv rechtswidrig, sondern vom Angreifer auch verschuldet (§ 276 BGB), hat der Verletzte neben den negatorischen Anprüchen auch Anspruch auf Schadensersatz (§§ 823, 249 ff. BGB). Soweit es dabei um den Ausgleich eingetretener Vermögensschäden geht, besteht der Anspruch uneingeschränkt202. Häufig liegen die Schadensfolgen einer Ehrverletzung aber nicht auf materiellem, sondern auf immateriellem Gebiet. Zwar ist der Schädiger nach der gesetzlichen Regelung grundsätzlich auch zum Ersatz nichtvermögensrechtlicher Schäden verpflichtet. Ohne Einschränkung gilt das aber nur, soweit diese Schäden auf andere Weise als durch Geld, also im Wege der Naturalrestitution - etwa durch Widerruf - wiedergutgemacht 201 Siehe BGHZ 98,41, 42 (Korruptionsskandal); BGH GRUR 1969,147,149 (Augstein); BGH NJW 1974, 1470, 1470 (Brüning-Memoiren II); BGH GRUR 1980, 1090, 1092 (Medizin-Syndikat I; insoweit nicht in BGHZ 78, 24 ff. abgedruckt); BGH GRUR 1981, 80,82 (Medizin-Syndikat IV; insoweit nicht in BGHZ 78,22 ff. abgedruckt); BGH NJW 1981,2062,2062 (Anne Frank); BGH NJW 1983, 2572, 2572 (Vereinigungskirche); BGH NJW 1985, 978, 978 f. (Vergewaltigungsopfer); BGH NJW 1986, 2503, 2504 (Ostkontakte); H. E. Brandner, JZ 1983, 689, 696; kritisch dazu P. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 319 f.; ders., in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 335 f. - Der Anspruch auf Abdruck einer Gegendarstellung (vgl. dazu sogleich) soll dagegen selbst dann nichtvermögensrechtlicher Natur sein, wenn im Einzelfall angesichts der hinter dem Verlangen stehenden finanziellen Interessen persönlichkeitsrechtliche Erwägungen in den Hintergrund treten, siehe BGH NJW 1963, 151, 152 (Staatskarossen); dagegen P. Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 393 m.w.N.

202

Zur Berechnung des Vermögensschadens bei Persönlichkeitsverletzungen vgl. P. Schwerdtner, JuS 1978,289, 293 ff.; ders., Jura 1985, 521, 522 ff.; IC Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 1% ff.

5 6 1 .

Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

werden können (§ 249 Satz 1 BGB). Eine Entschädigung in Geld kann wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, dagegen nur in den gesetzlich bestimmten Fällen gefordert werden (§ 253 BGB). Dazu zählt vor allem das sogenannte Schmerzensgeld, das nach § 847 BGB den Opfern von Körperverletzungen, Freiheitsberaubungen und Sittlichkeitsverbrechen zusteht203.

Obwohl eine entsprechende gesetzliche Anordnung im Hinblick auf Verletzungen der persönlichen Ehre oder des allgemeinen Persönlichkeitsrechts fehlt, billigen die Gerichte auch bei unerlaubten Handlungen dieser Art unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Geldentschädigung ßr den erlittenen immateriellen Schaden zu 204 , und zwar dann, wenn e sich um einen schwerwiegenden Eingriff handelt und die Beeinträchtigung des Betroffenen nicht in anderer Weise befriedigend ausgeglichen werden kann205. Abgestellt wird insoweit namentlich auf die Bedeutung und Tragweite des Eingriffs, auf die Nachhaltigkeit und Fortdauer der Interessenoder Rufschädigung des Betroffenen, ferner auf Anlaß und Beweggrund

203 Gesetzlich angeordnet ist der Ersatz des Nichtvermögensschadens in Geld außerdem etwa in §§ 651 f Abs. 2,1300 Abs. 1 BGB, § 53 Abs. 3 Satz 1 LuftVG, § 97 Abs. 2 Satz 1 UrhG, §§ 35 Abs. 1 Satz 2,27 GWB. 204

Grundlegend BGHZ 26, 349, 356 (Herrenreiter), unter ausdrücklicher Aufgabe der früheren Rechtsprechung (eindeutig ablehnend etwa noch BGHZ 20, 345, 352 f. [Paul Dahlke]); weitere wichtige Grundsatzentscheidungen schritten auf diesem Weg fort, vgl. insbesondere BGHZ 35,363, 367 ff. (Ginseng-Wurzel); 39,124,130 ff. (Fernsehansagerin); BGH NJW 1965,1374,1375 (Wie uns die anderen sehen); BGH NJW 1971,698,699 (Pariser Liebestropfen); in zahlreichen anderen Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung immer wieder bestätigt, vgl. etwa BGHZ 30,7,17 f. (Caterina Valente); 78, 24, 27 f. (MedizinSyndikat I); 78,274,280 (Scientology); 95, 212, 214 f. (Nachtigall II); BGH GRUR 1962, 211, 212 f. (Hochzeitsbild); BGH NJW 1962, 1004,1005 (Doppelmörder); BGH NJW 1963, 904, 905 (Gerichtsberichterstattung); BGH NJW 1965, 685, 686 (Soraya); BGH JZ 1965,411, 413 (Gretna Green); BGH NJW 1965, 2395, 2396 (Mörder unter uns); BGH GRUR 1966, 157, 158 f. (Wo ist mein Kind); BGH NJW 1966, 2353, 2355 (Vor unserer eigenen Tür); BGH GRUR 1969, 147, 149 f. (Augstein); BGH GRUR 1969, 301, 302 (Spielgefährtin II); BGH VersR 1970, 670, 671 (Unrecht auf Unrecht); BGH NJW 1970, 1077, 1077 f. (Nachtigall I); BGH GRUR 1971, 529, 530 (Dreckschleuder); BGH GRUR 1974, 794, 796 (Todesgift); BGH GRUR 1974, 797, 800 (Fiete Schulze); BGH NJW 1977, 626, 628 (Editorial); BGH NJW 1980, 994, 995 (Wahlkampfoild); BGH GRUR 1980, 1099,1104 (Medizin-Syndikat II); BGH GRUR 1980,1105,1110 f. (Medizin-Syndikat III; insoweit nicht in BGHZ 78,9 ff. abgedruckt); BGH GRUR 1981, 80, 89 (Medizin-Syndikat IV; insoweit nicht in BGHZ 78, 22 ff. abgedruckt); BGH NJW 1985,1617,1619 (Nacktfoto); BGH NJW-RR 1988, 733,733 (Intime Beziehungen eines Geistlichen). 205

St. Rspr. seit BGHZ 35,363,368 ff. (Ginseng-Wurzel).

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

57

des Handelnden sowie auf den Grad seines Verschuldens206. Immer ist zudem der besonderen Funktion der Geldentschädigung bei Persönlichkeitsverletzungen Rechnung zu tragen, die sowohl in einer Genugtuung des Verletzten für den erlittenen Eingriff besteht207 als auch, und zwar in erster Linie, ihre sachliche Berechtigung in dem Gedanken findet, daß das Persönlichkeitsrecht gegenüber erheblichen Beeinträchtigungen anderenfalls ohne ausreichenden Schutz bliebe208. Während der Bundesgerichtshof die grundsätzliche Anerkennung der Verpflichtung zum Ersatz des Nichtvermögensschadens in Geld bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen zunächst auf eine Analogie zu § 847 BGB gestützt hatte209, begründete er diese Rechtsfortbildung später vor allem damit, daß die unter dem Einfluß der Wertentscheidung des Grundgesetzes erfolgte Ausbildung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes lückenhaft und unzulänglich wäre, wenn eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts keine der ideellen Beeinträchtigung adäquate Sanktion auslösen würde. Ebenso wie sich die Beschränkung des deliktsrechtlichen Schutzes auf be-

206

Vgl. aus neuerer Zeit etwa BGHZ 95, 212, 215 (Nachtigall II); BGH NJW 1985,1617, 1619 (Nacktfoto) m.w.N. 207

Siehe insbesondere BGHZ 26,349, 358 (Herrenreiter); 35, 363,369 (Ginseng-Wurzel); 78, 24, 28 (Medizin-Syndikat I); 95, 212, 215 (Nachtigall II); BGH NJW 1962, 1004, 1005 (Doppelmörder); BGH NJW 1965, 1374, 1375 (Wie uns die anderen sehen); BGH GRUR 1974, 797, 800 (Fiete Schulze); BGH GRUR 1981, 80, 89 (Medizin-Syndikat IV; insoweit nicht in BGHZ 78, 22 ff. abgedruckt); BGH NJW 1985, 1617,1619 (Nacktfoto). - Für den Schmerzensgeldanspruch nach § 847 BGB hatte der Große Zivilsenat des Bundesgerichtshofs bereits in einer Grundsatzentscheidung aus dem Jahre 1955 festgestellt, daß ihm neben der Ausgleichsfunktion auch eine Genugtuungsfunktion zukomme, vgl. BGHZ (GrS) 18,149,154 (Schmerzensgeld); während in diesem Zusammenhang allerdings noch davon die Rede war, daß der Ausgleichsgedanke im Vordergrund stehe, soll bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts umgekehrt die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes gegenüber der Entschädigungsfunktion in den Vordergrund rücken, vgl. BGHZ 35, 363, 369 (Ginseng-Wurzel); BGH NJW 1965, 1374, 1375 (Wie uns die anderen sehen). - Die Rechtsprechung zur Genugtuungsfunktion sieht sich im Schrifttum zum Teil starker Kritik ausgesetzt, siehe dazu P. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 263 f., 272 ff.; ders., JuS 1978, 289, 296 ff.; ders., in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1,2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 295 ff.; ders., Jura 1985,521,527, jeweils m.w.N. 208 Vgl. etwa BGHZ 95, 212, 215 (Nachtigall II); BGH NJW 1970,1077,1077 (Nachtigall I); BGH NJW 1971, 698, 699 (Pariser Liebestropfen); BGH NJW 1977, 626, 628 (Editorial); BGH NJW 1985,1617,1619 (Nacktfoto). 209

Siehe BGHZ 26, 349, 356 (Herrenreiter): "Freiheitsberaubung 'im Geistigen"'; vgl. sodann BGHZ 30, 7,17 (Caterina Valente); BGH GRUR 1962, 211,213 (Hochzeitsbild); BGH GRUR 1972,383,385 (Bundesbahn-Amtmann).

5 8 1 .

Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

stimmte einzelne Rechtsgüter des Menschen als zu eng erwiesen habe, um den vom Grundgesetz geforderten Persönlichkeitsschutz zu gewährleisten, werde eine Beschränkung des ideellen Schadensersatzes auf Verletzungen einzeln aufgeführter Rechtsgüter dem Wertsystem des Grundgesetzes nicht mehr gerecht. Die Ausschaltung des Ersatzes immaterieller Schäden im Persönlichkeitsschutz würde bedeuten, daß Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen ohne eine Sanktion der Zivilrechtsordnung blieben. Die Rechtsordnung würde dann auf das wirksamste und oft einzige Mittel verzichten, das geeignet sei, die Respektierung des Personenwertes des einzelnen zu sichern210. Bei den anderen "FaclTgerichten211 und in der Literatur 212 hat die Auffassung des Bundesgerichtshofs überwiegend Zustimmung gefunden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtsprechung der Zivilgerichte zum Ersatz des Nichtvermögensschadens in Geld bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ausdrücklich gebilligt213. Eine ausführliche Darstellung der kritischen Stellungnahmen im Schrifttum 214

210 So vor allem BGHZ 35, 363,367 f. (Ginseng-Wurzel); ähnlich auch BGHZ 39,124,131 f. (Fernsehansagerin); BGH NJW 1965,1374,1375 (Wie uns die anderen sehen); BGH NJW 1971,698,699 (Pariser Liebestropfen). 211

Vgl. etwa BFHE 78,32, 33 f.; BAGE 20,96,101 f.; BAG NJW 1979,2352,2352.

212

Siehe etwa H Coing, JZ 1958,558, 560; ders., Ehrenschutz und Presserecht, 1960, S. 13; U. Koebel, JZ 1960, 573, 573 f.; E. v.Caemmerer, in: FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, 1960, S. 49,107 f.; ders., in: FS für F. v.Hippel, 1967, S. 27, 37 f.; H. Hubmann, JZ 1962, 121, 122; ders., Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 353 ff.; G. Erdsiek, NJW 1962, 622, 625; W. Rötelmann, NJW 1962, 736, 737; ders., NJW 1962, 1004, 1004; ders., NJW 1964, 1458, 1458 f.; E. Helle, NJW 1963,1404, 1404 f.; H. Stoll, Empfiehlt sich eine Neuregelung der Verpflichtung zum Geldersatz für immateriellen Schaden?, Gutachten für den 45. Deutschen Juristentag, 1964, S. 125; G. Wiese, Der Ersatz des immateriellen Schadens, 1964, S. 37 ff. m.w.N. 213 Vgl. BVerfGE 34, 269, 285 ff. (Soraya). - Zu Recht vermerkt H Weitnauer, DB 1976, 1365,1413, 1417, die darin liegende Ironie, daß ausgerechnet der Fall der Exkaiserin Soraya den Anlaß zur endgültigen Klärung einer Frage gab, die Ende der fünfziger Jahre den damaligen Bemühungen um eine gesetzliche Neuordnung des zivilrechtlichen Persönlichkeits- und Ehrenschutzes den Spottnamen einer "lex Soraya für jedermann" eingetragen hatte; ihm folgend auch P. Schwerdmer, JuS 1978,289,289. 214

Siehe insbesondere Al Lorenz, NJW 1958, 827,828 f.; ders., Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 409 f.; P. Hartmann, NJW 1962,12,13 ff.; ders., NJW 1964, 793, 796 ff.; M. Löffler, NJW 1962, 225, 225 ff.; E. Bötticher, MDR 1963, 353, 353 ff.; F. Kübler, JZ 1968,542, 545; D. Giesen, NJW 1971, 801, 801 f.; weitere Nachweise bei G. Wiese, Der Ersatz des immateriellen Schadens, 1964, S. 38 Fn. 127.

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

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erübrigt sich seither215. "Bemerkenswert" ist allerdings, daß gegen die Gewährung von "Schmerzensgeld" bei Persönlichkeitsrechtsverletzungen (unter anderem) auch vorgebracht wurde, daß sie die Pressefreiheit gefährde 216 . Analysiert man nämlich die von der Rechtsprechung entschiedenen Sachverhalte, kann davon ernsthaft nicht die Rede sein. Wer erfundene Interviews oder grob beleidigende Zeitschriftenartikel veröffentlicht, wer ohne Einwilligung des Betroffenen dessen Bild unter ehrenrührigen Umständen verbreitet, hat den Rahmen der Pressefreiheit ohne Zweifel verlassen217. Solche Fälle machen im Gegenteil deutlich, daß der Schutz vor der Presse nicht weniger wichtig ist als der (oft viel stärker betonte) Schutz der Presse218. Die zivilrechtlichen Hauptansprüche des Betroffenen im Falle eines rechtswidrigen Eingriffs in das Recht der persönlichen Ehre werden durch verschiedene Hilfsansprüche ergänzt219. Dazu zählt zunächst der Anspruch auf Auskunft. Er dient dazu, dem Verletzten Aufklärung über Art und Umfang eines festgestellten widerrechtlichen Ehrangriffs zu verschaffen 220. Dagegen kann der Betroffene keine Aufklärung darüber verlangen, bei welcher Gelegenheit und wem gegenüber der Angreifer weitere unerlaubte Handlungen gleicher Art begangen hat 221 .

Besondere Bedeutung hat darüber hinaus in letzter Zeit der Anspruch auf Veröffentlichung der gerichtlichen Entscheidung erlangt. Bis vor kurz

215

P. Schwerdtner, JuS 1978, 289, 295, meint sogar, das Schrifttum, das sich gegen diese Rechtsfortbildung gewandt hatte, sei mit dem "Soraya-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts zu "Makulatur" geworden. Für J. Ipsen, DVB1.1984,1102,1104, stößt das Vorgehen des Bundesgerichtshofs dagegen auch heute noch auf Bedenken; ähnlich Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1, Rn. 78 m.w.N. 216 So vor allem M. Löffler, NJW 1962, 225, 227; vgl. auch R Wiethölter, Rechtswissenschaft, 1968, S. 198. 217

SieheP. Schwerdtner,

JuS 1978,289,295; ders., Jura 1985,521, 526.

218

So der treffende Hinweis von D. Medicus, Bürgerliches Recht, 14. Aufl. 1989, Rn. 615; ähnlich auch schon P. Dagtoglou, DÖV1963,636,637. 219 Dazu ausführlich E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 49 ff. 220 Vgl. BGH GRUR 1980,1105, 1111 (Medizin-Syndikat III; insoweit nicht in BGHZ 78, 9 ff. abgedruckt); siehe auch BGHZ 42, 210, 221 (Gewerkschaftspropaganda); 78, 274, 276 (Scientology); BGH NJW 1962,731,731 (Konstruktionsbüro). 221

Siehe BGH GRUR 1980, 1105, 1111 (Medizin-Syndikat III; insoweit nicht in BGHZ 78,9 ff. abgedruckt).

6 0 1 .

Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

war dem Verletzten (unter bestimmten Voraussetzungen) lediglich die Befugnis zur Veröffentlichung der Verurteilung zu einem Widerruf eingeräumt worden222; in derartigen Fällen ging es jedoch vorrangig um die Festlegung der Art und Weise, in der die geschuldete Widerrufserklärung erfolgen sollte. In einer jüngeren Entscheidung223 hat der Bundesgerichtshof nun den zivilrechtlichen Ehrenschutz um einen weiteren, bislang vornehmlich224 im Wettbewerbsrecht225 diskutierten Anspruch bereichert und ausgesprochen, daß dem Betroffenen einer rufschädigenden Meinungsäußerung auch die Befugnis zuerkannt werden kann, ein erstrittenes Unterlassungsurteil (oder eine dieses ersetzende vorprozessual abgegebene Unterlassungserklärung) veröffentlichen zu lassen, wenn die unzulässige Äußerung öffentlich erfolgt ist und die Veröffentlichung zur Beseitigung der noch andauernden Folgen der Äußerung für das Ansehen des Verletzten erforderlich ist 226 . Das Gericht stellte damit dem auf die Abwehr unwahrer Tatsachenbehauptungen beschränkten Widerrufsanspruch einen neuen, auch bei unzulässigen Werturteilen eingreifenden Beseitigungsanspruch zur Seite und machte so mit seiner früher getroffenen Feststellung ernst, "daß ein wirksamer Ehrenschutz auf gefächerte und elastische Möglichkeiten der Abwehr und Folgenbeseitigung angewiesen ist"227 2 2 8 . Wichtig ist schließlich noch der medienrechtliche Anspruch auf Gegendarstellung 129. Nach den Landespressegesetzen230 hat jeder, der durch eine 222

Vgl. etwa BGH NJW 1984,1102,1103 (Wahlkampfrede).

223

BGHZ 99,133 (Oberfaschist).

224

Siehe aber auch § 200 StGB, wonach in bestimmten Fällen auf Antrag die öffentliche Bekanntmachung der strafgerichtlichen Verurteilung wegen Beleidigung anzuordnen ist. 225 Für den wettbewerblichen Bereich ist in § 23 Abs. 2 UWG ausdrücklich bestimmt, daß dem Verletzten die Befugnis zugesprochen werden kann, auf Kosten des Verletzers den verfügenden Teil eines Unterlassungsurteils öffentlich bekannt zu machen. - Zu den für das Wettbewerbsrecht in diesem Zusammenhang von der Rechtsprechung ergänzend entwickelten Grundsätzen vgl. zusammenfassend BGHZ 99,133,136 f. (Oberfaschist). Vgl. BGHZ 99,133,139 f. (Oberfaschist). 227 228

BGHZ 68,331,339 (Abgeordnetenbestechung).

So H. Reichold, NJW 1987, 1402,1402; vgl. zum Anspruch auf Veröffentlichung eines Unterlassungsurteils auch Κ Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 288 ff. 229

Siehe dazu insbesondere H. Köbl, Das presserechtliche Entgegnungsrecht und seine Verallgemeinerung, 1966, S. 31 ff.; O.-F. Frhr. v.Gamm, Persönlichkeits- und Ehrverletzungen durch Massenmedien, 1969, S. 58 ff.; H. v.Dewall, Gegendarstellungsrecht und Right of reply, 1973, S. 25 ff.; K F. Kreuzer, in: FS für W. Geiger, 1974, S. 61, 74 ff.; R Damm, in: FS für

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

61

in der Presse aufgestellte oder verbreitete Tatsachenbehauptung betroffen ist, das Recht, hierauf durch eigene tatsächliche Ausführungen zu entgegnen und die Veröffentlichung seiner Darstellung notfalls im Wege der einstweiligen Verfügung 231 durchzusetzen. Für Rundfunk und Fernsehen sind entsprechende Regelungen in den Rundfunkgesetzen232 bzw. Staatsverträgen 233 enthalten234. M. Löffler, 1980, S. 25 ff.; W. Seitz/G. SchmidtlA. Schoener, Der Gegendarstellungsanspruch in Presse, Film, Funk und Fernsehen, 1980; R Groß, DVB1. 1981, 247 ff.; Κ Sedelmeier, in: M. Löffler, Presserecht, Bd. I, 3. Aufl. 1983, S. 524 ff.; R Ricker, in: M. Löffler/R. Ricker, Handbuch des Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 125 ff.; Κ. E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 405 ff.; Κ Mathy, Das Recht der Presse, 4. Aufl. 1988, S. 75 ff.; K. Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 43 ff., 374 ff. 230

Vgl. § 11 Gesetz über die Presse Baden-Württemberg; § 10 Gesetz über die Presse Bayern; § 10 Berliner Pressegesetz; § 11 Gesetz über die Presse Bremen; § 11 Hamburgisches Pressegesetz; § 10 Hessisches Gesetz über Freiheit und Recht der Presse; § 11 Niedersächsisches Pressegesetz; § 11 Pressegesetz für das Land Nordrhein-Westfalen; § 11 Landesgesetz über die Presse Rheinland-Pfalz; § 11 Saarländisches Pressegesetz; § 11 Gesetz über die Presse Schleswig-Holstein. 231 In allen Landespressegesetzen wird für die gerichtliche Durchsetzung des Gegendarstellungsanspruchs ausdrücklich der Zivilrechtsweg eröffnet. In den meisten Bundesländern ist darüber hinaus festgelegt, daß der Anspruch im Verfahren über den Erlaß einer einstweiligen Verfügung (§§ 935 ff. ZPO) geltend zu machen ist. Ein Hauptverfahren ist nur in Bayern und Hessen möglich; allerdings dürfte auch dort allein das (ebenfalls zulässige) Verfahren der einstweiligen Verfügung der besonderen Eilbedürftigkeit der Durchsetzung gerecht werden, vgl. R Ricker, in: M. Löffler/R. Ricker, Handbuch des Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 149 m.w.N. 232

Siehe etwa § 3 Abs. 1 Gesetz über den Süddeutschen Rundfunk in Verbindung mit § 2 Abs. 4 Nr. 8 Satzung für den Süddeutschen Rundfunk in Verbindung mit den Richtlinien des Intendanten für die Zulassung einer Gegendarstellung im Hörfunk und im Fernsehen vom 18. Januar 1967; Art. 17 Bayerisches Rundfunkgesetz; Art. 17 Bayerisches Medienerprobungsund -entwicklungsgesetz; § 3 Abs. 3 Gesetz über die Errichtung und die Aufgaben einer Anstalt des öffentlichen Rechts "Radio Bremen" in Verbindung mit §§ 25, 11 Gesetz über die Presse Bremen; § 3 Nrn. 8, 9 Gesetz über den Hessischen Rundfunk in Verbindung mit § 10 Hessisches Gesetz über Freiheit und Recht der Presse; § 16 Landesrundfunkgesetz Hessen; § 18 Niedersächsisches Landesrundfunkgesetz; § 9 Gesetz über den "Westdeutschen Rundfunk"; § 18 Rundfunkgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen; § 16 Landesrundfunkgesetz Rheinland-Pfalz; § 7 Rundfunkgesetz für das Saarland; § 19 Rundfunkgesetz für das Land Schleswig-Holstein; § 25 Gesetz über die Errichtung von Rundfunkanstalten des Bundesrechts. 233

* Vgl. etwa § 12 Staatsvertrag über den Norddeutschen Rundfunk; § 7 Staatsvertrag über den Südwestfunk in Verbindung mit §§ 24, 11 Landesgesetz über die Presse Rheinland-Pfalz; § 4 Staatsvertrag über die Errichtung der Anstalt des öffentlichen Rechts "Zweites Deutsches Fernsehen"; Art. 7 Bildschirmtext-Staatsvertrag. 234 Ausführliche Zusammenstellung der Rechtsgrundlagen und Gesetzestexte bei K. Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 378 ff.

62

1. Teil: Α. Die Ehre als Schutzgut verfassungsstaatlicher Rechtsordnungen

Sinn und Zweck des Gegendarstellungsrechts ist es, das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen zu schützen235. Zwar dient die Gegendarstellung auch dem Interesse der Öffentlichkeit (und der Medien selbst) an sachlich richtiger Information 236; im Vordergrund steht jedoch die Bedeutung dieses Instituts als ein den Gegebenheiten der modernen Massenkommunikationsmittel angepaßtes, für das Sondergebiet des Medienrechts näher ausgestaltetes Instrument zur Verteidigung des einzelnen gegen Einwirkungen der Medien auf seine Individualsphäre237. Demjenigen, dessen Angelegenheiten in den Medien öffentlich erörtert werden, wird die Möglichkeit eingeräumt, an gleicher Stelle, mit derselben Publizität und vor demselben Forum mit seiner Sicht des Sachverhalts zu Wort zu kommen238; er soll sich auf diese Weise alsbald und damit besonders wirksam gegen die Darstellung anderer wehren können, während etwaige daneben bestehende zivil- und strafrechtliche Mittel des Persönlichkeitsschutzes regelmäßig erst in einem Zeitpunkt zum Erfolg führen, in dem der zugrunde liegende Vorgang in der Öffentlichkeit bereits wieder vergessen ist . Der Gegendarstellungsanspruch "ist zwar selbst nicht unmittelbar verfassungsrechtlich gewährleistet"240. Jedoch dient er dem Schutz der Selbstbestimmung des einzelnen über die Darstellung der eigenen Person, die von der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt

235

Vgl. BVerfGE 63, 131, 142 (Gegendarstellung); 73, 118, 201 (4. Fernseh-Entscheidung); BGHZ 66,182,195 (Panorama); H. Köhl, Das presserechtliche Entgegnungsrecht und seine Verallgemeinerung, 1966, S. 104 ff.; Κ F. Kreuzer, in: FS für W.Geiger, 1974, S. 61, 98; Κ Sedelmeier, in: M. Löffler, Presserecht, Bd. I, 3. Aufl. 1983, S. 531 Rn. 31 ff.; R Ricker, in: M. Löffler/R. Ricker, Handbuch des Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 127; Κ Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 402. 236

Siehe BGHZ 66,182,195 (Panorama); Κ Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 402 ff. m.w.N. 237 Vgl. BVerfGE 63, 131, 142 (Gegendarstellung); 73, 118, 201 (4. Fernseh-Entscheidung); BGHZ 66,182,195 (Panorama). Siehe BVerfGE 63, 131, 142 (Gegendarstellung); BGHZ 66, 182, 195 (Panorama). Anschaulich hat man das Gegendarstellungsrecht daher auch als "Anspruch auf rechtliches Gehör vor dem Forum der Öffentlichkeit" bezeichnet, vgl. P. Schlechtriem, DRiZ 1973, 65, 68 mit Nachweisen. 239

Vgl. BVerfGE 63,131,142 (Gegendarstellung).

240

BVerfGE 63,131,142 (Gegendarstellung).

III. Ausgestaltung durch unterverfassungsrechtliche Schutzsysteme

63

wird 241. Der einzelne soll grundsätzlich selbst darüber befinden dürfen, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen will, was seinen sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll und ob oder inwieweit Dritte über seine Persönlichkeit verfügen können, indem sie diese zum Gegenstand öffentlicher Erörterung machen242. Dem entspricht es, daß der von einer (fremden) Darstellung in den Medien Betroffene die rechtlich gesicherte Möglichkeit haben muß, dieser mit seiner eigenen Darstellung entgegenzutreten; anderenfalls wäre er zum bloßen Objekt öffentlicher Erörterung herabgewürdigt243. Freilich darf die Effektivität dieses Rechtsbehelfs nicht überbewertet werden. Eine entscheidende Schwäche des Gegendarstellungsanspruchs liegt darin, daß seine Eilbedürftigkeit die Prüfung ausschließt, ob der Pressebericht oder die Entgegnung zutrifft 244. Infolge der (zum Teil) üblichen redaktionellen Bemerkung, daß die Gegendarstellung ohne Rücksicht auf ihren Wahrheitsgehalt verlesen werde(n müsse), hat diese meist mehr den Charakter einer erneuten Ehrverletzung als den einer Rehabilitierung245. "Hinzu kommt die Beschränkung auf die Angabe reiner Tatsachen, also das Verbot jeglicher Kommentare oder Schlußfolgerungen des Betroffenen" 246, während es sich die Presse häufig nicht nehmen läßt, ihrerseits durch Vorund Nachbemerkungen (oder auch im Leitartikel) zu der Gegendarstellung inhaltlich Stellung zu nehmen247. Zudem soll der Anspruchsberechtigte bei Durchsetzung einer einstweiligen Verfügung dann nach § 945 ZPO 2 4 8 zum

241

So BVerfGE 63,131,142 (Gegendarstellung), unter Verweis auf BVerfGE 54,148,153 (Eppler). 242

So BVerfGE 63,131,142 (Gegendarstellung), unter Verweis auf BVerfGE 35, 202,220 (Lebach); 54,148,155 f. (Eppler). - Siehe dazu auch schon oben II. 1. b). 243 Siehe BVerfGE 63, 131, 142 f. (Gegendarstellung); 73, 118, 201 (4. Fernseh-Entscheidung). 244 Vgl. G. Arzt, JuS 1982,717,725 mit Fn. 43. 245

Siehe H. Eschenlohr, NJW 1976, 1202, 1202; ähnlich P. Schwerdtner, keitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 341. 246 H. Eschenlohr, NJW 1976,1202,1202.

Das Persönlich-

247

Ein anschauliches Beispiel findet sich bei P. Schwerdtner, JuS 1978,289,299; zur presserechtlichen Zulässigkeit solcher Stellungnahmen vgl. R Damm, in: FS für M. Löffler, 1980, S. 40 f.; R Ricker, in: M. Löffler/R. Ricker, Handbuch des Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 148; jeweils m.w.N. 248

Nach H. Weitnauer, DB 1976,1365,1413,1417 Fn. 102, kann die Ersatzpflicht nicht aus § 945 ZPO hergeleitet werden, da es sich nur der Form nach um das Verfahren der einstweili-

64

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

Schadensersatz verpflichtet sein, wenn die gerichtliche Anordnung später wieder aufgehoben wird, etwa weil sie sich nicht auf tatsächliche Gegenausführungen beschränkte oder sich gegen Werturteile richtete249. Der Schadensersatz berechnet sich dann nach dem Preis eines entsprechend großen Inserates, was die Risiken deutlich macht250. Zu Recht wurde schließlich darauf hingewiesen, daß die gesetzliche Regelung des Gegendarstellungsrechts allenfalls noch den Gegebenheiten der Presse entspricht. Bereits für den Hörfunk ist sie unzureichend und dem Medium Fernsehen sogar völlig unangemessen, muß die Gegendarstellung hier doch ausschließlich durch Verlesung, also nicht durch Wort und Bild erfolgen 251. Ein kräftiger Ausbau des Gegendarstellungsrechts252 erscheint daher dringend geboten.

B. Die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz Die zu Beginn der Arbeit vorgenommene Betrachtung des Rechtsguts "Ehre" auf Verfassungsebene hat deutlich werden lassen, daß der Ehrenschutz spezifisch verfassungsrechtliche Bedeutung vor allem unter zwei Aspekten erlangt: zum einen im Kreis der die menschliche Persönlichkeit schützenden Grundrechtsnormen, zum anderen im Gegenüber zu den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG. Gerade im Kollisionsfall mit der Meinungsfreiheit erweist sich die persönliche Ehre des einzelnen als besonders gefährdet und stellt sich mithin die Frage nach ihrem (verfassungsrechtlichen Schutz. Im folgenden soll daher genauer untersucht werden, wie das gen Verfügung handele, in Wahrheit aber der Anspruch endgültig durchgesetzt werde, was eine Analogie zu § 717 ZPO nahelege. 249

Siehe BGHZ 62, 7, 9 ff. (Ungerechtfertigte Gegendarstellung); vgl. dazu auch Κ F. Kreuzer, JZ 1974, 507, 507 ff.; H. Weitnauer, DB 1976, 1365,1413,1417; Κ Nüssgens, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 461 ff. 250 Vgl. P. Schwerdmer, JuS 1978, 289, 299. - Richtigerweise kann eine solche Schadensersatzpflicht grundsätzlich aber nur dann eintreten, wenn wegen der Gegendarstellung andere Anzeigenaufträge nicht ausgeführt werden konnten, siehe Κ Nüssgens, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 461, 475; R Ricker, in: M. Löffler/R. Ricker, Handbuch des Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 154 m.w.N. 251

So H. Eschenlohr, NJW 1976,1202,1202.

252

Siehe dazu auch P. Lerche, Verfassungsrechtliche Fragen zur Pressekonzentration, 1971, S. 112,117 These 12.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

65

Spannungsverhältnis zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bislang aufgelöst wurde. Immer wieder mußten sich die Gerichte in der Vergangenheit mit Fällen befassen, in denen das Recht der persönlichen Ehre mit den Grundrechten des Art. 5 Abs. 1 GG kollidierte. Private und öffentliche Meinungsäußerungen wurden wegen ihres (angeblich) ehrverletzenden Inhalts zum Gegenstand zahlreicher zivil- und strafgerichtlicher Verfahren. Daß in der Judikatur der ordentlichen Gerichte dabei nur mit Mühe Leitlinien für die Beurteilung der Frage auszumachen sind, ob eine Äußerung ehrverletzenden Charakter hat oder nicht, und daß ein systematisches Vorgehen bei der Vornahme der erforderlichen Interessenabwägung kaum erkennbar ist, wurde in der Literatur bereits mehrfach dargestellt und kritisiert 1 und soll deshalb hier nicht erneut näher ausgeführt werden. Auf der Basis des bislang Erörterten interessiert vielmehr vor allem, ob (und gegebenenfalls wie) sich die zweifache Verankerung des Rechts der persönlichen Ehre im Grundgesetz in der Rechtsprechung niedergeschlagen hat, insbesondere welche Konsequenzen die Gerichte daraus für den Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz im Kollisionsfall gezogen haben. Dies soll anhand ausgewählter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs herausgearbeitet werden.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich zahlreiche Entscheidungen, die Ausführungen zum (Spannungs-)Verhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz enthalten2. Die Freiheitsrechte des Art. 5 Abs. 1 GG standen dabei entweder dem "Recht der persönlichen Ehre" (Art. 5 Abs. 2 GG) oder dem "allgemeinen Persönlichkeitsrecht" (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) gegenüber. 1

Vgl. zuletzt etwa Hartmut Krüger, WissR 1986,1,5 ff.

2

Siehe vor allem BVerfGE 12, 113 ff. (Schmid/Spiegel); 19, 73 ff. (Kronprinz Rupprecht von Bayern-Stiftung); 24, 278 ff. (Tonjäger); 33, 1 ff. (Strafvollzug); 34, 269 ff. (Soraya); 35, 202 ff. (Lebach); 42,143 ff. (Deutschland-Magazin); 42,163 ff. (Echternach); 43,130 ff. (Politisches Flugblatt); 47,130 ff. (Delmenhorster Kasernenzeitung); 54,129 ff. (Kunstkritik); 54, 148 ff. (Eppler); 54, 208 ff. (Boll); 60, 234 ff. ("Kredithaie"); 61,1 ff. (Wahlkampf); 63,131 ff. (Gegendarstellung); 66,116 ff. (Springer/Wallraff); 68, 226 ff. ("Schwarzer Sheriff'); 71,206 ff. (Veröffentlichung einer Anklageschrift). 5 Mackeprang

66

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

1. Entscheidungen zum Ehrenschutz aus Art. 5 Abs. 2 GG

Besonderen Erkenntniswert hat bereits der "Schmid/Spiegel-Beschluß"3 vom 25. Januar 1961. Dabei ging es um die Verfassungsbeschwerde des^damaligen Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten & Schmid gegen seine strafgerichtliche Verurteilung nach §§ 185 ff. StGB. Er hatte in einer Presseerwiderung auf einen Presseangriff des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel1* dem - nach den Feststellungen des Strafgerichts ein verzerrtes Bild zeichnenden4 - Inhalt eines seine politische Vergangenheit betreffenden Artikels widersprochen und dabei die Wochenzeitung als "Reizliteratur" und als "eine Gattung von Publizistik, die auf dem Gebiet der Politik das ist, was die Pornographie auf dem Gebiet der Moral, nur mit dem Unterschied, daß man die erstere noch offen lesen kann"5, bezeichnet. In seiner Verurteilung zu DM 150,- Geldstrafe, hilfsweise einer Woche Haft, wegen Beleidigung sah der Beschwerdeführer unter anderem eine Verletzung seines Grundrechts auf freie Meinungsäußerung aus Art. 5 Abs. 1 GG; die Strafgerichte hätten ihm zu Unrecht den Schutz der §§ 193 und 199 StGB versagt6. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerde für begründet. Die angegriffenen Urteile hätten die verfassungsrechtliche Bedeutung der Bildung öffentlicher Meinung verkannt und infolgedessen den Einfluß des Grundrechts der freien Meinungsäußerung auf Auslegung und Anwendung der Ehrenschutzbestimmungen unzutreffend gewertet7. Zur Begründung verwies das Gericht zunächst auf die im "Lüth-Urteil"8 entwickelten Grundsätze9 und stellte dann fest, daß die Tragweite des Grundrechts der Meinungsfreiheit gerade auf die in § 193 StGB gebotene Güterabwägung zwischen Ehre und Meinungsfreiheit - falls Gesichtspunkte der öffentlichen Meinungsbildung eine Rolle spielten - einen wesentlichen

3

BVerfGE 12,113 ff.

4

Siehe BVerfGE 12,113,130 (Schmid/Spiegel).

5

BVerfGE 12,113,118 (Schmid/Spiegel).

6

Vgl. BVerfGE 12,113,122 (Schmid/Spiegel).

7

Siehe BVerfGE 12,113,124 (Schmid/Spiegel).

8

BVerfGE 7,198 ff.

9

Vgl. BVerfGE 12, 113,124 f. (Schmid/Spiegel), unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 207 ff. (Lüth); siehe dazu näher unten Zweiter Teil Α. 1.2. a) und b) aa).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

67

Einfluß ausüben müsse10. Die Strafgerichte hätten den Sachverhalt zu Unrecht lediglich unter dem Gesichtspunkt der Verteidigung der persönlichen Ehre gesehen, ohne die Besonderheit einer in der Presse ausgetragenen Fehde und des ihr immanenten Elementes der öffentlichen Meinungsbildung zu würdigen11. Da sich die Äußerung des Beschwerdeführers objektiv als Beitrag zu einer die Öffentlichkeit stark interessierenden Frage darstelle 12 und der "Spiegel" zu einem abwertenden Urteil selbst Anlaß gegeben habe13, gebiete aber die Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 1 GG, ein berechtigtes Interesse im Sinne von § 193 StGB anzuerkennen14. Ausführungen zum "Recht der persönlichen Ehre" als der dritten Schranke der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG fehlten in dieser ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz. Die in Frage stehenden Ehrenschutzbestimmungen der §§ 185 ff. StGB wurden zwar auch nicht ausdrücklich als "allgemeine Gesetze" im Sinne der ersten Schranke nach Art. 5 Abs. 2 GG bezeichnet, die Argumentation des Gerichts läßt jedoch eine andere Interpretation kaum zu. Denn auf die Feststellung, daß die angegriffenen Urteile den Einfluß des Grundrechts der freien Meinungsäußerung auf Auslegung und Anwendung der Ehrenschutzbestimmungen unzutreffend gewertet hätten, folgten sogleich Ausführungen darüber, wie die Beziehung zwischen dem Grundrecht der freien Meinungsäußerung und den dieses begrenzenden "allgemeinen Gesetzen" nach Auffassung des Gerichts zu begreifen sei15. Ganz anders verfuhr das Gericht im "Kronprinz Rupprecht von BayernStiftung-Beschluß"16 vom 25. Mai 1965. In dieser Entscheidung wies es ausdrücklich darauf hin, "daß nach der Verfassung selbst dieses Grundrecht (sc.: das Grundrecht der freien Meinungsäußerung) eine Schranke findet

10

Siehe BVerfGE 12,113,125 (Schmid/Spiegel).

11

Vgl. BVerfGE 12,113,126 (Schmid/Spiegel).

12

Siehe BVerfGE 12,113,129 (Schmid/Spiegel).

13

Vgl. BVerfGE 12,113,131 (Schmid/Spiegel).

14

Siehe BVerfGE 12,113,132 (Schmid/Spiegel).

15

Vgl. BVerfGE 12,113,124 f. (Schmid/Spiegel); siehe auch bereits BVerfGE 7,198, 211 (Lüth), wo die zivilrechtlichen Vorschriften zum Schutz der Ehre offenbar ebenfalls als "allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG eingeordnet wurden. 16

5

BVerfGE 19,73 ff.

68

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

im 'Recht der persönlichen Ehre* (Art. 5 Abs. 2 GG)"17. Dem Schutz der Ehre dienten vor allem die strafgesetzlichen Bestimmungen über die Beleidigung (§§ 185 ff. StGB), und die von den zuständigen Gerichten einwandfrei getroffene Feststellung eines Verstoßes gegen diese Bestimmungen aktualisiere die verfassungsrechtliche Grenze der Meinungsfreiheit jeweils im Einzelfall 18. Im "Tonjäger-Beschluß"19 vom 06. November 1968 argumentierte das Bundesverfassungsgericht dann aber wieder ähnlich wie im "Schmid/Spiegel-Beschluß"20. In einer vom Deutschen Tonjägerverband e.V. als Interessenvertreter privater Tonbandgerätebesitzer herausgegebenen Zeitschrift war ein Artikel erschienen, der sich mit der seinerzeit geplanten Vergütungspflicht für private Tonband-Überspielungen21 auseinandersetzte und im Hinblick auf die Möglichkeit von Bespitzelungen im privaten Bercich zur Ermittlung noch nicht zahlender Geräte-Besitzer den Vorwurf aussprach, die GEMA 2 2 wolle in "östliche Zustände" hineinführen 23. Daraufhin erwirkte die GEMA gegen den Tonjägerverband und den verantwortlichen Redakteur eine einstweilige Verfügung, mit der die Aufstellung und Verbreitung dieser Behauptung untersagt wurde24. Die gegen die Bestätigung dieser Verfügung eingelegte Berufung wurde vom Oberlandesgericht mit der Begründung zurückgewiesen, der Vorwurf habe die GEMA in ihrer Ehre verletzt; Wahrnehmung berechtigter Interessen scheide als Rechtfertigungsgrund aus, weil sich aus Inhalt und Form der Behauptung die Absicht ergebe, die GEMA in ihrem Ansehen herabzuwürdigen. Zu solchen Zwecken dürfe auch die Meinungsfreiheit nicht mißbraucht werden25. Durch dieses Urteil sahen sich der Tonjägerverband und der verantwortliche Redakteur in ihren Grundrechten verletzt und erhoben Verfassungsbe17

BVerfGE 19,73, 74 (Kronprinz Rupprecht von Bayern-Stiftung).

18

Siehe BVerfGE 19, 73, 74 (Kronprinz Rupprecht von Bayern-Stiftung).

19

BVerfGE 24,278 ff.

20

BVerfGE 12,113 ff.

21

Vgl. dazu jetzt die Bestimmungen der §§ 53 und 54 des Urheberrechtsgesetzes (einschließlich der Anlage zu § 54 Abs. 4). 22 "Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte" als Interessenvertreterin der Urheber. 23

Siehe BVerfGE 24,278,278 f. (Tonjäger).

24

Vgl. BVerfGE 24,278,279 (Tonjäger).

25

Siehe BVerfGE 24,278,279 f. (Tonjäger).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

69

schwerde zum Bundesverfassungsgericht. Sie machten unter anderem geltend, das Oberlandesgericht habe die Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für die Entscheidung des Rechtsstreits verkannt und deshalb die widerstreitenden Interessen der Beschwerdeführer und der GEMA nicht verfassungsgemäß abgewogen26. Das Bundesverfassungsgericht gab den Beschwerdeführern recht. Das Oberlandesgericht habe zwar die mögliche Kollision des Ehrenschutzes mit den Grundrechten der Beschwerdeführer aus Art. 5 Abs. 1 GG erwähnt, aber jede nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung erforderliche konkrete Abwägung für den Einzelfall unterlassen27. "Bei Vornahme dieser Abwägung hätte es erkennen müssen, daß die von den Beschwerdeführern verwendete Formulierung durch den § 193 StGB in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt ist, weil die Äußerung im Rahmen einer öffentlichen, der allgemeinen Meinungsbildung dienenden Auseinandersetzung gefallen ist und es sich um eine adäquate Reaktion auf einen anderen Vorgang handelte."28 Zwar habe ein unmittelbar vorangegangener Angriff auf die Ehre der Beschwerdeführer, der eine ähnlich wirkende Erwiderung allein deshalb gerechtfertigt hätte, nicht vorgelegen. Die Verknüpfung von Anlaß und Reaktion in einem schwebenden Meinungskampf sei aber nicht auf gegenseitige Beleidigungen beschränkt. Da es der Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung sei, Aufmerksamkeit zu erregen, seien angesichts der heutigen Reizüberflutung einprägsame, auch starke Formulierungen hinzunehmen, solange sie nicht unverhältnismäßig sei29

en . Das "Recht der persönlichen Ehre" als Schranke der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG wurde in dieser Entscheidung - wie schon im "Schmid/Spiegel-Beschluß"30 - nicht erwähnt. Die einschlägigen zivilrechtlichen Ehrenschutzbestimmungen wurden vielmehr offensichtlich wieder als "allgemeine Gesetze" eingeordnet, denn bei der Prüfung der Würdigung der Ausstrahlungswirkung des Art. 5 Abs. 1 GG im Bereich des Ehren26

Vgl. BVerfGE 24,278, 280 (Tonjäger).

27

Siehe BVerfGE 24, 278, 282 (Tonjäger), unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 207 ff. (Lüth). 28

Vgl. BVerfGE 24, 278, 282 f. (Tonjäger), unter Verweis auf BVerfGE 12, 113, 125 f. (Schmid/Spiegel). 29

Siehe BVerfGE 24,278,286 (Tonjäger).

30

BVerfGE 12,113 ff.

70

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

schutzes durch das Oberlandesgericht verwies das Bundesverfassungsgericht auf seine bis dahin zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und "allgemeinen Gesetzen" ergangene Rechtsprechung31. Im "Strafvollzugs-Beschluß" 32 vom 14. März 1972 knüpfte das Gericht dann aber wieder an die im "Kronprinz Rupprecht von Bayern-Stiftung-Beschluß"33 gemachten Ansätze zu einer verfassungstextnahen Auslegung und Anwendung des Art. 5 Abs. 2 GG an. Bei der Untersuchung, ob das Anhalten eines Strafgefangenen-Briefes wegen seines zum Teil beleidigenden Inhalts gegen das Grundrecht des Betroffenen auf freie Äußerung seiner Meinung verstoßen hatte, wurden, im Anschluß an die Feststellung, daß auch abwertende Werturteile über andere Personen vom Normbereich des Art. 5 Abs. 1 GG erfaßt werden, die Schranken der "allgemeinen Gesetze" und des "Rechts der persönlichen Ehre" getrennt geprüft, wobei die Bestimmungen der §§ 185 ff. StGB34, 823 ff. BGB und das Recht der Klage auf Widerruf und Unterlassung nur als Ehrenschutzbestimmungen eingeordnet wurden35. Allerdings wies das Gericht in dieser, vor allem wegen ihrer grundlegenden Aussagen zur Grundrechtsgeltung im "besonderen Gewaltverhältnis" bedeutsamen Entscheidung auch darauf hin, daß das "Recht der persönlichen Ehre" nur insoweit eine die Meinungsfreiheit zulässigerweise einengende Schranke bilde, als es gesetzlich normiert sei, da eine andere Interpretation gegen das herrschende Grundrechtsverständnis verstieße, wonach Eingriffe in Freiheitsrechte grundsätzlich nur auf gesetzlicher Grundlage möglich seien36. Auch im "Deutschland-Magazin-Beschluß"37 vom 11. Mai 1976 schien es zunächst so, als sollte die im ^Kronprinz Rupprecht von Bayem-StiftungBeschluß"38 begonnene Rechtsprechung zum "Recht der persönlichen Ehre" eine Fortsetzung erfahren. Das Gericht betonte zu Beginn erneut, daß

31

Vgl. BVerfGE 24, 278, 282 (Tonjäger), unter Verweis auf BVerfGE 7,198, 207 (Lüth); 7,230,233 f. (Wahlplakat); 20,162,176 f. (Spiegel). 32

BVerfGE 33, Iff.

33

BVerfGE 19,73 ff.

34 3 5 Insoweit

wie in BVerfGE 19,73,74 (Kronprinz Rupprecht von Bayern-Stiftung). Siehe BVerfGE 33,1,17 (Strafvollzug).

36

Vgl. BVerfGE 33,1,16 f. (Strafvollzug).

37

BVerfGE 42,143 ff.

38

BVerfGE 19,73 ff.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

71

die von den ordentlichen Gerichten einwandfrei getroffene Feststellung eines Verstoßes gegen die Bestimmungen zum Schutz der Ehre die verfassungsrechtliche Grenze der Meinungsfreiheit im Einzelfall aktualisiere39. Die weiteren Ausführungen bewegten sich jedoch darin wieder ganz auf der Linie des "Schmid/Spiegel-Beschlusses"40. Der Entscheidung lag die Verfassungsbeschwerde des Deutschen Gewerkschaftsbundes und zweier Journalisten gegen ein oberlandesgerichtliches Urteil zugrunde, mit dem ihnen verboten worden war, die Behauptung zu verbreiten, das "Deutschland-Magazin" sei ein "rechtsradikales Hetzblatt". Das Urteil war von der Herausgeberin dieses Magazins, der "Deutschland-Stiftung", auf einen entsprechenden Artikel in dem vom Deutschen Gewerkschaftsbund herausgegebenen Informationsdienst "Gewerkschaftspresse" hin erwirkt worden41. Die Beschwerdeführer sahen in dem Urteil einen Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 GG. Der beanstandete Artikel sei im Hinblick auf den polemischen Stil des "Deutschland-Magazins" eine adäquate Reaktion auf das publizistische Wirken der "Deutschland-Stiftung", und angesichts der heutigen Reizüberflutung müßten auch starke Formulierungen hingenommen werden42. Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerde zurück. Die Verhältnisbestimmung von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz, zu der das Oberlandesgericht gelangt sei, könne keine Veranlassung geben, seiner Entscheidung entgegenzutreten43. Das angegriffene Urteil verbiete nur die wörtliche, nicht auch die sinngemäße Behauptung, das "Deutschland-Magazin" sei ein "rechtsradikales Hetzblatt"; an der Äußerung eines bestimmten Gedankeninhalts würden die Beschwerdeführer nicht gehindert. Zudem sei der Streit für beide Seiten inzwischen kaum mehr als eine Prestigeangelegenheit44. Bei dem Recht der persönlichen Ehre handele es sich um eine verfassungsrechtlich positivierte Schranke der Meinungs- und Pressefreiheit45; über sie könnten sich die Gerichte nicht ohne weiteres mit dem Argument hinwegsetzen, angesichts der heutigen Reizüberflutung könne eine 39

Siehe BVerfGE 42,143,147 f. (Deutschland-Magazin), unter Verweis auf BVerfGE 19, 73,74 (Kronprinz Rupprecht von Bayern-Stiftung). 40

BVerfGE 12,113 ff.

41

Vgl. BVerfGE 42,143,144 ff. (Deutschland-Magazin).

42

Siehe BVerfGE 42,143,146 (Deutschland-Magazin).

43

Vgl. BVerfGE 42,143,150 f. (Deutschland-Magazin).

44

Siehe BVerfGE 42,143,151 (Deutschland-Magazin).

45

Vgl. BVerfGE 42,143,152 (Deutschland-Magazin).

72

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

Meinungsäußerung, um bessere Wirkung zu erzielen, einprägsame, auch starke Formulierungen erfordern 46. Dieser Gesichtspunkt könne ebenso wie das Recht des "Gegenschlags" von Bedeutung sein, soweit (auch) eine inhaltliche Beschränkung der Meinungsfreiheit in Frage stehe47. Dagegen seien Erwägungen solcher Art nicht geeignet, jedwede Verletzung der Ehre des politischen Gegners von Verfassungs wegen zu rechtfertigen 48. Das "Recht der persönlichen Ehre" wurde in dieser Entscheidung also als Schranke der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG ausdrücklich genannt. Dies erfolgte jedoch gemeinsam mit den "allgemeinen Gesetzen" und ohne daß irgendeine Differenzierung zwischen diesen beiden Schrankenvorbehalten des Art. 5 Abs. 2 GG vorgenommen worden wäre. Vielmehr wurde die "Wechselwirkungstheorie" erstmals ausdrücklich auch auf das "Recht der persönlichen Ehre" erstreckt49 und damit dogmatisch das untermauert, was der Sache nach bereits mit dem "Schmid/Spiegel-Beschluß"50 und dem "Tonjäger-Beschluß"51 vollzogen worden war. Eine weitere wesentliche Ergänzung der bisherigen Rechtsprechung enthielt der Beschluß im Hinblick auf den Umfang der Nachprüfbarkeit der "fach"gerichtlichen Abwägung52. Das Gericht meinte, daß insofern namentlich auf die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung abgestellt werden müsse53 und daß das Bundesverfassungsgericht in Fällen höchster Eingriffsintensität durchaus befugt sei, die von den "Fach"gerichten vorgenommene Wertung durch seine eigene zu ersetzen54.

46

Siehe BVerfGE 42,143,152 f. (Deutschland-Magazin), unter Verweis auf BVerfGE 24, 278,286 (Tonjäger). 47

Vgl. BVerfGE 42, 143, 153 (Deutschland-Magazin), unter Verweis auf BVerfGE 12, 113,125 f. (Schmid/Spiegel); 24,278,282 f. (Tonjäger). 48

Siehe BVerfGE 42,143,153 (Deutschland-Magazin).

49

Vgl. BVerfGE 42,143,150 (Deutschland-Magazin).

50

Siehe BVerfGE 12,113,124 ff.

51

Vgl. BVerfGE 24,278,282 ff.

52

Eingehend zum Umfang der verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenz H. J. Faller, in: FS für M. Löffler, 1980, S. 43,43 ff. 53

Siehe BVerfGE 42, 143,148 (Deutschland-Magazin); ebenso später etwa BVerfGE 42, 163,168 (Echternach); 43, 130, 135 f. (Politisches Flugblatt); 54, 129, 135 (Kunstkritik); 54, 208, 215 (Boll); 61, 1, 6 (Wahlkampf); 66, 116, 131 (Springer/Wallraff); 67, 213, 222 f. (Anachronistischer Zug 1980). 54

Vgl. BVerfGE 42,143,149 (Deutschland-Magazin).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

73

Mit dem "Echternach-Beschluß"55 vom selben Tage wurde diese Rechtsprechung fortgesetzt. Auch in diesem Verfahren ging es um die Zulässigkeit einer Äußerung über die "Deutschland-Stiftung". Der Hamburger CDU-Politiker/. Echternach hatte in einem Presseartikel den Vorwurf erhoben, die "Deutschland-Stiftung" mißbrauche den Namen "Konrad Adenauer" für rechte Sektierer, sie sei ein nationalistisches Unternehmen mit einem demokratischen Deckmantel, und ihr geschäftsführendes Vorstandsmitglied Κ Ziesel bemühe sich, sein "Deutschland-Magazin" der von ihm so verehrten "Deutschen National- und Soldatenzeitung" anzugleichen56. Auf Betreiben der "Deutschland-Stiftung" wurde ihm daraufhin im Wege der einstweiligen Verfügung gerichtlich verboten, dergleichen wörtlich oder sinngemäß zu behaupten oder zu verbreiten. Das Oberlandesgericht bestätigte das Verbot. Die angegriffenen Äußerungen seien zweifellos ehrenrührig. Das Recht, durch öffentliche Stellungnahmen an der politischen Meinungsbildung mitzuwirken, erlaube aber nicht jede herabsetzende Kritik. Eine in der Presse veröffentlichte Kritik müsse vielmehr tatsächliche Bezugspunkte aufweisen, die den Durchschnittsleser die Auseinandersetzung und die Bedeutung des dahinterstehenden Anliegens erkennen ließen. Da solche Anhaltspunkte fehlten, seien die erhobenen Vorwürfe kein adäquates Mittel im Rahmen der politischen Auseinandersetzung und deshalb durch Art. 5 GG nicht mehr gedeckt57. Daraufhin legte /. Echternach Verfassungsbeschwerde ein und führte aus, das Urteil verkenne die Ausstrahlungswirkung der Meinungs- und Pressefreiheit auf den zivilrechtlichen Ehrenschutz58. Das Bundesverfassungsgericht hob die angefochtene Entscheidung auf; sie lasse Fehler erkennen, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des geltend gemachten Grundrechts beruhten59. Da dem Beschwerdeführer nicht nur die wörtliche, sondern auch die sinngemäße Wiederholung der streitigen Behauptungen verboten worden sei, werde ihm die Äußerung bestimmter Gedankeninhalte im Rahmen einer öffentlichen politischen Auseinandersetzung untersagt60. Damit sei die Meinungs55

BVerfGE 42,163 ff.

56

Siehe BVerfGE 42,163,164 (Echternach).

57

Vgl. BVerfGE 42,163,165 f. (Echternach).

58

Siehe BVerfGE 42,163,166 (Echternach).

59

Vgl. BVerfGE 42,163,169 (Echternach).

60

Siehe BVerfGE 42,163,168 f. (Echternach).

74

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

freiheit in ihrer Kernbedeutung als Voraussetzung eines freien und offenen politischen Prozesses betroffen 61. Sofern es sich bei der zu beurteilenden Äußerung um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handele62, sei eine Auslegung der das Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik im politischen Meinungskampf überhöhte Anforderungen stelle, mit Art. 5 GG nicht vereinbar 63. Eine solche überhöhte Anforderung sei es aber, wenn die Zulässigkeit ehrverletzender wertender Äußerungen im politischen Meinungskampf ohne Rücksicht auf die dargelegten Umstände schlechthin an die Voraussetzung gebunden werde, daß dem Leser gleichzeitig Tatsachen mitgeteilt werden, die ihm eine kritische Beurteilung der Wertung ermöglichen; denn das Grundrecht der Meinungsfreiheit wolle auch gewährleisten, daß jeder frei sagen könne, was er denkt, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angeben könne?4. In dieser Entscheidung erwähnte das Bundesverfassungsgericht die "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" und das "Recht der persönlichen Ehre" wiederum gemeinsam und stellte erneut fest, daß die "Wechselwirkungstheorie" auf beide Schranken der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG anzuwenden sei65. Die §§ 823, 1004 BGB wurden aber hier - anders als noch im "Strafvollzugs-Beschluß"66 - als "allgemeine Gesetze" eingeordnet . Im "Flugblatt-Beschluß"68 vom 07. Dezember 1976 finden sich dann erstmals nähere Ausführungen zur Anwendung der "Wechselwirkungstheorie" auf das "Recht der persönlichen Ehre". Bei der Prüfung, ob die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers nach §§ 185 ff. StGB wegen der in einem von ihm verfaß-

61

Vgl. BVerfGE 42,163,170 (Echternach).

62

Siehe BVerfGE 42, 163, 170 (Echternach), unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 212 (Lüth); 12,113,127 (Schmid/Spiegel); 24,278,282 f. (Tonjäger). 63

Vgl. BVerfGE 42,163,170 (Echternach).

64

Siehe BVerfGE 42,163,170 f. (Echternach).

65

Vgl. BVerfGE 42,163,169 (Echternach).

66

Siehe BVerfGE 33,1,17.

67

Vgl. BVerfGE 42,163,169 (Echternach).

68

BVerfGE 43,130 ff.

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

75

ten Flugblatt enthaltenen Behauptungen über die nationalsozialistische Vergangenheit bestimmter politischer Gegner69 unter Verletzung des Art. 5 Abs. 1 GG zustande gekommen war, kam das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, daß bereits die der Verurteilung zugrunde liegende Tatsachenfeststellung darauf beruhe, daß das Strafgericht die Bedeutung des Art. 5 GG für diese Feststellung nicht berücksichtigt habe70. Indem es davon ausgegangen sei, daß im Interesse eines wirksamen Ehrenschutzes eine "weite Auslegung" der beanstandeten Äußerungen geboten sei, habe es bei der Interpretation des Flugblatts einen Maßstab herangezogen, der mit Art. 5 GG unvereinbar sei, weil er ausschließlich auf den als Schranke der Meinungsfreiheit normierten Ehrenschutz abstelle, die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Meinungsfreiheit selbst aber gänzlich außer Betracht lasse71. Zwar dürfe die verfassungsrechtliche Bedeutung des Ehrenschutzes nicht verkannt werden. Aber ebenso verlange das Grundrecht der Meinungsfreiheit Berücksichtigung, das durch das Recht der persönlichen Ehre nur eingeschränkt werde; dies um so mehr, als es sich bei dem Flugblatt um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage gehandelt habe, also eine Sachlage, die für die Bestimmung des Verhältnisses von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz von besonderer Bedeutung sei72. Demgemäß sei das alleinige Abstellen auf den Ehrenschutz unter dem Blickwinkel des Art. 5 GG unzulässig gewesen73. Damit erteilte das Bundesverfassungsgericht jeder "Beschränkungsautomatik" eine klare Absage und machte erneut deutlich, daß die für das Verhältnis von Meinungsfreiheit und "allgemeinen Gesetzen" entwickelten Grundsätze auch für die Auslegung und Anwendung des "Rechts der persönlichen Ehre" maßgeblich sind. Es war allerdings auch die bislang letzte Entscheidung des Gerichts, der sich Aussagen speziell zur dritten Schranke der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG entnehmen lassen.

69

Siehe BVerfGE 43,130,131 ff. (Politisches Flugblatt).

70

Vgl. BVerfGE 43,130,138 (Politisches Flugblatt).

71

Siehe BVerfGE 43,130,139 (Politisches Flugblatt).

72

Vgl. BVerfGE 43, 130, 137, 139 (Politisches Flugblatt), unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 212 (Lüth); 12,113,127 (Schmid/Spiegel); 24, 278, 282 f. (Tonjäger); 42,163, 170 (Echternach). 73

Siehe BVerfGE 43,130,139 (Politisches Flugblatt).

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

76

Seit dem "Kunstkritik-Beschluß"74 vom 13. Mai 1980 stellt das Bundesverfassungsgericht praktisch nur noch auf die erste Schranke der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG ab. In diesem Verfahren ging es um die Verfassungsbeschwerde zweier Rundfunkjournalisten, die wegen ihrer Berichterstattung über die "Römerberg-Gespräche" im Jahre 1974 in Frankfurt zur Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von DM 3500,- bzw. DM 2500,- verurteilt worden waren. Sie hatten unter anderem geäußert, der Kläger des Ausgangsverfahrens, der in einem Vortrag massive Kritik an der gegenwärtigen Kunstkritik und an der Ausstellungstätigkeit der Museen und Galeristen geübt hatte, habe in der Position eines bornierten Oberlehrers zu haßerfüllten Tiraden ausgeholt, sei ein Provinzdemagoge und habe bei seinen Vorträgen zeitweilig so etwas wie eine Pogromstimmung geschaffen; ferner, er sei ein dialektischer Gartenzwerg, von Verfolgungswahn befallen, und der Tonfall seiner Vorträge sei so gewesen, als wolle er sagen, daß alles verjudet sei75. Das Oberlandesgericht als Berufungsinstanz sah darin schwere Ehrverletzungen. Zwar seien die Grenzen der freien Meinungsäußerung weit zu ziehen, was auch scharfe Kritik einschließe, die beanstandeten Äußerungen hätten jedoch den Rahmen zulässiger Kunstkritik überschritten, weil sie erkennbar nur den Zweck gehabt hätten, den Kläger persönlich in der interessierten Öffentlichkeit herabzusetzen76. Die Beschwerdeführer waren demgegenüber der Ansicht, ihnen habe ein Recht zum "Gegenschlag" zugestanden77. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, daß das Grundrecht der Beschwerdeführer aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG durch das angegriffene Urteil verletzt wurde. Die Äußerungen, an die das Oberlandesgericht die Verurteilung geknüpft habe, seien Bestandteile von Beiträgen zur öffentlichen geistigen Auseinandersetzung auf einem Gebiet gewesen, das nicht minder von der Freiheit der Gedanken lebe als die Politik. Eine Auslegung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik überhöhte Anforderungen stelle, sei in einem solchen Fall mit Art. 5 GG nicht vereinbar 78. Das Oberlandesgericht habe 74

BVerfGE 54,129 ff.

75

Vgl. BVerfGE 54,129,130 ff. (Kunstkritik).

76

Siehe OLG Celle AfP 1977,233,234 f.; vgl. auch BVerfGE 54,129,133 f. (Kunstkritik).

77

Vgl. BVerfGE 54,129,134 (Kunstkritik).

78

Siehe BVerfGE 54, 129, 137 (Kunstkritik), unter Verweis auf BVerfGE 42, 163, 170 (Echternach).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

77

die beanstandeten Äußerungen aus ihrem Zusammenhang gelöst und damit ihren Zweck verkannt. Auch wenn sich mit diesen übersteigerte Polemik unterschiedlichen Gehalts und Niveaus verbunden habe, sei es doch nicht in erster Linie um die private oder zumindest persönliche Herabsetzung des Klägers gegangen, sondern um die öffentliche Kritik der "Römerberg-Gespräche" und die Auseinandersetzung über eine bestimmte geistige Richtung; bei dieser Sachlage gewinne aber die Freiheit der Meinungsäußerung ihr volles Gewicht79. Ferner habe das Oberlandesgericht außer Betracht gelassen, daß derjenige, der im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlaß gegeben hat, eine scharfe Reaktion grundsätzlich auch dann hinnehmen müsse, wenn sie sein Ansehen mindere80. Diese Verknüpfung von Anlaß und Reaktion sei nicht auf gegenseitige Beleidigungen beschränkt81. Vielmehr sei maßgeblich darauf abzustellen, ob und in welchem Ausmaß der von herabsetzenden Äußerungen Betroffene seinerseits an dem von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Prozeß öffentlicher Meinungsbildung teilgenommen, sich damit aus eigenem Entschluß den Bedingungen des Meinungskampfes unterworfen und sich durch dieses Verhalten eines Teils seiner schützenswerten Privatsphäre begeben habe82. Schließlich sei in dem angegriffenen Urteil unberücksichtigt geblieben, daß grundsätzlich auch die Form einer Meinungsäußerung der durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Selbstbestimmung des sich Äußernden unterliege83. Die Spontaneität freier Rede, für deren Zulässigkeit eine Vermutung spreche84, sei Voraussetzung der Kraft und der Vielfalt der öffentlichen Diskussion, die ihrerseits Grundbedingung eines freiheitlichen Gemeinwesens sei. Solle diese Kraft und Vielfalt generell erhalten bleiben, dann müßten im Einzelfall auch Schärfen und Übersteigerungen des öffentlichen Meinungskampfes oder ein Gebrauch der Meinungsfreiheit in Kauf genommen werden, der zu sachgemäßer Meinungsbildung nichts beitragen kann85. 79

Vgl. BVerfGE 54,129,137 (Kunstkritik).

Siehe BVerfGE 54, 129, 138 (Kunstkritik), unter Verweis auf BVerfGE 12, 113, 131 (Schmid/Spiegel); 24,278, 286 (Tonjäger). 81

Vgl. BVerfGE 54,129,138 (Kunstkritik); siehe auch schon BVerfGE 24, 278, 286 (Ton-

jäger). 82

Siehe BVerfGE 54,129,138 (Kunstkritik).

83

Vgl. BVerfGE 54,129,138 f. (Kunstkritik).

84 Siehe BVerfGE 54, 129, 139 (Kunstkritik), unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 212 (Lüth). 85

Vgl. BVerfGE 54,129,139 (Kunstkritik).

78

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

Das "Recht der persönlichen Ehre" wurde in dieser Entscheidung zwar neben den "allgemeinen Gesetzen" als Schranke der Meinungsfreiheit besonders genannt86, die in Frage stehenden Bestimmungen der §§ 823 Abs. 1, 847 BGB wurden aber nur als "allgemeine Gesetze" eingestuft 87. Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht bereits an anderer Stelle festgestellt, daß § 185 StGB sowohl "allgemeines Gesetz" im Sinne von Art. 5 Abs. 2 GG als auch Bestandteil des "Rechts der persönlichen Ehre" sei88. Auch im "Kredithaie-Beschluß"89 vom 20. April 1982 wurde zunächst noch differenzierend von den in Art. 5 Abs. 2 GG normierten Schranken der "allgemeinen Gesetze" oder des "Rechts der persönlichen Ehre" gesprochen90. Bei der Anwendung auf den konkreten Rechtsfall - in der Zeitschrift "DAS NEUE BLATT" war ein Artikel über Mißstände im Ratenkreditgewerbe erschienen, in dem Kreditvermittler als "Kredithaie" bezeichnet worden waren91 - war dann aber nur noch von durch "allgemeine Gesetze" geschützten Belangen die Rede92. Obwohl das Oberlandesgericht den Vergleich mit einem Hai, "einem blutrünstigen, reißenden Tier", als Formalbeleidigung angesehen hatte93, wurden Überlegungen zur dritten Schranke der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG nicht angestellt. Im "Wahlkampf-Beschluß"94 vom 22. Juni 1982 wurde diese Rechtsprechung fortgesetzt und ausgebaut. Es ging um die Zulässigkeit der von einem Kandidaten der SPD für die Wahl zum Europäischen Parlament auf mehreren Wahlveranstaltungen aufgestellten Behauptung, die CSU sei "die NPD von Europa"95. Das Oberlandesgericht hatte diese Äußerung als unwahre Tatsachenbehauptung und grobe Ehrverletzung erachtet, die als Schmähkritik auch unter Berücksichtigung des Art. 5 Abs. 1 GG grundsätz86

Siehe BVerfGE 54,129,136 (Kunstkritik).

87

Vgl. BVerfGE 54,129,137 (Kunstkritik).

88 Siehe BVerfGE 47, 130,143 (Delmenhorster Kasernenzeitung); vgl. auch BVerfGE 69, 257,269 (Wahlwerbespot Deutsche Zentrumspartei). 89

BVerfGE 60,234 ff.

90

Vgl. BVerfGE 60,234,240 ("Kredithaie").

91

Siehe BVerfGE 60,234,235 f. ("Kredithaie").

92

Vgl. BVerfGE 60,234,241 ("Kredithaie").

93

Siehe OLG Zweibrücken NJW 1981,129,130; vgl. auch BVerfGE 60,234, 238 ("Kredit-

haie"). 94

BVerfGE 61, Iff.

95

Vgl. BVerfGE 61,1,1 f. (Wahlkampf).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

79

lieh unzulässig sei, und daher dem Unterlassungsbegehren der CSU stattgegeben96. Das Bundesverfassungsgericht hielt die gegen diese Entscheidung gerichtete Verfassungsbeschwerde für begründet. Der beanstandete Satz enthalte eine durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich geschützte Meinungsäußerung. Wörtlich genommen sei er zwar als Behauptung einer Tatsache offensichtlich falsch, weil die CSU nicht mit einer (nicht existenten) NPD Europas identisch sein könne. Eine derart absurde Aussage zu machen, habe aber erkennbar auch nicht in der Absicht des Beschwerdeführers gelegen. Sobald jedoch versucht werde, den Sinn dieses Satzes zu ermitteln, werde unvermeidlich die Grenze zu dem Bereich des Dafürhaltens und Meinens überschritten97. Wenn sich auch aus der Behauptung Elemente des Tatsächlichen heraushören ließen, etwa daß die CSU ultrarechts stehe, trete doch der tatsächliche Gehalt der substanzarmen Äußerung gegenüber der Wertung zurück, so daß sich an dem Charakter des Satzes als Meinungsäußerung nichts ändere98. Soweit das Oberlandesgericht davon ausgegangen sei, daß der Beschwerdeführer die Grenzen der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 2 GG) überschritten habe, habe es die Rückwirkung der grundrechtlichen Gewährleistung auf diese verkannt99. Maßgeblich sei insoweit vor allem der Zweck der Meinungsäußerung100. Die beanstandete Behauptung stelle sich nicht nur als Beitrag zur öffentlichen Auseinandersetzung, sondern darüber hinaus auch als ein solcher zur Auseinandersetzung zwischen politischen Parteien in einem Wahlkampf dar. In einem solchen Fall verstärke Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG die Vermutung für die Zulässigkeit freier Rede mit der Folge, daß gegen das Äußern einer Meinung nur äußerstenfalls eingeschritten werden dürfe 101. Ferner habe das Oberlandesgericht außer Betracht gelassen, daß es wesentlich darauf ankomme, ob und

96

Siehe BVerfGE 61,1,2 f. (Wahlkampf).

97

Vgl. BVerfGE 61,1,9 (Wahlkampf).

98

Siehe BVerfGE 61,1,10 (Wahlkampf).

99

Vgl. BVerfGE 61, 1, 10 f. (Wahlkampf), unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 208 f. (Lüth). 100 101

Siehe BVerfGE 61,1,11 (Wahlkampf).

Vgl. BVerfGE 61, 1,12 (Wahlkampf); siehe dazu auch BVerfGE 69, 257, 270 (Wahlwerbespot Deutsche Zentrumspartei), wonach die Bedeutung von Wahlkämpfen für den demokratischen Prozeß eine Auslegung der das Grundrecht der Meinungsfreiheit beschränkenden Strafvorschrift des § 185 StGB gebieten soll, die jedenfalls bei Werturteilen über Vorstellungen und Haltungen konkurrierender politischer Parteien und Gruppierungen einen robusteren Sprachgebrauch zuläßt als etwa bei Meinungsäußerungen über Personen.

80

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

in welchem Ausmaß der von herabsetzenden Äußerungen Betroffene seinerseits an dem von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Prozeß öffentlicher Meinungsbildung teilgenommen, sich damit aus eigenem Entschluß den Bedingungen des Meinungskampfes unterworfen und sich durch dieses Verhalten eines Teils seiner schützenswerten Privatsphäre begeben habe102. Dieser im Blick auf natürliche Personen entwickelte Grundsatz müsse für politische Parteien um so mehr gelten, als deren Existenz und Wirken von vornherein und ausschließlich dem politischen Leben zuzuordnen sei103. Wiederum wies das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung zwar anfanglich noch darauf hin, daß der Meinungsfreiheit durch die "allgemeinen Gesetze" und den Schutz der persönlichen Ehre Schranken gezogen seien104. Die im Ausgangsverfahren maßgeblichen Ehrenschutzbestimmungen der §§ 823,1004 BGB wurden aber erneut nur als "allgemeine Gesetze" qualifiziert 105, auf die sogleich die "Wechselwirkungstheorie" angewandt wurde 106. Im "Springer/Wallraff-Beschluß" 107 vom 25. Januar 1984 schließlich wurde das "Recht der persönlichen Ehre" als Schranke des Grundrechts der Meinungsfreiheit erst gar nicht erwähnt. Soweit die Zulässigkeit einzelner herabsetzender Äußerungen über die "Bild"-Zeitung in Frage stand108, prüfte das Bundesverfassungsgericht nur, ob die ordentlichen Gerichte dem Einfluß des Art. 5 Abs. 1 GG auf die anzuwendenden "allgemeinen Gesetze" Rechnung getragen hatten109. Auch in zwei späteren Entscheidungen110 wurden nur noch die "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" als Schranken des Rechts auf freie Meinungsäußerung genannt111, obwohl es in beiden 102

Siehe BVerfGE 61, 1, 13 (Wahlkampf), unter Verweis auf BVerfGE 54, 129, 138 (Kunstkritik). 103

Vgl. BVerfGE 61,1,13 (Wahlkampf).

104

Siehe BVerfGE 61,1,8,10 (Wahlkampf).

105

Vgl. BVerfGE 61,1,10,12 (Wahlkampf).

106

Siehe BVerfGE 61,1,10 ff. (Wahlkampf).

107

BVerfGE 66,116 ff.

108

Vgl. BVerfGE 66,116,119 f. (Springer/Wallraff) - Klageantrag 4 b).

109

Siehe BVerfGE 66,116,150,151 (Springer/Wallraff).

110

BVerfGE 68, 226 ff. ("Schwarzer Sheriff'); 71,206 ff. (Veröffentlichung einer Anklage-

schrift). 111 Vgl. BVerfGE 68, 226, 231 ("Schwarzer Sheriff'); 71, 206, 214 (Veröffentlichung einer Anklageschrift).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

81

Fällen (zumindest auch) um den Schutz von Rechtsgütern ging, die als Ausprägungen des durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleisteten allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt sind112.

2. Entscheidungen zum Ehrenschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG

Die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht ist der "Soraya-Beschluß"113 vom 14. Februar 1973. In der Wochenzeitschrift "Das Neue Blatt mit Gerichtswoche" war im April 1961 ein "Exklusiv-Interview" mit der geschiedenen Ehefrau des Schahs von Iran, Prinzessin Soraya Esfandiary-Bakhtiary, veröffentlicht worden, das jedoch frei erfunden war 114 . Die angeblichen Äußerungen der Prinzessin befaßten sich auch und wesentlich mit ihren Privatangelegenheiten, etwa mit ihren Beziehungen zu ihrem früheren Gatten und etwaigen Heiratsabsichten115. Die zivilgerichtliche Klage der Prinzessin, die als Folge der Publikation eine Minderung ihres gesellschaftlichen Ansehens befürchtete 116, führte zur gesamtschuldnerischen Verurteilung der Verlagsgesellschaft und des geschäftsführenden Redakteurs zur Zahlung einer Genugtuung in Höhe von DM 15.000,- wegen schwerer Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Klägerin; Berufung und Revision blieben erfolglos 117. Nur so sei eine dem Eingriff angemessene Wiedergutmachung des ideellen Schadens zu erreichen, führte der Bundesgerichtshof aus118. Mit der Verfassungsbeschwerde rügten die Verurteilten daraufhin unter anderem eine Verletzung des Art. 5 GG 1 1 9 . Zur Begründung trugen sie vor, daß der vom Bundesgerichtshof entwickelte Rechtssatz, wonach bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts unter bestimmten Voraussetzungen Geldersatz auch für ideelle Schäden zu lei112

Siehe BVerfGE 68, 226, 231 f. ("Schwarzer Sheriff'); 71, 206, 219 (Veröffentlichung einer Anklageschrift). 113

BVerfGE 34,269 ff.

114

Vgl. BVerfGE 34,269,276 f. (Soraya).

115

Siehe BGH NJW 1965,685,686 (Soraya).

116

Vgl. BGH NJW 1965,685,686 (Soraya).

117

Siehe BVerfGE 34,269,277 (Soraya).

118

Vgl. BGH NJW 1965,685,686 (Soraya).

119

Siehe BVerfGE 34,269, 278 (Soraya).

6 Mackeprang

82

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

sten sei, eine unzulässige Beschränkung des Grundrechts auf Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit darstelle. Diese Rechtsprechung gewähre dem Persönlichkeitsschutz den Vorrang gegenüber dem Recht auf freie Meinungsäußerung und schaffe ein unzulässiges Sonderrecht gegen die Presse. Trotz äußerster technischer und institutioneller Sorgfalt könnten besonders bei den wöchentlich mit mehreren hundert Seiten Text erscheinenden Illustrierten Persönlichkeitsverletzungen nicht vermieden werden120. Das Bundesverfassungsgericht sah keinen Anlaß, der beanstandeten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs von Verfassungs wegen entgegenzutreten. Das Wertsystem der Grundrechte finde seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde 121. Ihr gebühre Achtung und Schutz von Seiten aller staatlichen Gewalt (Art. 1 und 2 Abs. 1 GG) 1 2 2 . Diesem Schutzzweck diene im Bereich des Privatrechts auch die Rechtsfigur des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, dessen Anerkennung durch die Rechtsprechung der Zivilgerichte vom Bundesverfassungsgericht nie mißbilligt worden sei123. Da das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Auslegung des als "allgemeines Gesetz" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG anzusehenden § 823 Abs. 1 BGB zu den hier aufgeführten Rechten gehöre, komme ihm nach dem Willen der Verfassung auch die Fähigkeit zu, das Grundrecht der Pressefreiheit einzuschränken 124 . Jedoch könne das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht schlechthin den Vorrang beanspruchen; von der Pressefreiheit könne je nach der Gestaltung des konkreten Falls eine restriktive Wirkung auf die aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleiteten Ansprüche ausgehen125. Im vorliegenden Fall bestünden indessen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß die angegriffenen Entscheidungen dem Schutz der Persönlichkeits-

120

Vgl. BVerfGE 34,269,279 (Soraya).

121

Siehe BVerfGE 34, 269, 281 (Soraya), unter Verweis auf BVerfGE 6, 32,41 (Elfes); 7, 198,205 (Lüth). 122

Vgl. BVerfGE 34,269,281 (Soraya).

123

Siehe BVerfGE 34, 269, 281 f. (Soraya), unter Verweis auf BVerfGE 30, 173, 194 ff. (Mephisto); 34,118,135 f. (Schmerzensgeld); 34,238,247 (Heimliche Tonbandaufnahme). 124 Vgl. BVerfGE 34,269, 282 (Soraya). 125

Siehe BVerfGE 34, 269, 282 (Soraya), unter Verweis auf BVerfGE 7, 198, 208 f. (Lüth).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

83

den Vorrang vor der Pressefreiheit zugebilligt hätten126. Zwar ginge es zu weit, der Unterhaltungs- oder Sensationspresse den Schutz der Pressefreiheit überhaupt zu versagen, da dieses Grundrecht nicht auf die "seriöse" Presse beschränkt sei. Bei der Abwägung könne aber berücksichtigt werden, ob die Presse im konkreten Fall eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse ernsthaft und sachbezogen erörtert, damit den Informationsanspruch des Publikums erfüllt und zur Bildung der öffentlichen Meinung beigetragen habe oder ob sie lediglich das Bedürfnis einer mehr oder minder breiten Leserschicht nach oberflächlicher Unterhaltung befriedigen wollte127. Da ein erfundenes Interview zu einer wirklichen Meinungsbildung nichts beitragen könne, verdiene im vorliegenden Fall der Schutz der Privatsphäre gegenüber Presseerzeugnissen dieser Art unbedingt den Vorrang 128. Sphäre

Das "allgemeine Persönlichkeitsrecht" als Schranke der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG wurde in dieser Entscheidung also über § 823 Abs. 1 BGB bei den "allgemeinen Gesetzen" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG angesiedelt. Das Bundesverfassungsgericht stellte allerdings ergänzend dazu fest, daß die potentielle Wirkkraft des "allgemeinen Gesetzes" hier eine verfassungsrechtliche Verstärkung aus dem Schutzauftrag der Art. 1 und 2 Abs. 1 GG erhalte 129. Damit wurde zumindest angedeutet, daß in einem solchen Fall mehrere Grundrechte in entgegengesetzter Richtung auf die Anwendung des einfachen Rechts einwirken. Im "Lebach-Urteil"130 vom 05. Juni 1973 sprach das Bundesverfassungsgericht dann bereits deutlicher von einer "Spannungslage zwischen dem in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Schutz der Persönlichkeit und der Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG" 131 . Auch diesem Urteil lag eine Verfassungsbeschwerde gegen zivilgerichtliche Entscheidungen zugrunde. Der Beschwerdeführer war wegen Beihilfe zu. einer schweren Straftat, dem sogenannten Soldatenmord von Lebach, im August 1970 zu einer mehrjähri126

Vgl. BVerfGE 34,269,282 (Soraya).

127

Siehe BVerfGE 34,269,283 (Soraya).

Vgl. BVerfGE 34,269,283 f. (Soraya). 129

Siehe BVerfGE 34, 269,282 (Soraya).

130

BVerfGE 35,202 ff.

131

BVerfGE 35, 202, 219 (Lebach); vgl. auch bereits BVerfGE 34, 341, 343 (Lebach/e.A.).

84

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

gen Freiheitsstrafe verurteilt worden132. Zum Zeitpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung hatte er fast zwei Drittel seiner Strafe verbüßt, und die Vollstreckung der Reststrafe sollte wenig später zur Bewährung ausgesetzt werden133. Da das Gewaltverbrechen von Lebach in der deutschen Öffentlichkeit ungewöhnliches Aufsehen erregt hatte, stellte das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) im Frühjahr 1972 ein DokumentarFernsehspiel über die Tat fertig. Darin wurde der Beschwerdeführer eingangs im Bilde gezeigt, sodann unter wiederholter Nennung seines Namens von einem Schauspieler dargestellt134. In der geplanten Ausstrahlung des Fernsehspiels sah der Beschwerdeführer eine rechtswidrige Verletzung seines Persönlichkeitsrechts. Sein Antrag, dem ZDF im Wege der einstweiligen Verfügung die Ausstrahlung des Fernsehspiels bis zur Entscheidung im Hauptverfahren zu verbieten, soweit darin seine Person dargestellt oder namentlich erwähnt werde, blieb jedoch in beiden Instanzen ohne Erfolg. Beide Urteile waren auf die §§ 22 und 23 des Kunsturhebergesetzes (KUG) gestützt135. Mit der Verfassungsbeschwerde machte der Beschwerdeführer daraufhin die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geltend. Zur Begründung führte er unter anderem aus, daß die angefochtenen Entscheidungen die Zeichnung eines Lebensbildes von ihm zuließen, die ihn "in beschämender, erniedrigender Weise bloßstelle"; nach Verbüßung der von Rechts wegen über ihn verhängten Strafe müsse er damit eine zusätzliche Deklassierung derart hinnehmen, daß er "vor Millionen von Fernsehzuschauern an einen 'modernen Pranger* gestellt" werden dürfe 136. Das Bundesverfassungsgericht hielt die Verfassungsbeschwerde für begründet. Sie werfe die verfassungsrechtliche Frage auf, wie bei der Behandlung rechtskräftig abgeurteilter Straftaten die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fernsehen (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) und der durch Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Persönlichkeitsbereich des Täters gegeneinander abzuwägen seien137. Dabei sei davon auszu132

Vgl. BVerfGE 35,202,204 f. (Lebach).

133

Siehe BVerfGE 35,202,205 f. (Lebach).

134

Vgl. BVerfGE 35,202,206 (Lebach).

135

Siehe OLG Koblenz NJW 1973, 251, 252 ff.; vgl. auch BVerfGE 35, 202, 206 f. (Le-

bach). 136

Vgl. BVerfGE 35,202,209 (Lebach).

137

Siehe BVerfGE 34,341,343 (Lebach/e.A.); 35,202,219 (Lebach).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

85

gehen, daß nach dem Willen der Verfassung beide Verfassungswerte essentielle Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes bilden, so daß keiner von ihnen einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen könne. Im Konfliktfall müßten daher beide Verfassungswerte nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden; ließe sich dies nicht erreichen, so sei unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten habe138. Für die aktuelle Berichterstattung über schwere Straftaten verdiene das Informationsinteresse der Öffentlichkeit im allgemeinen den Vorrang vor dem Persönlichkeitsschutz des Täters 139. Dies gelte freilich nicht schrankenlos140. So lasse es der verfassungsrechtliche Schutz der Persönlichkeit nicht zu, daß die Medien sich über die aktuelle Berichterstattung hinaus zeitlich unbeschränkt mit der Person des Straftäters befassen können141. Eine spätere Berichterstattung sei jedenfalls dann unzulässig, wenn sie die Resozialisierung des Täters gefährde 142. Dies wiederum sei regelmäßig dann anzunehmen, wenn eine den Täter identifizierende Sendung nach seiner Entlassung oder - wie hier - in zeitlicher Nähe zu seiner bevorstehenden Entlassung ausgestrahlt werden solle143. In dieser Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht den Kommunikationsfreiheiten erstmals den Schutz der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unmittelbar gegenüber. Zwar wurden die den angefochtenen Entscheidungen zugrunde liegenden Vorschriften der §§ 22, 23 KUG auch als "allgemeine Gesetze" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG bezeichnet144, das Gericht betonte jedoch zugleich, daß "gegenüber sonstigen allgemeinen Gesetzen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG hier die Besonderheit (bestehe), daß die Beschränkung der Rundfunkfreiheit ihrerseits dem Schutz eines hohen Verfassungswertes dient"; das im Rahmen des § 23 KUG zu berücksichtigende, gegen die Abbildung oder Darstellung gerichtete Interesse der betroffenen Person erfahre eine "un-

138

Vgl. BVerfGE 35,202,225 (Lebach).

139

Siehe BVerfGE 35,202,231 (Lebach).

140

Vgl. BVerfGE 35, 202,232 (Lebach).

141

Siehe BVerfGE 35,202,233 (Lebach).

142

Vgl. BVerfGE 35,202,237 (Lebach).

143

Siehe BVerfGE 35,202,238 (Lebach).

144

Vgl. BVerfGE 35,202,224 (Lebach).

86

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

mittelbare Verstärkung durch die Verfassungsgarantie des Persönlichkeitsschutzes"145. Der "Eppler-Beschluß"146 vom 03. Juni 1980 knüpfte ebenfalls unmittelbar an das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht an. Der Landesverband Baden-Württemberg der CDU hatte seinen Kreisrednern im Landtagswahlkampf 1976 einen Rednerdienst mit einer Musterrede zur Verfügung gestellt, in der es unter anderem hieß, der Vorsitzende des Landesverbandes Baden-Württemberg der SPD, E. Eppler, habe geäußert, man wolle "die Belastbarkeit der Wirtschaft prüfen" 147. Die Unterlassungsklage des SPD-Politikers, der sich dadurch in seinem Persönlichkeitsrecht verletzt sah, blieb ohne Erfolg, da er nicht beweisen konnte, daß er die streitige Äußerung nicht getan hatte148. Gegen diese Entscheidung erhob E. Eppler Verfassungsbeschwerde und rügte unter anderem die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG 1 4 9 . Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ließ das angegriffene Urteil im Ergebnis keinen Grundrechtsverstoß erkennen150. Zwar könne das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht auch gegen das Unterschieben nicht getaner Äußerungen schützen. Dies folge aus dem dem Schutz der Persönlichkeit zugrunde liegenden Gedanken der Selbstbestimmung; der einzelne solle selbst entscheiden können, wie er sich Dritten oder der Öffentlichkeit gegenüber darstellen, insbesondere ob und wie er mit einer eigenen Äußerung hervortreten will 151 . Ein verfassungsrechtlicher Gesichtspunkt, der dazu zwingen würde, in Fällen der vorliegenden Art von der allgemeinen Regel des Zivilprozeßrechts abzugehen, daß dem Kläger der Beweis der seinen Anspruch begründenden Umstände obliegt, sei jedoch nicht erkennbar 152. Bei Zugrundelegung der ohne Verstoß gegen 145

Siehe BVerfGE 35,202,225 (Lebach).

146

BVerfGE 54,148 ff.

147

Vgl. BVerfGE 54,148,148 f. (Eppler).

14R

Siehe BVerfGE 54,148,149 (Eppler). Vgl. BVerfGE 54,148,150 (Eppler).

149 150

Siehe BVerfGE 54,148,152 (Eppler).

151

Vgl. BVerfGE 54,148,155 (Eppler).

152

Siehe BVerfGE 54,148,157 (Eppler).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

87

Verfassungsrecht getroffenen tatsächlichen Feststellungen des Oberlandesgerichts könne mithin nicht davon ausgegangen werden, daß dem Beschwerdeführer unter Verletzung seines - selbst definierten - sozialen Geltungsanspruchs eine Äußerung in den Mund gelegt worden sei, die er nicht getan habe. Dies wäre aber die erste Voraussetzung für die Annahme eines Eingriffs in sein Persönlichkeitsrecht gewesen. Auf die Frage, ob sich der Beklagte des Ausgangsverfahrens auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen konnte und ob dem Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers durch dieses Recht Grenzen gezogen sein könnten, komme es daher nicht mehr an 153 . Streng genommen ging es bei dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zwar nicht um Probleme des Ehrenschutzes; das Vorliegen einer Ehrenkränkung des Beschwerdeführers wurde sogar ausdrücklich verneint, da die Forderung, man solle die Belastbarkeit der Wirtschaft prüfen, als solche nichts Unehrenhaftes enthalte. Immerhin wurde das Recht der persönlichen Ehre aber erstmals namentlich als Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt154, und für die Beantwortung der am Ende der Entscheidung aufgeworfenen Frage, ob im Falle eines Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers diesem Recht durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit hätten Grenzen gezogen sein können, wäre es nicht darauf angekommen, ob das Recht der persönlichen Ehre oder eine andere Ausprägung des (umfassenderen) allgemeinen Persönlichkeitsrechts betroffen gewesen wäre. Der "Böll-Beschluß"155 vom selben Tage ließ dies sofort deutlich werden. Anläßlich der Beisetzung des 1974 von Terroristen ermordeten Präsidenten des Kammergerichts Berlin hatte der Journalist M. Waiden in der Tagesschau des Deutschen Fernsehens einen Kommentar gesprochen, in dem er unter anderem ausführte: "Der Boden der Gewalt wurde durch den Ungeist der Sympathie mit den Gewalttätern gedüngt. Jahrelang warfen renommierte Verlage revolutionäre Druckerzeugnisse auf den Büchermarkt. Heinrich Boll bezeichnete den Rechtsstaat, gegen den die Gewalt sich richtet, als 'Misthaufen' und sagte, er sähe nur 'Reste verfaulender Macht, die

153

Vgl. BVerfGE 54,148,158 (Eppler).

154

Siehe BVerfGE 54,148,154 (Eppler).

155

BVerfGE 54,208 ff.

88

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

mit rattenhafter Wut verteidigt' würden. Er beschuldigte diesen Staat, die Terroristen 'in gnadenloser Jagd' zu verfolgen." 156 H. Böll, der sich durch diesen Kommentar in seiner Ehre verletzt sah, erhob Klage auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von DM 100.000,-. Während das Landgericht die Klage abwies, gab ihr das Oberlandesgericht in Höhe von DM 40.000,- statt; die dem Kläger zugeschriebenen Äußerungen seien durchweg unzutreffend wiedergegeben worden157. Der Bundesgerichtshof als Revisionsinstanz sah demgegenüber die Wiedergabe der Äußerungen H. Bölls als "weitgehend durch ein vertretbares Verständnis seiner Veröffentlichungen gedeckt"158 an. Die Frage der Richtigkeit eines Zitats sei danach zu beurteilen, wie der Durchschnittsleser oder -hörer das vom Kritisierten Geäußerte einerseits und das Zitat andererseits verstehe. Habe sich der Kritisierte mehrdeutig ausgedrückt, könne er nicht erwarten, daß das Zitat seine Äußerung gerade in der Bedeutung wiedergebe, in der er sie verstanden wissen wollte; in einem solchen Fall sei ein Zitat auch dann "richtig", wenn es einer anderen Bedeutung des Geäußerten folge. Wäre auch innerhalb dieser Grenzen das Risiko von Mißverständnissen dem Kritiker auferlegt, so wäre die Meinungsfreiheit unzulässig beschränkt159. Durch diese Entscheidung sah sich H. Böll in seinem grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrecht betroffen und erhob Verfassungsbeschwerde. Das Bundesverfassungsgericht gab ihm recht; das angegriffene Urteil verletze Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG. Die in dem Kommentar ausgesprochenen Angriffe seien geeignet gewesen, das verfassungsrechtlich gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers zu beeinträchtigen160; sie hätten eine Herabsetzung des Beschwerdeführers in der Öffentlichkeit und damit einen Angriff auf seine persönliche Ehre enthalten161. Ob und inwieweit die Meinungsfreiheit des Kritikers dies rechtfertigen könne, sei eine Frage der Tragweite des Art. 5 Abs. 1 GG. Unrichtige Zitate seien aber durch dieses Grundrecht nicht ge156

BVerfGE 54,208,209 (Böll).

157

Vgl. BVerfGE 54,208,210 (Böll).

158

BGH NJW 1978,1797,1798 (Böll I).

159

Siehe BGH NJW 1978,1797,1798 f. (Böll I); vgl. auch BVerfGE 54, 208, 211 f. (Böll).

160

Vgl. BVerfGE 54,208,217 (Böll).

161

Siehe BVerfGE 54,208,218 (Böll).

I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

89

deckt. Es sei nicht ersichtlich, daß die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfreiheit einen solchen Schutz fordere 162. Weder die öffentliche Meinungsbildung noch die demokratische Kontrolle würden unter dem Erfordernis leiden, richtig zitieren zu müssen. Allerdings könne es für die Gerichte im Einzelfall schwierig sein zu erkennen, ob eine Äußerung richtig wiedergegeben wurde oder nicht163. Der vom Bundesgerichtshof hierfür entwickelte Maßstab sei zwar verfassungsrechtlich bedenklich, es könne aber dahinstehen, ob er den Anforderungen des Grundgesetzes genüge164. Jedenfalls rechtfertige es das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht, eine bei Anlegung dieses Maßstabs vertretbare Interpretation einer mehrdeutigen Äußerung des Kritisierten als Zitat auszugeben, ohne kenntlich zu machen, daß es sich um eine Interpretation des Kritikers handelt165. Das Zitat als Beleg für eine kritische Wertung sei eine besonders scharfe Waffe im Meinungskampf 166, die geeignet sei, nachhaltig in das Persönlichkeitsrecht des Kritisierten einzugreifen. Um Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach Möglichkeit auszuschließen, sei der Zitierende dazu verpflichtet, die eigene Deutung einer Äußerung, die mehrere Interpretationen zuläßt, als solche kenntlich zu machen167. Im vorliegenden Fall hätte daher darauf hingewiesen werden müssen, daß es sich um eine Deutung des Kommentators handelte, was ohne Aufwand und Zeitverlust möglich gewesen wäre. Stattdessen habe der Kommentar nur den Eindruck erwecken können, es würden eindeutige Aussagen des Beschwerdeführers wiedergegeben. Diese Art und Weise der Wiedergabe sei durch Art. 5 Abs. 1 GG nicht gedeckt gewesen, so daß der Schutz dieses Grundrechts auch nicht eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hätte ausschließen können. Mit dieser Rechtslage habe sich der Bundesgerichtshof nicht auseinandergesetzt ; das angegriffene Urteil sei daher aufzuheben gewesen168.

162

Vgl. BVerfGE 54,208,219 (Boll).

163

Siehe BVerfGE 54,208,220 (Boll).

164

Vgl. BVerfGE 54, 208,220 f. (Boll).

165

Siehe BVerfGE 54,208,221 (Boll).

166

Vgl. BVerfGE 54,208,217,221 (Boll).

167

Siehe BVerfGE 54,208,221 (Boll).

168

Vgl. BVerfGE 54, 208, 222 (Boll). - In BGH NJW 1982, 635 ff. (Boll II), wurde später die Revision der Beklagten zurückgewiesen; der Kläger H. Boll erhielt damit D M 40.000,"Schmerzensgeld".

90

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

Die Frage nach dem Verhältnis von Meinungsfreiheit und allgemeinem Persönlichkeitsrecht im Meinungskampf blieb also auch in dieser Entscheidung letztlich unbeantwortet. Anders als noch im "Fall Eppler" bejahte das Bundesverfassungsgericht hier aber das Vorliegen einer Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (auch in seiner Ausprägung als Recht der persönlichen Ehre) und mußte deshalb weiter prüfen, ob das Grundrecht der Meinungsfreiheit diesen Eingriff rechtfertigen konnte. Nur weil es dabei zu dem Ergebnis kam, daß sich die beanstandeten Äußerungen nicht mehr in dem von Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisteten Freiheitsbereich gehalten hatten, konnte es schließlich erneut davon absehen, das Verhältnis beider Grundrechte zueinander unter den Bedingungen des Meinungskampfes genauer zu bestimmen. Erst im "Gegendarstellungs-Beschluß"169 vom 08. Februar 1983 finden sich dazu nähere Ausführungen. Gegenstand dieses Verfahrens war die Frage nach den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Gegendarstellungsrechts im Rundfunk 170. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest, daß der Gesetzgeber dabei sowohl das allgemeine Persönlichkeitsrecht des von einer Darstellung in den Medien Betroffenen (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) als auch das Grundrecht der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) zu beachten habe171. Beide Grundrechte seien essentielle Bestandteile der Verfassungsordnung des Grundgesetzes172. Keines dieser Verfassungsgüter könne einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen. In einem Konfliktfall müßten sie nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden173.

II. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG binden die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden. Auch der Bundesgerichtshof ist danach 169

BVerfGE 63,131 ff.

170

Siehe BVerfGE 63,131,132 ff. (Gegendarstellung).

171

Vgl. BVerfGE 63,131,143 (Gegendarstellung).

172 Siehe BVerfGE 63,131,144 (Gegendarstellung), unter Verweis auf BVerfGE 35, 202, 225 (Lebach). 173

Vgl. BVerfGE 63,131,144 (Gegendaretellung).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

91

dem tragenden Sinngehalt der Rechtserkenntnis des Bundesverfassungsgerichts unterworfen, soweit er nicht nur für den entschiedenen Rechtsstreit, sondern auch für vergleichbare Streitlagen von Bedeutung ist 174 . Seinem Umfang nach ist der Gegenstand der Bindungswirkung jedoch auf diejenigen Auffassungen des Bundesverfassungsgerichts beschränkt, die die Auslegung des Grundgesetzes betreffen. Das ergibt sich schon daraus, daß der Rechtsgrund für die Bindungswirkung die Letztentscheidungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts in Verfassungsfragen ist, während die Letztentscheidungskompetenz in allen anderen Rechtsfragen den Gerichten der anderen Gerichtsbarkeiten zukommt: Das Bundesverfassungsgericht ist nicht als "Super-Revisionsinstanz" konzipiert175. Allerdings nimmt das Bundesverfassungsgericht für sich in Anspruch, auch dann, wenn es "nur" um die Auslegung und Anwendung des "einfachen" Rechts geht, diejenigen Maßstäbe und Grenzen zu bestimmen, die sich aus dem Verfassungsrecht ergeben176. In den hier interessierenden Fällen des Aufeinandertreffens von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz ergab sich daraus geradezu zwangsläufig eine besonders starke Einflußnahme der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den straf- und zivilrechtlichen Bereich177. Gleichwohl lassen sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch eigenständige Entwicklungslinien ausmachen, die es im folgenden anhand einiger wichtiger Entscheidungen nachzuzeichnen gilt.

1. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen

Im Bereich des Strafrechts sind Spannungslagen zwischen dem Recht der persönlichen Ehre und den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG regelmäßig im Rahmen der Frage zu lösen, ob der besondere Rechtfertigungsgrund der "Wahrnehmung berechtigter Interessen" (§ 193 StGB) eingreift. Der Bun-

174

Siehe etwa BVerfGE 7, 99, 108 f. (Bund der Deutschen); 8, 122, 141 (Atomwaffenbefragung Hessen). 175 Vgl. W Meyer, in: I. v.Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2. Aufl. 1983, Art. 94, Rn. 28 m.w.N. 176 177

Siehe dazu allgemein etwa BVerfGE 40,88,93 f. (Postzustellung).

Vgl. z.B. O.-F. Frhr. v.Gamm, NJW 1979, 513, 513; TK Würtenberger, 613; R Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443,454.

NJW 1982, 610,

92

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

desgerichtshof stellte bereits in einem Urteil vom 20. Januar 1959178, also etwa zwei Jahre vor dem "Schmid/Spiegel-Beschluß"179 des Bundesverfassungsgerichts fest, daß diese Bestimmung "eine besondere Ausprägung des im Art. 5 des Grundgesetzes normierten Grundrechts der freien Meinungsäußerung"180 sei. Gegenstand des Verfahrens war ein Artikel, der anläßlich des Bundestagswahlkampfes 1957 in der Zeitung "Badenerland" erschienen war und ehrverletzende Angriffe gegen einen damaligen Bundestagskandidaten der CDU enthielt181. Unter Bezugnahme auf das "Lüth-Urteil"182 des Bundesverfassungsgerichts führte der Bundesgerichtshof aus, daß der sachliche Gehalt des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG bei der Auslegung des § 193 StGB berücksichtigt werden und namentlich dann besonderes Gewicht gewinnen müsse, wenn es um Auseinandersetzungen im politischen Tageskampf, ganz vorzüglich aber um die Austragung von Wahlkämpfen gehe, bei denen es darauf ankomme, daß sich die Entscheidung des Volkes auf Grund eines freien Wettbewerbs von Meinungen und Personen bilde183. Zu diesem Wettbewerb der Personen gehöre notwendig auch die Kritik an der Person der Wahlkandidaten. Es liege im Sinne des Gemeinwohls, daß nach Möglichkeit solche Personen als Repräsentanten des Volkes gewählt würden, die nach ihrem persönlichen Verhalten Gewähr für eine gewisse Verläßlichkeit bieten und die im Sinne des öffentlichen Wohles von ihnen für richtig erkannte Ziele ohne Rücksicht auf persönliche Vor- oder Nachteile zu verfolgen bereit sind. Daraus folge, daß es auch möglich und rechtens sein müsse, auf ein Verhalten von Wahlkandidaten hinzuweisen, welches den Schluß erlaube, es könnten ihnen möglicherweise solche wünschenswerten Eigenschaften fehlen, und solche Schlußfolgerungen auszusprechen. Es liege auf der Hand, daß die freie Kritik in dieser Richtung praktisch ausgeschaltet werden würde, wenn man die volle Erweislichkeit solcher innerer Tatsachen verlangen wollte. Die um der Sache willen notwendige freie Kritik könne vielmehr nur dann gewährleistet sein, wenn die Grenze des Erlaubten jedenfalls die Fälle einschließe, von denen gesagt

178

BGHSt 12,287 ff. (Wahlkandidat).

179

BVerfGE 12,113 ff.

IDA

BGHSt 12,287,293 (Wahlkandidat).

181 182

Siehe BGHSt 12,287,288 ff. (Wahlkandidat).

BVerfGE 7,198 ff. 1 Al Vgl. BGHSt 12,287,293 f. (Wahlkandidat).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

93

werden könne, daß die betreffende Persönlichkeit durch ihr eigenes Verhalten begründeten Anlaß zur Erhebung derartiger Vorwürfe gegeben habe 184 . In dem nur wenige Tage später ergangenen "Iller-Urteil" 185 vom 28. Januar 1959 sah sich der Bundesgerichtshof dann allerdings veranlaßt, auch die Grenzen zulässiger Kritik näher zu bestimmen. Erneut ging es um die strafrechtliche Würdigung eines Presseartikels. In der Zeitschrift "Das Land1* war im September 1957 ein Aufsatz erschienen, in dem im Zusammenhang mit dem Tod von fünfzehn Bundeswehrangehörigen, die bei einer Übung in der Iiier ertrunken waren, ehrverletzende Angriffe gegen den damaligen Bundesverteidigungsminister gerichtet wurden186. Im Rahmen der Prüfung, ob die inkrimierten Ausführungen den Tatbestand des § 97 StGB a.F. 187 erfüllten, stellte das Gericht fest, daß eine Rufverletzung, die schon ihrem Inhalt nach geeignet sei und darauf abziele, die Ehre eines anderen erheblich anzutasten, auf alle Fälle eine Verunglimpfung im Sinne dieser Bestimmung darstelle. Selbstverständlich gehe es dabei nicht um die Kritik als solche. Es sei dem Staatsbürger nicht verwehrt, Regierungsmaßnahmen zu erörtern und strenger, auch harter Kritik zu unterziehen, sie mit sachlich vorgetragenen Gründen zu beanstanden und zu verwerfen. Das gehöre zum Recht der freien Meinungsäußerung. Dieses Recht finde aber seine Schranke in dem Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG) 1 8 8 . Da eine Würdigung des Zeitungsaufsatzes ergebe, daß dem Verfasser nicht an sachlicher Erörterung der tragischen Vorgänge und ihres möglichen Zusammenhanges mit den (wehr)politischen Zielen des Bundesverteidigungsministers gelegen war, sondern daß es ihm vielmehr darauf angekommen sei, den Minister in seiner Ehre zu treffen, überschritten die Ausführungen das Maß einer sachlichen Kritik bei weitem189. Auch in seiner nächsten, vor allem wegen ihrer grundlegenden Aussagen zur Beleidigungsfähigkeit von Einzelpersonen unter einer Kollektivbe-

184

Siehe BGHSt 12, 287, 294 (Wahlkandidat). - Zum hier erstmals angedeuteten "Recht auf Gegenschlag" siehe auch unten 2. sowie Zweiter Teil Α. I. 2. b) bb) (1). 185

BGHSt 12,364 ff.

186

Vgl. BGHSt 12,364,365 (Iiier).

187

Siehe jetzt § 90 b StGB.

188

Vgl. BGHSt 12,364,366 (Iiier).

189

Siehe BGHSt 12,364,366 f. (Iiier).

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

94

Zeichnung190 bedeutsamen Entscheidung zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz vom 08. Dezember 1959191 betonte der Bundesgerichtshof die Grenzen der Zulässigkeit von Presseangriffen. In einem Zeitungsartikel waren zwei nicht namentlich genannte Mitglieder einer neunzehnköpfigen Landtagsfraktion verfassungsfeindlicher Betätigung bezichtigt worden192. Soweit dadurch auf die übrigen siebzehn Fraktionsmitglieder ein entsprechender Verdacht geworfen wurde 193, schied nach Auffassung des Gerichts die Anwendung des § 193 StGB schon deshalb aus, weil der Angeklagte genau wußte, daß der ausgesprochene Verdacht unbegründet war. Wer wissentlich unwahre Behauptungen ehrenkränkenden Charakters aufstelle, bewege sich grundsätzlich außerhalb der Grenzen der Wahrnehmung berechtigter Interessen. Soweit sich die beleidigende Äußerung gegen die betroffenen Abgeordneten richtete, hatte der Angeklagte nach Ansicht des Gerichts die ihm obliegende Pflicht versäumt, die Richtigkeit der von ihm behaupteten Tatsachen sorgfältig zu prüfen. Wer zur Wahrnehmung berechtigter Interessen Tatsachen behaupten wolle, die einen anderen in seiner Ehre zu kränken geeignet seien, habe sich gewissenhaft zu erkundigen, ob diese Tatsachen der Wahrheit entsprechen194. Um die Informations- und Prüfungspflicht der Presseorgane ging es dann auch in einem Urteil vom 30. August 1961195. In einem am 20. November 1959 in der "Frankfurter Rundschau" erschienenen Artikel war dem damaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsident und seinem Kultusminister der unwahre Vorwurf gemacht worden, sie hätten gewußt, daß sich unter dem Namen "Dr. S." ein steckbrieflich gesuchter Euthanasiearzt verborgen habe196. Bei in der Presse, also öffentlich erhobenen Beschuldigungen, die sich in aller Regel besonders nachteilig für die Betroffenen auswirkten, seien an die Pflicht zur vorangehenden Prüfung der Vorwürfe strenge Anforderungen zu stellen, entschied der Bundesgerichtshof, und der Umfang dieser Pflicht richte sich auch nach der Schwere der Vorwürfe. Im konkreten Fall hätte sich der angeklagte Journalist durch Rück190 1 9 1Vgl.

dazu bereits oben A III. 1. BGHSt 14,48 ff. (Landtagsfraktion).

192

Siehe BGHSt 14,48,49 (Landtagsfraktion).

193

Vgl. BGHSt 14,48,49 f. (Landtagsfraktion).

194

Siehe BGHSt 14,48,51 (Landtagsfraktion).

195

BGH UFITA 35 (1961/III), 362 ff. (Euthanasiearzt).

106

Vgl. BGH UFITA 35 (1961/III), 362,362 (Euthanasiearzt).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

95

fragen absichern müssen, ob seine Informationen zutreffend waren. Da er dies leichtfertig unterlassen habe, scheide eine Anwendung des § 193 StGB 197

aus . Harte Anforderungen an die Zulässigkeit ehrverletzender Presseveröffentlichungen stellte der Bundesgerichtshof auch in seinem Grundsatzurteil vom 15. Januar 1963198. In einem Zeitungsartikel war aufgrund eines Gerüchtes wahrheitswidrig behauptet worden, ein namentlich nicht genannter bayerischer Staatsminister habe zu den Kunden eines "Call-GirlRings" gehört, der seinerzeit Gegenstand eines aufsehenerregenden Kuppeleiprozesses war 199. Nachdem das Gericht zunächst betont hatte, daß diejenigen, die ein ehrverletzendes Gerücht in ein Presseerzeugnis aufnehmen und dadurch weiterverbreiten, in bezug auf den Wahrheitsbeweis keine Vorrechte genießen könnten200, stellte es sodann heraus, daß die Anwendbarkeit des § 193 StGB von einer Abwägung der einander widerstreitenden Interessen des Beleidigers und des Beleidigten abhänge und daß sich der Beleidiger zur Rechtfertigung seines Verhaltens auf diese Vorschrift nicht berufen könne, wenn sein Interesse geringer als das des Beleidigten zu bewerten sei201. So aber verhalte es sich in dem zu entscheidenden Falle. Denn es liege auf der Hand, daß das Interesse des (oder der) Verletzten, von einem sein (oder ihr) Ansehen in hohem Maße herabsetzenden Gerücht verschont zu bleiben, weit höher einzuschätzen sei als das Bestreben der Beleidiger, die breite Öffentlichkeit von den im Grunde völlig haltlosen, aber im Falle ihres weiteren Bekanntwerdens leicht zu üblen Mißdeutungen führenden Angaben zu unterrichten 202. Auch die Berufung auf das "Recht der Presse, über Angelegenheiten des öffentlichen Lebens zu berichten und an ihnen Kritik zu üben", gehe fehl. Denn Vorgänge der privaten Lebensführung würden nicht schon dadurch ohne weiteres zu Angelegenheiten des öffentlichen Lebens, daß sie eine im öffentlichen Leben stehende Person betreffen. Das öffentliche Interesse an ihrer Mitteilung wohne ihnen nicht von selbst inne; es müßten vielmehr Umstände hinzutreten, die sie erst zum Gegenstand eines anerkennenswerten öffentlichen Interes197

Siehe BGH UFITA 35 (1961/III), 362,363 (Euthanasiearzt).

198

BGHSt 18,182 ff. (Call-Girl-Ring I).

199

Vgl. BGHSt 18,182,182 (Call-Girl-Ring I); 19,235,235 f. (Call-Girl-Ring II).

Siehe BGHSt 18,182,183 (Call-Girl-Ring I). 201

Vgl. BGHSt 18,182,184 f. (Call-Girl-Ring I).

202

Siehe BGHSt 18,182,185 (Call-Girl-Ring I).

96

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

ses werden ließen203. Das wäre hier möglicherweise dann der Fall gewesen, wenn sich die Angeklagten bei ihrer Veröffentlichung von der Sorge um die Besetzung wichtiger Ämter mit Personen von einwandfreier Lebensführung hätten leiten lassen204. Seiner Art und seinem Inhalt nach lege der Artikel indessen die Deutung nahe, daß es sich dabei um einen sogenannten "Reißer", also um ein auf die Lust am Skandal und auf Sensation angelegtes Erzeugnis handelte205. Berichte und Kommentare, denen es auf Skandal und Sensation ankomme, lägen aber von vornherein außerhalb des Bereichs der öffentlichen Aufgaben, um derentwillen die Presse als Einrichtung den besonderen Schutz der Verfassung genieße206. Im übrigen mache es für die Frage der Rechtfertigung nach § 193 StGB grundsätzlich keinen Unterschied, ob die sich äußernde Person damit zugleich eine Berufstätigkeit als Journalist ausübe oder nicht207. Ebensowenig könne die Tatsache der gedruckten Verbreitung für sich genommen ein Mehr an Rechten vermitteln. Die Äußerung in einem Presseorgan, das - seinem Wesen und Zuschnitt nach - der Bildung der öffentlichen Meinung dienen und Einfluß auf die politische Willensbildung ausüben wolle, könne vielmehr nur ein gewichtiges Anzeichen dafür sein, daß der sich Äußernde öffentliche Interessen im Auge habe. Ob er damit auch berechtigte Interessen wahrnehme, sei jedoch unabhängig von dem benutzten Verbreitungsmittel nach den für alle geltenden Grundsätzen zu entscheiden208. Gut ein Jahr später mußte sich der Bundesgerichtshof in seinem Urteil vom 18. Februar 1964209 noch ein zweites Mal mit demselben Sachverhalt beschäftigen. Die erneute Revision machte geltend, daß die Annahme einer Sammelbeleidigung im Wege des Angriffs auf einen ungenannten einzelnen (Minister) als Mitglied eines näher umschriebenen Personenkreises (Regierung) dem Berufsgrundsatz der Presse widerstreite, wonach bei der Veröffentlichung von Vorfällen, die den beteiligten Personen zur Unehre 203

Vgl. BGHSt 18,182,185 f. (Call-Girl-Ring I).

204

Siehe BGHSt 18,182,186 (Call-Girl-Ring I), unter Verweis auf BGHSt 12, 287 (Wahlkandidat). 205

Vgl. BGHSt 18,182,186 f."(Call-Girl-Ring I).

206

Siehe BGHSt 18,182,187 (Call-Girl-Ring I).

207

Vgl. BGHSt 18, 182, 187 (Call-Girl-Ring I), unter Verweis auf BVerfGE 10, 118, 121 ("Freies Volk"). 208

Siehe BGHSt 18,182,187 (Call-Girl-Ring I).

209

BGHSt 19,235 ff. (Call-Girl-Ring II).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

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gereichen, in schonendster Weise vorzugehen und der Name deshalb nicht in jedem Falle zu nennen sei. Dieser Auffassung folgte der Bundesgerichtshof jedoch nicht. Sicher, so führte er aus, entspreche es rechtlichen Erfordernissen, daß Publikationsorgane nicht ohne zwingenden Grund in den privaten Lebensbereich eines Menschen eindringen und daß bei der Berichterstattung eine Zurückhaltung bewahrt werde, die dem Betroffenen unnötige Kränkungen und Schäden erspare. Es werde deshalb häufig angebracht sein, daß sich die Presse auf die Mitteilung des von ihr für mitteilungswürdig gehaltenen Vorgangs beschränke und den Namen des Betroffenen verschweige210. Doch dürfe dabei nicht aus den Augen verloren werden, daß diese Rechtspflicht kein Selbstzweck sei, sondern der Schonung und dem Schutz fremder Ehre dienen solle, und daß sie diesen Sinn verliere, wenn sie im gegenteiligen Sinne ausschlage211. Im Rahmen der Prüfung des § 193 StGB betonte das Gericht dann erneut, daß eine Verleumdung zur Wahrung berechtigter Interessen grundsätzlich nur in ganz seltenen Fällen der Rechtsverteidigung, nie jedoch in Fällen einer angriffsweisen Ehrabschneidung in Betracht kommen könne; denn die wissentlich falsche Behauptung ehrenkränkender Tatsachen laufe, wenn sie angriffsweise vorgebracht werde, den Anforderungen des Rechts und der Sittlichkeit unter allen Umständen derart zuwider, daß sie ohne jede Ausnahme niemals als Wahrnehmung eines vom Recht zugelassenen Interesses bewertet werden könne212. In einem Urteil vom 08. Mai 1964213 finden sich schließlich noch einmal allgemeine Aussagen zum Ehrenschutz im politischen Meinungskampf. Im Rahmen der Prüfung, ob die Angeklagten durch ihre Mitwirkung bei der Herstellung und dem Vertrieb zweier KPD-Zeitungen, in denen zahlreiche Artikel erschienen waren, die die Bundesrepublik Deutschland, den Bundeskanzler sowie die Gerichte verunglimpften und herabsetzten214, den Tatbestand des § 96 StGB a.F.215 erfüllt hatten, betonte der Bundesgerichtshof im Blick auf Art. 5 Abs. 1 GG, daß Kritik an der Politik, welche 210

Vgl. BGHSt 19, 235, 237 (Call-Girl-Ring II).

211

Siehe BGHSt 19,235,238 (Call-Girl-Ring II).

212

Vgl. BGH NJW 1964,1148,1149 (Call-Girl-Ring II; insoweit nicht in BGHSt 19,235 ff. abgedruckt), unter Verweis auf BGHSt 14, 48 ff. (Landtagsfraktion). 213

BGHSt 19, 311 ff. (KPD-Zeitungen).

214

Vgl. BGHSt 19, 311, 312 (KPD-Zeitungen).

215

Siehe jetzt §90 a StGB.

7 Mackeprang

98

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

die jeweilige Regierung für richtig halte, immer zulässig sei. Für sich allein erfülle politische Kritik niemals einen Straftatbestand, möge sie auch hart und scharf und, wie dies bei politischer Polemik leicht unterlaufe, offenkundig unberechtigt sein. Insbesondere sei es nicht entscheidend, ob unsachliche oder uneinsichtige Kritik geübt worden sei216. Die Grenze zur Strafbarkeit werde aber überschritten, wenn die Kritik beleidige, beschimpfe, verächtlich mache oder verunglimpfe; Angriffe in solcher Form seien durch das Recht zur Kritik nicht gedeckt217. Der Kampf der politischen Kräfte dürfe nicht den Charakter eines erbarmungslosen und unerbittlichen Vernichtungskampfes tragen, wie überhaupt das Wesen des Politischen nicht nur von den äußersten Gegensätzen her als "Freund-Feindverhältnis" zu bestimmen sei218. Insgesamt zeigt sich, daß die frühe Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre durchaus bemüht war, den Erfordernissen eines wirksamen Ehrenschutzes auch gegenüber den Grundrechten des Art. 5 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen, und sich hierbei zum Teil auch ausdrücklich auf die verfassungsrechtliche Wertentscheidung für das Recjit der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG) berufen hat 219 . Mangels Zuständigkeit - bei Beleidigungsdelikten kommt der Bundesgerichtshof nur in seltenen Ausnahmefällen als Revisionsgericht in Betracht220 - , möglicherweise aber auch aufgrund der Tatsache, daß die Bedeutung der Beleidigungsdelikte im Hinblick auf ihre Ausgestaltung als Privatklagedelikte und die in vielfältiger Weise größere Attraktivität des zivilrechtlichen Ehrenschutzes immer geringer geworden ist 221 , hatte das Gericht in der Folgezeit dann allerdings kaum noch Gelegenheit, seine Rechtsprechung weiter zu vertiefen 222. Der Schwerpunkt der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Spannungsverhältnis von 216

Vgl. BGHSt 19,311,317 (KPD-Zeitungen).

217

Siehe BGHSt 19,311,317 f. (KPD-Zeitungen).

218

Vgl. BGHSt 19,311,318 (KPD-Zeitungen).

219

Siehe BGHSt 12,364,366 (Iiier); vgl. auch schon BGHSt 11,273,274 (Mieter).

220

Vgl. §§ 24 Abs. 1, 74 Abs. 1,121 Abs. 1 Nr. 1 (in Verbindung mit δ 9 EGGVG, Art. 11 Abs. 2 Nr. 2 BayAGGVG), 135 Abs. 1 GVG. - Daneben könnte es auch noch im Falle einer Vorlage nach δ 121 Abs. 2 GVG zu einer (Teil-)Entscheidung des Bundesgerichtshofs über Rechtsfragen des Beleidigungsstrafrechts kommen. 221 222

Siehe dazu bereits oben A III. 1.

Wenig ergiebig (für die Frage nach dem Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz im Kollisionsfall) zuletzt etwa BGHSt 36,83,85 (Gigantische Mordmaschinerie).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

99

Meinungsfreiheit und Ehrenschutz lag (und liegt) daher eindeutig im bürgerlich-rechtlichen Bereich.

2. Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

Der Umstand, daß das Recht der persönlichen Ehre im Zivilrecht - außer im Falle des § 823 Abs. 2 BGB - "nur" als Bestandteil des im Wege richterlicher Rechtsfortbildung als "sonstiges Recht" im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anerkannten "allgemeinen Persönlichkeitsrechts" geschützt wird, hat zur Folge, daß der im Kollisionsfall mit den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG erforderliche Interessenausgleich rechtssystematisch an anderer. Stelle als im Strafrecht vorgenommen werden muß. Denn wegen der Unbestimmtheit und generalklauselartigen Weite dieses unter Berufung auf die Garantien der Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG entwickelten "Auffangtatbestandes" ist der Bundesgerichtshof in zunehmendem Maße dazu übergegangen, schon bei der Prüfung, ob tatbestandsmäßig eine rechtswidrige Persönlichkeitsverletzung vorliegt, auch die anderen Wertentscheidungen der Verfassung heranzuziehen223. Nicht jede Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts stellt danach eine Rechtsgutsverletzung dar, die die Rechtswidrigkeit "indiziert"; viele solcher Beeinträchtigungen sind vielmehr im gesellschaftlichen Miteinander unvermeidlich und müssen bei Abwägung mit den schutzwürdigen Belangen der Gegenseite, hier insbesondere mit den Grundrechten der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit bzw. mit dem - nach allgemeiner Ansicht auch im Zivilrecht geltenden besonderen Rechtfertigungsgrund der "Wahrnehmung berechtigter Interessen", hingenommen werden224. Wegen der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als "Rahmenrecht"225 ist daher stets einheitlich zu prüfen, ob eine "rechtswidrige Beeinträchtigung" gegeben ist. Der erste wichtige Schritt in der Zivilrechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Spannungsverhältnis zwischen den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG und dem Schutz der persönlichen Ehre war die Ausdehnung des

223

Deutlich BGHZ 50,133,143 (Mephisto); angedeutet auch schon in BGHZ 45,296,307 (Höllenfeuer). 224 Vgl. etwa BGH NJW 1978, 751, 752 f. (Sachverständigengutachten); BGH NJW 1987, 2667,2667 (Operation EVA). W. Fikentscher, Schuldrecht, 7. Aufl. 1985, § 103 II, S. 729.

100

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

Anwendungsbereichs des § 193 StGB auf die Presse. Während es das Reichsgericht (nicht zuletzt im Hinblick auf die von den Massenmedien für die Ehre der von ihnen Angegriffenen drohenden Gefahren) stets abgelehnt hatte, der Presse die Berufung auf diesen Rechtfertigungsgrund zu gestatten, sofern nicht ausnahmsweise eine nahe Beziehung des Redakteurs oder Autors zu der behandelten Angelegenheit im Sinne einer besonderen Interessenberührung zu bejahen war 226 , gab der Bundesgerichtshof diesen Standpunkt in seinem "Alte Herren-Urteil" 227 vom 22. Dezember 1959 unter Berufung auf die im demokratischen Staat besonders bedeutsame Funktion der Presse, die Bürger über öffentliche Angelegenheiten zu unterrichten und an der politischen Meinungsbildung mitzuwirken, auf und billigte der Presse ausdrücklich zu, "im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgabe" auch Interessen der Allgemeinheit wahrzunehmen228. Zunächst wurde diese erweiterte Anwendung des § 193 StGB zugunsten der Presse allerdings noch mit erheblichen Kautelen versehen. Sie könne nicht bedeuten, so führte das Gericht aus, daß die Presse bei ihrer Berichterstattung und Meinungsverbreitung von jenen Schranken befreit sei, die sich aus dem grundgesetzlich geschützten Recht des einzelnen auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit und insbesondere auf Wahrung seiner Ehre ergeben (Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 GG) 2 2 9 . Es müsse immer beachtet werden, daß sich eine in der Presse erhobene ehrverletzende Beschuldigung in aller Regel besonders nachhaltig für den Betroffenen auswirke, weil sie einem großen Kreis von Lesern zugänglich gemacht werde, von denen die meisten zu einer kritischen Nachprüfung oder Würdigung nicht in der Lage seien230. Schon deshalb sei die Presse besonders gehalten, die Informationsquellen sorgfältig auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen, von ungerechtfertigten Übergriffen in die private Sphäre abzusehen, Übertreibungen zu vermeiden und ferner zu erwägen, ob ein vertretbares Verhältnis zwischen dem mit der Veröffentlichung erstrebten Zweck und der für den Betroffenen eintretenden Beein226

Deutlich etwa RGSt 56,380, 383, und RGZ 115, 74,80 f.; siehe auch RGZ 83, 362, 364 f., zur entsprechenden Problematik bei § 824 Abs. 2 BGB. 227

BGHZ 31,308 ff.

228

Vgl. BGHZ 31,308,312 (Alte Herren).

229

Siehe BGHZ 31,308,312 (Alte Herren).

230

Vgl. BGHZ 31,308,313 (Alte Herren); in diesem Sinne auch schon BGHZ 24,200,212 (Spätheimkehrer), sowie später dann etwa BGH NJW 1966, 647, 648 (Reichstagsbrand), und BGH NJW 1977, 1288, 1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68, 331 ff. abgedruckt).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

101

trächtigung seiner Ehre besteht231. Die meisten dieser, den Freiraum der Presse begrenzenden Kriterien hat der Bundesgerichtshof dann allerdings später fallen lassen (oder doch wenigstens abgeschwächt), wie im folgenden noch zu zeigen sein wird. Bis heute232 weitgehend aufrechterhalten wurde lediglich das Erfordernis, daß die Presse, bevor sie sich zur Veröffentlichung ehrenrühriger Beschuldigungen entschließt, durch die ihr möglichen Ermittlungen die Gefahr, daß sie über den Betroffenen etwas Falsches verbreitet, nach Kräften ausschalten muß. Diese "Pflicht zu sorgfältiger Prüfung des Wahrheitsgehaltes"233, an die um so höhere Anforderungen zu stellen sein sollen, je schwerer der erhobene Vorwurf wiegt234, bedeutet nach Auffassung des Bundesgerichtshofs aber nicht, daß sich die Presse einer in Wahrnehmung berechtigter Interessen beabsichtigten Äußerung schon dann enthalten muß, wenn sie sie nicht mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Gewißheit des Richters beweisen kann235. Denn wenn die Presse, falls der Ruf einer Person gefährdet ist, nur Informationen verbreiten dürfte, an deren Zuverlässigkeit zu zweifeln sie im Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung ernstlich keinen Anlaß hat, dann könne sie ihre durch Art. 5 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Aufgaben bei der öffentlichen Meinungsbildung nicht durchweg erfüllen, und zwar schon deshalb nicht, weil ihre ohnehin begrenzten Mittel zur Ermittlung der Wahrheit durch den Zwang, aktuell zu bleiben, verkürzt seien236. Den Presseorganen könne daher stets nur die mit ihren Mitteln einzuhaltende "pressemäßige" Sorgfalt

231 Siehe BGHZ 31, 308, 313 (Alte Herren); ähnlich dann auch BGH NJW 1966, 1213, 1215 (Luxemburger Wort).

232

Vgl. aus neuerer Zeit etwa BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt).

233 BGH NJW 1985,1621,1623 (Gastarbeiterflüge I); BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt). 234

Siehe etwa BGH GRUR 1969,147,151 (Augstein); BGH NJW 1977,1288,1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68,331 ff. abgedruckt). 235

Vgl. BGH NJW 1979, 266, 267 (Carstens); BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt). 236

Siehe BGH NJW 1977,1288,1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68,331 ff. abgedruckt). - Erhöhte Sorgfaltspflichten sollen aber gelten, wenn es sich um einen Beitrag in einer Wochenzeitschrift handelt, bei der, anders als bei einer Reportage aktueller Geschehnisse, erheblich größere zeitliche pnd sachliche Möglichkeiten der Prüfung zur Verfügung stehen, siehe BGH GRUR 1969,147,151 (Augstein).

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1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

abverlangt werden237. Unter Umständen soll es danach sogar noch im Bereich ihrer berechtigten Interessen liegen können, wenn die Presse auf einen Verdacht ehrenrühriger Vorgänge hinweist, dem mit pressemäßigen Mitteln nicht rechtzeitig auf den Grund zu kommen ist, allerdings nur, "sofern jener Mangel einer Bestätigung der Information der Leserschaft nicht vorenthalten wird" 238. Die der Presse durch das Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG) gezogenen Grenzen seien aber um so enger, je größer das Risiko sei, daß sich die ehrenrührigen Beschuldigungen als unwahr erweisen könnten. Solange nicht ein Mindestbestand an Beweistatsachen zusammengetragen sei, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit überhaupt erst den "Öffentlichkeitswert" verleihen würden, der eine Abwägung mit den Persönlichkeitsrechten des Betroffenen diskutierbar sein lasse, müsse die Presse daher auf eine Veröffentlichung überhaupt verzichten 239. Im übrigen war die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Zulässigkeit ehrverletzender Meinungsäußerungen erheblichen Veränderungen unterworfen. Im "Constanze I-Urteil" 240 vom 26. Oktober 1951 hatte das Gericht noch die Auffassung vertreten, daß rechtsverletzende Äußerungen nur dann durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen gedeckt seien, "wenn sie objektiv nach Inhalt, Form und Begleitumständen das gebotene und notwendige Mittel zur Erreichung des rechtlich gebilligten Zweckes"241 bildeten; derjenige, der seine Interessen nur durch den Eingriff in ein fremdes Rechtsgut wirksam wahrzunehmen vermöge, müsse das kleinste Rechtsübel, das "schonendste Mittel" wählen242. Diese (im konkreten Fall gewerbeschädigender Kritik gezogenen243) Grenzen konnte der Bundesge-

237

Vgl. BGH NJW 1987,2225,2226 (Chemiegift einfach weggekippt).

238

BGH NJW 1977, 1288, 1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68, 331 ff. abgedruckt). 239

Siehe BGH NJW 1977,1288,1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68,331 ff. abgedruckt). 240 BGHZ 3,270 ff. , 241

BGHZ 3,270,281 (Constanze I).

242

Siehe BGHZ 3,270,281 (Constanze I).

243

Die Frauenzeitschrift "Constanze" war in der Beilage einer kirchlichen Wochenzeitschrift (unter anderem) als "Blüte aus dem Sumpf der fragwürdigen Kulturerzeugnisse nach Art der Magazine" bezeichnet worden, vgl. BGHZ 3, 270, 272 (Constanze I); 14, 163, 165 (Constanze II).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

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richtshof aber nur für kurze Zeit aufrechterhalten 244. Bereits im "Waffenhändler-Urteil" 245 vom 24. Oktober 1961 äußerte das Gericht unter dem Eindruck des "Lüth-Urteils"246 des Bundesverfassungsgerichts erste Bedenken, ob an der Heranziehung des Gedankens größtmöglicher Schonung in dem bis dahin angenommenen Maß weiterhin festgehalten werden könne 247 , und im "Höllenfeuer-Urteil" 248 vom 21. Juni 1966 sah es sich dann durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung endgültig dazu veranlaßt, das Erfordernis des mildesten Mittels aufzugeben. In Anlehnung an den "Schmid/Spiegel-Beschluß"249 des Bundesverfassungsgerichts führte der Bundesgerichtshof nunmehr aus, daß es die Bedeutung des Art. 5 GG gerade in Auseinandersetzungen, die über einzelpersönliche Bezüge hinausgehen und eine Thematik von großer Tragweite für das Gemeinschaftsleben ansprechen, erfordere, auch in der Art der Meinungsäußerung von Rechts wegen "große Freiheit" zu gewähren. Dem Grundgesetz liege die Vorstellung zugrunde, daß der mündige und zum eigenen Urteil im Kampf der Meinungen aufgerufene Bürger in der freiheitlichen Demokratie selbst fähig sei zu erkennen, was von einer Kritik zu halten ist, die auf eine Begründung verzichtet und in hämisch-ironischer oder schimpfend-polternder Weise die Gegenmeinung angreift 250. Gegenüber diesem "Wagnis der Freiheit"251 sei es hinzunehmen, "daß das Recht dem Betroffenen nicht gegenüber jeder unangemessenen scharfen Meinungsäußerung Schutz gewährt"252. In späteren Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung dann immer wieder bestätigt und dabei mehrfach auch ausdrücklich hervorgehoben, daß vom Kritiker nicht (mehr) verlangt werde, das für den Gegner schonendste Mittel einzusetzen253.

244

Vgl. etwa BGHZ 8, 142, 145 (Schwarze Listen); 24, 200, 207 (Spätheimkehrer); BGH MDR 1956, 734,735 (Versorgungsarzt). 245

BGHZ 36,77 ff.

246

BVerfGE 7,198 ff.

247

Siehe BGHZ 36,77,82 f. (Waffenhändler).

248

BGHZ 45,296 ff.

249

BVerfGE 12,113 ff.

250

Vgl. BGHZ 45,2%, 308 (Höllenfeuer).

251

A. Arndt, NJW 1964,1310,1312,1313.

252 253

BGHZ 45,296,308 (Höllenfeuer).

Siehe etwa BGHZ 91,117,121 (Mordoro); BGH NJW 1966, 2010,2012 (Teppichkehrmaschine); BGH GRUR 1969, 304, 306 (Kredithaie); BGH NJW 1974,1762,1762 (Deutsch-

104

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

Aufgegeben wurde auch das Kriterium der "Sachlichkeit". Anders als etwa noch in einem Urteil vom 18. Dezember 1963254, in dem das Gericht eine Fernsehsendung mit der Begründung beanstandet hatte, daß sie "den Boden der Sachlichkeit" verlassen habe255, sah es dieses Merkmal seit dem "Höllenfeuer-Urteil" 256 nicht mehr als bedeutsam an 257 , sondern erlaubte auch "scharfe, schonungslose, 'ausfällige' Kritik" 258, "starke Ausdrücke"259 oder "übersteigerte Polemik"260. Nur in einem engeren Sinne spielt der Gesichtspunkt der "Sachlichkeit" seither noch eine gewisse Rolle: Ehrverletzende Äußerungen müssen nach Auffassung des Bundesgerichtshofs wenigstens "sachbezogen" sein261. Die Grenzen des Art. 5 Abs. 1 GG werden danach dann überschritten, wenn ein abwertendes Urteil zur bloßen Beschimpfung des Betroffenen herabsinkt, die jeden "sachlichen Bezug" zum Standpunkt des Kritikers vermissen läßt262. Zwar müsse dem einzelnen um der Meinungsfreiheit willen in der Darstellungsweise seiner Kritik ein breiter Gestaltungsspielraum eingeräumt werden und es ihm daher vor allem auch erlaubt sein, seinen Standpunkt möglichst wirkungsvoll zu vertreten, doch dürfe er seine Gegner nicht ohne "sachlichen Bezug" zu seinem Anliegen in einer Weise zur Zielscheibe seiner Kritik machen, die sie diffamiert oder diskriminiert 263. "Böswillige oder gehässige Schmähkritik"264, also eine Kritik, mit der es dem sich Äußernden nicht so sehr um ein sachliches Anliegen, als vielmehr in erster Linie um die vorsätzliche Kränkung Andersdenkender geht265, verdiene keinen Rechtsschutz; "polemische Ausfälle" 266, land-Stiftung); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1980, 1685, 1686 (Straßen- und Autolobby); BGH NJW 1981,2117,2119 (Brutaler Machtmißbrauch). 254

BGH NJW 1963,484 f. (Damenmoden).

255

Vgl. BGH NJW 1963, 484, 485 (Damenmoden); siehe auch schon BGHZ 3, 270, 280 (Constanze I). 256

BGHZ 45,296 ff.

257

Siehe BGHZ 45,296,310 (Höllenfeuer).

258

BGH NJW 1974,1762,1763 (Deutschland-Stiftung).

259

BGH NJW 1981,2117,2119 (Brutaler Machtmißbrauch).

260

BGH NJW 1987,1398,1398 (Kampfanzug unter der Robe).

261

Vgl. BGH NJW 1974, Π62,1762 (Deutschland-Stiftung).

262

Siehe BGH NJW 1980,1685,1685 (Straßen- und Autolobby).

263

Vgl. BGHZ 91,117,122 (Mordoro).

264

BGHZ 45,296,310 (Höllenfeuer).

265

Siehe BGH NJW 1987,1398,1398 (Kampfanzug unter der Robe).

266

Vgl. BGH NJW 1977,626,627 (Editorial).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

105

mit denen allein der Zweck verfolgt werde, andere Personen in der Öffentlichkeit zu demütigen267, seien durch die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Meinungs- und Pressefreiheit nicht mehr gedeckt268. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sah es auch der Bundesgerichtshof stets als einen wesentlichen Abwägungsfaktor an, ob es sich bei der beanstandeten Äußerung um einen Beitrag zur Auseinandersetzung um eine "das öffentliche Interesse berührende Frage"269 gehandelt hatte270; in einem solchen Fall streite eine "Vermutung" für die Zulässigkeit der "freien Rede"271. Kommerzielle Beweggründe272 oder das "Unterhaltungsbedürfnis" der Leserschaft eines Boulevard-Blattes273 sollten Eingriffe in die persönliche Ehre anderer dagegen nicht rechtfertigen können. Auch die Berufung auf das Grundrecht der 267

Siehe BGH NJW 1987,1398,1398 (Kampfanzug unter der Robe).

268

Vgl, BGHZ 45, 296, 310 (Höllenfeuer); 65, 325, 333 (Warentest II); BGH NJW 1974, 1762,1763 (Deutschland-Stiftung); BGH NJW 1977, 626, 627 (Editorial); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1980, 1685, 1685 (Straßen- und Autolobby); BGH NJW 1981, 2117, 2119 (Brutaler Machtmißbrauch); BGH NJW 1982, 2246, 2247 (Illegale Kassenarztpraxen); BGH NJW 1987, 1398, 1398 (Kampfanzug unter der Robe); BGH NJW 1987,2225,2227 (Chemiegift einfach weggekippt). - Demgegenüber hatte der Bundesgerichtshof noch im "Constanze I-Urteil" betont, daß das Rechtsgut der Ehre, wenn man die Widerrechtlichkeit kompromittierender Äußerungen von der Willensrichtung des Verletzers abhängig machen wollte, selbst gegen gröbste Angriffe schutzlos gestellt würde, sofern der Eingreifende nicht aus verwerflichen Gründen, sondern nur mit dem Ziel gehandelt hat, durch das objektiv nicht gebotene Übermaß seiner Angriffe das von ihm verfolgte Interesse wirksamer durchzusetzen (vgl. BGHZ 3,270,282 [Constanze I]). 269

So die (sehr allgemein gehaltene) Formulierung in BGH NJW 1980, 1685,1685 (Straßen- und Autolobby). 270

Siehe BGHZ 31, 308, 312 (Alte Herren); 36, 77, 82 f. (Waffenhändler); 45, 296, 308 (Höllenfeuer); 91, 117, 121 (Mordoro); BGH NJW 1964, 1471, 1472 (Sittenrichter); BGH NJW 1965, 294, 295 (Volkacher Madonna); BGH NJW 1971, 1655, 1656 f. (Sabotagevorwurf); BGH GRUR 1971, 529, 530 (Dreckschleuder); BGH NJW 1974, 1762, 1762 f. (Deutschland-Stiftung); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1979, 266,267 (Carstens); BGH NJW 1980,1685,1685 (Straßen- und Autolobby); BGH NJW 1981, 2117, 2118 f. (Brutaler Machtmißbrauch); BGH NJW 1982, 2246, 2247 (Illegale Kassenarztpraxen); BGH NJW 1984, 1102, 1103 (Wahlkampfrede); BGH NJW 1987, 1398, 1398 (Kampfanzug unter der Robe); BGH NJW-RR 1988, 733, 734 (Intime Beziehungen eines Geistlichen). 271 Vgl. BGHZ 36, 77, 83 (Waffenhändler); 45, 296, 308 (Höllenfeuer); 65, 325, 331 (Warentest II); BGH GRUR 1971, 529, 530 (Dreckschleuder); BGH NJW 1974, 1762, 1762 (Deutschland-Stiftung); meist unter Verweis auf BVerfGE 7,198,212 (Lüth). 272

Siehe etwa BGHZ 30,7,12 (Caterina Valente); 91,117,122,126 (Mordoro).

273

Vgl. BGH JZ 1965,411,413 (Gretna Green).

106

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

Pressefreiheit sei hier fehl am Platz. Dieses Grundrecht werde in seinem Wesen verkannt, wenn ihm die von jeglicher Verantwortung entbundene Freiheit entnommen werde, "Klatsch" zu verbreiten und die Berichterstattung auf Kosten der Ehre anderer zugkräftig zu machen274. An der Verbreitung bloßer Sensationsnachrichten ("Knüller") möge die Presse allenfalls ein rein gewerbliches Interesse haben; insoweit könne aber eine Persönlichkeitsverletzung niemals gerechtfertigt sein275. Als weiteres wichtiges Abwägungskriterium wurde die Abgabe ehrverletzender Äußerungen aus einer "Verteidigungssituation"276 heraus anerkannt. Mit Blick auf den "Schmid/Spiegel-Beschluß"277 des Bundesverfassungsgerichts führte der Bundesgerichtshof in einem Urteil vom 11. Mai 1965278 aus, daß es bei der Beurteilung, wie weit abwertende Kritik gehen darf, auch eine Rolle spiele, "ob der Betroffene durch die Art seines persönlichen Auftretens oder durch seinen eigenen politischen Kampfstil die Kritik herausgefordert und seinen Gegnern Anlaß gegeben hat, polemisch auf seine Person einzugehen"279. Im "Höllenfeuer-Urteil" 280 hielt das Gericht dann sogar ein "drastisches Zurückschlagen" des Betroffenen für zulässig281. Vor allem, wenn es dem Kritiker darum gehe, einen Angriff auf die von ihm vertretene Auffassung abzuwehren, den er aus seiner Sicht nach Tendenz und Aufmachung als unangemessen oder anstößig empfinden konnte, seien Einschränkungen des Persönlichkeitsschutzes zu vertreten 282 . Eine unmittelbar vorausgegangene Beleidigung soll die sich aus Art. 5 Abs. 1 GG ergebende Befugnis zu einer besonders einprägsamen und stark formulierten Äußerung aber nicht notwendig voraussetzen283, und der

274

Siehe BGHZ 39,124,128 f. (Fernsehansagerin).

275

Vgl. BGH NJW 1977,1288, 1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68,331 ff. abgedruckt). 276

BGH JZ 1966,478,479 (Warentest I).

277

BVerfGE 12,113 ff.

278

BGH NJW 1965,1476 f. (Glanzlose Existenz).

279

BGH NJW 1965, 1476, 1477 (Glanzlose Existenz); ähnlich zuvor auch schon BGH NJW 1964,1471,1472 (Sittenrichter). 280

BGHZ 45,296 ff.

281

Siehe BGHZ 45,296,310 (Höllenfeuer).

Vgl. BGH GRUR 1971,529,530 (Dreckschleuder). Siehe BGH NJW 1971,1655,1657 (Sabotagevorwurf), unter Verweis auf BVerfGE 24, 278,286 (Tonjäger).

I . Die Rechtsprechung des Bundesgerichts

107

Kritisierende braucht nach Ansicht des Gerichts auch nicht selbst vom Kritisierten angegriffen worden zu sein. Auch wer Kritik dadurch auf sich lenke, daß er in der Öffentlichkeit zu Grundfragen des Gemeinschaftslebens betont Stellung beziehe, müsse unter Umständen eine scharfe, übersteigerte Kritik an seiner Person hinnehmen284. Darüber hinaus hatte der Bundesgerichtshof schon lange vor dem Bundesverfassungsgericht betont, daß eine gezielte Einflußnahme in Fragen der politischen Haltung in aller Regel das Risiko öffentlicher Kritik einschließe285. Mit der Stellung eines Politikers in einem demokratischen Staat sei es naturgemäß verbunden, daß sich sein Wirken in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen vollziehe und daß er sich auch scharfen Angriffen derer stellen müsse, die seine Politik bekämpfen und seinen Einfluß zu beschränken suchen286. Aber auch wer aktiv handelnd im Wirtschaftsleben steht, setzt sich nach Ansicht des Gerichts in einem demokratischen Gemeinwesen der Kritik seiner Betätigung aus und kann ihr nicht unter Berufung auf einen persönlichen Geheimbereich ausweichen287. Das gleiche soll für Schriftsteller gelten, die sich mit ihrem literarischen Werk an die Öffentlichkeit wenden; der kritischen und auch der polemischen Würdigung ihres Wirkens vermögen sie sich ebensowenig zu entziehen wie ein Politiker 288. Durch ihre Einflußmöglichkeiten auf die Meinungsbildung seien diese Personen aber gleichwohl nicht schutzlos gegenüber scharfen Angriffen 289, sondern im allgemeinen durchaus in der Lage, ihre eigenen Auffassungen gegenüber der Kritik mit Nachdruck in der Öffentlichkeit darzulegen290. Trotz der dargestellten Ausformung und Anwendung zahlreicher "falltypischer Wertungsfaktoren" 291, die den Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 GG in sehr weitem Umfang Raum gegeben haben, hat der Bundesgerichtshof die Erfordernisse eines wirksamen Ehrenschutzes indessen nie aus den Au284

Vgl. BGH NJW 1974,1762,1763 (Deutschland-Stiftung).

Siehe bereits BGHZ 31,308,314 (Alte Herren). 286

Vgl. BGH NJW 1962,152,152 (Bund der Vertriebenen).

287

Siehe BGHZ 36,77,80 (Waffenhändler).

9SS

Vgl. BGH NJW 1966,245,245 (Literaturlexikon). Siehe BGHZ 45,296,310 (Höllenfeuer).

290

Vgl. BGH NJW 1962,152,152 (Bund der Vertriebenen).

291

P. I Tettinger, JZ 1983,317,320.

108

1. Teil: Β. Die höchstrichterliche Rechtsprechung

gen verloren. Schon frühzeitig betonte das Gericht, daß die Presse bei der Mitteilung der tatsächlichen Grundlagen für die Meinungsbildung der Leserschaft mit jener Sorgfalt verfahren müsse, zu der die Rücksichtnahme auf die Ehre des einzelnen zwinge; die Wahrheit könne dabei auch durch Auslassungen oder grob einseitige Berichterstattung verfälscht werden292. Das Recht, das Verhalten einer Persönlichkeit kritisch zu beurteilen, rechtfertige es nicht, deren Lebensbild mittels frei erfundener oder doch ohne jeden Anhaltspunkt behaupteter Verhaltensweisen zu entstellen293; auch das "Recht zum Gegenschlag" sei "kein Freibrief für polemische Ausfälle, die jedes Maß vermissen lassen"294. In einer ganzen Reihe von Entscheidungen nahm der Bundesgerichtshof zudem ausdrücklich auf das in Art. 5 Abs. 2 GG als Schranke der Kommunikationsgrundrechte positivierte "Recht der persönlichen Ehre" Bezug295. Hinweise darauf, "daß Ehrenschutz und Kritikfreiheit nach der Wertordnung der Verfassung als gleichrangig gegeneinander abzuwägen sind"296, finden sich allerdings erst in jüngerer Zeit 297 .

292 Siehe BGHZ 31, 308, 318 (Alte Herren); ähnlich dann auch BGH NJW 1961, 1913, 1914 (Honorarvereinbarung); BGH NJW 1965,2395,23% (Mörder unter uns). 293

Vgl. BGHZ 50,133,144 (Mephisto).

294

BGH NJW 1974,1762,1763 (Deutschland-Stiftung).

295

Siehe etwa BGHZ 31,308,312 (Alte Herren); 39,124,129 (Fernsehansagerin); 50,133, 144 (Mephisto); BGH JZ 1965,411,413 (Gretna Green). 296

BGHZ 78, 9, 14 (Medizin-Syndikat III); BGH GRUR 1981, 80, 84 (Medizin-Syndikat IV; insoweit nicht in BGHZ 78, 22 ff. abgedruckt); fast wortgleich BGH GRUR 1980, 1090, 1093 (Medizin-Syndikat I; insoweit nicht in BGHZ 78, 24 ff. abgedruckt); BGH GRUR 1980, 1099,1099 (Medizin-Syndikat II). 297 Vgl. auch noch BGH NJW 1981, 1366, 1366 (Der Aufmacher II); BGH NJW 1981, 2117,2118 (Brutaler Machtmißbrauch).

Zweiter Teil

Auswertung und eigener Ansatz Im zweiten Teil dieser Untersuchung sollen zunächst die Erkenntnisse der Bestandsaufnahme ausgewertet und einer kritischen Überprüfung zugeführt werden. Die Entwicklung und Darstellung des eigenen Ansatzes zur Bestimmung der spezifisch verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Schutz der persönlichen Ehre, insbesondere im Gegenüber zu den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG, sowie der sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Kollisionslösung im Einzelfall werden den Abschluß der Arbeit bilden.

A. Kritik an der bisherigen Entwicklung Der anfängliche Blick auf die Resonanz, die die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz in der Literatur gefunden hat, ließ bereits deutlich werden, wie umfassend und weitverbreitet die negative Beurteilung der Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet (inzwischen) ist. Die Grundsätze, die (vor allem) das Bundesverfassungsgericht für den erforderlichen Interessenausgleich entwickelt und die der Bundesgerichtshof in seiner Rechtsprechung zu diesem Problem angewandt hat (oder im Hinblick auf § 31 Abs. 1 BVerfGG anwenden mußte), werden von zahlreichen Autoren als verfehlt und unhaltbar empfunden. In der Tat lassen sie klare Richtlinien für die Kollisionslösung im Einzelfall vermissen und werden der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung für den Schutz der persönlichen Ehre häufig nicht gerecht. Ein entscheidender Grund für die unbefriedigende Entwicklung dürfte darin liegen, daß die Gerichte bei der Bestimmung des Stellenwerts des "Rechts der persönlichen Ehre" als der dritten Schranke der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG gemäß Art. 5 Abs. 2 GG dem Umstand, daß der Ehren-

110

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

schütz als besonders prägnanter Aspekt des umfassenden Persönlichkeitsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG eine weitere Absicherung im Grundgesetz erfährt, bislang nicht hinreichend Rechnung getragen haben.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung zum Schutz der persönlichen Ehre Während der (verfassungsrechtliche Schutz der menschlichen Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG insgesamt eine deutliche Aufwertung erfahren hat, ist dem "Recht der persönlichen Ehre" als ausdrücklich positivierter Schranke der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 2 GG in der Rechtsprechung bislang keine besondere Bedeutung beigemessen worden. Auf die darin liegende Widersprüchlichkeit ist in der Literatur bereits zu Recht aufmerksam gemacht worden1; Ursachen und Wirkungen sollen im folgenden näher untersucht werden.

1. Prononcierte Anerkennung des Persönlichkeitsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG

Seit der grundlegenden "Leserbrief-Entscheidung" 2 des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1954, in der das "allgemeine Persönlichkeitsrecht" erstmals als ein durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht anerkannt wurde3, hat sich der Persönlichkeitsschutz zu einem wichtigen und durch eine umfangreiche Kasuistik geprägten Rechtsinstitut entwickelt4. Über dreißig Jahre Recht1

Siehe schon H. Westermann, JZ 1960, 692, 693: "Der geringe Schutz der Ehre gegenüber der Interessenwahrung des Beleidigers im Vergleich mit dem Schutz aller anderen Rechtsgüter ist mit der starken Betonung der Persönlichkeit und dem Schutz der sog. Persönlichkeitsrechte schwer vereinbar"; ähnlich Tk Würtenberger, NJW 1983,1144,1146: "Die starke Zurückdrängung des politischen Ehrenschutzes infolge Überbetonung des Gewichts der Meinungsfreiheit verwundert, wenn man bedenkt, daß das Rechtsgut der Ehre durch die enge Verbindung mit der Menschenwürde als dem höchsten Wert im Grundrechtssystem seit Schaffung des Grundgesetzes eine ideelle Aufwertung erfahren hat"; vgl. auch K. Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473,475. 2

BGHZ 13,334 ff.

3

Vgl. BGHZ 13,334,338 (Leserbrief).

4

Siehe O.-F. Frhr. v.Gamm, NJW 1979,513,513.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

111

sprechung haben "das besondere Freiheitsrecht der Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Beziehung"5 zu einem festen Bestandteil der Rechtsordnung unter dem Grundgesetz werden lassen6. Wenn es auch zunächst der Zivilrechtsprechung vorbehalten war, die Garantien der Art. 2 Abs. 1 und 1 Abs. 1 GG in der Rechtsfigur des "allgemeinen Persönlichkeitsrechts" für einen umfassenden Persönliclikeitsschutz auf dem Gebiet des Zivilrechts nutzbar zu machen7 8 , so hatte doch in der Folgezeit vor allem auch das Bundesverfassungsgericht an der weiteren Ausgestaltung und näheren Konkretisierung dieses Rechtsinstituts maßgeblichen Anteil9. In einer Vielzahl von Fällen hat es den von den

5 Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2 Abs. 1, Rn. 64, in Anlehnung in BVerfGE 27,344,351 (Scheidungsakten I). 6

Ähnlich BVerfGE 34,269,281 (Soraya).

7

Vgl. W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,45 Rn. 7. g Ausführliche Darstellungen zur Entwicklung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Zivilrecht finden sich bei P. Schwerdtner, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977; H. E. Brandner, JZ 1983,689,689 ff.; speziell zum zivilrechtlichen Ehrenschutz siehe bereits oben Erster Teil A. III. 2. 9 Die Zahl der Entscheidungen des Gerichts, die Ausführungen zum Persönlichkeitsschutz aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG enthalten, ist mittlerweile kaum noch überschaubar; dies mag die folgende Auflistung - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - verdeutlichen: BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes); 6, 55, 81 (Ehegattenbesteuerung); 6, 389, 432 ff. (Homosexuelle); 10, 55, 59 (Zuchtbulle); 12, 113, 127 f. (Schmid/Spiegel); 18,146, 146 f. (Tagebuch/e.A.); 27, 1, 6 ff. (Mikrozensus); 27, 344, 350 ff. (Scheidungsakten I); 28, 1, 9 f. (Augstein); 30, 173, 193 ff. (Mephisto); 32, 373, 378 ff. (Arctkartei); 33, 367, 376 ff. (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter); 34,118,135 f. (Schmerzensgeld); 34, 205, 208 ff. (Scheidungsakten II); 34, 238, 245 ff. (Heimliche Tonbandaufnahme); 34, 269, 281 ff. (Soraya); 35, 35, 39 f. (Briefverkehr in Untersuchungshaft II); 35, 202, 219 ff. (Lebach); 38, 105, 114 ff. (Rechtsbeistand für Zeugen); 38, 312, 320 f. (Tierarzt); 39,1, 42 ff. (Fristenregelung); 42, 234, 236 f. (Briefverkehr im Strafvollzug); 44,197,203 (Solidaritätsadresse); 44,353,372 ff. (Suchtkrankenberatungsstelle); 45, 187, 239 (Lebenslange Freiheitsstrafe); 47, 46, 73 ff. (Sexualkundeunterricht); 49, 286, 297 ff. (Transsexuelle I); 54, 148, 153 ff. (Eppler); 54, 208, 217 ff. (Böll); 56, 37, 42 ff. (Selbstbezichtigung); 57, 170, 177 ff. (Briefverkehr in Untersuchungshaft III); 60,123,134 f. (Transsexuelle II); 60, 329, 339 (Versorgungsausgleichsvereinbarung); 63,131,142 ff. (Gegendarstellung); 64, 261, 270 ff. (Hafturlaub); 65,1, 41 ff. (Volkszählung); 67,100,142 ff. (Flick-Ausschuß); 67, 213,228 (Anachronistischer Zug 1980); 71,183,201 (Sanatoriumswerbung); 71, 206, 217 ff. (Veröffentlichung einer Anklageschrift); 72, 105, 115 ff. (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe); 72, 155, 170 ff. (Mindeijährigenschutz); 73, 118, 201 (4. Fernseh-Entscheidung); 75, 318, 328 (Schallmessungen); 75, 369, 379 ff. (Karikatur); 78, 38, 49 ff. (Gemeinsamer Ehename); 78, 77, 84 ff. (Öffentliche Bekanntmachung der Entmündigung wegen Verschwendung oder Trunksucht).

112

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

"Fach"gerichten (als "einfachen Verfassungsgerichten" 10) gewährten Persönlichkeitsschutz bestätigt11 oder fehlenden Persönlichkeitsschutz durchgesetzt12. Im Mittelpunkt der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung stand dabei lange Zeit die Herleitung und Anerkennung eines besonders intensiven Grundrechtsschutzes der menschlichen Privatsphäre n. Schon im "Elfes-Urteil" 14 hatte das Gericht aus dem übergreifenden Sinnzusammenhang von Menschenwürde und persönlicher Entfaltungsfreiheit geschlossen, "daß dem einzelnen Bürger eine Sphäre privater Lebensgestaltung verfassungskräftig vorbehalten ist, also ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit besteht, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist"15. In späteren Entscheidungen hat es dann zwar einschränkend hinzugefügt, daß nicht der gesamte Bereich des privaten Lebens unter dem absoluten Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG stehe; als gemeinschaftsbezogener und gemeinschaftsgebundener Bürger 16 müsse vielmehr jedermann staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen, soweit sie nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung17 be10

P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815,828 Rn. 19; vgl. auch ders., Die Verwaltung 22 (1989), 409,415 ("Grundrechtsgerichte" des Alltags). 11

Siehe etwa BVerfGE 30,173,195 ff. (Mephisto); 34, 269,281 f. (Soraya); 75, 369, 379 ff. (Karikatur). 12

Vgl. etwa BVerfGE 27,344, 350 ff. (Scheidungsakten I); 32,373, 378 ff. (Arztkartei); 34, 205,208 ff. (Scheidungsakten II); 34, 238, 245 ff. (Heimliche Tonbandaufnahme); 35, 202,238 ff. (Lebach); 44, 353, 372 ff. (Suchtkrankenberatungsstelle); 49, 286, 297 ff. (Transsexuelle I); 54,208,217 ff. (Boll); 72,155,167 ff. (Mindeijährigenschutz). 13

Zum Begriff der Privatsphäre und zu den verschiedenen Konzeptionen ihres verfassungsrechtlichen Schutzes vgl. eingehend D. Rohlf\ Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 19 ff. 14

BVerfGE 6,32 ff.

15

BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes); ähnlich dann auch BVerfGE 6, 55, 81 (Ehegattenbesteuerung); 6, 389, 433 (Homosexuelle); 27, 1, 6 (Mikrozensus); 27, 344, 350 (Scheidungsakten I); 32, 373, 378 f. (Arztkartei); 33, 367, 376 (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter); 34, 238, 245 (Heimliche Tonbandaufnahme); 35, 35, 39 (Briefverkehr in Untersuchungshaft II); 38,312,320 (Tierarzt). 16

Grundlegend BVerfGE 4,7,15 f. (Investitionshilfe).

Hierbei soll es sich um "den Bereich menschlichen Eigenlebens" handeln, "der von Natur aus Geheimnischarakter hat" (BVerfGE 27, 1, 7 [Mikrozensus]); er wird als Zone des "Für-

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

113

treffen 18. Jedoch sei "dem Schutz der Integrität der menschlichen Person in geistig-seelischer Beziehung ein besonders hoher Wert beizumessen"19. Dementsprechend wurden im Laufe der Zeit zahlreiche Rechtspositionen, die zur Entwicklung und Wahrung individueller Privatheit erforderlich sind, unter den Schutz der Verfassung gestellt. Dazu gehören etwa das Recht am eigenen Bild und am gesprochenen Wort 20 , der Anspruch auf Geheimhaltung von Ehescheidungsakten21, ärztlichen Karteikarten 22 oder sonstigen persönlichen Unterlagen23, das Verfügungsrecht über private Aufzeichnungen vertraulichen Charakters24, die brieflichen Kontakte von (Untersuchungs-)Gefangenen mit ihrem Ehepartner 25 bzw. ihren Eltern 26, die Sexualität des Menschen und deren Entfaltung 27 sowie die Zeugnisverweigerungsrechte Dritter 28. Sich-Seins" und des "Sich-Selber-Gehörens" beschrieben (vgl. BVerfGE 35, 202, 220 [Lebach]), als jener "Innenraum", der "dem Einzelnen um der freien und selbstverantwortlichen Entfaltung seiner Persönlichkeit willen" verbleiben muß, "in dem er 'sich selbst besitzt' und 'in den er sich zurückziehen kann, zu dem die Umwelt keinen Zutritt hat, in dem man in Ruhe gelassen wird und ein Recht auf Einsamkeit genießt'" (BVerfGE 27, 1, 6 [Mikrozensus], unter Verweis auf/. M. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 15 f.). Verlassen werden soll dieser "letzte, unantastbare Bereich menschlicher Freiheit" allerdings dort, wo "der Einzelne als ein in der Gemeinschaft lebender Bürger in Kommunikation mit anderen tritt, durch sein Sein oder Verhalten auf andere einwirkt und dadurch die persönliche Sphäre von Mitmenschen oder Belange des Gemeinschaftslebens berührt" (BVerfGE 35, 202, 220 [Lebach]); "die Zulässigkeit eines Eingriffs hängt dann davon ab, ob der 'Sozialbezug' der Handlung intensiv genug ist" (BVerfGE 6,389,433 [Homosexuelle]). 18

Siehe BVerfGE 27, 344, 351 (Scheidungsakten I); 32, 373,379 (Arztkartei); 33,367,376 f. (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter); 34, 205, 209 (Scheidungsakten II); 34, 238, 246 (Heimliche Tonbandaufnahme); 35, 35, 39 (Briefverkehr in Untersuchungshaft II); 35, 202,220 (Lebach); 38,105,115 (Rechtsbeistand für Zeugen); 38,312,320 f. (Tierarzt). 19

BVerfGE 27,344,351 (Scheidungsakten I) - Hervorhebung durch den Verfasser.

20

Vgl. BVerfGE 34,238,246 (Heimliche Tonbandaufnahme).

21

Siehe BVerfGE 27, 344, 351 ff. (Scheidungsakten I); 34, 205, 208 ff. (Scheidungsakten II). 22

Vgl. BVerfGE 32,373,379 ff. (Arztkartei).

23

Siehe BVerfGE 44,353,372 ff. (Suchtkrankenberatungsstelle).

24

Angedeutet in BVerfGE 18,146,147 (Tagebuch/e.A).

25

Siehe BVerfGE 35,35, 40 (Briefverkehr in Untersuchungshaft II); 42, 234, 236 f. (Briefverkehr im Strafvollzug). 26

Vgl. BVerfGE 57,170,178 ff. (Briefverkehr in Untersuchungshaft III).

27

Siehe BVerfGE 47, 46, 73 f. (Sexualkundeunterricht); 49, 286, 298 ff. (Transsexuelle I); 60,123,134 f. (Transsexuelle II). 28

Vgl. BVerfGE 33,367,377 f. (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter). 8 Mackeprang

114

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Später ist die Garantie der Privatsphäre dann völlig in der (sachlich weiterreichenden) verfassungsrechtlichen Gewährleistung des "allgemeinen Persönlichkeitsrechts" aufgegangen29, das die personale und soziale Identi30 tät des einzelnen auf allen Ebenen des menschlichen Daseins - namentlich "im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen (neuen) Gefährdungen für den Schutz der menschlichen Persönlichkeit"31 sichern soll. Seit dem "Eppler-Beschluß"32 des Bundesverfassungsgerichts ist vor allem die Befugnis des einzelnen zur Selbstgestaltung seines sozialen Geltungsanspruchs zunehmend in den Vordergrund gerückt. Nachdem das Gericht in früheren Entscheidungen bereits die persönliche Ehre 33 und das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person34 als Schutzgüter des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG anerkannt hatte, bejahte es nun ein umfassendes Recht des einzelnen, in dem von sich selbst definierten sozialen Geltungsanspruch nicht beeinträchtigt zu werden35. Insbesondere wurde es deshalb als Eingriff in das verfassungsrechtlich gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht betrachtet, wenn jemandem Äußerungen in den Mund gelegt wurden, die er nicht getan hatte36, oder wenn sein (geschriebenes oder gesprochenes) Wort - ohne Interpretationsvorbehalt - falsch zitiert wurde37. Andere, gleichermaßen auf dem Gedanken der Selbstbestimmung über die eigene Person beruhende Ausprägungen des grundgesetzlichen Persönlichkeitsschutzes kamen hinzu. So sah das Bundesverfassungsgericht etwa die Sicherstellung effektiver medienspezifi29

Ebenso CA. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, 30 Art. 2 Abs. l,Rn. 11. Siehe W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,59 f. Rn. 32. 31 BVerfGE 54,148,153 (Eppler); siehe auch BVerfGE 65,1,41 (Volkszählung). 32

BVerfGE 54,148 ff.

33

Vgl. BVerfGE 30,173,193,195 (Mephisto): "soziale(r) Wert- und Achtungsanspruch".

34

Siehe BVerfGE 35,202,220 (Lebach).

35

Siehe BVerfGE 54,148,155 f. (Eppler).

36

Vgl. etwa BVerfGE 54,148, 155 (Eppler); BVerfG (Kammer) NJW 1989, 1789, 1789 (Rasterfahndung). - Schon im Fall der Exkaiserin Soraya war es der Sache nach ebenfalls um das Recht, von der Unterschiebung nicht getaner Äußerungen verschont zu bleiben, gegangen; hier hatte jedoch in der Verbreitung des erfundenen Interviews zugleich eine Verletzung der Privatsphäre der Betroffenen gelegen, vgl. BVerfGE 34,269,282 f. (Soraya). 37

Siehe BVerfGE 54, 208, 217 ff. (Boll).

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

115

scher Rechtsschutzmöglichkeiten38 ebenso als durch das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geboten an wie den Schutz Minderjähriger vor unbegrenzter finanzieller Verpflichtung durch ihre Eltern 39. Gleichzeitig wurden die bisherigen Konkretisierungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts weiter ausgebaut. Unter Fortführung seiner Rechtsprechung zur Achtung des privaten Lebensbereichs als der "persönlichkeitsrechtlichen Eigensphäre"40, in der "der Mensch seine einmalig-eigengeartete Individualität grundsätzlich autonom gestalten kann"41, und zum Schutz gegen die Erhebung von Informationen aus diesem Bereich42 stellte das Bundesverfassungsgericht im "Volkszählungs-Urteil"43 fest, daß das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien auch die Befugnis des einzelnen umfasse, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten grundsätzlich selbst zu bestimmen44. Einschränkungen dieses Rechts auf "informationelle Selbstbestimmung", das den einzelnen vor unbegrenzter Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten schütze, seien nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig45. Der Schutz der persönlichen Ehre spielte in der neueren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht vor allem als Schranke der Kunstfreiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG eine wichtige Rolle. In seinem Beschluß zum "Anachronistischen Zug 1980"46 38

Vgl. BVerfGE 63, 131, 142 f. (Gegendarstellung); 73, 118, 201 (4. Fernseh-Entschei-

dung). 39

Siehe BVerfGE 72,155,170 ff. (Mindeijährigenschutz).

40

BGHZ 27,284,289 (Heimliche Tonbandaufnahme).

41

W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,59 Rn. 30. 42 43

Vgl. insoweit insbesondere bereits BVerfGE 27,1,6 ff. (Mikrozensus). BVerfGE 65, Iff.

44

Siehe BVerfGE 65,1,42 f. (Volkszählung); ebenso BVerfGE 78,77, 84 (Öffentliche Bekanntmachung der Entmündigung wegen Verschwendung oder Trunksucht). 45

Vgl. BVerfGE 65, 1, 43 f. (Volkszählung); 78, 77, 85 (Öffentliche Bekanntmachung der Entmündigung wegen Verschwendung oder Trunksucht); ähnlich (in bezug auf die durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Geheimhaltung steuerlicher Angaben und Verhältnisse) auch BVerfGE 67,100,142 f. (Flick-Ausschuß). 46

8*

BVerfGE 67,213 ff.

116

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

setzte das Bundesverfassungsgericht die mit dem "Mephisto-Beschluß"47 begonnene Judikatur zum Spannungsverhältnis zwischen diesem Grundrecht und dem verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruch des einzelnen fort und betonte, daß eine schwerwiegende und zweifelsfrei festgestellte Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts auch durch die Freiheit der Kunst nicht gerechtfertigt werden könne48. Eben ein solcher Fall lag wenig später der dritten Grundsatzentscheidung des Gerichts zur Kunstfreiheit - dem sogenannten "Karikatur-Beschluß"49 - zugrunde, in der den Verfassungsrichtern die (verfassungst r e u e " ) Grenzziehung zwischen noch erlaubter politischer Karikatur/ Satire und schon strafbarer Diffamierung eines bekannten Politikers - als ein sich mit einem "Artgenossen" in richterlicher Amtstracht sexuell betätigendes Schwein(chen)50 - oblag51. Die leitsätzliche Feststellung, daß Kari-

47

BVerfGE 30,173 ff.

48

Vgl. BVerfGE 67, 213, 228 (Anachronistischer Zug 1980). - Ob im konkreten Fall eine derart schwerwiegende Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorgelegen hatte, konnte das Gericht offenlassen, da die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers schon deshalb aufzuheben war, weil die "Fach"gerichte verkannt hatten, daß die Veranstaltung des "Anachronistischen Zugs 1980" in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG fiel; die Ausführungen des Gerichts zu den Grenzen der Kunstfreiheit und die Zurückweisung des Verfahrens an das Amtsgericht lassen allerdings vermuten, daß das Gericht von einer nur geringfügigen Ehrverletzung ausging (vgl. BVerfGE 67, 213,228 ff.). Das Amtsgericht Kempten kam später sogar zu dem Ergebnis, daß überhaupt keine Beleidigung vorgelegen hatte, und sprach den Beschwerdeführer frei; eine mögliche Rechtfertigung über § 193 StGB in Verbindung mit Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG spielte daher gar keine Rolle mehr (siehe AG Kempten NJW 1985, 987,987 f.). - Ganz anders beurteilte das Bundesverfassungsgericht dagegen drei Jahre später den versammlungsrechtlich umstrittenen Vorläufer des Straßentheaters, vgl. BVerfG (Kammer) NJW 1988, 328, 328 f. (Anachronistischer Zug 1979). 49

BVerfGE 75,369 ff.

50

Formulierung in Anlehnung an/. Würkner, NStZ 1988,23,23; dersNJW 1988,317,318; ders., JA 1988,183,186; ders., Z U M 1988,171,175. 51

Wichtige Hinweise zur rechtlichen Würdigung von Karikatur und Satirefinden sich bereits in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, das nicht nur das Wesen dieser Sonderformen künstlerischen und literarischen Schaffens näher bestimmt hat (siehe RGSt 62, 183, 183 f.), sondern auch "Richtpunkte für die-Unterscheidung des Zulässigen von dem Unzulässigen" (K v.Lilienthal, JW 1924, 1526, 1526) aufgestellt hat (vgl. insbesondere RG JW 1924, 1526, 1527). - Aus der neueren Literatur zur (strafrechtlichen Beurteilung von Karikatur und Satire (auch unter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Aspekte) vgl. vor allem Th. Würtertberger, NJW 1982, 610, 611 ff.; ders., NJW 1983, 1144, 1144 ff.; H. Otto, JR 1983, 1, 3 ff.; ders., JR 1983,511, 513; ders., NJW 1986,1206,1207 ff.; L. Zechlin, NJW 1984,1091,1091 ff.;/ Würk-

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

117

katuren, die in den durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern menschlicher Ehre eingreifen, auch durch die Freiheit des künstlerischen "Wirkens" in der Außenwelt ("Öffentlichkeit") nicht mehr gedeckt werden können, verdient uneingeschränkte Zustimmung. Geht man davon aus, daß das Grundgesetz die Würde des Menschen als "obersten Wert" anerkennt52 und daß das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) den Kern(bereich) menschlicher Ehre als deren "unmittelbaren Ausfluß" schützt53, so darf es bei einer derart gravierenden Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts eine Rechtfertigung durch die Freiheit der Kunst in der Tat nicht geben. Daneben hat das Bundesverfassungsgericht den grundgesetzlich verbürgten Wert- und Achtungsanspruch des Menschen mehrfach auch im Blick auf die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs 54 aktualisiert. Das Recht auf Achtung seiner Persönlichkeit könne keinem Straftäter abgesprochen werden, möge er sich auch in noch so schwerer und unerträglicher Weise gegen alles vergangen haben, was die Wertordnung der Verfassung unter ihren Schutz stellt55. In der Strafvollstreckung sei "ebenso wie im Erkenntnisverfahren zu beachten, daß die menschliche Würde unmenschliches, erniedrigendes Strafen verbietet, und daß der Täter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten sozialen Wert- und Achtungsanspruchs zum bloßen Objekt der Vollstreckung herabgewürdigt werden darf 56 . ner, NStZ 1988,23,23 f.; ders., NJW 1988,317, 317 ff.; ders., JA 1988,183,183 ff.; ders., ZUM 1988,171,173 ff.; jeweils m.z.N. 52

Siehe etwa BVerfGE 6, 32, 41 (Elfes); 27,1, 6 (Mikrozensus); 30,173,193 (Mephisto); 32,98,108 (Gesundbeter); 33,23, 29 (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen); 35, 366,376 (Kreuz im Gerichtssaal); 50,166,175 (Waffenbesitzer); 52,223,247 (Schulgebet); 72,105,115 (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe); 75,369,380 (Karikatur). 53

Vgl. BVerfGE 75,369,380 (Karikatur).

54

Siehe hierzu vor allem BVerfGE 45,187, 227 ff. (Lebenslange Freiheitsstrafe); 64, 261, 270 ff. (Hafturlaub); 72,105,113 ff. (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe). 55

Vgl. BVerfGE 64, 261, 284 (Hafturlaub); 72, 105, 115 (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe). 56

BVerfGE 72, 105, 115 f. (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe), unter Verweis auf BVerfGE 28, 386, 391 (Kurzzeitige Freiheitsstrafen); 45,187,228 (Lebenslange Freiheitsstrafe). - Ebenso wurde neuerdings der Schutz der von einem Straf-, Bußgeld- oder Disziplinarverfahren Betroffenen vor vorzeitiger Bloßstellung durch die Veröffentlichung amtlicher Schriftstücke unter den Schutz des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gestellt, vgl. BVerfGE 71,206, 217 ff. (Veröffentlichung einer Anklageschrift); das gleiche

118

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Nicht nur an dieser Stelle zeigt sich, daß der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor allem wegen seiner engen Beziehung zum Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde "erhöhte Bedeutung"57 erlangt hat. Das Bundesverfassungsgericht sah in der Menschenwürdeklausel des Art. 1 Abs. 1 GG von Anfang an das eigentliche Wertsubstrat des in Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Rechts auf freie Entfaltung und Achtung der Persönlichkeit58: "In der Wertordnung des Grundgesetzes ist die Menschenwürde der oberste Wert... Wie alle Bestimmungen des Grundgesetzes beherrscht dieses Bekenntnis zu der Würde des Menschen auch den Art. 2 Abs. 1 GG."59 Auch in späteren Entscheidungen wurde der spezifische Zusammenhang zwischen diesen beiden Verfassungsbestimmungen stets betont60: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleiste die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen "im Sinne des obersten Konstitutionsprinzips der 'Würde des Menschen'"61. "Art. 2 Abs. 1 GG dürfte (damit) den intensivsten aktualisierten Bezug zur Menschenwürde gewonnen haben"62. Mit der Heranziehung des Art. 1 Abs. 1 GG zur Begründung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat das Bundesverfassungsgericht zugleich jenen Teilbereich persönlicher Entfaltungsfreiheit aus der (allein in Art. 2 Abs. 1 GG garantierten) "allgemeinen Handlungsfreiheit" hervorgehoben, der eines besonders nachhaltigen Grundrechtsschutzes bedarf. Inhaltlich

gilt für das Schweigerecht von Beschuldigten und Zeugen für den Fall der Selbstbezichtigung, siehe BVerfGE 38,105,114 f. (Rechtsbeistand für Zeugen); 56, 37,41 ff. (Selbstbezichtigung). 57

BVerfGE 71,206,219 (Veröffentlichung einer Anklageschrift).

58

Siehe W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der59 Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,46 Rn. 9. BVerfGE 27, 1, 6 (Mikrozensus); prägnant auch W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,55 Rn. 23: "Würde und Freiheit des Menschen sind Korrespondenzphänomene." Vgl. etwa BVerfGE 27, 344, 351 (Scheidungsakten I); 30,173,193 (Mephisto); 32, 373, 379 (Arztkartei); 33, 367, 376 (Zeugnisverweigerungsrecht für Sozialarbeiter); 34, 238, 245 (Heimliche Tonbandaufnahme); 34, 269, 281 (Soraya); 35, 35, 39 (Briefverkehr in Untersuchungshaft II); 35, 202, 221 (Lebach); 45,187,239 (Lebenslange Freiheitsstrafe); 54,148,153 (Eppler); 56, 37, 43 (Selbstbezichtigung); 65,1, 41 (Volkszählung); 72, 105,115 (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe); 72,155,170 (Minderjährigenschutz); 75,369,380 (Karikatur). 61

Siehe BVerfGE 54,148,153 (Eppler); 72,155,170 (Mindeijährigenschutz).

62

P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815,821 Rn. 6.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

119

dürfte dieser Bereich dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG nach der Pçrsônlichkeitskerntheorie 63 zumindest nahekommen64. Vor allem wurde die Menschenwürdeklausel immer wieder "aktiviert"65, um das besondere Gewicht des Persönlichkeitsschutzes zu unterstreichen. Mehrfach stellte das Bundesverfassungsgericht heraus, daß das "Wertsystem" der Grundrechte seinen "Mittelpunkt" in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde finde66. Wenn das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch keinen grundsätzlichen Vorrang vor anderen Verfassungsgütern beanspruchen könne67, so gebiete doch der sich aus der engen Beziehung zum höchsten Wert der Verfassung ergebende hohe Rang dieses Freiheitsrechts, (drohenden) Persönlichkeitsverletzungen ständig das Schutzgebot des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG als Korrektiv entgegenzuhalten68.

2. Verkürzung des Ehrenschutzes aus Art. 5 Abs. 2 GG

Ganz im Gegensatz zur prononcierten Anerkennung des (allgemeinen) Persönlichkeitsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG stand die Rechtsprechung zum (besonderen) Ehrenschutz aus Art. 5 Abs. 2 GG. Die den Grundrechten des Art. 5 Abs. 1 GG vom Verfassunggeber mit dem "Recht der persönlichen Ehre" in Art. 5 Abs. 2 GG aus-

63 Dazu grundlegend H. Peters, in: FS für R. Laun, 1953, S. 669,672 ff.; ders:, Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, 1963, S. 15 ff., 47 ff.; siehe auch Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 426 ff. 64

Ähnlich H. Bethge, UFITA 95 (1983), 251, 255; Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2 Abs. 1, Rn. 65; angedeutet auch bei K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 428. 65

Formulierung in Anlehnung an P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815,829 Rn. 24. 66

Vgl. BVerfGE 7,198, 205 (Lüth); 34, 269, 281 (Soraya); 65, 1, 41 (Volkszählung); zur Kritik am "wertsystematischen" Ansatz des Bundesverfassungsgerichts siehe K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 299. 67

Siehe etwa BVerfGE 30,173,195 (Mephisto); 35, 202, 225 (Lebach); 63,131,144 (Gegendarstellung); 75,369,380 (Karikatur). Vgl. BVerfGE 35, 202, 221 (Lebach); ähnlich bereits BVerfGE 34, 238, 249 (Heimliche Tonbandaufnahme); in diesem Sinne auch R Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443,445.

120

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

drücklich gezogene Grenze entfaltet in der Praxis kaum ehrenschützende Wirkung. Spannungslagen zwischen beiden Verfassungs(grund)werten werden (namentlich in Fällen politischer oder politisch motivierter Meinungsäußerungen) regelmäßig zu Lasten des Ehrenschutzes aufgelöst. Hauptursache dafür ist, daß die Gerichte Inhalt und Funktion des "Rechts der persönlichen Ehre" im Rahmen der Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG verkennen. Hinzu tritt eine allgemeine Tendenz zur Privilegierung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern.

a) Unzutreffende Einordnung des nRechts der persönlichen Ehre n in das Schrankensystem des Art. 5 Abs. 2 GG Die Gerichte unter Einschluß des Bundesverfassungsgerichts behandeln das "Recht der persönlichen Ehre" regelmäßig nur als unselbständigen Teil der Schranke "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" mit der Folge, daß die für die Auslegung und Anwendung dieses Schrankenvorbehalts entwikkelten Grundsätze ohne nähere Begründung auch auf das "Recht der persönlichen Ehre" übertragen werden. Diese Rechtsprechung, die nicht zwischen den verschiedenen Alternativen des Art. 5 Abs. 2 GG unterscheidet, ist in der Literatur wiederholt auf Kritik gestoßen69. Immer wieder wird hervorgehoben, daß das Grundgesetz den Ehrenschutz - ebenso wie die Jugendschutzbestimmungen - als eigengeartete Schranke neben die "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" gestellt habe und daher eine entsprechende Differenzierung gebiete70. Zum Teil wird auch die Auffassung vertreten, daß Ehrenschutzbestimmungen gerade das Gegenteil "allgemeiner Gesetze" seien, nämlich Sondergesetze, die sich gegen die Meinungs(äußerungs)freiheit richten71. Besonders vehement wird schließlich die ErstrekJCQ

Vgl. insbesondere W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276,288 ff.; ders., JZ 1983,95, 98; ders., AöR 113 (1988), 52, 96 ff.; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 125tt.;ders., NJW 1983,1400,1400 ff.; P. J. Tettinger, JZ 1983,317, 320; I. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5, Rn. 57a; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,822 ff.; R Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443, 455; Hartmut Krüger, WissR 1986,1, 8 ff.; Κ E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 33 f. 70

So vor allem W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 290; ders., JZ 1983, 95, 98; ders., AöR 113 (1988), 52,97. 71 Siehe H. Ridder, JZ 1961, 537,539; Κ Α. Bettermann, JZ 1964,601,609; Η. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,153,157; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

121

kung der "Wechselwirkungstheorie" auf die dritte Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG gerügt72.

aa) "Recht der persönlichen Ehre" und "allgemeine Gesetze" Die Frage nach dem Verhältnis des "Rechts der persönlichen Ehre" zu den "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" läßt sich nicht beantworten, ohne den Begriff der "allgemeinen Gesetze" inhaltlich näher zu bestimmen. Wenn es hier auch nicht darum geht, das Phänomen der "allgemeinen Gesetze" in all seinen Verästelungen umfassend darzustellen73, so ist es doch erforderlich, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie die Auffassungen, die sie beeinflußt haben, näher zu betrachten. Das Problem, was unter den Schranken der "allgemeinen Gesetze" zu verstehen ist, hat die Verfassungslehre schon zur Zeit der Weimarer Republik beschäftigt, da Art. 118 Abs. 1 WRV die gleiche Formulierung enthielt74. Für die Interpretation des Art. 5 Abs. 2 GG heute noch von Bedeutung sind namentlich die auf Κ Häntzschel zurückgehende "Sondergesetzlehre"75 sowie die von Λ Smend entwickelte "Güterabwägungslehre"76. K Häntzschel zufolge sind "allgemeine Gesetze" "Rechtsnormen, welche die Ausübung des Rechtes der freien Meinungsäußerung nicht zum Zwekder politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140 f.; ders., NJW 1983,1400,1402; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 823; wohl auch Hartmut Krüger, WissR 1986,1, 8 ff.; offengelassen bei W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,97. 72

Vgl. vor allem G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 166 ff.; ders., NJW 1983,1400,1402 f.; W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 98. 73 Siehe dazu die ausführlichen Untersuchungen von H. Reisnecker, Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und die Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. II GG, 1960, S. 113 ff.; E. Schwark, Der Begriff der "Allgemeinen Gesetze" in Artikel 5 Absatz 2 des Grundgesetzes, 1970, S. 22 ff.; zur Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 2 GG vgl. insbesondere//. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,156 ff.; W. Weber, AfP 1972,303,303 f.; ders., in: FS für E. R. Huber, 1973, S. 181,184; Ch. Starck, in: FS für W. Weber, 1974, S. 189,210 ff. 74 Treffend daher//. Bethge, AfP 1980,13,16, der von "der jahrzehntealten crux des deutschen Staatsrechts" spricht; ihm folgend /. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 5, Rn. 47; siehe auch H. Bethge, AfP 1984, 22, 23. 75 Vgl. Κ Häntzschel, AöR 49 (1926), 228, 232 ff.; ders., in: G. Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Zweiter Bd., 1932, S. 651,659 ff. 76

Siehe R Smend, W D S t R L 4 (1928), 44,51 ff.

122

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

ke der Unterdrückung des gedanklichen Inhalts der Äußerung, sondern aus allgemeinen, nicht gegen den Gedankeninhalt gerichteten, Gründen beschränken"77. Seinem Verständnis nach handelt es sich also um Gesetze, "die nicht Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit enthalten"78. Für unzulässige Sonderbeschränkungen der Meinungsfreiheit hält K. Häntzschel demgegenüber "die Rechtssätze, die eine an sich erlaubte Handlung allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch hervorgerufenen schädlichen geistigen Wirkung verbieten oder beschränken"79. Der Auffassung Κ Häntzschels ist insbesondere Κ Rothenbücher gefolgt, der als "allgemeine Gesetze" diejenigen definierte, "die dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsgutes dienen, sowie diejenigen, die eine bestimmte Lebensbetätigung - nicht lediglich eine besondere Art der Äußerung einer Meinung als solcher treffen" 80. Weitere Stimmen in der Literatur haben sich dieser Ansicht wörtlich oder sinngemäß angeschlossen81, ebenso das Reichsgericht, das sie zugleich als "herrschende Meinung" bezeichnete82. Nach der von R Smend vertretenen Gegenansicht ist der Begriff der "allgemeinen Gesetze" geisteswissenschaftlich, insbesondere geistesgeschichtlich zu verstehen und auszulegen83. R. Smend sieht in der Verwendung des

77

Κ Häntzschel, AöR 49 (1926), 228,233.

78

K. Häntzschel, ebd., 232.

79

H Häntzschel, in: G, Anschütz/R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, fin Zweiter Bd., 1932, S. 651,659 f. Κ. Rothenbücher, W D S t R L 4 (1928), 6,20. 81 Vgl. insbesondere G. Anschütz, W D S t R L 4 (1928), 74, 75 (Diskussion): "... 'allgemeine Gesetze' sind solche, welche nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten"; ähnlich ders., Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919,14. Aufl. 1933, Art. 118, Anm. 3. - C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), 5. Aufl. 1970, S. 167, faßte die Auffassungen Κ Häntzschels und Κ Rothenbüchers in der Weise zusammen, daß "allgemeine Gesetze" alle diejenigen seien, "die ohne Rücksicht gerade auf eine bestimmte Meinung ein Rechtsgut schützen, das an sich Schutz verdient"; wie jedoch seinen eigenen Ausführungen wenig später zu entnehmen ist, geht die seiner Auffassung nach zutreffende Begriffsbestimmung in eine andere Richtung, nämlich dahin, in den Worten "innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze" nur einen "allgemeinen Gesetzesvorbehalt" zu sehen. 82 83

Siehe RG JW1930,2139,2140.

Vgl. R Smend, W D S t R L 4 (1928), 44, 51; ihm folgend etwa A. Hellwig, in: H. C. Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Zweiter Bd.,

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

123

Wortes "allgemein" die "Aufnahme und abgekürzte Inbezugnahme eines alten sachlichen Gedankens aus dem überlieferten Gedankenkreise der Grundrechte"84. Die "Allgemeinheit", um die es sich dabei handele, sei die "materiale Allgemeinheit der Aufklärung: die Werte der Gesellschaft, die öffentliche Ordnung und Sicherheit, die konkurrierenden Rechte und Freiheiten der Anderen ..."85. Für Λ Smend ist die Allgemeinheit des Art. 118 WRV "die Allgemeinheit derjenigen Gemeinschaftswerte, die als solche den ursprünglich individualistisch gedachten Grundrechtsbetätigungen gegenüber den Vorrang haben, so daß ihre Verletzung eine Überschreitung, ein Mißbrauch des Grundrechts ist"86. "Allgemeine Gesetze" sind für ihn "Gesetze, die deshalb den Vorrang vor Art. 118 haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit" 87. Eine Durchsicht der Gesetzesmaterialien zu Art. 5 GG zeigt, daß sich auch der Parlamentarische Rat wiederholt mit dem Begriff der "allgemeinen Gesetze" befaßt hat88. Η. H. Klein* 9, W Weber 90 und CH. Starete 91 kommen in ihren Analysen der Entstehungsgeschichte des Art. 5 Abs. 2 GG übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß mit der Beschränkung der Meinungsfreiheit durch die "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" die Auffassung Κ Häntzschels rezipiert werden sollte92. Die Güterabwägungslehre Κ Smends fand dagegen in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats überhaupt keine Erwähnung. Gewollt war eine der (herrschenden Meinung zur Zeit der) Weimarer Reichsverfassung entsprechende Regelung; verboten sein sollten danach Spezialgesetze, die sich gegen eine bestimmte Mei-

1930, S. 1, 24 f.; F. Poetzsch-Heffter, 1919,3. Aufl. 1928, Art. 118, Anm. 13. 84

Handkommentar der Reichsverfassung vom 11. August

R Smend, W D S t R L 4 (1928), 44,51.

85

Ä Smend, ebd., 52.

86

R Smend, ebd.

87

R Smend, ebd.

88

Siehe KB. v.Doemming/R W. FüssleinfW.

eo 90 91

Matz (Bearb.), JöR 1 (1951), 79, 79 ff.

Vgl. ders., Der Staat 10 (1971), 145,159. Siehe ders., AfP 1972,303,303 f.; ders., in: FS für E. R. Huber, 1973, S. 181,184. Vgl. ders., in: FS für W. Weber, 1974, S. 189,213.

92

Zustimmend auch G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 127; ders., NJW 1983,1400,1401; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 821; Hartmut Krüger, WissR 1986, 1, 10; G. Gornig, JuS 1988, 274, 275 Fn. 3.

124

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

nung richten93. Dieses Verständnis des Begriffs der "allgemeinen Gesetze" findet sich dementsprechend auch in den ersten Erläuterungen zu Art. 5 Abs. 2 GG 94 . Das Bundesverfassungsgericht hat sich erstmals und grundlegend im "Lüth-Urteil"95 vom 15. Januar 1958 mit dem Begriff des "allgemeinen Gesetzes" auseinandergesetzt und dabei die verschiedenen Ansätze aus der Weimarer Zeit miteinander verbunden. Unter "allgemeinen Gesetzen" sollten danach "alle Gesetze zu verstehen ... (sein), die 'nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten', die vielmehr 'dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsguts dienen', dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat"96. Dieser Versuch einer "pragmatischen Integration von Theorieelementen"97 war indessen methodisch mißglückt. Gleichzeitig hatte das Bundesverfassungsgericht im "Lüth-Urteil" nämlich auch seine berühmte "Wechselwirkungstheorie" entwickelt98, wonach der Wert des im "allgemeinen 93

So ausdrücklich der Allgemeine Redaktionsausschuß in der Begründung zu seinem Vorschlag vom 25. Januar 1949, Drucks. 543, S. 9 Anm. 5 (zit. nach G v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 127 Fn. 12; siehe auch Η. H. Klein, Der Staat 10 [1971], 145,158). 94 Vgl. etwa K G. Wernicke , in: Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 5 (Erstbearb.), Anm. II 2 b: "... solche Gesetze..., 'die dem Schutze eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsgutes dienen'"; H. v.Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1. Aufl. 1953, Art. 5, Anm. 7: "... alle Gesetze, die ein bestimmtes Rechtsgut ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung schlechthin schützen wollen"; A. Hamann, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 1. Aufl. 1956, Art. 5, Anm. 10: "... Gesetze, die nicht gegen bestimmte Meinungen als solche gerichtet sind"; siehe auch Th. Maunz, Deutsches Staatsrecht, 2. Aufl. 1952, S. 88: "... solche (Gesetze), die sich nicht gerade gegen das durch die Meinungsfreiheit geschützte Rechtsgut als solchesrichten";H. Ridder, in: F. L. Neumann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Zweiter Bd., 1954, S. 243, 282: "... solche Gesetze, die nicht die rein geistige Wirkung der reinen Meinungsäußerung inhibieren". 95 BVerfGE 7,198 ff. 96

BVerfGE 7,198,209 f. (Lüth).

97

Formulierung von P. Häberle, W D S t R L 39 (1981), 202, 202 (Diskussion); ders., Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 358 f.; ders., in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815,833 Rn. 31,837 Rn. 40. 98

Siehe dazu näher unten bb).

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

125

Gesetz" geschützten Rechtsguts in jedem Einzelfall gegenüber der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG abzuwägen ist, was impliziert, daß das Vorliegen des "allgemeinen Gesetzes" nicht nach, sondern vor der Güter- und Interessenabwägung bejaht werden muß". Darin lag ein klarer Widerspruch zu den Ausführungen bei der Begriffsbildung: Versteht man unter einem "allgemeinen Gesetz" ein Gesetz, das dem Schutz eines Gemeinschaftswerts dient, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat, so muß dieses Vorrangverhältnis zuerst festgestellt werden, bevor das Gesetz als "allgemeines" gewertet werden kann100. Nachdem das Bundesverfassungsgericht zunächst gleichwohl an seiner Definition aus dem "Lüth-Urteil"101 festhalten zu wollen schien102, hat es das Merkmal der "Vorrangigkeit" in späteren Entscheidungen bei der Begriffsbestimmung der "allgemeinen Gesetze" schließlich103 doch fallenlassen104. Nach der neueren, inzwischen als gefestigt zu bezeichnenden Rechtsprechung des Gerichts ist das Erfordernis der "Allgemeinheit" (nur noch) im Sinne des Ausschlusses von "Sonderrecht gegen den Prozeß freier Meinungsbildung"105 zu verstehen. "Allgemeine Gesetze" sind danach solche Gesetze, "die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung richten, sondern dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen"106. Erst im Rahmen der nach der "Wechselwirkungstheorie" vorzunehmenden Abwägung wird dann (in An99

Vgl. BVerfGE 7,198,208 f., 210 f., 212 (Lüth).

100

So der treffende Hinweis von W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60,276, 282 f.

101

BVerfGE 7,198, 209 f.; ebenso BVerfGE 26,186, 205 (Ehrengerichte); 28,175,185 f. (Porst); 28,282,292 (Soldatengesetz). 102 Siehe BVerfGE 42,133,140 f. (Wahlwerbung eines Betriebsratsmitglieds); 49, 24, 68 (Kontaktsperre); 50,234,240 f. (Gerichtsreporter). 103 Vgl. zunächst die Formulierung in BVerfGE 57,250,268 (Geheimdienst). 104

Seit BVerfGE 59, 231,263 f. (Freie Rundfunkmitarbeiter I); allerdings hat das Gericht keine Bedenken, weiterhin auf seine früheren Entscheidungen zu verweisen, vgl. BVerfGE 59, 231,264 (Freie Rundfunkmitarbeiter I). 105 BVerfGE 71,206,214 (Veröffentlichung einer Anklageschrift). 106

BVerfGE 59, 231, 263 f. (Freie Rundfunkmitarbeiter I); fast wortgléich BVerfGE 71, 162, 175 (Werbeverbot für Ärzte); 71, 206, 214 (Veröffentlichung einer Anklageschrift). Zum Teil gebraucht das Gericht auch die Formulierungen "Gesetze, die sich nicht gegen (die Äußerung) eine(r) Meinung als solcherichten,sondern ...", vgl. BVerfGE 62,230,243 f. (Boykottaufruf); 71,108,114 (Atomkraftplakette); ähnlich auch schon BVerfGE 57, 250, 268 (Geheimdienst). Die Merkmale "bestimmte Meinung" und "Meinung als solche" werden also synonym verwendet (siehe dazu bereits W. Schmitt Glaeser, AöR 97 [1972], 60,276,278).

126

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

lehnung an Κ Smend 107) nach der Höherwertigkeit des vom "allgemeinen Gesetz" geschützten Rechtsguts gefragt. Kann somit die Auseinandersetzung um die Bestimmung des Begriffs der "allgemeinen Gesetze" heute als im Sinne der "Sondergesetzlehre" entschieden betrachtet werden, so hängt die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis des "Rechts der persönlichen Ehre" zu den "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" maßgeblich davon ab, was "besondere" von "allgemeinen" Gesetzen unterscheidet. Auch insoweit fehlt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings eine durchgängige und einheitliche Linie. Überwiegend gewinnt man den Eindruck, als seien erst solche Gesetze keine "allgemeinen" mehr, die sich gegen eine bestimmte Meinung richten 108; gelegentlich scheint es das Gericht aber auch schon für ausreichend zu erachten, daß das Gesetz die Betätigung der Meinungsfreiheit (als solche) begrenzt109. Betrachtet man nur Gesetze, die sich gegen eine bestimmte Meinung richten, als nicht mehr "allgemein" im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, dann können die gesetzlichen Bestimmungen, die das "Recht der persönlichen Ehre" inhaltlich konkretisieren und vor unzulässigen Eingriffen bewahren, keinesfalls als Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit angesehen werden. Die in der Literatur zum Teil anklingende Auffassung, daß Ehrenschutzbestimmungen sehr wohl gegen bestimmte, nämlich ehrverletzende Meinungsäußerungen gerichtet seien und deshalb dem Erfordernis der "Allgemeinheit" nicht gerecht würden110, verkennt, daß nur solche Gesetze gegen eine

107

Im Unterschied zu R Smend, der eine abstrakte Güterabwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem vom "allgemeinen Gesetz" geschützten Rechtsgut forderte (vgl. ders. y W D S t R L 4 [1928], 44, 52), nimmt das Bundesverfassungsgericht allerdings eine Einzelfallbetrachtung vor (grundlegend BVerfGE 7, 198, 210 f., 212 [Lüth]); ausführlich zu den Differenzen zwischen der Lehre R Smends und der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts Iflfi Κ A. Bettermann t JZ 1964,601,601 f.; H. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,151 f. Vgl. z.B. BVerfGE 33,52,66 ("Der lachende Mann"); 44,197,202 (Solidaritätsadresse); 47,198,232 (Wahlwerbespot KPD/ML). 109 Siehe etwa BVerfGE 49,24, 68 (Kontaktsperre); wohl auch BVerfGE 50, 234,241 (Gerichtsreporter). - Die in den neueren Entscheidungen zur Begriffsbestimmung der "allgemeinen Gesetze" verwendete Formulierung spricht zwar dafür, daß das Gericht der ersten Alternative den Vorzug einräumt, die zweite Alternative wird jedoch weiterhin mitgeprüft, vgl. nur BVerfGE 71,206,215 (Veröffentlichung einer Anklageschrift). 110

So vor allem G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 141; ders., NJW 1983,1400,1402.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

127

bestimmte Meinung gerichtet sind, die diese Meinung wegen ihres Inhalts unterdrücken, also die Meinungsfreiheit in der Weise beschränken, daß sie Meinungsäußerungen über bestimmte Dinge oder mit einer bestimmten geistigen Zielrichtung verbieten. Die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der persönlichen Ehre enthalten aber nur Beschränkungen hinsichtlich der (beleidigenden) Art und Weise, in der eine Meinungsäußerung beliebigen Inhalts erfolgt 111. Verlangt man dagegen, um von einem "allgemeinen Gesetz" sprechen zu können, im Anschluß an überzeugende Stellungnahmen im Schrifttum 112 weitergehend, daß die Zielrichtung des Gesetzes nicht .die Meinungsfreiheit als solche sein darf, dann ist zweifelhaft, ob die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der persönlichen Ehre dieser Anforderung genügen. Denn "fremde Ehre wird zwar nicht ausschließlich, aber doch überwiegend und spezifisch durch (die) Ausübung der in Art. 5 Abs. 1 GG genannten Freiheiten verletzt; Meinungsäußerung und Tatsachenbericht sind zwar nicht die einzigen, aber doch typische und hauptsächliche Mittel der Ehrverletzung"113. Gleichwohl kann der (allerdings im Vordringen befindlichen) Auffassung, daß das Ehrenschutzrecht aus diesem Grund als Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit anzusehen sei114, nicht gefolgt werden. Denn maßgeblich dafür, ob ein Gesetz gegen die Meinungsfreiheit als solche gerichtet ist, kann nicht (allein) sein, ob sich das Gesetz (nur oder ganz überwiegend) im

111

112

Vgl. schon Κ Häntzschel, AöR 49 (1926), 228,233.

Siehe etwa P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 113; Κ A. Bettermann, JZ 1964,601, 603; ders., Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl. 1976, S. 22; Η. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,155; W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 278; W. Weber, AfP 1972, 303, 303 f.; ders., in: FS für E. R. Huber, 1973, S. 181,184; Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 399. Κ Α. Bettermann, JZ 1964, 601, 609; ähnlich G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140 f.; ders., NJW 1983, 1400,1401 f.; vgl. auch schon H. Ridder, JZ 1961,537,539. 114 Vgl. H. Ridder, ebd., 539; M. Rehbinder, NJW 1962, 2140, 2140; Κ Α. Bettermann, JZ 1964,601, 609; Η. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,153,157; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140 f.; ders., NJW 1983, 1400, 1402; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 823; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 24; G. Gornig, JuS 1988, 274, 277; wohl auch Hartmut Krüger, WissR 1986, 1, 8 ff.; offengelassen bei W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,97.

128

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Normbereich der in Art. 5 Abs. 1 GG genannten Grundrechte auswirkt115. Auch durch "allgemeine11 Gesetze dürfen jenem Ausschnitt der Wirklichkeit, der Gegenstand der Gewährleistung des Art. 5 Abs. 1 GG ist 116 , durchaus Grenzen gezogen werden - anderenfalls handelte es sich nicht um "Schranken" dieser Rechte. Entscheidend muß sein, ob die betreffenden Gesetze in ihrer (objektiven117) Zielrichtung gerade gegen das Rechtsgut des Art. 5 Abs. 1 GG gerichtet sind118, "also akkurat das verzögern, hemmen oder gar verhindern, was das Grundgesetz: durch die Gewährleistung der Meinungsfreiheit erreichen wollte: die (private oder politische) Meinungsbildung in Freiheit mit ihrer konstituierenden Wirkung für eine freiheitliche Demokratie"119. Das aber trifft auf jene Normen, die den einzelnen vor Angriffen auf seine persönliche Ehre schützen (sollen), sicher nicht zu. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß ehrverletzende Äußerungen zur verfassungsrechtlich bezweckten Meinungsbildung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 GG nichts beizutragen vermögen120. "So richtig es ist, daß das Grundrecht der freien Meinungsäußerung für eine freiheitliche demokratische Grundordnung schlechthin konstituierend ist 121 , so wenig wird man behaupten können, daß auch Ehrabschneidungen diese Funktion erfüllen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Erfahrungen vor allem der Weimarer Zeit lehren, daß es für eine freiheitliche Demokratie kaum etwas Gefährlicheres und Schädlicheres gibt als eine Meinungsbildung, die das Produkt von Lüge, Hetze und Verleumdung ist."122 Ein Blick in die Beratungsprotokolle zu Art. 5 GG stützt diese Erwägungen. Auch der Grundgesetzgeber ging offensichtlich nicht davon aus, daß 115 So aber H. Ridder, JZ 1961, 537, 539; siehe auch Ζ v.Münch, in: ders., GrundgesetzKommentar, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5, Rn. 48.

Formulierung in Anlehnung an K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 310. 117 Zu Recht weist Κ. A. Bettermann, JZ 1964, 601, 603, darauf hin, daß es insoweit nicht auf die (subjektive) Vorstellung und Absicht des Gesetzgebers ankommen kann. 118

Vgl. W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 278. - Das "Rechtsgut" des Art. 5 Abs. 1 GG als Bezugspunkt des "Allgemeinen" nennen insbesondere auch P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 113, und Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 399. 119

W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276,278.

120

Siehe W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,99.

121

Grundlegend BVerfGE 7,198,208 (Lüth).

122

W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,99.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

129

Gesetze und Maßnahmen zum Schutz der persönlichen Ehre in ihrer (objektiven) Zielrichtung gegen das Rechtsgut des Art. 5 Abs. 1 GG gerichtet seien. Der Hinweis des Abgeordneten Th. Heuß darauf, daß man "den Gedanken des Ehrenschutzes, des Rechts des Einzelnen auf Wahrung seiner Ehre an einer Stelle der Verfassung, die von dem Recht der freien Meinungsäußerung handelt, zumindest deklaratorisch zum Ausdruck gebracht sehen"123 wollte, läßt unschwer erkennen, daß Ehrverletzungen von der ratio der in Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisteten Freiheiten gerade nicht umfaßt sein sollten. Gesetzliche Bestimmungen, die das "Recht der persönlichen Ehre" inhaltlich konkretisieren und vor unzulässigen Eingriffen bewahren, sind nach dem hier vertretenen Verständnis daher zugleich (auch) "allgemeine Gesetze" im Sinne der ersten Alternative des Art. 5 Abs. 2 GG. Sie richten sich weder gegen "bestimmte Meinungen" noch gegen die "Freiheit des geistigen Prozesses"124 (als solche); dem Erfordernis der "Allgemeinheit", mit dem derartiges "Sonderrecht gegen den Prozeß freier Meinungsbildung"125 ausgeschlossen werden soll, werden sie somit durchaus gerecht. Daraus indessen den Schluß ziehen zu wollen, die dritte Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG sei nur ein Unterfall der ersten Schranke, hieße, die Systematik dieser Schrankenbestimmung zu verkennen. Mit Recht ist geltend gemacht worden, es erscheine schon unter gesetzes- und verfassungsinterpretatorischen Gesichtspunkten als ausgesprochen unwahrscheinlich, daß die "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" das "Recht der persönlichen Ehre" vollkommen abdeckten, den konkret formulierten Vorbehalt also im Ergebnis überflüssig machten126. Darüber hinaus erweist sich die Einbeziehung des Ehrenschutzes in die erste Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG aber auch noch aus einem weiteren (zwingenden) Grund als unzulässig. Wäh123

Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen (Grundsatzausschuß) vom 29. September 1948, S. 46,48 (zit. nach G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 150 Fn. 46). 124

So die Umschreibung des durch die Meinungsfreiheit geschützten Rechtsguts bei Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 399. 125 BVerfGE 71,206,214 (Veröffentlichung einer Anklageschrift). 126 Vgl. G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 140; ders., NJW 1983, 1400, 1401; zustimmend Hartmut Krüger, WissR 1986, 1, 9; ähnlich auch R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 245. 9 Mackeprang

130

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

rend durch "allgemeine Gesetze" prinzipiell jedes (auch noch so relativ unbedeutende) Rechtsgut geschützt werden kann, geht es beim Schutz der persönlichen Ehre (immer) um ein Rechtsgut von Verfassungsrang 127. Die "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" einerseits und das "Recht der persönlichen Ehre" andererseits stellen sich mithin als qualitativ 128 voneinander verschiedene Schranken der Meinungsfreiheit dar. Für die Interpretation des Art. 5 Abs. 2 GG erhellt daraus zweierlei: Zum einen wird deutlich, daß der dritte Vorbehalt der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG im Gegensatz zu den beiden anderen Schranken dieser Grundrechte keinen bloßen Verweis auf subkonstitutionelles Recht enthält129. Wenn sich auch die das "Recht der persönlichen Ehre" spezifizierenden Vorschriften des einfachen Gesetzesrechts zugleich als "allgemeine Gesetze" erweisen, so bedeutet dies doch nicht, daß das Schutzgut "Ehre" seine schrankenziehende Wirkung nur im Rahmen "allgemeiner Gesetze" entfalten könnte. Die Ehre des Menschen genießt im Grundgesetz als Ausfluß der "anthropologischen Prämisse"130 und des "obersten Konstitutionsprinzips"131 der grundgesetzlichen (Wert-)Ordnung - der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) 1 3 2 - einen besonders hohen Stellenwert. "Aus dieser Bewertung folgt... ihr umfassender Schutzanspruch, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um geschriebenes oder ungeschriebenes Recht handelt."133 Soweit der Gesetzgeber die den Freiheiten aus Art. 5 Abs. 1 GG mit dem "Recht der 127

In diesem Sinne auch P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 38: "Jugendschutz, persönliche Ehre etc. sind zweifelsfrei als von der Verfassung geschützte Rechtsgüter ausgewiesen." 128 Siehe auch Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,824. 129

So auch G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 150; ders., NJW 1983,1400,1402; Hartmut Krüger, WissR 1986,

1,11. 130

P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815, 843 Rn. 56; ders., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 35. 131 G. Düng, AöR 81 (1956), 117,119; ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. I (1958), Rn. 4. 132 Ähnlich P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815,828 Rn. 20: "Ehrenschutz als Ausfluß personaler Würde".

133

IL Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,823. - Zur Frage, ob der Schutz der persönlichen Ehre als "Recht" unmittelbar begrenzende Wirkung entfaltet oder ob es dazu noch einer einfachgesetzlichen Konkretisierung bedarf, siehe auch schon oben Erster Teil Α. II. 1. a).

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

131

persönlichen Ehre" bereits auf Verfassungsebene gezogene Grenze zusätzlich noch in einfachen ("allgemeinen") Gesetzen normiert, macht er daher nicht von der ihm in Art. 5 Abs. 2 GG erteilten Ermächtigung Gebrauch, diese Grundrechte seinerseits durch näher qualifizierte ("allgemeine") Gesetze zu begrenzen, sondern aktualisiert lediglich die schon durch die Verfassung selbst vorgenommene Begrenzung134. Zum anderen folgt aus der Erkenntnis, daß sich das "Recht der persönlichen Ehre" durch seinen Verfassungsrang von den "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" qualitativ unterscheidet, notwendigerweise, daß die für die Auslegung und Anwendung der ersten Schranke des Art. 5 Abs. 2 GG entwickelten Grundsätze nicht ohne weiteres auf die dritte Schranke übertragen werden können. Angesichts der besonderen Verbürgung des Ehrenschutzes im Grundgesetz geht es nicht an, die persönliche Ehre im Kollisionsfall mit der Meinungsfreiheit wie jedes andere (durch "allgemeine Gesetze" geschützte) Rechtsgut zu behandeln. Als äußerst zweifelhaft erweist sich speziell die Erstreckung der "Wechselwirkungstheorie" auf das "Recht der persönlichen Ehre" 135, da sie im Ergebnis zu einer unzulässigen Veränderung der verfassungsmäßig normierten Verhältnisbestimmung von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz führt 136.

bb) "Recht der persönlichen Ehre" und "Wechselwirkungstheorie" Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müssen die sich aus "allgemeinen Gesetzen" ergebenden Grenzen der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG ihrerseits im Lichte dieser Freiheiten gesehen werden; sie sind aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieser Grundrechte im freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen und so in ihrer diese Grundrechte begrenzenden Wirkung selbst wieder einzuschränken 137 (sogenannte "Wechselwirkungstheorie"). Der Wert des im "allgemei134 Vgl. dazu auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 312. 135

Siehe W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,98.

136

So zu Recht G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 166; ders., NJW 1983,1400,1402. 137

Vgl. BVerfGE 7,198,208 f. (Lüth); 7,230,233 f. (Wahlplakat); 12,113,124 f. (Schmid/ Spiegel); 20,162,176 f. (Spiegel); 21, 271, 281 (Südkurier); 25, 44, 55 (Zuwiderhandlung gegen Parteiverbot I); 27, 71, 80 (Leipziger Volkszeitung); 27, 104, 109 (Dokumentation der 9

132

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

nen Gesetz" geschützten Rechtsguts muß folglich in jedem Einzelfall gegenüber der Bedeutung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG abgewogen werden138. Auf diese Weise sucht das Bundesverfassungsgericht der Gefahr zu begegnen, daß die durch Art. 5 Abs. 2 GG gebotene Rücksicht auf andere Rechtsgüter zu einer Relativierung der Meinungsfreiheit führt 139, die "als unmittelbarster Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt ist"140. Kritik an dieser Konzeption blieb nicht aus141. Sie richtete sich zum einen gegen den Zirkelschluß, in den das Bundesverfassungsgericht gerät, wenn es auf der einen Seite zwar die Einschränkung der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG durch Art. 5 Abs. 2 GG anerkennt, auf der anderen Seite aber die "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" wiederum aus dem Grund-

Zeit); 28, 55, 63 (Leserbriefe); 28, 191, 201 f. (Pätsch); 34, 384, 401 (Briefverkehr in Untersuchungshaft I); 35, 202, 223 f. (Lebach); 35, 307, 309 (Rundfunkempfang in Untersuchungshaft II); 39, 334, 367 (Extremisten); 42, 133, 141 (Wahlwerbung eines Betriebsratsmitglieds); 42,143, 150 (Deutschland-Magazin); 42,163,169 (Echternach); 47,198, 232 (Wahlwerbespot KPD/ML); 50, 234,241 (Gerichtsreporter); 54,129,136 (Kunstkritik); 57, 250, 268 (Geheimdienst); 59, 231, 265 (Freie Rundfunkmitarbeiter I); 60, 234, 240 ("Kredithaie"); 61, 1, 10 f. (Wahlkampf); 62,230,244 (Boykottaufruf); 64,108,115 (Chiffreanzeige); 66,116,150 (Springer/Wallraff); 68, 226, 231 ("Schwarzer Sheriff'); 69, 257, 269 f. (Wahlwerbespot Deutsche Zentrumspartei); 71,162,180 f. (Werbeverbot für Ärzte); 71,206,214 (Veröffentlichung einer Anklageschrift); 74, 297, 337 (5. Fernseh-Entscheidung); 77, 65, 75 (Beschlagnahme selbstrecherchierten Materials). 138 So ausdrücklich etwa BVerfGE 7,198,210, 212 (Lüth); 24, 278, 282 (Tonjäger); 25, 44, 55 (Zuwiderhandlung gegen Parteiverbot I); 27, 71, 80, 85 (Leipziger Volkszeitung); 27, 104, 109 (Dokumentation der Zeit); 28,191,202 (Pätsch); 35,202,224 (Lebach). 139

Siehe nur BVerfGE 7,198, 208 (Lüth); 20, 162, 177 (Spiegel); 35, 202, 223 (Lebach); 35,307,309 (Rundfunkempfang in Untersuchungshaft II); 69,315,348 (Brokdorf). 140

BVerfGE 34, 384, 401 (Briefverkehr in Untersuchungshaft I), im Anschluß an BVerfGE 7,198,208 (Lüth); 12,113,125 (Schmid/Spiegel). 141

Vgl. insbesondere//. C. Nipperdey, DVB1.1958, 445,448 f.; P. Lerche, DVB1.1958, 524, 526 Fn. 28; ders., Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 150; E. Schmid:- Leichner, NJW 1961, 819, 819 f.; E. Schwenk,, NJW 1962, 1321, 1322; Κ Α. Bettermann, JZ 1964, 601, 602; ders. y Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl. 1976, S. 22 ff.; ders. y Hypertrophie der Grundrechte, 1984, S. 8 ("juristische Münchhausiade"); R Schnur, W D S t R L 22 (1965), 101,122 f. Fn. 52 ("anschauliche Ansammlung voii Leerformeln"); F. Ossenbühl, Der Staat 10 (1971), 53, 72 ff.; ders. y NJW 1976,2100, 2107; H. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,151 ff.; W. Schmitt Glaeser y AöR 97 (1972), 60, 276, 280 ff. ("Schaukeltheorie"); ders.y JZ 1983, 95, 98; dm., AöR 113 (1988), 52, 91 ff.; Κ H. LadeWy in: M. Kienzle/D. Mende (Hrsg.), Zensur in der BRD, 1980, S. 63, 69; R Herzogy in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 257 ff.; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 820 ff.; E. Schwingey Ehrenschutz heute, 1988, S. 84 ff.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

133

gedanken des Art. 5 Abs. 1 GG heraus (restriktiv) zu interpretieren versucht142. Zum anderen ist die vom Bundesverfassungsgericht praktizierte Einzelfallbetrachtung wiederholt auf heftige Ablehnung gestoßen143. Sie bedeute, daß das Gericht an Stelle der ihm obliegenden Verfassungsinterpretation Kasuistik und Fallentscheidung betreibe144; aus dem in Art. 5 Abs. 2 GG niedergelegten "Gesetzesvorbehalt" werde so ein "Urteilsvorbehalt"145. Trotz dieser Vorwürfe dürfte kaum in Abrede gestellt werden können, daß die "Wechselwirkungstheorie" auch eine gewisse Berechtigung besitzt146 - jedenfalls dann, wenn man - wie hier - den Begriff der "allgemeinen Gesetze" im Sinne der "Sondergesetzlehre" interpretiert. Immerhin hatte diese Auffassung zur Zeit der Weimarer Reichsverfassung dazu geführt, "daß das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit im Konfliktsfall jedem anderen, auch noch so unbedeutenden Rechtsgut zu weichen hatte"147, wenn es nur in Gestalt eines "allgemeinen Gesetzes" erschien148. Eine solche "Beschränkungsautomatik" zu verhindern, ist das eigentliche Anliegen der "Wechselwirkungstheorie", und dies erscheint als eine konsequente und notwendige Folge der hohen Einschätzung, die den Freiheiten des 142

Siehe dazu etwa Κ Α. Bettermann, JZ 1964, 601, 602; ders., Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl. 1976, S. 24 f.; A. Hamann/H. Lenz, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 3. Aufl. 1970, Art. 5, Anm. B. 9.; F. Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2107; R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 261 f. 143 Vgl. dazu etwa H. C. Nipperdey, DVB1.1958, 445, 449; P. Lerche, DVB1. 1958, 524, 526 Fn. 28; ders., Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 150; R Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, 1962, S. 41 ff.; Κ A. Bettermann, JZ 1964, 601, 602; R Schnur, W D S t R L 22 (1965), 101, 127 f.; F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 208 ff.; R Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 339; F. Ossenbühl, Der Staat 10 (1971), 53, 72 ff.; Η. H. Klein,Oer Staat 10 (1971), 145,154; R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 260; Ch. Starck, in: v.Mangoldt/ Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 124. 144

Siehe Κ Α. Bettermann, JZ 1964,601,602.

145

Vgl. P. Lerche, DVB1. 1958, 524, 526 Fn. 28; ders., Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 150; ihm folgend R Scholz, Die Koalitionsfreiheit als Verfassungsproblem, 1971, S. 339. 146 So auch W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,98. 147

R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 251. 148 Siehe W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 279 f.; ders., JZ 1983, 95, 98; E. Schmidt-Jortzig, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 635, 658 Rn. 41.

134

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Art. 5 Abs. 1 GG als "in gewissem Sinn ... Grundlage jeder Freiheit überhaupt"149 (richtigerweise) entgegengebracht wird 150. Mit der "schlechthin konstituierenden" Bedeutung dieser Grundrechte für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung131 wäre es in der Tat unvereinbar, sie jeder beliebigen Beschränkbarkeit durch einfaches Gesetz zu überlassen. Auf die den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG mit dem "Recht der persönlichen Ehre" schon durch die Verfassung selbst gezogene Grenze treffen diese Überlegungen jedoch nicht zu. Im Unterschied zu den beiden ersten in Art. 5 Abs. 2 GG genannten Schranken erfolgt die Grundrechtsbegrenzung hier nicht (erst) durch subkonstitutionelles, sondern (bereits) durch konstitutionelles Recht152. Die Gefahr einer Unterwanderung der in Art. 5 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheitsrechte durch einfaches Recht besteht somit nicht153. Es handelt sich vielmehr um die Kollision zweier verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter154. Als Recht von Verfassungsrang kann das "Recht der persönlichen Ehre" - anders als subkonstitutionelles Recht - nicht einer an der besonderen Wertigkeit des Art. 5 Abs. 1 GG ausgerichteten Interpretation unterworfen sein155. "Das Grundgesetz kann nur als Einheit begriffen werden. Daraus folgt, daß auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedrigere Normen in dem Sinne, daß sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar sind ..."156 Mit dem "Recht der persönlichen Ehre" werden die Freiheitsrechte des Art. 5 Abs. 1 GG daher durch prinzi-

149

BVerfGE 7,198,208 (Lüth),

150

Vgl. W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60,276,280; ders., JZ 1983,95,98.

151

Siehe BVerfGE 7,198,208 (Lüth).

152

Vgl. auch G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 166; ders., NJW 1983,1400,1402; Hartmut Krüger, WissR 1986, 1,11; G. Gomigy JuS 1988,274,278. 153

Ebenso G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 166 f.; ders., NJW 1983,1400,1402. 154 Diese Erkenntnis hebt auch H. Bethge, UFITA 95 (1983), 251, 258 f., hervor, der sodann mit Recht darauf hinweist, "daß die maßgebende Abwägungsfrage in einem ganz anderen Lichte erscheint und der notwendige Abwägungsvorgang einen ganz anderen Effet erhält, wenn man beide kollidierenden Rechtsgüter im Rang eines Grundrechts sieht" (a.a.O., 259). 155 Ähnlich G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 167; ders., NJW 1983,1400,1402. 156

BVerfGE 3,225,231 (Gleichberechtigung).

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

135

piell gleichrangiges Recht begrenzt. Eine aus der Bedeutung dieser Freiheiten abzuleitende Einschränkung der grundrechtsbegrenzenden Wirkung des Ehrenschutzes nach Maßgabe der "Wechselwirkungstheorie" kommt mithin nicht in Betracht157. Der innere Grund für die vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung gleichwohl vorgenommene Erstreckung der "Wechselwirkungstheorie" auf das "Recht der persönlichen Ehre" 158 dürfte darin liegen, daß das Gericht ganz offensichtlich meint, die Grundsätze seiner "Wechselwirkungstheorie" mit den für die Kollision verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter entwickelten Prinzipien gleichsetzen zu können. Dies machen vor allem die neueren Entscheidungen des Gerichts zu den Schranken der Kommunikationsfreiheiten deutlich. Wiederholt hat das Bundesverfassungsgericht darin ausgesprochen, die Anwendung der "Wechselwirkungstheorie" mache eine verfassungsmäßige Zuordnung der durch Art. 5 Abs. 1 GG gewährleisteten Grundrechte und der durch "allgemeine Gesetze" geschützten Rechtsgüter erforderlich 159, "um sowohl die in Art. 5 Abs. 1 GG verbürgten Freiheiten als auch die durch die allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG geschützten Rechtsgüter weitestmöglich zu wahren" 160. Den Maßstab hierfür soll das verfassungsrechtliche Prinzip des Obermaßverbots161 bzw. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinne)162 enthalten163. Unverkennbar nimmt das Gericht damit Bezug

157

So auch G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 167; ders., NJW 1983,1400,1402. 158 Ausdrücklich seit BVerfGE 42,143,150 (Deutschland-Magazin). 159

Vgl. BVerfGE 59, 231,265 (Freie Rundfunkmitarbeiter I); 60, 234, 240 ("Kredithaie"); 61,1, 13 (Wahlkampf); 62, 230, 244 (Boykottaufruf); 71,162, 181 (Werbeverbot für Ärzte); 71,206, 214 (Veröffentlichung einer Anklageschrift); 74, 297, 337 (5. Fernseh-Entscheidung); 77, 65, 75 (Beschlagnahme selbstrecherchierten Materials); BVerfG (Kammer) NJW 1989, 1789,1789 (Rasterfahndung). - Der Gedanke der "Zuordnung" klingt auch schon in früheren Entscheidungen des Gerichts an, vgl. etwa BVerfGE 20,162,178 (Spiegel); 30,173,193 (Mephisto). 160

BVerfGE 69,257,269 f. (Wahlwerbespot Deutsche Zentrumspartei). Grundlegend P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 19 ff.

161 162

Dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 318. 163

Siehe vor allem BVerfGE 59, 231, 265 (Freie Rundfunkmitarbeiter I); 71, 162, 181 (Werbeverbot für Ärzte); 71, 206, 214 (Veröffentlichung einer Anklageschrift); 74, 297, 337 (5. Fernseh-Entscheidung); 77,65,75 (Beschlagnahme selbstrecherchierten Materials).

136

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

auf den Gedanken des nach beiden Seiten hin "schonendsten Ausgleichs" bzw. auf das Prinzip "praktischer Konkordanz" 16516 6.

164

Auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird überwiegend die Auffassung vertreten, mit der "Wechselwirkungstheorie11 gehe es dem Bundesverfassungsgericht letzten Endes um die Herstellung "praktischer Konkordanz" durch "verhältnismäßige" Zuordnung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG auf der einen und der durch "allgemeine Gesetze" geschützten Rechtsgüter auf der anderen Seite167. Bei genauerer Betrachtung dieser beiden Konfliktlösungsmethoden erweist es sich jedoch als höchst fraglich, ob die Anwendung der "Wechselwirkungstheorie" tatsächlich mit der Herstellung "praktischer Konkordanz" gleichgesetzt werden kann. Nach dem Prinzip "praktischer Konkordanz" müssen kollidierende (Verfassungs-)Rechtsgüter einander so zugeordnet werden, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt168. Anders als bei der (abstrakten) Güterabwägung, "bei der regelmäßig einem Rechtsgut auf Kosten des anderen der Vorrang eingeräumt wird" 169, ist deshalb hier eine grundsätzlich gleichgewichtige Berücksichtung der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter erforderlich: Beiden Rechtsgütern müssen im Kollisionsfall Grenzen gezogen werden, damit unter Beachtung der jeweiligen besonderen Umstände des konkreten Einzelfalles beide zu (relativ) optimaler Wirksamkeit gelangen können170. 164

P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 153. - Vom "Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundgesetzlich geschützter Positionen" spricht das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich etwa in BVerfGE 39,1,43 (Fristenregelung). 165

K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72; siehe auch P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 31 ff., 38 f. - Nur wenige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erwähnen den Begriff der "Konkordanz" ausdrücklich, vgl. etwa BVerfGE 41,29,51 (Simultanschule); 41, 88, 108 (Gemeinschaftsschule); 52, 223, 242 (Überkonfessionelles Schulgebet); siehe dazu auch P. Häberle, AöR 114 (1989), 1,6 Fn. 6. 166

So auch W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,91.

167

Vgl. insbesondere W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 283 f.; ders., Jura 1987, 567, 573 f.; ders., AöR 113 (1988), 52, 92; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 133; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72. 168

Siehe Κ Hesse, ebd.

169

IC Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 827; W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 92; ähnlich Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72. 170

Vgl. K. Hesse, ebd.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

137

Mit der "Wechselwirkungstheorie 11 soll dagegen (in erster Linie) erreicht werden, daß der besondere Wertgehalt der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG gewahrt bleibt171. Wenn aus diesem Grunde die diese Grundrechte begrenzenden "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" einer an der besonderen Wertigkeit dieser Freiheiten ausgerichteten Interpretation unterworfen werden, so liegt darin letztlich doch eine Vorab-Höherbewertung der grundrechtlichen Gewährleistung, die sich mit den Direktiven des Konkordanzprinzips nicht verträgt. Im "Lichte" des Art. 5 Abs. 1 GG gewinnen die durch "allgemeine Gesetze" geschützten Rechtsgüter regelmäßig eben gerade keine Wirklichkeit 172. Dies wird besonders deutlich, wenn die "Wechselwirkungstheorie" mit der sogenannten "Vermutungsformel" 173 verbunden wird: Hinter der Behauptung, für die Zulässigkeit freier Rede streite angesichts der grundlegenden Bedeutung der Meinungs(äußerungs)freiheit für die freiheitlich-demokratische Staatsordnung eine Vermutung174, steckt nämlich genau jene (vorschnelle) abstrakte "Wertabwägung", die das Prinzip "praktischer Konkordanz" vermeiden will 175 1 7 6 . Entgegen weit verbreiteter Ansicht sollten die Grundsätze der "Wechselwirkungstheorie" daher nicht mit dem Prinzip "praktischer Konkordanz" identifiziert werden. Andernfalls wäre von "Herstellung praktischer Konkordanz" undifferenziert in zwei Fallgruppen die Rede, die sich in Wahrheit wesentlich voneinander unterscheiden: Dem Prinzip "praktischer Konkordanz" liegt der Gedanke der Einheit der Verfassung zugrunde177. Seinen eigentlichen Anwendungsbereich hat es daher bei der Kollision von (Verfassungs-)Werten, die einander gleichrangig

171 Siehe BVerfGE 7,198, 208 (Lüth); 21, 271, 281 (Südkurier); 25, 44,55 (Zuwiderhandlung gegen Parteiverbot I); 27, 71, 80 (Leipziger Volkszeitung); 27,104,109 (Dokumentation der Zeit); 28,55,63 (Leserbriefe); 34,384,401 (Briefverkehr in Untersuchungshaft I); 35,307, 309 (Rundfunkempfang in Untersuchungshaft II); 42,133,141 (Wahlwerbung eines Betriebsratsmitglieds); 50,234,241 (Gerichtsreporter). 172

Vgl. W Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,93.

173

Siehe dazu näher unten b) aa). Seit BVerfGE 7,198,208 (Lüth).

174

175 Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72.

176 177

Zu dem gleichen Ergebnis kommt W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,93.

Siehe Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72.

138

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

gegenüberstehen - so etwa, wenn es um die Kollision zweier Grundrechte oder um (sonstige) Begrenzungen eines Grundrechts durch die Verfassung selbst geht. Die hierbei auftretenden Gegensätze sind unter Beachtung der Gesamtkonzeption der Verfassung so zu lösen, daß die sich gegenüberstehenden Verfassungsnormen "harmonisiert"178 werden179. Auf die Kollision eines Verfassungswertes mit einem nur einfachgesetzlich geschützten Rechtsgut - so etwa bei der Begrenzung eines Grundrechts aufgrund eines Gesetzesvorbehalts - läßt sich dieses Prinzip dagegen nicht übertragen 180; denn in diesen Fällen geht es nicht darum, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter, von denen keines einen grundsätzlichen Vorrang beanspruchen kann, im Konfliktfall nach Möglichkeit zum Ausgleich zu bringen, sondern darum, daß die Reichweite eines höherrangigen Verfassungswertes nicht beliebig durch einfaches Recht relativiert werden darf. Bestätigt werden diese Erwägungen vor allem auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst. Eine genauere Analyse der einschlägigen Entscheidungen läßt nämlich sehr schnell erkennen, daß dem Unterschied zwischen den beiden genannten Konstellationen in Einzelfällen durchaus Rechnung getragen wurde. So sind dem Gericht auf der einen Seite bei der Anwendung seiner "Wechselwirkungstheorie" immer wieder Formulierungen "unterlaufen", aus denen die dieser Theorie zugrunde liegende Vorab-Höherbewertung der grundrechtlichen Gewährleistung deutlich hervorgeht. Im "Kredithaie-Beschluß"181 etwa wurde das Erfordernis, die Einwirkung der Pressefreiheit auf die (nur) als "allgemeine Gesetze" eingestuften Ehrenschutzbestimmungen zu beachten, (auch) damit begründet, daß es "mit dem Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG) unvereinbar (wäre), wenn eine verfassungsrechtliche Gewährleistung kraft einfachen Rechts ausgeschaltet werden könnte"

178

Das Auslegungsprinzip der "Harmonisierung" wird hervorgehoben von U. Scheuner, W D S t R L 20 (1963), 125,125 (Diskussion); ders., W D S t R L 22 (1965), 1,53. 179 Vgl. Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,827. 180 Anders freilich Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 317 ff. 181 BVerfGE 60,234 ff. 182

BVerfGE 60,234,242 ("Kredithaie") - Hervorhebungen durch den Verfasser.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

139

Dieses Argument hat das Gericht im "Wahlkampf-Beschluß"183 dann noch einmal wiederholt: "Die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Freiheit der Meinungsäußerung kann durch Auslegung und Anwendung einfachen Rechts nicht beiseitegeschoben werden; dies wäre mit dem Vorrang der Verfassung (Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 .GG) unvereinbar..."

Schließlich heißt es in einer Entscheidung vom 15. November 1982 sogar:

"Der Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit kommt grundsätzlich ein Vorrang vor du gemeine Gesetze geschützten Rechtsgütern zu, soweit eine Äußerung Bestandteil der ständigen geistigen Auseinandersetzung, des Kampfes der Meinungen um Angelegenheiten von öffentlicher Bedeutung ist, der für eine freiheitliche demokratische Ordnung schlechthin konstituierend ist..."

Hier zeigt die "Wechselwirkungstheorie" ihr "wahres Gesicht". Von der Herstellung eines Ordnungszusammenhangs, in dem sowohl die grundrechtlichen Freiheiten als auch die grundrechtsbegrenzenden Rechtsgüter Wirklichkeit gewinnen186, kann angesichts solcher Prämissen kaum mehr gesprochen werden. Tatsächlich wird die Schranke der "allgemeinen Gesetze" praktisch "weginterpretiert" 187. Auf der anderen Seite hat das Bundesverfassungsgericht in einigen Fällen aber auch anerkannt, daß jedenfalls dann andere Maßstäbe anzulegen sind, wenn die durch "allgemeine Gesetze" geschützten Rechtsgüter zugleich Werte von Verfassungsrang darstellen. So führte es etwa im "SorayaBeschluß"188 aus, daß die "potentielle Wirkkraft des allgemeinen Gesetzes ... hier... eine verfassungsrechtliche kung aus dem Schutzauftrag der Art. 1 und 2 GG (erhält)"

Verstär-

Entsprechend wies es im "Lebach-Urteil"190 darauf hin, daß

183

BVerfGE 61, Iff.

184 185

186

BVerfGE 61,1,10 (Wahlkampf) - Hervorhebungen durch den Verfasser. BVerfGE 62,230,247 (Boykottaufruf) - Hervorhebungen durch den Verfasser.

Vgl. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. 1Ä7 Aufl. 1988, Rn. 317. Siehe W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60,276,280; ders., JZ 1983,95,98; ders., AöR 113(1988), 52,93. 188 BVerfGE 34,269 ff. 189

BVerfGE 34,269,282 (Soraya) - Hervorhebung durch den Verfasser. BVerfGE 35,202 ff.

190

140

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

"gegenüber sonstigen allgemeinen Gesetzen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG hier die Besonderheit (besteht), daß die Beschränkung der Rundfunkfreiheit ihrerseits dem Schutz eines hohen Verfassungpwertes dient; das ... gegen die Abbildung oder Darstellung gerichtete Interesse der betroffenen Person erfährt eine unmittelbare Verstärkung durch die Verfassungsgarantie des Persönlichkeitsschutzes"

Eine solche Sachlage, so heißt es an anderer Stelle, schließe es aus, das "allgemeine Gesetz" "allein im Lichte des Art. 5 Abs. 1 GG zu sehen"192. Vielmehr (!) sei eine "gleichrangige Berücksichtigung" geboten193 1 9 4 . Zusammenfassend läßt sich somit festhalten: Die "Wechselwirkungstheorie" hat ihre Berechtigung und greift ein, wenn es um die Begrenzung der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG durch "allgemeine Gesetze" geht, die Rechtsgüter von (nur) einfachgesetzlichem Rang schützen. Geht es dagegen um die Einschränkung dieser Freiheiten durch Werte von Verfassungsrang - so wenn schrankenziehende "allgemeine Gesetze" ihrerseits dem Schutz eines (hohen) Verfassungswertes dienen oder wenn das "Recht der persönlichen Ehre" als Schranke des Art. 5 Abs. 1 GG eingreift (Schutzauftrag aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) - dann ist die "Wechselwirkungstheorie" nicht anwendbar. In diesen Fällen ist vielmehr - um der Einheit der Verfassung willen - eine grundsätzlich gleichgewichtige Berücksichtigung der kollidierenden (Verfassungs-)Rechtsgüter geboten. Indem das Bundesverfassungsgericht das "Recht der persönlichen Ehre" regelmäßig nur als unselbständigen Teil der Schranke "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" behandelt und die gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Ehre wie andere (einfache) grundrechtsbegrenzende Gesetze den Einschränkungen seiner "Wechselwirkungstheorie" unterwirft, verkennt es die Bedeutung dieses (Verfassungs-)Rechtsguts in der Schrankensystematik des Art. 5 Abs. 2 GG und wird der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung für den Schutz der persönlichen Ehre nicht gerecht.

191

192

BVerfGE 35,202,225 (Lebach) - Hervorhebungen durch den Verfasser.

Vgl. BVerfGE 44,197,203 (Solidaritätsadresse) - Hervorhebung durch den Verfasser. 193 Vgl. BVerfGE 44,197,204 (Solidaritätsadresse) - Hervorhebung durch den Verfasser. 194

Siehe dazu auch BVerfGE 63,131,144 (Gegendarstellung).

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

141

b) Überbetonung der Meinungsfreiheit im Kollisionsfall mit anderen Rechtsgütern Verstärkt wird die in der unzutreffenden systematischen Einordnung des "Rechts der persönlichen Ehre" angelegte Verkürzung des Ehrenschutzes aus Art. 5 Abs. 2 GG durch eine allgemeine Tendenz zur Privilegierung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern195. In seiner Rechtsprechung zur Auslegung und Anwendung dieser Grundrechte hat das Bundesverfassungsgericht "eine Reihe von Grundsätzen"196 entwickelt197, die für den Fall der Kollision mit rechtlich geschützten Interessen Dritter den Akzent einseitig auf die Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG legen.

aa) Die sogenannte "Vermutungsformel" Durch das Grundrecht der freien Meinungsäußerung sollen Eingriffe in Rechtsgüter Dritter vor allem dann gedeckt sein, wenn sie im Rahmen politischer Auseinandersetzung erfolgen. Diese starke Präferenz öffentlichkeitsbezogener Meinungsäußerungen zu Lasten der privaten Sphäre hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß das Bundesverfassungsgericht einzelfallbezogene Detailprüfungen immer wieder unter Berufung auf pauschale Vermutungsregeln vorzeitig abgebrochen hat 198 . Bereits im "Lüth-Urteil" 199 findet sich die These, daß der besondere Wertgehalt der Meinungs(äußerungs)freiheit in der freiheitlichen Demokratie zu einer grundsätzlichen "Vermutung" für die Freiheit der Rede in allen Bereichen, namentlich aber im öffentlichen Leben führen müsse200. 195

So stellt etwa Κ Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 3%, fest: "Das Bundesverfassungsgericht gibt ersichtlich den Rechten der Meinungsfreiheit ... einen Wertvorzug auch gegenüber anderen Grundrechten." 196 BVerfGE 60,234,240 ("Kredithaie"). 197

Vgl. dazu auch B. Rüthers, in: FS für M. Löffler, 1980, S. 303, 312 ff.; P. J. Tettinger, JZ 1983,317, 320 ff.; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 816 ff.; R Zippelius, in: FS für H. Hubmann, 1985, S. 511,514 ff.; Hartmut Krüger, WissR 1986,1,4,8. 198

Dagegen ausdrücklich R J. Tettinger, JZ 1983,317,325. BVerfGE 7,198 ff.

199

200

Siehe BVerfGE 7,198,208 (Lüth). - Diese "Vermutungsformel" wurde in BVerfGE 61, 1 ff. (Wahlkampf), für Auseinandersetzungen im Wahlkampf noch weiter ausgebaut. In einer solchen Situation, in welcher "der politische Meinungskampf auf das höchste intensiviert" sei

142

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

(1) Objektiver Öffentlichkeitsbezug (Inhalt der Äußerung) Als maßgeblich für die Zulässigkeit einer Meinungsäußerung wurde danach in erster Linie ihr objektiver Inhalt angesehen. Nach Auffassung des Gerichts kann und muß der Schutz anderer Rechtsgüter um so mehr zurücktreten, je mehr es sich nicht um eine unmittelbar gegen diese Rechtsgüter gerichtete Äußerung im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr, sondern um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten 201 handelt; hier spreche die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede202. Wenn es darum gehe, daß sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bilde, müßten Interessen einzelner grundsätzlich zurücktreten 203. Diese Rechtsprechung wurde in späteren Entscheidungen des Gerichts fortgeführt und ausgebaut204. Entscheidend für die Zulässigkeit eines Verhaltens war regelmäßig, ob Gesichtspunkte der öffentlichen Meinungsbildung eine Rolle gespielt hatten205 bzw. ob Anlaß "ein die Allgemeinheit in(BVerfGE 61,1,11), verstärke Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG noch die Vermutung für die Zulässigkeit freier Rede "mit der Folge, daß gegen das Äußern einer Meinung nur in äußersten Fällen eingeschritten werden" dürfe (BVerfGE 61, 1, 12) (sogenannte "Super-Vermutungsformel", vgl. W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,98). 201

Die im "Lüth-Urteil" aufgestellte Voraussetzung, die Kritik müsse von einem "dazu Legitimierten" geäußert werden, schien zeitweilig verloren gegangen zu sein, taucht im "Wahlkampf-Beschluß" (BVerfGE 61,1,11) aber wieder auf; mit Recht fragt freilich^ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,817 Fn.* 15: "Wer ist eigentlich ein Legitimierter?", und H. Ridder, AfP 1973,453,455, spricht kritisch von einer "Vorzugsklasse von Grundrechtsträgern". 202

Vgl. BVerfGE 7,198,212 (Lüth).

203

Siehe BVerfGE 7,198,219 (Lüth).

204

Vgl. vor allem BVerfGE 54, 129, 139 (Kunstkritik); 54, 208, 219 (Böll); 60, 234, 241 ("Kredithaie"); 61, 1, 11 (Wahlkampf). - Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs siehe dazu etwa BGHZ 31,308,313 f. (Alte Herren); 36,77, 83 (Waffenhändler); 45, 2%, 308 (Höllenfeuer); 65, 325, 331 (Warentest II); 91, 117,121 (Mordoro); BGH NJW 1964, 1471, 1472 (Sittenrichter); BGH NJW 1965,294,295 (Volkacher Madonna); BGH NJW 1971,1655, 1656 f. (Sabotagevorwurf); BGH GRUR 1971, 529, 530 (Dreckschleuder); BGH NJW 1974, 1762, 1762 (Deutschland-Stiftung); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1979,266,267 (Carstens); BGH NJW 1980,1685,1685 (Straßen- und Autolobby); BGH NJW 1981, 2117, 2119 (Brutaler Machtmißbrauch); BGH NJW 1982, 2246, 2247 (Illegale Kassenarztpraxen); BGH NJW 1983, 2195, 2196 (Photokina); BGH NJW 1984, 1102, 1103 (Wahlkampfrede); BGH NJW 1987,1398,1398 (Kampfanzug unter der Robe). 205

Siehe BVerfGE 12,113,125 ff. (Schmid/Spiegel).

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

143

teressierender, in der Öffentlichkeit ausgetragener Meinungskampf 206 gewesen war. Dann nämlich sei eine Auslegung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik "überhöhte Anforderungen" 207 stelle, mit Art. 5 GG nicht vereinbar 208. Fehlte einer Meinungsäußerung dagegen der Öffentlichkeitsbezug 209, so bei "Gegenständen ohne allgemeines Interesse"210, "Angelegenheiten ohne allgemeine Bedeutung"211 oder "Auseinandersetzungen im privaten Bereich"212, sollte eine derartige Grundrechtsbetätigung "von der ratio der besonderen Bedeutung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG nicht umfaßt" 213 sein214.

(2) Subjektiver Öffentlichkeitsbezug (Zweck der Äußerung) Daneben hat das Bundesverfassungsgericht bei der Bestimmung von Umfang und Grenzen der Meinungsfreiheit immer wieder auch auf die Motive des sich Äußernden abgestellt215. Der freiheitliche Gehalt dieses Grundrechts müsse vor allem dort in die Waagschale fallen, wo von ihm nicht "zum Zwecke privater Auseinandersetzung Gebrauch gemacht"216 werde, namentlich "in Verfolgung eigennütziger Ziele"217 (wozu etwa "eige206

BVerfGE 24,278,284 f. (Tonjäger).

207

Wer könnte auch schon für "überhöhte Anforderungen" eintreten - gleichgültig, auf welchem Gebiet und in welchem Kontext? (vgl. W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95, 96 f.). 208

Siehe BVerfGE 42, 163, 170 (Echternach); 54, 129, 137 (Kunstkritik); 60, 234, 240 ("Kredithaie"); 66,116,150 (Springer/Wallraff); 68,226,232 ("Schwarzer Sheriff). 209

Vgl. BVerfGE 71,206,220 (Veröffentlichung einer Anklageschrift).

210

BVerfGE 54,129,137 (Kunstkritik); 66,116,151 (Springer/Wallraff).

211

BVerfGE 60,234,240 ("Kredithaie").

212

BVerfGE 54, 129, 137 (Kunstkritik); 60, 234, 240 ("Kredithaie"); ähnlich BVerfGE 7, 198,212 (Lüth); 24, 278, 285 (Tonjäger); 61,1,11 (Wahlkampf); 66,116,151 (Springer/Wallraff). 213

BVerfGE 71,206,220 (Veröffentlichung einer Anklageschrift).

214

Ähnlich W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,54.

215 Deutlich insoweit vor allem BVerfGE 61, 1, 11 (Wahlkampf). - Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs siehe dazu etwa BGH NJW 1987,1398,1398 (Kampfanzug unter der Robe). 216 217

BVerfGE 7,198,212 (Lüth); 61,1,11 (Wahlkampf).

BVerfGE 7, 198, 212 (Lüth); 42, 163, 171 (Echternach); 61, 1, 11 (Wahlkampf); 66, 116,139 (Springer/Wallraff). - Auf die abwertende Bedeutung dieser Formulierung weist be-

144

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

ne Interessen wirtschaftlicher Art" zu zählen seien218), sondern in erster Linie zur Bildung der öffentlichen Meinung beigetragen werden solle219, aus "Sorge um politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Belange der Allgemeinheit"220. Dann seien Auswirkungen auf den Rechtskreis Dritter zwar unvermeidliche Folge, nicht aber eigentliches Ziel der Äußerung221, was für das Verhältnis von Zweck und Mittel bedeutsam sei222. Eine Einschränkung findet sich nur im "Schmid/Spiegel-Beschluß"223. Dort wurde ausgeführt, daß das Motiv für die Beurteilung einer Äußerung nicht allein ausschlaggebend sei224. Maßgeblich sei nicht, ob es dem sich Äußernden ausschließlich auf die Verteidigung seiner Ehre angekommen sei oder ob er darüber hinaus auch habe meinungsbildend wirken wollen225. Entscheidend sei, daß sich die Äußerung objektiv als Beitrag zu einer die Öffentlichkeit stark interessierenden Frage darstelle226.

(3) Kritik Die Berufung auf "Vermutungsformeln" ist nur eine Behauptung, keine Begründung. Es kann daher nicht verwundern, daß die Privilegierung der

sonders H. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,160, hin; ihm zustimmend W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 291 Fn. 254, und Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 818 Fn. 16. 218 BVerfGE 62, 230, 244 (Boykottaufruf); ähnlich auch BVerfGE 7,198, 212 (Lüth); 61, 1,11 (Wahlkampf); 66,116,139 (Springer/Wallraff). 219 Vgl. BVerfGE 7, 198, 212 (Lüth); 12, 113, 127, 129 (Schmid/Spiegel); 42, 163, 171 (Echternach); 61,1,11 (Wahlkampf). 220

BVerfGE 25,256,264 (Blinkfüer).

221

Siehe BVerfGE 7,198,212 (Lüth); 61,1,11 (Wahlkampf).

222

Vgl. BVerfGE 7,198,212 (Lüth).

223

BVerfGE 12,113 ff.

224

Siehe BVerfGE 12,113,128 f. (Schmid/Spiegel).

225

Vgl. BVerfGE 12,113,128 (Schmid/Spiegel).

226

Siehe BVerfGE 12, 113, 129 (Schmid/Spiegel). - Den erforderlichen (objektiven) Öffentlichkeitsbezug hat das Gericht dann im konkreten Fall (in dem es sachlich an sich um eine "Privatfehde" ging) etwas mühsam über das Amt eines der Beteiligten, eines Oberlandesgerichtspräsidenten, hergestellt, vgl. BVerfGE 12, 113, 132 (Schmid/Spiegel): "Einwirkung auf die Bildung der öffentlichen Meinung über eine wichtige Frage der Ämterpolitik"; so der zutreffende Hinweis von G. Roellecke, JZ 1980,701,702 mit Fn. 19.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

145

"Grundrechtsbetätigung in politicis"227 viel Widerspruch erfahren mußte228. Auch nach der hier vertretenen Auffassung unterliegt das Bemühen, zwischen öffentlichkeitsbezogenen und privaten Meinungsäußerungen zu differenzieren 229 und dem Grundrechtsgebrauch aus politischen Motiven oder zu politischen Zwecken einen höheren Verfassungsrang beizumessen, schwerwiegenden Bedenken. Eine solche Unterscheidung ist nicht nur tatsächlich undurchführbar 230, sondern auch unzulässig, weil das Grundgesetz der "politischen" Ausübung eines Grundrechts keine Sonderstellung einräumt 231. Als individuelles Freiheitsrecht ist die Meinungs(äußerungs)freiheit vielmehr gerade auch um ihrer "Privatnützigkeit" willen gewährleistet;

227

W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,98.

228

Vgl. insbesondere P. Lerche, in: FS für G. Müller, 1970, S. 197, 213 f.; Η. H. Klein, W D S t R L 29 (1971), 120,121 (Diskussion); ders., Der Staat 10 (1971), 145,159 ff.; ders., Die Grundrechte im demokratischen Staat (1972), 1974, S. 43 und passim; W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 290 ff.; ders., JZ 1983, 95, 98; ders., AöR 113 (1988), 52, 54 f.; E.-W. Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534 f.; F. Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2103; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 176 ff.; G. Arzt, JuS 1982, 717,728; Th. Würtenberger, NJW 1983,1144,1146; H. Otto, JR 1983, 511,513; ders., NStZ 1985,213, 214; ders., NJW 1986,1206,1210; H. Bethge, AfP 1984, 22,23; Κ Stern, in: F]S für H. Hübner, 1984, S. 815,817 f.; Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1,2, Rn. 138; Κ Geppert, JR 1985, 430, 432; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 103 ff.; Hartmut Krüger, WissR 1986,1,8. - Im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aber z.B. Th. Rasehorn, JZ 1977,672,675; H. E. Brandner, JZ 1983,689,692; F. Kühler, JZ 1984,541,545; siehe auch bereits G. W. Heinemann, NJW 1962,889,891 ff., und W. Hoffmann, NJW 1966,1200,1200 ff. 229

Ausführlich zur "unpolitisch"-privaten und öffentlich-demokratischen Seite der Grundrechte PI Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 335 ff., der freilich ebenfalls bemerkt, wie "dringend die Frage bleibt, ob das BVerfG gelegentlich die private Seite speziell der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG 'unterbelichtet' läßt" (a.a.O., S. 338). 230 Mit Recht weist G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 179, darauf hin, daß sich der umfassende Prozeß menschlicher Interaktion und Willensbildung nicht in zwei voneinander unabhängige, isolierter Betrachtung zugängliche und unterschiedlicher Wertung offenstehende Bereiche aufteilen läßt. Die Quellen der "öffentlichen" Meinung liegen für ihn nicht zuletzt auch im privaten Bereich (ebenso W. Schmitt Glaeser, AöR 113 [1988], 52, 55; siehe auch P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 49: "politische Teilhabe ... lebt auch von den Kräften des Privaten, privater Freiheit"). 231 ··

Ahnlich D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 51, unter Verweis auf H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat (1972), 1974, S. 43; auch P. Häberle, DÖV 1974, 343, 344, hält dessen Warnungen vor einer "Privilegierung des politischen Freiheitsgebrauchs" für "berechtigt". 10 Mackeprang

146

2. Teil:

Kritik an der bisherigen Entwicklung

denn "Privatheit" ist ein Wesenselement aller Grundrechte, also auch der des Art. 5 Abs. 1 GG 2 3 2 . Zwar kann (und soll) die fundamentale Bedeutung eines freien Meinungs- und Willensbildungsprozesses für ein demokratisches Gemeinwesen nicht in Abrede gestellt werden. Eine am thematischen Bezug orientierte abgestufte Gewichtung bestimmter Meinungsäußerungen läßt sich daraus jedoch nicht ableiten233. Inhalt und Zweck des Freiheitsgebrauchs dürfen zu unterschiedlicher rechtlicher Bewertung kein Anlaß sein234; politisches Handeln genießt aus grundrechtlicher Sicht keinen Vorrang vor politisch indifferentem Tun 235 . Werden die Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG ausschließlich von ihrer öffentlichen, demokratie-konstituierenden Funktion her interpretiert, so liegt darin eine mit der ursprünglichen (und auch heute noch primären 236) Bedeutung dieser Grundrechte als Abwehrrechte unvereinbare Vereinseitigung. Die Erweiterung der liberalen Grundrechtsdogmatik um die Dimension des sozialen Mitwirkungsrechts237 wird auf diese Weise zu einem einseitig "funktional-demokratischen" 238 Grundrechtsverständnis verfälscht 239, das die Grundrechte in politische Auftragsrechte verwandelt und die Berechtigung zu ihrem Gebrauch vom Nutzen für die staatliche Gemeinschaft

232

Siehe W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95, 98; ders., AöR 113 (1988), 52,55; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,818. 233

Ebenso G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 178; W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,55. 234 Vgl. Η. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,166; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 180; W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,55. 235 Siehe F. Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2103; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 180; W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,55. - Auch I. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 5, Rn. 1, ist der Ansicht, daß "ein genereller Vorrang der sog. öffentl. Meinungsfreiheit vor der privaten Meinungsfreiheit nicht angenommen werden" kann. 236

Vgl. nur BVerfGE 7,198,204 f. (Lüth).

237

Dazu etwa Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 288, unter Verweis auf R Smend, Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 309, 316 ff.; speziell für die Meinungsfreiheit siehe auch schon R Smend, W D S t R L 4 (1928), 44,50. 238 Begriff wohl von Η. H. Klein, W D S t R L 29 (1971), 120,121 (Diskussion). In diesem Sinne vor allem Η. H. Klein, Der Staat 10 (1971), 145,159 ff.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

147

abhängig macht240. Die besondere Akzentuierung öffentlichkeitsbezogener Meinungsäußerungen stellt sich mithin im Ergebnis als "inhaltliche Bestimmung des Grundrechtsgebrauchs von Staats wegen"241 dar. Grundrechtliche Freiheit ist danach nicht mehr "eine Freiheit schlechthin, sondern eine 'Freiheit, um zu'"242 2 4 3 . Die einseitig hohe Einschätzung politischer oder politisch motivierter Meinungsäußerungen zu Lasten privater Grundrechtsbetätigung findet deshalb in Art. 5 Abs. 1 GG nicht nur keine Begründung, sondern ist als schlechthin grundrechtsinadäquat anzusehen244. Hinzu kommt, daß brauchbare Kriterien dafür, wann ein Verhalten den erforderlichen (objektiven und subjektiven) Öffentlichkeitsbezug aufweist245, kaum erkennbar sind. Ob eine Auseinandersetzung objektiv zur Bildung der "öffentlichen Meinung" beigetragen hat (oder für die Beteiligten "kaum mehr als eine Prestigeangelegenheit"246 war) und ob der sich Äußernde auch subjektiv zur Bildung der "öffentlichen Meinung" beitragen wollte, dürfte sich in in den meisten Fällen nahezu beliebig entscheiden lassen247. Es kann deshalb nur als willkürlich bezeichnet werden, wenn das 240

Siehe W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 62. - Bezeichnend dafür etwa die Formulierung in BVerwGE 14, 21, 25: "Die Grundrechte sind dem Staatsbürger nicht zur freien Verfügung eingeräumt, sondern in seiner Eigenschaft als Glied der Gemeinschaft und damit auch im öffentlichen Interesse." 241 W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 293; ders., AöR 113 (1988), 52, 55; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 180. 242

E.-W. Böckenförde,

NJW 1974,1529,1535.

243

Typisch etwa die Formulierung in BVerfGE 27, 71, 80 (Leipziger Volkszeitung): "Freiheit zur Mitverantwortung und zur Kritik". 244 Vgl. W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 55; ähnlich bereits ders., JZ 1983,95,100. 245

Siehe auch die Formulierung in BVerfGE 43,130, 137 (Politisches Flugblatt): "... enthielt Tatsachenbehauptungen und Wertungen, die bestimmt und geeignet waren, meinungsbildend zu wirken". 246 BVerfGE 42,143,151 (Deutschland-Magazin). 247

So kann etwa - bei allem Respekt vor dem Wächteramt der Presse in unserem Rechtsstaat - ein realistischer Blick in die Wirklichkeit nicht verkennen, daß die Presse ja auch ein privates, auf legitimes (!) Gewinnstreben ausgerichtetes Gewerbe ist und daß im Einzelfall schwer widerlegt werden kann, daß sie zu mancher Veröffentlichung weniger durch ihr Wächteramt als durch ihr Interesse an einer zugkräftigen Schlagzeile veranlaßt worden ist (in diesem Sinne schon G. Erdsiek, NJW 1966, 1385,1386). Auch G. Wallraff dürfte es mit seinem Buch "Der Aufmacher" nicht nur um "öffentliche Kritik" (so BVerfGE 66,116,150 [Springer/Wallraff]), sondern (zumindest auch) um einen guten Absatz seiner Publikation gegangen sein (vgl. K. Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 819). Ebensowenig kann ernsthaft bestritten wer10 *

148

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Bundesverfassungsgericht in einem Fall ganz einfach behauptet hat, die Verfolgung kommerzieller Interessen habe "gegenüber der Absicht, auf die öffentliche Meinung einzuwirken, nicht im Vordergrund" gestanden248. Schließlich birgt die einseitige Privilegierung politischer oder politisch motivierter Handlungen auch Gefahren für die Befriedung des öffentlichen Lebens in sich. Muß der Schutz fremder Rechtsgüter regelmäßig dann zurücktreten, wenn ihre Beeinträchtigung zwar unvermeidliche Folge, nicht aber eigentliches Ziel einer Meinungsäußerung ist 249 , die Grundrechtsausübung vielmehr gleichsam "im öffentlichen Interesse" liegen soll, so führt das unausbleiblich zu einer Verrohung der "politischen Sitten". Die Wirklichkeit der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), auf die das Bundesverfassungsgericht seine Unterscheidung zwischen eigen- und gemeinnützigem Grundrechtsgebrauch ungeachtet aller Kritik übertragen hat 250 , bietet dafür zum Teil beängstigendes Anschauungsmaterial. Werden Eingriffe in den Rechtskreis Dritter immer wieder toleriert (oder gar begrüßt), wenn und weil sie nur "unselbständige Zwischenschritte"251 zur Erreichung achtenswerter Nah- (Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit) und Fernziele ("bessere Welt") sind, also auf (angeblich) "gemeinwohlorientiertem Handeln"252 aus "ehrenwerten Motiven"253 beruhen254, dann dürfen sich häufende Entartungen des politischen Lebens nicht überraschen255. Mit der Zeit muß in weiten Teilen der Bevölkerung geradezu zwangsläufig der Eindruck entstehen, daß sich derjenige, der handelt, um der Öffentlichkeit zu dienen,

den, daß Politiker bei Wahlkampfreden nicht zuletzt auch ihre persönliche politische Karriere im Auge haben (siehe dazu W. Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95, 98; ders., AöR 113 [1988], 52, 54 f.; Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 818; jeweils mit Blick auf BVerfGE 61, 1,11 [Wahlkampf]).

7ΑΛ

Vgl. BVerfGE 68,226,233 ("Schwarzer Sheriff'). Siehe BVerfGE 7,198,212 (Lüth); 61,1,11 (Wahlkampf).

249

250

Vgl. BVerfGE 73, 206, 258 (Sitzblockaden); siehe ferner bereits BVerfGE 69, 315, 345 f., 348 f. (Brokdorf). 251

BVerfGE 73,206,257"(Sitzblockaden).

252

BVerfGE 73,206,258 (Sitzblockaden).

253

So der Tübinger Schriftsteller und Rhetorikprofessor W. Jens in seiner Verteidigungsrede vor dem Amtsgericht Schwäbisch-Gmünd im Prozeß wegen seiner Teilnahme an einer Blockade in Mutlangen, vgl. F.A.Z. vom 29. Januar 1985, S. 23. 254 Dazu eingehend W. Schmitt Glaeser, BayVBl. 1988,454,455 ff. 255

Vor der Gefahr der Eskalation warnen etwa auch G. Arzt, JuS 1982, 717, 722, 728; Th. Würtenberger, NJW 1983,1144,1146; E. Schwinge, Ehrenschutz heute, 1988, S. 94 und passim.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

149

auch bei an sich gegebenem Rechtsbruch immer rechtmäßig verhält 256. Einen Rechtssatz dieses Inhalts darf es aber im Hinblick darauf, daß die Unverbrüchlichkeit des Rechts unverzichtbare Voraussetzung für den inneren Frieden ist, nicht geben.

bb) Weitere typische Abwägungskriterien Im Laufe der Zeit haben sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit dann noch weitere Kriterien für die im Kollisionsfall mit anderen Rechtsgütern erforderliche Abwägung herausgebildet. Sie haben die in der "Vermutungsformer bereits angelegte einseitige Prävalenz der Kommunikationsgrundrechte weiter gefestigt und dazu geführt, daß Spannungslagen zwischen der Meinungsfreiheit und schutzwürdigen Interessen Dritter im öffentlichen Meinungskampf regelmäßig zugunsten der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG aufgelöst wurden.

(1) Gegenschlagsprinzip Erstmals im "Schmid/Spiegel-Beschluß"257 hat das Bundesverfassungsgericht aus der "Bedeutung von Rede und Gegenrede für die Bildung der öffentlichen Meinung"258 gefolgert, daß derjenige, der zu einem abwertenden Urteil selbst Anlaß gegeben hat, eine scharfe Reaktion grundsätzlich auch dann hinnehmen muß, wenn sie sein Ansehen mindert 259 2 6 0 . Dieses söge-

256 Vgl. auch R Wassermann, Ist der Rechtsstaat noch zu retten?, 1985, S. 9: "Damit aber taucht das Bild von zwei Rechtsordnungen auf, die nebeneinander gelten, die eine für das bürgerliche Leben, die andere für das politische Verhalten. Politische Motivationen, gleich welcher Art, sollen ein Grund sein, das bürgerliche und das Strafrecht außer Kraft zu setzen"; ähnlich G. Arzt, JuS 1982, 717, 728, der meint, "daß wir nicht mehr weit von dem Rechtsgrundsatz entfernt sind, daß politisch motivierte Werturteile immer von der Meinungsfreiheit gedeckt und2 nie beleidigend sind". 57 BVerfGE 12,113 ff. 258

BVerfGE 12,113,130 (Schmid/Spiegel).

259

Siehe BVerfGE 12, 113,129 f. (Schmid/Spiegel); so oder ähnlich dann auch BVerfGE 24,278,286 (Tonjäger); 54,129,138 (Kunstkritik); 66,116,150 (Springer/Wallraff). - Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vgl. dazu bereits BGHSt 12, 287, 294 (Wahlkandidat) sowie später etwa BGHZ 45, 296, 308 ff. (Höllenfeuer); BGH NJW 1964,1471,1472 (Sittenrichter); BGH NJW 1965, 1476,1477 (Glanzlose Existenz); BGH NJW 1971,1655,1657 (Sa-

150

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

nannte "Recht auf Gegenschlag"261 wurde wenig später dahingehend erweitert, daß Äußerungen grundsätzlich dann zulässig sein sollen, wenn "es sich um eine adäquate Reaktion auf einen anderen Vorgang handelte"262. Die Verknüpfung von Anlaß und Reaktion soll zudem nicht auf gegenseitige Beleidigungen beschränkt sein263 und geht damit in Umfang und Wirkung über die im Strafrecht geltenden §§ 199 und 233 StGB weit hinaus264.

(2) Sonderstellung im öffentlichen Leben stehender Personen Ergänzt wurde das "Gegenschlagsprinzip" durch die These, daß bei der Abwägung maßgeblich darauf abzustellen sei, "ob und in welchem Ausmaß der von herabsetzenden Äußerungen Betroffene seinerseits an dem von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Prozeß öffentlicher Meinungsbildung teilgenommen, sich damit aus eigenem Entschluß den Bedingungen des Meinungskampfes unterworfen und sich durch dieses Verhalten eines Teils seiner schützenswerten Privatsphäre begeben" habe265. Wer sich an politischen Auseinandersetzungen beteilige und hierdurch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich lenke, müsse sich auch eine scharfe, abwertende und sein Ansehen mindernde Kritik seiner Person oder seines Lebensstils durch seine Gegner gefallen lassen, zumal er im allgemeinen ja genügend Möglichkeiten habe, sich politisch zu wehren266 2 6 1 .

botagevorwurf); BGH GRUR 1971, 529, 530 (Dreckschleuder); BGH NJW 1974, 1762,1763 (Deutschland-Stiftung). 260

Kritisch dazu etwa K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 394; siehe auch P. Schlechtriem, DRiZ 1973,65,67 mit Fn. 23. 261

Vgl. schon die Formulierung in BVerfGE 12, 113, 132*(Schmid/Spiegel): "... und seine Äußerung auch als Gegenschlag ... zu werten"; vom "Recht des 'Gegenschlags'" bzw. vom "'Recht zum Gegenschlag'" spricht das Gericht dann ausdrücklich auch in BVerfGE 42,143, 153 (Deutschland-Magazin), und in BVerfGE 75,369,380 (Karikatur). 262 BVerfGE 24,278,283 (Tonjäger). 263

Siehe BVerfGE 24,278,286 (Tonjäger); 54,129,138 (Kunstkritik); 66,116,150 (Springer/Wallraff); BGH NJW 1971,1655,1657 (Sabotagevonvurf). 264

Einschränkend nur BVerfGE 42,143,153 (Deutschland-Magazin).

265

Siehe BVerfGE 54, 129, 138 (Kunstkritik); 61, 1, 13 (Wahlkampf); 66, 116, 150 f. (Springer/Wallraff). 266

Vgl. BVerfGE 61, 1,13 (Wahlkampf); angedeutet auch schon in BVerfGE 7, 198, 219 (Lüth). - Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs siehe dazu etwa BGHZ 31, 308, 314 (Alte Herren); 36, 77, 81 (Waffenhändler); 45, 296, 310 (Höllenfeuer); BGH NJW 1962,

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

151

Hier ist mit guter Begründung auch das Gegenteil vertretbar 268: "Gerade die Personen, die im Dienst der Allgemeinheit nach außen hin besonders in Erscheinung treten, bedürfen zur Sicherung ihres Wirkens eines verstärkten Schutzes. Es ist eine Lebensfrage für die... Demokratie, daß sich auf allen Gebieten Persönlichkeitenfinden, die sich dem Dienst der Allgemeinheit widmen und bereit sind, dafür auch Opfer zu bringen. Eine solche Bereitschaft ist aber nicht zu erwarten, wenn das Gefühl herrscht, daß derjenige, der sich öffentlich einsetzt, mehr oder weniger vogelfrei ist."269 Dieser Auffassung hatte sich im Jahre 1955 auch noch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen und anläßlich der verfassungsrechtlichen Überprüfung des damals neugeschaffenen § 187 a StGB ausgeführt, Ehrenschutz werde den im politischen Leben stehenden Personen nicht um ihrer selbst willen gewährt, sondern um ihr öffentliches Wirken vor unsachlichen Beeinträchtigungen zu schützen und um einer erhöhten Gefährdung der Ehre dieser Personen Rechnung zu tragen270. Das Reichsgericht hatte bereits im 152, 152 (Bund der Vertriebenen); BGH NJW 1965,1476, 1477 (Glanzlose Existenz); BGH NJW 1966,245, 245 (Literaturlexikon). 267

Eine leichte Akzentverschiebung enthält nur der "Karikatur-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 75, 369, 380 f.): "Der Umstand, daß dieser (sc.: der Bayerische Ministerpräsident) ein im Kreuzfeuer des öffentlichen Meinungskampfes stehender Politiker ist, entkleidet ihn nicht seiner personalen Würde und rechtfertigt derartige (sc.: in den durch Art. 1 Abs. 1 GG geschützten Kern menschlicher Ehre eingreifende) Ehrverletzungen ... nicht". 268 Siehe etwa die Kritik von Κ Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815, 817. - "Unbehagen" ob des mangelnden Ehrenschutzes für Politiker äußerte auch schon R Schnur, W D S t R L 22 (1965), 101, 134; vgl. ferner E. Schwinge, GA 1956, 309, 309 ff.; ders., MDR 1973, 801, 801 f., 806 ff.; ders., Ehrenschutz heute, 1988, S. 92 ff.; O. Uhlitz, NJW 1967, 129, 129 ff.; H. Weitnauer, DB 1976,1365,1413,1416; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 74 ff., 82 f.; Κ E. Wenzel, AfP 1980,195, 199 f.; H. Otto, JR 1983, 1, 6; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 55 ff.; Hartmut Krüger, WissR 1986, 1,5 ff. 269

So die Begründung zum Entwurf des mit Strafrechtsänderungsgesetz vom 30. August 1951 (BGBl. IS. 739) in das Strafgesetzbuch eingefügten § 187 a StGB, Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, Drucks. Nr. 1307 vom 04. September 1950, S. 48. - Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen des Abgeordneten Th. Heuß (FDP) als Berichterstatter im Grundsatzausschuß: Auf eine besondere Umschreibung des Schutzes von Männern des öffentlichen Lebens gegen Verleumdung habe man verzichtet, um alles zu vermeiden, was nach Republikschutzgesetz aussieht, und weil alle Menschen den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer persönlichen Ehre haben, vgl. K-B. v.Doemming/R W. Füsslein/W. Matz (Bearb.), JöR 1 (1951), 79,80. 270

Vgl. BVerfGE 4, 352, 356 (Politische Beleidigung).

152

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Jahre 1928 gewarnt: Wenn der Staat es geschehen lasse, daß die Ehre der im öffentlichen Leben stehenden Personen jederzeit "schwersten unbeweisbaren Angriffen eines jeden beliebigen Staatsbürgers ausgesetzt" sei, so werde "anständigen Leuten die Lust genommen im öffentlichen Leben tätig zu sein"271. Und im Jahre 1948 stellte das Oberlandesgericht Tübingen fest: "Bei der Abwägung der Interessen darf auch die Stellung nicht unberücksichtigt bleiben, die der Angegriffene im öffentlichen Leben einnimmt. Neben dem unmittelbar Betroffenen hat in einem solchen Fall auch der Staat ein Interesse daran, daß die Ehre und das Ansehen von Persönlichkeiten, die er in hohe Staatsämter berufen hat, nicht leichtfertig und grundlos in den Staub gezogen wird. Aus diesen Grundsätzen ergibt sich auch für die Tagespresse eine Verpflichtung nicht nur zur Wahrhaftigkeit im allgemeinen, sondern auch zu gewissenhaftem Maßhalten in ihrer Kritik." 272 Hinzu kommt, daß die Argumente, mit denen die Sonderstellung im öffentlichen Leben - und damit gleichsam im "Rampenlicht" - stehender Personen zu rechtfertigen versucht wird, nicht überzeugen können273. Die These, dieser Personenkreis sei besser als andere in der Lage, "der Kritik gegenüber seine eigenen Auffassungen mit Nachdruck in der Öffentlichkeit darzulegen"274, übersieht, daß die Zugangsmöglichkeiten zu den Medien (allein) keinen wirklichen Schutz darstellen275, und die Behauptung, der Betroffene habe sich aus freien Stücken eines Teils seines Schutzes begeben 276 , erscheint als bloße Fiktion.

(3) Spontaneität freier Rede Als weiteren Gesichtspunkt hat das Bundesverfassungsgericht sodann die "Spontaneität freier Rede" hervorgehoben, für deren Zulässigkeit

271

RGSt 62,83,94.

272

OLG Tübingen DRZ1948,495,498.

273

Vgl. dazu auch E. Schwinge, Ehrenschutz heute, 1988, S. 95 f. BGH NJW 1962,152,152 (Bund der Vertriebenen).

274

275

Dazu ausführlich G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 74 f.; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 133 f. 276 Siehe BVerfGE 54,129,138 (Kunstkritik); 61,1,13 (Wahlkampf); 66,116,151 (Springer/Wallraff).

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

153

(ebenfalls) eine Vermutung spreche277. Sie sei Voraussetzung der Kraft und der Vielfalt der öffentlichen Diskussion, die ihrerseits Grundbedingung eines freiheitlichen Gemeinwesens sei. Solle diese Kraft und Vielfalt generell erhalten bleiben, dann müßten im Einzelfall auch Schärfen und Übersteigerungen des öffentlichen Meinungskampfes oder ein Gebrauch der Meinungsfreiheit in Kauf genommen werden, der zu sachgemäßer Meinungsbildung nichts beitragen kann278. Aus diesem Grund dürfen nach Auffassung des Gerichts an die "Zulässigkeit ehrverletzender wertender Äußerungen" im politischen Meinungskampf keine überhöhten Anforderungen gestellt werden 279, muß auch "übersteigerte Polemik" geduldet wer-den280, und spricht vieles dafür, daß auch scharfe, "mit Recht als herabsetzend empfundene" Kritik hinzunehmen ist 281 . Das Recht der freien Meinungsäußerung verkümmert damit freilich vom "Stück sittlich (!) notwendiger Lebensluft für den Einzelnen, die Wahrheit sagen zu dürfen" 282, zum "Grundrecht auf öffentliche Entgleisung".

(4) Reizüberflutung Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht auch noch auf die Notwendigkeit hingewiesen, möglicherweise bestehende "Reizschwellen" zu durchstoßen. Da es der Sinn jeder zur Meinungsbildung beitragenden öffentlichen Äußerung sei, Aufmerksamkeit zu erregen, seien "angesichts der heutigen Reizüberflutung aller Art einprägsame, auch starke Formulierungen hinzunehmen"283.

277

Vgl. BVerfGE 54,129,139 (Kunstkritik).

278

Siehe BVerfGE 54,129,139 (Kunstkritik); 60,234,241 ("Kredithaie"); 61,1,7 f. (Wahl-

kampf). 279

Vgl. BVerfGE 42,163,170 (Echternach).

280

Siehe BVerfGE 54,129,137 (Kunstkritik).

281

Vgl. BVerfGE 61,1,13 (Wahlkampf).

282

R Smend, W D S t R L 4 (1928), 44,50.

283

BVerfGE 24, 278, 286 (Tonjäger). - Aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs siehe dazu etwa BGH NJW 1971,1655,1657 (Sabotagevorwurf).

154

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Die an anderer Stelle gemachte Einschränkung, daß Überlegungen solcher Art nicht geeignet seien, "jedwede Verletzung der Ehre des politischen Gegners von Verfassungs wegen zu rechtfertigen" 284, ist demgegenüber leider ein "Lippenbekenntnis" geblieben.

cc) Exkurs: Ausrichtung der Interpretation des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen Die These, daß angesichts der heutigen Reizüberflutung und der dadurch eingetretenen allgemeinen Gewöhnung an den extrem harten Stil politischer Auseinandersetzungen auch besonders einprägsame und starke Formulierungen erlaubt sein müßten, rückt noch einen weiteren Gesichtspunkt ins Blickfeld, unter dem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz Bedenken unterliegt. In mehreren Entscheidungen hat das Gericht die Zulässigkeit herabsetzender Kritik unter anderem damit begründet, daß Äußerungen dieser Art "im politischen Tageskampf üblich" seien und "normalerweise auch ohne Beanstandung hingenommen" würden285. "Polemik gegen den politischen Gegner" sei ein "typisches Mittel", um Wähler zu gewinnen und gehöre zu den "Grundformen jedes Wahlkampfes" 286. Zweifellos muß sich die Auslegung und Anwendung einer Verfassungsnorm (auch) an den tatsächlichen Gegebenheiten orientieren. Da die Grundrechte auf die soziale Wirklichkeit bezogen sind, sind sie von inhaltlichen Wandlungen nicht ausgeschlossen287. Die inhaltliche Elastizität einer Verfassungsnorm hat aber ihre Grenzen288. Andernfalls könnte sie - wechselnden Bedürfnissen und Zeitverhältnissen entsprechend - beliebige Inhalte annehmen, womit sie sich im

284

BVerfGE 42,143,153 (Deutschland-Magazin).

Vgl. BVerfGE 42,163,171 (Echternach); vgl. auch BVerfGE 61,1,13 (Wahlkampf). 286

Siehe BVerfGE 61,1,9 f. (Wahlkampf).

287

Vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 215. 288

Siehe dazu insbesondere Κ Hesse, in: FS für U. Scheuner, 1973, S. 123,136 ff.

I. Gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung

155

Ergebnis selbst aufhöbe 289. "Das Telos eines Verfassungssatzes und sein klarer normierender Wille dürfen nicht dem Wandel der Situation zum Opfer gebracht werden."290 Sinn und Wesen der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG ist es, den geistigen Kampf der Meinungen zu gewährleisten291. Diese grundlegende Wertentscheidung der Verfassung kann nicht mit der Begründung beiseite geschoben werden, daß Eingriffe in schutzwürdige Rechtsgüter anderer im Meinungskampf inzwischen (leider) "üblich" geworden sind. Als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens292 vermag nur die Verfassung selbst die Prinzipien aufzustellen, nach denen politische Einheit sich bilden soll293. Das von ihr normierte "Leitbild" der Meinungsfreiheit (und nicht die möglichen Formen ihrer Entartung) muß Umfang und Grenzen dieses Grundrechts bestimmen und hat in diesem Sinne auch eine spezifisch "edukatorische" Funktion294. Die Interpretation des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG darf deshalb nicht an gesellschaftlichen Fehlentwicklungen ausgerichtet werden, sondern muß ihnen nach Möglichkeit entgegenwirken295.

289

Vgl. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 215. 290 291

Κ Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 16.

In diesem Sinne auch BVerfGE 25, 256, 265 (Blinkfüer); zuletzt BVerfG (Kammer) NJW 1989,381,382 (Aufruf zum "Mietboykott"). 292

So auch das Verfassungsverständnis bei W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, insbesondere S. 39 ff. 293 Siehe K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. 294 Aufl. 1988, Rn. 17. Vgl. allgemein zu dieser Funktion von Verfassungsprinzipien P. Häberle, in: FS für H. Huber, 1981, S. 211 ff., insbesondere S. 228 ff. ("Pädagogische Verfassungsinterpretation"); zur "edukatorischen" Funktion von (einfachen) Gesetzen siehe Th. Würtenberger, in: FG zum 10jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, 1984, S. 533,550. 295

Mit Recht stellte daher der Bundesgerichtshof in seinem "Halsabschneider-Urteil" vom 01. Februar 1977 fest: "Daß ... heute allgemein eine gewisse Neigung zu wegen mangelnder Rücksichtnahme auf den Schutzbereich der angegriffenen Person unangemessener Ausdrucksweise bestehen mag, kann eine andere Beurteilung (sc.: als daß der Gebrauch des Ausdrucks 'Halsabschneider' wegen seines vorwiegenden Schmähungsgehalts und auch wegen seines Abstands zum sachnahen Vokabular unzulässig ist) ebensowenig rechtfertigen wie die Erfahrung, daß derart Gekränkte nicht selten vor einer - wie sie glauben, unabwendbaren - Verwilderung des Verhaltens resignieren" (BGH GRUR 1977,801,804).

156

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

Hinzu kommt, daß zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit eine Wechselbeziehung besteht296: "Wirkliche Verfassung' und 'rechtliche Verfassung' ... stehen ... in einem Verhältnis korrelativer Zuordnung."297 Mithin wirkt die soziale Wirklichkeit nicht nur auf die Auslegung und Anwendung der Verfassung ein, sondern auch umgekehrt. Eine Verharmlosung böswilliger Herabwürdigungen als "im politischen Tageskampf nicht ungewöhnliche Polemik"298 trägt deshalb zur (erstrebten) Verstärkung des offenen Meinungsbildungsprozesses in der freiheitlichen Demokratie nicht bei, sondern führt zu einer Senkung der Mindeststandards gebotener personaler Achtung - und in der weiteren Tendenz zu einer (vor allem in Wahlkämpfen beobachtbaren299) Verrohung der politischen Umgangsformen 300. Politische Auseinandersetzungen, die in Verunglimpfungen ausarten, gefährden aber die Freiheit des politischen Handelns und damit die Grundlage der Demokratie301.

II. Wirkungsanalyse Durch die Darstellung der gegenläufigen Tendenzen in der Rechtsprechung zum Schutz der persönlichen Ehre und die Offenlegung ihrer Ursachen konnte der Nachweis erbracht werden, daß die Intensität des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes maßgeblich davon abhängig ist, ob das Recht der persönlichen Ehre im Einzelfall bei der Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG angesiedelt oder als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG behandelt wird. Die Auswirkungen dieses Umstandes sind bedenklich.

296

Siehe dazu insbesondere F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 114 ff.; ihm297 folgend K. Hesse, in: FS für U. Scheuner, 1973, S. 123,138. K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 8 f., in Anlehnung vor allem an //. Heller, Staatslehre (1934), 6. Aufl. 1983, S. 211; vgl. dazu auch W. Schmitt Glaeser, Politische Studien, Sonderheft 2/1979,37,40 f. 298 Vgl. BVerfGE 61,1,13 (Wahlkampf). 299

Siehe dazu die anschauliche Dokumentation bei U. Bräuel, Ehrverletzung und Ehrenschutz im politischen Leben, 1984, S. 96 ff. 300 Vgl. P. J. Tettinger, JZ 1983,317,325. 301

So im Jahre 1955 auch noch das Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 4, 352, 356 (PolitischeBeleidigung); treffend bemerkt freilich//. Otto, NJW 1986,1206,1211 Fn. 43, daß das Gericht von dieser Erkenntnis heute weit entfernt zu sein scheint.

II. Wirkungsanalyse

157

1. Abhängigkeit der Intensität des Ehrenschutzes von der verfassungsprozessualen Konstellation

Welcher grundgesetzliche Anknüpfungspunkt im Kollisionsfall mit der Meinungsfreiheit einschlägig ist, wird ausschließlich von der (mehr oder weniger zufälligen) Lage des Ehrverletzten im (Verfassungs-)Prozeß bestimmt302: Ist die die Freiheitsrechte des Art. 5 Abs. 1 GG für sich in Anspruch nehmende Partei vor den "Fach"gerichten erfolgreich geblieben und wird daraufhin wegen Verletzung des Rechts der persönlichen Ehre Verfassungsbeschwerde erhoben303, so ist an Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG anzuknüpfen und dann zu fragen, ob dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers "nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems"304 durch Art. 5 Abs. 1 GG Grenzen gezogen sind. Dabei müssen beide verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter in der Konfliktlösung einander so zugeordnet werden, daß jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt305. Hat dagegen der (vermeintlich) in seiner Ehre Betroffene im Verfahren vor den "Fach"gerichten obsiegt und wird deshalb wegen Verletzung der Meinungsfreiheit Verfassungsbeschwerde erhoben306, so ist an Art. 5 Abs. 1 GG anzuknüpfen und dann zu fragen, ob die Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG eingreifen. Hier wird regelmäßig der grundrechtliche Rang des Rechts der freien Meinungsäußerung in den Vordergrund gestellt, während der Ehrenschutz allenfalls mittelbar über den Schrankenvorbehalt der "allgemeinen Gesetze" als Rechtsposition des einfachen Rechts erscheint. Folglich wird nicht die Kollision zweier Grundrechte aufgelöst, sondern erörtert, ob das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 GG zulässigerweise durch eine einfachgesetzliche Vorbehaltsnorm eingeschränkt wurde; daß auch der Eh302

Dies deutet auch schon G. Roellecke, JZ 1980, 701, 702 f., an, der zudem darauf hinweist, daß es aus diesem Grund "nicht ungefährlich ist, Grundrechte vornehmlich vom Rechtsschutzanspruch aus zu interpretieren". 303

So die Konstellation etwa in BVerfGE 54,208 ff. (Böll).

304

BVerfGE 30,173,193 (Mephisto).

305

Siehe K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72. 306

So die Konstellation etwa in BVerfGE 54,129 ff. (Kunstkritik).

158

2. Teil: Α. Kritik an der bisherigen Entwicklung

renschutz grundrechtlich determiniert ist, bleibt unbeachtet307. Im Gegenteil: "Wechselwirkungstheorie" und "Vermutungsformel" lassen - wie die vorstehenden Untersuchungen gezeigt haben - das "Recht der persönlichen Ehre" regelmäßig hinter den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG zurückstehen. Die Intensität des Ehrenschutzes im Meinungskampf hängt damit letztlich von der jeweiligen verfassungsprozessualen Konstellation ab 308 - ein (Zwischen-)Ergebnis, das die Mängel der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in aller Deutlichkeit zutage treten läßt. "Denn die Frage, ob und welche der beiden kollidierenden Rechtsgüter Grundrechtsrang besitzt, kann schließlich nicht davon abhängig gemacht werden, welche der beiden Parteien Verfassungsbeschwerde einlegt."309

2. Akzentverschiebung innerhalb des grundrechtlichen Wertsystems

Die in Abhängigkeit vom jeweils einschlägigen grundgesetzlichen Anknüpfungspunkt höchst unterschiedliche Gewichtung des Ehrenschutzes führt darüber hinaus zu einer unzulässigen Akzentverschiebung innerhalb des verfassungsrechtlich normierten Grundrechtsgefüges. Denn während der Ehrenschutz aus Art. 5 Abs. 2 GG gegenüber der Meinungsfreiheit (bei "ungünstiger" verfassungsprozessualer Konstellation) kaum grundrechtsbegrenzende Wirkung entfaltet, kommt dem Recht der persönlichen Ehre als Bestandteil des (durch seinen engen Bezug zur Menschenwürde ideell aufgewerteten) allgemeinen Persönlichkeitschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG im Kollisionsfall mit anderen Verfassungswerten (stets) erhöhte Bedeutung zu. Im Ergebnis erfahren damit sogar vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte - wie etwa die Freiheit der Kunst - durch den Ehrenschutz eine stärkere Einschränkung als die durch das "Recht der persönlichen Ehre" ausdrücklich begrenzten Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG; der "Mephisto-Beschluß" des Bundesverfassungsgerichts liefert hierfür ein anschauliches Beispiel310. 307

In diesem Sinne auch H. Bethge, UFITA 95 (1983), 251,258 f.

308

Vgl. dazu auch Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 475, der registriert, "daß Klagen wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bei Konflikten mit dem Recht der freien Meinungsäußerung seltener der Erfolg versagt ist als Klagen wegen Ehrverletzung". 309 //. Bethge, UFITA 95 (1983), 251,259. 310

Siehe BVerfGE 30,173,193 ff. (Mephisto); vgl. allerdings auch die Kritik an dieser Entscheidung von P. Häberle, Rechtstheorie 11 (1980), 389, 401 f.; ders., in: J. Isensee/P. Kirchhof

II. Wirkungsanalyse

159

Wenn auch das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts nicht ohne weiteres auf eine besondere Schutzwürdigkeit des gewährleisteten Grundrechts hindeutet, so ist doch mit der vom Grundgesetz vorgenommenen "Abstufung" zwischen nur durch die Verfassung selbst begrenzbaren und (einfachen oder qualifizierten) Gesetzesvorbehalten unterliegenden Freiheiten eine gewisse Differenzierung in der Intensität des Schutzes der einzelnen Grundrechte verbunden311. Gerade im Hinblick auf die jeweiligen Begrenzungsmöglichkeiten der Grundrechte, die von der Verfassung nicht durch eine Generalklausel, sondern durch einzelne, sorgfältig abgestufte Vorbehalte normiert wurden, kommt es daher - um der Bedeutung der Grundrechte für den Status des einzelnen und für die Gesamtordnung des Gemeinwesens willen darauf an, die geschriebene Verfassung ernst zu nehmen312. Das Bundesverfassungsgericht wird dem nicht gerecht.

B. Versuch einer Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes Die (systematischen und gradualen) Schwächen (in) der Rechtsprechung zum Schutz der persönlichen Ehre machen es notwendig, den Stellenwert dieses Schutzgutes in der (Verfassungs-)Rechtsordnung neu zu bestimmen. Dabei gilt es, die verschiedenen grundgesetzlichen Anknüpfungspunkte so miteinander in Einklang zu bringen, daß nicht nur Widersprüche vermieden werden, sondern zugleich auch eine tragfähige gemeinsame Grundlage für den Schutz der persönlichen Ehre auf Verfassungsebene entsteht. Allein eine solche Problemlösung entspricht dem Prinzip der Einheit der Verfassung 1 und hält sich frei von einseitiger Beschränkung auf Teilaspekte. Die hiernach erforderliche inhaltliche und systematische Harmonisierung des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes läßt sich nur über eine dem Rang des Persönlichkeitsschutzes im Grundgesetz entsprechende (Auf-)Wertung des Ehrenschutzes aus Art. 5 Abs. 2 GG erreichen: Inhalt und Funktion 311

Vgl. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 316. 312 1

Siehe K. Hesse, ebd., Rn. 309.

Vgl. dazu Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 71.

160

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

des "Rechts der persönlichen Ehre" als ausdrücklich positivierter Schranke der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG müssen in Übereinstimmung mit dem Ehrenschutzauftrag aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ausgelegt werden. Zugleich ist sicherzustellen, daß die begrenzenden Wirkungen beider grundgesetzlichen Anknüpfungspunkte für den Schutz der persönlichen Ehre im Kollisionsfall mit anderen Verfassungswerten einander entsprechen.

I. "Normbereich" und Struktur des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes Mit der Erkenntnis, daß die sachliche Reichweite und die Wirkkraft des "Rechts der persönlichen Ehre" als Schranke der Meinungs(äußerungs)freiheit gemäß Art. 5 Abs. 2 GG dem Inhalt und der Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Schutz der persönlichen Ehre gleichkommen müssen, ist noch keine Aussage darüber getroffen, wie dieser einheitliche Schutzbereich des grundgesetzlichen Ehrenschutzes zu begreifen ist. Die (Verfassungs-)Rechtsordnung ist aber auf eine klare Bestimmung dessen, was sie verbürgen soll, angewiesen: "Was der Staat nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen."2 Welcher Ausschnitt der (einfachgesetzlich bereits fest geformten 3) "Wirklichkeit" Gegenstand des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes ist4, bedarf daher noch genauerer Betrachtung.

1. Verfassungsrechtlicher Ehrbegriff

Was ist Ehre? Die Richtung, in die diese Frage zielen muß, hängt in erster Linie von der Aufgabe ab, die mit dem zu gewinnenden (Ehr-)Begriff

2

/. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 35, unter Verweis auf A. Arndt, NJW 1966, 25, 26, 28, der mit diesem Argument die Notwendigkeit begründete, "den Begriff der Kunst in Art. 5 Abs. 3 GG als verfassungsrechtlichen Begriff zu werten und nach Anhaltspunkten zu suchen, die ihn justitiabel machen". 3

4

Siehe dazu oben Erster Teil A III.

Formulierung in Anlehnung an K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 310.

I. "Normbereich" und Struktur

161

gelöst werden soll5; sie kann mithin für das Verfassungsrecht eine andere sein als für das einfache Recht6. Der materielle Gehalt des grundgesetzlichen Ehrenschutzes kann nur verfassungsrechtlich-/i//i/:f/tf/ie// bestimmt werden. Eine allgemeine, über das Verfassungsrecht hinaus Gültigkeit beanspruchende Definition des Begriffs der "Ehre11 ist dagegen an dieser Stelle weder erforderlich noch möglich. Bereits zu Beginn hat sich freilich gezeigt, daß das Rechtsgut "Ehre" einer inhaltlichen Präzisierung nur schwer zugänglich ist7. Allein, daß mit ihm der Gedanke des Achtens (bzw. Geachtetwerdens) verbunden ist, hat der Blick auf die zu den einfachgesetzlichen Ehrenschutzbestimmungen entwickelten Ehrauffassungen zweifelsfrei erkennen lassen8; alles andere ist indessen (nach wie vor) ebenso ungewiß wie umstritten. Fast möchte man kapitulieren und den Inhalt des Ehrbegriffs so beschreiben, wie es in G. E. Lessings "Minna von Barnhelm" heißt: "Die Ehre ist - die Ehre."9 Die Schwierigkeiten bei der begrifflichen Erfassung des Ehrphänomens beruhen vor allem darauf, daß es sich bei der menschlichen Ehre um eine mit den Normen der Ethik korrelierende und insoweit in besonderem Maße historischen Prozessen unterliegende Variable handelt. Welche Kriterien als Faktoren begründeter Ehre gelten, hängt entscheidend von den Wertvorstellungen und der soziokulturellen Verfassung einer Gesellschaft ab10. Mit "bloß" juristischen Umschreibungen ist es daher nicht getan11. Will man der geschichtlichen Bestimmtheit des Ehrbegriffs 12 und der Va5 So K. Hesse, ebd., Rn. 1, für die Frage nach dem Begriff der Verfassung. Dieser Gedanke dürfte sich aber ohne weiteres auf die Frage nach dem materiellen Gehalt von Begriffen in der Verfassung übertragen lassen. 6

Vgl. dazu schon oben Erster Teil Α. I. mit Fn. 21.

7

Offenbar gilt das Wort von A. Camus: "Die Ehre, Sie verstehen, das ist ein unklarer, ein sehrg unklarer Begriff' (ders., Die Besessenen, Erster Teil, Viertes Bild), Siehe oben Erster Teil Α. I. 9

G. E. Lessing, Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück (1767), Vierter Aufzug, Sechster Auftritt. 10 Vgl. M. Forschner, in: O. Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 3. Aufl. 1986, S. 40, 40; ähnlich auch O. Angehrn, Nachruf auf die Ehre, 1982, S. 17. 11

Formulierung in Anlehung an P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982,

S. 19. 12

Zu Recht spricht W. Korff\ Ehre, Prestige, Gewissen, 1966, S. 37, von der Ehre als einem "geschichtsmächtigen Phänomen ..., das neben Hunger und Sexus die Menschen aller Zeiten am stärksten bewegte". 11 Mackeprang

162

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

riabilität seiner Inhalte im Wandel der Kulturen hinreichend Rechnung tragen, wird die Einbeziehung außerjuristischer Erkenntnisquellen unvermeidlich. Das Recht der persönlichen Ehre "im Sinne des Grundgesetzes" ist zwar ein Begriff der Verfassung, doch entwickelt er sich im Kraftfeld der Kooperation mit anderen Wissenschaften: kulturwissenschaftlich 1314. Wenn daher hier zunächst das Ziel verfolgt wird, die wichtigsten Wesensformen der menschlichen Ehre und ihrer Verletzung herauszuarbeiten, so kann dabei auf die wegbereitende und erhellende Mithilfe anderer Disziplinen nicht verzichtet werden15. Nur wenn es gelingt, das Ehrphänomen in der Vielseitigkeit seiner Bedeutungen zu erfassen, wird die gebotene inhaltliche Präzisierung des grundgesetzlichen Ehrenschutzes überhaupt möglich sein. In einem ersten Schritt soll deshalb der Versuch unternommen werden, den diffusen Komplex von Vorstellungen und Traditionen16, die mit dem Ehrgedanken verbunden sind, zu möglichst klarer Unterscheidung zu bringen. Im Anschluß daran wird zu untersuchen sein, welche dieser vielfältigen Aspekte durch das Grundgesetz rezipiert und damit zum Gegenstand des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes gemacht worden sind.

a) Phänomenologie der Ehre Man spricht von "Ehre" - und "wie ein Vogelschwarm flattern die so verschiedenen Dinge gleichen Namens ... um unser Haupt"17. Mit dieser trefflichen Formulierung brachte Κ Binding in seiner berühmten Rektoratsrede 13

Formulierung in Anlehnung an P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 10 f. 14

Grundlegend zum "Programm" einer als Kulturwissenschaft konzipierten Verfassungslehre P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982. 15 Freilich betritt der "Nur"-Jurist regelmäßig schwankenden Boden, wenn er sich außerrechtlichen Kategorien zuwendet. Bemühungen, auf diese Weise (Verfassungs-)Rechtsbegriffe (besser) zu erfassen, laufen daher stets Gefahr, in Anmaßung außeijuristischer Fachkompetenz und Dilettantismus, mithin im Peinlichen und Lächerlichen, im Spott der Besserwisser, zu enden (siehe /. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 26). Dies muß jedoch im Interesse des "interdisziplinären Gesprächs" (vgl. P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 10 f.) in Kauf genommen werden. 16 Zur Bedeutung der Tradition im Verfassungsleben vgl. A. Blankenagel, Tradition und Verfassung, 1987. 17

Κ Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, 2. Aufl. 1892, S. 1 f.

I. "Normbereich" und Struktur

163

aus dem Jahre 1890 die verwirrende Vieldeutigkeit des Ehrbegriffs besonders anschaulich zum Ausdruck. In der Tat kann mit dem Terminus "Ehre" nahezu alles benannt werden, was sich innerhalb des Ehrphänomens an spezifischen, zu relativ eigenständiger Bedeutung gelangten Sachverhalten abzeichnet: Anerkennung, Ansehen, Wertschätzung, Würde, Sittlichkeit, Ehrenhaftigkeit, Ruf, Name, Sozialprestige, Selbstwertgefühl, Selbstachtung, Geltungsverlangen und anderes mehr18. Diese Vieldeutigkeit spiegelt sich auch in den verschiedenen Definitionen wider, mit denen man den Ehrbegriff - je nach Anwendungsbereich einzugrenzen versucht hat. Besonderer Beliebtheit erfreut sich in der rechtswissenschaftlichen Literatur 19 dabei immer wieder die Auslegung des "Klassikers des Pessimismus"20, A. Schopenhauer, der die Ehre wie folgt umschrieb21: "Ehre ist, objektiv, die Meinung Anderer von unserm Werth, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung."

Wenngleich durchaus zweifelhaft sein mag, ob sich diese Begriffsbestimmung auch für (verfassungsrechtliche Zwecke fruchtbar machen läßt23, so kann ihr doch immerhin die Erkenntnis entnommen werden, daß sich die menschliche Ehre ebenso als objektives wie auch als subjektives Phänomen darstellt24.

18

Ähnlich W. Korff,,

Ehre, Prestige, Gewissen, 1966, S. 23.

19

Vgl. etwa K. Binding , Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, 2. Aufl. 1892, S. 6; M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 47 f.; ders., JZ 1963,314, 314; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 7 f.; E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 6; P. J. Tettinger, JZ 1983, 317, 319; G. Gomig, JuS 1988, 274,278. 20

P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 37.

21

Zur Bedeutung von Klassikertexten für die (Verfassungs-)Rechtswissenschaft siehe ausführlich P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981, insbesondere S. 44 ff.; demnach geht es nicht darum, Klassiker-Zitate (oder literarische Aperçus) wie verbindliche Rechtsnormen zu behandeln, sondern sie als ,rVerfassungstexte im weiteren Sinne" für die Auslegung des Grundgesetzes fruchtbar zu machen. 22

A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit (1851), Kapitel IV., hrsg. von A. Hübscher, mit einem Nachwort von E. Friedell, 1987, S. 50, 59. 23

Zweifel an der Brauchbarkeit der Ehrdefinition A. Schopenhauers für das Rechtsleben äußert etwa H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 12 f. Fn. 54. 24

Siehe dazu auch schon/. Eckstein, Die Ehre in Philosophie und Recht, 1889, S. 11 f. 11

164

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

aa) Ehre als objektives Phänomen Objektiv bezeichnet "Ehre" "eine nichtintrinsische relationale Eigenschaft einer Person, die dieser (aufgrund intrinsischer Eigenschaften) in ihrer Beziehung zu anderen Personen ... zukommt. Aus dieser Struktur erklärt sich, daß man Ehre einerseits wie eine immanente Eigenschaft hat (ähnlich der Gesundheit), andererseits wie äußere Dinge erhält und zukommen läßt."25 Der äußere Aspekt, d.h. "die im menschlichen Zusammenleben bekundete Anerkennung und Schätzung, die man selbst empfängt und anderen erweist"26, dominiert allerdings: "Ehre liegt wohl eher in den Ehrenden als in dem Geehrten" (Aristoteles) 21. Sie ist so gesehen der (positive) "Wert" einer Person28 in den Augen Dritter 29, ihr "Daseyn in der Meinung Anderer" (A. Schopenhauer) 30. Dementsprechend lautete auch eine der ersten deutschsprachigen Begriffsbestimmungen 31 von Ch. Wolff aus dem Jahre 1720: "Das Urtheil anderer von unserer Vollkommenheit oder dem Guten, was wir an uns haben ist es, was wir eigentlich die Ehre nennen."32

25

M. Forschner, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Zweiter Bd., 1986, Sp. 150,150. 26

Vgl. M. Forschner, in: O. Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 3. Aufl. 1986, S. 40, 40.

27

Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), Die Nikomachische Ethik, Erstes Buch, 3. Kapitel, 1095 b 25, neu übersetzt mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von O. Gigon, 2. Aufl. 1967, S. 59. - Dieser Gedanke findet sich (mittelbar) auch bei J. W. v.Goethe, West-östlicher Divan, 1819, Buch des Unmuts, 2. Gedicht: "Wenn wir andern Ehre geben, Müssen wir uns selbst entadeln." 28

Siehe dazu bereits R v.Ihering, Der Zweck im Recht, Zweiter Bd., 5. Aufl. 1916, S. 388 ff., der meinte, daß es sich "überall, wo der Jurist sich des Ausdrucks Ehre bedient", "um den rechtlichen oder staatlichen Wert der Person" handele (a.a.O., S. 389), und im folgenden darlegte, daß auch nach dem Zeugnis von fünf ganz verschiedenen Sprachstämmen (griechisch, lateinisch, deutsch, hebräisch und ungarisch) das Wort "Ehre" nichts anderes als "Wert der Person" bezeichne (a.a.O., S. 392 f.). 29

Vgl. M. Forschner, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Zweiter Bd., 1986, Sp. 150,150. 30 A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit (1851), Kapitel IV., hrsg. von A. Hübscher, mit einem Nachwort von E. Friedell, 1987, S. 50. 31

Siehe H. Reiner, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 319, 321. 32

Ch. Wolff ; Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen (1720), § 590, in: ders., Gesammelte Werke, hrsg. und bearb. von J. École/J. E. Hofmann/M. Thomann/ H. W. Arndt, Bd. 4,1976.

I. "Normbereich" und Struktur

165

Unterschiedlich und beträchtlichem Wandel unterworfen sind indessen die Ansichten darüber, welche Kriterien das Ausmaß der dem einzelnen entgegengebrachten Wertschätzung bestimmen. Je nach persönlicher Überzeugung und (oder) kulturellem Hintergrund kommen dafür sowohl sittliche als auch soziale Maßstäbe in Betracht33.

(1) Ehre als sittliche Geltung Bei Anlegung sittlicher Maßstäbe ist es der geistig-sittliche Wert des Menschen, der ihn zu einem Achtung verlangenden Glied der Gemeinschaft macht34. Dieser Wert geht unmittelbar aus der dem Menschen kraft seines Personseins von Geburt an zuteilgewordenen Würde hervor und ist im übrigen allein vom sittlichen Habitus und sittlichen Verhalten des einzelnen abhängig.

(a) Sittliche Existenz Während noch nach mittelalterlicher Auffassung ganze Bevölkerungsteile (etwa die nichtehelich Geborenen) als "ehrlos" galten, wird es heute - im Einklang mit der Ethik /. Kants und der Idee der Humanität - überwiegend als selbstverständlich angesehen, daß jedem Menschen von Natur aus Ehre zukommt35: "Der Mensch als Person ist Träger höchster geistig-sittlicher Werte und verkörpert einen sittlichen Eigenwert, der unverlierbar und ... unantastbar ist."36 Jeder einzelne besitzt daher "in seinem Menschentum 33

Die in der Literatur häufig anzutreffende Gegenüberstellung von "normativen" und "faktischen" Ehrauffassungen soll dagegen hier nicht aufgegriffen werden. Sie erscheint wenig sachdienlich, nachdem insbesondere H Engisch, in: FS für R. Lange, 1976, S. 401, 410 ff., nachgewiesen hat, daß in alle denkbaren Ehrauffassungen zwangsläufig wertende Gesichtspunkte und tatsächliche Umstände einfließen müssen; vgl. dazu auch schon die Andeutungen bei E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886,887, und H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71, 75. 34

Siehe K. Peters, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 6. Aufl., Zweiter Bd., 1958, Sp. 1048,1048. 35 Vgl. /. Hoffmeister (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Aufl. 1955, S. 183,184. - Kritisch dazu G. Jakobs, in: FS für H.-H. Jescheck, Erster Halbbd., 1985, S. 627, 639, der meint, die These, daß jeder Mensch stets schon kraft seines Personseins Ehre besitze, verwechsele die unverwirkbare Ehrßhigkeit aller Menschen mit dem Ehrbestand. 36 BayVerfGH VGH NF 1, 29, 32; so oder ähnlich auch BayVerfGH VGH NF 2, 85, 91; VGH NF 8, 52, 57.

166

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

ein Ehrenkapital, kraft dessen er beanspruchen kann von allen anderen als ihresgleichen behandelt zu werden"37. F. J. Stahl zählte die "Ehre" dementsprechend zu den "angebornen", "im Wesen der Persönlichkeit liegenden" Rechten, die zur "Existenz als Person" gehören38. Hiernach ist unter "Ehre" jedenfalls diejenige Achtung zu verstehen, die Menschen einander aufgrund ihrer gleichen Würde als sittlich verantwortliche Personen schulden. "Jeder Mensch hat Anspruch darauf, als Person geachtet zu werden, d.h. als ein Wesen, das seiner selbst bewußt ist, in Freiheit über sich bestimmen, seine Umwelt gestalten und mit anderen Menschen Gemeinschaft bilden kann."39 Da dieser Achtungsanspruch allen Menschen stets und in gleicher Weise eigen ist, kann insoweit von einer statisch-konstanten Komponente des Ehrphänomens gesprochen werden40: Der dem Menschen kraft seines Menschseins zukommende Geltungswert41 garantiert ihm einen festen "Mindestbestand an Ehre, ein Ehrenmini„42

mum . (b) Sittliches Verhalten Im übrigen hängt das Zusprechen und Aberkennen von Ehre bei Zugrundelegung einer am geistig-sittlichen Wert des Menschen orientierten Ehrauffassung allein vom sittlichen Verhalten des einzelnen ab. Sein "Ver-

37

Κ Binding , Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, 2. Aufl. 1892,^S. 14.

38

F. J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Zweiter Bd., 4. Aufl. 1870, Erste Abtheilung, Drittes Buch, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, § 2, S. 312 f. 39 H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71, 74 (Hervorhebung durch den Verfasser);· ähnlich ders., JZ 1989, 803, 803; siehe dazu auch schon G. Düng, AöR 81 (1956), 117, 125; ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. I (1958), Rn. 17 f.; J. M. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 6.

40

So zu Recht K. Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 40; vgl. auch bereits M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 52. 41 Κ Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, 2. Aufl. 1892, S. 14, bezeichnet diesen Geltungswert als "eigentümlichen Menschenwert"; ähnlich G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 19: "vorgegebener Menschenwert". 42

Κ Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 40 ("Menschenehre").

I. "Normbereich" und Struktur

167

kehrskurs"43 gründet sich dabei in erster Linie auf die Erfüllung (allgemeiner) sittlicher Forderungen, während umgekehrt in der (schuldhaften) Verletzung sittlicher Pflichten eine Ehrminderung gesehen wird 44. Die persönliche Ehre wird damit zu einem durch individualethische Grundhaltung und tugendhafte Lebensführung erworbenen Charakter- und Leistungswert. In diesem Sinne "sittlicher Achtung" steht die Ehre des Menschen zugleich in engem Zusammenhang mit dem Gemeinschaftsgeist bestimmter Schichten und Kreise45. Einzelne Personengruppen können einen eigenen (besonderen) Sittenkodex ("Ehrenkodex") entwickeln, der die Angehörigen dieser Gruppe speziellen sittlichen Anforderungen und Aufgaben unterstellt. Während es früher vor allem bestimmte "Stände" waren, die derartige "Sonderehren"46 ("ritterliche Ehre", "Offiziersehre" etc.47) pflegten, steht heute die durch die unterschiedliche soziale Funktion und Betätigung bedingte Verschiedenheit der an den einzelnen adressierten Pflichten im Vordergrund 48. Hervorgehoben sei namentlich das Berufsethos bestimmter Berufsgruppen (Beamte, Ärzte, Anwälte, Kaufleute u.s.w.), auf dessen Vorhandensein nicht zuletzt auch die gesetzliche Zulassung besonderer e/irengerichtlicher Verfahren 49 hindeutet50.

43

K. Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, 2. Aufl. 1892, S. 12 f.: "Die Ehre ist - richtiger. nach ihr bemißt sich - der rechtlich anerkannte Verkehrskurs eines Menschen" 44

Siehe etwa fC Binding , ebd., S. 16; H. Reiner, Die Ehre, 1956, S. 36; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 72 ff. 45

Vgl. H. Reiner, Die Ehre, 1956, S. 37.

46

W. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 1915, S. 6, 8.

47

Eine ähnliche Bindung an eine durch zusätzliche Strenge aus der allgemein herrschenden Sitte herausgehobene Gesetzlichkeit zeigt(e) auch der Begriff der jungfräulichen oder allgemein der weiblichen (Geschlechts-)Ehre; auch die Jungfräulichkeit ist (war) ein "Stand" in einem verallgemeinerten Sinn, vgl. O. F. Bollnow, in: ders., Einfache Sittlichkeit, 3. Aufl. 1962, S. 47,52. 48 Siehe//. /. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 73 f. 49

Vgl. etwa §§ 92 ff. BRAO. - Das gleiche gilt (speziell für Kaufleute) auch für die Möglichkeit des Ehreneinlntis im Wechselrecht, siehe §§ 55 ff. WG. 50

Ein besonderer "Ehrenkodex" kann sich freilich auch in verbotenen Personengemeinschaften entwickeln, etwa in Form der sogenannten "Ganovenehre" als Ausdruck der von der Kriminellen"gemeinschaft" gegenüber jedem einzelnen Mitglied erhobenen ("sittlichen") Forderung, seine Komplizen nicht zu verraten, vgl. dazu W. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 1915, S. 8; wegen der "ethischen Wertneutralität" dieser Sichtweise a.A. H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 46.

168

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

Unter "Ehre" ist demzufolge also die Hochschätzung zu verstehen, die jemandem gebührt, weil seine Lebensführung der allgemeinen Sittenordnung (etwa dem christlichen Sittengesetz) oder den besonderen sittlichen Anforderungen einer bestimmten Personengruppe entspricht. Aristoteles bezeichnete sie insofern anschaulich als den "Siegespreis der Tugend"51.

(2) Ehre als soziale Geltung Bei Anlegung sozialer Maßstäbe ist es dagegen die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft, die das Ausmaß der ihm entgegengebrachten Wertschätzung bestimmt. "Ehre" ist so gesehen das soziale Ansehen einer Person, ihr (guter) "Ruf in der menschlichen Gemeinschaft52. Dies bedeutet zunächst, daß als Relevanzkriterien individueller Ehrzuweisung nicht nur sittliche Qualitäten in Betracht kommen, sondern auch Umstände, die vom Willen und von der Verantwortlichkeit des Ehrträgers unabhängig sind - etwa Herkunft, Alter, Schönheit, Gesundheit oder Vermögen53. Denn soziale Anerkennung wird dem einzelnen (gerade) auch aufgrund solcher Eigenschaften zuteil, während umgekehrt etwa der "Vorwurf geistiger oder körperlicher Mängel das gesellschaftliche Ansehen einer Person nachhaltig beeinträchtigen kann54. Viele dieser (sittlich-neutralen) Ehrelemente sind dementsprechend heute in den neuen (Ersatz-)Begriff des Sozialprestiges eingegangen55. Bei Th. Hobbes findet sich sogar eine

51 Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), Die Nikomachische Ethik, Viertes Buch, 7. Kapitel, 1123 b 35, neu übersetzt mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von O. Gigon, 2. Aufl. 1967, S. 138; siehe auch ders., Rhetorik, Buch I, 5. Kapitel, 1361 a, übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von F. G. Sieveke, 1980, S. 29 f.

52

In diesem Sinne ist auch die objektive Seite der Ehrdefinition A. Schopenhauers (siehe oben vor aa)) zu verstehen. 53 Eine genaue Abgrenzung zwischen verantwortlichen und nichtverantwortlichen Eigenschaften einer Person ist freilich nicht immer möglich. So wird man etwa im allgemeinen voraussetzen können, daß der Erwerb und die Erhaltung von Reichtum auch durch Leistung und Tüchtigkeit bedingt sind (vgl. H. Reiner, Die Ehre, 1956, S. 35); desgleichen mag der gute Gesundheitszustand einer Person-in vielen Fällen (wenigstens zum Teil) auch auf deren sorgsame Lebensführung zurückzuführen sein. 54 Siehe dazu etwa W. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 1915, S. 16 f.; E. Kern, in: Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd., 1954, S. 303,306; G. Arzt, JuS 1982, 717, 718.

Vgl. M. Forschner, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Zweiter Bd., 1986, Sp. 150,151.

I. "Normbereich" und Struktur

169

völlig amoralische Sichtweise der Ehre 56. Er bezeichnete sie als den "Wert, den wir uns gegenseitig beimessen"57, und meinte, daß es "für die Ehre keine Rolle (spiele), ob eine Handlung gerecht oder ungerecht"58 sei. Für ihn bestand Ehre "nur in der Meinung, daß Macht vorliegt"59. Wird bei der Bestimmung des Ehrbegriffs allein auf den sozialen Geltungswert einer Person abgestellt, taucht zudem das Problem auf, daß die dem einzelnen von der Sozietät tatsächlich entgegengebrachte Wertschätzung der "Wahrheit" nicht (immer) entsprechen muß60. Die allgemein verbreitete Meinung über eine Person (ihr "Ruf) kann "gut" oder "schlecht", "richtig" oder "falsch" sein. Daß auch der unangemessen gute Ruf ein Mehr, und der unverdient schlechte Ruf (oder überhaupt das Fehlen eines Rufes) ein Weniger an Ehre bedeuten soll, erscheint indessen als überaus zweifelhaft 61. Das gesellschaftliche Ansehen einer Person (ihr "Leumund") wird daher (heute) in der Regel nur insoweit als (Element der) Ehre begriffen, als es berechtigt ist62. Dagegen hatte etwa in der Renaissance das Streben nach Ruhm und gesellschaftlicher Anerkennung eine das Leben derart beherrschende Bedeutung erlangt, daß die Beleuchtung von Leistung und Tüchtigkeit durch die Blicke anderer wichtiger geworden war, als die "große Tat" selbst63. Wenn Rang und Ansehen auch ohne wahre Leistung erlangt werden konnten, war

56

Siehe H. Reiner, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, 1972, Sp. 319,321. 57

Th. Hobbes, Leviathan (1651), Part I, Chapter X, hrsg. und eingeleitet von I. Fetscher, übersetzt von W. Euchner, 1984, S. 66,67. 58 Th. Hobbes, ebd., S. 71. 59

Th. Hobbes, ebd. Vgl. dazu etwa W. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 1915, S. 42 ff.; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 17 ff.; K. Schmid , Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 25 f. 60

61

Siehe H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 18; E. A. Wolff,

ZStW 81 (1969), 886,

887. 62

Vgl. etwa//. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71, 82; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 19; G. Arzt, JuS 1982, 717,717 m.w.N. Besonders tritt diese Auffassung in B. Castigliones "Cortegiano" (Das Buch vom Hofmann, übersetzt, eingeleitet und erläutert von F. Baumgart, 1960) hervor, einem Lehrbuch der höfischen Lebensweise, das 1528 erschien und bald danach große Verbreitung erlangte, vgl. H. Reiner, Die Ehre, 1956, S. 121, Anm. 7 zum 1. Abschnitt.

170

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

das Daseinsziel damit gleichwohl erreicht; die "falsche" Ehre galt gleich viel wie die der Wahrheit entsprechende64. Nach christlicher Lehre gebietet es die Nächstenliebe, auch den falschen guten Ruf zu schonen65. Der Mensch soll ein Recht darauf haben, daß ihm sein Leben nicht unnötig schwergemacht wird, was durch Zerstörung des Gutscheinens, dem das Sein nicht (ganz) entspricht, geschehen könne. Auch die Gesellschaft werde durch Aufdeckung aller "geheimen" Fehler ihrer Mitglieder eher geschädigt als gefördert. Nur in Einzelfällen dürfe daher die Rücksicht auf das Gemeinwohl oder dritte Personen die Wissenden dazu drängen, einen Menschen seines falschen Renommees zu berauben66. In einem gesellschaftsbezogenen Rahmen kann unter "Ehre" mithin das spezifisch individuelle Ansehen einer Person verstanden werden, das ihr aufgrund äußerer Güter, natürlicher persönlicher Gaben oder sittlicher Werte von der Umwelt verdientermaßen zuzubilligen ist ("begründeter" sozialer Wert- und Achtungsanspruch) bzw. tatsächlich zugebilligt wird ("faktische" Sozialgeltung).

bb) Ehre als subjektives Phänomen Subjektiv bezeichnet "Ehre" die Vorstellung einer Person von ihrem eigenen Wert sowie ihr Interesse an (entsprechender) persönlicher Geltung im Urteil anderer ("Ehrgefühl", "Ehrbewußtsein"). Die zuerst genannte Komponente der Selbsteinschätzung, also "das Bewußtseyn des Menschen von seinem absoluten Werthe als Person"67, bildet dabei die Grundlage des individuellen Ehrempfindens. G. W. F. Hegel sah die "Vorstellung von sich selbst" dementsprechend als "den eigentlichen Inhalt der Ehre" an68. Die 64

Siehe//. Reiner, ebd., S. 21 f.

65

Vgl. K. Hörmann, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Moral, 1976, Sp. 304, 307 f.

m.z.N. 66

Siehe/: Hörmann, ebd., Sp. 305.

67

R J. Stahl, Die Philosophie des Rechts, Zweiter Bd., 4. Aufl. 1870, Erste Abtheilung, Drittes Buch, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, § 5, S. 316. 68

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik (1818-1829), Zweiter Teil, 3. Abschnitt, 2. Kapitel, 1 c, in: ders., Werke in 20 Bdn., redigiert von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, 1986, 14. Bd., S. 181; siehe auch ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Dritter Teil, Erste Abteilung, § 436, in: ders., Werke in 20 Bdn., redigiert von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, 1986, 10. Bd., S. 226 (Ehre als das "allgemeine Wi[ejder-

I. "Normbereich" und Struktur

171

zweite Komponente, das Streben des einzelnen nach Achtung und Anerkennung seiner Mitmenschen, baut darauf unmittelbar auf: Im Ehrverlangen einer Person findet ihr Selbstwertgefühl seinen auf die menschliche Gemeinschaft bezogenen Ausdruck.

(1) Ehre als Selbstachtung Eine Variante des subjektiven Ehrphänomens ist die auf das eigene Verhalten und die eigenen Vorstellungen bezogene Selbstachtung der Person69. Insoweit stellt sich die menschliche Ehre als eine "aus sittlicher Selbstreflexion erwachsene Gesinnung"70 dar: Der einzelne nimmt, gleichsam aus sich selbst heraustretend, zu sich selbst, zu seinem eigenen Wertsein und Verhalten (lobend oder tadelnd) Stellung71. Indem sie den einzelnen bewegt, unabhängig von der Meinung und vom Verhalten anderer das zu tun, "was er sich schuldig ist"72, erweist sich die Selbstachtung zugleich [erscheinen des Selbstbewußtseins"). - In der neueren Literatur zum strafrechtlichen Ehrbegriff hat vor allem E. A. Wolff, \ ZStW 81 (1969), 886,893,897 f., die Einsichten G. W F. Hegels in das Wesen der Ehre näher ausgewertet; vgl. sodann die eingehende Auseinandersetzung bei W.-H. Kiehl, Strafrechtliche Toleranz wechselseitiger Ehrverletzungen, 1986, S. 164 ff. 69

Vgl. dazu vor allem /. Eckstein, Die Ehre in Philosophie und Recht, 1889, S. 63 ff.; H Reiner, Die Ehre, 1956, S. 46 ff.; W Korff,\ Ehre, Prestige, Gewissen, 1966, S. 24 ff., 60 f., 81 ff.; E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 6. 70

W. Korff,; Ehre, Prestige, Gewissen, 1966, S. 84. Siehe W Korff, ebd., S. 60. - / / . Reiner, Die Ehre, 1956, S. 105, meinte daher, an die Stelle dieser Wesensform der Ehre ebensogut den Begriff des "Gewissens" setzen zu können; dagegen wiederum W. Korff\ Ehre, Prestige, Gewissen, 1966, S. 60 f. 71

72

Diesen Gedanken hat Th. Fontane in einem Gedicht (um 1850) eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht: "Es kann die Ehre dieser Welt Dir keine Ehre geben, Was dich in Wahrheit hebt und hält, Muß in dir selber leben. Wenn's deinem Innersten gebricht An echten Stolzes Stütze, Ob dann die Welt dir Beifall spricht, Ist all dir wenig nütze. Das flücht'ge Lob, des Tages Ruhm Magst du dem Eitlen gönnen; Das aber sei dein Heiligtum: Vor dir bestehen können."

172

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

als Antrieb zur Verwirklichung der ihm eigenen Würde 73. "Ehre" bezeichnet so gesehen eine innere, auf das Bewußtsein der eigenen Unbescholtenheit gegründete Haltung, die sich - von äußerer Anerkennung unabhängig74 - auch durch Mißachtung und Verunglimpfung nicht angefochten fühlt 75. Sie wird "zu etwas Innerstem im Menschen, zu einem Besitz, den ihm keiner nehmen"76, aber auch keiner geben77 kann: Als Achtung vor sich selbst kann die Ehre von außen, durch andere Menschen, weder vermittelt noch gefährdet werden78. Aus der Einsicht in die Unzerstörbarkeit dieser Form der Ehre durch andere und aus der Überzeugung von ihrem besonderen, den einzelnen vom Urteil anderer unabhängig machenden und damit seine Eigenständigkeit und Verantwortung begründenden Wert vermag sogar die Bereitschaft erwachsen, auf alles andere - auch auf die Hochschätzung durch Dritte - zu verzichten, nur eben auf diese "Ehre vor sich selbst" nicht. So erklärte etwa /. G. Fichte: "Es gibt etwas, das mir über alles gilt und dem ich alles andere nachsetze, von dessen Behauptung ich mich durch keine möglichere Folge abhalten lasse, für das ich mein ganzes irdisches Wohl, meinen guten Ruf, mein Leben, das ganze Wohl des Weltalls, wenn es damit in Streit kommen könnte, ohne Bedenken aufopfern würde. Ich will es Ehre nennen. Diese Ehre setze ich keineswegs in das Urtheil anderer über meine Handlungen, 73

Vgl. W. Korff,

Ehre, Prestige, Gewissen, 1966, S. 84.

74

Siehe / Eckstein, Die Ehre in Philosophie und Recht, 1889, S. 64: "Ehrlos und ungeehrt ist fürwahr nicht identisch." 75 In diesem Sinne heißt es in H. Sudermanns Schauspiel "Die Ehre" (1889), Vierter Akt, Zweite Szene: "Das, was Du Deine Ehre nennst, dieses Gemisch aus - Scham, aus - Taktgefühl, aus - Rechtlichkeit und Stolz, das, was Du Dir durch ein Leben voll guter Gesittung und strenger Pflichttreue anerzogen hast, kann Dir ... ebensowenig genommen werden wie etwa Deine Herzensgüte oder Deine Urteilskraft. Entweder sie ist ein Stück von Dir selbst, oder sie ist gar nicht..." 76

H. Reiner, Die Ehre, 1956, S. 48; siehe auch E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 6. 77 Vgl. /. Eckstein, Die Ehre in Philosophie und Recht, 1889, S. 65: "Allseits Geehrte haben oft 78 keine Ehre im Leibe." O. v.Bismarck hat dies in einer Reichstagsrede am 28. November 1881 so formuliert: "... meine Ehre steht in Niemandes Hand, als in meiner eigenen, und man kann mich damit nicht überhäufen; die eigene, die ich in meinem Herzen trage, genügt mir vollständig, und Niemand ist Richter darüber und kann entscheiden, ob ich sie habe. Meine Ehre vor Gott und den Menschen ist mein Eigenthum, ich gebe mir selbst so viel, wie ich davon glaube verdient zu haben, und verzichte auf jede Zugabe" (zit. nach Horst Kohl [Hrsg.], Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, Bd. 9, Neudruck der Ausgabe 1894,1970, S. 104,117).

I. "Normbereich" und Struktur

173

und wenn es das einstimmige Urtheil meines Zeitalters und der Nachwelt sein könnte, sondern in dasjenige, das ich selbst über sie fällen kann."79 Auch nach /. Kant kennt der "ehrliche Mann" "etwas, was er noch höher schätzt als selbst das Leben: nämlich die Ehre", während der "Schelm" "ein mit Schande bedecktes Leben doch immer noch für besser (hält), als gar nicht zu sein"80; und "daß der Mensch etwas haben und sich zum Zweck machen könne, was er noch höher schätzt als sein Leben (die Ehre), wobei er allem Eigennutz entsagt", beweist für ihn "doch eine gewisse Erhabenheit in seiner Anlage"81.

(2) Ehre als Geltungsbedürfnis Der zweite Schwerpunkt des subjektiven Ehrphänomens liegt auf dem Streben der Person nach Anerkennung von außen. Dieses Ehrverlangen ist ein Teil jenes seelischen Triebes, den die Psychologie als "Geltungsbedürfnis" oder "Geltungsstreben" bezeichnet und als "Temperamentsfaktor im sozialen Verhaltensbereich"82 herausgestellt hat. Das Mindeste, worauf das Geltungsverlangen abzielt, ist die einfache Beachtung83. Jeder Mensch möchte seiner Person und ihrem Dasein ein gewisses Mindestmaß an Aufmerksamkeit zugewandt sehen; keiner möchte von seinen Mitmenschen "übergangen" werden84. Hinzu tritt das (mehr

79

/. G. Fichte, Rechenschaft an das Publikum über seine Entfernung von Jena in dem Sommerhalbjahre 1795 (1795), in: I. H. Fichte (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte's Leben und literarischer Briefwechsel, Zweiter Bd., 2. Aufl. 1862, S. 43, 45 f. 80

/. Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Der Rechtslehre Zweiter Teil, Erster Abschnitt, Allgemeine Anmerkung E., hrsg. von K. Vorländer, Unveränderter Abdruck der 4. Aufl. 1922,1945, S. 161. 81

I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (2. Aufl. 1794), Erstes Stück, III., S. 28, Anm., hrsg. von K. Vorländer, Unveränderter Abdruck der 6. Aufl. 1956, 1961, S. 34, Anm. 82 G. Kauljush, in: W. Arnold/H. J. Eysenck/R. Meili (Hrsg.), Lexikon der Psychologie, 5. Aufl. 1988, Erster Bd., Sp. 715. 83 Ausführlich zum Zusammenhang von Achtung und Beachtung R v.Ihering, Der Zweck im Recht, Zweiter Bd., 5. Aufl. 1916, S. 398 ff. 84 Siehe H. Reiner, Die Ehre, 1956, S. 17. - Bereits der Säugling trägt dieses Bedürfnis in sich und bringt es unter Umständen (durch Schreien) sehr energisch zum Ausdruck. Aber auch Erwachsene hegen noch dasselbe Streben und suchen es bisweilen sogar mit ganz ähnli-

174

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

oder weniger stark ausgeprägte) Bedürfnis des einzelnen nach Würdigung seiner' persönlichen Eigenschaften und Verdienste. Individuelle Fähigkeiten, hervorragende Leistungen (oder auch Vermögenswerte) strebt der Mensch nicht nur um ihrer selbst willen an; volle Befriedigung erlangt er dabei häufig erst dann, wenn er in seinem Können, Leisten oder Besitzen zugleich auch von anderen (insbesondere den ihm Nahestehenden und seinen "Vorbildern") gesehen und darum angesehen wird 85 8 6 . Da sowohl das Selbstbewußtsein einer Person als auch der Spielraum ihrer Handlungsmöglichkeiten wesentlich davon abhängig sind, welche Wertschätzung sie von anderen erfährt 87, ist das Bedürfnis nach Anerkennung natürlich und (im rechten Maß) auch ethisch zu rechtfertigen 88. Nach christlicher Auffassung ist der Mensch sogar dazu verpflichtet, für seinen guten Ruf zu sorgen89. Die Übergänge zur übertriebenen Ehrsucht 90 sind

chen Mitteln durchzusetzen, etwa durch "schreiende" Farben oder andere auffällige Formen ihrer Kleidung (vgl. H. Reiner, a.a.O.). 85

Vgl. H. Reiner, ebd., S. 18.

86

Nach Aristoteles steht das Streben nach äußerer Anerkennung allerdings nicht im Vordergrund. Für ihn "scheint man die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, daß man gut sei. Man wünscht ja geehrt zu werden durch die Verständigen und durch jene, die einen kennen, und dies wegen der eigenen Tüchtigkeit. So ist eigentlich ... die Tüchtigkeit das höhere Ziel" {ders. [384 bis 322 v. Chr.], Die Nikomachische Ethik, Erstes Buch, 3. Kapitel, 1095 b 25-30, neu übersetzt mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von O. Gigon, 2. Aufl. 1967, S. 59 f.). Dagegen vertrat etwa A. Schopenhauer die Auffassung, daß "fast Alles, wonach Menschen, ihr Leben lang, mit rastloser Anstrengung und unter tausend Gefahren und Mühsäligkeiten, unermüdlich streben, zum letzten Zwecke hat, sich dadurch in der Meinung Anderer zu erhöhen" und daß "der größere Respekt Anderer das letzte Ziel ist, darauf man hinarbeitet" (ders., Aphorismen zur Lebensweisheit [1851], Kapitel IV., hrsg. von A Hübscher, mit einem Nachwort von E. Friedell, 1987, S. 50,52 f.). 87

Siehe M. Forschner, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Zweiter Bd., 1986, Sp. 150,150. 88 Vgl. M. Forschner, in: O. Höffe (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 3. Aufl. 1986, S. 40, 40. - Die aristotelische Bestimmung des sittlich geordneten Strebens nach Ehre dürfte insofern nach wie vorrichtungsweisendsein: Als "großsinnig" gilt danach, wer sich großer Dinge für würdig hält und es auch ist, Ehre allein nach Maßgabe seiner Verdienste beansprucht, sie nur bei verständigen Personen sucht und über eine Beleidigung gelassen hinwegsieht, vgl. Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.), Die Nikomachische Ethik, Viertes Buch, 7.-10. Kapitel, neu übersetzt mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von O. Gigon, 2. Aufl. 1967, S. 136 ff. 89

Siehe K. Hörmann, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der christlichen Moral, 1976, Sp. 304, 305 f. - Begründet wird diese Pflicht mit der Rücksicht auf jene Personen, die dem Menschen nahestehen und durch seinen schlechten Ruf Schaden erleiden würden; A. Augustinus sah die Rücksicht auf den Mitmenschen sogar als das Hauptmotiv des Strebens nach der An er ken-

I. "Normbereich" und Struktur

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freilich fließend und werfen bisweilen schwierige Abgrenzungsprobleme auf. Bei Zugrundelegung einer am persönlichen Ehrempfinden orientierten Ehrauffassung ist die Ehre mithin als individualpsychologischer Sachverhalt zu begreifen 91. Sie ist betroffen, wenn sich die Geltungserwartung des einzelnen nicht erfüllt; Ehrverletzung bedeutet hiernach Kränkung des Ehrgefühls92. Daß dieses Verständnis der Ehre nicht ganz unproblematisch ist, liegt auf der Hand: Das Ehrgefühl einer Person kann (je nach Selbsteinschätzung oder Empfindlichkeit) unangemessen stark oder schwach sein93 und scheidet als Schutzobjekt jedenfalls dann aus, wenn es um Äußerungen gegenüber Dritten geht, die dem Betroffenen nicht zu Ohren kommen94. Ob bzw. inwieweit sich das "Selbstverständnis" des Ehrträgers (gleichwohl) als Anknüpfungspunkt für eine (verfassungsrechtliche Begriffsbestimmung eignet, wird daher noch genauer zu prüfen sein95. nung anderer an, vgl. ders., Bekenntnisse (398), Zehntes Buch, XXXVII, 60, 62, vollständige Ausgabe eingeleitet und übertragen von W. Thimme, 1950, S. 292, 294. 90

Für A. Schopenhauer etwa "überschreitet der Werth, den wir auf die Meinung Anderer legen, und unsere beständige Sorge in Betreff derselben, in der Regel, fast jede vernünftige Bezweckung, so daß sie als eine Art allgemein verbreiteter, oder vielmehr angeborener Manie angesehn werden kann" (ders., Aphorismen zur Lebensweisheit [1851], Kapitel IV., hrsg. von A. Hübscher, mit einem Nachwort von E. Friedell, 1987, S. 50, 53 f.); für ihn ist es "ein allgemein herrschender Irrwahn", "viel zu viel Werth auf die Meinung Anderer zu legen" (a.a.O., S. 53). 91

Vgl. Κ Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 23. 92

In diesem Ehrverständnis klingt die Ehrauffassung der Germanen nach; für sie stand die subjektive Betroffenheit von Formen der Nicht- oder Mißachtung gegenüber der objektiven Beeinträchtigung im Vordergrund, vgl. dazu näher W.-H. Kiehl, Strafrechtliche Toleranz wechselseitiger Ehrverletzungen, 1986, S. 24 ff. m.z.N. - Ein literarischer Beleg der germanischen Ehrauffassung ist das (wohl um 700 am langobardischen Hof entstandene) "Hildebrand(s)lied" (Faksimile der Kasseler Handschrift mit einer Einführung von H. Broszinski, hrsg. vom Präsidenten der Gesamthochschule Kassel, 2. Aufl. 1985). 93 Siehe dazu etwa O. Graehl, Das Verhältnis der freien Meinungsäußerung zur persönlichen Ehre nach dem Grundgesetz, 1960, S. 119 f.; M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 49; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 15 f.; Κ Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 22. 94 Vgl. z.B. R E. Krug, Ehre und Beleidigungsfähigkeit von Verbänden, 1965, S. 99; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 14; Κ Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 22 f. 95

Siehe dazu unten b) bb).

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2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

b) Die Ehre "im Sinne des Grundgesetzes" Die vorstehende Zusammenstellung der wichtigsten Ausprägungen des Ehrphänomens hat das Spektrum deutlich werden lassen, in dem sich die gebotene inhaltliche Präzisierung des grundgesetzlichen Ehrenschutzes bewegen muß. Es konnte gewissermaßen das Material zusammengetragen werden, aus dem die inhaltliche Substanz des verfassungsrechtlichen Ehrbegriffs zu gewinnen sein wird. Im folgenden soll nun untersucht werden, welche der aufgezeigten Elemente, die wir heute in der Ehre "mitdenken", vom Grundgesetz aufgegriffen und damit zum Gegenstand des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes gemacht worden sind. Um die gestellte Aufgabe lösen zu können, bedarf es zunächst eines geeigneten verfassungsrechtlichen Maßstabes. Die Frage nach dem Inhalt des Rechts der persönlichen Ehre kann nicht aus sich selbst heraus beantwortet, sondern muß an der normativen Grundanlage des Grundgesetzes ausgerichtet werden. Als Anknüpfungspunkte kommen hierfür namentlich jene Prinzipien in Betracht, die den Verfassungsstaat als Typus und die staatliche Ordnung des Grundgesetzes (als Beispiel dieses Typus') konstituieren96: die Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG (und die sie konkretisierenden Menschenrechte) als seine "anthropologische Prämisse 1,97 sowie die Grundsätze des Art. 20 GG, hier vor allem das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip, als deren "staatsstrukturelle Konsequenzen" 98.

aa) Ehre als Persönlichkeitsrecht Vorrangig muß sich die inhaltliche Präzisierung des Rechts des persönlichen Ehre an der Idee der Menschenwürde99 und an dem durch sie fundier96

Formulierung in Anlehung an P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 35,59 f. 97 P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1,1987, S. 815, 843 Rn. 56; ders., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 35. 98

Vgl. P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, S. 815, 845 ff. Rn. 60 ff.; ähnlich ders., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 35 (freiheitliche Demokratie als "organisatorische Konsequenz"). 99 W. Graf Vitzthum, JZ 1985,201, 203, bezeichnet Art. 1 GG treffend als "grundrechtliches Interpretationsprinzip".

I. "Normbereich" und Struktur

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ten Gedanken persönlicher Entfaltungsfreiheit orientieren. Denn Maßstab aller verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen ist der Mensch; ihn hat das Grundgesetz in den Mittelpunkt seiner Regelungen gestellt100. Auch die vom Verfassunggeber in Art. 5 Abs. 2 GG vorgenommene Betonung des Rechts der persönlichen Ehre deutet darauf hin, daß bei der Bestimmung des grundgesetzlichen Ehrbegriffs in erster Linie auf die menschliche Persönlichkeit abzustellen ist 101 . Grundlage und "Kern"102 des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes ist danach die jedem Menschen von Natur aus zuteilgewordene persönliche Würde 103. Das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 GG) bezeichnet sie als unantastbar und räumt ihr damit den Rang einer "Fundamentalnorm"104 ein, die dem gesamten Recht vorgelagert ist 105 . Der dem einzelnen kraft seiner Würde zukommende sittlich-personale Geltungswert und der daraus resultierende Achtungsanspruch bilden dementsprechend das "Herzstück" des Rechts der persönlichen Ehre. Das bedeutet: Zum Inhalt des grundgesetzlichen Ehrbegriffs zählt jedenfalls der Anspruch der Person auf Achtung als Person. Jedermann hat das Recht auf Anerkennung dessen, was den eigentümlichen Wert des Menschen ausmacht; keiner darf einem anderen jene personalen Gegebenheiten absprechen, die es ermöglichen, daß jemand überhaupt Mitglied 100

So auch W. Schmitt Glaeser, Die Politische Meinung, 22. Jg. 1977, Heft Nr. 175, S. 5,5. In diesem Sinne hieß es bereits in Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemsee-Entwurfs zum Grundgesetz: "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen" (siehe K-B. v.Doemming/R W. Füsslein/W. Matz [Bearb.], JöR 1 [1951], 48,48). 101 Siehe O. Graehl, Das Verhältnis der freien Meinungsäußerung zur persönlichen Ehre nach dem Grundgesetz, 1960, S. 130; Κ Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 17; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 155. 102

Vgl. BVerfGE 75, 369, 380 (Karikatur); BGHSt (GrS) 11, 67, 71 (Beate Uhse); Ch. Starck, JZ 1981, 457, 459; ders., in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 1, Rn. 70,79, Art. 2 Abs. 1, Rn. 117; P. J. Tettinger, JZ 1983,317,319. 103

In diesem Sinne auch P. Häberle, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 1987, S. 815, 828 Rh. 20: "Ehrenschutz als Ausfluß personaler Würde". 104 /. P. Müller, Die Grundrechte der Verfassung und der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts, 1964, S. 131; W. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde, 1968, S. 9.; Κ Stern, in: FS für H. U. Scupin, 1983, S. 627,632 f. m.z.N. 105

Siehe A. Schüle, in: A. Schüle/H. Huber, Persönlichkeitsschutz und Pressefreiheit, 1961,

S.1,11. 12 Mackeprang

178

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

menschlicher Gemeinschaft sein kann106. Denn der in jedem Einzelmenschen realisierte Personenwertstand gehört zu jenem Bestand an Gütern, denen die (Verfassungs-)Rechtsordnung die Anerkennung als Schutzgut nicht versagen darf 107: Die im Bekenntnis zur Menschenwürde zum Ausdruck gebrachte Personhaftigkeit des Menschen ist Grund wert und Grundnorm 108. Mit dem Schutz des auf ihr beruhenden Achtungsanspruchs sichert die Rechtsgesellschaft dem einzelnen unmittelbar das existenznotwendige Ehrenminimum 109. Zwar kann durch die Versagung der dem Menschen kraft seines Menschseins (und der damit verbundenen Würde) a priori zustehenden Achtung der Personenwertstand als solcher durch Dritte an sich nicht verletzt werden; wohl aber können dadurch die Chancen des einzelnen, sich seinem personalen Wertstand gemäß zu entwickeln, beeinträchtigt werden110. Und die prinzipielle Möglichkeit, sich seinem Personenwertstand entsprechend entfalten zu können, gehört ebenfalls zum Wesen des Menschen als einer grundsätzlich freien Person: "Würde und Freiheit ... sind Korrespondenzphänomene"111; um seiner Würde willen ist dem Menschen wesenstypisch personale Freiheit gewährt. "Freiheit ist das Urelement der Personalität, das spezifische Humanuni."112 "Person" sein heißt mithin auch, das Leben, in das man hineingestellt ist, kraft eigener Einsicht und Entscheidungsfähigkeit selbstgestaltend verwirklichen zu können113. Zen106

Vgl.//. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71,74.

107

Siehe W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41, 42 Rn. 1, unter Verweis auf Η Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 41 ff., 70 ff. 108 Vgl. Κ Stern, in: FS für H. U. Scupin, 1983, S. 627,630. 109

Siehe dazu schon oben a) aa) (1) (a). - Da alle derzeit vertretenen Ehrbegriffe von dieser gemeinsamen Grundlage ausgehen, ist heute unstreitig, daß es keinen Menschen gibt, dessen Ehre nicht verletzt werden könnte; das gilt für den Geisteskranken ebenso wie für den notorischen Verbrecher, vgl. etwa O. Graehl, Das Verhältnis der freien Meinungsäußerung zur persönlichen Ehre nach dem Grundgesetz, 1960, S. 125 f.; M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 51 f.; H. /. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 51 mit Fn. 23; Κ Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 47 f.; Η Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71, 75. 110 Vgl.//. Otto, ebd., S. 74. 111

W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,55 Rn. 23. 112

Κ Stern, in: FS für H. U. Scupin, 1983, S. 627,640.

113

Siehe K. Stern, ebd., S. 627.

I. "Normbereich" und Struktur

179

traies Schutzgut (und Mindestinhalt) des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes ist daher eigentlich jenes "Anerkennungsverhältnis"114, das die Möglichkeit des einzelnen begründet, sich selbst als Persönlichkeit entfalten zu können. Die (Verfassungs-)Rechtsordnung kann sich mit der Verbürgung dieses (allen Menschen stets und in gleicher Weise zustehenden) Achtungsanspruchs jedoch nicht begnügen. Gegenstand des grundgesetzlichen Schutzes der persönlichen Ehre muß auch der individuelle Geltungswert sein, den sich der einzelne durch die Realisierung seiner Entfaltungsmöglichkeiten in Freiheit und Selbständigkeit erworben hat. Denn die dem Menschen kraft und um seiner Würde willen gesicherte Chance zu möglichst weitgehender Entfaltung seiner Persönlichkeit115 bliebe unvollkommen und ohne Wert, wenn ihm nicht auch die verschiedenen Erträge wahrgenommener Persönlichkeitsentfaltung - gleichsam als "geronnene Freiheit" 116 - belassen und dem Schutz des Grundgesetzes unterstellt würden. Eine Verfassung, die die eigenverantwortliche Tätigkeit des Individuums unter ihren (Wert-)Schutz stellt, muß in gleichem Maße auch das Ergebnis dieser Tätigkeit schützen117. Wäre es anders, so würde die persönliche Entfaltungsfreiheit praktisch rückwirkend wieder aufgehoben und wäre die freiheitliche Betätigung des Menschen als Lebensvorgang sinnlos. Der einzelne realisiert die ihm eigenen, mit der Anerkennung seiner Personenwürde eröffneten Möglichkeiten personaler Entfaltung, indem er in tätiger Auseinandersetzung mit der Umwelt Einfluß auf diese nimmt und sich zugleich an ihr ausrichtet118. Auf diese Weise findet er seinen Platz in der (Rechts-)Gesellschaft, mißt sich selbst an anderen und wird von diesen gemessen119. Das tatsächliche Verhalten einer konkreten Person beeinflußt mithin Bestand und Umfang ihres Geltungsanspruchs ebenso, wie umgekehrt die Wertschätzung anderer ihre Entfaltung fördern 114

E. A. Wolff, i ZStW 81 (1969), 886,899 und passim.

115

Vgl. BVerfGE 5,85,204 (KPD).

116

So G. Dürig für das Eigentum, vgl. ders., in: FS für W. Apelt, 1958, S. 13, 31, sowie ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 3 Abs. I (1973), Rn. 141. - Weiterführend P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 404 ff. 117

Siehe G. Düng, in: FS für W. Apelt, 1958, S. 13,27.

118

Vgl. H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71,75.

119

Siehe//. Otto, ebd.

12 *

180

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

(oder auch behindern) kann. In diesem Sinne ist der dem Menschen kraft (und nach Maßgabe) seines persönlichen Verhaltens zukommende individuelle Geltungswert unmittelbarer immaterieller Freiheitsertrag und muß als solcher vom verfassungsrechtlichen Ehrbegriff mitumfaßt sein. Steht damit fest, daß Gegenstand des grundgesetzlichen Schutzes der persönlichen Ehre nicht nur jenes Mindestmaß an gegenseitiger Achtung sein kann, das Voraussetzung dafür ist, daß sich der Mensch überhaupt personal entfalten kann, sondern daß auch diejenige Achtung (verfassungs-) schutzwürdig (und -bedürftig) ist, die sich der einzelne durch die konkrete Wahrnehmung seiner Entfaltungsmöglichkeiten erworben hat, so fehlen doch immer noch die Kriterien, anhand derer sich dieser individuelle Geltungswert ermitteln läßt. Hierfür allein (oder in erster Linie) auf sittliche (Verhaltens-)Kategorien zurückzugreifen, würde eine unzulässige Einengung des Wertungshorizontes bedeuten. Abgesehen davon, daß in einer weltanschaulich-konfessionell pluralistisch strukturierten Gesellschaft 120 jeder Versuch, eine allgemeine Sittenordnung fest- (oder gar aufzustellen, erheblichen Schwierigkeiten ausgesetzt sein müßte, könnte der individuelle Geltungswert einer Person auf diese Weise nur unvollständig erfaßt werden. Der Vorgang personaler Entfaltung erschöpft sich nämlich nicht in der Erfüllung (oder Nichterfüllung) sittlicher Forderungen, sondern umfaßt die menschliche Persönlichkeit in der gesamten Breite und Tiefe ihres Daseins121. Sachgerechter erscheint es daher, (weitergehend) auf die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft abzustellen, und den aus ihr fließenden sozialen Geltungswert als Schutzobjekt des grundgesetzlich verbürgten Rechts der persönlichen Ehre zu begreifen 122. (Verfassungs-)Rechtlich

120 Zum Grundsatz der "weltanschaulich-religiösen Neutralität" des Staates siehe BVerfGE 10,59, 85 (Stichentscheid); 12,1, 4 (Tabak für Kirchenaustritt); 18, 385,386 (Kirchengemeindeteilung); 19, 1, 8 (Gerichtsgebührenfreiheit für die Neuapostolische Kirche); 19, 206, 216 (Kirchensteuerpflicht für juristische Personen); 24, 236, 246 (Aktion Rumpelkammer). Grundlegend auch Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 178 ff.: "Prinzip der Nicht-Identifikation".

121

Vgl. dazu R Scholz, AöR 100 (1975), 80,91 f. - G. Düng, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 Abs. I (1958), Rn. 11, spricht von der "menschliche(n) Vollexistenz auf allen Lebensbereichen"; ähnlich auch schon ders., JZ 1957,169,170. 122

Insofern trifft die bundesverfassungsgerichtliche Formulierung vom verfassungsrechtlich geschützten "soziale(n) Wert- und Achtungsanspruch" die Sache durchaus, vgl. etwa

I. "Normbereich" und Struktur

181

verbürgt werden kann freilich nur der begründete, d.h. der der konkreten Weise ihrer Persönlichkeitsentfaltung entsprechende soziale Geltungswert einer Person, nicht etwa (auch) eine unbegründete, ihr aber von der Gesellschaft tatsächlich entgegengebrachte Wertschätzung123. Andernfalls geriete der Ehrenschutz in vielen Fällen zum bloßen "Attrappen"schutz124. Zusammenfassend läßt sich somit festhalten: Mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der persönlichen Ehre sichert die Rechtsgesellschaft unmittelbar wichtige Aspekte der menschlichen Persönlichkeit. Gewährleistet wird zum einen der Anspruch der Person auf Achtung als Person - als unabdingbare Voraussetzung personaler Entfaltungsfreiheit, zum anderen die je individuelle Werthaftigkeit, die sich der einzelne durch die konkrete Wahrnehmung seiner Entfaltungsmöglichkeiten in der Gesellschaft erworben hat - als immaterieller Freiheitsertrag. Unter "Ehre" (im Sinne des Grundgesetzes) ist daher zunächst der dem einzelnen kraft seines Menschseins und der damit verbundenen Würde a priori zustehende sittlich-personale Geltungswert, sodann aber auch der von ihm nach Maßgabe seines individuellen Verhaltens (wohl)erworbene soziale Geltungswert zu verstehen. Der Umstand, daß sich der verfassungsrechtliche Ehrbegriff derart in zwei Komponenten aufschlüsseln läßt, hat dazu geführt, daß in der Literatur überwiegend von einer "Doppelspurigkeit" des grundgesetzlichen Ehrenschutzes ausgegangen wird. Unter Bezugnahme auf die im Strafrecht vorherrschende Unterscheidung zwischen "innerer" und "äußerer" Ehre 125 wird die (grund)rechtliche Sicherung der (statisch-konstanten) "Menschenehre" allein bei Art. 1 Abs. 1 GG angesiedelt, während der Schutz der (dynamisch-variablen) "Sozialehre" ausschließlich (oder doch wenigstens primär) durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet sein soll126. Ein solch formaBVerfGE 30, 173, 193, 195 (Mephisto); 72, 105, 116 (Aussetzung lebenslanger Freiheitsstrafe). 123

"Ehre, dem die Ehre gebührt" (Brief des Paulus an die Römer, 13,7).

124

Siehe H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 17. - Gleichwohl ist der de facto anerkannte (positive) soziale Geltungswert einer Person verfassungsrechtlich nicht ohne Bedeutung; damit der grundgesetzliche Ehrenschutz seiner Funktion, die Entfaltungsmöglichkeiten und -ertrage des einzelnen zu gewährleisten, gerecht werden kann, muß seine Begründetheit zugunsten des Ehrträgers vermutet werden, vgl. dazu näher unten II. 2. b) und III. 1. 125

126

Vgl. dazu schon oben Erster Teil Α. I.

Siehe insbesondere £ Schmid , Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 40 f.; P. I Tettinger, JZ 1983, 317, 319 f.; iL Stern, in: FS für H. Hübner,

182

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

les Vorgehen verkennt jedoch die Komplexität des Ehrphänomens als Ausfluß der menschlichen Persönlichkeit: Der Geltungswert des einzelnen kann nicht derart in "innere" und "äußere" Bestandteile zerlegt werden, daß sich eine eindeutige Zuordnung der einzelnen Elemente zu Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 1 GG vornehmen ließe127. So wird man etwa die (im Anschluß an H. Hubmann 128) regelmäßig als Beispiel für eine (schwerwiegende) Verletzung der Menschenwürde angeführte Bezeichnung eines anderen als "Tier" 129 ebensogut als Beeinträchtigung des sozialen Geltungswertes des Betroffenen qualifizieren können. Richtiger dürfte es deshalb sein, von einem einheitlichen verfassungsrechtlichen Schutz der persönlichen Ehre auszugehen, der als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes insgesamt von der Gewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG umfaßt wird. Freilich muß diese Bestimmung dann ihrerseits wiederum stets "in Verbindung mit" Art. 1 Abs. 1 GG gesehen und interpretiert werden: "In der Menschenwürde hat das umfassende Freiheitspostulat seine Wurzel und von daher bekommt es die 'Richtung'"130. Auch das Recht der persönlichen Ehre erhält seinen (materiellen) Wertgehalt - wie gesehen - aus Art. 1 Abs. 1 GG. Rechtsdogmatisch muß aber deutlich werden, daß die Menschenwürdegarantie hier nicht als subjektives Recht neben Art. 2 Abs. 1 GG herangezogen wird, sondern "nur" als (objektiv-rechtliche) Interpretationsrichtlinie fungiert 131. 1984, S. 815, 824 f.; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 24; Hartmut Krüger, WissR 1986,1,12 f.; G. Gornig, JuS 1988, 274, 278 mit Fn. 59; a.A G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 158 ff., der den grundgesetzlichen Ehrenschutz allerdings insgesamt aus Art. 1 Abs. 1 GG ableiten möchte; ebenso (wohl) auch A. Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 3. Aufl. 1989, S. 454, 464, der meint, Art. 1 Abs. 1 GG umfasse "den Schutz der Ehre im weitesten Sinne". 127

Vgl. G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 160 f. 128 Siehe ders., Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 292. 129

Vgl. etwa Κ Schmid , Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 47; P. J. Tettinger, JZ 1983, 317, 319; Hartmut Krüger, WissR 1986,1,12. - Ein "klassisches" Beispiel aus der Rechtsprechung ist BGHZ 39, 124, 127 (Fernsehansagerin): Bezeichnung einer Ansagerin des Senders Freies Berlin als "ausgemolkene Ziege". Amüsant W. Beaumont , AnwBl. 1987,296,296. 130 W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,55 Rn. 23. 131 Vgl. Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 2 Abs. 1, Rn. 11, 40. - Das schließt freilich nicht aus, daß bei entwürdigenden und

I. "Normbereich" und Struktur

183

bb) Insbesondere: Zur Relevanz des Selbstverständnisses des Ehrträgers Zu klären bleibt, ob bzw. inwieweit auch das subjektive Ehrempfinden des einzelnen bei der inhaltlichen Präzisierung des grundgesetzlichen Ehrenschutzes Berücksichtigung finden kann (oder gar muß). Grundrechtstheoretisch ist damit die Frage nach der Relevanz des "Selbstverständnisses" des Betroffenen bei der Auslegung seiner Freiheitsrechte aufgeworfen 132. Die tatsächliche Bedeutung, die der Vorstellung des einzelnen vom Inhalt und von der Reichweite seiner Grundrechte im Leben des Gemeinwesens zukommt, steht dabei außer Zweifel 133: "Wer die Norm 'lebt', interpretiert sie auch (mit). Jede Aktualisierung der Verfassung (durch jeden) ist mindestens ein Stück antizipierter Verfassungsinterpretation. 11134 Offen ist hingegen ihre (verfassungs)rec/ii//c/ie Bedeutung. Eingang in die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fand die Argumentationsfigur des "Selbstverständnisses" zunächst135 bei der Auslegung der Art. 4 und 140 GG (in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 WRV). Nach Auffassung des Gerichts darf das Selbstverständnis der Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften bei "der Würdigung dessen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion und Weltanschauung zu betrachten ist, ... nicht außer Betracht bleiben"136. In der Folgezeit ist der Anwendemüdgenden Ehrverletzungen, insbesondere wenn sie systematisch erfolgen, zusätzlich (!) auch noch ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG vorliegen kann, vgl. dazu vor allem G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. I (1958), Rn. 41. 132

Siehe dazu vor allem P. Häberle, DÖV1969, 385,386 ff.; ders., JZ 1975,297,298; ders., in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978, S. 121,124,130 f.; ders., Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 362; J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 12 ff. 133

Vgl. /. Isensee, ebd., S. 22.

134

P. Häberle, JZ 1975,297,297.

135

Erste Ansätze zur Anerkennung einer (begrenzten) Auslegungsrelevanz des Selbstverständnisses der Grundrechtsberechtigten finden sich allerdings auch schon in der Rechtsprechung des Gerichts zum Grundrecht der Berufsfreiheit, siehe dazu bereits BVerfGE 7, 377, 399 (Apothekenurteil): Verschiedenheit der Apothekerberufe "nach allgemeiner Anschauung wie136 nach dem Urteil der Berufsangehörigen selbst". BVerfGE 24, 236, 247 (Aktion Rumpelkammer); ebenso oder ähnlich dann auch BVerfGE 42, 312, 336 f. (Bremer Mandatsstreit); 46, 73, 85, 95 (Goch); 53, 366, 392 f., 401 (Kirchliche Krankenhäuser); 66,1, 22 (Konkursausfallgeld); 70,138,162 f., 167 (Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer); 72, 278, 289 (Kirchenfreiheit im Bereich der Berufsbildung). - In der Literatur wird die Auslegungsrelevanz des kirchlichen Selbstverständnisses

184

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

dungsbereich des "Selbstverständnisses" dann allerdings zunehmend über den Bereich des Staatskirchenrechts hinausgewachsen und (ausdrücklich oder implizit) auch auf andere Gebiete erstreckt worden137.

Für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse ist die Tatsache, daß das Gericht die Relevanz des Selbstverständnisses gerade auch für das durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistete "allgemeine Persönlichkeitsrecht" in aller Deutlichkeit herausgestellt hat. Im "Eppler-Beschluß"138 bejahte es ein umfassendes Recht des einzelnen, in dem von sich selbst definierten sozialen Geltungsanspruch nicht beeinträchtigt zu werden und betonte, daß es nur Sache der einzelnen Person selbst sein könne, über das zu bestimmen, was ihren sozialen Geltungsanspruch ausmachen soll139; insoweit werde der Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts maßgeblich durch das Selbstverständnis seines Trägers geprägt 140. Diese Formulierung scheint ganz offensichtlich dafür zu sprechen, daß (auch) bei der Inhaltsbestimmung des Rechts der persönlichen Ehre entscheidend auf die subjektive Sicht des betroffenen Individuums abzustellen ist. Zu beachten ist aber, daß das Bundesverfassungsgericht im "Fall Eppüberwiegend bejaht, vgl. dazu die Übersicht bei J. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 13 Fn. 7. 137

Siehe etwa BVerfGE 32,98,106 (Gesundbeter), und BVerfGE 33,23,28 (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen): "Recht des Einzelnen,... seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln"; BVerfGE 35, 366, 376 (Kreuz im Gerichtssaal): Beschwerdeführer haben "ernstliche, einsehbare Erwägungen vorgetragen, von deren näherer Erörterung mit Rücksicht auf die Regelung in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 3 WRV abgesehen wird"; BVerfGE 44,322,348 (Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen): "Selbstverständnis der Koalitionen" von der Reichweite der Tarifautonomie und deren grundrechtlicher Basis. Sogar bei der Auslegung von Kompetenzvorschriften wird auf das "Selbstverständnis" Bezug genommen, vgl. BVerfGE 33,125,154 (Facharzt): "Selbstverständnis der Ärzte" vom Kompetenzbegriff "ärztliche Heilberufe" in Art. 74 Nr. 19 GG. 138 BVerfGE 54,148 ff. 139

Vgl. BVerfGE 54, 148,155 f. (Eppler); ebenso dann auch BVerfGE 63,131,142 (Gegendarstellung); BVerfG (Kammer) NJW 1989,1789,1789 (Rasterfahndung). 140

Siehe BVerfGE 54,148,156 (Eppler), mit Hinweis auf die Rechtsprechung zur Kultusfreiheit in BVerfGE 24,236,247 f. (Aktion Rumpelkammer). - In der Literatur wird die Relevanz des Selbstverständnisses des Grundrechtsberechtigten darüber hinaus vor allem bei den (dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht als Ausdruck personaler Entfaltung besonders eng benachbarten) Grundrechten des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG diskutiert, siehe P. Häberle, AöR 110 (1985), 577, 598 f. (für die Kuristfreiheit), sowie ders., AöR 110 (1985), 329, 357 (für die Wissenschaftsfreiheit).

I. "Normbereich" und Struktur

185

1er" die Möglichkeit einer Ehrverletzung ausdrücklich verneinte und deshalb zu dem Ergebnis kam, daß der der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegende Sachverhalt dieser Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht unterfiel 141. Die anschließend für den grundrechtlichen Schutz vor der Unterschiebung nicht getaner Äußerungen entwickelten Grundsätze können daher nicht ohne weiteres auf das Recht der persönlichen Ehre übertragen werden. Der Umstand, daß das Gericht in diesem Zusammenhang (gleichwohl) von (der Möglichkeit) einer Beeinträchtigung des "sozialen Geltungsanspruchs" des Beschwerdeführers sprach, scheint zudem (auf den ersten Blick) den soeben gefundenen Ehrbegriff wieder in Frage zu stellen, soll doch danach unter "Ehre" (im Sinne des Grundgesetzes) gerade (auch) der "soziale Geltungswert" einer Person verstanden werden. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß darin kein Widerspruch liegt. Der verfassungsrechtlich verbürgte soziale Geltungsö/tspn/c/i einer Person beinhaltet nämlich nicht nur ihren sozialen Geltungswrr (die "Ehre"), sondern auch die (geltungs)wert-neutralen Bestandteile ihres Persönlichkeitsbildes142 - sozusagen das gesamte "soziale Geltungsò/M" der Person. Das von E . Eppler beanstandete Verhalten konnte sich daher durchaus als Beeinträchtigung seines sozialen Geltungsanspruchs darstellen, ohne zugleich (auch) seine persönliche Ehre zu verletzen. Berühren aber umgekehrt Ehrverletzungen stets auch den sozialen Geltungsanspruch des Betroffenen, so müßte - nach den Grundsätzen des "Eppler-Beschlusses" - konsequenterweise auch bei der Bestimmung des Ehrbegriffs maßgeblich auf die "Selbstdefinition" des Ehrträgers abzustellen sein. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum werden dagegen alle am persönlichen Ehrempfinden des einzelnen orientierten ("subjektiven") Ehrbegriffe (heute143) fast ausnahmslos abgelehnt144. Lediglich Λ Wellbrock 141

hat

Vgl. BVerfGE 54,148,154 (Eppler).

142 143

Zum Begriff des "Persönlichkeitsbildes" siehe bereits oben Erster Teil A. III. 2. Fn. 138.

Eine Ubersicht über ältere Richtungen, die den Ehrbegriff ausschließlich als "subjektive Ehre" verstehen wollten, gibt H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 2 Fn. 3. 144 Siehe etwa£ Binding, Die Ehre und ihre Verletzbarkeit, 2. Aufl. 1892, S. 13; W. Sauer, Die Ehre und ihre Verletzung, 1915, S. 59 ff.; O. Graehl, Das Verhältnis der freien Meinungsäußerung zur persönlichen Ehre nach dem Grundgesetz, 1960, S. 119 f.; M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 49; ders., JZ 1963, 314,315; H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 289; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 14 ff.; E. A. Wolff, ZStW 81 (1969), 886, 887; H. Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 304; K. Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtli-

186

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

sich - soweit ersichtlich - in neuerer Zeit für ein Verständnis der Ehre als "subjektives Ehrgefühl" eingesetzt145. Die gegenüber dieser Auffassung geäußerte Kritik, das Ehrgefühl einer Person könne unangemessen gut oder schlecht sein und ließe zudem Kinder und Geisteskranke schutzlos146, hält sie für unzutreffend. Soweit die Betroffenen nicht (oder nur in eingeschränktem Maße) in der Lage seien, eine Vorstellung von sich selbst zu entwickeln und ihrer Inanspruchnahme von Ehrenschutz zugrunde zu legen, bedürfe es eben - wie auch in anderen Rechtsbereichen - eines Vertreters, und das Problem eines unangemessen guten subjektiven Ehrgefühls muß ihrer Meinung nach im Rahmen der Frage gelöst werden, wann eine rechtswidrige Ehrverletzung vorliegt 147. Vor allem die zweite These vermag indessen nicht zu überzeugen. Das grundsätzliche Problem, dem R. Wellbrock mit ihrem Verständnis des Ehrbegriffs ausweichen möchte, nämlich, "daß der Staat Handlungen und Gesinnungen wertet in einem Bereich, der dem Einzelnen bewußt zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft überlassen ist"148, wird von ihr letzten Endes nur auf die Ebene der Rechtswidrigkeit bzw. - verfassungsrechtlich gesprochen - auf die Ebene der "Schranken" des Rechts der persönlichen Ehre verlagert. Abgesehen davon, daß damit für den Ehrenschutz im Ergebnis nichts "gewonnen" ist, unterliegt eine solche Vorgehensweise auch (grundrechts)theoretischen Bedenken. Denn es ist "nicht nur ein Gebot dogmatischer Folgerichtigkeit, sondern auch ein Gebot der Redlichkeit, daß der Verfassungsinterpret nicht auf der Ebene der Grundrechtsschranken (einen Großteil dessen

eher Ehrenschutz, 1972, S. 22 f.; /. Tenckhoff, Die Bedeutung des Ehrbegriffs für die Systematik der Beleidigungstatbestände, 1974, S. 101 ff., 164 ff.; G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 15 f.; P. J. Tettinger, JZ 1983, 317, 320; Κ Geppert, Jura 1983, 530, 532 f.; U. Brauel, Ehiverletzung und Ehrenschutz im politischen Leben, 1984, S. 35; Κ. E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 152; G. Gomig, JuS 1988,274,278. 145

Siehe R Wellbrock, Persönlichkeitsschutz und Kommunikationsfreiheit, 1982, S. 35 ff. Vgl. dazu vor allem O. Graehly Das Verhältnis der freien Meinungsäußerung zur persönlichen Ehre nach dem Grundgesetz, 1960, S. 119 f.; M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 49; H. J. Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 15 f.; K. Schmid, Freiheit der Meinungsäußerung und strafrechtlicher Ehrenschutz, 1972, S. 22. 146

147

Siehe R Wellbrock, Persönlichkeitsschutz und Kommunikationsfreiheit, 1982, S. 42. Vgl. R Wellbrock, ebd., S. 41.

148

I. "Normbereich" und Struktur

187

wieder) zurücknimmt, was er auf der Ebene des Schutzbereichs eingeräumt hat. Der Verfassungsstaat darf mit den Grundrechten keine Verheißungen) verbinden, die er im Ernstfall nicht einzulösen gedenkt"149; (Verfassungs-)"Enttäuschungen" wären sonst "vorprogrammiert". Im übrigen ist zu beachten, daß verfassungsrechtliche Begriffe durch eine allzu starke Einbeziehung subjektiver Elemente nicht in Beliebigkeit aufgelöst werden dürfen 150. Der Staat kann die Grundrechte seiner Bürger nicht schützen, wenn er nicht in der Lage ist, ihren Umfang zu bestimmen. Darüber hinaus ist mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es auch mit der Allgemeinheit und Gleichheit der Freiheitsrechte unvereinbar wäre, bei der Festlegung ihres Inhalts und ihrer Reichweite allein (oder in erster Linie) auf das Selbstverständnis der Betroffenen abzustellen151. Bei der Bestimmung des verfassungsrechtlichen Ehrbegriffs kann der subjektiven Sicht des Ehrträgers daher keine verbindliche Bedeutung zukommen; was Gegenstand des grundgesetzlichen Ehrenschutzes ist, muß vielmehr letztlich im Wege einer objektivierenden Auslegung ermittelt werden. Das bedeutet jedoch nicht, daß das persönliche Ehrempfinden des einzelnen als "quantité négligeable" betrachtet werden dürfte 152. Namentlich in Zweifelsfällen kann es durchaus wertvolle Orientierungshilfe leisten, vor allem dann, wenn es sich mit den Vorstellungen weiter Kreise deckt und Dauer nachweist153. So können etwa die besonderen Anschauungen und Wertvorstellungen, denen ausländische Mitbürger wegen ihrer Bindung an eine fremde Kultur verhaftet sind, bei der Präzisierung des ihnen zukommenden Ehrenschutzes nicht völlig außer Betracht bleiben. Daß dabei allgemeine Wertmaßstäbe anzulegen sind, schließt nicht aus, auch die individuelle Sicht der Betroffenen in die Bewertung (mit)einzubeziehen154. Das "Selbstverständnis" der Ehrträger kann in diesem Sinne "Hilfsmittel der

149 1 5 0/.

Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 31. Siehe E. Schmidt-Assmann, AöR 106 (1981), 205,209.

151

Vgl./. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 36.

152

H. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 289, weist zu Recht darauf hin, daß auch das Ehrgefühl einer Person "nicht ohne Not verletzt werden soll"; allgemein zum rechtlichen Schutz des Gefühls- und Seelenlebens ders., ebd., S. 256 ff. 153 Siehe/. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 59. 154

Ahnlich - wenn auch in einem anderen Zusammenhang - BGH (St) NJW 1980, 537, 537 (Ehre türkischer Mitbürger).

188

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

objektivierenden Auslegung sein: nicht verbindlicher Maßstab, aber mögliche Erkenntnisquelle"155.

cc) Ehre als Fundament verfassungsstaatlicher Gemeinschaft Der zweite zentrale Anknüpfungspunkt für die gebotene inhaltliche Präzisierung des grundgesetzlichen Ehrenschutzes sind die Prinzipien des Art. 20 GG, die - ebenso wie die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG - durch die "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 Abs. 3 GG der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen sind. In einem Gemeinwesen, das die durchgehende Verbundenheit seiner Mitglieder voraussetzt und nicht nur als Bestand isolierter Individuen verstanden wird, denen der Staat und seine Institutionen lediglich notwendige Versorgungsleistungen zu gewähren haben156, muß die begriffliche Erfassung des Rechts der persönlichen Ehre auch an der Frage ausgerichtet werden, unter welchen Gesichtspunkten der Achtungsanspruch des einzelnen zum Kernbestand der für das soziale Miteinander schlechthin unverzichtbaren Normen zu zählen ist und sich Verletzungen dieses Achtungsanspruchs daher zugleich als Angriff auf die Existenzgrundlagen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates darstellen. Ein demokratisch strukturiertes Gemeinwesen ist auf die freie und gleichberechtigte Mitwirkung seiner Bürger am geistigen, sozialen und politischen Leben, an der "Vorformung des politischen Willens"157 und an der unmittelbaren politischen Willensbildung des Volkes158 angewiesen. Der ständige "Prozeß gemeinsamen menschlichen Handelns, in dessen Verlauf die vielfältigen und verschiedenartigen Ideen und Interessen zu einem Ausgleich gebracht und mit dem Ziel politischer Einheitsbildung zu einem einheitlichen Wirken und Handeln verbunden werden"159 (sollen), setzt gesell-

155

/. Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980, S. 59; in diesem Sinne auch Η Bethge, UFITA 95 (1983), 251,266. 156

Vgl. H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71,74.

157 158

U. Scheuner, Zeitschrift für evangelische Ethik 1 (1957), 30,34.

Siehe K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. 159 Aufl. 1988, Rn. 288. W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 49, 50 Rn. 2, unter Verweis auf R Smend, Ver-

I. "Normbereich" und Struktur

189

schaftliches Handeln und gesellschaftliche Unterstützung zwingend voraus160. Das Grundgesetz normiert die grundrechtlichen Freiheiten der Bürger daher nicht nur als Abwehr-, sondern auch als "Gestaltungsrechte, die es dem einzelnen ermöglichen, am politischen Leben der staatlichen Gemeinschaft mitzuwirken und die eigenen Vorstellungen und Werte bei der Ausformung des Gemeinwesens einzubringen"161. Namentlich die sogenannten Kommunikationsgrundrechte eröffnen dem einzelnen - neben der Sicherung einer Sphäre privater Beliebigkeit - die Möglichkeit freigestaltender Teilnahme an der politischen Willensbildung (in) der Gesellschaft 162 und sind damit für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung "schlechthin konstituierend"163. Von (mindestens) ebenso großer Bedeutung für den (Volks-)Willensbildungsprozeß und seine herrschaftslegitimierende Funktion in der Demokratie ist aber der Ehrenschutz: "Die persönliche Ehre besteht neben der Meinungsfreiheit. Sie ist wie diese eine Bedingung staatlicher Einheit."164 Die Sicherstellung der gegenseitigen Achtung der Mitglieder der Rechtsgesellschaft ist unabdingbare Voraussetzung dafür, daß alle Bürger gleichberechtigt am "Wettbewerb um die (nicht vorgegebene oder verordnete) 'richtige' Ansicht teilnehmen"165 können166 und "das Entstehen geschlossener Meinungsmärkte und Eliten verhindert wird" 167. Der Integration168 erfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff., und H. Heller, Staatslehre (1934), 6. Aufl. 1983, S. 59,62 ff., 259 ff. 160

Vgl. Κ Hesse, DÖV1975,437,441.

161

W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 49,51 f. Rn. 3. 162

Siehe W. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968, S. 104 f. 163 Grundlegend BVerfGE 7,198,208 (Lüth). 164

P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 37; ähnlich Κ Geppert, JR 1985,430,432: "Unser freiheitlicher Rechtsstaat lebt konstitutiv... auch von der Achtung seiner Bürger untereinander" (Hervorhebung durch den Verfasser). 165

W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 49,61 Rn. 24. 166

Prägnant H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989, S. 257:167 "Demokratie als Entdeckungsverfahren". W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 49,61 Rn. 24. 168 Siehe R Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 119,136 ff.

190

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

möglichende Dialog und damit die Bildung der "öffentlichen Meinung" in Freiheit wärenvin ihrem Kernbereich getroffen, wenn unbequeme, unverstandene oder sonstwie mißliebige Beiträge durch Angriffe auf die persönliche Ehre ihrer Urheber bekämpft oder gar unterdrückt werden könnten. Nur soweit gewisse Mindeststandards gebotener personaler Achtung gewährleistet sind, werden sich die Bürger (allein oder gemeinsam mit anderen) bereit finden, ihre "Stimme" im "- freilich nur selten harmonisch klingende(n) - 'Konzert der Mitgestaltung'"169 zu erheben und wird ein freiheitlich-demokratischer Prozeß der Willensbildung überhaupt möglich sein. Nicht zuletzt um seiner selbst willen muß ein demokratisch strukturiertes Gemeinwesen daher für die gegenseitige Achtung seiner Mitglieder Sorge tragen170. Gegenstand des grundgesetzlichen Ehrenschutzes ist somit auch der spezifisch staatsbürgerliche Geltungswert, dessen der einzelne bedarf, um als gleichberechtigtes Mitglied der (Rechts-)Gesellschaft am politischen Leben der staatlichen Gemeinschaft teilnehmen zu können. Mit dem Schutz der persönlichen Ehre sichert das Gemeinwesen auf diese Weise nicht nur eine "Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft" 171, sondern zugleich auch eine unverzichtbare Existenzbedingung des freiheitlichdemokratischen Rechtsstaates. Hinzu kommt, daß das Bestreben des einzelnen, sich die günstige Meinung der Allgemeinheit zu erwerben (und zu erhalten), eines der wichtigsten Motive zu gesellschaftsförderlichem Verhalten ist 172 . "Die öffentliche Meinung, das Urteil der anderen Menschen, die Ehre: diese sind die starken Bänder, welche die Gesellschaft da zusammenhalten, wo der Zwang, den das Recht übt, versagt."173 Der verfassungsrechtliche Schutz 169

W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 49,60 Rn. 21. 170

Das öffentliche Interesse am Schutz vor Ehrverletzungen hebt auch G. Jakobs, in: FS für H.-H. Jescheck, Erster Halbbd., 1985, S. 627, 636 f., hervor. "Beleidigung" ist für ihn (auch) "Verletzung von Kommunikationsregeln, deren Beachtung im öffentlichen Interesse liegt", und der (strafrechtliche) Ehrenschutz soll "insoweit gleichermaßen den Bestandsbedingungen der Ge sellschaft wie dem Schutz der Person" dienen (a.a.O., S. 637). 171 Vgl. Art. 1 Abs. 2 GG. 172

Siehe E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 7. 173 W. Dilthey , Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883), in: ders., Gesammelte Schriften, I. Bd., hrsg. von B. Groethuysen, 1962, S. 63.

I. "Normbereich" und Struktur

191

der persönlichen Ehre hat deshalb auch eine besondere integrierende und identitätsstiftende Funktion. Vor diesem Hintergrund ist namentlich die lebendige und differenzierte Praxis öffentlicher Ehrungen zu sehen: Eine "politisch verfaßte Gesellschaft (wird) schwerlich darauf verzichten können, hervorragende Funktionen und Leistungen durch bestimmte Formen öffentlicher Anerkennung auszuzeichnen"174.

2. Ehrenschutz als Grundrechtsschutz

Wie gesehen geht es beim Schutz der persönlichen Ehre um ein Rechtsgut von Verfassungsrang; die Sicherstellung der gegenseitigen Achtung der Mitglieder der Rechtsgesellschaft gehört zu den Grundlagen der Ordnung des Gemeinwesens. Darüber hinaus zählt die Ehre aber auch zu den verfassungsmäßigen Fundamentalrechten des einzelnen: "Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen."175 Wenn das Recht der persönlichen Ehre im Grundgesetz auch nicht als eigenständiges Grundrecht abgesichert ist, so muß (heute) doch davon ausgegangen werden, daß Ehrenschutz Grundrechtsschutz ist. Während diesem sachlichen Gewicht im Grundgesetz "nur" im Wege der Verfassungsinterpretation Rechnung getragen werden kann (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG), kommt die Grundrechtsqualität des Ehrenschutzes - wie die rechtsvergleichenden Untersuchungen gezeigt haben 176 - in anderen Verfassungen, vor allem in den modernen europäischen Verfassungswerken der siebziger Jahre, auch textlich zum Ausdruck. Die Leistungen von Rechtsprechung und Wissenschaft bei der (Fortentwicklung des grundgesetzlichen Persönlichkeitsschutzes haben auf diese Weise nicht nur zu neuen Verfassungstexten geführt, sondern durch sie zugleich auch eine eindrucksvolle Bestätigung erfahren. Ebenso wie andere Grundrechte greift auch das Recht der persönlichen Ehre nach dem heutigen Stand "allgemeiner" und - auf den Ehrenschutz 174

M. Forschner, in: Görres-Gesellschaft (Hrsg.), Staatslexikon, 7. Aufl., Zweiter Bd., 1986, Sp.175 150,151. /. Kant y Metaphysik der Sitten (1797), Zweiter Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, Der ethischen Elementarlehre Zweiter Teil, Erstes Hauptstück, Zweiter Abschnitt, § 38, hrsg. von K. Vorländer, Unveränderter Abdruck der 4. Aufl. 1922,1945, S. 321 (Hervorhebung durch den Verfasser). 176

Vgl. dazu ausführlich oben Erster Teil Α. II. 2.

192

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

zugeschnittener - "spezieller" Grundrechtsdogmatik in verschiedene Dimensionen aus177. Die hierfür erarbeiteten dogmatischen Figuren sind zwar nur Mittel zum Zweck (der Optimierung der Verfassungsgarantie der persönlichen Ehre im Dienste des Menschen) und haben als solche keinen Eigenwert178; gleichwohl sind sie aber bedeutsam, und wenigstens die wichtigsten von ihnen sollen daher im folgenden kurz skizziert werden. Ohnehin sind die Schutzdimensionen als offener Katalog zu begreifen: Im Interesse "grundrechtssichernder Geltungsfortbildung" 179 können bei neuen Gefahren für das Recht der persönlichen Ehre auch neue dogmatische Figuren geboten sein180.

a) Das Recht der persönlichen Ehre als subjektives Abwehrrecht gegen den Staat Die erste Seite des Grundrechts der persönlichen Ehre ist die "klassische" Abwehrseite, der "status negativus" im Sinne G. Jellineks 181 : Jedermann ist befugt, sich gegen unberechtigte staatliche Beeinträchtigungen seines Wert- und Achtungsanspruchs im Wege des Rechts zur Wehr zu setzen. Das gilt sowohl für planmäßige Ehrverletzungen, die den einzelnen zum bloßen Objekt degradieren und ihn an ein System ausliefern, das in solchen Fällen keinen Schutz gewährt182, als auch für vereinzelte "Entgleisungen" eines Amtsträgers. Der Staat und alle anderen Träger öffentlicher Gewalt müssen den Geltungswert des Bürgers respektieren und Eingriffe in seine persönliche Ehre nach Möglichkeit vermeiden183.

177

Formulierung in Anlehnung an P. Häberle, AöR 110 (1985), 577,605. Siehe P. Häberle, AöR 109 (1984), 36, 66; ders., AöR 110 (1985), 329, 357; ders., AöR 110(1985), 577,605. 178

179

180

P. Häberle, W D S t R L 30 (1972), 43,69 ff.

Formulierung in Anlehnung an P:Häberle, AöR 110 (1985), 577,605; siehe auch bereits ders., Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 356. 181 Vgl. ders., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, S. 81 ff., 94 ff. 182

Dies ergibt sich (auch) schon aus Art. 1 Abs. 1 GG, vgl. G. Düng, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. I (1958), Rn. 41, der als Beispiel einer solchen entwürdigenden Ehrverletzung die "Verpflichtung zum Tragen des Judensterns" nennt. 183 Siehe dazu auch /. P. Müller, Die Grundrechte der Verfassung und der Persönlichkeitsschutz des Privatrechts, 1964, S. 158 mit Fn. 5.

I. "Normbereich" und Struktur

193

Gefahren drohen dem Schutzgut "Ehre" allerdings nicht allein - und wie es scheint noch nicht einmal in erster Linie - von staatlicher Seite. Ehrverletzungen erfolgen vor allem auch durch private Dritte. In einem solchen Fall vermag die rein abwehrrechtliche Seite des Grundrechts der persönlichen Ehre dem Betroffenen keine Hilfestellung zu leisten. Da Freiheit jedoch wirksam nur als einheitliche gewährleistet (und gesichert) werden kann184, müssen die Grundrechte eine gewisse (begrenzte) Wirkkraft auch jenseits des Verhältnisses von Bürger und Staat entfalten. Lösungsansätze für die damit aufgeworfene Frage nach einer grundrechtsdogmatischen Bewältigung des Problems nicht-staatlicher Beeinträchtigungen verfassungsmäßiger Fundamentalrechte des einzelnen versprechen sowohl die Lehre von der sogenannten (mittelbaren) "Drittwirkung" 185 der Grundrechte als auch die (neuere) Theorie von der staatlichen "Schutzpflicht" für grundrechtlich gewährleistete Rechtsgüter186. Ausgangspunkt ist jeweils die Erkenntnis, daß die Grundrechte nicht nur subjektive Rechte des einzelnen, sondern auch objektive Prinzipien sind, die die gesamte Rechtsordnung beeinflussen und den Staat verpflichten, alles zu tun, um Grundrechte Wirklichkeit werden zu lassen187.

b) Das Recht der persönlichen Ehre als Element objektiver Ordnung des Gemeinwesens Der über ihre (primäre 188) Funktion als subjektive Abwehrrechte des einzelnen gegen die öffentliche Gewalt hinausgehende objektiv-rechtliche Gehalt der Grundrechte ist spätestens189 seit dem "Lüth-Urteil"190 des Bun-

184

Vgl. Κ Hesse, EuGRZ 1978,427,430, 437; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 349. 185

Begriff wohl von H P. Ipsen, in: F. L. Neumann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die186 Grundrechte, Zweiter Bd., 1954, S. 111,143. 187

Siehe G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 99.

Vgl. Κ Hesse, EuGRZ 1978, 427, 432 f., 437; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 290 ff., 350. 188

Deutlich insoweit vor allem BVerfGE 50, 290, 337 (Mitbestimmung): Danach soll die objektiv-rechtliche Seite den subjektiven Gehalt der Grundrechte prinzipiell verstärken, "jedoch ihre Wurzel in dieser primären Bedeutung" haben. 189 Siehe aber auch schon BVçrfGE 6,32,40 f. (Elfes); 6,55,72 (Ehegattenbesteuerung). BVerfGE 7,198,205.

190

13 Mackeprang

194

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

desverfassungsgerichts in Übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung in der Literatur 191 zum festen Bestandteil gängiger Grundrechtsinterpretation geworden192. Die grundrechtlichen Gewährleistungen sind danach zugleich als "wertentscheidende Grundsatznormen"193 zu begreifen, die für alle Bereiche des Rechts gelten und Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geben. Auch das Recht der persönlichen Ehre stellt sich in diesem Sinne als "objektives Prinzip der Gesamtrechtsordnung"194 dar: Dem Staat und seinen Institutionen wird aufgegeben, die Rechtsverhältnisse so zu ordnen, daß ein von gegenseitiger Achtung geprägtes Dasein - soweit es in staatlicher Macht steht - möglich wird und vom einzelnen als ehrenvolles Leben in Selbständigkeit und Freiheit verwirklicht werden kann.

aa) (Mittelbare) Drittwirkung Eine der Folgerungen, die das Bundesverfassungsgericht aus dem objektiv-rechtlichen Charakter der Grundrechte gezogen hat, ist ihr Einfluß auf die Anwendung und Auslegung (verfassungskonformer) Vorschriften des Privatrechts: Keine bürgerlich-rechtliche Bestimmung darf sich in Widerspruch zur grundrechtlichen Wertordnung setzen, jede muß in ihrem Geist ausgelegt werden195. Während das Gericht für diese sogenannte "Ausstrahlungswirkung"196 der Grundrechte auf die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten allerdings anfänglich noch - in sichtlicher Anlehnung an die Konzeption G. Dürigs 197 - den Weg über die wertausfüllungs191

Vgl. nur E. Friesenhahn, in: Verhandlungen des 50. Deutschen Juristentages, Bd. II, 1974, S. G 1, G 5; F. Ossenbühl, NJW 1976, 2100,2101 f.; K. Hesse, EuGRZ 1978, 427, 431 ff.; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 290192 ff.; Ch. Starck, JuS 1981,237,238 f.; H. D. Jarass, AöR 110 (1985), 363,364 ff. m.z.N. Zusammenfassend etwa BVerfGE 35,79,114 (Gruppenuniversität); 39,1, 41 (Fristenregelung); 49,89,141 f. (Kalkar). 193 So z.B. BVerfGE 23,127,134 (Ersatzdienstverweigerer); 30, 173, 188 (Mephisto); 35, 79,112 (Gruppenuniversität); 43,242,267 (Hamburger Hochschulen). 194

So die Formulierung in BVerfGE 57,295,320 (3. Fernseh-Entscheidung). Siehe BVerfGE 7,198,205 (Lüth).

195

196

BVerfGE 7,198, 207 (Lüth); 34, 269, 280 (Soraya) m.w.N. - Kritisch zu dieser Metapher//. Ridder, AfP 1973,453,454. 197

Vgl. ders., in: F. L. Neumann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Zweiter Bd., 1954, S. 507, 525; ders., in: FS für H. Nawiasky, 1956, S. 157,176 f.; ders., DÖV

I. "Normbereich" und Struktur

195

fähigen und wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe des Zivilrechts gewiesen hatte198, die auf diese Weise zu "Einbruchstellen"199 der im Grundrechtskatalog niedergelegten Wertvorstellungen in das Bürgerliche Recht avancierten, hat es später auf dieses Transformations- und Infusionsvehikel zunehmend verzichtet200 und sieht heute praktisch alle privatrechtlichen Vorschriften als "Katalysatoren mittelbarer Grundrechtsbindung"201 an, soweit sie einer Auslegung im Lichte der verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen zugänglich sind202 2 0 3 . 1958,194,1% f.; ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. III (1958), Rn. 127 ff., Art. 2 Abs. I (1958), Rn. 56 ff., Art. 3 Abs. I (1973), Rn. 505 ff., Art. 3 Abs. III (1973), Rn. 172. 198

Siehe BVerfGE 7,198,206 (Lüth).

199

G. Dürig, in: F. L. Neumann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Zweiter Bd., 1954, S. 507,525. 200 So treffend bereits H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 404 f., unter Verweis auf BVerfGE 25,256,263 (Blinkfüer). 201 N. Achterberg, JZ 1975,713,718. 202

Deutlich etwa BVerfGE 66,116,135 (Springer/Wallraff): Pressefreiheit als "objektives Prinzip, das Auslegung und Anwendung der maßgeblichen bürgerlich-rechtlichen Vorschriften bestimmt" (Hervorhebung durch den Verfasser). - Mit Recht weist C.-W. Canaris , AcP 184 (1984), 201, 223, darauf hin, daß "nicht einzusehen (ist), warum die Grundrechte nur über unbestimmte Rechtsbegriffe und Generalklauseln auf das Privatrecht einwirken sollen"; in diesem Sinne auch W. Rüftter, in: GS für W. Martens, 1987, S. 215,225. 203 Zwar nicht der Terminologie, wohl aber der Sache nach dürfte die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts damit (heute) der - in der Literatur allerdings zum Teil scharfer Kritik ausgesetzten - Drittwirkungskonzeption von /. Schwabe zumindest nahekommen, vgl. ders., Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971; ders., DVB1.1971,689,690 f.; ders., NJW 1973, 229, 229 f.; ders., NJW 1974, 670, 671 ff.; ders., JR 1975,13,13 ff.; ders., AöR 100 (1975), 442, 442 ff.; ders., Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 211 ff.; ders., DVB1. 1979,667,667; ders., DÖV1981, 7%, 7%; ders., AcP 185 (1985), 1,1 ff. - D a ß die Grundrechte (auch) im Privatrecht gelten, folgt für /. Schwabe schon daraus, daß in fremde Rechtsgüter stets nur aufgrund normativen Befehls oder normativer Ermächtigung eingegriffen werden darf; (auch) private Eingriffe beruhen für ihn daher immer auf der Rechtsmacht des Staates. Da diese aber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG in jeglicher Erscheinungsform an die Grundrechte gebunden sei, unterliege (selbstverständlich) auch die Tätigkeit des Privatrechtsgesetzgebers der Prüfung auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Wenn die von ihm gesetzten zivilrechtlichen Normen dadurch gegen Grundrechte verstießen, daß sie privaten Rechtssubjekten einen zu weiten Eingriff in grundrechtlich geschützte Güter anderer erlauben, so seien sie ebenso verfassungswidrig, wie wenn dies etwa durch Gestattung polizeilicher Aktionen oder durch normative Anordnung von Verwaltungshandeln geschehe. Weil die Grundrechte seiner Meinung nach ausschließlich der staatlichen Rechtsmacht gegenüberstehen, gibt es für /. Schwabe gar keine "Dritten", denen gegenüber sie wirken könnten. Die herkömmlichen "Drittwirkungslehren" sind für ihn folglich schon im Ansatz verfehlt: die "unmittelbare", weil Private ja nie Grundrechtsadressaten sein können, die "mittelbare", weil die Grundrechte im Zivilrecht nicht nur

13 *

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

Überwiegend auf Ablehnung gestoßen204 sind demgegenüber all jene Auffassungen, die eine direkte Geltung der Grundrechte über das (klassische) Bürger-Staat-Verhältnis hinaus auch im (Privat-)Rechtsverkehr der Bürger untereinander vertreten (haben). Kennzeichnend für diese, (wohl) von H. C. Nipperdey 205 begründete206 und (vor allem) von W. Leisner 207 fortüber die "Generalklauseln" zum Tragen kommen, sondern generell den Maßstab der Privatrechtsgesetze bilden. Begriffliche Verwirrung stiftet allein der Umstand, daß/. Schwabe im Ergebnis stets von einer "unmittelbaren Grundrechtsgeltung im gesamten Privatrecht" spricht mit der Folge, daß seine Konzeption häufig zu Unrecht als "Variante" der Lehre von der "unmittelbaren" Drittwirkung der Grundrechte eingestuft wird (vgl. etwa Ch. Starck, JuS 1981,237,243; ders., in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 1 Abs. 3, Rn. 192). Hier gilt es jedoch zu erkennen, daß J. Schwabe die Begriffe "unmittelbar" und "mittelbar1* in einem anderen Sinnzusammenhang verwendet. Er bezeichnet die Geltung der Grundrechte im Privatrecht nämlich nicht etwa deshalb als "unmittelbar", weil er von ihrer unmittelbaren Geltung gegenüber Privatpersonen ausginge, sondern nur deshalb, weil er die Grundrechte unmittelbar, d.h. ohne die mediatisierende Vehikelfunktion der zivilrechtlichen Generalklauseln in das staatlich gesetzte Privatrecht einfließen läßt. Auch seiner Meinung nach lassen sich aus den Grundrechten keine subjektiv-privaten Rechte ableiten, sondern kommt gegenüber Rechtssubjekten des Privatrechts nur eine durch die Normen des (staatlich verantworteten und damit "unmittelbar" grundrechtsdeterminierten) Privatrechts vermittelte und in diesem Sinne "mittelbare" Wirkung der Grundrechte in Betracht. 204

Siehe vor allem G. Dürig, in: FS für H. Nawiasky, 1956, S. 157,165 ff.; ders., in: Maunz/ Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. III (1958), Rn. 128 ff., Art. 2 Abs. I (1958), Rn. 57, Art. 3 Abs. I (1973), Rn. 508, Art. 3 Abs. III (1973), Rn. 172; E. Forsthoff, in: FS für C. Schmitt, 1959, S. 35, 45 ff.; ders., Der Verfassungsschutz der Zeitungspresse, 1969, S. 29 f.; H H. Rupp, DVB1. 1972, 66, 67; ders., AöR 101 (1976), 161,168 f.; H. P. Ipsen, Der Staat 13 (1974), 555,561; N. Achterberg, JZ 1975,713, 717; C.-W. Canaris, AcP 184 (1984), 201,203 ff.; ders., JuS 1989, 161, 162; Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 354 f.; A. Bleckmann, Staatsrecht II - Die Grundrechte, 3. Aufl. 1989, S. 175 ff. - Das Bundesverfassungsgericht hat lange Zeit keinen Anlaß gesehen, abschließend zu der Frage Stellung zu nehmen; im "Lüth-Urteil" hat es, was häufig übersehen wird, sogar ausdrücklich offengelassen, ob die Grundrechte nicht auch unter Privaten direkt anwendbar sind (vgl. BVerfGE 7,198,204). Erst in einer neueren Entscheidung vom 23. April 1986 findet sich jetzt erstmals eine deutliche Absage an die Lehre von der "unmittelbaren Drittwirkung", vgl. BVerfGE 73,261,269 (Sozialplan). 205 Vgl. ders., RdA 1950,121,125; ders., BB 1951, 282, 284; ders., in: F. L. Neumann/H. C. Nipperdey/U. Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, Zweiter Bd., 1954, S. 1,18 ff.; ders., DVB1. 1958,445,446 ff.; ders., Grundrechte und Privatrecht, 1961, insbesondere S. 12 ff. 206

Unter seiner Führung hat auch das Bundesarbeitsgericht eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte lange Zeit ausdrücklich bejaht (grundlegend BAGE 1, 185, 191 ff.; siehe ferner BAGE 1, 258,262; 4,240, 243; 4, 274,276 ff.; 13,168,174 ff.; 24, 438, 441). Kritisch zu dieser Verflechtung etwa P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 349, und G. Düng, JöR 36 (1987), 91,95 f. - Anders (oder doch wenigstens zurückhaltender) aber die neuere Rechtsprechung des Gerichts, vgl. BAGE 47, 363, 373 f., sowie die Anmerkung zu diesem Urteil von U. Mayer, JZ 1985, 1111, 1112 f.; BAGE (GrS) 48,122,138 f.; BAGE 52,88,97 f.

I. "Nobereich" und Struktur

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entwickelte Lehre von der "unmittelbaren Drittwirkung" der Grundrechte ist, daß die verfassungsmäßigen Fundamentalrechte des einzelnen hier aus ihrer ausschließlich vertikalen (Abwehr-)Richtung gegenüber dem Staat herausgelöst werden und in (nahezu) gleicher Weise horizontal auch Rechtssubjekte des Privatrechts in Beschlag und Bindung nehmen sollen. Mit Recht ist dagegen eingewandt worden, daß eine solche direkte Grundrechtsbindung Privater die "grundrechtliche Strukturverschiedenheit des Verhältnisses von personaler Freiheit zu personaler Freiheit einerseits und von personaler Freiheit zu staatlicher Herrschaftskompetenz andererseits"208 außer acht lassen und zu einer beträchtlichen Einschränkung der Privatautonomie, mithin zu einer gravierenden Einengung selbstverantwortlicher Freiheit führen würde 209. Eine "unmittelbare Drittwirkung" verbietet sich daher gerade wegen der Grundrechte 210, sofern nicht das Grundgesetz selbst ausnahmsweise einem Grundrecht ausdrücklich Wirkung (auch) gegenüber privaten Dritten beilegt211. Interessanterweise wird ein solcher Ausnahmefall gerade für das "Recht der persönlichen Ehre" als Schranke der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG von einem Teil der Literatur 212 bejaht. Danach soll das Grundgesetz die Ehre des Menschen in Art. 5 Abs. 2 GG nicht nur als (Verfassungs-) Rechtsgut anerkannt, sondern ihr damit zugleich auch unmittelbare Drittwirkung im Privatrechtsverkehr zugebilligt haben. Insofern rücke das "Recht der persönlichen Ehre" in gewissem Sinne an die Seite des Rechts auf Leben, dem in der Vorbehaltsvorschrift des Art. 13 Abs. 3 GG ebenfalls

207

Siehe ders., Grundrechte und Privatrecht, 1960, insbesondere S. 354 ff.; weitere wichtige Vertreter dieser Lehre bei C.-W. Canaris, AcP 184 (1984), 201,203. 208 H. H. Rupp, DVB1.1972,66,67. 209

Vgl. G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. III (1958), Rn. 129; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 354; ders., Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 25. 210 Siehe G. Dürig, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. III (1958), Rn. 130. 211

Als Beispiel hierfür wird regelmäßig Art. 9 Abs. 3 GG angeführt, dessen unmittelbare Drittwirkung (wohl) unbestritten ist, vgl. I. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Vorbemerkungen zu den Art. 1-19, Rn. 29. 212 Vgl. vor allem R Herzog, JR 1969, 441, 443; ders., in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 287; ihm folgend etwa G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 162 f.; P. J. Tettinger, JZ 1983,317,320.

198

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

eine gewisse Drittwirkung gegenüber der Unverletzlichkeit der Wohnung eingeräumt werde 213. Dieser Ansicht kann jedoch nicht gefolgt werden. Mit der Verankerung des "Rechts der persönlichen Ehre" in Art. 5 Abs. 2 GG werden die ihre Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG wahrnehmenden Privatrechtssubjekte keineswegs als staatsgleiche, staatsähnliche oder sonstwie "bändigungs"bedürftige Angriffsgegner unmittelbar in die Pflicht genommen214. Wer sich durch private Meinungsäußerungen in seiner Ehre verletzt sieht, kann sich gegenüber den sich Äußernden niemals direkt auf Art. 5 Abs. 2 GG berufen; diese Bestimmung ist keine "Anspruchsgrundlage11 für zivilrechtliche Unterlassungs- oder Widerrufsbegehren. Von einer unmittelbaren Einwirkung des in seiner ursprünglichen Konzeption allein staatsgerichteten (Grund-)Rechts der persönlichen Ehre auf die Rechtsbeziehungen Privater kann daher keine Rede sein. Art. 5 Abs. 2 GG enthält lediglich eine verfassungsunmittelbare Ermächtigung der öffentlichen Gewalt, die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG zugunsten des Ehrenschutzes zu beschränken215. Zutreffend ist so gesehen allein der Vergleich mit Art. 13 Abs. 3 GG, der, was den Schutz des menschlichen Lebens betrifft, ebenfalls eine verfassungsunmittelbare Eingriffsermächtigung enthält216. Auch im Hinblick auf das grundrechtlich verbürgte Recht der persönlichen Ehre ist eine "unmittelbare Drittwirkung" somit ausgeschlossen. Der Bedeutung dieses Schutzguts für die Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten Rechnung zu tragen, ist vielmehr Aufgabe des Staates. Namentlich dem - grundrechtsgebundenen - (Privatrechts-)Gesetzgeber 217 213

Siehe R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 287. 214 Formulierung in Anlehnung an H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 17,395 f. 215 Ebenso Ch. Starck, in: v.Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 5 Abs. 1, 2, Rn. 131 mit Fn. 455; siehe auch J. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 237. 216

Vgl. etwa£. Pappermann, in: I. v.Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1,3. Aufl. 1985, Art. 13, Rn. 32; W. Schmitt Glaeser, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 41,76 f. Rn. 60. 217

Ausführlich zur Diskussion um die Grundrechtsbindung des Privatrechtsgesetzgebers C.-W. Canaris , AcP 184 (1984), 201, 212 f.; ders., JuS 1989,161,162; siehe auch W. Rüfner, in: GS für W. Martens, 1987, S. 215, 219, sowie K. Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 27 mit Fn. 42.

I. "Normbereich" und Struktur

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obliegt es, in seinen (verfassungsrechtsdeterminierten) Regelungen den Rechtsgehalt der persönlichen Ehre (mittelbar) zu konkretisieren und gegenüber anderen Grundrechten, vor allem gegenüber den Freiheiten des Art. 5 GG abzugrenzen, damit "das Prinzip der Freiheit auch in der Mensch-Mensch-Beziehung Gestalt und Kontur gewinnen"218 kann. Mit Hilfe der grundrechtsregulierenden Kraft des von ihm gesetzten Zivilrechts, das ja keine naturrechtlich vorgefundene, extrastaatliche Kategorie - noch weniger gar (etwa nach dem Motto: Verfassungsrecht vergeht, Zivilrecht besteht219) eine extrakonstitutionelle Materie - ist, sondern - wie jedes andere unterrangige Recht (also nicht nur das Verwaltungsrecht) "konkretisiertes Verfassungsrecht" darstellt220, muß er seiner Verantwortung für die Aktualisierung der Grundrechte 221 und für die Abschichtung der einzelnen Freiheitsbereiche im Verhältnis zueinander222 gerecht werden223. Wenn an dieser Stelle die kollisionsschlichtende Funktion des Zivilrechts in den Vordergrund rückt, so ist damit auch schon der zweite Gesichtspunkt angesprochen, unter dem sich das Problem nicht-staatlicher Beeinträchtigungen des Schutzguts der persönlichen Ehre durch - ihrerseits grundrechtlich (Art. 5 GG) abgesicherte - private Dritte in den rieh218

H. H. Rupp, in: Demokratie und Verwaltung - 25 Jahre Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, 1972, S. 611,626. 219 Siehe das berühmte Zitat von Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Erster Bd., Unveränderter Nachdruck der 3. Aufl. 1924,1969, Vorwort zur dritten Auflage vom 29. August 1923: 'Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht." 220 Vgl. Κ Redeker, Bild und Selbstverständnis des Juristen heute, 1970, S. 25; N. Achterberg,3Z 1975,713, 714; H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 398; ders., UFITA 95 (1983), 251, 261, jeweils in Abwandlung der bekannten These von Fritz Werner, DVB1.1959,527,527 ff.: 'Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht". 221

Siehe dazu eingehend P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 180 ff. 222 Dieser Gesichtspunkt kann zu den "klassischen" Aufgaben der Rechtsordnung gezählt werden; so heißt es bereits bei I. Kant: "Das Recht ist... der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (ders., Metaphysik der Sitten [1797], Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B., hrsg. von K. Vorländer, Unveränderter Abdruck der 4. Aufl. 1922,1945, S. 34 f.). 223 In diesem Sinne auch W. Rüfner, in: GS für W. Martens, 1987, S. 215, 224; ferner Κ Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 27 ff., der allerdings zugleich die genuine Eigenständigkeit des Privatrechts hervorhebt. - Allgemein zum Einfluß des öffentlichen Rechts auf das Privatrecht auch W Berg,, Die Verwaltung 21 (1988), 319,322 ff.

200

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

tigen grundrechtsdogmatischen Griff bekommen läßt. Denn die der staatlichen Herrschaftskompetenz hierbei zugewiesenene Rolle macht deutlich, daß die Bindung der drei Gewalten an die Grundrechte (Art. 1 Abs. 3 GG) nicht nur die (negative) Verpflichtung des Staates enthält, Eingriffe in grundrechtlich geschützte Güter zu unterlassen, sondern zugleich auch dessen (positive) Verpflichtung begründet, diese Güter vor Eingriffen anderer zu schützen und die hierfür erforderlichen Bedingungen zu sichern.

bb) Staatliche Schutzpflicht Vom Bundesverfassungsgericht wurde der Gedanke, daß die Grundrechte nicht nur Abwehransprüche gegen die öffentliche Gewalt gewähren, sondern dem Staat auch Schutzpflichten übertragen, erstmals im "Fristenregelungs-Urteil"224 vom 25. Februar 1975 aufgegriffen. In dieser Entscheidung stellte das Gericht fest, daß aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (auch) die Pflicht der staatlichen Organe folge, sich schützend und fördernd vor das (werdende) Leben zu stellen und es vor rechtswidrigen Eingriffen anderer (einschließlich der Mutter) zu bewahren. Die Schutzverpflichtung des Staates müsse um so ernster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes anzusetzen sei. Das menschliche Leben jedenfalls stelle innerhalb der grundgesetzlichen Wertordnung einen Höchstwert dar; es sei "die vitale Basis der Menschenwürde und die Voraussetzung aller anderen Grundrechte". An dem Gebot, das Leben zu schützen, müßten sich alle Bereiche der Rechtsordnung, je nach ihrer besonderen Aufgabenstellung, ausrichten 225. Dabei komme als Vorkehrung zum Schutz dieses Grundrechts auch die Strafandrohung in Betracht, ja sie sei sogar unerläßlich, wenn andere Maßnahmen nicht den der Bedeutung des zu sichernden Rechtsguts entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleisteten226. In späteren Entscheidungen hat das Gericht diese Rechtsprechung dann immer wieder bestätigt227, zugleich allerdings stets hervorgehoben, daß es 224

BVerfGE 39, Iff.

225

Siehe BVerfGE 39,1,41 f. (Fristenregelung).

226

Vgl. BVerfGE 39,1,44 ff. (Fristenregelung).

227

Siehe BVerfGE 46,160,164 f. (Schleyer); 49,24, 53 ff. (Kontaktsperre); 49, 89,140 ff. (Kalkar); 53,30,57 ff. (Mülheim-Kärlich); 56,54,73 ff. (Fluglärm); 77,170,214 f. (C-Waffen);

I. "Normbereich" und Struktur

201

grundsätzlich in der Entscheidung der staatlichen Organe liege, wie sie ihre Verpflichtung zum Schutz des Lebens erfüllen. Da dem Gesetzgeber und der vollziehenden Gewalt insoweit ein weiter Einschätzungs-, Wertungsund Gestaltungsspielraum zukomme, könne das Bundesverfassungsgericht wegen einer Verletzung der ihnen obliegenden Schutzpflicht erst dann eingreifen, wenn die staatlichen Organe gänzlich untätig geblieben seien oder sich die bisher getroffenen Maßnahmen als evident unzureichend . 228 erwiesen . Ihren Ausgang hat die Entwicklung der Schutzpflichtseite der Grundrechte mithin von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, genommen. Das bedeutet jedoch nicht, daß sich nicht auch aus anderen Grundrechten umfassende Schutzpflichten des Staates ableiten ließen229. Zur Wissenschaftsfreiheit etwa (Art. 5 Abs. 3 GG) hat das Bundesverfassungsgericht immerhin festgestellt: nDer Gesetzgeber ist gehalten, durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, daß Störungen und Behinderungen der Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer... durch Einwirkungen studentischer Gruppen soweit wie möglich ausgeschlossen werden ..."23° Und Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) muß der Staat nach Auffassung des Gerichts ebenfalls "vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte ... bewahren"231. Die staatliche Schutzpflicht dürfte sich also richtigerweise auf alle Grundrechte beziehen, "die personale Grundbeziehungen sichern wollen"232. Dazu zählen aber nicht vgl. auch BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1983, 2931, 2932 (Luftreinhaltung); BVerfG (Kammer) NJW 1987,2287,2287 f. (Aids-Bekämpfung). 228

Sorgfältige Analysen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich bei /. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 27 ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 43 ff.; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 129 ff.; IC Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 937 ff.; E. Klein, NJW 1989,1633,1634 f. 229

Ausführlich zur Begründung grundrechtlicher Schutzpflichten /. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983; D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 88 ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 931 ff.; E. Klein, NJW 1989,1633,1635 f. 230 BVerfGE 55,37, 68 (Bremisches Hochschulgesetz); zur Pflicht des Staates, das private Ersatzschulwesen zu schützen, siehe BVerfGE 75, 40, 62 ff. (Hamburgisches Privatschulgesetz). 231 232

BVerfGE 6,55,76 (Ehegattenbesteuerung).

So die Formulierung von H. Soell, NuR 1985, 205, 207; vgl. auch die stark generalisierenden Ausführungen in BVerfGE 49,89,141 f. (Kalkar).

202

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

nur das Leben und die körperliche Unversehrtheit, sondern etwa auch das Eigentum233 oder die Privatsphäre234 des Menschen und eben auch - seine persönliche Ehre 235 . Mit Recht ist zudem hervorgehoben worden, daß der Schutz vor nichtstaatlichen Beeinträchtigungen privater Rechtsgüter seit jeher zu den Aufgaben staatlicher Gemeinwesen gehörte236. Bereits in der antiken und mittelalterlichen Ideengeschichte finden sich dazu zahlreiche Aussagen237, und spätestens seit dem 17. Jahrhundert entwickelten sich dann jene grundlegenden Auffassungen, die in der Garantie innerer und äußerer Sicherheit sogar die wesentliche Rechtfertigung und den eigentlichen Zweck des modernen Staates sahen. So legitimierte zunächst Th. Hobbes seine Staatskonstruktion absolutistischer Prägung mit dem Verlangen der Menschen, dem elenden Naturzustand des Krieges aller gegen alle 238 zu entkommen239, und entwarf zugleich das radikalste Modell der "Staatsgewalt als Ordnungsmacht". Aber auch für J. Locke, der ebenso wie Th. Hobbes am Naturzustand der Menschen anknüpte, diesen aber nicht als einen Zustand der Zügellosigkeit, sondern als einen Zustand der Freiheit und Gleichheit begriff 240, war die Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit das eigentliche Ziel moderner Staatlichkeit; denn bei aller Freiheit war der Naturzustand doch auch für 233

Das Bundesverfassungsgericht hat die Möglichkeit einer aus Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG folgenden Schutzpflicht des Staates immerhin angedeutet, vgl. BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1983,2931,2932 (Luftreinhaltung). 234 Siehe BVerfGE 34,269,282 (Soraya): "Schutzauftrag der Art. 1 und 2 Abs. 1 GG". Gerade für das Rechtsgut "Ehre" anders allerdings /. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 24, der die Schutzpflichtfrage jedoch allein unter der (engeren) Perspektive der Sicherheit vor physischer Gewalt erörtert. 236

Vgl. vor allem /. Isensee, ebd., S. 3 ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 148 ff.; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 27 ff.; jeweils mit ausführlicher Darstellung der staatstheoretischen und ideengeschichtlichen Grundlagen; angedeutet auch schon bei K. Hesse, EuGRZ 1978, 427, 437; zusammenfassend H Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. ΙΙΙΛ, 1988, S. 932 f. 237

Siehe dazu näher die Ausführungen und Nachweise bei G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 148 ff. 238 Th. Hobbes, Leviathan (1651), Part I, Chapter XIII, hrsg. und eingeleitet von I. Fetscher, übersetzt von W. Euchner, 1984, S. 94,96. 239 Th. Hobbes, ebd., Part II, Chapter XVII, S. 131,131 ff. 240

Vgl. /. Locke, Uber die Regierung (1690), II, § 4, in der Ubersetzung von D. Tidow mit einem Nachwort hrsg. von P. C. Mayer-Tasch, 1983, S. 4 f.

I. "Normbereich" und Struktur

203

ihn "voll... von Furcht und ständiger Gefahr" und der Mensch "fortwährend den Übergriffen anderer ausgesetzt"241. Anders als Th. Hobbes betonte freilich/. Locke in gleicher Weise stets auch die Grenzen staatlicher Machtbefugnisse242 und unterschied insoweit bereits deutlich zwischen der Sicherheit durch den Staat und der Sicherheit vor dem Staat243. Bei S. v.Pufendorf war die Sorge um die Sicherheit der Bürger ebenfalls eine zentrale (wenn auch juristisch nicht durchsetzbare) Pflicht des Herrschaftsorgans aus dem Herrschaftsvertrag, der die Gehorsamspflicht der Bürger entsprach244. Dieser Zusammenhang von "Pflicht zum Gesetzesgehorsam" einerseits und "Recht auf Schutz durch den Staat" andererseits fand dann auch Eingang in das von C. G. Svarez entworfene "Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten" von 1794, das die Pflicht des Staates, "für die Sicherheit seiner Unterthanen, in Ansehung ihrer Personen, ihrer Ehre, ihrer Rechte und ihres Vermögens, zu sorgen"245 ausdrücklich als allgemeinen (Rechts-) Grundsatz kodifizierte 246. Seither ist der Schutzzweck des Staates zum festen Bestandteil moderner Staatsauffassung geworden247 und trat bereits bei J.-J. Rousseau 248, W. v.Humboldt 249 und I. Kant 250 gegenüber dem Bemühen, die zur Erfüllung 241

Siehe/. Locke, ebd., IX, § 123, S. 95 f.

242

Vgl. /. Locke, ebd., XI, §§ 135 ff., S. 102 ff.

243

Siehe J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 6; G. Hermes, Das Grundrecht auf244 Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 153 f. Vgl. S. v.Pufendorf\ De jure naturae et gentium libri octo, libri VII, caput II, §§ 3 ff., Nachdruck der Ausgabe 1688,1934. 245 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Zweiter Theil, Siebzehnter Titel: Von den Rechten und Pflichten des Staats zum besonderen Schutze seiner Unterthanen, $ 1 (zit. nach H. Rehbein/O. Reincke, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Vierter Bd., 2. Aufl. 1882, S. 708) - Hervorhebung durch den Verfasser. 246 Siehe dazu / Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 9; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 156 f.; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 91 ff. 247

Auch in die frühen amerikanischen Verfassungen und in die Verfassungen der französischen Revolutionflöß die Philosophie der Sicherheit ein, siehe dazu ausführlich J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 12 ff.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und248 Gesundheit, 1987, S. 171 ff.; G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 51 ff. Vgl. ders., Der Gesellschaftsvertrag oder die Grundsätze des Staatsrechtes (1762), 2. Buch, 4. Kapitel, in der Übersetzung von H. Denhardt hrsg. und eingeleitet von H. Weinstock, 1963, S. 60 ff. 249 Siehe ders., Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), IV., um 1885, S. 58 ff.

204

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

dieser Schutzaufgabe erforderliche staatliche Macht zu binden und zu begrenzen, in den Hintergrund. Im Staatsdenken des 19. Jahrhunderts251 wurde der Schutz individueller Freiheiten schließlich zur selbstverständlichen Staatsaufgabe252, die auch heute noch253 den ihr gebührenden Stellenwert dort findet, wo der Staat als "Vorbedingung aller Freiheit"254 charakterisiert oder als eine soziale und politische Konflikte regelnde Organisation der Anarchie und dem Bürgerkrieg gegenübergestellt wird 255 2 5 6 . In der Tat gehört der Schutz des einzelnen vor Übergriffen Dritter zu den Grundbedingungen jeder Staatlichkeit. Der Staat ist eine Friedensordnung. Von einem (fiktiven) Naturzustand unterscheidet er sich dadurch, daß er die Verhältnisse zwischen seinen Bürgern rechtlich ordnet, Gewaltanwendung unter Privaten grundsätzlich verbietet und dieses Verbot mit Hilfe seines Gewaltmonopols durchsetzt257. Wird aber dem Bürger verbo250

Vgl. ders., Uber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), II., hrsg. von J. Ebbinghaus, 1946, S. 34,41,45 ff. 251 Siehe etwa C. v.Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 1 (1829), Neudruck der 2. Aufl. 1840,1964, S. 139 ff., und Bd. 2 (1830), Neudruck der 2. Aufl. 1840, 1964, S. 56 ff.; R v.Mohl, Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 1. Bd., 2. Aufl. 1844, S. 9 f.; G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse (1821), § 100, § 261, in: ders., Werke in 20 Bdn., redigiert von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, 1986,7. Bd., S. 191,409; F. I Stahl, Die Philosophie des Rechts, Zweiter Bd., 4. Aufl. 1870, Erste Abtheilung, Drittes Buch, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, § 3, S. 314 f., Zweite Abtheilung, Zweiter Abschnitt, Erstes Kapitel, § 36, S. 132; /. Κ Bluntschli, Lehre vom modernen Staat, Bd. 2, Neudruck der 6. Aufl. 1885,1965, S. 627; P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Neudruck der 5. Aufl. 1911,1964, S. 153; G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 246. 252 In den Verfassungen des 19. Jahrhunderts wurde die staatliche Pflicht zum Schutz individueller Freiheiten daher nur noch vereinzelt positiviert, vgl. dazu /. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 15 f., und G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 174 ff. 253

Vgl. etwa H. Nawiasky, Allgemeine Staatslehre, Zweiter Teil, 1. Bd., 1952, S. 156 ff.; Κ Doehring, Die Pflicht des Staates zur Gewährung diplomatischen Schutzes, 1959, S. 46; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 769; J. Isensee, in: FS für K. Eichenberger, 1982, S. 23, 26; ders., Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 4,17 ff.; R Scholz, NJW 1983, 705,705 ff. 254

N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 3. Aufl. 1986, S. 57. So vor allem Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 6 f. 255

256 257

Siehe G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 163.

Vgl. dazu zunächst D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 33; siehe ferner vor allem J. Isensee, in: FS für K. Eichenberger, 1982, S. 23, 23 ff.; R Scholz, NJW 1983,

I. "Normbereich" und Struktur

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ten, sich privater Eingriffe in seine Rechtsgüter eigenmächtig zu erwehren und seine Ansprüche (notfalls) mit Gewalt durchzusetzen, so läßt sich dies nur dann rechtfertigen, wenn (und soweit) der Staat die Durchsetzung der Rechte für den Bürger übernimmt258: "Da ... den Bürgern ... die Möglichkeit der Selbsthilfe gegen Unrecht genommen wird, muß der Staat die Aufgabe übernehmen, seine Bürger gegen Unrecht zu schützen."259 Sicherheit und Freiheit hängen also untrennbar zusammen: "Eine grundrechtliche Freiheit, die den Schutz der öffentlichen Gewalt abwiese,fiele der privaten Gewalt anheim. Grundrechte denaturierten unter diesen Bedingungen zu Privilegien des Rechtsbrechers."260 Speziell für das Recht der persönlichen Ehre bedeutet das zunächst, daß der Staat verpflichtet ist, seine Rechtsordnung auf unterverfassungsrechtlicher Ebene so zu gestalten, daß Eingriffe in die persönliche Ehre anderer grundsätzlich unzulässig sind. Die ihm aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG obliegende Schutzpflicht gebietet es, die - grundrechtlich vorderhand nur gegen staatliche Eingriffe geschützte - persönliche Ehre seiner Bürger auf der Ebene des einfachen Rechts zu einem Rechtsgut zu machen, dessen Verletzung (auch) durch private Dritte rechtswidrig ist, sofern nicht ausnahmsweise rechtfertigende Umstände eingreifen 261. Dieser Pflicht ist freilich schon der vorkonstitutionelle Gesetzgeber (insbesondere mit den §§ 185 ff. StGB) nachgekommen. Die in den einfachgesetzlichen Ehrenschutzbestimmungen enthaltenen Beeinträchtigungsverbote allein gewährleisten allerdings noch keinen hin705, 705 ff.; D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 102. 258

Siehe D. Merten, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S. 60 ff.; D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 104; E. Klein, NJW 1989,1633, 1636. 259 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 769. 260 /. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 32. Formulierung in Anlehnung an D. Murswiek, WiVerw. 1986, 179, 181. - Die letztgenannte Einschränkung ist vor allem deshalb unverzichtbar, weil die öffentliche Hand bei der Wahrnehmung ihrer Schutzaufgaben für das Recht der persönlichen Ehre stets auch die Grundrechte der Ehrverletzer (Art. 5 GG) beachten und deren Freiheitsbereiche in gleicher Weise vor ungerechtfertigten Eingriffen bewahren muß. Auch die Figur der grundrechtlichen Schutzpflicht entläßt den Staat nicht aus seiner Verantwortung für die Aktualisierung aller Freiheitsrechte, sondern liefert nur ein zusätzliches Kriterium dafür, wie er seinem umfassenderen Auftrag zur Konfliktschlichtung auf dem Gebiet ineinander übergreifender oder miteinander kollidierender Interessen gerecht werden kann.

206

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

reichenden Schutz vor Übergriffen Privater. Sie müssen auch durchgesetzt werden. Hierzu ist der Staat ebenfalls von Verfassungs wegen verpflichtet. Zum Zwecke der Rechtsverfolgung muß er gegebenenfalls weitere gesetzliche Regelungen erlassen, entsprechende Institutionen bereitstellen, geeignete Schutzverfahren vorsehen und anderes mehr 262. Zweifellos haben die zuständigen Staatsorgane auch insoweit bereits eine Vielzahl von Vorkehrungen getroffen, namentlich durch die Zubilligung zivilrechtlicher Abwehransprüche und die Androhung strafrechtlicher Sanktionen263. Ruft man sich jedoch die zahlreichen kritischen Stimmen in Erinnerung, die das Fehlen eines wirksamen Ehrenschutzes (vor allem gegenüber Angriffen in den Massenmedien) beklagen264, so erscheint es doch zumindest fraglich, ob der Staat seiner Verpflichtung zum Schutz der persönlichen Ehre damit bereits Genüge getan hat. Andererseits schreibt das Grundgesetz den zuständigen Staatsorganen nicht vor, auf welche Art und Weise sie ihrer Schutzverpflichtung nachkommen sollen265. Zwar wird ihnen aufgegeben, die notwendigen Maßnahmen für einen wirksamen und dauerhaften Schutz des Rechts der persönlichen Ehre zu ergreifen; in der Wahl der zur Erreichung dieses Ziels einzusetzenden Mittel sind sie jedoch nicht gebunden. Insbesondere steht es im Ermessen des demokratischen Gesetzgebers, in politischer Verantwortung über die gebotenen Vorkehrungen zur Wahrung dieses Schutzguts zu entscheiden, "weil es regelmäßig eine höchst komplexe Frage ist, wie eine positive staatliche Schutz- und Handlungspflicht, die erst im Wege der Verfassungsinterpretation aus den in den Grundrechten verkörperten Grundent-

262

Formulierung in Anlehnung an D. Murswiek, ebd., 184 f.; siehe auch schon /. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 219 f. - Obwohl die Schutzpflicht des Staates für die persönliche Ehre seiner Bürger insoweit echte Handlungspflichten der öffentlichen Gewalt begründet, handelt es sich doch nicht etwa um die leistungsstaatliche Dimension dieses Grundrechts; denn es geht ja nicht um eine Verbesserung der sozialen Lage der Grundrechtsträger, sondern um Maßnahmen der Gefahrenabwehr und des Rechtsschutzes, vgl. dazu näher/. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 22, der aus diesem Grund überzeugend zwischen dem sozialstaatlichen "status positivus socialis" und dem rechtsstaatlichen "status positivus libertatis" unterscheidet; im Ergebnis ebenso D. Murswiek, WiVerw. 1986,179,185 f.; B. Bock, Umweltschutz im Spiegel von Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 1990, S. 151 mit Fn. 293. 263

Vgl. dazu ausführlich oben Erster Teil A. III.

264

Siehe dazu oben Einleitung.

265

Vgl./. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 38.

I. "Normbereich" und Struktur

207

Scheidungen hergeleitet wird, durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist"266. Immerhin bindet die Verfassung das gesetzgeberische Ermessen aber an eine Reihe von Direktiven 267. Die Gesamtheit der getroffenen Vorkehrungen (nicht notwendig jede isolierte Maßnahme) muß wenigstens geeignet sein, der persönlichen Ehre des einzelnen den erforderlichen tatsächlichen Schutz zu gewähren268; und unter bestimmten Voraussetzungen kann sich das Auswahlermessen hinsichtlich der Mittelwahl sogar "auf Null reduzieren" (und damit etwa der Einsatz der Strafgewalt von Verfassungs wegen geboten sein), dann nämlich, wenn der Einsatz eines ganz bestimmten (rechtmäßigen) Mittels zur Gewährung wirksamen Ehrenschutzes unerläßlich ist und andere Staatsaufgaben und Verfassungsprinzipien (von nicht minderem Gewicht) nicht entgegenstehen269.

c) Das Recht der persönlichen Ehre als subjektives Schutzrecht Fraglich ist, inwieweit der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates ein subjektiver Schutzanspruch des einzelnen korrespondiert. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum gehen die Meinungen diesbezüglich weit auseinander 270. Während die einen mit Blick auf die Herleitung der staatlichen Schutzpflicht aus objektivem Recht und auf die weitgehende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei ihrer Erfüllung die Möglichkeit eines subjektiven Schutzanspruchs grundsätzlich ablehnen271, wird sie von den ande-

266

BVerfGE 56, 54, 81 (Fluglärm); BVerfG (Kammer) NJW 1987, 2287, 2287 (Aids-Bekämpfung); ähnlich auch BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1983, 2931, 2932 (Luftreinhaltung). - Allgemein zum Prognosespielraum des Gesetzgebers bei "komplexen, in der Entwicklung begriffenen Sachverhalten" nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts H.-D. Horn, Experimentelle Gesetzgebung unter dem Grundgesetz, 1989, S. 95 ff. 267

Siehe/. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 39 f. In diesem Sinne schon BVerfGE 39,1,46 (Fristenregelung).

268

269

Vgl. dazu vor allem BVerfGE 46,160,164 f. (Schleyer).

270

Eine zusammenfassende Meinungsübersicht gibt G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 70 f. 271 Vgl. etwa R Scholz, DB 1979, Beilage 10,1,16; D. Rauschning, W D S t R L 38 (1980), 167,183; P. Badura, in: FS für K. Eichenberger, 1982, S. 481, 489 ff.; /. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 49 f.

208

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

ren als notwendige Ergänzung der objektiven Schutzpflicht prinzipiell bejaht 2 7 2 2 7 3 . Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage lange Zeit offengelassen. Anders als bei der ebenfalls aus der objektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte abgeleiteten (mittelbaren) Drittwirkung, bei der es nie gezögert hat, ihr zugleich auch anspruchsbegründende Kraft beizumessen274, hat es sich in bezug auf die subjektiv-rechtlichen Wirkungen der grundrechtlichen Schutzpflicht zunächst nur sehr zurückhaltend geäußert275. Immerhin wurden aber Verfassungsbeschwerden, die auf die Verletzung der staatlichen Pflicht zum Schutz gegen Eingriffe Dritter gestützt waren, in Einzelfällen für zulässig erachtet oder wurde doch wenigstens deren Zulässigkeit unterstellt, ohne daß die Möglichkeit einer Divergenz zwischen Schutzpflicht und Schutzanspruch abschließend erörtert worden wäre 276. Die Möglichkeit eines Schutzanspruchs wurde damit implizit bereits bejaht277. 272

Siehe etwa£. Schmidt-Assmann, AöR 106 (1981), 205, 217; D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 106 ff., 216 f.; ders., WiVerw. 1986,179, 199 f.; G. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987, S. 208 ff.; E. Klein, NJW 1989,1633, 1637; weitergehend G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 144 ff., der vom "Primat des subjektiven vor dem objektiven Recht" ausgeht. 273

Zum Teil werden eindeutige Stellungnahmen auch (noch) vermieden, vgl. etwa Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 350. 274 Siehe bereits BVerfGE 7, 198, 206 f. (Lüth): Läßt der Richter den grundrechtlichen Einfluß auf die zivilrechtlichen Normen außer acht, "so verstößt er nicht nur gegen objektives Verfassungsrecht, indem er den Gehalt der Grundrechtsnorm (als objektiver Norm) verkennt, er verletzt vielmehr als Träger öffentlicher Gewalt durch sein Urteil das Grundrecht, auf dessen Beachtung auch durch die rechtsprechende Gewalt der Bürger einen verfassungsrechtlichen Anspruch hat". - Allerdings soll die auf dem objektiv-rechtlichen Gehalt basierende Ausstrahlungswirkung der Grundrechte weniger Schutz als die klassische Abwehrkomponente bieten, vgl. BVerfGE 66, 116,135 (Springer/Wallraff): "Soweit die Einwirkung des Grundrechts auf privatrechtliche Vorschriften in Frage steht, können ihm im Hinblick auf die Eigenart der geregelten Rechtsverhältnisse andere, unter Umständen engere Grenzen gezogen sein als in seiner Bedeutung als Abwehrrecht gegen staatliche Eingriffe." 275

Vgl. BVerfGE 40, 141, 177 f. (Ostverträge): "Die Anerkennung einer ... verfassungsrechtlichen Schutzpflicht besagt... noch nichts darüber, unter welchen Voraussetzungen ihre durch Unterlassung begangene Verletzung vom Einzelnen mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden kann." 276 Siehe BVerfGE 46,160,164 f. (Schleyer); 53,30,48 ff. (Mülheim-Kärlich); 56,54,70 ff. (Fluglärm); BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1983, 2931, 2932 (Luftreinhaltung); BVerfG (Kammer) NJW 1987,2287,2287 (Aids-Bekämpfung). 277

Ebenso D. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 216; ders., WiVerw. 1986,179,199.

I. "Normbereich" und Struktur

209

Im "C-Waffen-Beschluß" 278 vom 29. Oktober 1987 führte das Gericht dann erstmals genauer aus, wie das Verhältnis von Schutzpflicht und Schutzanspruch zu verstehen ist: "Werden ... Schutzpflichten verletzt, so liegt darin zugleich eine Verletzung des Grundrechts ..., gegen die sich der Betroffene mit Hilfe der Verfassungsbeschwerde zur Wehr setzen kann."279 Der mit einer Schutzpflicht verbundene grundrechtliche Anspruch soll im Hinblick auf die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers jedoch regelmäßig nur darauf gerichtet sein, "daß die öffentliche Gewalt Vorkehrungen zum Schutze des Grundrechts trifft, die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind"280. Nur unter ganz besonderen Umständen könne sich die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit in der Weise verengen, daß der Schutzpflicht allein durch eine bestimmte Maßnahme Genüge getan werden kann. Um den Anforderungen an die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde zu entsprechen, müsse der Beschwerdeführer daher schlüssig dartun, daß die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder daß die getroffenen Regelungen und Maßnahmen offensichtlich gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen. Wolle der Beschwerdeführer geltend machen, daß die öffentliche Gewalt ihrer Schutzpflicht ausnahmsweise allein dadurch genügen könne, daß sie eine ganz bestimmte Maßnahme ergreife, müsse er auch dies und die Art der zu ergreifenden Maßnahme schlüssig darlegen281. Im Ergebnis bejahte das Gericht einen subjektiven Schutzanspruch des einzelnen damit in genau dem gleichen Maße, in dem es sich selbst wegen einer Verletzung der objektiven Schutzpflicht einzugreifen für befugt erachtet.

d) Ehrenschutz durch Verfahren Eine weitere, mit dem Schutzgedanken unmittelbar zusammenhängende Dimension des Grundrechts der persönlichen Ehre ist die prozessuale282. 278

BVerfGE 77,170 ff.

279

BVerfGE 77,170,214 (C-Waffen).

280

BVerfGE 77,170,215 (C-Waffen).

281

Vgl. BVerfGE 77,170,215 (C-Waffen).

282

Grundlegend zur Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren P. Häberle, W D S t R L 30 (1972), 43, 86 ff., 121 ff.; siehe sodann vor allem K. Hesse, EuGRZ 1978, 427, 434 ff.; ders., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 14 Mackeprang

210

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

Nach der Konzeption des Grundgesetzes ist ein effektiver, den Bestand des Grundrechts sichernder Rechtsschutz ein wesentliches Element des Grundrechts selbst283. Die Wertentscheidung für den Schutz der persönlichen Ehre auf Verfassungsebene muß daher auch Einfluß auf die Ausgestaltung und Handhabung des gerichtlichen Verfahrens zur Realisierung und Effektuierung dieses Schutzguts haben. Im Unterschied zum "formellen Hauptgrundrecht"284 auf Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt (Art. 19 Abs. 4 GG) ist der Anspruch auf Rechtsschutz gegen Private zwar nicht ausdrücklich im Text des Grundgesetzes verankert. Als Kompensation des Rechtsstaates für den Verzicht seiner Bürger auf Selbsthilfe ist die Justizgewährleistung (auch) gegenüber Privaten aber eine Selbstverständlichkeit285 und erfährt im Bereich des Ehrenschutzes als Konsequenz der in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angelegten Pflicht zur verfahrensrechtlichen Optimierung eine besondere verfassungsrechtliche Verstärkung.

II. Leitlinien für den Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz im Kollisionsfall Nachdem "Normbereich" und Struktur des (Grund-)Rechts der persönlichen Ehre einer ersten Klärung zugeführt sind, ist nunmehr zu untersuchen, welche Bedeutung der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung für den Schutz dieses Persönlichkeitsrechts im Kollisionsfall mit den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG zukommt. Wie bereits mehrfach betont, kann die 1988, Rn. 358 ff.; H. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; H. Bethge, NJW 1982, 1, 1 ff.; F. Ossenbühl, in: FS für K. Eichenberger, 1982, S. 183, 183 ff.; P. Lerche/W. Schmitt Glaeser/E. Schmidt- Aßmann, Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, 1984; Κ Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/l, 1988, S. 953 ff. m.w.N. 283

Vgl. BVerfGE 24, 367,401 (Hamburger Deichordnung); 35, 348, 361 (Armenrecht für Kapitalgesellschaft); 37, 132, 148 (Mieterhöhungsverlangen I); 42, 263, 310 (Contergan); 46, 325, 334 (Zwangsversteigerung weit unter Wert); 49, 220, 225 (Zwangsversteigerung wegen geringer Forderung); 49, 244, 247 f. (Mieterhöhungsverlangen II); 49, 252, 257 (Erörterungstermin); 50,16,30 (Anfechtbarkeit von Mißbilligungen); 52, 380, 389 f. (Juristische Staatsprüfung); 53,30,65 (Mülheim-Kärlich). 284

F. Klein, W D S t R L 8 (1950), 67,88.

285

Siehe / Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 36; //.-/. Papier, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 1221,1222 Rn. 1.

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

211

Lösung dieses Konflikts nicht darin zu suchen sein, daß einer der beiden Grundrechtspositionen der Vorrang vor der anderen eingeräumt wird. Eine feste, allseits anerkannte "Prioritätenskala" läßt sich unter den Grundrechten des Grundgesetzes nicht ausmachen286. Im Hinblick auf ihre prinzipielle Gleichrangigkeit müssen Meinungsfreiheit und Recht der persönlichen Ehre vielmehr in ihren wechselseitigen Grenzen so bestimmt werden, daß die besondere Wertigkeit beider Grundrechtspositionen im Verfassungsgefüge gewahrt bleibt (Prinzip des "schonendsten Ausgleichs"287; Herstellung "praktischer Konkordanz" 288)289.

1. Methodische Überlegungen

Den verfassungsrechtlichen Maßstab, nach dem die zu wahrenden Belange einander zuzuordnen sind, soll nach (wohl) überwiegender Ansicht der - sich bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst ergebende290 und als Element des Rechtsstaatsprinzips291 Verfassungsrang genießende292 286

Vgl. H. Bethge, UFITA 95 (1983), 251, 262.

287 288

Siehe P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 153.

Vgl. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. 289 Aufl. 1988, Rn. 72. 1 Siehe dazu bereits ausführlich oben A I. 2. a) bb). - Der Ausgleichsgedanke findet sich auch schon in § 97 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794: "Sind die in Collision kommenden Rechte von gleicher Beschaffenheit, so muß jeder der Berechtigten von dem seinen so viel nachgeben, als erforderlich ist, damit die Ausübung beider zugleich bestehen könne" (zit. nach Η Rehbein/O. Reincke, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Erster Bd., 2. Aufl. 1882, S. 98). 290 So etwa BVerfGE 19, 342, 348 f. (Wencker); F. E. Schnapp, JuS 1983,850, 852 f.; ders., in: I.V.Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Art. 20, Rn. 27; in diesem Sinne auch schon G. Dürig, AöR 81 (1956), 117, 146 f., und P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983, S. 67 f., 236, jeweils von Art. 19 Abs. 2 GG "herkommend". 291

In diesem Sinne etwa BVerfGE 17, 306, 313 f. (Mitfahrerzentralen); 38, 348, 368 (Zweckentfremdung von Wohnraum); 49, 24, 58 (Kontaktsperre); /. v.Münch, in: ders., Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, Vorbemerkungen zu den Art. 1-19, Rn. 55; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 185. 292

Vgl. die (kombinierende) Formulierung in BVerfGE 61,126,134 (Erzwingungshaft zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung); ebenso ist R Wendt, AöR 104 (1979), 414, 416 Fn. 8, der Ansicht, "daß Rechtsstaatsprinzip und Grundrechte bei der Ableitung des Übermaßverbots ineinandergreifen"; ähnlich auch schon E. Grabitz, AöR 98 (1973), 568,584 ff. 14 *

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

212

Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinne)293 enthalten294. Die Begrenzung des einen Grundrechts muß danach erstens tauglich sein, das mit ihm kollidierende andere Grundrecht wirksam zur Geltung zu bringen (Geeignetheit), sie muß sich zweitens als das mildeste Mittel zur Erreichung dieses Zweckes darstellen (Erforderlichkeit), und beides muß schließlich drittens in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Dabei stehen die verschiedenen Kriterien dieses sogenannten "Übermaßverbots"295 nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bauen unmittelbar aufeinander auf: Nur was geeignet ist, kann auch erforderlich 296, und nur was erforderlich ist, kann auch (im engeren Sinne) verhältnismäßig sein. Die Entwicklung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz läßt jedoch Zweifel daran aufkommen, ob auf diese Weise ein Instrumentarium gewonnen ist, das gestattet, Gewicht und Bedeutung beider betroffenen Rechtsgüter im Kollisionsfall hinreichend zu berücksichtigen. Immerhin hat der Bundesgerichtshof seine frühere Auffassung, wonach auch bei öffentlichen Auseinandersetzungen - wie in den sonstigen Fällen der Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB - eine berechtigte Interessenverfolgung nur angenommen werden kann, wenn das "schonendste Mittel", also eine Ausdrucksform, die gerade noch geeignet ist, die erstrebte Wirkung zu erzielen, ohne die persönliche Ehre des Betroffenen unnötig zu beeinträchtigen, angewandt wurde 297, (spätestens) mit dem "Höllenfeuer-Urteil" 298 ausdrücklich aufgegeben 299, und seither regelmäßig auch "übersteigerte Kritik" 300 für

293 Dazu näher etwa M. Gentz, NJW 1968,1600,1601 ff.; E. Grabitz, AöR 98 (1973), 568, 571 ff.; R Wendt, AöR 104 (1979), 414, 415 ff.; L Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, insbesondere S. 50 ff.; IC Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 318. 294

Siehe K. Stern, in: FS für H. Hübner, 1984, S. 815,827 f. m.w.N.

295 296

Grundlegend P. Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 19 ff.

Daß eine umfassende Geeignetheitsprüfung Bestandteil des Grundsatzes der Erforderlichkeit ist, hebt auch L Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 59 ff., hervor. 297 Siehe BGHZ 3, 270, 281 (Constanze I); 8, 142, 145 (Schwarze Listen); 24, 200, 207 (Spätheimkehrer); BGH MDR 1956,734,735 (Versorgungsarzt). 298 299

BGHZ 45, 296 ff.

Vgl. BGHZ 45, 296, 308 (Höllenfeuer); deutlich auch BGHZ 91, 117, 121 (Mordoro); BGH NJW 1966, 2010, 2012 (Teppichkehrmaschine); BGH GRUR 1969, 304, 306 (Kredit-

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

213

zulässig erachtet301. Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig betont, daß es nicht darauf ankomme, ob eine abwertende Verlautbarung zur eigenen Interessenwahrnehmung "unbedingt erforderlich" war 302 ; im Interesse freier Rede seien vielmehr im Einzelfall auch Schärfen und Überspitzungen hinzunehmen303. Im Klartext haben die Gerichte damit bei der (verfassungsrechtlichen Beurteilung von Eingriffen in das Recht der persönlichen Ehre durch die Ausübung der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG auf das zweite Kriterium des Obermaßverbots, das Merkmal des geringst einschneidenden Mittels (Erforderlichkeit), völlig verzichtet. Als erster hatte - soweit ersichtlich - Κ C. Nipperdey Bedenken gegen die Heranziehung des Gedankens größtmöglicher Schonung im (öffentlichen) Meinungskampf erhoben. In seiner Anmerkung zu einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 11. Mai 1956304 vertrat er den Standpunkt, daß eine derartige Vorgehensweise zu sehr verallgemeinere und einseitig die Interessen des von einer abwertenden Äußerung Betroffenen berücksichtige305. In der Tat würde ein allzu striktes Festhalten an dem Erfordernis des mildesten Mittels dazu führen, daß vor jeder kritischen Meinungsäußerung sorgfältige Erforderlichkeitsprüfungen angestellt werden müßten, was nicht nur der "Spontaneität freier Rede"306 hinderlich wäre, sondern auch dem Gewicht und der Bedeutung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG nicht immer gerecht würde. Im Lichte dieser Grundrechte muß es einem Kritiker vielmehr im Einzelfall auch zustehen, seine Auffassung gegen Angriffe Dritter zu verteidigen, ohne sich ständig davon überzeugen zu müssen, ob er seine Entgegnungen in der "schonendsten" Form vorbringt; oftmals wird er (namentlich bei längeren Auseinandersetzungen) hierzu allein schon haie); BGH NJW 1974, 1762, 1762 (Deutschland-Stiftung); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1980,1685,1686 (Straßen- und Autolobby); BGH NJW 1981, 2117,2119 (Brutaler Machtmißbrauch). 300

BGH NJW 1974,1762,1763 (Deutschland-Stiftung).

301

Siehe dazu ausführlich oben Erster Teil Β. II. 2.

302

Vgl. BVerfGE 12,113,129 f. (Schmid/Spiegel).

303

Siehe etwa BVerfGE 54,129, 139 (Kunstkritik); 60, 234, 241 ("Kredithaie"); 61,1, 7 f. (Wahlkampf). 304

BGH MDR 1956,734 (Versorgungsaret).

305

Vgl. H C. Nipperdey, MDR 1956,736,736.

306

BVerfGE 54,129,139 (Kunstkritik).

214

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten" Ehrenschutzes

deshalb nicht mehr in der Lage sein, weil er infolge des Verlaufs der Debatte psychisch nicht mehr zu der nötigen Zurückhaltung fähig ist 307 . Heute dürfte daher auch weitgehend Einigkeit darüber bestehen, daß die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund der Wahrnehmung berechtigter Interessen im Meinungskampf die Verwendung des geringst einschneidenden Mittels nicht voraussetzt308. Die theoretischen Hintergründe dieses Befundes und seine Konsequenzen für die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips (im weiteren Sinne) als Maßstab für die Zuordnung ineinander übergreifender oder miteinander kollidierender Verfassungswerte (hier: der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG und des Rechts der persönlichen Ehre) scheinen jedoch bislang noch im Verborgenen geblieben zu sein. Übersehen wird vor allem, daß jene Überlegungen, die zu der Erkenntnis führen, daß man einseitig auf die Interessen der von abwertender Kritik Betroffenen abstellen würde, wenn man von den Trägern der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG verlangte, in jedem Fall nur das für die Ehre ihrer Gegner schonendste Mittel zur Anwendung zu bringen, methodisch ebensogut in umgekehrter Richtung Gültigkeit beanspruchen können. Angesichts der prinzipiellen Gleichrangigkeit der konfligierenden Grundrechtspositionen würde man nämlich in gleicher Weise einseitig auf die Interessen der sich in abwertender Weise über andere Äußernden abstellen, wenn man Einschränkungen ihrer Meinungsfreiheit nur insoweit für zulässig erachtete, als sie zum wirksamen Schutz der persönlichen Ehre der von der Kritik Betroffenen "unbedingt notwendig" wären. Oder anders ausgedrückt: Wer (mit Recht) bei der (verfassungsrechtlichen Beurteilung von Eingriffen in das Recht der persönlichen Ehre zur Wahrnëhmung der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG auf das Kriterium der Erforderlichkeit verzichtet, kann es nicht bei der Beurteilung von Eingriffen in die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG zur Sicherung des Rechts der persönlichen Ehre zur Anwendung bringen wollen. Damit aber wird vollends zweifelhaft, ob sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinne) für den gebotenen Ausgleich der zu wahrenden Belange überhaupt fruchtbar machen läßt.

307

Siehe W Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 128. 308 Vgl. Κ E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 262.

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

215

Der innere Grund hierfür dürfte darin liegen, daß die Erfordernisse des Obermaßverbots (jedenfalls in erster Linie) auf die Fälle des (gesetzgeberischen) Eindringens in einen (Grund-)Rechtsbezirk zugeschnitten sind309. Ihren eigentlichen Anwendungsbereich haben sie daher - ebenso wie die "Wechselwirkungstheorie"310, die sich insoweit durchaus als "spezielle" Ausformung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinne) begreifen läßt 311 - dann, wenn es - wie bei der Begrenzung eines Grundrechts aufgrund eines Gesetzesvorbehalts - darum geht, daß die Wirkkraft einer (höherrangigen) Verfassungsnorm nicht beliebig durch einfaches Recht relativiert werden darf. Aus dieser (primären) Zweckbestimmung heraus resultiert dann auch die beobachtete Einseitigkeit des Kriteriums der Erforderlichkeit: Die Beschränkung zulässiger Grundrechtsbegrenzungen auf das geringst einschneidende Mittel ist intentional an der besonderen Wertigkeit des vom (gesetzgeberischen) Eingriff betroffenen Grundrechts ausgerichtet. In dem hier interessierenden Zusammenhang geht es dagegen um den Ausgleich zweier, unmittelbar gegeneinander strebender Verfassungsrechtssätze. Die Grenzen des Zulässigen können daher nicht nur von einer Seite her bemessen werden, sondern müssen beide Rechtsgüter gleichgewichtig berücksichtigen. Da die konfligierenden Normen wechselseitig ineinander greifen, lassen sie sich nicht durch das Gebot des Interventionsminimums einseitig von nur einem Pol aus steuern; die Konfliktlösung muß sich vielmehr im "Kraftfeld der 'Erforderlichkeiten'" 312 beider Grundrechtspositionen bewegen. Dies allein würde freilich dann noch keine Schwierigkeiten bereiten, wenn die im Fall der Kollision von Meinungsfreiheit und Recht der persönlichen Ehre miteinander konkurrierenden "Obermaßverbote" letztlich zum gleichen Ergebnis führten. Die Frage, ob sich ein bestimmter Eingriff in die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG als das geringst einschneidende Mittel zum Schutz der persönlichen Ehre darstellt, ist aber nicht identisch mit der Frage, ob ein bestimmter Eingriff in das Recht der persönlichen

309

Siehe P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 22,134 ff.

310

Vgl. dazu ausführlich oben Α. 1.2. a) bb).

311

Siehe zum Zusammenhang von "Wechselwirkungstheorie" und Verhältnismäßigkeitsprinzip auch F. E. Schnapp, JuS 1983,850,851 f. 312 P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 152.

216

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

Ehre das mildeste Mittel zur Wahrnehmung des Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG ist 313 ; freiheitsschonendster Ehrenschutz (These) und ehrschonends Freiheitsschutz (Antithese) können vielmehr erst in einem weiteren Schritt zu jener höheren Einheit (Synthese) miteinander verschmolzen werden, in der Widersprüche (im Sinne G. W. F. Hegels 314) "aufgehoben" sind und Gegensätze (analog Cusanischer "coincidentia oppositorum"315) "zusammenfallen". Als Richtschnur für den verfassungsmäßigen Ausgleich der konfligierenden Grundrechtspositionen bleiben demnach allenfalls - abgesehen vom (wohl) nur in Ausnahmefällen größere Probleme aufwerfenden (wechselseitigen) Ausschluß gänzlich ungeeigneter Eingriffe - isolierte, d.h. von Erforderlichkeitserwägungen losgelöste Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne). Ein zusätzlicher Erkenntnisgewinn gegenüber dem (zum Ausgangspunkt genommenen) Prinzip "praktischer Konkordanz" ist mit dem Rückgriff auf Gesichtspunkte der "Proportionalität" ("Angemessenheit", "Zumutbarkeit") allerdings kaum verbunden; denn daß sich Meinungsfreiheit und Ehrenschutz nicht "harmonisieren" lassen, ohne in ein recht gewichtetes und wohl abgewogenes Verhältnis zueinander gebracht zu werden, versteht sich (beinahe) von selbst316. 313 Die hier aufgezeigte Problematik des Merkmals der Erforderlichkeit überschneidet sich in gewisser Weise mit der von L. Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981, S. 45 ff., 158 ff., hervorgehobenen Schwäche, daß dieser Teilgrundsatz des Übermaßverbots das Vorliegen eines Zweck/Mittel-Verhältnisses begriffsnotwendig voraussetzt; entgegen L. Hirschberg, der (ebenfalls unter Bezugnahme auf die mehrfach erwähnte Abkehr des Bundesgerichtshofs vom Erfordernis des "schonendsten Mittels" im Bereich gewerbeschädigender Kritik) das methodische Problem darin sieht, daß im Meinungskampf kaum jemals präzisiert werden könne, zu welchem Zweck in die Rechtssphäre des Gegners eingegriffen werde, so daß sich auch nicht beurteilen lasse, ob dieses Mittel erforderlich war (a.a.O., S. 160 f.), dürfte die (Haupt-)Schwierigkeit jedoch nicht in der mangelnden Bestimmbarkeit des Zwecks (als solchen könnte man ja einfach die Aktualisierung des jeweiligen Grundrechts ansehen), sondern darin liegen, daß im Falle wechselseitiger Begrenzung gleichrangiger Grundrechtspositionen zu ihrer beider Erhaltung zwei (reziproke) Mittel/Zweck-Relationen miteinander in Einklang zu bringen sind.

314

Vgl. ders., Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), Erster Teil, Erste Abteilung, § 96, Zusatz, in: ders., Werke in 20 Bdn., redigiert von E. Moldenhauer und Κ. M. Michel, 1986,8. Bd., S. 204 f. 315 Siehe Nikolaus von Cues, Uber den Beryll (1458), in deutscher Ubersetzung von K. Fleischmann, mit einer Einführung von E. Hoffmann, 1938, S. 65 ff. 316 Streng genommen stellt sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) gegenüber dem Prinzip "praktischer Konkordanz" sogar als ein "Minus" dar, denn während letzteres besagt, daß zwei (Verfassungs-)Rechtsgüter einander so zugeordnet werden müssen,

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

217

Im Ergebnis kann das verfassungsrechtliche Prinzip des Obermaßverbots somit nicht als tauglicher Maßstab für die Zuordnung rivalisierender Grundrechtspositionen angesehen werden. Das Merkmal der Erforderlichkeit hat sich als für die Abgrenzung gleichrangiger (Verfassungs-)Rechtsgüter ungeeignet erwiesen, und das Kriterium der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) entpuppt sich bei näherer Betrachtung als für die Erfüllung der gestellten (bipolaren) Optimierungsaufgabe wenig ergiebig317. Der nach beiden Seiten hin "schonendste Ausgleich" zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz muß mithin anderen Regeln folgen. Sicher erscheint allerdings, daß sich das Spannungsverhältnis zwischen den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG und dem Recht der persönlichen Ehre nicht durch eine abstrakte Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen lösen läßt. Einer der beiden konfligierenden Rechtspositionen per se - losgelöst vom konkreten Einzelfall - das Übergewicht einräumen zu wollen, wäre nur zulässig (und möglich), wenn die beteiligten Grundrechte in einem Rangverhältnis zueinander stünden. "Mit der Berufung auf die abstrakte Wichtigkeit eines Grundrechts kann es also nicht getan sein. Alle Grundrechte müssen als wichtig und im Verhältnis zueinander zunächst einmal als gleichgewichtig angesehen werden."318 Daraus folgt, daß man zwar auf der einen Seite den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG den ihnen angesichts ihrer besonderen ("konstituierenden") Bedeutung für die freiheitlich-demokratische Grundordnung zweifellos zukommenden hohen Rang einräumen muß; auf der anderen Seite hat aber auch das Recht der persönlichen Ehre eminente Bedeutung, was nicht zuletzt durch seinen "nahen systematischen Konnex"319 zu Art. 1 Abs. 1 GG dokumentiert wird, der Würde des Menschen, die - wenn denn schon Steigerungsstufen innerhalb der Verfassungsnormen angenommen werden - wohl den "obersten

daß beide zu (relativ) optimaler Wirksamkeit gelangen, enthält die bloße Feststellung, daß Mittel und Zweck nicht außer Verhältnis zueinander stehen, noch keine Aussage darüber, ob dieses Verhältnis auch optimal ist. Beide Maximen decken sich also nur insoweit, als eine optimale Zuordnung stets auch (im engeren Sinne) verhältnismäßig ist, nicht aber auch umgekehrt, vgl. E. Grabitz, AöR 98 (1973), 568,576. 317

Auch P. Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 151, räumt ein, daß die Wirkungskraft des Übermaßverbots im Felde der Kollisionslösung eine "eigentümliche Färbung" gewinnt. 318 H. Bethge, UFITA 95 (1983), 251,262. 319

R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 288.

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten ,f Ehrenschutzes

218

Verfassungswert" 320 darstellt. Im übrigen ist eine Einteilung in starke und schwache Verfassungsnormen im allgemeinen (und bei den Grundrechten im besonderen) jedenfalls dann nicht statthaft, wenn daraus auf der abstrakt-generellen Ebene Schlußfolgerungen gezogen werden sollen321. Die Entscheidung kann somit nur im jeweiligen Einzelfall getroffen werden. Unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und unter Einbeziehung aller in concreto relevanten Umstände müssen die miteinander konkurrierenden Interessen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden, um so dem Postulat der (Einzelfall-)Gerechtigkeit 322 so gut wie möglich Rechnung zu tragen. Daß mit diesem Zwang zur Einzelfallabwägung auch Gefahren verbunden sind, soll dabei keineswegs in Abrede gestellt werden. Die grundrechtlichen Wertaussagen drohen gewissermaßen in ein unendliches Bündel von Einzelentscheidungen "atomisiert" zu werden; an die Stelle des Grundgesetzes tritt zu Lasten der Rechtssicherheit eine Fülle von individuellen Abwägungsvorgängen, die der Gerichtsbarkeit obliegen. Verläßlichkeit und Berechenbarkeit des Rechts nehmen ab und wandeln sich um in Spekulationen, wie die zuständigen Gerichte wohl entscheiden werden: Situations- (schlimmstenfalls sogar "Stimmungs"-)jurisprudenz entsteht323. Diesen Gefahren kann jedoch sinnvollerweise nur dadurch begegnet werden, daß allmählich (im Wechsel von richterlicher Entscheidung und deren Diskussion324) falltypische Entscheidungsmuster, Orientierungsdaten und Merkposten herausgearbeitet werden, die auf einem möglichst weitgehenden Konsens hinsichtlich der vorzunehmenden Gewichtung der kollidierenden grundrechtlichen Interessen beruhen und die Zuordnung rationalisieren 325. Zwar darf, im Hinblick darauf, daß stets die Berücksichtigung sämtlicher Begleitumstände des Einzelfalles zu fordern ist (die sich niemals in allem gleichen), nicht erwartet werden, daß sich auf diese Weise feste Regeln herausbilden, die eine einfache Subsumtion jedes einzelnen 320

BVerfGE 33,23,29 (Eidesverweigerung aus Glaubensgründen). Vgl. H. Bethge, UFITA 95 (1983), 251,263.

321

322

Zur Orientierung des "spezifisch juristischen" Denkens an Gerechtigskeitsprinzipien siehe aus neuerer Zeit etwa P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 29 ff. m.z.N. 323 Siehe//. Bethge, UFITA95 (1983), 251,263. 324

Vgl. P. Häberle (1970), in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 235,301; M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 2. Aufl. 1976, S. 191 ff. 325 Siehe Ä Wendt, AöR 104 (1979), 414,467; H. Bethge, UFITA 95 (1983), 251,264.

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

219

Falles ermöglichen326; dadurch, daß die Fallvergleichung Analogien und eine gewisse Typisierung der Kollisionslagen ermöglicht, wird die Rechtsfindung aber doch wenigstens erleichtert und das Ergebnis berechenbarer gemacht327. Unverzichtbar bleibt zudem, um der rationalen Nachprüfbarkeit willen, das Erfordernis detaillierter und transparenter Begründung328. Zentrales Kriterium für die Herbeiführung des nach beiden Seiten hin "schonendsten" (und damit verfassungs"gerechten") Ausgleichs zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz sollte die Intensität der sich im jeweiligen Einzelfall alternativ gegenüberstehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen sein. Maßgeblich ist danach, welcher Eingriff sich in concreto als der schwerere darstellen würde: die Beschränkung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG für den Fall des Verbots einer bestimmten Äußerung oder die Verletzung des Rechts der persönlichen Ehre für den Fall, daß man sie zuließe. Ist nämlich bei dem einen der beiden Kontrahenten nur ein geringerer, bei dem anderen aber ein größerer Eingriff zu besorgen, dann muß der Erhaltung des stärker gefährdeten Grundrechts höheres Gewicht beigemessen werden als der Sicherung des weniger stark gefährdeten 329. Dieser Leitgedanke entspricht im wesentlichen jener (Präferenz-)Regel, die R. Alexy - in Anbetracht der dem Schema der "Güterabwägung" gelegentlich entgegengebrachten Skepsis330 vielleicht etwas unglücklich - als "Abwägungsgesetz" bezeichnet und überzeugend als Begründungsmodell für eine differenzierte Kollisionslösungspraxis herausgestellt hat: "Je höher der Grad der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips ist, um so größer muß die Wichtigkeit der Erfüllung des anderen sein"331. Das, was im Einzelfall durch das jeweilige Prinzip gefordert ist, wird auf diese 326

Vgl. Κ Lorenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 397.

327

In diesem Sinne auch F. Ossenbühl, Der Staat 10 (1971), 53, 80 f.; ders., NJW 1976, 2100, 2107; H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 316 ff.; ders., UFITA 95 (1983), 251, 264; R Wendt, AöR 104 (1979), 414, 467; W. Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz, 1982, S. 229. 328

Siehe R Wendt, AöR 104 (1979), 414,467 f.

329

Vgl. M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 72; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 101. 330 Siehe nur Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 72; (sehr) kritisch dazu wiederum etwa H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 315 f. 331 R Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 146.

220

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

Weise in die gebotene Relation zu dem, was das gegenläufige Prinzip verlangt, gesetzt und damit zugleich verdeutlicht, daß das Gewicht kollidierender (Verfassungs-)Prinzipien nicht abstrakt oder absolut bestimmbar ist, sondern stets nur konkret und relativ festgelegt werden kann.

2. Einzelne Ausgleichskriterien

Welche Gesichtspunkte bei der Herstellung "praktischer (konkreter) Konkordanz" im einzelnen den Ausschlag geben sollten, kann mithin nur sehr vorsichtig und anhand einiger typischer Fallkonstellationen entwickelt werden - bisweilen auch lediglich in (negativer) Abgrenzung zu dem, was keine Rolle spielen sollte: "Patentrezepte stehen nicht zur Verfügung; aber es kann ja manchmal schon von Nutzen sein, zur Ermöglichung einer besseren Therapie wenigstens die falsche Diagnose aufzudecken bzw. allzu grobschlächtigen Roßkuren entgegenzutreten."332 Wenn auch für den Fall der Kollision von Meinungsfreiheit und Ehrenschutz nicht allgemein gesagt werden kann, welche Grundrechtsposition von Verfassungs wegen Vorrang genießt (oder wieweit sie vorgeht) 333, so müssen doch die für den gebotenen Ausgleich maßgeblichen Kriterien wenigstens an der normativen Grundanlage des Grundgesetzes ausgerichtet werden, und zwar so, daß die widerspruchsfreie Einheit dieses Systems gewahrt bleibt, ohne dessen Entwicklung zu hemmen334. Herausragende Bedeutung gewinnt unter diesem Blickwinkel (erneut 335) die Besinnung auf das den konfligierenden Gewährleistungen jeweils zugrunde liegende Rechtsgut: "die (private oder politische) Meinungsbildung in Freiheit mit ihrer konstituierenden Wirkung für eine freiheitliche Demokratie"336 auf der einen und die ebenso zu den Fundamenten verfassungsstaatlicher Gemeinschaft zählende Verbürgung des dem einzelnen als unabdingbare Voraussetzung und schutzwürdiger immaterieller Ertrag personaler Entfaltungsfreiheit zukommenden Geltungswerts337 auf der anderen Seite. 332

H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 395.

333

Vgl. dazu auch P. Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 126. Siehe P. Emmerich/J. Würkner, NJW 1986,1195,1205.

334

335 336

Vgl. auch schon oben A I. 2. a) aa). W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 278.

337

Siehe dazu ausführlich oben 1.1. b).

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

221

Problemstrukturierend - und damit trotz der im Einzelfall zweifellos immer wieder auftretenden und bisweilen als kaum überwindlich erscheinenden Abgrenzungsschwierigkeiten338 nach wie vor unverzichtbar - ist sodann die Unterscheidung zwischen herabsetzenden Behauptungen tatsächlicher Art und ehrverletzender wertender Kritik 339 . Zwar unterscheidet Art. 5 Abs. 1 GG an sich nicht zwischen "Tatsachenbehauptungen" und "Werturteilen", weshalb der inzwischen (wohl) herrschenden Auffassung, daß auch Tatsachenmitteilungen (jedenfalls soweit sie Voraussetzung freier Meinungsbildung sind340) in den Normbereich dieser Bestimmung fallen 341, uneingeschränkt zuzustimmen ist; bei der Bestimmung der Zulässigkeitsgrenzen ehrverletzender Äußerungen können die Besonderheiten dieser beiden Kategorien von (Meinungs-)Äußerungen jedoch nicht außer Betracht bleiben: Während Tatsachenbehauptungen wahr oder falsch sein können, ist die "Richtigkeit" von Werturteilen und der dabei verwendeten, in einer pluralen, auf Meinungsvielfalt und Ideenwettstreit ausgerichteten Gesellschaft notwendig "subjektiven"342 (Wert-)Maßstäbe nach den Grundvorstellungen eines freiheitlichen Verfassungsstaates nicht beweisbar343. Wenn und soweit aber der Gehalt einer umstrittenen Äußerung im Einzelfall einer objektiven Klärung zugänglich ist, läßt sich die Notwendigkeit, diesen Umstand bei der Abschichtung der kollidierenden Grundrechtspositionen zu berücksichtigen, vernünftigerweise nicht in Abrede stellen. Sicher werden sich häufig "Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens" mit Elementen einer Tatsachenmitteilung "verbinden oder vermischen"344; in aller Regel werden ehrverletzende Äußerungskomplexe rechtlich zu würdigen sein, die sich aus wertender Kritik und tatsächlichen Behauptungen zusammensetzen. Auch dürfte in gewisser Weise jede Tatsachenbehauptung bereits durch die Wahl des Gegenstandes, des Zeit338

Zum Teil wird im Schrifttum die objektive Möglichkeit einer Trennung von Tatsachenbehauptung und Werturteil überhaupt verneint, siehe insbesondere R Herzog, in: Maunz/ Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 51 ff. 339 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch schon oben Erster Teil A III. 1. Siehe BVerfGE 61,1, 8 (Wahlkampf); 65,1, 41 (Volkszählung).

340 341

Vgl. dazu eingehend W. Schmitt Glaeser, AöR 97 (1972), 60, 276, 68 ff.; ders., JZ 1983, 95,96 f.; ders., AöR 113 (1988), 52,74 ff.; jeweils m.z.N. aus Rechtsprechung und Literatur. 342

Siehe W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 71 f.

343

Vgl. B. Rüthers, in: FS für M. Löffler, 1980, S. 303,307.

344

Siehe die Formulierungen in BVerfGE 61, 1, 8 f. (Wahlkampf); 65, 1, 41 (Volkszählung); 66,116,149 (Springer/Wallraff); 71,162,179 (Werbeverbot für Ärzte).

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

222

punktes und des sonstigen Bezugsrahmens der Äußerung wertende Elemente annehmen und enthalten345. In beiden Fällen sind eindeutige Kriterien der Abgrenzung schwer zu bestimmen und anzuwenden346. Aus diesem Grunde die herkömmliche (und zahlreichen Gesetzen zugrunde liegende 347 ) Differenzierung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen völlig aufgeben zu wollen, hieße aber "das Kind mit dem Bade auszuschütten"348. Es wird sich kaum bestreiten lassen, daß es erweislich wahre und erweislich falsche Tatsachenbehauptungen gibt. Wenigstens soweit es um derart klare Fälle geht, bildet die Wahrheit oder Unwahrheit der jeweiligen Äußerung einen unentbehrlichen Anknüpfungspunkt für die Grenzziehung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz. Aber auch wenn sich der wahre Sachverhalt nicht zweifelsfrei klären läßt oder wenn herabsetzende Tatsachenbehauptungen mit negativen Werturteilen zu "gemischten" Aussagen miteinander verbunden werden, darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß diskriminierenden Äußerung(steil)en tatsächlicher Art im Meinungskampf stets "die besondere Überzeugungs- und Beweiskraft des Faktums"349 zukommt und sie sich daher (im Falle ihrer Unwahrheit) als besonders gravierender Eingriff in das grundrechtlich verbürgte Recht der persönlichen Ehre des Betroffenen darstellen. Welche Gesichtspunkte bei der Festlegung der "Demarkationslinie" zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz im Einzelfall eine maßgebliche Rolle spielen sollten, muß daher im folgenden für beide Äußerungskategorien getrennt voneinander untersucht werden350.

34< Vgl. B. Rüthers, in: FS für M. Löffler, 1980, S. 303, 307 f.; R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 51; siehe dazu auch BVerfGE 12, 205, 260 (1. Fernseh-Entscheidung). Siehe dazu auch O.-F. Frhr. v.Gamm, Persönlichkeits- und Ehrverletzungen durch Massenmedien, 1969, S. 20 f. 347

Vgl. dazu ausführlich oben Erster Teil A III. So zutreffend B. Rüthers, in: FS für M. Löffler, 1980, S. 303,308.

348

349

BVerfGE 54, 208, 217 (Böll), in bezug auf die erhöhte Wirkkraft von Zitaten; für (andere) Tatsachenmitteilungen muß jedoch das gleiche gelten, vgl. W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,78. 350 Diese eher "funktionale" Bedeutung der Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen wird überwiegend auch von denjenigen anerkannt, die sie als "erkenntnistheoretisch nicht haltbar" bezeichnen, siehe dazu etwa Κ. E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 79 m.w.N.

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

223

a) Werturteile Daß Werturteile, also "wertende Betrachtungen von Tatsachen, Verhaltensweisen oder Verhältnissen"351 den Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG in sehr weitgehendem Umfang genießen müssen, ist nicht zu bezweifeln. Nach dem Grundgedanken und nach der Funktion der dort verankerten Grundrechte soll jeder "frei sagen können, was er denkt, was seine Meinung ist, auch wenn er keine nachprüfbaren Gründe für sein Urteil angibt oder angeben kann"352. Insbesondere darf es daher für die Zulässigkeit wertender Kritik nicht darauf ankommen, ob sie "zutreffend" oder "unzutreffend" ist, ob sie vernünftig oder unvernünftig erscheint, rational oder emotional begründet wird, als "wertvoll" oder "wertlos" angesehen werden kann353; "in einem pluralistisch strukturierten und auf der Konzeption einer freiheitlichen Demokratie beruhenden Staatsgefüge (ist) jede Meinung, auch (und gerade) die von etwa herrschenden Vorstellungen abweichende, (gleichermaßen) schutzwürdig"354. Nichts anderes als für die qualitative Indifferenz kann für den Bereich gelten, auf den sich die Stellungnahme bezieht355. Es muß gleichgültig sein, ob sie private oder politische (öffentliche) Angelegenheiten, soziale, kulturelle oder wirtschaftliche Belange, (gemeinschafts)"wichtige" Themen oder persönliche Liebhabereien betrifft. Der (objektive) Inhalt einer herabsetzenden Äußerung darf für die Frage ihrer Zulässigkeit keine Rolle spielen 356 . Ebenso außer Betracht bleiben muß der mit der Kritik im Einzelfall verfolgte (subjektive) Zweck. Ob von den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG Ge-

351

BVerfGE 33,1,14 (Strafvollzug).

W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 71, unter Verweis auf BVerfGE 42,163,170 f. (Echternach); 61, 1, 7 (Wahlkampf); siehe auch schon ders., Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, 1968, S. 126 mit Fn. 231. 353 In diesem Sinne auch (allerdings in der Regel nur bei der Bestimmung dessen, was als Äußerung einer "Meinung" vom Normbereich des Art. 5 Abs. 1 GG umfaßt wird) etwa BVerfGE 30, 336, 347 ("Sonnenfreunde"); 33, 1,14 f. (Strafvollzug); 61,1, 7, 8 (Wahlkampf); 66, 116, 151 (Springer/Wallraff); 71, 162, 179 (Werbeverbot für Ärzte); BVerfG (Kammer) NJW 1989,381,382 (Aufruf zum "Mietboykott"). 354

BVerfGE 33,1,15 (Strafvollzug); W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,71 f.

355

Siehe W. Schmitt Glaeser, ebd., 72. Vgl. dazu ausführlich bereits oben A I. 2. b) aa) (1) und (3).

356

224

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

brauch gemacht wird, um einen Beitrag zur Bildung der "öffentlichen Meinung" in einer das Gemeinwohl berührenden Frage zu leisten, oder ob der sich Äußernde damit privatnützige Ziele verfolgt (etwa einen irgendwie gearteten "Gewinn" anstrebt357), darf zu unterschiedlicher rechtlicher Bewertung kein Anlaß sein; ansonsten unzulässige Ehrverletzungen können nicht deshalb erlaubt sein, weil sie politisch oder sonstwie "anerkennenswert" ("edel") motiviert sind358. Ein geeignetes und vor allem verfassungsrechtlich begründbares Kriterium für die Bestimmung der Zulässigkeitsgrenzen ehrverletzender wertender Kritik ist jedoch die Form, in der ein herabsetzendes Werturteil geäußert wird. "Zwar umfaßt Art. 5 Abs. 1 GG grundsätzlich auch die Freiheit, selbst darüber zu entscheiden, wie ein Gedanke formuliert werden soll. Es wäre mit der Bedeutung, die das Grundgesetz der freien Rede und namentlich der unabhängigen Presse zuerkennt, nicht in Einklang zu bringen, wenn dem Einzelnen vorgeschrieben würde, in welcher Form er seine gedanklichen Beiträge 'angemessen* auszudrücken hätte."359 Das heißt aber nicht, daß die Form einer Meinungsäußerung denselben Schutz genießen müßte wie ihr Gedanken/n/w/r360. Der Blick auf das den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG zugrunde liegende Rechtsgut läßt deutlich erkennen, daß der Schutz, den diese Verfassungsbestimmung der inhaltlichen Substanz von Gedankenäußerungen gewährt, ihr /faw/rtanliegen ist, und daß darin auch die besondere ("konstituierende") Bedeutung der dort verankerten Grundrechte für den freiheitlichen demokratischen Staat liegt361. Demgegenüber erscheinen Einschränkungen der Meinungsfreiheit, die lediglich die Form einer Äußerung betreffen, als weniger gravierend 362; denn in aller Regel

357 Siehe W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,72. - Auch die von G. Dürig,, DOV 1958, 194,197, zur Lösung von Grundrechtsantinomien vorgeschlagene "Faustregel", "daß das 'Geistige' und 'Immaterielle' grundsätzlich Vorrang vor dem 'Ökonomischen' und 'Materiellen' hat", unterliegt daher erheblichen Bedenken. 358 Vgl. dazu ausführlich bereits oben Α. I. 2. b) aa) (2) und (3). 359

BVerfGE 42,143,149 f. (Deutschland-Magazin); siehe zum grundsätzlichen Schutz der Form einer Meinungsäußerung auch etwa BVerfGE 47,198, 233 (Wahlwerbespot KPD/ML); 54,129,138 f. (Kunstkritik); 60,234,239,241 ("Kredithaie"). 360 Siehe W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,73 m.w.N. 361

In diesem Sinne auch BVerfGE 42, 163, 169 (Echternach); 47, 198, 233 (Wahlwerbespot KPD/ML). 362

Vgl. BVerfGE 42,143,149 (Deutschland-Magazin).

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

225

"lassen sich Formulierungen ohne Schwierigkeit auswechseln, ohne daß der Gedanke als solcher darunter leidet"363. Dieser (graduelle) Unterschied rechtfertigt es (und legt es zugleich nahe), bei der Grenzziehung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz im Falle herabsetzender wertender Kritik maßgeblich darauf abzustellen, ob der sich Äußernde bei der Formulierung seines negativen Werturteils jene Zurückhaltung bewahrt hat, zu der die Rücksichtnahme auf die persönliche Ehre anderer zwingt. Allein auf diese Weise läßt sich erreichen, daß weder der von der herabsetzenden Kritik Betroffene überflüssige Verunglimpfungen hinnehmen noch dem Kritiker ein Verzicht auf gedankliche Teile seiner Äußerung zugemutet werden muß. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte kurzfristig diesen (Kollisions-) Lösungsweg eingeschlagen und es dementsprechend vor allem364 in seinen beiden Beschlüssen zur Zulässigkeit abwertender Äußerungen über die "Deutschland-Stiftung"365 für ausschlaggebend erachtet, ob den Beschwerdeführern nur die wörtliche oder auch die sinngemäße Wiederholung ihrer negativen Kritik verboten worden war 366. In der Folgezeit gab das Gericht diese Rechtsprechung dann jedoch schrittweise367 wieder auf, und (spätestens) seit dem "Wahlkampf-Beschluß"368 sieht es die Zulässigkeitsgrenzen 363

BVerfGE 42,143,150 (Deutschland-Magazin); siehe dazu auch W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 104, der meint, daß "sich fast jeder Gedanke auch in angemessener und sachlicher Form vorbringen läßt". 364 Siehe aber auch BVerfGE 47,198, 233 (Wahlwerbespot KPD/ML). 365 BVerfGE 42,143 (Deutschland-Magazin), und BVerfGE 42,163 (Echternach). - Siehe dazu bereits ausführlich oben Erster Teil Β. 1.1. 366

367

BVerfGE 42,143,151 (Deutschland-Magazin); 42,163,168 ff. (Echternach).

Zunächst schien das Gericht die Unterscheidung zwischen "Inhalt" und "Form" negativer Werturteile nur dann nicht aufrechterhalten zu wollen, wenn es nicht um "das beschränkte Verbot, eine bestimmte ehrverletzende Formulierung wörtlich zu wiederholen", sondern um die gerichtliche Verhängung nachträglicher "Sanktionen" ging, da solche Maßnahmen unvermeidlich auch präventive Wirkungen entfalteten und dadurch die Bereitschaft minderten, auch in Zukunft Kritik zu üben, so daß letztlich auch die Kundgabe von Gedanken behindert werde, vgl. BVerfGE 54,129, 135 f., 139 (Kunstkritik); 60, 234, 241 ("Kredithaie"). Seit dem "Wahlkampf-Beschluß", der "lediglich" ein Unterlassungsurteil zum Gegenstand hatte, ist aber klar, daß das Gericht dem Kriterium der Äußerungsform überhaupt keine Bedeutung mehr beimißt; ob "dem Beschwerdeführer nicht nur der Gebrauch einer Formulierung, sondern auch die Äußerung bestimmter Gedankeninhalte für die Zukunft untersagt werden" sollte, konnte nämlich nach Auffassung des Gerichts "offenbleiben", siehe BVerfGE 61,1,6 (Wahlkampf). 368 BVerfGE 61,1 ff. 15 Mackeprang

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2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

ehrverletzender Werturteile (offenbar) erst d^nn als überschritten an, wenn mit ihnen hauptsächlich der Zweck verfolgt wird, andere zu diffamieren, wenn es dem sich Äußernden also "nicht um die Sache, sondern in erster Linie um vorsätzliche Kränkung"369 des Betroffenen geht, und seine Äußerung daher als über das Maß des Erlaubten hinausgehende "Schmähkritik" einzustufen ist 370 3 7 1 . Damit freilich findet der Ehrenschutz gegenüber herabsetzender wertender Kritik im Ergebnis so gut wie überhaupt nicht mehr statt372 und wird das Gewichtsverhältnis zwischen den kollidierenden Grundrechtspositionen allzu einseitig zugunsten der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG verschoben, muß doch die Feststellung dieser, im subjektiven Bereich angelegten Voraussetzungen naturgemäß allergrößte Schwierigkeiten bereiten, und wird ihr Vorliegen daher allenfalls in seltenen Ausnahmefällen bejaht werden können. Zurückzuführen sein dürfte der beschriebene Wandel in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht zuletzt (auch) auf das zum "Deutschland-Magazin-Beschluß"373 des Gerichts ergangene Sondervotum der Richterin W. Rupp-von Brünneck: 374, in dem die von der Senatsmehrheit vorgenommene Unterscheidung zwischen Inhalt und Form negativer Werturteile als "nicht ohne Einbuße für die Betätigung der Meinungsfreiheit" durchführbar verworfen worden war 375 , und das in der rechtswissenschaftlichen Diskussion nicht ohne Widerhall geblieben ist 376 - ein anschauliches Beispiel dafür, wie "Sondervoten das 'Rechtsgespräch 9 (A. Arndt) innerhalb

369

BVerfGE 61,1,12 (Wahlkampf).

370

Vgl. BVerfGE 61,1,11 ff. (Wahlkampf); 66,116,151 (Springer/Wallraff); 68, 226, 230 ff. ("Schwarzer Sheriff'); der Bundesgerichtshof ist dem gefolgt, siehe aus neuerer Zeit etwa BGH NJW 1987, 1398, 1398 (Kampfanzug unter der Robe); BGH NJW 1987, 2225, 2227 (Chemiegift einfach weggekippt). 371

Im Sinne der früheren Rechtsprechung zwischenzeitlich allerdings BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1985, 263, 264 (Hessenlöwe); angedeutet auch in BVerfG (Kammer) NJW 1989,1789,1789 (Rasterfahndung): "... konnte mithin sein Anliegen ohne inhaltliche Abstriche zum Ausdruck bringen, ohne das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Kl. zu beeinträchtigen". 372 Siehe W Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,95. 373

BVerfGE 42,143 ff.

374

BVerfGE 42,143,154 ff.

375

Vgl. BVerfGE 42,143,154,158 ff. (Deutschland-Magazin/Sondeivotum).

376

Siehe etwa Κ. E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 262; W Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,65 f.

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

227

der Senate für die Zukunft anregen, ermöglichen und offenhalten" sowie (bisweilen) auch "normierende Kraft in der Öffentlichkeit entfalten" kön377

nen . Die abweichende Meinung hatte geltend gemacht, daß es im Einzelfall durchaus schwierig, wenn nicht sogar unmöglich sein könne, eine erlaubte Ersatzformulierung in der gebotenen (publizistisch wirksamen) Form zu finden. Die unmittelbare Folge sei eine entsprechende Verunsicherung der Betroffenen, die im Zweifel von der Äußerung ihres Gedankens lieber ganz absehen würden, als sich dem Risiko erneuter Verurteilung auszusetzen. Bei isolierter Betrachtung der hier streitigen Äußerung möge das zwar nicht allzu tragisch sein, bedenklich sei aber die generalpräventive Wirkung, die von einer solchen Spaltung zwischen dem Inhalt und der Form des Werturteils und von der allgemeinen Unsicherheit über die von dem jeweils zuständigen Gericht zu erwartende "Zensur" der Form ausgehen könne 378 . Dabei komme es nicht darauf an, ob im Einzelfall - wie bei einem Strafurteil oder einer zivilgerichtlichen Verurteilung zu Schadensersatz bzw. "Schmerzensgeld"- die Verhängung nachträglicher Sanktionen in Frage stehe oder ob es "nur" um die Verurteilung zur künftigen Unterlassung einer bestimmten Äußerung gehe. In jedem Falle würden die Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG gleichermaßen dadurch beeinträchtigt, daß eine in der Vergangenheit begangene Handlung rückschauend als rechtswidrig beurteilt werde 379. Dieser Ansicht kann jedoch nicht gefolgt werden. Soweit einem Kritiker lediglich verboten wird, eine bestimmte ehrverletzende Formulierung wörtlich zu wiederholen, wird man von einem die Meinungsfreiheit empfindlich berührenden "Verunsicherungs- bzw. Einschüchterungseffekt" 380 ernsthaft nicht ausgehen können. Niemand wird bereits im voraus von der Äußerung eines negativen Werturteils allein deshalb absehen, weil er es möglicherweise irgendwann einmal nicht mehr wiederholen darf 381. Allenfalls die "Befürchtung, wegen einer wertenden Äußerung einschneidenden gerichtli-

377 378

Ì79

P. Häberle, in: ders., Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1,26. Vgl. BVerfGE 42,143,154,159 (Deutschland-Magazin/Sondervotum).

lfif) Siehe BVerfGE 42,143,154,159 f. (Deutschland-Magazin/Sondervotum). Vgl. dazu näher W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,65 ff. 381 ·

In diesem Sinne (wohl) auch noch BVerfGE 42, 143,151 (Deutschland-Magazin); 54, 129,135 f. (Kunstkritik). 15

228

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

chen Sanktionen ausgesetzt zu werden"382, mag in der Tat die Bereitschaft mindern, allzu "gedankenlos" herabsetzende Kritik an anderen zu üben und auf diese Weise zu einer gewissen Beeinträchtigung der "Spontaneität freier Rede"383 führen; daß das - letztlich mit jeder (Grund-)Rechtsausübung (warum also nicht auch mit dem Äußern ehrverletzender Werturteile?) verbundene - Risiko, wegen eines Überschreitens der durch gleichrangige - und daher von der Schutzpflicht des Staates gleichermaßen umfaßte 384 (Grund-)Rechte anderer (hier: durch das Recht der persönlichen Ehre) gezogenen Grenzen die hierfür von der Rechtsordnung vorgesehenen Sanktionen hinnehmen zu müssen, die Gefahr in sich tragen soll, "die Meinungsfreiheit in ihrer Substanz (zu) treffen" 385, "öffentliche Kritik und öffentliche Diskussion zu lähmen"386 und damit "Wirkungen herbeizuführen, die der Funktion der Freiheit der Meinungsäußerung in der durch das Grundgesetz konstituierten Ordnung zuwiderlaufen" 387, erscheint dagegen als eine zu einseitig am Postulat der "Zulässigkeit freier Rede" orientierte Betrachtungsweise388. Die gegenüber der hier vorgeschlagenen Differenzierung zwischen (stets) erlaubtem Äußerungsm/iö/r und (partiell) verbotener Ausdrucksform ins Feld geführte Kritik, daß sich eine solche Unterscheidung "nicht ohne Einbuße für die Betätigung der Meinungsfreiheit durchführen" lasse389, verkennt zudem, daß der vorzunehmende Ausgleich zwischen den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG einerseits und dem Recht der persönlichen BVerfGE 54,129,139 (Kunstkritik); 60,234, 241 ("Kredithaie"). 383

BVerfGE 54,129,139 (Kunstkritik).

Zur Schutzpflichtdimension der Grundrechte im allgemeinen und des (Grund-)Rechts der persönlichen Ehre im besonderen ausführlich bereits oben 1.2. b) bb) und c). 385

BVerfGE 43,130,136 (Politisches Flugblatt).

386

BVerfGE 60,234,241 ("Kredithaie"); ähnlich BVerfGE 54,129,139 (Kunstkritik).

1Ä7

BVerfGE 54, 129, 139 (Kunstkritik); fast wortgleich BVerfGE 60, 234, 241 ("Kredithaie"). 388

In diesem Sinne hieß es zutreffend noch in BVerfGE 47, 198, 233 (Wahlwerbespot KPD/ML): "Strafvorschriften (!), die zum Schutz des Ansehens Dritter ... der Form von Äußerungen Grenzen setzen, führen deshalb (sc.: weil die besondere Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 GG für den freiheitlichen demokratischen Staat vor allem in dem Schutz liegt, den er der inhaltlichen Substanz von Gedankenäußerungen gewährt) solange nicht zu einer unzulässigen Beschränkung der freien Rede, als der gedankliche Gehalt durch den Gebrauch einer anderen, nicht kränkenden Ausdrucksform verbreitet werden kann, dem sich Äußernden also ein Verzicht auf gedankliche Teile seiner Äußerung nicht zugemutet wird." 389

Siehe BVerfGE 42,143,154,159 (Deutschland-Magazin/Sondervotum).

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

229

Ehre andererseits notwendigerweise mit einer "Verengung des Freiheitsraums für den Bürger und die Presse"390 verbunden sein muß, soll dem verfassungsmäßigen Gebot der Optimierung beider kollidierenden Grundrechtspositionen wirklich Rechnung getragen werden; damit beide (Verfassungs-)Rechtsgüter zu (relativ) optimaler Wirksamkeit gelangen können, müssen eben beiden Grundrechten Grenzen gezogen werden391. Genau das aber ist der Fall, wenn bei der Grenzziehung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz entscheidend auf die Form des herabsetzenden Werturteils abgestellt wird; denn während "Kraftakte" zur "Harmonisierung" rivalisierender Verfassungsprinzipien ansonsten häufig genug (utopischen392) Bemühungen um eine "Quadratur des Kreises" zu gleichen scheinen und das Postulat "praktischer Konkordanz" daher von manchem gar als "theologische Leerformel" angesehen wird 393, zeichnet sich hier die durchaus konkrete Möglichkeit ab, im Wege wechselseitiger Beschränkung beide Wertentscheidungen der Verfassung (wiewohl konträr) zugleich Wirklichkeit gewinnen zu lassen. Was die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG betrifft, so dürfte die Pflicht zur Zurückhaltung bei der Formulierung herabsetzender Werturteile im allgemeinen so lange nicht zu einer schwerwiegenden - und damit das diesen Gewährleistungen zugrunde liegende Rechtsgut in seiner Substanz treffenden - Beschränkung der Äußerungsfreiheit führen, als die beabsichtigte Kritik auch durch den Gebrauch einer anderen, nicht (oder weniger) kränkenden Ausdrucksform vorgebracht werden kann, dem sich Äußernden also ein Verzicht auf gedankliche Teile seiner Verlautbarung nicht zugemutet wird 394; und was das (Grund-)Recht der persönlichen Ehre angeht, so dürfte der verfassungsrechtlich verbürgte Geltungswert des einzelnen durch die ihm auferlegte Pflicht zur Hinnahme jenes Maßes an Kritik, das in einem freien Staat auch an Personen zulässig sein muß, so lange nicht in unerträg390 391

BVerfGE 42,143,154,160 (Deutschland-Magazin/Sondervotum).

Vgl. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. 392 Aufl. 1988, Rn. 72. Zur Bedeutung von "Utopien" im und für den Verfassungsstaat siehe näher P. Häberle, in: GS für W. Martens, 1987, S. 73 ff. 393 394

Siehe etwa H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 315.

Vgl. auch G. v.dDecken, Meinungsäußerungsfreiheit und Ehrenschutz in der politischen Auseinandersetzung, 1980, S. 169; ders., NJW 1983, 1400, 1403: "Das Verbot ehrverletzender Ausdrücke schränkt die Artikulationsmöglichkeiten nicht wesensmäßig ein, sondern relativiert sie lediglich in ihrem Randbereich."

230

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

licher Weise beeinträchtigt sein, als der von einem negativen Werturteil Betroffene von überflüssig kompromittierenden Formulierungen verschont wird und ihm demgemäß die schutzwürdigen Erträge vergangener sowie die unabdingbaren Voraussetzungen künftiger Entfaltungsfreiheit (wenigstens zum Teil) erhalten bleiben. Zu klären bleibt damit "lediglich", wann die Form einer ehrverletzenden wertenden Kritik zu ihrer Unzulässigkeit führen muß. Diese Frage wird sich indessen letztlich nur im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der besonderen Begleitumstände der Äußerung befriedigend beantworten lassen; von Verfassungs wegen jedenfalls kann ein abschließender Katalog unzulässiger "Schimpfworte" nicht erstellt werden. Welche Formulierungen der einzelne im (privaten oder öffentlichen) Meinungskampf hinnehmen muß und welche Ausdrücke das Maß des Erlaubten überschreiten, wird vielmehr maßgeblich von der allgemeinen Verkehrsauffassung bestimmt ein freilich seinerseits konkretisierungsbedürftiger Maßstab, der jedoch immerhin "die Richtung" angibt, in der die Lösung zu suchen ist. Bei der Beurteilung einzelner Ausdrucksformen haben die jeweils zur Entscheidung Berufenen stets im Auge zu behalten, daß (auch) der verfassungsrechtliche Ehrenschutz eine "Zensur" von negativen Werturteilen im Sinne einer inhaltlichen Bewertung der geäußerten Kritik nicht zu rechtfertigen vermag. Eine solche Bewertung darf auch nicht in verdeckter Manier erfolgen, indem eine Äußerung angeblich wegen ihrer Form, in Wahrheit aber wegen ihres Inhalts als "unsachlich" oder "exzessiv" mißbilligt wird 395. Von einer wegen mangelnder Rücksicht auf die persönliche Ehre anderer durch die Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG nicht mehr gedeckten Art und Weise der Formulierung kana daher nur dann ausgegangen werden, wenn (und soweit) neben das eigentliche negative Werturteil kumulativ noch ein weiteres ehrenrühriges Moment durch die Form dei* Äußerung hinzutritt, das (Verfassungs-)Rechtsgut "Ehre" also gewissermaßen doppelt tangiert wird. Es muß eine Ehrverletzung vorliegen, die über die bereits durch den Inhalt der abwertenden Kritik bewirkte Beeinträchtigung des Geltungswerts des Betroffenen hinausgeht.

395

Siehe H. Stoll, Jura 1979, 576, 584. - Zu pauschal formulierte dagegen der Bundesgerichtshof in seinem ersten "Böll-Urteil": "Das Recht auf freie Rede ist auch vor den repressiven Wirkungen einer über die Form ausgeübten Zensur zu schützen" (BGH NJW 1978, 1797, 1798).

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

231

Wendet man diese Grundsätze exemplarisch auf die vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Kollisionsfälle 396 an, so zeigt sich, daß dem Gericht (auch) in den von ihm jeweils gefundenen Ergebnissen nicht immer zugestimmt werden kann. So hätte etwa nach der hier vertretenen Auffassung weder die dem "Schmid/Spiegel-Beschluß"397 zugrunde liegende Verpönung des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" als eine der "Pornographie" vergleichbare "Reizliteratur" noch die im "Kunstkritik-Beschluß"398 zu würdigende Bezeichnung des Ausgangsklägers als "dialektischer Gartenzwerg" als (noch) durch Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt angesehen werden dürfen. In diesen Formulierungen lag jeweils ein zusätzlicher, über die bereits mit dem gedanklichen Inhalt der von den Beschwerdeführern geübten Kritik bewirkte Herabsetzung hinausgehender Angriff auf den verfassungsrechtlich verbürgten Geltungswert der Betroffenen, dessen Verbot die Meinungsfreiheit der sich Äußernden nur in einem Randbereich eingeschränkt hätte, dessen Zulassung hingegen die Verunglimpften gegenüber einer erheblichen Verletzung ihrer persönlichen Ehre schutzlos stellte. Demgegenüber hielt das Bundesverfassungsgericht etwa die im "Tonjäger-Beschluß"399 zu beurteilende Unterlassungsverfügung im Ergebnis zu Recht (wenn auch mit unzutreffender Begründung) für verfassungswidrig. Der von den Beschwerdeführern erhobene Vorwurf, die GEMA wolle in "östliche Zustände" hineinführen, berührte den Geltungsanspruch der Interessenvertreterin der Urheber allein wegen seines Inhalts, nicht dagegen (auch) wegen seiner Form. Das gleiche gilt für die dem "Wahlkampf-Beschluß"400 des Gerichts zugrunde liegende Behauptung, die CSU sei "die NPD von Europa". Die in dieser, richtigerweise als "Werturteil" eingestuften 401 Äußerung enthaltene und zweifellos als gravierend anzusehende Herabwürdigung des politischen Gegners liegt ausschließlich in ihrer inhaltlichen Aussage, mit der die betroffene demokratische Partei "in die nationalsozialistische bzw. neonazistische 'Ecke' geschoben und mit den Zielsetzungen dieses zutiefst inhumanen Systems in Verbindung ge-

396 3 9 7Vgl.

dazu ausführlich oben Erster Teil Β. I. BVerfGE 12,113 ff.

398

BVerfGE 54,129 ff.

399

BVerfGE 24,278 ff.

400

BVerfGE 61, Iff.

401

Siehe dazu auch W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,97.

232

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

bracht"402 wird; die gewählte Formulierung als solche enthielt dagegen kein "Mehr" an Ehrabsprechung. Dies bedeutet aber, daß die beanstandete Diskriminierung hier nur dadurch hätte vermieden werden können, daß dem sich Äußernden ein Verzicht auf gedankliche Teile seiner Äußerung zugemutet worden und das den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG zugrunde liegende Rechtsgut damit in seinem Kernbereich getroffen gewesen wäre.

b) Tatsachenbehauptungen Anders als die inhaltliche Substanz ehrverletzender wertender Kritik ist der Gehalt herabsetzender Behauptungen tatsächlicher Art einer objektiven Klärung prinzipiell zugänglich und steht als etwas Geschehenes dem Beweis offen 403. Dies macht es möglich und rechtfertigt es, die Wahrheit einer abwertenden Tatsachenbehauptung zum wichtigsten Maßstab ihrer Zulässigkeit zu erheben. Die Behauptung oder Verbreitung erweislich wahrer Tatsachen stellt dabei nach der hier vertretenen Auffassung - mag sie das gesellschaftliche Ansehen des Betroffenen auch noch so sehr mindern - schon keine Ehrverletzung dar und ist daher grundsätzlich als zulässig anzusehen404. Denn die Mitteilung der Wahrheit als solche vermag allenfalls einen zu Unrecht erworbenen oder erhaltenen (guten) "Ruf zu beeinträchtigen oder zu zerstören; den Schutz der Verfassung genießt aber nur der der konkreten Weise ihrer Persönlichkeitsentfaltung entsprechende und in diesem Sinne "begründete" Geltungswert einer Person405. Nur ausnahmsweise können die Grenzen der Äußerungsrechte des Art. 5 Abs. 1 GG trotz erwiesener Wahrheit der Behauptung dann überschritten sein, wenn sich aus der Formulierung oder den äußeren Umständen der Darstellung im Einzelfall eine derart gesteigerte Mißachtung des Betroffenen ergibt, daß ihr (gegenüber der wahren Tatsachenmitteilung) selbständiges Gewicht zukommt und die Äußerung damit wegen ihrer verunglimpfenden Form als unzulässig ange-

402

W. Schmitt Glaeser, ebd., 99.

403

Vgl. oben Erster Teil A. III.!.

404

Prägnant H. Weitnauer, DB 1976, 1365,1413, 1413: "Was wahr ist, darf man sagen und muß man sagen dürfen"; zustimmend P. Schwerdtner, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1,2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 252. 405 Siehe oben 1.1. b) aa).

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

233

sehen werden muß406. Die Ausführungen zur Bestimmung der Zulässigkeitsgrenzen ehrverletzender Werturteile gelten insoweit entsprechend. Genauso wie die Behauptung erweislich wahrer Tatsachen im allgemeinen schon den Normbereich des (Grund-)Rechts der persönlichen Ehre nicht tangiert, stellt sich umgekehrt die Frage, ob die Behauptung erweislich unwahrer Tatsachen nicht bereits von vornherein außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 GG verbleiben muß. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hierzu bislang nur sehr widersprüchlich geäußert. Im "Wahlkampf-Beschluß"407 führte das Gericht zunächst aus, daß (lediglich) die nbewußte Behauptung unwahrer Tatsachen" und "unrichtige Zitate"408 durch Art. 5 Abs. 1 GG nicht mehr geschützt seien. Im übrigen bedürfe es der Differenzierung, wobei es namentlich darum gehe, die Anforderungen an die Wahrheitspflicht nicht so zu bemessen, daß darunter die Funktion der Meinungsfreiheit in Gefahr geraten oder leiden könne. Der Satz, die Vermutung spreche für die Zulässigkeit der freien Rede, gelte infolgedessen für Tatsachenbehauptungen nur einschränkt; soweit unrichtige Tatsachenbehauptungen nicht schon von vornherein außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG verblieben, seien sie Einschränkungen leichter zugänglich als das Äußern eines Werturteils 409. Diese Passage der Entscheidung spricht ganz offensichtlich dafür, daß es nach Auffassung des Gerichts unwahre Tatsachenbehauptungen gibt, die nicht vom Normbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfaßt sind, aber auch solche, die den grundrechtlichen Schutz dieser Bestimmung genießen410. Bereits im folgenden Absatz heißt es dann allerdings: "Was... nicht zur verfassungsmäßig vorausgesetzten Meinungsbildung beitragen kann, ist nicht geschützt, insbesondere die erwiesen oder bewußt unwahre Tatsachenbehauptung."411 Danach wiederum müßten sich letztlich alle unwahren Tatsachenbehauptungen außerhalb des Schutzbereichs der Freiheiten des Art. 5 Abs. 406

Der Rechtsgedanke des § 192 StGB ('Veritas convicii non excusat injuriam") kann mithin auch auf Verfassungsebene Gültigkeit beanspruchen. 407

BVerfGE 61, Iff.

408 4 0 9BVerfGE

61,1,8 (Wahlkampf) - Hervorhebung durch den Verfasser. Vgl. BVerfGE 61,1,8 (Wahlkampf).

410

Siehe W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,96.

411

BVerfGE 61,1, 8 (Wahlkampf) - Hervorhebung durch den Verfasser; ebenso K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 16. Aufl. 1988, Rn. 391: "Nicht geschützt wird durch Art. 5 GG die bewußt oder erwiesen unwahre Tatsachenmeldung."

234

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

1 GG bewegen; denn Tatsachenbehauptungen, die nicht "erwiesen" unwahr sind, sind eben keine "unwahren" Tatsachenbehauptungen, sondern solche, deren (Un-)Wahrheit nicht feststeht; sie können daher auch nur dementsprechend behandelt werden412. Richtigerweise wird man lediglich die bewußte Behauptung unwahrer Tatsachen von vornherein aus dem Normbereich des Art. 5 Abs. 1 GG herausfallen lassen können. Ausschlaggebend für diese (Teil-)Ausgrenzung ist allerdings nicht die bundesverfassungsgerichtliche Erwägung, daß eine solche Information "unter dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Gut"413 ist, "weil sie der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Aufgabe zutreffender Meinungsbildung nicht dienen kann"414. "Auch die nicht bewußt unrichtige Tatsachenmitteilung muß zu einer Meinungsbildung führen, die notwendig unrichtig ist."415 Vielmehr läßt sich - gerade was den verfassungsrechtlichen Schutz der persönlichen Ehre betrifft bereits dem Grundgesetz selbst eine entsprechende Wertung entnehmen; denn wenn die Verfassung sogar mit dem Status der Abgeordneten - die im Rahmen ihrer "in der Demokratie unverzichtbare(n) Kompetenz zur Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben" 416 (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) frei und selbstverantwortlich den politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß auf höchster Stufe aufzunehmen und in "staatliche" Willensbildung zu überführen haben - keine Privilegierung für wider besseres Wissen erfolgte Behauptungen ehrenrühriger unwahrer Tatsachen verbindet (Art. 46 Abs. 1 Satz 2 GG), so wird dies "erst recht" für die damit korrespondierenden Freiheiten des Bürgers gelten müssen, wie Art. 5 Abs. 1 GG sie schützen will 417 . Erfolgt die Behauptung einer unwahren Tatsache dagegen unbewußt - sei es, weil der sich Äußernde seine Unterstellung (irrtümlich) für richtig hält, sei es, weil er (zu Recht oder zu Unrecht) davon ausgeht, daß sich die (Un-)Wahrheit seiner Hypothese (zum Zeitpunkt ihrer Äußerung) nicht

412

Vgl. W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,96.

413

BVerfGE 54,208,219 (Boll); 61,1,8 (Wahlkampf).

414

BVerfGE 54, 208, 219 (Boll), unter Verweis auf BVerfGE 12, 113, 130 (Schmid/Spie-

gel). 415

W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,96.

416

BVerfGE 60,374,380 (Abelein).

417

Siehe dazu schon H. Ridder, JZ 1961,537,539.

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

235

feststellen lasse - , so wird man einer solchen "Meinungsäußerung" den Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 GG nicht a priori vorenthalten dürfen. Der Grund hierfür ist allerdings weniger - wie das Bundesverfassungsgericht meint - darin zu sehen, daß andernfalls die Anforderungen an die Wahrheitspflicht zu hoch bemessen würden418. Mit Recht ist demgegenüber geltend gemacht worden, daß die vom Gericht im "Böll-Beschluß"419 hinsichtlich der Wiedergabe fremder Äußerungen vertretene Auffassung, daß weder "die öffentliche Meinungsbildung noch die demokratische Kontrolle ... unter dem Erfordernis leiden (können), richtig zitieren zu müssen"420, sinngemäß auch für (andere) Tatsachenmitteilungen zu gelten habe421. Demjenigen, der Behauptungen tatsächlicher Art aufstellen oder verbreiten möchte, werden keine wesentlichen oder gar unzumutbaren Erschwerungen oder Risiken auferlegt, wenn er verpflichtet wird, mit der Wahrheit nicht leichtfertig umzugehen422. "Wer sich, aus welchen Gründen auch immer, im Hinblick auf Fakten nicht sicher ist, kann seine Äußerung (zudem) als Meinung, als Dafürhalten verbreiten." 423 Gegen eine pauschale Ausklammerung unbewußt unwahrer Tatsachenbehauptungen aus dem Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 GG spricht vielmehr in erster Linie, daß es sich in der Praxis kaum vermeiden lassen wird, daß sich eine Tatsachenbehauptung trotz Aufbringung größtmöglicher Sorgfalt schließlich doch als falsch herausstellt424. In diesen Fällen425 41 D Vgl. BVerfGE 54,208,219 f. (Böll): "Eine Übersteigerung der Wahrheitspflicht und die daran anknüpfenden, unter Umständen schwerwiegenden Sanktionen könnten zu einer Einschränkung und Lähmung namentlich der Medien führen; diese könnten ihre Aufgaben, insbesondere diejenige öffentlicher Kontrolle, nicht mehr erfüllen, wenn ihnen ein unverhältnismäßiges Risiko auferlegt würde"; siehe auch BVerfGE 61,1,8 (Wahlkampf). 419 BVerfGE 54,208 ff. 420

BVerfGE 54, 208,220 (Böll).

421

Siehe W. Schmitt Glaeser, JZ 1983,95,97; ders., AöR 113 (1988), 52,77 f.

422

In diesem Sinne auch Ch. Degenhart, in: Bonner Kommentar, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Art. 5 Abs. 1 u. 2 (1987), Rn. 139. 423 W. Schmitt Glaeser, JZ 1983, 95, 97; ebenso ders., AöR 113 (1988), 52, 77. - Dem entspricht es, wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem "Böll-Beschluß" feststellt, daß nicht ersichtlich sei, "daß umfassende Information und freie Meinungsbildung eingeschränkt oder daß öffentliche Kritik unzumutbaren Risiken unterworfen würde, wenn deijenige, der eine Äußerung wiedergeben möchte, erkennbar zu machen hat, ob es sich um die genaue Wiedergabe oder um seine Deutung des Geäußerten handelt" (BVerfGE 54,208,221 f.). 424

Treffend W. Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz, 1982, S. 230: "Die Wahrheit ist eine Schwester der Zeit."

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2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

darf dem sich Äußernden - jedenfalls gegenüber nachträglichen Sanktionen 426 - die Berufung auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung bzw. den Rechtfertigungsgrund der "Wahrnehmung berechtigter Interessen" wenigstens dann nicht von vornherein abgeschnitten sein, wenn die einschlägigen Vorschriften des einfachen Rechts - wie etwa im Falle des § 186 StGB 427 - ein Verschulden hinsichtlich der Unwahrheit der behaupteten Tatsache nicht voraussetzen. Hinzu kommt, daß es von den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG unter bestimmten Voraussetzungen auch gedeckt sein muß, auf einen bloßen Verdacht ehrenrühriger Vorgänge hinzuweisen, dem im Augenblick seiner Äußerung (noch) nicht auf den Grund zu kommen ist, der sich aber zu einem späteren Zeitpunkt als unbegründet erweist428. Mit der Einbeziehung unbewußt unwahrer Tatsachenbehauptungen in den Normbereich des Art. 5 Abs. 1 GG ist über ihre Zulässigkeit im Einzelfall freilich noch nichts ausgesagt. Insoweit werden aber die gleichen Gesichtspunkte eine Rolle zu spielen haben, wie bei der Bestimmung der Zulässigkeitsgrenzen ehrverletzender Tatsachenbehauptungen, deren (Un-)

425

Etwas anderes wird insoweit lediglich für unbewußt unrichtige Zitate zu gelten haben; da deijenige, der eine fremde Äußerung wiedergeben möchte, für den Fall, daß er sich ihres exakten Wortlauts nicht sicher sein kann, im Hinblick auf die persönlichkeitsrechtlichen Belange des Betroffenen stets dazu verpflichtet sein muß, deutlich zu machen, daß es sich nicht um eine genaue Wiedergabe (sondern etwa um eine eigene Interpretation) der fremden Äußerung handelt, sind "unbewußt unrichtige Zitate trotz Aufwendung der gebotenen Sorgfalt" von vornherein nicht denkbar. Der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts, daß (auch unbewußt) "unrichtige Zitate" niemals von Art. 5 Abs. 1 GG geschützt sind, ist daher zuzustimmen. 426 Stehen dagegen andere (gegenwarts- oder zukunftsbezogene) Rechtsfolgen ehrverletzender Tatsachenbehauptungen in Frage (insbesondere Widerruf oder Unterlassung), wird es regelmäßig nicht darauf ankommen, ob sich der sich Äußernde zum Zeitpunkt seiner Äußerung auf die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG berufen konnte; wenn und soweit die Unwahrheit der aufgestellten Behauptungen inzwischen erwiesen ist, kann an ihrer Aufrechterhaltung oder Wiederholung (so oder so) niemand mehr ein berechtigtes Interesse haben. 427

Nach herrschender (und zutreffender) Meinung ist die Nichterweislichkeit der Wahrheit - die sowohl gegeben ist, wenn sich nicht abschließend klären läßt, ob die inkrimierte Äußerung wahr ist, als auch, wenn sich die Behauptung als falsch erweist, eine Bestrafung nach § 187 StGB aber ausscheidet, weil der Täter nicht "wider besseres Wissen" gehandelt hat - bei der "üblen Nachrede" nur "objektive Strafbarkeitsbedingung", die vom Vorsatz des Täters nicht umfaßt sein muß, siehe dazu bereits ausführlich oben Erster Teil A III. 1. 428 Vgl. dazu etwa BGH NJW 1977,1288, 1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68, 331 ff. abgedruckt); BGH NJW 1979, 266, 267 (Carstens); BGH NJW 1987, 2225,2226 (Chemiegift einfach weggekippt).

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

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Wahrheit (überhaupt) nicht feststellbar ist, so daß diese beiden Fallgruppen im folgenden gemeinsam untersucht werden können. Wenn sich nicht klären läßt, ob eine herabsetzende Tatsachenbehauptung der Wahrheit entspricht, ist die Grenzziehung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz besonders schwierig. In Rechnung zu stellen ist auf der einen Seite, daß nicht erweislich wahre Tatsachenbehauptungen ehrenrührigen Inhalts für den Betroffenen in der Regel kaum weniger einschneidend sind als erweislich unwahre429, sowie auf der anderen Seite, daß im Einzelfall durchaus ein begründetes Interesse daran bestehen mag, ungewisse Vorgänge zur Sprache zu bringen, etwa um auf diese Weise - unabhängig von ihrer Wahrheit - eine Aufklärung der bestehenden Vorwürfe herbeizuführen oder zu beschleunigen430. Richtungsweisende Bedeutung für die Herbeiführung des nach beiden Seiten hin "schonendsten Ausgleichs" zwischen den rivalisierenden Grundrechtspositionen muß hier eine Besonderheit des Spannungsverhältnisses zwischen den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG und dem Recht der persönlichen Ehre gewinnen, die bislang noch unerwähnt geblieben ist. Die Kollisionslage entsteht nämlich stets durch die Ausübung eines aktiven Betätigungsrechts, i.e. eines der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG, das hierbei auf das passive, in sich ruhende Schutzgut der persönlichen Ehre trifft. Immer ist es der sich Äußernde, der in die Persönlichkeitssphäre des von der Äußerung Betroffenen eingreift - oder plastisch: "Wer seinen Mund Spazierengehen läßt"431 ist der eigentliche Angreifer 432. Der umgekehrte Fall dagegen ist, wenn überhaupt, nur in der Form denkbar, daß jemand zum Schutz seines Geltungswerts ein Vertretungsrecht gegenüber den Trägern der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG geltend zu machen sucht; auch dann geht es ihm aber letztlich nur darum, eine drohende (wirkliche oder vermeintliche) Rechtsverletzung abzuwehren. In den zu erörternden Kon429

Siehe etwa E. Helle, NJW 1964, 841, 842; ders., Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 56; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 148; Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473,477. 430 Vgl. nur G. Erdsiek, NJW 1966,1385,1387. 431 432

W. Berka, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz, 1982, S. 233.

In diesem Sinne etwa auch G. Erdsiek, NJW 1963,1965,1966; H. Weitnauer, DB 1976, 1365,1413,1365; H. Stoll, Jura 1981,135,140; Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473,480, 482.

238

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

fliktfällen befindet sich mithin derjenige, der von der Meinungsfreiheit Gebrauch machen will, stets in der Offensive, und derjenige, der den Schutz seiner persönlichen Ehre in Anspruch nimmt, stets in der Defensive 433. Dieser Umstand kann bei der Bestimmung der Zulässigkeitsgrenzen herabsetzender Tatsachenbehauptungen, deren (Un-)Wahrheit sich nicht abschließend feststellen läßt, nicht unberücksichtigt bleiben. Schon in der Einleitung zum "Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten" von 1794findet sich der allgemeine (Rechts-)Grundsatz, daß im Fall der Kollision zweier Rechtspositionen derjenige, "welcher durch Ausübung seines Rechtes einen Vortheil sucht, dem nachstehen (muß), der nur einen Schaden abzuwenden bedacht ist"434. Die Übertragung dieses Gedankens auf den Konflikt zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz darf zwar nicht dazu führen, daß den Belangen der "lediglich" um die Integrität ihrer persönlichen Ehre Bemühten ausnahmslos der Vorrang einzuräumen wäre vor den Interessen derer, die nicht erweislich wahre Fakten mitteilen; der Tatsache, daß es in diesen Fällen stets die Träger der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG sind, die bei der Wahrnehmung ihrer Freiheiten in fremde Ehre und damit in den Rechtskreis eines anderen eingreifen 435, kann (und muß) aber dadurch Rechnung getragen werden, daß die Unversehrtheit des Ehrbestandes der von einer solchen Äußerung betroffenen Personen grundsätzlich (widerlegbar) vermutet wird. In Übereinstimmung mit dem ihr zugrunde liegenden "gedämpft optimistischen" Menschenbild436 muß die (Verfassungs-)Rechtsordnung im Zweifel davon ausgehen, daß der soziale Wert- und Achtungsanspruch des einzelnen ungeschmälert (fort)besteht ("Quivis praesumitur bonus")437. Konsequenzen ergeben sich daraus nicht nur für die verfassungskonforme Verteilung der Beweislast auf einfachgesetzlicher Ebene, auf die später

433

Siehe//. Weitnauer, DB 1976,1365,1413,1365.

434

Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Einleitung, § 96 (zit. nach H. Rehbein/O. Reincke, Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten, Erster Bd., 2. Aufl. 1882, S. 98). Vgl. Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473,477 f. 436

Siehe P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 40 f. mit Fn. 118.

437

Vgl. dazu M. Rehbinder, Die öffentliche Aufgabe und rechtliche Verantwortlichkeit der Presse, 1962, S. 56; ders., JZ 1963, 314, 316; jeweils m.w.N.; ebenso G. Erdsiek, in: FS für R. Reinhardt, 1972, S. 69, 71.

II. Leitlinien für den Ausgleich im Kollisionsfall

239

noch näher einzugehen sein wird 438. Die grundsätzliche Vermutung für die Unbescholtenheit des einzelnen bedeutet vor allem auch, daß die Behauptung oder Verbreitung nicht erweislich wahrer Tatsachen ehrenrührigen Inhalts nur ausnahmsweise und unter besonderen Voraussetzungen als m dem Schutzauftrag der Art. 2 Abs. 1 und 5 Abs. 2 GG vereinbar angesehen werden kann. An die Zulässigkeit derartiger (Meinungs-)Äußerungen sind von Verfassungs wegen strenge Anforderungen zu stellen, und zwar unabhängig davon, welches der Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG im Einzelfall einschlägig ist. Insbesondere genießen etwa Verlautbarungen in der Presse oder im Rundfunk gegenüber sonstigen Mitteilungen keine Privilegien439. Zwar fällt den (Massen-)Medien im Verfassungsstaat zweifellos eine gewisse "Kontrollaufgabe" zu, zu deren Funktion es (auch) gehört, auf Mißstände von öffentlicher Bedeutung hinzuweisen440; was die durch das Recht der persönlichen Ehre gezogenen Grenzen betrifft, lassen sich dem Grundgesetz Unterschiede zwischen den verschiedenen Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG jedoch nicht entnehmen441. Zu den besonderen Anforderungen, die von Verfassungs wegen an die Zulässigkeit nicht erweislich wahrer herabsetzender Tatsachenbehauptungen zu stellen sind, gehören zum einen Erfordernisse, die sich zusammenfassend als "Gebot der Fairneß" 442 bezeichnen lassen. Wer auf einen bloßen 438

Siehe unten III. 1.

439

Vgl. dazu (vor allem unter dem Gesichtspunkt der sogenannten "öffentlichen Aufgabe" der Presse und des Rundfunks) etwa E. Forsthoff, DÖV1963,633,635; ders., Der Verfassungsschutz der Zeitungspresse, 1969, S. 24 ff.; M. Rehbinder, NJW 1963,1387,1388 f.; Κ Α. Bettermann, JZ 1964,601, 603; ders., Grenzen der Grundrechte, 2. Aufl. 1976, S. 25 f.; ders., Hypertrophie der Grundrechte, 1984, S. 11 ff.; U. Scheuner, W D S t R L 22 (1965), 1, 75; R Schnur, W D S t R L 22 (1965), 101, 113 ff.; H. Weitnauer, DB 1976, 1365,1413, 1415; R Herzog, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 122,146; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 19; M. Bullinger, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 1989, S. 667,694 Rn. 77. 440 Siehe BVerfGE 60, 234, 240 f. ("Kredithaie"); 66, 116, 137 (Springer/Wallraff); W. Schmitt Glaeser, AöR 113 (1988), 52,82 m.w.N. 441

In diesem Sinne auch BGHSt 18,182,187 (Call-Girl-Ring I).

442

Daß die Regeln der "Fairneß" auch bei der Wahrnehmung der Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 GG zu beachten sind, betonen etwa H. Säcker, MDR 1970, 893, 895; M. J. Schmid, MDR 1981,15,17; G. Roellecke, JZ 1981,688,695; Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 481. - Allgemein zum Fairneßgedanken als Verfassungsprinzip P. Saladin, in: FG der schweizerischen Rechtsfakultäten zur Hundertjahrfeier des Bundesgerichts, 1975, S. 41, 41 ff.; siehe auch P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, S. 29.

240

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

Verdacht ehrenrühriger Vorgänge aufmerksam machen möchte, darf demnach den Adressaten seiner Äußerung den Mangel einer Bestätigung der Information nicht vorenthalten443; Vermutungen, mögen sie auch noch so naheliegend sein, sind stets als solche zu kennzeichnen444. Gegebenenfalls muß der sich Äußernde auch auf jene Anhaltspunkte hinweisen, die gegen die Richtigkeit der erhobenen Vorwürfe sprechen könnten445; einseitige oder entstellende Darstellungen der (fraglichen) Gegebenheiten sind nicht erlaubt 446. Auch darf etwa derjenige, der über unsichere Vorkommnisse berichtet, keine Sachkunde vortäuschen, die er in Wahrheit nicht besitzt447. Schließlich ist den von einer ehrverletzenden Behauptung Betroffenen stets ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben448. Zum anderen unterliegen ehrenrührige Tatsachenbehauptungen, deren Richtigkeit sich nicht abschließend klären läßt, in erhöhtem Maße dem -die gesamte (Verfassungs-)Rechtsordnung prägenden449 - "Gebot der Rücksichtnahme" 45°. Im Mittelpunkt steht hierbei namentlich die dem sich Äußernden aufzuerlegende Informations- und Prüfungspflicht hinsichtlich des Wahrheitsgehaltes der von ihm aufgestellten oder weiterverbreiteten Fakten451. Leichtfertige, lediglich auf haltlose Gerüchte oder vage Vermu-

443 Vgl. BGH NJW 1977,1288, 1289 (Abgeordnetenbestechung; insoweit nicht in BGHZ 68,331 ff. abgedruckt).

444

Siehe H. Coing , Ehrenschutz und Presserecht, 1960, S. 27; R Wellbrock, Persönlichkeitsschutz und Kommunikationsfreiheit, 1982, S. I l l ; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 148; Κ E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 278, 372; Κ Mathy, Das Recht der Presse, 4. Aufl. 1988, S. 63. 445 446

Vgl. Κ E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 372.

Siehe W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 155 f.; vgl. dazu auch BVerfGE 12, 113, 130 (Schmid/ Spiegel); BGHZ 31,308,316 ff. (Alte Herren). 447 Vgl. H. Stoll, Jura 1979, 576, 582; W Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 149. 448 Siehe W Krämer, ebd., S. 155. 449

Vgl. dazu näher /. Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, Manuskript Habil. iur. 1987, S. 443 ff. 450 125 ff.

Speziell zum bauplanungsrechtlichen Rücksichtnahmegebot BVerwGE 52, 122,

451

Siehe dazu eingehend (insbesondere zu den Sorgfaltspflichten der Presse) Κ E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 273 ff.; R Ricker, in: M. Löffler/R. Ricker, Handbuch des Presserechts, 2. Aufl. 1986, S. 251 ff.; Κ Mathy, Das Recht der

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

241

tungen gegründete Verdächtigungen sind danach stets als unzulässig anzusehen452. Im übrigen hängt das Maß an Sorgfalt, das der Mitteilende aufzubringen hat, von den Umständen des Einzelfalles ab; einzubeziehen sind namentlich die Schwere des Vorwurfs, der Wahrscheinlichkeitsgrad seines Zutreffens sowie die zeitlichen, beruflichen und persönlichen Möglichkeiten des sich Äußernden zur Aufklärung des Sachverhalts453. Regelmäßig wird die Behauptung herabsetzender, aber nicht erwiesener Tatsachen nur dann statthaft sein, wenn zumindest ernstliche Anhaltspunkte für ihre Richtigkeit bestehen454. Eine weitere wichtige Ausformung des Rücksichtnahmegebots ist die Pflicht zur Zurückhaltung bei der Nennung von Namen455 oder sonstigen identifizierenden Merkmalen; vor allem bei öffentlichen Verlautbarungen sind die durch das Anonymitätsinteresse der von einem bloßen Verdacht kompromittierender Vorgänge betroffenen Personen gebotenen Grenzen für das (gerade) noch gedeckte Maß an Eingriffen in die persönliche Ehre anderer eng zu ziehen456. Als unzulässig dürfte es ferner etwa anzusehen sein, wenn sehr lange zurückliegende Vorwürfe reaktualisiert werden, obwohl der Betroffene hierzu keinerlei Veranlassung gegeben hat und der wiederaufgegriffene (ungeklärte) Verdacht in keinem vernünftigen Zusammenhang mit seinem jetzigen Verhalten steht457.

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung des Ehrenschutzes Die Aufgabe des einfachen Rechts ist es, die Vorgaben der Verfassung für den Schutz der persönlichen Ehre so gut wie möglich in die (Rechts-) Wirklichkeit umzusetzen. Kommt es im Einzelfall zu einer Kollision zwiPresse, 4. Aufl. 1988, S. 59 ff.; Κ Wasserburg, Medien, 1988, S. 190 f.

Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der

452

Vgl. etwa BGHSt 14, 48, 51 (Landtagsfraktion); BGH UFITA 35 (1961/III), 362, 363; W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 150 m.w.N. 453

Siehe W Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 153 f.; /. Tenckhoff\ JuS 1989,198,201. 454

455

Vgl. Κ E. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 370.

Ausführlich zur Namensnennung in Massenmedien U. Koebel, JZ 1966,389,389 ff. 456 Siehe dazu etwa BGH JZ 1965,411,413 (Gretna Green). 457

W. Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 152. 16 Mackeprang

242

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

sehen den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG und dem grundrechtlich verbürgten Wert- und Achtungsanspruch des einzelnen, so sind es die verschiedenen Rechtsinstitute und Normenkomplexe der einschlägigen Teildisziplinen des einfachen Rechts, hier vor allem des Zivil- und des Strafrechts, denen das adäquate Ausgleichs- und SchlichtungsInstrumentarium entnommen werden muß. Nun ist es nicht das Anliegen dieser, primär an der Herausstellung und Konturierung der spezifisch verfassungsrechtlichen Bedeutung des Rechts der persönlichen Ehre interessierten Untersuchung und wäre zudem wohl auch von einer jeden verfügbaren Arbeitsrahmen sprengenden Wirkung, zu überprüfen, ob sich das derzeit geltende unterverfassungsrechtliche Ehrenschutzrecht, so wie es die zuständigen nFachngerichte begreifen und zur Anwendung bringen, in all seinen Einzelheiten vor dem Hintergrund der betroffenen Grundrechte rechtfertigen läßt. Näher beleuchtet und einer eigenen Stellungnahme auf der Basis der bisher gewonnenen Erkenntnisse zugeführt werden soll im folgenden aber doch wenigstens das für den privatrechtlichen Ehrenschutz ebenso zentrale wie heftig umstrittene458 Problem der Verteilung der Beweislast für die (Un-) Wahrheit herabsetzender Tatsachenbehauptungen. Überlegungen zu einer möglichen Verbesserung des einfachgesetzlichen Ehrenschutzes de lege ferenda 459 werden sodann die Arbeit beschließen.

1. Ehrenschutz und Beweislast

"Der privatrechtliche Ehrpnschutz steht und fallt mit der Beweislast für die Unwahrheit der ehrenkränkenden Behauptung."460 Gibt eine Tatsachenmitteilung den wahren Sachverhalt wieder, so scheiden negatorische 458 Vgl. dazu etwaE. Helle, NJW 1962,1813,1813 f.; ders., NJW 1964, 841,841 ff.; H Hubmann, JZ 1963,131,131; ders., Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 359 f.; P. Schlosser, JZ 1963,309,309 ff.; M. Rehbinder, JZ 1963,314, 316 ff.; G. Erdsiek, NJW 1963,1965,1965 f.; H. Johannes, JZ 1964, 317, 317 ff.; W. Hoffmann , NJW 1966,1200,1200 ff.; H. Säcker, MDR 1970, 893, 893 ff.; W Rötelmann, NJW 1971, 1636, 1637 f.; P. Schwerdmer, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 321 ff.; ders., JuS 1978, 289, 298 f.; D. Leipold, in: FS für H. Hubmann, 1985, S. 271, 271 ff.; zusammenfassender Überblick bei £ Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien, 1988, S. 319 ff.

459

Zur Struktur und zur Aufgabe der Rechtspolitik im Verfassungsstaat siehe eingehend W. Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 337,338 ff. 460 M. Rehbinder, JZ 1963,314,314.

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

243

und deliktische Ansprüche des Betroffenen grundsätzlich bereits mangels Rechtsgutsverletzung aus; steht umgekehrt ihre Unwahrheit fest, so werden sie überwiegend begründet sein. Häufig wird sich allerdings nicht abschließend klären lassen, ob eine behauptete Tatsache der Wahrheit entspricht oder nicht. In diesen Fällen hängt das Eingreifen des bürgerlichrechtlichen Rechtsschutzes maßgeblich davon ab, wen die Beweislast für die (Un-) Wahrheit der beanstandeten Behauptung trifft. Im Strafrecht enthält die Bestimmung des § 186 StGB insoweit eine Privilegierung des (potentiell) Verletzten. Da eine den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllende Diskreditierung bereits dann vorliegt, wenn eine behauptete oder verbreitete Tatsache nicht "erweislich wahrn ist, haftet der sich Äußernde nicht nur für den Fall, daß sich seine Angaben als unrichtig herausstellen, sondern er hat auch schon dafür einzustehen, daß sich ihre Richtigkeit nicht beweisen läßt. In Abweichung von der üblichen Beweisregel des Strafrechts muß hier also "in dubio contra reum" entschieden werden; ein sogenanntes "non liquet"461 geht zu seinen Lasten. Das bedeutet indessen nicht, daß den Angeklagten auch eine prozessuale Beweis/ü/irw/igypflicht hinsichtlich der Richtigkeit seiner Behauptung trifft. Nach wie vor hat das Gericht von Amts wegen die Wahrheit zu erforschen; verbleibende Zweifel gehen lediglich materiellrechtlich zu Lasten des sich Äußernden462. Diese Regelung ist dadurch gerechtfertigt, daß die Feststellung der Unwahrheit einen "Negativ-Beweis" erfordern würde, der weitaus schwieriger zu führen ist als der positive Nachweis eines Geschehens - kann er doch erkennbar nur bei Ausschluß aller gegenteiligen Möglichkeiten gelingen463. Im Zivilprozeß erfordert dagegen die Verhandlungsmaxime464 eine echte Beweislastverteilung zwischen den Parteien des Rechtsstreits465. Nach der 461

So wird der Umstand bezeichnet, der eintritt, wenn eine Tatsache nicht zur Überzeugung des Gerichts bewiesen werden kann, siehe dazu etwa H. Prutting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, 1983, S. 14 ff. 462

Vgl. M. Rehbinder, JZ 1963,314,316.

463

Siehe E . Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 56; G. Erdsiek, in: FS für R. Reinhardt, 1972, S. 69, 74; K. Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 475. - M. Rehbinder, JZ 1963, 314, 316, spricht anschaulich von einer "probatio diabolica". 464

Vgl. dazu statt aller Peters, Zivilprozeßrecht, 4. Aufl. 1986, S. 38 ff.; zu den weitreichenden Modifizierungen aber auch ders., Richterliche Hinweispflichten und Beweisinitiativen im Zivilprozeß, 1983, insbesondere S. 106 ff. 465 Siehe M. Rehbinder, JZ 1963,314,316. 16

244

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

für das Erkenntnisverfahren geltenden allgemeinen Beweislastregel muß dabei zwar grundsätzlich der Kläger die anspruchsbegründenden Tatsachen beweisen; was die Unwahrheit der streitgegenständlichen Behauptung betrifft, könnte jedoch allein schon deshalb etwas anderes zu gelten haben, weil die im Straftatbestand der üblen Nachrede normierte Privilegierung des (potentiell) Verletzten über § 823 Abs. 2 BGB auch in das Zivilrecht Eingang gefunden hat. Der Bundesgerichtshof ist indessen der Ansicht, daß die besondere Beweisregel des § 186 StGB auf den negatorischen und deliktischen Ehrenschutz des Bürgerlichen Rechts nur sehr eingeschränkt anwendbar ist. Soweit es um Ansprüche auf Schadensersatz466 oder Unterlassung467 geht, soll zwar im Grundsatz der In-Anspruch-Genommene die Beweislast für die Wahrheit der von ihm aufgestellten Behauptung tragen. Eine Ausnahme wird aber immer schon dann angenommen, wenn der Beklagte sich gemäß Art. 5 Abs. 1 GG bzw. § 193 StGB auf ein Recht zu seiner Äußerung berufen kann. Fehlt es in einem solchen Fall an der Feststellung der Unwahrheit der aufgestellten Behauptung, so soll zugunsten des Mitteilenden davon auszugehen sein, daß seine Aussage wahr ist; von dieser Unterstellung aus sei dann zu fragen, ob er die Äußerung zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten durfte. Bei einem Widerrufsverlangen wird der Kläger in Abweichung von der Beweisregel des § 186 StGB sogar in jedem Fall als beweispflichtig angesehen, da die Gewährung dieses besonderen Rechtsbehelfs davon abhängig sei, daß die Unrichtigkeit der beanstandeten Behauptung feststeht 468. Läßt sich dagegen weder die Wahrheit noch die Unwahrheit der Äußerung nachweisen, so soll ein Widerruf selbst dann nicht verlangt werden können, wenn der Beklagte nicht in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt hat 469 . Allenfalls ein eingeschränkter Widerruf soll dann noch in Be466 Vgl. dazu etwa BGHZ 95, 212,216, 219 ff. (Nachtigall II); BGH NJW 1985,1621,1622 f. (Gastarbeiterflüge I). 467 Siehe dazu etwa BGH NJW 1979, 266, 267 (Carstens); BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt). 468 Vgl. BGHZ 37, 187, 189 (Ehevereprechen); 65, 325, 337 (Warentest II); 69, 181, 182 (Tätlichkeiten); 99, 133, 138 (Oberfaschist); BGH NJW 1965, 35, 36 (Ventilatorschöpfung); BGH VersR 1970, 670, 670 f. (Unrecht auf Unrecht); BGH GRUR 1974, 797, 799 (Fiete Schulze); BGH GRUR 1977, 801, 803 (Halsabschneider); BGH NJW 1978, 751, 751 (Sachverständigengutachten); BGH NJW 1982,2246,2246 (Illegale Kassenarztpraxen). 469

Siehe BGHZ 37,187,191 (Eheversprechen).

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

245

tracht kommen; auch dieser wird aber an die Voraussetzung geknüpft, daß bei objektiver Beurteilung wenigstens ernstliche Anhaltspunkte für die Wahrheit des Vorwurfis fehlen 470. Nach Ansicht des Bundesgerichtshofs wird damit nicht der Schutzgesetzcharakter des § 186 StGB angetastet, sondern lediglich den Besonderheiten des Widerrufs als eines von der Rechtsprechung in Fortentwicklung der gesetzlichen Behelfe eigens für den zivilrechtlichen Ehrenschutz geschaffenen, eigenständigen Mittels zur Folgenbeseitigung Rechnung getragen471. Denn der Widerruf einer Tatsachenbehauptung werde allgemein dahin verstanden, daß der Verurteilte damit die Unwahrheit der aufgestellten Behauptung einräume. Das Recht könne es aber nicht zulassen, daß jemand durch Richterspruch verpflichtet werde, etwas als unrichtig zu bezeichnen, was möglicherweise wahr ist 472 . Im Bereich des zivilrechtlichen Ehrenschutzes müsse die Schutzwürdigkeit des Begehrens des Verletzten auch an den persönlichkeitsrechtlichen Belangen des Verletzers gemessen werden473. Wenn dieser auch nicht zu einem inneren Überzeugungswandel gezwungen werden könne, gerate er doch möglicherweise in einen unzumutbaren Gewissenskonflikt, wenn er - notfalls durch Zwangsstrafen (§ 888 ZPO) 474 - dazu angehalten werde, gegen seine eigene Überzeugung Behauptungen aufzugeben und damit zugleich selbst auf eigenes Fehlverhalten hinweisen zu müssen475. Geht man davon aus, daß von Verfassungs wegen eine (widerlegbare) Vermutung für die Unbescholtenheit der von ehrenrührigen Tatsachenbehauptungen betroffenen Personen streitet, so folgt daraus zwangsläufig, daß es grundsätzlich nur der sich Äußernde sein kann, den im Zivilprozeß die Beweislast dafür trifft, daß der wahre (begründete) Geltungswert des Klägers hinter seinem vermuteten Ehrbestand zurückbleibt. Wer in einen fremden Rechtskreis, hier die persönliche Ehre eines anderen, eingreift, handelt prinzipiell auf eigene Gefahr und muß folglich auch das Risiko der Nicht470

Vgl. BGHZ 65, 325, 337 (Warentest II); 69,181,182 (Tätlichkeiten); BGH NJW 1966, 647,649 (Reichstagsbrand); BGH VersR 1970,670,671 (Unrecht auf Unrecht); BGH GRUR 1974, 797, 799 (Fiete Schulze). 471

Siehe BGHZ 69,181,183 (Tätlichkeiten).

472

Vgl. BGHZ 37,187,189 f. (Eheversprechen); ähnlich auch BGH VersR 1970, 670, 671 (Unrecht auf Unrecht). 473

Siehe BGHZ 69,181,183 (Tätlichkeiten).

474

Zur (heftig umstrittenen) Art der Zwangsvollstreckung für Widermfsurteile siehe bereits oben Erster Teil A III. 2. 475 Vgl. BGHZ 37,187,190 (Eheversprechen); 69,181,183 f. (Tätlichkeiten).

246

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

erweislichkeit seiner Vorwürfe tragen476; schließlich ist er der Angreifer, der sich des Rechts berühmt, in den grundrechtlich geschützten Bereich des Betroffenen eindringen zu dürfen 477. In Übereinstimmung mit der über § 823 Abs. 2 BGB in das Zivilrecht transformierten Beweisregel des § 186 StGB muß der bürgerlich-rechtliche Ehrenschutz im Grundsatz bereits dann eingreifen, wenn der Beklagte eine Behauptung aufgestellt hat, deren Wahrheit er nicht zu beweisen vermag. Ausnahmsweise können freilich auch in einem solchen Fall negatorische oder deliktische Ansprüche des Klägers daran scheitern, daß die von ihm beanstandete Tatsachenmitteilung im Hinblick auf die Meinungs(äußerungs)freiheit des Beklagten bzw. unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen als zulässig anzusehen ist. Ob dies allerdings im Ergebnis zugleich zu einer Umkehr der Beweislast führt, läßt sich - wie die folgenden Ausführungen zeigen werden - nicht einheitlich beantworten, sondern kann nur für jede der in Betracht kommenden Anspruchsarten gesondert bestimmt werden. Denn für das Verhältnis zwischen berechtigter Interessenwahrnehmung und Beweislastverteilung kommt es entscheidend auf das Zusammenspiel zwischen der zeitlichen Ausrichtung des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf der einen und dem für den Ausgleich der rivalisierenden Grundrechtspositionen maßgeblichen Zeitpunkt auf der anderen Seite an. Begehrt der Kläger - wie bei der Unterlassungsklage - Rechtsschutz lediglich für die Zukunft, so kann für die erforderliche Interessenabwägung nur die Rechtslage zum Zeitpunkt (des letzten Termins) der mündlichen Verhandlung maßgeblich sein. Ist in diesem Augenblick ein berechtigtes Interesse des Beklagten an der Behauptung oder Verbreitung der (ungewissen) Tatsache zu bejahen, so muß die Klage abgewiesen werden. Da dem Unterlassungsbegehren jedoch in jedem Fall hätte stattgegeben werden müssen, wenn die Unwahrheit der streitgegenständlichen Äußerung festgestanden hätte478, läßt sich insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durchaus von einer Umkehr der Beweislast sprechen. Irreführend ist allerdings die Formulierung des Gerichts, im Falle eines "non liquet" sei "Voraussetzung des Unterlassungsanspruchs, daß 476

Siehe K. Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473,477 f.

477

Ähnlich //. Stoll, Jura 1981,135,140; Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473,480.

478

Vgl. dazu näher oben Erster Teil A. III. 2.

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

247

sich der In-Anspruch-Genommene nicht auf ein Recht zu seiner Äußerung berufen kann"479. Es dürfte kaum eine Unterlassungsklage geben, gegenüber der sich der Beklagte nicht auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen stützt480. Die bloße "Berufung" auf Art. 5 Abs. 1 GG und § 193 StGB kann die Beweislast hinsichtlich der (Un-)Wahrheit der Behauptung aber sicher nicht zu Lasten des Klägers umkehren. Vielmehr muß der Beklagte seinerseits beweisen, daß die strengen Anforderungen, die von Verfassungs wegen an die Zulässigkeit nicht erweislich wahrer Tatsachenbehauptungen zu stellen sind481, von ihm erfüllt werden482. Widerspruch fordert zudem die These des Gerichts heraus, daß, wenn es im Einzelfall an der Feststellung der Unwahrheit der aufgestellten Behauptung fehle, zugunsten des Mitteilenden davon auszugehen sei, daß seine Aussage wahr ist 483 - kann ihm doch auf dieser Grundlage ein berechtigtes Interesse an seiner Äußerung schon mangels Ehrverletzung niemals abgesprochen werden484. 479 BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt); ähnlich BGH NJW 1979,266, 267 (Carstens).

480 481

Darauf weist mit Recht Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 477, hin.

Siehe dazu oben II. 2. b). Ebenso etwa M. Rehbinder, JZ 1963, 314, 317; E. Helle, NJW 1964, 841, 843; Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 477 f. 482

483

Vgl. BGH NJW 1987, 2225, 2226 (Chemiegift einfach weggekippt); für den Anspruch auf Schadensersatz ebenso BGH NJW 1985,1621,1622 (Gastarbeiterflüge I). 484 Genau betrachtet erweist sich vor diesem Hintergrund die bislang (noch) für die Ansprüche auf Unterlassung und Schadensersatz aufrechterhaltene Ausgangsthese, daß im Grundsatz der In-Anspruch-Genommene die Beweislast für die Wahrheit der von ihm aufgestellten Behauptung zu tragen habe, als bloßes "Lippenbekenntnis". Wird nämlich im Falle eines "non liquet" eine "Ausnahme" schon dann angenommen, wenn der Beklagte sich gemäß Art. 5 Abs. 1 GG bzw. § 193 StGB auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen berufen kann, und wird gleichzeitig bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen dieser Bestimmung(en) erfüllt sind, unterstellt, daß die beanstandete Behauptung wahr ist, so gibt es (da ein berechtigtes Interesse an der Äußerung auf dieser Grundlage stets bejaht werden muß) letztlich nur 1Ausnahme"ßlle. - Die Fragwürdigkeit dieses Vorgehens tritt etwa in den beiden "GastarbeiterflügeUrteilen" des Bundesgerichtshofs besonders deutlich hervor. Gegenstand dieser Entscheidungen war das Schadensersatzbegehren einer mit der Vermittlung und Durchführung von Charterflügen für türkische Staatsangehörige befaßten Firma wegen eines negativen Hörfunkberichts. In seinem ersten Urteil, als die Unwahrheit der darin aufgestellten Behauptungen noch nicht erwiesen wahr, unterstellte das Gericht deren Wahrheit und kam auf dieser Grundlage (selbstverständlich) zu dem Ergebnis, daß den Beklagten ein berechtigtes Interesse an der Reportage nicht abgesprochen werden könne (siehe BGH NJW 1985,1621, 1622 f. [Gastarbeiterflüge I]). In seinem zweiten Urteil, als schließlich doch feststand, daß die Berichterstattung falsch war, wurde das berechtigte Interesse dagegen verneint, weil den unrichtigen Informationen, wie im Streitfall wegen der Vielzahl der falschen Angaben festgestellt werden'müsse, keine

248

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

Steht demgegenüber - wie bei der Klage auf Schadensersatz oder "Schmerzensgeld" - die Verhängung nachträglicher "Sanktionen" in Frage, s ist allein darauf abzustellen, ob die beanstandete Tatsachenbehauptung zum Zeitpunkt ihrer Äußerung rechtmäßig war. Durfte der Beklagte seine Äußerung in diesem Augenblick zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für zulässig halten, so scheiden Ersatzansprüche des Klägers aus. Entgegen der Auffassung des Bundesgerichtshofs 485 führt dies jedoch keineswegs zu einer Umkehr der Beweislast. Lagen nämlich zum Zeitpunkt der beanstandeten Äußerung die Voraussetzungen des § 193 StGB (in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 GG) vor, so kann der Kläger mit seinem Begehren selbst dann nicht durchdringen, wenn ihm der Nachweis der Unwahrheit der aufgestellten Behauptung doch noch gelingen sollte. Denn Sinn und Zweck der Vorschrift des § 193 StGB ist es ja gerade, dem Mitteilenden das Risiko abzunehmen, daß sich seine Behauptung trotz Beachtung der von ihm zu verlangenden größtmöglichen Sorgfalt nachträglich als falsch erweist; sie muß also auch dann eingreifen, wenn sich dieses Risiko infolge festgestellter Unwahrheit der Behauptung im Einzelfall realisiert hat 486 .

Anders ist die Situation dagegen zu beurteilen, wenn es - wie bei der Widerrufsklage - lediglich um die nachträgliche Beseitung einer durch eine herabsetzende Tatsachenmitteilung entstandenen Ehrbeeinträchtigung geht. Wenn und soweit hier die Unwahrheit der behaupteten oder verbreiteten Tatsache zum Zeitpunkt (des letzten Termins) der mündlichen Verhandlung feststeht, kann es nicht (mehr) darauf ankommen, ob der Beklagte zum Zeitpunkt der Äußerung in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt hat 487 . Denn die ursprüngliche Rechtmäßigkeit einer ehrenrührigen Behauptung darf nicht dazu führen, daß auch ihre weitere Au frechtersorgfältigen Recherchen zugrunde lagen (vgl. BGH NJW 1987, 1403, 1404 [Gastarbeiterflüge II]; angedeutet auch schon in BGH NJW 1985, 1621, 1623 [Gastarbeiterflüge I]). Ob der sich Äußernde seine Sorgfaltspflichten im Einzelfall eingehalten hat und seine herabsetzenden Behauptungen daher unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen statthaft waren, kann aber doch nicht davon abhängen, ob dem von der Äußerung Betroffenen später der Nachweis ihrer Unwahrheit gelingt! 485

Siehe vor allem BGH NJW 1985,1621,1622 f. (Gastarbeiterflüge I).

Vgl. dazu etwa W Krämer, Die Wahrnehmung berechtigter Interessen bei Ehrverletzungen im politischen Meinungskampf, 1985, S. 149 mit Fn. 6; Κ E . Wenzel, Das Recht der Wortund Bildberichterstattung, 3. Aufl. 1986, S. 240; widersprüchlich insoweit BGH NJW 1985, 1621,1622 (Gastarbeiterflüge I). 487

Siehe P. Schlosser, JZ 1963, 309, 311; ihm folgend etwa Κ Stern, in: FS für D. Oehler, 1985, S. 473, 477.

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

249

haltung (trotz zwischenzeitlich erwiesener Unrichtigkeit) für alle Zukunft gerechtfertigt ist488. Unzutreffend ist allerdings die Ansicht des Bundesgerichtshofs, daß den Kläger bei der Widerrufsklage stets die Beweislast für die Unwahrheit der gegen ihn erhobenen Vorwürfe treffen soll. Sofern sich der wahre Sachverhalt nicht klären läßt, muß vielmehr - um den Interessen beider Parteien gerecht zu werden - auch bei diesem Rechtsbehelf sorgfältig differenziert werden. Dabei sollte zunächst in einem ersten Schritt geprüft werden, ob die beanstandete Behauptung bei ihrer Aufstellung unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interessen gerechtfertigt war. Anders als im Falle ihrer nachträglich erwiesenen Unrichtigkeit, muß nämlich im Falle eines "non liquet" der (vom Beklagten zu erbringende) Nachweis, daß die (strengen) Voraussetzungen des § 193 StGB (in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 GG) zum Zeitpunkt der Äußerung vorlagen, (mangels zu beseitigender rechtswidriger Ehrverletzung) zum Ausschluß des Widerrufsanspruchs (und damit in der Tat zu der vom Bundesgerichtshof angenommenen Beweislastumkehr) führen. Kann dagegen zum Zeitpunkt der Äußerung ein berechtigtes Interesse des Beklagten an der Behauptung oder Verbreitung der (ungewissen) Tatsache nicht bejaht werden, so muß dem Widerrufsbegehren des (potentiell) Verletzten auch dann stattgegeben werden, wenn er die Unwahrheit der erhobenen Vorwürfe nicht zu beweisen vermag. Zwar ist dem Bundesgerichtshof darin zuzustimmen, daß niemand durch Richterspruch dazu verpflichtet werden darf, etwas als unrichtig zu bezeichnen, was möglicherweise wahr ist 489 . Dieser Gesichtspunkt rechtfertigt es jedoch nicht, dem Kläger den Widerrufsanspruch im Falle eines "non liquet" selbst dann zu versagen, wenn der Beklagte nicht in Wahrnehmung berechtigter Interessen gehandelt hat. Dem Umstand, daß die aufgestellten Behauptungen (auch) zutreffen könnten, ist vielmehr erst bei der inhaltlichen Ausgestaltung der Widerrufserklärung, also auf der Rechtsfolgenseite Rechnung zu tragen. Zu diesem Zweck sollte dann in einem zweiten Schritt (hypothetisch) geprüft werden, ob (und gegebenenfalls inwieweit) dem Beklagten gegenwärtig tin berechtigtes Interesse an der Behauptung oder Verbreitung der (ungewissen) Tatsache zuzu488 In diesem Sinne auch BGH NJW 1959, 2011, 2012 (Firmeneigentum). - Richtigerweise ist dann in der "weiteren Aufrechterhaltung" der Behauptung eine (von nun an) rechtswidrige "Störung" zu sehen, die den Störer zur Beseitigung verpflichtet, vgl. P. Schlosser, JZ 1963, 309, 311. 489

Vgl. BGHZ 37,187,189 f. (Eheversprechen); BGH VersR 1970, 670,671 (Unrecht auf Unrecht).

250

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

billigen wäre; denn die aufzuerlegende Widerrufsverpflichtung kann ja keinesfalls weiter gehen als die augenblicklich gebotene Rücksichtnahme. Müßte die Äußerung auch jetzt als unzulässig angesehen werden - etwa weil nach wie vor ernstliche Anhaltspunkte für die Wahrheit des Vorwurfs fehlen - , so ist dem Widerrufsbegehren des Klägers in vollem Umfang stattzugeben490. Die damit für den Verurteilten verbundene Belastung ist diesem dann eher zuzumuten als dem (potentiell) Verletzten, die (weiterhin) unzulässige Beeinträchtigung seiner (vermuteten) Ehre weiter zu ertragen. Den Belangen des Verurteilten kann hier lediglich dadurch Rechnung getragen werden, daß die von ihm abzugebende Widerrufserklärung so abgefaßt wird, daß der (falsche) Eindruck vermieden wird, die behauptete Tatsache sei erwiesenermaßen unwahr. In Betracht käme etwa, ihn zur Abgabe der Erklärung zu verpflichten, er nehme die betreffende Behauptung zurück, weil er sie nicht beweisen könne491 (schonender Widerruf). Wenn und soweit dagegen die seinerzeit unzulässige Äußerung nunmehr als statthaft anzusehen wäre - etwa weil sich inzwischen ernstliche Anhaltspunkte für ihre Richtigkeit ergeben haben - , so kann das Widerrufsbegehren des Klägers nur insoweit Erfolg haben, als der Beklagte weiterhin verpflichtet bleibt, seine vormalig unzulässige Behauptung nach Maßgabe dessen, was gegenwärtig erlaubt wäre, zu berichtigen, also gewissermaßen den verbleibenden Unzulässigkeitsüberschuß seiner ursprünglichen Äußerung zu beseitigen492. Hier wird es in der Regel darum gehen, dem Beklagten aufzuerlegen, hinreichend darauf aufmerksam zu machen, daß seine Behauptungen nicht erwiesen sind, oder ihn dazu zu verpflichten, auch auf jene Anhaltspunkte hinzuweisen, die gegen die Richtigkeit seiner Vorwürfe sprechen493 (korrigierender Widerruf). 490

Anders freilich der Bundesgerichtshof, der in diesem Fall allenfalls einen eingeschränkten Widerruf ^zubilligen will, vgl. BGHZ 37,187,190 (Eheversprechen); 65, 325, 337 (Warentest II); 69, 181, 182 (Tätlichkeiten); BGH NJW 1966, 647, 649 (Reichstagsbrand); BGH VersR 1970,670,671 (Unrecht auf Unrecht); BGH GRUR 1974,797,799 (Fiete Schulze). 491 Ausdrücklich ablehnend allerdings BGHZ 69,181,184 f. (Tätlichkeiten); 99,133,138 f. (Oberfaschist). 492

Nach Auffassung des Bundesgerichtshofs ist dagegen selbst für einen solchen abgeschwächten Widerruf dann kein Raum, wenn es durchaus möglich ist, daß die Behauptungen des Beklagten zutreffen (und nur in diesem Fall kann ja die Behauptung nicht erweislich wahrer Tatsachen ausnahmsweise und unter strengen Voraussetzungen zulässig sein), vgl. BGHZ 69,181,182 f. (Tätlichkeiten). 493

Siehe zu diesen Anforderungen an die Zulässigkeit nicht erweislich wahrer herabsetzender Tatsachenbehauptungen bereits oben II. 2. b): "Gebot der Fairneß".

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

251

Insgesamt zeigt sich, daß es gerade dann, wenn sich nicht klären läßt, ob eine herabsetzende Tatsachenbehauptung der Wahrheit entspricht, darauf ankommt, schematische Pauschallösungen zu vermeiden und zu versuchen, den Interessen beider Parteien durch ein sorgfältig abgestuftes System von Rechtsbehelfen gerecht zu werden. Überzeugend hat der Bundesgerichtshof selbst einmal festgestellt, "daß ein wirksamer Ehrenschutz auf gefächerte und elastische Möglichkeiten der Abwehr und Folgenbeseitigung angewiesen ist"494. Es wäre daher zu begrüßen, wenn die in jüngerer Zeit gelegentlich zu beobachtenden Ansätze des Gerichts zu einer weiteren Diversifizierung der Rechtsfolgen widerrechtlicher Ehrverletzungen495 eine verstärkte Fortsetzung erfahren würden.

2. Rechtspolitische Überlegungen

Eine der wichtigsten Entwicklungen auf dem Gebiet des einfachgesetzlichen Ehrenschutzes seit Inkrafttreten des Grundgesetzes ist zweifellos die immer stärker gewordene Verlagerung der Auseinandersetzungen vom strafrechtlichen auf den zivilrechtlichen Bereich. Während die praktische Bedeutung der Beleidigungsdelikte heute eher gering zu veranschlagen ist 496 , hat der bürgerlich-rechtliche Rechtsschutz gegen unzulässige Ehrverletzungen in den vergangenen Jahr(zehnt)en eine deutliche Aufwertung erfahren. Die Ursachen dieses Prozesses wurden bereits im ersten Teil dieser Untersuchung angedeutet497: Im Hinblick auf die Ausgestaltung der §§ 185 ff. StGB als Privatklagedelikte ist das Betreiben des Strafverfahrens für den Verletzten wenig attraktiv; demgegenüber scheint ihm der Zivil-

494 493

BGHZ 68,331,339 (Abgeordnetenbestechung).

Vgl. BGHZ 99,133,139 f. (Oberfaschist), wo das Gericht mit dem Anspruch auf Veröffentlichung eines erstrittenen Unterlassungsurteils einen zusätzlichen, (auch) auf unzulässige Werturteile zugeschnittenen Beseitigungsanspruch geschaffen und damit eine bislang "offene Flanke" des zivilrechtlichen Ehrenschutzes abgedeckt hat, siehe dazu bereits oben Erster Teil A III. 2. 496 Ausweislich der Statistik erfolgten im Jahre 1987 lediglich 9418 Verurteilungen wegen Verstoßes gegen die §§ 185 ff. StGB: wegen Beleidigung (§ 185 StGB) wurden 9156 Personen verurteilt, wegen übler Nachrede (§ 186 StGB) 169 Personen, wegen Verleumdung (§ 187 StGB) 90 Personen und wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener (§ 189 StGB) 3 Personen; keine einzige Verurteilung erfolgte nach § 187 a StGB (Quelle: Statistisches Bundesamt, Rerhispflegestatistik, Fachserie 10, Reihe 3: Strafverfolgung). 497

Siehe dazu oben Erster Teil A. III. 1.

252

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

rechtsweg zahlreiche Vorteile zu bieten, vor allem was das Spektrum der in Betracht kommenden Rechtsfolgen betrifft. Sicher ist es prinzipiell positiv zu bewerten, wenn die Instrumente der Privatrechtsordnung zum Abbau des Strafrechts als der "ultima ratio" 498 im Handlungssystem des Gesetzgebers beizutragen vermögen. Möglicherweise hat die Erweiterung des zivilrechtlichen Persönlichkeits- und Ehrenschutzes durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch aus diesem Grunde überwiegend Zustimmung erfahren. Bei näherer Betrachtung tauchen jedoch durchaus Zweifel daran auf, ob die fast vollständige Verlagerung des unterverfassungsrechtlichen Ehrenschutzes vom Strafrecht auf das Zivilrecht tatsächlich Beifall verdient. Gutgeheißen werden könnte die zu beobachtende "Verkümmerung"499 des Beleidigungsstrafrechts nämlich nur dann, wenn sich der von Verfassungs wegen gebotene Schutz des Rechts der persönlichen Ehre mit den Mitteln des Bürgerlichen Rechts ebenso gut oder doch wenigstens hinreichend wirksam erreichen ließe. Wie sich indessen schon bei der Skizzierung der verschiedenen zivilrechtlichen Ansprüche im Rahmen der Bestandsaufnahme500 gezeigt hat, sind die meisten von ihnen letztlich doch weniger effektiv als es zunächst den Anschein haben mag501. Das gilt nicht nur für den presserechtlichen Anspruch auf Gegendarstellung, auf dessen Schwächen bereits hingewiesen wurde 502, sondern vor allem auch für die negatorischen und deliktischen (Haupt-)Ansprüche des von einer ehrverletzenden Äußerung Betroffenen. Als nahezu wirkungslos erweist sich in der Praxis namentlich der Anspruch auf Widerruf - eine Diagnose, die im folgenden anhand eines Beispiels aus der Rechtswirklichkeit näher erläutert werden soll503: Der Verleger und Herausgeber des Wochenmagazins "Der Spiegel", Κ Augstein, hatte am Ol. April 1964 in dieser Zeitschrift unter dem 498

Vgl. BVerfGE 39,1,47 (Fristenregelung).

499

G. Arzt, JuS 1982,717,723.

500

Oben EreterTeilA.111.2.

501

H. Dahs, Handbuch des Strafverteidigers, 5. Aufl. 1983, Rn. 194, spricht anschaulich von einem "Arsenal der stumpfen Waffen". 502

Siehe oben Erster Teil A. III. 2. Vgl. hierzu und zum folgenden auch D. Leipold, ZZP 84 (1971), 150, 151 ff.; P. Schwerdmer, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 326 f. m.w.N.; ders., JuS 1978, 289, 298; ders., in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 12, Rn. 352. 503

III. Konsequenzen für die einfachgesetziche Ausgestaltung

253

Decknamen "Moritz Pfeil" einen Aufsatz mit der Überschrift "Unheilbar gesund?" veröffentlicht, in dem der ehemalige Vorsitzende der CSU, F. J. Strauß, unter anderem der Korruption während seiner Amtszeit als Bundesverteidigungsminister bezichtigt wurde 504. Auf die Klage von F. J. Strauß hin wurde R. Augstein nach umfangreichen Beweisaufnahmen schließlich rechtskräftig dazu verurteilt, bestimmte Behauptungen tatsächlicher Art durch eine eigenhändig unterzeichnete schriftliche Erklärung zu widerrufen 505. Dennoch war er (zunächst) nicht zur Abgabe einer solchen Erklärung bereit. Daran änderte auch die Verhängung eines Zwangsgeldes in Höhe von DM 10.000,- nichts506. Vielmehr erhob R. Augstein nunmehr Verfassungsbeschwerde gegen seine Verurteilung und gegen die Verhängung des Zwangsgeldes. Zur Begründung führte er aus, die angegriffenen Entscheidungen verletzten seine Grundrechte aus Art. 1, 2 und 5 GG; namentlich die ihm angesonnene Abgabe einer eigenhändig unterzeichneten Erklärung bedeute für ihn eine menschenunwürdige, weil unverhältnismäßige Demütigung507. Die Verfassungsbeschwerde wurde jedoch, vor allem wegen verspäteter Einlegung, als unzulässig verworfen 508. Die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts blieb für R. Augstein gleichwohl, so erstaunlich dies zunächst klingen mag, nicht ohne Erfolg. Das Gericht sah sich nämlich veranlaßt, dem Beschwerdeführer die Bedeutung des Widerrufs näher zu erläutern, (wohl) um ihn dadurch zur Abgabe der Widerrufserklärung zu bewegen. Es stellte fest, die Verurteilung zum Widerruf bedeute nicht, daß der Verurteilte von der Unrichtigkeit der von ihm zu widerrufenden Behauptungen überzeugt sein müsse509. Er solle nicht "gedemütigt", sein Wille solle nicht "gebrochen" werden. Es werde ihm nicht angesonnen, seine Überzeugung zu ändern, auch nicht, einen - nicht vorhandenen - Überzeugungswandel nach außen zu bekennen. Der Verurteilte könne vielmehr in der Erklärung zum Ausdruck bringen, daß er sie in Erfüllung des gegen ihn ergangenen rechtskräftigen Urteils abgebe. Wenn er in dieser Weise dem Gebot eines in rechtsstaatlichem Verfahren 504

Vgl. Der Spiegel, Heft 14 vom 01. April 1964, S. 18.

505

Siehe dazu näher BGH GRUR 1969,147, 147 f. (Augstein), und BVerfGE 28, 1, 2 f. (Augstein). 506

Vgl. BVerfGE 28,1,3 f. (Augstein).

507

Siehe BVerfGE 28,1,4 f. (Augstein).

508

Vgl. BVerfGE 28,1,6 ff. (Augstein).

509

Siehe BVerfGE 28,1,9 f. (Augstein).

254

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

ergangenen Urteils nachkomme, bekunde er lediglich seine Achtung vor dem geltenden Recht. Eine Verletzung seiner Menschenwürde könne darin nicht liegen510. Λ Augstein gab daraufhin die geforderte Widerrufserklärung ab. Sie ist auch im "Spiegel" veröffentlicht worden511. In dieser Erklärung wird zunächst mitgeteilt, daß das Oberlandesgericht München den Beklagten verurteilt habe, bestimmte - im einzelnen aufgeführte - Behauptungen zu widerrufen. Sodann fuhr Ä Augstein fort: "Daß ich diese Erklärungen abgebe, was ich hiermit tue, geschieht nicht etwa aufgrund einer Änderung der seinerzeit in dem Artikel "Unheilbar gesund?" von mir vertretenen Überzeugung, sondern aus Achtung vor dem geltenden Recht, das mir anheimgibt, in Erfüllung des gegen mich ergangenen rechtskräftigen Urteils auch Behauptungen als eigene zu widerrufen, die von Dritten aufgestellt worden sind. Die Abgabe dieser Erklärungen ist mir erst durch die Auslegung ermöglicht worden, die das Bundesverfassungsgericht den Urteilen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts München hat zuteil werden lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat ausgesprochen, daß mir nicht angesonnen wird, meine Überzeugung zu ändern, und daß derartige Erklärungen in keiner Weise bedeuten, einen - nicht vorhandenen - Überzeugungswandel nach außen zu bekennen."

Neben diese "Widerrufs"erklärung setzte R Augstein ein verkleinertes, aber gut lesbares Faksimile jenes früheren Artikels, in dem die betreffenden Behauptungen enthalten waren. Er schrieb darunter, der inkrimierte Artikel werde hier nicht zur erneuten Verbreitung, sondern zum Verständnis der nebenstehenden Erklärung wiedergegeben. F. J. Strauß wollte sich mit dieser Art des Widerrufs zwar nicht zufriedengeben, das Oberlandesgericht München erklärte die Erklärung jedoch für ausreichend512 - was hätte es angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch anderes tun können?513 5 1 4 Der konkrete Rechtsstreit war damit beendet, die Frage nach der Wirksamkeit des Widerrufsanspruchs bleibt aber bis heute in aller Schärfe ge510

Vgl. BVerfGE 28,1,10 (Augstein).

511

Siehe Der Spiegel, Heft 12 vom 16. März 1970, S. 25.

512

Vgl. die Notiz in Der Spiegel, Heft 19 vom 04. Mai 1970, S. 240. So auch D. Leipold, ZZP 84 (1971), 150, 153; dagegen ist P. Schwerdmer der Ansicht, daß das Vorgehen R Augsteins "auch nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht als Erfüllung des Widerrufsanspruchs angesehen werden kann", siehe ders., Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 326. 513

514

Der Bundesgerichtshof hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich übernommen, vgl. BGHZ 68, 331, 337 f. (Abgeordnetenbestechung); erneut bestätigend zuletzt BGHZ 99,133,140 (Oberfaschist).

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

255

stellt. Kommt bei einer "erfolgreichen" Widerrufsklage - nach einer Prozeßdauer von nahezu sechs Jahren - im Ergebnis nicht mehr "heraus" als eine versteckte Bekräftigung der ursprünglichen Behauptung, so kann von einem effektiven Ehrenschutz sicher nicht die Rede sein. Sinn und Zweck des Widerrufs ist es, die fortdauernde Beeinträchtigung der persönlichen Ehre zu beseitigen, die sich aus einer unwahren Tatsachenmitteilung ergibt515. Dieser Erfolg kann aber nur erreicht werden, wenn der Verurteilte die von ihm aufgestellte oder verbreitete Behauptung für unrichtig erklärt. Darf er dagegen gleichzeitig mit dem "Widerruf bekunden, daß er seine Überzeugung nicht geändert habe, ist den Interessen des Verletzten nicht gedient. Im Gegenteil, eine solche Erklärung wird seiner Ehre eher schädlich sein und erweist sich damit geradezu als "Prämießrden Verletzer" 516. Ebensowenig dürfen Wirkung und Bedeutung des deliktischen Schadensersatzanspruchs überschätzt werden517. Da die Schadensfolgen einer Ehrverletzung häufig nicht auf materiellem Gebiet liegen, wird in vielen Fällen ohnehin nur ein Anspruch auf Geldentschädigung für den erlittenen immateriellen Schaden in Betracht kommen. Ob damit ein ausreichender Schutz des Rechts der persönlichen Ehre bewirkt werden kann, muß indessen - vor allem was herabsetzende Veröffentlichungen in Presse oder Rundfunk betrifft - stark bezweifelt werden. Die Wirklichkeit zeigt, daß das (wirtschaftliche oder politische) Interesse an einer zugkräftigen Berichterstattung die gebotene Rücksicht auf die persönlichkeitsrechtlichen Belange des Betroffenen meist völlig in den Hintergrund drängt. Einige finanzstarke Medienorgane lassen sich durch das Risiko eines Schadensersatzprozesses keineswegs von vorschnellen "Enthüllungen" oder sogenannten "Blattschußreportagen"518 abhalten; gelegentliche, gegenüber den Ein-

515 Bei der Betrachtung der Wirksamkeit des Widerrufs in der Praxis muß (natürlich) von der Auffassung des Bundesgerichtshofs ausgegangen werden, daß die Gewährung dieses besonderen Rechtsbehelfs nur in Betracht kommt, wenn die Unwahrheit der beanstandeten Behauptung feststeht. 516

P. Schwerdtner,

Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977,

S. 327. 517

Zu optimistisch erscheint dagegen etwa die Einschätzung von R Herzog, in: Maunz/ Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Abs. I, II (1982), Rn. 152. 518 So die Bezeichnung eines "Spieger'-Artikels über den ehemaligen Bundesvertriebenenminister H. Krüger durch den Chefredakteur des Wochenmagazins E. Böhme, vgl. Die Zeit vom 25. September 1987, S. 13,14.

256

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

nahmen aus dem Werbegeschäft kaum ins Gewicht fallende "Schmerzensgeld"-Zahlungen entfalten in der Praxis kaum abschreckende Wirkung 519. Erhöhen ließe sich die Effektivität des deliktischen Schadensersatzanspruchs wohl allein dadurch, daß die Summe der im Einzelfall zu leistenden Entschädigung deutlich angehoben würde. Gerade dieser Weg unterliegt jedoch durchgreifenden Bedenken. Mit Recht ist die Zubilligung von Geldersatz für erlittene immaterielle Schäden von der Rechtsprechung stets an strenge Voraussetzungen geknüpft worden und haben sich die zuerkannten Beträge bis heute in gewissen Grenzen gehalten520; nur so konnte verhindert werden, daß Ehrverletzungen lediglich ausgenutzt wurden, um an ihnen zu verdienen521. Soll nicht einer unerwünschten "Kommerzialisierung" ideeller Werte 522 Vorschub geleistet werden, muß eine Erhöhung der Entschädigungssummen als Mittel zur Effektivierung des zivilrechtlichen Ehrenschutzes ausscheiden. Als einzig wirksamer Rechtsbehelf des in seiner Ehre Verletzten bleibt danach der Anspruch auf Unterlassung. Ein solches Begehren wirkt jedoch nur für die Zukunft und kann das Fehlen erfolgversprechender und hinreichend abschreckender Instrumente der Folgenbeseitigung und Kompensation nicht ersetzen. Der zivilrechtliche Persönlichkeitschutz erweist sich damit im Ergebnis - trotz seines Ausbaus durch die Rechtsprechung - als unzureichend, um den von Verfassungs wegen gebotenen Schutz des Rechts der persönlichen Ehre zu gewährleisten. Daraus folgt, daß auf den (zusätzlichen) Einsatz des Strafrechts im Bereich des Ehrenschutzes (nach wie vor) nicht verzichtet werden kann. Um den einzelnen vor unzulässigen Verletzungen seines Geltungswerts zu bewahren, ist der Staat gehalten, (auch) von dem schärfsten ihm zur Verfü-

519 520

Siehe dazu näher E. Schwinge, Ehrenschutz heute, 1988, S. 100 ff.

Die zugebilligten Beträge bewegen sich im allgemeinen zwischen DM 2.000,- (vgl. etwa BGH NJW 1977, 626, 628 [Editorial]) und DM 40.000.- (siehe z.B. BGH NJW 1982, 635, 637 [Boll II]). 521 Vgl. BGHZ 35, 363, 368 (Ginseng-Wurzel); in diesem Sinne auch BVerfGE 34, 269, 286 (Soraya). Sil Siehe dazu etwa K. Lorenz, NJW 1958, 827, 828, 829; E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 48 f.; P. Schwerdmer, Das Persönlichkeitsrecht in der deutschen Zivilrechtsordnung, 1977, S. 265 ff.; ders., JuS 1978, 289,295; ders., Jura 1985, 521, 526; jeweils m.w.N.

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

257

gung stehenden Mittel, der Pönalisierung, Gebrauch zu machen. Denn während die verschiedenen "Sanktionen" des Zivilrechts herabsetzende Äußerungen kaum verhindern können, ist davon auszugehen, daß das Strafrecht kraft seiner generalpräventiven Wirkung 523 Eingriffen in die persönliche Ehre anderer weitaus besser Einhalt zu gebieten vermag. "Aufgabe des Strafrechts war es seit jeher, die elementaren Werte des Gemeinschaftslebens zu schützen."524 Durch die Androhung und Realisierung von Strafe will die Rechtsgesellschaft die angemessene Entwicklung sowohl des einzelnen in der Gesellschaft als auch des Sozialgefüges insgesamt sicherstellen; geschützt werden die Grundlagen der Gemeinschaft, indem bestimmte fundamentale (Rechts-)Güter vor widerrechtlichen Eingriffen gesichert werden525. Namentlich der Schutz grundrechtlich verbürgter Freiheitspositionen kann den Einsatz der Strafgewalt als Mittel der Grundrechtssicherung unumgänglich machen526. "Zahlreiche Strafrechtsnormen ermöglichen erst die Ausübung von Grundrechten. Wo die Freiheit des einzelnen nicht gegen den sie bedrohenden Freiheitsmißbrauch anderer strafrechtlich gesichert wäre, könnte von einer Bedeutung der Freiheit 'für das soziale Leben im ganzen* keine Rede mehr sein."527 "Statt Freiheit herrschten Willkür und Gewalt; statt der von der Verfassung erstrebten 'einheitsbildenden Zusammenordnung* (Hesse) Auflösung und Anarchie."528 Fraglich ist jedoch, ob die gegenwärtige Ausgestaltung des Beleidigungsstrafrechts bereits ausreicht, um der persönlichen Ehre des einzelnen den erforderlichen und der Bedeutung des zu sichernden Rechtsguts entsprechenden tatsächlichen Schutz zu gewährleisten. Skeptisch stimmt hier allein schon ein Blick in einschlägige Statistiken. Denn während sich die Zahl der polizeilich erfaßten Beleidigungsfälle in den Jahren 1976 bis 1987

523 Zu den verschiedenen Strafzwecken vgl. statt aller//. Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1988, S. 17 f. 524

BVerfGE 39,1,46 (Fristenregelung).

525

Siehe//. Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1988, S. 7.

526

Vgl. H. Bethge, Zur Problematik von Grundrechtskollisionen, 1977, S. 410.

527

Ρ Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Artikel 19 Abs. 2 Grundgesetz, 3. Aufl. 1983,

S. 14. 528

P. Häberle, ebd., S. 189.

17 Mackeprang

258

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

nahezu verdoppelt hat 529 , nahm die - (auch im Vergleich dazu) ohnehin geringe - Zahl der erfolgten strafgerichtlichen Verurteilungen im gleichen Zeitraum nur um knapp 45 Prozent zu 530 . Verantwortlich für diese Entwicklung dürfte allerdings weniger die materiell-rechtliche Regelung der §§ 185 ff. StGB sein, als deren verfahrensrechtliche Seite. Schon bei der Skizzierung des strafrechtlichen Ehrenschutzes im ersten Teil dieser Untersuchung531 wurde darauf hingewiesen, daß die Ausgestaltung der Beleidigungsdelikte als Privatklagedelikte (§ 374 Abs. 1 Nr. 2 StPO) eine wesentliche Schwächung der Stellung des Verletzen mit sich bringt 532. Der Betroffene muß gleichsam selbst die Rolle des Staatsanwalts übernehmen533. Dabei hat das Gesetz das Privatklageverfahren so stark formalisiert und verkompliziert, daß ein rechtsunkundiger Privatkläger ohne den Beistand eines Rechtsanwalts kaum auskommt534. Nach alledem scheut der Verletzte meist das mit einer Privatklage verbundene Kostenrisiko535 (und den mit ihr verbundenen Ärger und Zeitaufwand 536), zumal er es nicht verhindern 529

Ausweislich der vom Bundeskriminalamt jährlich herausgegebenen Polizeilichen Kriminalstatistik wurden im Jahre 1976 insgesamt 36270 Beleidigungsfälle erfaßt; in den Folgejahren erhöhte sich diese Zahl dann kontinuierlich (1977: 41609 Fälle; 1978: 43543 Fälle; 1979: 49102 Fälle; 1980: 58250 Fälle; 1981: 60984 Fälle; 1982: 62319 Fälle; 1983: 65735 Fälle; 1984: 67312 Fälle; 1985: 68270 Fälle; 1986: 72057 Fälle) und im Jahre 1987 wurden schließlich insgesamt 72177 Beleidigungsfälle registriert. Für das Jahr 1988 ergeben die neuesten Zahlen eine530 weitere deutliche Zunahme auf insgesamt 78227 Beleidigungsfälle. Im Jahre 1976 wurden insgesamt 6537 Personen wegen Vertoßes gegen die §§ 185 ff. StGB verurteilt; diese Zahl erhöhte sich dann bis zum Jahr 1987 lediglich auf insgesamt 9418 Personen (1977: 7410 Personen; 1978: 7631 Personen; 1979: 7505 Personen; 1980: 8012 Personen; 1981: 8507 Personen; 1982: 9192 Personen; 1983: 9406 Personen; 1984: 9510 Personen; 1985: 9055 Personen; 1986: 9108 Personen) (Quelle: Statistisches Bundesamt, Rechtspflegestatistik, Fachserie 10, Reihe 3: Strafverfolgung). 531 Dort unter A. III. 1. 532 Siehe dazu etwa H. /. Hirsch, in: FS für R. Lange, 1976, S. 815 ff.; G. Arzt, JuS 1982,717, 724 m.w.N.; prägnant /. Η Husmann, MDR 1988, 727, 728: "In der Praxis hat sich die Privatklage als Dornenweg erwiesen. Sie ist in Mißkredit geraten. Ein erfahrener Anwalt wird gewiß davon abraten."

533

Allerdings mit der (erheblichen) Einschränkung, daß er das Recht zur Akteneinsicht nur durch einen Anwalt ausüben kann, vgl. § 385 Abs. 3 StPO; zudem stehen dem Privatkläger (selbstverständlich) die dem öffentlichen Ankläger gegebenen strafprozessualen Zwangsbefugnisse nicht zur Verfügung, siehe K. Geppert, Jura 1983,530,530 Fn. 3. 534 Vgl. G. Arzt, JuS 1982,717,724; K. Geppert, Jura 1983,530, 530 f. 535 536

Siehe §§ 379,379 a, 380 Abs. 2,471 StPO.

Zu beachten ist hier insbesondere die Notwendigkeit des der Erhebung der (Privat-) Klage vorgeschalteten Sühneversuchs nach § 380 Abs. 1 StPO.

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

259

kann, daß das Verfahren vom Gericht schließlich doch wegen (angeblich) geringer Schuld des Täters eingestellt wird 537. Zwar kann die Staatsanwaltschaft auch bei Privatklagedelikten öffentliche Klage erheben (§ 376 StPO) oder ein durch Privatklage in Gang gebrachtes Verfahren nachträglich übernehmen (§ 377 Abs. 2 StPO), "wenn dies im öffentlichen Interesse liegt"538; ein solches wird aber nur ausnahmsweise angenommen539. Die Strafprozeßordnung selbst enthält keinen Hinweis darauf, wann im Einzelfall ein "öffentliches Interesse" an der Strafverfolgung zu bejahen ist. Auslegungsregeln für die Staatsanwaltschaft finden sich lediglich in den vom Bund und den Ländern einheitlich erlassenen "Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren" (RiStBV) 540 . Nach der für Privatklagesachen allgemein geltenden Bestimmung der Nr. 86 Abs. 2 RiStBV soll ein öffentliches Interesse "in der Regel (dann) vorliegen, wenn der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört und die Strafverfolgung ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit ist". Speziell für Beleidigungen nach §§ 185 ff. StGB heißt es dann in Nr. 229 Abs. 1 RiStBV: "Von der Erhebung der öffentlichen Klage soll der Staatsanwalt regelmäßig absehen, wenn eine wesentliche Ehrenkränkung nicht vorliegt, wie es vielfach bei Familienzwistigkeiten, Hausklatsch, Wirtshausstreitigkeiten der Fall ist. Liegt dagegen eine wesentliche Ehrenkränkung oder ein Fall des § 187 a StGB vor, so wird das öffentliche Interesse meist gegeben sein." Diese Direktiven machen deutlich, welche Überlegungen hinter der Ausgestaltung der Beleidigungsdelikte als Privatklagedelikte stehen. Bei Verstößen gegen die §§ 185 ff. StGB handelt es sich häufig um relativ leicht wiegendes Unrecht. Der "Aufwand" des Strafverfahrens erscheint in solchen Fällen als unangemessen hoch541. Staatsanwaltschaft und Gerichte 537

Vgl. §§ 383 Abs. 2, 390 Abs. 5 StPO, als Sonderregelung gegenüber §§ 153,153 a StPO; anders als dort ist die Einstellung hier von niemandes Zustimmung abhängig, siehe Th. Kleinknecht/K. Meyer, Strafprozeßordnung, 39. Aufl. 1989, § 383, Rn. 17. 538

Zur Einordnung des "öffentlichen Interesses" als Zulässigkeitserfordernis vgl. näher /. H. Husmann, MDR 1988,727,728 f. 539 Siehe G. Arzt, JuS 1982, 717,724. - Die Frage, ob die Entscheidung über das Vorliegen des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung im Einzelfall allein der Staatsanwaltschaft zukommt oder ob deren Einschätzung derrichterlichen Kontrolle unterliegt, ist umstritten; vgl. dazu eingehend/. H. Husmann, MDR 1988,727, 728 f. m.w.N. 540

Abgedruckt bei Th. Kleinknecht/K. Meyer, Strafprozeßordnung, 39. Aufl. 1989, Anhang 14. - Zur Rechtsnatur der Richtlinien siehe/. H. Husmann, MDR 1988,727,730. 17 *

260

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

sollen ihre Zeit und Kraft nicht auf Quisquilien verwenden müssen, die solche Mühe nicht verdienen. Aufgabe der Rechtspflege kann es nicht sein, sich mit gewöhnlichen Schimpfreden, kleinlichen Zänkereien und törichtem Klatsch auseinanderzusetzen - Gegenstände, an deren ernsthafter Behandlung kein staatliches oder öffentliches, vielfach überhaupt kein vernünftiges Interesse besteht. Die Strafjustiz liefe Gefahr, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, wenn sie sich zu einer Fürsorgeanstalt für allerlei persönliche Selbstsüchteleien und Empfindlichkeiten machen ließe542. Etwas anderes muß jedoch gelten, wenn und soweit es im Einzelfall um Ehrverletzungen geht, die sich vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung für den Schutz der persönlichen Ehre als erhebliche Eingriffe in den grundrechtlich verbürgten Geltungswert des einzelnen darstellen. Hier kann das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung kaum in Abrede gestellt werden. Die inhaltliche Präzisierung des grundgesetzlichen Ehrenschutzes hat gezeigt, daß die (Verfassungs-)Rechtsordnung mit der Gewährleistung des dem einzelnen kraft seines Menschseins und nach Maßgabe seines individuellen Verhaltens zustehenden Geltungswerts nicht nur wichtige Aspekte menschlicher Persönlichkeitsentfaltung), sondern zugleich auch eine unverzichtbare Grundlage verfassungsstaatlicher Gemeinschaft sichert543. "Weil der Schutz des sozialen Geltungsanspruchs unmittelbarer Schutz der Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens ist, muß das Fundament einer Gesellschaft schwer erschüttert werden, wenn dieser Schutz nicht mehr gewährleistet ist. Dies vor allem ist zu beachten, wenn die Vorstellung eines Bagatellschutzes im Bereich des Ehrenschutzes auftaucht." 544 Liegt daher eine - gemessen an der spezifisch verfassungsrechtlichen Bedeutung des Rechts der persönlichen Ehre - erhebliche Ehrverletzung vor, so darf der Betroffene nicht auf den Privatklageweg verwiesen werden. Die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates für den Wert- und Achtungsanspruch seiner Bürger 545 sowie die in Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG angelegte Pflicht zur (auch) verfahrensrechtlichen Optimierung 541

Vgl. G. Arzt, JuS 1982,717,723 f.

542 5 4 3Siehe dazu

E. Schwinge, in: FS für J. Scheveling, 1972, S. 277,278 f. m.w.N. Vgl. oben I. l.b)cc).

544

H. Otto, in: FS für E. Schwinge, 1973, S. 71,82; ders., NJW 1986,1206,1210.

545

Siehe dazu oben 1.2. b) bb).

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

261

des Ehrenschutzes546 gebieten es, das Opfer eines derartigen Angriffs bei der Verfolgung seiner Rechte nicht "allein" zu lassen. Aber auch um seiner selbst willen muß ein freiheitlich-demokratisch strukturiertes Gemeinwesen in einem solchen Fall die für das soziale und politische Miteinander unverzichtbare gegenseitige Achtung seiner Mitglieder im Wege der öffentlichen Klage sicherstellen. Wann eine in diesem Sinne erhebliche und damit das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung begründende Ehrverletzung vorliegt, kann freilich nur im jeweiligen Einzelfall entschieden werden. Die einschlägigen Bestimmungen der Nrn. 86 Abs. 2, 229 Abs. 1 RiStBV liefern dafür lediglich erste Anhaltspunkte. Außer in dem dort aufgeführten (Spezial-)Fall des § 187 a StGB wird eine "wesentliche Ehrenkränkung", durch die "der Rechtsfrieden über den Lebenskreis des Verletzten hinaus gestört" ist, in der Regel vor allem dann anzunehmen sein, wenn es um herabsetzende Äußerungen in (Massen-)Medien geht. Ehrangriffe in Presse und Rundfunk 547 belasten den Betroffenen wegen ihrer unberechenbaren und angesichts neuartiger technischer Verbreitungsformen mit nahezu unbegrenzter Reichweite immer größer werdenden (Breiten-)Wirkung erfahrungsgemäß besonders nachhaltig. Leser, Hörer oder Zuschauer sind vielfach nicht in der Lage, die Wahrheit aufgestellter oder weiterverbreiteter Behauptungen nachzuprüfen und die "Richtigkeit" vorgenommener Wertungen zu beurteilen, sondern zumeist eher geneigt, sie (mehr oder weniger) kritiklos hinzunehmen548. Hinzu kommt, daß einflußreiche Presseorgane und Rundfunkanstalten heute zum Teil eine staatlicher Gewalt durchaus vergleichbare Macht verkörpern ("vierte Gewalt"549), der gegenüber sich die Stellung des einzelnen häufig geradezu hilflos ausnimmt550. Hier läßt sich die gebotene "Waffengleichheit" der Parteien nur dadurch erreichen, daß sich der Staat an die Seite der von einem Verstoß gegen die §§ 185 ff. StGB Betroffenen stellt und - auf deren Antrag (§ 194 Abs. 1 StGB) - das Betreiben des Strafverfahrens für sie übernimmt. 546

Vgl. oben I. 2. d).

547

Zum Verhältnis zwischen Presse- und Rundfunkfreiheit eingehend W. Schmitt Glaeser, AöR 112 (1987), 215,229 ff. m.z.N. 548 Siehe E. Helle, Der Schutz der Persönlichkeit, der Ehre und des wirtschaftlichen Rufes im Privatrecht, 2. Aufl. 1969, S. 159. 549 M. Löffler, Der Verfassungsauftrag der Presse, 1963, S. 4 f. In diesem Sinne auch R Weber, in: FS für H. J. Faller, 1984, S. 443,457.

550

262

2. Teil: Β. Konzeption verfassungs"gerechten Ehrenschutzes

Speziell was ehrverletzende Berichte und Kommentare im Rahmen politischer Auseinandersetzungen anbelangt, ergibt sich das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung auch aus der besonderen Bedeutung des Ehrenschutzes für den Prozeß freiheitlich-demokratischer Willensbildung551. Ebenso wie eine übermäßige Einschränkung der "Medienfreiheiten" des Art. 5 Abs. 1 GG die "öffentliche Aufgabe" 552, die Presse und Rundfunk im Dienste politischer Einheitsbildung zu erfüllen haben, in Frage stellen und damit das politische Leben der staatlichen Gemeinschaft insgesamt in seinem Kern treffen würde 553, würde auch eine fehlende oder unzureichende Gewährleistung der gebotenen Mindeststandards gegenseitiger personaler Achtung die Bildung der "öffentlichen" Meinung in Freiheit über kurz oder lang praktisch unmöglich machen. Bei (unzulässigen) Ehrverletzungen durch Presse und Rundfunk im politischen Meinungskampf liegt die Erhebung der öffentlichen Klage daher in aller Regel nicht nur im Interesse des Betroffenen, sondern ist zugleich auch "ein gegenwärtiges Anliegen der Allgemeinheit"554. Um den von vielen mit Recht gerade gegenüber rechtswidrigen Angriffen durch (Massen-)Medien als unzulänglich empfundenen Ehrenschutz zu verbessern, sollte daher bereits im Gesetz selbst zum Ausdruck gebracht werden, daß das "öffentliche Interesse" an der Strafverfolgung in diesen Fällen grundsätzlich zu bejahen ist. Vorstellbar wäre etwa die Aufnahme eines entsprechenden "Regelbeispiels" in die Bestimmung des § 376 StPO (als Absatz 2). Auf diese Weise könnte das Strafrecht als Mittel zur Sicherung des grundgesetzlich verbürgten Wert- und Achtungsanspruchs des einzelnen - zumindest in diesem praktisch bedeutsamen Teilbereich - wiederbelebt werden. Zugleich bliebe sichergestellt, daß der Betroffene auf den Privatklageweg nach wie vor dann verwiesen werden könnte, wenn die das "öffentliche Interesse" im Regelfall begründenden Umstände ausnahmsweise einmal nicht vorliegen. Für eine Neufassung des § 376 StPO sei daher folgende Formulierung vorgeschlagen: "(1) Die öffentliche Klage wird wegen der in § 374 bezeichneten Straftaten von der Staatsanwaltschaft nur dann erhoben, wenn dies im öffentlichen Interesse liegt. 551

Vgl. dazu näher oben 1.1. b) cc).

552

Kritisch dazu etwa E. Kuli, in: FS für M. Löffler, 1980, S. 187,188 ff.

553

Zur Bedeutung der Medien im Gesamtzusammenhang der Verfassung vgl. etwa W. Schmitt Glaeser, AöR 112 (1987), 215,222; ders., AöR 113 (1988), 52,81 f. 554

Siehe Nr. 86 Abs. 2 RiStBV.

III. Konsequenzen für die einfachgesetzliche Ausgestaltung

263

(2) Im Fall des § 374 Abs. 1 Nr. 2 ist das öffentliche Interesse an der Verfolgung in der Regel gegeben, wenn die Tat durch Presse oder Rundfunk begangen ist."

Betont werden muß, daß eine solche Regelung keineswegs eine (zusätzliche) Begrenzung der "Mediengrundrechte" des Art. 5 Abs. 1 GG bedeuten würde. Die der Presse- und Rundfunkfreiheit durch das Recht der persönlichen Ehre gezogenen Grenzen ergeben sich ausschließlich aus Art. 5 Abs. 2 bzw. Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie aus den diese Verfassungsbestimmungen konkretisierenden materiell-rechtlichen Normen des einfachen Rechts - auf dem Gebiet des Strafrechts also aus den §§ 185 ff. StGB. Hier allein ist der gebotene Ausgleich der kollidierenden Grundrechtspositionen vorzunehmen und in jedem Einzelfall (anhand der oben entwickelten Kriterien 555) zu prüfen, ob sich die inkriminierte Berichterstattung oder Kommentierung (noch) im Rahmen des rechtlich Erlaubten bewegte. Mit der vorgeschlagenen Ergänzung des § 376 StPO soll demgegenüber lediglich im Falle unzulässiger Ehrverletzungen die Stellung des Verletzten im (Straf-)Verfahren gestärkt werden, um so das Beleidigungsstrafrecht als Mittel zum Schutz des grundgesetzlich verbürgten Geltungswerts des einzelnen zu (re)aktivieren und auf diese Weise sicherzustellen, daß die Rechtsordnung den von rechtswidrigen Eingriffen in ihre persönliche Ehre betroffenen Personen den von Verfassungs wegen gebotenen effektiven (Grund-)Rechtsschutz556 tatsächlich zu gewähren vermag.

555 556

Vgl. oben II.

Zum Grundsatz "effektiven Grundrechtsschutzes" zuletzt P. Häberle, Die Verwaltung 22 (1989), 409,410 ff. ("praktische Grundrechtseffektivität").

Zusammenfassung in Thesen 1. Dem Wortlaut nach erscheint das "Recht der persönlichen Ehre" im Grundgesetz nur in Art. 5 Abs. 2 GG als dritte Schranke der Freiheitsrechte des Art. 5 Abs. 1 GG (ausdrücklicher Verfassungsvorbehalt). Darüber hinaus ist die Ehre des einzelnen aber auch ein essentielles Element des durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrechts. 2. Die historische und kontemporäre Verfassungsvergleichung läßt erkennen, daß das Recht der persönlichen Ehre heute zu den verfassungsrechtlichen Fundamentalrechten des einzelnen zu zählen ist. Während diesem sachlichen Gewicht im Grundgesetz "nur" im Wege der Verfassungsinterpretation Rechnung getragen werden kann, kommt die Grundrechtsqualität des Ehrenschutzes in anderen Verfassungen, vor allem in den modernen europäischen Verfassungswerken der siebziger Jahre, auch textlich zum Ausdruck. 3. Um wirksam werden zu können, bedarf das grundgesetzlich verbürgte Recht der persönlichen Ehre der rechtlichen Ausgestaltung auf unterverfassungsrechtlicher Ebene. Auf strafrechtlichem Gebiet ist dies durch die (Aufrechterhaltung der vorkonstitutionellen) Bestimmungen der §§ 185 ff. StGB in Verbindung mit den §§ 374 ff. StPO geschehen, im Zivilrecht vor allem durch den weitgehend richterrechtlich geformten deliktischen und negatorischen Ehrenschutz sowie den medienrechtlichen Anspruch auf Gegendarstellung. In der Praxis hat sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzungen zunehmend vom Strafrecht auf das Zivilrecht verlagert; denn während das Betreiben des Strafverfahrens für den Verletzten im Hinblick auf die Ausgestaltung der §§ 185 ff. StGB als Privatklagedelikte wenig attraktiv ist, scheint ihm der Zivilrechtsweg zahlreiche Vorteile zu bieten. 4. Die Betätigung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG gefährdet die persönliche Ehre anderer erfahrungsgemäß in besonderem Maße. Kollisionen zwischen diesen beiden Grundwerten der Verfassung wurden dementsprechend zum Gegenstand zahlreicher gerichtlicher Verfahren. Die Grundsät-

Zusammenfassung in Thesen

265

ze, die vor allem das Bundesverfassungsgericht für den erforderlichen Interessenausgleich entwickelt hat, vermögen jedoch weder verfassungssystematisch zu überzeugen noch werden sie der verfassungsrechtlichen Wertentscheidung für den Schutz der persönlichen Ehre gerecht. 5. Bei der Bestimmung des Stellenwerts des "Rechts der persönlichen Ehre" als der dritten Schranke der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG haben die Gerichte dem Umstand, daß der Ehrenschutz als besonders prägnante Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes eine weitere Verankerung im Grundgesetz findet, bislang nicht hinreichend Rechnung getragen. Während der (verfassungsrechtliche Schutz der menschlichen Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG insgesamt eine deutliche Aufwertung erfahren hat, entfaltet die den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG mit dem "Recht der persönlichen Ehre" in Art. 5 Abs. 2 GG ausdrücklich gezogene Grenze in der Praxis kaum ehrenschützende Wirkung. 6. Hauptursache dafür ist, daß die Gerichte das "Recht der persönlichen Ehre" regelmäßig nur als unselbständigen Teil der Schranke "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" behandeln mit der Folge, daß die für die Auslegung und Anwendung dieses Schrankenvorbehalts entwickelten Grundsätze auch auf den Ehrenschutz übertragen werden. Damit jedoch verkennen die Gerichte Inhalt und Funktion des "Rechts der persönlichen Ehre" im Rahmen der Schrankenregelung des Art. 5 Abs. 2 GG. 7. Zwar sind einfachgesetzliche Ehrenschutzbestimmungen zugleich auch "allgemeine Gesetze" im Sinne der ersten Alternative des Art. 5 Abs. 2 GG. Die erste und die dritte Schranke der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG stellen sich aber als qualitativ voneinander verschiedene Begrenzungen dieser Grundrechte dar: Während durch "allgemeine Gesetze" prinzipiell jedes (auch noch so relativ unbedeutende) Rechtsgut geschützt werden kann, geht es beim Schutz der persönlichen Ehre (immer) um ein Rechtsgut von Verfassungsrang. 8. Daraus folgt vor allem, daß die vom Bundesverfassungsgericht für die Auslegung und Anwendung "allgemeiner Gesetze" entwickelte "Wechselwirkungstheorie" nicht auf das "Recht der persönlichen Ehre" erstreckt werden darf. Denn das Anliegen dieser Theorie ist es, die Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG nicht jeder beliebigen Beschränkbarkeit durch einfaches Gesetz zu überlassen. Im Unterschied zu den beiden ersten in Art. 5 Abs. 2

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Zusammenfassung in Thesen

GG genannte« Schranken erfolgt die Grundrechtsbegrenzung im Falle des "Rechts der persönlichen Ehre" aber nicht durch subkonstitutionelles, sondern durch konstitutionelles Recht. Die Gefahr einer Unterwanderung der in Art. 5 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Freiheitsrechte durch einfaches Recht besteht somit nicht. Es handelt sich vielmehr um die Kollision zweier verfassungsrechtlich geschützter Rechtsgüter. 9. Entgegen weitverbreiteter Ansicht können die Grundsätze der "Wechselwirkungstheorie" auch nicht mit dem Gedanken des nach beiden Seiten hin "schonendsten Ausgleichs" bzw. der Herstellung "praktischer Konkordanz" gleichgesetzt werden. Nach diesen Prinzipien ist eine grundsätzlich gleichgewichtige Berücksichtigung der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter erforderlich: Beiden Rechtsgütern müssen im Kollisionsfall Grenzen gezogen werden, damit beide zu (relativ) optimaler Wirksamkeit gelangen können. Mit der "Wechselwirkungstheorie" soll dagegen (in erster Linie) erreicht werden, daß der besondere Wertgehalt der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG gewahrt bleibt. Wenn aus diesem Grunde die diese Grundrechte begrenzenden "Vorschriften der allgemeinen Gesetze" einer an der besonderen Wertigkeit dieser Freiheiten ausgerichteten Interpretation unterworfen werden, so liegt darin letztlich doch eine Vorab-Höherbewertung der grundrechtlichen Gewährleistung, die sich mit den Direktiven des Konkordanzprinzips nicht verträgt. 10. Verstärkt wird die in der unzutreffenden systematischen Einordnung des "Rechts der persönlichen Ehre" angelegte Verkürzung des Ehrenschutzes aus Art. 5 Abs. 2 GG durch eine allgemeine Tendenz zur Privilegierung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern. Durchgreifenden Bedenken unterliegt namentlich die einseitige Akzentuierung öffentlichkeitsbezogener Meinungsäußerungen. Sie findet in Art. 5 Abs. 1 GG nicht nur keine Begründung, Sondern ist als schlechthin grundrechtsinadäquat anzusehen. 11. Das Gewicht des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes hängt nach alledem maßgeblich davon ab, ob das Recht der persönlichen Ehre im Einzelfall bei der Schrankenbestimmung des Art. 5 Abs. 2 GG angesiedelt oder als Bestandteil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG behandelt wird. Welcher grundgesetzliche Anknüpfungspunkt im Kollisionsfall mit den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG einschlägig ist, bestimmt sich im Verfassungsprozeß aber allein danach, welche der beiden Parteien Verfassungsbeschwerde eingelegt hat.

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Im Meinungskampf ist die Intensität des Ehrenschutzes damit letztlich von der (mehr oder weniger zufälligen) verfassungsprozessualen Konstellation abhängig - ein (Zwischen-)Ergebnis, das die Mängel der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung in aller Deutlichkeit zutage treten läßt. 12. Die in Abhängigkeit vom jeweils einschlägigen grundgesetzlichen Anknüpfungspunkt höchst unterschiedliche Gewichtung des verfassungsrechtlichen Ehrenschutzes führt zudem zu einer unzulässigen Akzentverschiebung innerhalb des grundrechtlichen Wertsystems. Denn während der Ehrenschutz aus Art. 5 Abs. 2 GG gegenüber der Meinungsfreiheit (bei "ungünstiger" verfassungsprozessualer Konstellation) kaum grundrechtsbegrenzende Wirkung entfaltet, kommt dem Recht der persönlichen Ehre als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitschutzes aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG im Kollisionsfall mit anderen Verfassungswerten (stets) erhöhte Bedeutung zu. Im Ergebnis erfahren damit sogar vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte durch den Ehrenschutz eine stärkere Einschränkung als die durch das "Recht der persönlichen Ehre" ausdrücklich begrenzten Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG. 13. Die (systematischen und gradualen) Schwächen (in) der Rechtsprechung zum Schutz der persönlichen Ehre machen es notwendig, den Stellenwert dieses Schutzgutes in der (Verfassungs-)Rechtsordnung neu zu bestimmen. Dabei müssen Inhalt und Wirkkraft des "Rechts der persönlichen Ehre" gemäß Art. 5 Abs. 2 GG in Übereinstimmung mit dem Ehrenschutzauftrag aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG ausgelegt werden. 14. Bei der begrifflichen Erfassung des Ehrphänomens kann auf die Einbeziehung außerjuristischer Erkenntnisquellen nicht verzichtet werden. Ois Recht der persönlichen Ehre "im Sinne des Grundgesetzes" ist zwar ein Begriff der Verfassung, doch entwickelt er sich im Kraftfeld der Kooperation mit anderen Wissenschaften: kulturwissenschaftlich. 15. Vorrangig muß sich die inhaltliche Präzisierung des grundgesetzlichen Ehrenschutzes an der Idee der Menschenwürde und an dem durch sie fundierten Gedanken persönlicher Entfaltungsfreiheit orientieren. Gewährleistet wird danach zum einen der Anspruch der Person auf Achtung als Person - als unabdingbare Voraussetzung personaler Entfaltungsfreiheit, zum anderen die je individuelle Werthaftigkeit, die sich der einzelne durch die konkrete Wahrnehmung seiner Entfaltungsmöglichkeiten in der

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Gesellschaft erworben hat - als immaterieller Freiheitsertrag. Unter "Ehre" (im Sinne des Grundgesetzes) ist daher zunächst der dem einzelnen kraft seines Menschseins und der damit verbundenen Würde a priori zustehende sittlich-personale Geltungswert, sodann aber auch der von ihm nach Maßgabe seines individuellen Verhaltens (wohl)erworbene soziale Geltungswert zu verstehen. 16. Darüber hinaus zählt die Sicherstellung gewisser Mindeststandards gebotener personaler Achtung zu den Existenzgrundlagen des freiheitlichdemokratischen Rechtsstaates. Der Integration ermöglichende Dialog und damit die Bildung der "öffentlichen Meinung" in Freiheit wären in ihrem Kernbereich getroffen, wenn unbequeme, unverstandene oder sonstwie mißliebige Beiträge durch Angriffe auf die persönliche Ehre ihrer Urheber bekämpft oder gar unterdrückt werden könnten. Nicht zuletzt um seiner selbst willen muß ein demokratisch strukturiertes Gemeinwesen daher für die gegenseitige Achtung seiner Mitglieder Sorge tragen. Gegenstand des grundgesetzlichen Ehrenschutzes ist somit auch der spezifisch staatsbürgerliche Geltungswert, dessen der einzelne bedarf, um als gleichberechtigtes Mitglied der (Rechts-)Gesellschaft am politischen Leben der staatlichen Gemeinschaft teilnehmen zu können. 17. Wenn das Recht der persönlichen Ehre im Grundgesetz auch nicht als eigenständiges Grundrecht abgesichert ist, so muß (heute) doch davon ausgegangen werden, daß Ehrenschutz Grundrechtsschutz ist. Danach ist jedermann befugt, sich gegen unberechtigte staatliche Beeinträchtigungen seines Wert- und Achtungsanspruchs zur Wehr zu setzen. 18. Ehrverletzungen erfolgen allerdings nicht zuletzt auch durch private Dritte. Lösungsansätze für die damit aufgeworfene Frage nach einer grundrechtsdogmatischen Bewältigung des Problems nicht-staatlicher Beeinträchtigungen verfassungsmäßiger Fundamentalrechte des einzelnen bieten sowohl die Lehre von der sogenannten (mittelbaren) "Drittwirkung" der Grundrechte als auch die (neuere) Theorie von der staatlichen "Schutzpflicht" für grundrechtlich gewährleistete Rechtsgüter. 19. Eine weitere, mit dem Schutzgedanken unmittelbar zusammenhängende Seite des Grundrechts der persönlichen Ehre ist die prozessuale. Nach der Konzeption des "Grundgesetzes ist ein effektiver, den Bestand des Grundrechts sichernder Rechtsschutz ein wesentliches Element des Grundrechts selbst.

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20. Der gebotene Ausgleich zwischen den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG und dem Recht der persönlichen Ehre kann nicht darin zu suchen sein, daß einem der beiden Verfassungswerte einseitig der Vorrang eingeräumt wird. Im Hinblick auf ihre prinzipielle Gleichrangigkeit müssen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz vielmehr in ihren wechselseitigen Grenzen so bestimmt werden, daß die besondere Wertigkeit beider Grundrechtspositionen im Verfassungsgefüge gewahrt bleibt (Prinzip des "schonendsten Ausgleichs"; Herstellung "praktischer Konkordanz"). 21. Entgegen (wohl) überwiegender Ansicht kann der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinne) dagegen nicht als tauglicher Maßstab für die Zuordnung kollidierender Grundrechtspositionen angesehen werden. Namentlich das Merkmal der Erforderlichkeit erweist sich bei näherer Betrachtung als für die Abgrenzung gleichrangiger (Verfassungs-)Rechtsgüter ungeeignet. Denn die Frage, ob sich ein bestimmter Eingriff in die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG als das geringst einschneidende Mittel zum Schutz der persönlichen Ehre darstellt, ist nicht identisch mit der Frage, ob ein bestimmter Eingriff in das Recht der persönlichen Ehre das mildeste Mittel zur Wahrnehmung des Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG ist;freiheitsschonendster Ehrenschutz (These) und ehrschonendster Freiheitsschutz (Antithese) können vielmehr erst in einem weiteren Schritt zu jener höheren Einheit (Synthese) miteinander verschmolzen werden, in der Widersprüche (im Sinne G. W. F. Hegels) "aufgehoben" sind und Gegensätze (analog Cusanischer "coincidentia oppositorum") "zusammenfallen". 22. Sicher ist zudem, daß sich das Spannungsverhältnis zwischen den Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG und dem Recht der persönlichen Ehre nicht durch eine abstrakte Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen lösen läßt. Die Entscheidung kann nur im jeweiligen Einzelfall getroffen werden. Unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und unter Einbeziehung aller in concreto relevanten Umstände müssen die miteinander konkurrierenden Belange gegeneinander abgewogen werden, um so dem Postulat der (Einzelfall-)Gerechtigkeit so gut wie möglich Rechnung zu tragen. 23. Zentrales Kriterium für die Herbeiführung des nach beiden Seiten hin "schonendsten Ausgleichs" zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz sollte die Intensität der sich im Einzelfall alternativ gegenüberstehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen sein. Maßgeblich ist danach, welcher Ein-

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griff sich als der schwerere darstellen würde: die Beschränkung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG für den Fall des Verbots einer bestimmten Äußerung oder die Verletzung des Rechts der persönlichen Ehre für den Fall, daß man sie zuließe. 24. Welche Gesichtspunkte im einzelnen den Ausschlag geben sollten, muß an der normativen Grundanlage des Grundgesetzes ausgerichtet werden. Herausragende Bedeutung gewinnt hier namentlich die Besinnung auf das den konfligierenden grundrechtlichen Gewährleistungen jeweils zugrunde liegende Rechtsgut. Problemstrukturierend ist sodann die Unterscheidung zwischen herabsetzenden Behauptungen tatsächlicher Art und ehrverletzender wertender Kritik. 25. Im Falle ehrverletzender Werturteile ist maßgeblich darauf abzustellen, ob der sich Äußernde bei der Formulierung seines negativen Werturteils jene Zurückhaltung bewahrt hat, zu der die Rücksichtnahme auf die persönliche Ehre anderer zwingt. Nur wenn zwischen (stets) erlaubtem Äußerungsm/ifl/f und (partiell) verbotener Ausdrucks/omi differenziert wird, läßt sich erreichen, daß weder der von einer ehrenrührigen Kritik Betroffene überflüssige Verunglimpfungen hinnehmen noch dem Kritiker ein Verzicht auf gedankliche Teile seiner Äußerung zugemutet werden muß. 26. Bei herabsetzenden Tatsachenbehauptungen ist dagegen die Wahrheit oder Unwahrheit der jeweiligen Äußerung das entscheidende Kriterium für ihre Zulässigkeit. Besonders schwierig ist die Grenzziehung mithin dann, wenn sich nicht klären läßt, ob eine ehrenrührige Behauptung der Wahrheit entspricht. In diesen Fällen streitet von Verfassungs wegen eine (widerlegbare) Vermutung für die Unversehrtheit des Ehrbestandes der betroffenen Personen. 27. Die Behauptung oder Verbreitung nicht erweislich'wahrer Tatsachen ehrenrührigen Inhalts kann danach nur ausnahmsweise und unter besonderen Voraussetzungen als mit dem Schutzauftrag der Art. 2 Abs. 1 und 5 Abs. 2 GG vereinbar angesehen werden. Zu den besonderen Anforderungen, die von Verfassungs wegen an die Zulässigkeit solcher Äußerungen zu stellen sind, gehören zum einen Erfordernisse, die sich zusammenfassend als "Gebot der Fairneß n bezeichnen lassen; zum anderen unterliegen sie in erhöhtem Maße dem die gesamte (Verfassung-)Rechtsordnung prägenden n Gebot der Rücksichtnahme

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28. Konsequenzen ergeben sich aus der (widerlegbaren) Vermutung für die Unbescholtenheit des einzelnen auch für die verfassungskonforme Verteilung der Beweislast auf einfachgesetzlicher Ebene. In Übereinstimmung mit der über § 823 Abs. 2 BGB in das Zivilrecht transformierten Beweisregel des § 186 StGB muß auch der bürgerlich-rechtliche Ehrenschutz im Grundsatz bereits dann eingreifen, wenn der Beklagte eine Behauptung aufgestellt hat, deren Wahrheit er nicht zu beweisen vermag. 29. Ob ausnahmsweise dann etwas anderes zu gelten hat, wenn eine nicht erweislich wahre Tatsachenbehauptung im Hinblick auf die Meinungs(äußerungs)freiheit des Beklagten als zulässig anzusehen ist, kann nur für jede der in Betracht kommenden Anspruchsarten gesondert bestimmt werden. Denn für das Verhältnis zwischen berechtigter Interessenwahrnehmung und Beweislastverteilung kommt es entscheidend auf das Zusammenspiel zwischen der zeitlichen Ausrichtung des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf der einen und dem für den Ausgleich der rivalisierenden Grundrechtspositionen maßgeblichen Zeitpunkt auf der anderen Seite an. 30. Die in den vergangenen Jahr(zehnt)en zu beobachtende Verlagerung des unterverfassungsrechtlichen Ehrenschutzes vom Strafrecht auf das Zivilrecht vermag nicht zu befriedigen. Bei genauerer Betrachtung erweist sich der zivilrechtliche Persönlichkeitschutz trotz seines Ausbaus durch die Rechtsprechung als unzureichend, um den von Verfassungs wegen gebotenen Schutz des Rechts der persönlichen Ehre sicherzustellen. Um zu gewährleisten, daß die Rechtsordnung den von rechtswidrigen Eingriffen in ihre persönliche Ehre betroffenen Personen den erforderlichen effektiven (Grund-)Rechtsschutz tatsächlich zu bieten vermag, sollte das Beleidigungsstrafrecht daher wenigstens in Teilbereichen (re)aktiviert werden.

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