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German Pages 235 Year 1996
TZUNG-JEN TSAI
Die verfassungsrechtliche Umweltschutzpflicht des Staates
Schriften zum
Umweltrecht
Herausgegeben von Prof. Dr. Michael K l o e p f e r , Berlin
Band 64
Die verfassungsrechtliche Umweltschutzpflicht des Staates Zugleich ein Beitrag zur Umweltschutzklausel des Art. 20 a GG
Von T z u n g - J e n Tsai
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Tsai, Tzung-Jen: Die verfassungsrechtliche Umweltschutzpflicht des Staates : zugleich ein Beitrag zur Umweltschutzklausel des Art. 20 a GG / von Tzung-Jen Tsai. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zum Umweltrecht ; Bd. 64) Zugl.: München, Univ., Diss., 1995 ISBN 3-428-08677-5 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 3-428-08677-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 0
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1995/96 von der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur wurden bis zum Herbst 1995 berücksichtigt. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Peter Badura, gilt mein aufrichtiger Dank für seine stetige Betreuung und Förderung. Seine vielfältigen Hilfestellungen haben auch mein Promotionsstudium in Deutschland entscheidend erleichtert. Dank des weiteren an Herrn Prof. Dr. Rupert Scholz für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Meinen Lehrern in Taiwan, die meinen akademischen Werdegang über Jahre gefördert und geprägt haben, bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet. Es ist nicht möglich, hier alle namentlich aufzufuhren, die mir beim Zustandekommen dieser Arbeit Hilfe geleistet haben. Jedem einzelnen von ihnen möchte ich aber herzlich danken. Insbesondere gilt meinen Freunden, die mich in den letzten Jahren nicht nur im Zusammenhang mit dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben, mein inniger Dank. Gewidmet ist das Buch meinen Eltern.
München, im Dezember 1995
Tzung-Jen Tsai
Inhaltsverzeichnis
Einleitung I.
Umweltschutz als verfassungsrechtliches Problem
15
A. Umweltschutz als Herausforderung der Risikogesellschaft
15
B. Umweltschutz als Staatsaufgabe
16
C. Erwartungen an das Verfassungsrecht
17
Π. Zum Gegenstand der Untersuchung A. Zum gegenständlichen Bereich
ΠΙ.
15
19 19
1. Umwelt
19
2. Umweltschutz
20
B. Die Beschränkung auf die staatliche Schutzverpflichtung
21
Vorgehensweise
22
Erster Teil Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe des Staates in das Grundgesetz
23
Erstes Kapitel Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des Grundgesetzes I.
Formell-prozeduale Bestimmung der Staatsaufgaben
23 25
A. Die verfassungsrechtliche Kompetenzen- und Verfahrensordnung als Maßstab zur Bestimmung der Staatsaufgaben 25 B. Politische Gestaltungsfreiheit für die Bestimmung der Staatsaufgaben Π. Materiale verfassungsrechtliche Bestimmung der Staatsaufgaben A. Materiale Aufgabenzuweisung des Grundgesetzes an den Staat
27 28 28
B. Kategorien der imperative Staatsaufgaben begründenden Verfassungsnormen des Grundgesetzes 33 1. Staatszielbestimmungen
33
2. Gesetzgebungsaufträge
37
8
Inhaltsverzeichnis 3. Bundesstaatliche Kompetenzvorschriften
39
4. Grundrechtliche Schutzpflichten
43
Zweiter Teil Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes im Grundgesetz und staatliche Schutzverpflichtung
48
Zweites Kapitel Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung des Umweltschutzes im Grundgesetz I.
48
Vorbemerkung: Die Forderung nach Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz 48 A. Aufruf zur Aufnahme einer verfassungsrechtlichen Umweltschutzbestimmung ins Grundgesetz
48
B. Denkbare Modelle
53
1. Subjektiv-rechtliches Modell
53
2. Objektiv-rechtliches Modell 55 C. Argumente gegen die verfassungsrechtliche Verankerung einer Umweltschutzklausel 56 1. Argumente gegen das Grundrechts-Modell
56
2. Argumente gegen das Staatszielbestimmungs-Modell
57
Π. Die verfassungspolitische Entwicklungsphase vor der Wiedervereinigung
60
A. „Recht auf eine menschenwürdige Umwelt"
60
B. Abschied vom Umweltgrundrecht
61
C. Der Streit um das „Ob" einer Staatszielbestimmung Umweltschutz in der Zeit der christlich-liberalen Koalition 62 D. Der Streit um das „Wie" einer Staatszielbestimmung Umweltschutz DL Die verfassungspolitische Entwicklungsphase nach der Wiedervereinigung . . . IV.
Art. 20a GG
63 65 68
Drittes Kapitel Verfassungsrechtliche Grundlagen der Umweltschutzklausel in Art 20a GG 69 I.
Rechtscharakter: Zuordnung der Umweltschutzklausel als Staatszielbestimmung und Staatsaufgabennorm 69
Π. Subjektiv-rechtliche Wirkung
71
Inhaltsverzeichnis
9
Α. Unmittelbare Begründung eines subjektiven Schutzanspruchs?
71
B. Versubjektivierungsmöglichkeit
74
ΙΠ. Dogmatische Struktur der Umweltschutzklausel in Art. 20a GG
74
Viertes Kapitel Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung nach Art. 20a GG I. Allgemeines Π.
76
Schutzbereich
77
A. Die sachliche Dimension des Schutzbereichs
77
B. Die zeitliche Dimension des Schutzbereichs
85
C. Die Stellung der natürlichen Lebensgrundlagen als Schutzgut in der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes
88
ΙΠ. Art des Schutzgebots
IV.
76
92
A. Negative Schutzverpflichtung - EingrifFsverbot?
93
B. Positive SchutzVerpflichtung - Handlungspflicht
96
Schutzbedürftigkeit
96
A. Rechtsgütersicherheit als Angelpunkt
97
B. Schutzverpflichtung als Prävention
98
C. Bestimmung der die Schutzverpflichtung aktivierenden Geföhrdungsintensität
99
1. Bedeutung der Bestimmung der Gefährdungsintensität
99
2. Abgrenzungsmaßstäbe: Zum Begriff Gefahr, Risiko und Restrisiko 3. Schutzverpflichtung zur Gefahrenabwehr
101 105
4. Schutzverpflichtung zur Risikovorsorge 106 5. Sozialadäquates Restrisiko als Grenze der staatlichen Schutzverpflichtung 109 D. Zur Bestimmung der Gefahrenquellen
110
Fünftes Kapitel Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung I. Allgemeines
112 112
A. Charakter der Schutzverpflichtung: Konkretisierungsbedürftigkeit und Optimierungsgebot 114
Inhaltsverzeichnis Β. Sachliche Offenheit der Verfassung in der Aufgabenerfüllung
115
C. Das Problem der Gewaltenteilung
117
1. Schutzverpflichtung und Kompetenzverteilung
119
2. Schutzverpflichtung und Befugnis
121
Die legislative Schutzpflicht
122
A. Funktionell-rechtliches Aktivieren der legislativen Schutzpflicht
122
B. Gehalt der legislativen Schutzverpflichtung
125
1. Gesetzgebungspflicht
125
2. Nachbesserungspflicht
128
C. Umfang und Grenze der verpflichtenden Schutzaufgabe der Legislative . . . 131 1. Sachliche Dimension
132
a) Positive Bestimmung
132
aa) Allgemeines
132
bb) Untermaßverbot
132
b) Negative Bestimmung
135
aa) Grundrechte als Schranken der gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht 135 (1) Umweltnutzung als Bestandteil der Freiheitsverbürgung . . . 136 (2) Umweltnutzung als Teilhaberecht?
141
(3) Rechtfertigungszwang des Eingriffs und Verhältnismäßigkeitsprinzip 143 bb) Andere entgegenstehende Interessen und Rechtsgüter
145
cc) Vorbehalt des Möglichen
147
2. Funktionsspezifische Dimension: Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt 148 D. Art und Weise der Erfüllung der legislativen Schutzaufgabe 1. Leitprinzip: Politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers
154 154
a) Allgemeines
154
b) Aspekte der Gestaltungsfreiheit
157
2. Schranken der legislativen Gestaltungsfreiheit
158
a) Allgemeines
158
b) Effektivitätsgebot
158
c) Verhältnismäßigkeitsgebot?
161
d) Bestimmtheitsgebot
163
Inhaltsverzeichnis
11
E. Das Verhältnis von umweltschützendem einfachen Recht und verfassungsrechtlicher Schutzverpflichtung 165 ΙΠ. Die exekutivische Schutzverpflichtung A. Die vollziehende Gewalt als Adressat der Schutzverpflichtung
167
B. Schutzverpflichtung „nach Maßgabe von Gesetz und Recht"
168
1. Parallele Auslegung nach Art. 20 Abs. 3 HS. 2 GG
168
2. Die Bedeutung von Gesetz und Recht
168
3. Vorrang des Gesetzes
170
4. Vorbehalt des Gesetzes
170
C. Zur Erfüllung der exekutivischen Schutzverpflichtung
IV.
167
172
1. Sekundäre Adressatenstellung zur Umweltschutzverpflichtung
172
2. Die Erfüllung der exekutiven Schutzpflicht
173
Die judikative Schutzverpflichtung
174
Dritter Teil Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im Grundgesetz und staatliche Schutzverpflichtung
177
Sechstes Kapitel Das Sozialstaatsprinzip und Umweltschutz I.
Sozialstaatliche Gestaltungspflicht
Π. Der Inhalt des Sozialstaatsprinzips
178 178 179
ΙΠ. Begründbarkeit einer Umweltschutzverpflichtung des Staates aus dem Sozialstaatsprinzip 180
Siebtes Kapitel Die bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften und Umweltschutz
181
Achtes Kapitel Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz I.
182
Standort der natürlichen Umwelt im Rahmen der Grundrechtsbestimmungen . 182 A. Umweltschutz als grundrechtliches Thema: Das Grundrecht auf Umweltschutz? 182
12
Inhaltsverzeichnis Β. Grundrechtliche Schutzgüter als thematische Bezugsgröße
183
1. Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG)
184
2. Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG)
186
a) Das Verhältnis zum Umweltschutz
186
b) Sachlicher Schutzbereich
187
3. Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG)
189
a) Das Verhältnis zum Umweltschutz
189
b) Sachliche Reichweite des Eigentumsschutzes im Umweltbereich .. 190 aa) Allgemeines
190
bb) Insbesondere: Grundeigentumsschutz
192
(1) Das Recht auf Bodennutzung
192
(2) Das Recht auf Gewässernutzung
193
(3) Das Recht auf Luftnutzung
193
4. Allgemeine Handlungsfreiheit und persönliches Entfaltungsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) 194 Π. Zur staatlichen Schutzverpflichtung aus den umweltschutzrelevanten Grundrechtsgewährleistungen 197 A. Auf abwehrrechtliche Funktion bezogene Unterlassungspflicht des Staates . 197 1. Allgemeines
197
2. Zum Eingriffscharakter staatlicher Genehmigungen
199
3. Zurechnung aufgrund der vom Staat auferlegten Duldungspflicht der Bürger 201 B. Grundrechtliche Schutzpflicht
204
ΙΠ. Leistungsfähigkeit und Tragweite der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates für Umweltschutz 206 A. Voraussetzungen der staatlichen Schutzpflicht unter Berücksichtigung der Umweltschutzaufgabe 206 1. Individualgüter als thematischer Bezugspunkt der Schutzpflicht
206
2. Umweltvermittelte Gefahren von nicht-staatlicher Seite
207
3. Kausalitätsfrage
208
B. Umweltschutzaufgabe als Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates 209
Zusammenfassung
211
Literaturverzeichnis
218
Abkürzungsverzeichnis AcP AöR BayVBl BGBl BGHZ BR-Drs. BT-Drs. BVerfGE BVerwGE DÖV DVB1 EuGRZ FG Fn. FS HStR HdbVerR JuS JZ KJ KritV MDR NJ NJW NuR NVwZ NWVB1 OLG OVG Rn. ThürVBl UPR VVDStRL VerwA VGH WiVerw ZfP ZRP
Archiv für die civilistische Praxis Archiv des öffentlichen Rechts Bayerische Verwaltungsblätter Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen Bundesrats-Drucksache Bundestags-Drucksache Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts Die Öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Grundrechte-Zeitschrift Festgabe Fußnote(n) Festschrift Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Monatsschrift für Deutsches Recht Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Natur und Recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Nordrhein-westfälische Verwaltungsblätter Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Randnummer Thüringer Verwaltungsblätter Umwelt- und Planungsrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Verwaltungsarchiv Verwaltungsgerichtshof Wirtschaft und Verwaltung. Vierteljahresbeilage zum Gewerbearchiv Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Rechtspolitik
Im übrigen wird auf Hildebert Kirchner/Fritz Kastner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 3. Aufl. Berlin/New York 1983 verwiesen.
Einleitung I. Umweltschutz als verfassungsrechtliches Problem A. Umweltschutz als Herausforderung
der Risikogesellschaft
Die seit mehr als hundert Jahren fortschreitenden technischen und industriellen Entwicklungen haben zu beträchtlichem Wohlstand geführt. Für diese zivilisatorischen Fortschritte zahlen die Menschen jedoch einen hohen Preis: die Belastung, sogar Zerstörung der Umwelt, die dem Menschen unentbehrliche Existenzgrundlagen liefert! Es dürfte heute wohl unbestritten sein, daß die natürliche Umgebung durch menschliches Verhalten erheblich bedroht ist und daß sich daraus nachhaltige negative Konsequenzen für Menschen und andere Lebewesen ergeben. Die in den letzten Jahren immer wieder gemeldeten Umweltskandale, wie z.B. das Massensterben des deutschen Waldes, die Verunreinigung der landwirtschaftlichen Böden und des Meeres, die immer schwieriger werdende Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung, und nicht zuletzt die hohe Ozonbelastung sowie die sich seit langem ankündigenden globalen Umweltkrisen wie der dramatische Verlust der Artenvielfalt und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen sind nicht übersehbare Anzeichen für eine kommende ökologische Katastrophe für die Erde. Die Industriegesellschaft hat sich inzwischen zur Risikogesellschaft gewandelt1! Eine wirksame Erhaltung und ein effektiver Schutz der Umwelt als der natürlichen Lebensgrundlage gehört daher zweifellos zu einem der wichtigsten Anliegen der Menschheit. Mittlerweile ist es kaum noch abzustreiten, daß das Umweltbewußtsein der Bürger ausgeprägt ist wie nie zuvor, Tendenz steigend. Es zeigt sich, daß heutzutage das Thema Umweltschutz als eine Omnipräsenz für alle gesellschaftlichen Kräfte, einschließlich der politischen Parteien, erheblich an Bedeutung gewonnen hat, auch wenn sich hinter dem Begriff Umweltschutz oft diffuse Vorstellungen verbergen.
1
Dieser von Ulrich Beck geprägte Begriff bezeichnet eine Gesellschaft, deren Institutionen vor der Gefahr einer drohenden Vernichtung von Umwelt bzw. Mitwelt und Menschen durch die schleichende Umweltkatastrophe versagen; Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, S. 43 ff.
16
Einleitung
Β. Umweltschutz als Staatsaufgabe Einhergehend mit diesem gewachsenen Umweltbewußtsein der Gesellschaft steigen Erwartungen an den Staat Es gilt mittlerweile als Selbstverständlichkeit, daß dem Staat bei der Verwirklichung des Umweltschutzes die wesentliche Aufgabe zukommt2. Das gestiegene Umweltbewußtsein der Gesellschaft zielt heute immer mehr darauf ab, staatliches Handeln auf dem Gebiet des Umweltschutzes zu erzwingen oder zu beschleunigen3. Dem Staat wird daher zunehmend eine umfassende Garantenstellung für den existenzsichernden Umweltschutz beigemessen. Eine Vielzahl staatlicher Umweltschutzaktivitäten auf fast allen Gebieten des Umweltschutzes ist dafür ein Beleg. Die wesentlichen Gründe dafür, daß sich der Staat der Umweltschutzaufgabe zuzuwenden hat, lassen sich aus verschiedenen Aspekten betrachten. Vom Sozio-ökonomischen her gesehen spielt „Marktversagen" für Umweltprobleme eine entscheidende Rolle. Umweltprobleme resultieren überwiegend aus der wirtschaftlichen Betätigung des Einzelnen. In einer über das Spiel der relativen Preise gelenkten Marktwirtschaft wie der Bundesrepublik werden Umweltgüter (wie Luft, Wasser und Boden), welche zum großen Teil öffentliche Güter bzw. Kollektivgüter sind, kaum in die Kosten-Erlös-Kalkulation einbezogen. Folglich kann die Erwartung und auch Notwendigkeit, mit der natürlichen Umwelt schonender umzugehen, in einer an Individualinteressen orientierten Marktwirtschaft nicht automatisch umgesetzt werden. Dabei sind staatliche Reglementierungen unumgänglich. Abgesehen davon dient der Umweltschutz offensichtlich dem Allgemeininteresse. Es ist daher nur konsequent, hinsichtlich des Umweltschutzes keine Zurückhaltung, sondern ein Engagement des Staates, der als „Hüter des Gemeinwohls"4 und „geborener Wahrer des Allgemeininteresses"5 berufen ist, zu fordern. Die Rufe nach staatlichen Eingriffen, nach Kontrollen und Reglementierungen, die Umweltschäden verhindern sollen, werden daher immer lauter. Nur der mit dem entsprechenden Macht- und Sanktionspotential ausgestattete Staat ist in der Lage, die verheerenden Folgen wirtschaftlicher Freiheitsbetätigung wirksam zu begrenzen.
2 So Steiger, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, S. 21 ff. (25); Breuer, Der Staat 1981,393 (393); Karpen, in: Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, S. 9 ff. (9); Murswiek, ZRP 1988,14 (17). 3
Vgl. Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Umweltstaat, S. 39 ff. (40). BVerJGE 33,125 (129) - Facharzt-Urteil. 5 Rauschningy WDStRL 38 (1980), 167 (172) unter Hinweise auf Forsthoff, der Industrie-Gesellschaft, München 1971, S. 46,121,168. 4
Der Staat
Einleitung
Ein weiterer Blickpunkt für die Notwendigkeit der staatlichen Umweltschutzaktivitäten liegt in den wachsenden Bedürfnissen der normativen Orientierungen im Umweltbereich. Es ist heute nämlich bekannt, daß eine große innere Spannung in bezug auf den Umweltschutz besteht: Einerseits wird die Natur als Lebensgrundlage immer mehr gefährdet und immer öfter zerstört - was zur Notwendigkeit des Umweltschutzes führt - , während andererseits die Gefahrdung der Umwelt nicht selten die zwangsläufige Folge der Ausübung individueller Freiheiten ist. Diese Herausforderung richtetsich vor allem an den Staat, der allein in der Lage ist, die gegenseitigen Interessen im Umweltbereich durch das Recht auszutarieren. Die zunehmende Inanspruchnahme des Staates für den aktiven Umweltschutz ist nicht zuletzt darin zu sehen, daß jedenfalls bei den häufig vorliegenden summierten Immissionen die einzelnen Verursacher und ihre konkreten Verursacherbeiträge nur schwer zu fassen sind6. Der Staat ist unter solchen Umständen selbstverständlicherweise als „Sündenbock" unter ständigen umweltschützenden Handlungs- und Erfolgsdruck gestellt. In der Bundesrepublik haben sich in den letzten Jahren ja auch umfassend Aktivitäten des Staates in Bund und Länder auf fast allen Gebieten des Umweltschutzes beträchtlich entwickelt. Unumstritten ist, daß der Staat den Umweltschutz zwangsläufig zu einem seiner herausragenden Aufgaben- und Tätigkeitsfelder gemacht hat, auch wenn die Ergebnisse insgesamt nicht schon als befriedigend anzusehen sind. In diesem Maß läßt sich wohl auch zustimmen, daß die Bundesrepublik Deutschland jedenfalls auf dem Weg zu einem „Umweltstaat" ist, d.h. einem sich mit den Zielen des Umweltschutzes identifizierenden, und die Unversehrtheit der Umwelt zu seiner vorrangigen Aufgabe sowie zu seinem Maßstab und zum Verfahrensziel seiner Entscheidungen machenden Staat7.
C. Erwartungen
an das Verfassungsrecht
Mit diesem aus der empirischen Betrachtung gewonnenen Ergebnis soll es nicht sein Bewenden haben. Der allgemeine Konsens über die Notwendigkeit staatlichen Umweltschutzes enthält nicht schon eine übereinstimmende Vorstellung, wie die staatliche Umweltschutzleistung aussehen soll. Was den allgemeinen Umweltschutzkonsens angeht, so bezieht sich dieser höchstens nur auf die Aufgabe als solche; was konkreter zu tun ist und wieweit der Umweltschutz gehen soll, darüber besteht vielmehr vielfaltiger Streit. Es zeigt sich, daß sich in der Öffentlichkeit die Meinungen über die staatlichen Umweltschutzleistungen
6 7
2 Tsai
Kloepfer, DVB1. 1988,305 (306); Murswiek, WiVerw 1986,179 (195 ff.). Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Umweltstaat, S.39ff. (43 f.); ders., DVB1. 1994,12 (12 f.).
18
Einleitung
gespalten haben. Während einerseits beklagt wird, die umweltschützenden Aktivitäten des Staates seien schon viel zu weit gegangen und würden zu einer „Öko-Diktatur" führen8, fehlt es auf der anderer Seite nicht an Stimmen, die dem Staat insgesamt oder auf einzelnen Feldern der Umweltpolitik Untätigkeit oder Versagen vorwerfen und eine stärkere Stellung des Umweltschutzes fordern 9. Um diese Verwirrung juristisch zu klären, ist die Verfassung als Beurteilungs grundlage fur staatliche Tätigkeiten heranzuziehen. Einerseits bestimmt die Verfassung als höchste Norm in der Rechtsordnung des Verfassungsstaates den Umfang und die Reichweite der Umweltschutzaufgabe des Staates, andererseits kann auch damit gleichzeitig die Grenze der staatlichen Umweltschutzpflicht gesetzt werden. Um herauszufinden, inwieweit der Staat für Umweltschutz zuständig und zu ihm verpflichtet ist, wird sich das Augenmerk des Juristen daher zunächst und vor allem auf die verfassungsrechtliche Grundordnung, das Grundgesetz, richten. Mit der Aufnahme einer Umweltschutzklausel ins Grundgesetz, die dem Staat die Umweltschutzaufgabe ausdrücklich abverlangt (Art. 20a GG), ergreift das Grundgesetz nun ausdrücklich das Thema Umweltschutz. Abgesehen von allen juristischen Auseinandersetzungen über die Auswirkung einer derartigen Verfassungsänderung, ist zumindest ernes klar: Mit diesem Verfassungsbekenntnis zum Umweltschutz spiegelt sich die Verfassungsreflexion für die ökologische Herausforderung unserer Epoche wider. Auf die staatliche Umweltschutzleistung wird eine derartige verfassungsrechtliche Umweltschutzbestimmung keineswegs ohne Einfluß bleiben. Wie diese neue Umweltschutzklausel im Verfassungsgefuge des Grundgesetzes aussieht, und vor allem wie sie die staatliche Umweltschutzaufgabe bewirkt und einleitet, bleibt aber noch im dunkeln. Nach verfassungspolitischen Bedenken rückt nunmehr die Aufgabe der verfassungsrechtlichen Dogmatik in den Vordergrund.
8
Vgl. etwa Eilingsfeld, Der sanfte Wahn - Ökologismus total, 1989. Vgl. etwa H. Stern, Baum oder Zahl, Die Zeit, Nr. 26 v. 21.6.1991, S. 52; Vorholz, Opfer des blinden Fortschritts, Die Zeit Nr. 31 v. 26.7.1991, S. 58, sowie die Mehrzahl der Leserbriefautoren, Die Zeit Nr. 29 v. 12.7.1991, S. 41. Die Statistiken weisen spätestens seit 1978 eine extrem hohe Unzufriedenheit der Bundesbürger mit dem staatlichen Umweltschutz aus. Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1989, S. 496; näher zum Ganzen SRU, Umweltgutachten 1978, Tz. 1426 ff. Die Gruppe der im Umweltschutz engagierten Bürger war bereits 1972 zu 95% dieser Ansicht, vgl. Infas (Hrsg.), Beiträge zur Umweltgestaltung, Heft A 20, Übersicht 3, S. 16. 9
Einleitung
19
II. Zum Gegenstand der Untersuchung A. Zum gegenständlichen Bereich Der von der Verfassung zu gewährleistende und zu schützende Bereich, um den es sich bei der vorliegenden Untersuchimg handelt, wird, geläufigem Ausdruck zufolge, stichwortartig als „Umwelt" bezeichnet. Der Umweltbegriff und der ihm zugrundegelegte Begriff „Umweltschutz" werden aber weder terminologisch noch inhaltlich eindeutig und übereinstimmend verstanden und verwendet. Um den gegenständlichen Untersuchungsbereich zu umzäunen, bedarf es daher einer näheren Beschreibung und Begrenzung des gebrauchten Begriffs, wenngleich dies auch keine präzise Definition darstellen soll.
1. Umwelt Wörtlich verstanden kann der Begriff „Umwelt" im weitesten Sinne die natürliche, soziale und geistige Umgebung eines Lebewesens, die auf es einwirkt und seine Lebensbedingungen beeinflußt, bezeichnen10. Mit diesem Bedeutungsinhalt ist der Begriff „Umwelt" nichts anderes als ein „Beziehungsbegriff 411 und läßt sich in beliebigen Zusammenhängen verwenden. Die rechtliche Bewältigung der Umweltprobleme mit einem derartigen globalen Verständnis der Umwelt an dem nämlich der Verfassungsgewährleistung und -schütz ansetzen sollten scheint jedoch juristisch kaum begonnen, denn das schlösse fast sämtliche Problembereiche einer Rechtsordnung ein12, es könnte außerdem zu einem allzu umfassenden, zu Ausuferung tendierenden, und schließlich leerlaufenden Schutzbereich führen13. Infolgedessen spricht Überwiegendes im juristischen Schrifttum dafür, den rechtswissenschaftlichen Überlegungen über Umweltfragen und Umweltschutz einen engeren Umweltbegriff zugrunde zu legen. Vor diesem Hintergrund ist deshalb der Untersuchungsbereich der vorliegenden Arbeit ausschließlich auf die „natürliche Umwelt" beschränkt; insoweit ist
10
Vgl. das Wort „Umwelt" in Duden Deutsches Universalwörterbuch, 1989; Hoppe/ Beckmann, Umweltrecht, S. 3. 11 Dazu Küppers/Lundgreen/Weingart, Umweltforschung - die gesteuerte Wissenschaft? S. 70 f. m. w. N. 12
Umweltrecht wäre, so Steiger, würde man einen derart umfassenden Terminus zugrundelegen, die gesamte Rechtsordnung. Steiger, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, S. 1ff. (4). Nach H Huber ist Umwelt sogar „ein Sammelname filr eine schier unerschöpfliche Vielheit innerhalb der gegenwärtigen Gefahrensituation der Welt"; H. Huber, in: FS H. Klecatsky, S. 353 ff 13 Vgl. Erbguth, Rechtssystematische Grundfragen des Umweltrechts, S. 46 ff. 2*
20
Einleitung
diese schlichte Wendung inhaltlich mit dem Terminus „der natürlichen Lebensgrundlagen", der in zahlreichen (verfassungs-)gesetzlichen Bestimmungen verwendet wird, fast identisch. Gedacht ist nur an sämtliche natürlichen Elemente unserer Lebenswelt, die als biologisch-physische Voraussetzungen das Leben ermöglichen. Dazu können nach allgemeinem Verständnis vor allem Umweltmedien (Wasser, Luft und Boden), Tiere- und Pflanzenwelt, Ruhe, Klima sowie das übrige Ökosystem in seiner Gesamtheit mit den verschiedenen Stoffkreisläufen und dem Energiehaushalt zählen14. Sie steht einerseits der „sozialen Umwelt", worunter die psychischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen und Beziehungen der Menschen zu verstehen sind, gegenüber. Andererseits schließt der Begriff der natürlichen Umwelt auch die gegenständliche, menschengemachte Umwelt, wie Straßen, Gebäude und Brücken, vorerst aus15. Gewiß ist, daß „t/m weit" - wörtlich verstanden - schon einen subjektiven Bezug impliziert. Im heutigen Sprachgebrauch wird beim Benützen des Wortes Umwelt jedoch nicht unbedingt die Subjektivbezogenheit intendiert. In unserem Zusammenhang wird unter dem Begriff Umwelt auch die sog. „Mitwelt" und „Nachwelt" Inbegriffen 16. Als Bezugsrahmen da Erörterung genügt es, festzuhalten, daß an dieser Stelle nur die natürliche Umwelt, verstanden als Aggregatzustand aller Umweltgüter, einschließlich der Mit- und Nachwelt, nicht jedoch die soziale und menschlich erzeugte und gestaltete Umwelt, ins Blickfeld zu ziehen ist. Was konkret unter diesem eher weit gefaßten Begriff verfassungsrechtliche Relevanz beweist und verfassungsrechtliche Gewährleistung genießt, ist gerade die Aufgabe der nachstehenden Untersuchung, und braucht hier bei der Begriffsbildung nicht vertieft zu werden. 2. Umweltschutz Nicht weniger problematisch ist auch der Begriff Umweltschutz. Der an die oben genannte natürliche Umwelt anknüpfende Begriff Umweltschutz erlaubt schon wegen dem weitreichenden Einwirkungsbereich der natürlichen Umwelt 14
Vgl. Kloepfer, Uniweltrecht, S. 11 ff. Kloepfer hat außerdem ftlr ein allgemeines Umweltgesetzbuch, das die Bundesregierung angekündigt hat, eine zweistufige Definition vorgeschlagen: Umwelt sind danach der Naturhaushalt, das Klima, die Landschaft und schutzwürdige Sachgüter. Der Naturhaushalt wird definiert als Boden, Wasser, Luft und lebende Organismen (Naturgüter) sowie das Wirkungsgefìige zwischen ihnen; siehe Kloepfer/Rehbinder/Schmidt'Aßmann/Kunig y Umweltgesetzbuch, AT, 1991. 15
Dagegen Steiger, Mensch und Umwelt, S. 21 ff.; ders., in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, S. 1 ff. (6 f.). 16 Vgl. auch Freiherr v. Lersner, in: FS Sendler, S. 259 ff. (260).
Einleitung
kaum eine positive Inhaltsbestimmung. Die Vorstellung über den Umweltschutz kann deshalb nicht bloß von einem abgegrenzten Umweltbegriff ausgehen, sondern es kommt vielmehr auf die unterschiedlichen Gefahrdungsmöglichkeiten und -lagen im Umweltbereich an, die zu „schützen" sind17. „Der Umweltbegriff zerfallt in einzelne Gefährdungsrelationen und deshalb wird Umweltschutz auch nur in solchen Gefahrdungsrelationen faßbar und konkret"18. Da die Umwelt in unterschiedlicher Intensität und auf mannigfache Weise bedroht und beeinträchtigt ist und werden kann, muß der jeweils benötigte Umweltschutz zwangsläufig entsprechend auch differenziert und vielfältig sein. Eine positive, substantielle Erfassung und Begrenzung des Begriffs Umweltschutz ist insofern unmöglich. Umweltschutz ist danach nur ein „Bündelungsbegriff' 19 zur Bezeichnung des gemeinsamen - wie abstrakt auch immer zu verstehenden - Ziels, unter dem die Gesamtheit der Bestrebungen und Maßnahmen für Naturerhaltung und Schädenbeseitigung im Umweltbereich sich zusammenfassen lassen20. Unter diesem Umstand wird der Begriff „Schutz" in der vorliegenden Untersuchung weitgefaßt verwendet: Ohne nähere Abgrenzung reichen die hier als Untersuchungsgegenstand gedachten Bedeutungsgehalte des Umweltschutzes von der Beseitigung bereits eingetretener Umweltschäden über Minderung aktueller Umweltgefahrdungen bis hin zur Vermeidung künftiger Umweltgefährdungen durch Vorsorgemaßnahmen. Dabei wird auch nicht vorab bestimmt, zu welchem Schutzzweck - ökozentrischer oder anthropozentrischer Umweltschutz - der Umweltschutz dient. Als Untersuchungsbereich werden also sowohl ressourcenökonomischer als auch ökologischer Interessenschutz eingeschlossen. Bei der Frage, inwieweit und für wen der Staat die Umwelt schützen soll, kommt es daher ausschließlich auf die konkreten Verfassungsbestimmungen an.
B. Die Beschränkung auf die staatliche Schutzverpflichtung Obwohl Umweltschutz nicht nur Sache des Staates, sondern eher eine allgemeine Aufgabe der Gesellschaft, ja der Menschheit schlechthin ist, richtet sich das Augenmerk aus verfassungsrechtlicher Sicht primär auf staatliche Gewalten, sei es in einer die Staatsgewalt einschränkenden, begrenzenden Dimension oder in einer die Staatsgewalt positiv fordernden Dimension. Zu erörtern ist daher, inwieweit und unter welchen Kautelen der Staat von Verfassungs wegen gehalten ist, die Umwelt zu schützen. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es, die
17
Vgl. auch Ossenbühl, in: Bitburger Gespräche, 1983,5 (9).
18
Ossenbühl, in: Bitburger Gespräche, 1983,5 (9).
19
Ossenbühl in: Bitburger Gespräche, 1983,5 (9).
20
Vgl. Stern, Staatsrecht I 2 , S. 908 f.; Bull, Staatsaufgaben, S. 219; Hoppe, WDStRL 38 (1980), 211 (215).
22
Einleitung
Reichweite auf der einen Seite und die Grenze dieser durch die Verfassung den Staat verpflichtenden Umweltschutzaufgabe auf der anderen Seite zu beleuchten. Sie macht daher die verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung des Staates für die Umwelt zum Gegenstand. Gefragt ist also das „Müssen", nicht aber nur „Dürfen" der staatlichen Umweltschutzleistung. III. Vorgehensweise Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in drei Teile. In dem ersten Teil wird dargestellt, wie der Umweltschutz als eine sachliche Staatsaufgabe ins Grundgesetz inkorporiert werden kann. Es geht darum, wie der Staat unter der Geltung des Grundgesetzes die Themen und die Ziele seiner Tätigkeiten - unter Berücksichtigung des Umweltschutzes - bestimmt. Dabei sind sowohl die formell-prozedualen als auch die materiellen Anweisungen der Verfassung für die staatlichen Tätigkeiten herangezogen. Dies war nicht nur in der vergangenen verfassungspolitischen Diskussion über die Aufnahme einer Umweltschutzklausel ins Grundgesetz als rechtstechnische Orientierung von Bedeutung, sondern kann auch einen Überblick darüber schaffen, wo und wie sich die Staatsaufgaben, insbesondere die verfassungsrechtlich verpflichtenden Staatsaufgaben, in der Verfassimg des Grundgesetzes befinden. Danach soll im zweiten Teil der Arbeit auf die unmittelbare Gewährleistung des Grundgesetzes für den Umweltschutz - also den neu aufgenommenen Art. 20a GG - und die darauf begründete staatliche Schutzverpflichtung eingegangen werden. Nach einem Rückblick auf die Entstehung und Entwicklung der Umweltschutzklausel im Grundgesetz folgt die Erörterung des Rechtscharakters und der dogmatischen Struktur dieser neuen Umweltschutzklausel. Die Struktur der Umweltschutzklausel wird jeweils mit den tatbestandlichen Voraussetzungen der staatlichen Umweltschutzverpflichtung sowie mit der erforderlichen Erfüllung der Umweltschutzaufgabe aufgebaut. Hierbei wird insbesondere versucht, die neue Umweltschutzklausel und die aus ihr abgeleitete Staatsaufgabe zum Umweltschutz im Rahmen des grundgesetzlichen Gewährleistungssystems reibungslos einzuordnen. Im letzten Teil wird dann untersucht, aus welchen Verfassungsbestimmungen auch mittelbare Gewährleistungen für den Umweltschutz entnommen werden können, und weiterhin unter welchen Voraussetzungen aus solchen Gewährleistungen staatliche Verpflichtungen zum Umweltschutz begründet werden können. Daraufhin soll noch die Tragfähigkeit derartiger mittelbarer Gewährleistungen des Grundgesetzes zur Erfüllung der Umweltschutzbedürfhisse durch nähere Erörterung der Reichweite dieser zu erwartenden Umweltschutzleistungen des Staates beleuchtet werden.
Erster T e i l
Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe des Staates in das Grundgesetz Erstes Kapitel
Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des Grundgesetzes Mit der allgemein anerkannten Feststellung, daß der Umweltschutz eine dem Staat anvertraute Gemeinwohlaufgabe ist1, bleibt vom Verfassungsrechtlichen her zunächst zufragen, wie der Umweltschutz als Thema der Staatsaufgabe ins verfassungsrechtliche System des Grundgesetzes einzuordnen ist. Dabei handelt es sich darum, wie sich eigentlich die Staatsaufgaben unter der Geltung des Grundgesetzes darstellen. Um einen Untersuchungshorizont für die Beantwortung der Frage nach der verfassungsrechtlich geforderten Verantwortung des Staates für den Umweltschutz, also die Einflußnahme der Verfassung auf die Politik, zu gewinnen, soll zuerst ein Überblick über das Verhältnis zwischen der Verfassung und der staatlichen Aufgabenbestimmung geschaffen werden. In dem seit dem 19. Jahrhundert entwickelten „bürgerlich-liberalen" Rechtsstaatsmodell geht die Verfassungsvorstellung davon aus, daß die Verfassung die öffentliche Gewalt bändigen und begrenzen will, um die gesellschaftliche Autonomie und individuellen Freiheiten zu gewährleisten. Die Ausübung aller Staatsgewalt untersteht also seither der Verfassungsordnung; die staatlichen Tätigkeiten wurden zugunsten von Freiheit und Eigentum des einzelnen von außen her einzuschränken versucht. Dabei wurde nicht primär die Forderung nach staatlichen Tätigkeiten, sondern die Begrenzung der Wahrnehmung der Staatsaufgaben, als Ausgangspunkt der Verfassungsvorstellung2 angesehen. Anders als in der konstitutionellen Monarchie ist die Staatsgewalt im modernen demokratischen Verfassungsstaat aber von vornherein begrenzt. Bei der Verfassung handelt es sich also nicht mehr um Beschränkungen einer vorgefundenen unumschränkten staatlichen Gewalt wie die monarchische Staatsgewalt. Die Auf-
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Siehe oben in Einleitung B. Vgl. nur Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1792. 2
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
gäbe der Verfassung besteht nun vielmehr darin, demokratisch legitimierte, von vornherein begrenzte staatliche Gewalt zu konstituieren und sie in der Ordnung des politischen Prozesses fìinktìons- und leistungsfähig zu erhalten3. Der von der Verfassung verfaßte demokratische Staat ist nicht Selbstzweck, sondern steht im Dienste seiner Bürger für ihr Zusammenleben in der Gesellschaft4. In diesem Zusammenhang läßt sich auch verdeutlichen, daß eine innere Grenze der Staatstätigkeiten im modernen Verfassungsstaat nicht mehr vorhanden ist5. Im demokratischen Lenkungs-, Leistungs- und Vorsorgestaat der Gegenwart stellen sich vielmehr vielfaltige Aufgabenerwartungen an den Staat dar. Gefordert ist in einer zunehmend komplexer werdenden Welt nicht mehr (nur) das Unterlassen der staatlichen Tätigkeiten, sondern eher das gestaltende Tätigwerden des Staates, um etwa die realen Voraussetzungen der Grundrechtsausübung zu schaffen 6. Die Verfassung bietet hierbei das Instrument und die Bezugsebene für die Gestaltung und Kontrolle derartiger Erwartungen an den Verfassungsstaat. Ausschlaggebend ist ausschließlich, daß die normativen Bezugspunkte aller staatlichen Tätigkeiten und deren Zwecke in einem Verfassungsstaat auf die Verfassung zurückzuführen sein müssen, d. h., die verfassungsstaatlichen Aufgaben müssen sich in der Verfassung legitimieren7. Mit Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG schafft das Grundgesetz die unmittelbare Verfassungsbindung der Staatsgewalt. Darüber hinaus erlangt das Grundgesetz anhand der Justiziabilität durch Herstellung der Verfassungsgerichtsbarkeit die stärkste Normativität und gewährleistet dabei auch die Vorrangigkeit der Verfassung in der gesamten Rechtsordnung. Es versteht sich zunächst nicht als Entwurf der zu gestaltenden Zukunft, sondern in erster Linie als eme Rahmenordnung, die es grundsätzlich den staatlichen Organen, vornehmlich dem Gesetzgeber, überläßt, die Staatsziele und -aufgaben frei zu bestimmen. Nur ausnahmsweise sieht das Grundgesetz selbst verbindliche materielle Ziel- und Aufgabenbestimmungen vor, die auf die Richtung und den Inhalt der staatlichen Tätigkeiten hinweisen können. Die Staatsaufgaben sind demnach verfassungsrechtlich entweder formell-prozedual oder inhaltlich-material zu bestimmen.
3
Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 29 ff. (43 f.); Hesse, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 1, Rn. 27. 4
Vgl. Badura, Staatsrecht, D 31. Vgl. Badura, Staatsrecht, D 32. 6 Vgl. Hesse, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 1, Rn. 27 ff. 7 In diesem Sinne sieh Häberle, AÖR 111 (1986), 595 (601), und Stern, in: Bitburger Gespräche, 1984,12 ff; ders, Staatsrecht P, S. 82. 5
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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I. Formell-prozeduale Bestimmung der Staatsaufgaben A. Die verfassungsrechtliche Kompetenzen- und Verfahrensordnung als Maßstab zur Bestimmung der Staatsaufgaben Das Grundgesetz dient in erster Linie als Rahmenbedingung der Machtausübung des Staates; es ist grundsätzlich instrumental, nicht aberfinal konzipiert, und regelt mehr die Mittel staatlichen Handelns als seme Ziele, mehr die Funktionen als die Direktiven des staatlichen Handelns, mehr Form und Verfahren als den Inhalt8. Die Staatstätigkeit geht also nicht im Vollzug der Verfassung auf. Das Grundgesetz gibt ohnehin auch kein umfassendes Programm der Staatsaufgaben wieder. Die Gemeinwohlfrage, die die Staatsaufgaben anstreben sollen, ist in diesem vom Grundgesetz verfaßten Staat und Gemeinwesen vielmehr inhaltlich offen 9. Wesentlich ist, wer legitimerweise zur Konkretisierung und Realisierung des „Gemeinwohls" berufen ist und wie es zur Auffüllung gebracht wird10. „,Gemeinwohl' ist das, was die hierfür zuständige Instanz in einem allgemein anerkannten Verfahren und unter Beachtung verfassungsrechtlich vorgegebener Grenzen als ,Gemeinwohl' erklärt."11 Es stellt sich also in erster Linie als Kompetenz- und Verfahrensproblem dar12. Zur Bestimmung der Staatsaufgaben, die bestimmte Themen des Gemeinwohls - wie etwa die hier interessierenden Umweltschutzbelange - konkretisieren, sind daher vornehmlich die verfassungsrechtlichen Grundregelungen über die staatlichen Kompetenzen und Verfahren zur politischen Entscheidung anzuwenden13. Dadurch, daß die Art und Weise der Erfüllung der Staatsaufgaben und damit die Befugnisse und Mittel, derer sich die staatlichen Organe bedienen, verfassungsrechtlich geordnet und begrenzt sind14, sind das Gemeinwohl sowie die konkreten Staatsaufgaben nur mittelbar verfassungsrechtlich bestimmt. Die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, durch die den von der Verfassung konstituierten Organen die Kompetenz zur Erfüllung der staatlichen Auf8 Kirchhof in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, §59, Rn. 1; ders., Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz? S. 27. 9 In der pluralistischen Demokratie ist das Gemeinwohl, abgesehen von den allgemein zu haltenden Direktiven der Verfassung, weniger vorgegeben als aufgegeben. Es ist in offenen Verfahren zu erarbeiten: salus publica e processu. Dazu Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, S. 87 ff, 89 ff. Vgl. auch Link, WDStRL 48 (1990), 7 (25f.). 10 Ossenbühl, in: Bitburger Gespräche, 1983, 5 (8), unter Hinweise auf u.a. Stolleis, „Gemeinwohl", in: Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 803. 11 Ossenbühl, in: Bitburger Gespräche, 1983,5 (8). 12 13 14
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR DI, § 57, Rn. 88. Vgl. auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, § 57, Rn. 53 ff. Badura, Staatsrecht, D 31.
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
gaben zugewiesen werden, entfaltet sich zuerst in der Unterscheidung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Bereichen, wie fließend die Grenze auch immer sein mag15. Dabei wirken die Grundrechte als Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat gerade als „negative Kompetenzbestimmungen" für die staatlichen Gewalten16. Des weiteren verkörpert die Kompetenzordnung sich wesentlich in der Funktionsaufteilung der Staatsgewalten zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Das in Art. 20 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 1 GG festgestellte Rechtsstaatsprinzip fordert nämlich, die öffentliche Gewalt in allen ihren Äußerungen auch durch klare Kompetenzordnung und Funktionstrennung rechtlich zu binden, so daß Machtmißbrauch verhütet und die Freiheit des Einzelnen gewahrt bleibt oder wird. Sodann wird weiterhin die in drei Staatsfunktionen aufgeteilte Staatsgewalt zwischen Bund und Länder untergliedert (Art. 70 ff. GG). Auf diese Weise schafft das Grundgesetz für konkret gedachte Sachbereiche des Gemeinwohls, die vom Staat zu bestimmen und vorzunehmen sind, rechtmäßige staatliche Gewalt. In diesem Verständnis ist Kompetenzordnung als Legitimation zu Gemeinwohlkonkretisierung der zuständigen Staatsorgane anzusehen17. Im Rahmen der ihm zugeschriebenen Kompetenz und Befugnis dürfen die zuständigen Staatsorgane schließlich unterschiedliche Ziele verfolgen und nahezu auf alle Lebensbereiche einwirken. Darüber hinausgehende Ermächtigungen oder ausdrückliche materielle Festlegungen in der Verfassung sind insoweit nicht erforderlich. Unter der „Verfahrensordnung" sind sämtliche Festlegungen von Entscheidungsabläufen in der Verfassung zu verstehen. Sie regelt die politische Willensbildung, ermöglicht sachgerechte Konfliktbewältigung und soll auch die Entscheidung offener Fragen durch die staatlichen Organe an klare, einsehbare, nach Möglichkeit ein sachgemäßes Ergebnis gewährleistende Regeln binden18. Die sachliche Offenheit der Verfassung in bezug auf verschiedene Zielsetzungen vorausgesetzt, gibt die Verfahrensordnung eine feste Form für die konkrete Aufgabenbestimmung und -Verwirklichung vor19.
15 Zur Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft vgl. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, S. 209 ff. 16 Hesse, Grundzüge, Rn. 291; Stern, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 109, Rn. 41, 66; Hofmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 114, Rn. 49. 17 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 72. 18 Hesse, Grundzüge, Rn. 28. 19 Hesse, Grundzüge, Rn. 28.
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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B. Politische Gestaltungsfreiheit jur die Bestimmung der Staatsaufgaben Aus der Kompetenz- und Verfahrensordnung des Grundgesetzes ergibt sich folgerichtig, daß die Staatsaufgaben in erster Linie im offenen politischen Prozeß der Auseinandersetzung und in den formlichen Entscheidungsverfahren der repräsentativ-demokratischen, gewaltenteiligen Staatsorgane ausgewählt und erledigt werden20. Kurzum: Sie ergeben sich aus der Politik. In einer repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG) ist vornehmlich die parlamentarische Volksvertretung und - eingeschränkt - die Regierung für die Zielbestimmung staatlichen Handelns, also die Politik, zuständig. Sie haben nämlich im Rahmen ihrer politischen Gestaltungsfreiheit über die Art und Weise der Staatsaufgaben zu entscheiden, vor allem auch über das Zeitmaß und die Verwendung der Haushaltsmittel21. Demzufolge ist anzunehmen, daß die Verfassungsordnung des Grundgesetzes von einer stillschweigend anerkannten Allzuständigkeit des Gesetzgebers ausgeht22. Das Parlament als Volksvertretung ist zweifellos imstande, durch Gesetz über die Auswahl und die Erledigung der Staatsaufgaben zu bestimmen23. Insoweit ist auch der Zuerkennung einer „General- und Blankovollmacht"24 des Staates zu zustimmen, „sich in freier Entschließung und in eigener Verantwortung diejenigen Aufgaben stellen zu dürfen, die er wegen der zu bewältigenden Lagen für erforderlich hält"25, auch von verfassungsrechtlicher Seite her zuzustimmen sein. Dabei trifft der Gesetzgeber seine Entscheidungen eigenverantwortlich im Rahmen und nicht in Ausführung der Verfassung. Nur das, was von der Verfassung noch nicht vorentschieden ist, braucht neu entschieden zu werden, und die Entscheidung wird möglich, weil sie um das bereits Vorentschiedene entlastet ist. Nur auf diese Weise läßt sich der Komplexität heutiger und künftiger Problemstellungen gerecht werden26.
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Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 57, Rn. 88. Badura, Staatsrecht, D 40; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 163, Rn. 7, 8. Vgl. auch Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 25,26. 22 Herzog sieht die Allzustädigkeit des Gesetzgebers als ungesprochene Voraussetzung des Art. 20 Abs. 3 GG, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Π, Rn. 84; V, Rn. 79. 21
23
Badura, Staatsrecht, Gl; ders., in: FS Redeker, S. 111 ff. (117).
24
Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 760.
25
Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 760 f. Grimm y Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders. Die Zukunft der Verfassung, S. 313 ff. (323); Hesse, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § l,Rn. 18. 26
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
In bezug auf die Umweltschutzbedürfhisse läßt sich daher feststellen, daß Parlament und Regierung über ausreichende Mittel verfugen, um den Umweltschutz zu realisieren. Eine ausdrückliche Ernennung des Umweltschutzes als Staatsaufgabe ist nicht nötig.
II. Materiale verfassungsrechtliche Bestimmung der Staatsaufgaben A. Materiale Aufgabenzuweisung des Grundgesetzes an den Staat In der Entwicklung der Verfassungsidee und des Verfassungsstaates läßt sich deutlich erkennen, daß sich die Funktion der Verfassung nicht nur in rein formalen Rahmenbedingungen fur die Organisation und Machtausübung des Staates erschöpft. Vielmehr kann sich in der Gegenwart keine rechtsstaatliche Verfassung mehr auf eine bloß formale Legalität zurückziehen; sie muß auch eine materiale Grundordnung verbürgen27. Will die Verfassung auch als eine materiale Grundordnung wirken, muß sie dann auch die material-inhaltliche Zuweisungsmöglichkeit und Kontrollfahigkeit über staatliche - verfahrenmäßige und befugte - Tätigkeiten, vornehmlich die politischen und administrativen Entscheidungen einschließen. Es liegt somit nahe, die Verfassung durch Aufnahme bestimmter „Werte" auch im sachlichen Bereich einzusetzen, um Anweisungen und Richtlinien für die Staatsorgane zur Gestaltung der Rechtsordnung vorzugeben. Nach Stern könne sogar eine moderne Verfassung auf die Festlegung grundlegender Ordnungsprinzipien für das Gemeinschaftsleben nicht mehr verzichten, ohne Gefahr zu laufen, ihre Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion zu verfehlen 28. In dieser Dimension läßt sich verdeutlichen, daß der Verfassung die Funktion zur „Festlegung einer Wertordnung, eines Planes, des Entwurfs der Gesellschaft"29 zukommt, indem gewisse sachlich-inhaltliche Weisungen und Richtlinien für den politischen Prozeß und die Wirksamkeit des Staates in der Verfassung festgelegt werden30, deren fortdauernde Beachtung und Ausfüllung von Verfassungs wegen geboten sind. Derartige Bestimmungen sind bedeutsame Elemente der rechtlichen Grundordnimg eines Gemeinwesens; die Grundentscheidungen über die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Ordnung
27 Stern, Staatsrecht ΙΠ/1, S. 915; in dieser Richtung auch Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Vn, § 163, Rn. 20. 28 Stern, Staatsrecht I 2 , S. 96,97. 29 Badura, Die Verfassungsidee in Deutschland, in: ders., Die Verfassung des Bundesstaates Deutschland in Europa, S. 11ff. (19). 30 Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 163, Rn. 21 f.
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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eines Volkesfinden in ihr ihren Niederschlag31. Die wesentliche Bedeutung für diese direktive Funktion der Verfassung, die programmatisch die Ziele und Strukturen einer künftigen Ordnung vorzeichnet, liegt darin, daß solche programmatischen Sätze auf Zukunftsaufgaben hinweisen, insofern legitimierend wirken und der Politik Richtung und Orientierung geben. Je nach der Bindungsintensität der jeweiligen Verfassungsnorm wird dadurch die politische Auseinandersetzung bis zu einem bestimmten Grad abgeschnitten. Schließlich gibt es im Pluralismus kaum Übereinstimmung mehr über hergebrachte Wertvorstellungen und Selbstverständlichkeiten, was dazu führt, daß heutzutage mehr denn je das Bedürfnis besteht, wenigstens in der Verfassung einen minimalen Konsens für die Zukunftsgestaltung des Gemeinwesens zu finden32. Das Grundgesetz besitzt zweifellos auch diese dirigierende Funktion. Mit der Anerkennung der Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 1 GG) sowie der verfassungsunmittelbaren Bindungskraft der Grundrechte auch für den Gesetzgeber, vor allem mit der Einrichtung des Bundesverfassungsgerichts und dessen zentraler Normenkontrollbefugnis (Art. 100 Abs. 1 GG) bindet das Grundgesetz kräftig den Gesetzgeber. Diese verfassungsrechtliche Gebundenheit des Gesetzgebers vollzieht sich nicht nur in formeller, verfahrenmäßiger Hinsicht, sondern vielmehr auch in materieller Dimension. „Es [seil: das Grundgesetz] ist als Verfassung eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates nach Inhalt und normativer Bedeutung die rechtliche Grundordnimg des Staates."33 Es enthält dabei die sachlich-inhaltlichen direktiven Eigenschaften und Kräfte für die staatlichen Tätigkeiten. Der einmal geführte Streit, ob das Grundgesetz mit seinem Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip überhaupt imstande ist, Aufgaben mit verbindlicher Kraft zu normieren, ist längst überwunden34. Die im Grundgesetz festgestellten oder aus ihm entnommenen materiellen Richtungsweisungen oder Zielvorgaben für das staatliche Handeln sind zweifellos für alle Staatsorgane verbindlich und bilden zu deren Erfüllung oder Verwirklichung schließlich auch die Staatsaufgaben. In dem Maß, in dem die Verfassung der Staatsgewalt, insbesondere dem Gesetzgeber, materielle Direktiven erteilt, erfahrt das Thema von Gemeinwohl dadurch auch - aus-
31
Bull, Staatsaufgaben, S. 114.
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Vgl. Brohrn, JZ1994,213 (217); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 31. 33
Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §159, Rn. 5. Forsthoff nämlich verneinte es mit dem Argument, daß der Sozialstaat nicht auf der Ebene der Verfassung, sondern erst mittels Gesetzgebung und Verwaltung realisiert werden könne. Er war der Meinung, daß nur unmittelbar auf den Fall anwendbare Vorschriften Rechtsnormen sind. Dabei seien Zielbestimmungen für die Verfassung, die als ein „instrument of goverment" zu verstehen ist, eher Überfrachtung; ders., WDStRL 12 (1954), 8 (51 ff.); ders., Staat der Industriegesellschaft, S. 73 ff. 34
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
nahmsweise - konkrete Gestalt35. Die Verantwortung des Staates für bestimmte Aspekte des „Gemeinwohls" ist also thematisch von der Verfassung bestimmt; insoweit wird die Gemeinwohlfrage auch von den gesetzlichen Ebenen auf verfassungsrechtliche Ebenen gehoben. Im Vergleich zu der Weimarer Verfassung, die in ihrem Zweiten Hauptteil (Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen) umfangreiche materiale Richtungsweisungen für die Gestaltung des sozialen Lebens unternahm, und zu den meisten Landesverfassungen der Nachkriegszeit sowie zu den jüngeren europäischen Verfassungen36 erscheint der Verfassungstext des Grundgesetzes sehr zurückhaltend gegenüber den materialen Staatsaufgabenfestlegungen und Zuweisungen. Abgesehen von wenigen, eher marginalen Normierungen, wie beispielsweise der Garantie des Mutterschutzes (Art. 6 Abs. 4 GG)37 und dem Gleichstellungsauftrag für die unehelichen Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG)38, verzichtete der Grundgesetzgeber nämlich angesichts der Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung auf ein umfassendes Programm der Staatsziele und Staatsaufgaben, die auf die Regelung der Wirtschafts- und Sozialordnung zielen39. Dabei impliziert eine derartige Zurückhaltung auch das Bestreben des Grundgesetzgebers, die Entscheidungsfreiheit und Reaktionsfähigkeit des demokratischen Gesetzgebers möglichst offen zu halten40. Für die Feststellung der von der Verfassung vorgesehenen Staatsaufgaben kommt aber nicht nur auf die wörtlichen, expliziten Zuweisungen der Verfassimg an. Die Staatsaufgabenbestimmung ist letzten Endes eine Frage der Auslegung
35 Das Gemeinwohl als materielles Regelungsthema des Grundgesetzes s. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, §57, Rn. 104 ff. 36 In den jüngeren europäischen Verfassungen zeigt sich die Tendenz, recht ausführlich Anreicherungen um inhaltliche Ziele und Aufgaben hinsichtlich des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens in die Verfassung aufzunehmen. So z.B. enthält die spanische Verfassung von 1978 unter der Kapitelüberschrift „Leitprinzipien der Sozial- und Wirtschaftspolitik" mit den Art. 39-52 einen umfangreichen Staatsaufgabenkatalog; die portugiesische Verfassung von 1976 gibt eingehend in Art. 9 „wesentliche Aufgaben des Staates" vor, derartige ausdrückliche Ziel- und Aufgabenfestlegungen in der Verfassung finden sich auch umfangreich im Art. 2 des Verfassungsentwurfs der Experimentkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Schweizer Bundesverfassung. Stern spricht dabei von einem „Stilwandel" der Verfassung; dazu siehe in: Bitburger Gespräche, 1984, S. 12. Vgl. im übrigen Hofmann , Die Aufgaben des modernen Staates und der Umweltschutz, S. 13 (Fn. 27); Ress, in: WDStRL 48 (1990), 61; Häberle, AöR 111 (1986), 595 (601 ff.). 37 38
Vgl. BVerfGE 32,273 (277); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6, Rn. 11 (41 ff).
Vgl. BVerfGE 8,210 (261 f.); Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 134, Rn. 120 ff. 39 Stern, in: Bitburger Gespräche 1984,5(11). 40 Brohm, JZ 1994,213 (217).
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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der Verfassung, dahinter wiederum spielt das zugrundeliegende Verständnis über die Verfassungsfunktion eine entscheidende Rolle. Dabei darf nicht übersehen werden, daß das Grundgesetz mit der durch die Verfassungsgerichtsbarkeit gesicherten Vorrangigkeit und Normativität zunehmend als eine vervollkommnete direktive Ordnung für Politik in alle wesentlichen Bereiche des Gesellschaftslebens erhoben wird. Es zeigt sich umso klarerer, wenn man sich die eifrigen Leistungen des Bundesverfassungsgerichts vor Augen hält41. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts stellt das Grundgesetz über den Charakter von Rechtsform und Rechtsdokument hinaus auch eine „Wertgrundlage" und „Wertordnung" des Gemeinwesens dar42. Daß die Verfassung eine Wertordnung enthält, fuhrt dazu, daß aus der Verfassung bestimmte Wertentscheidungen über bestimmte Schutzgüter und Freiheiten hervorzuheben sind, die nicht nur das staatliche Handeln binden, zu deren Gewährleistung sogar eine staatliche Verpflichtung zu entnehmen ist. Diese Gewährleistungspflicht des Staates für die von der Verfassung anerkannten Wertentscheidungen giltfreilich auch für die verfassungsrechtlich gebotenen Staatsaufgaben. In diesem Zusammenhang sind auch die juristischen und politischen Bestrebungen der letzten Jahren zu sehen, die Staatsaufgaben mit den Mitteln des Verfassungsrechts - sei es durch Verfassungsauslegung und -anwendung oder durch verfassungsändernde Initiative - zu bestimmen und auch sachlich zu beeinflussen43, um damit die Verfassung auch für neue Lagen und politische Ziele zum „Sprechen" zu bringen44. Dabei ist aber zu betonen, daß materielle Verfassungszuweisungen auf bestimmte Aufgabenziele bzw. Wertentscheidungen für staatliches Handeln nicht sämtliche staatliche Verantwortung, orientiert am Gemeinwohl, abschließend umreißen45. Das Gemeinwohl im Verfassungsstaat ist, wie oben dargelegt, vielmehr überwiegend offen und muß im politischen Prozeß im Rahmen der
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Schon früh zeigte Scheuner, daß mit der gesicherten Oberordnung des Grundgesetzes und der Bindung des Gesetzgebers an seine Normen eine Neigung zu erkennen ist, für alle Grundfragen der verschiedenen Gebiete der Rechtsordnung in der Verfassung nach Richtlinien zu suchen, das Grundgesetz gewissermaßen zu einer Basis der gesamten Rechtsordnung zu erheben; ders., Staatszielbestimmungen, jetzt in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. (224); ders., in: FS Scupin, 323 (323). So ist auch bei Stern, Staatsrecht I 2 , S. 86. 42
Vgl. z.B. BVerJGE 6,32 (41); 10,59,(81); 12,45(51); 13,46(51); 13,97(107); 14, 288 (391); 21,362 (371 f.); 27,253 (283); 30,1 (19) m. w. N. Ferner vgl. auch Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: ders, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 29 ff. (47 ff.); ders., Grundrechte als Grundsatznormen, ebd., S. 159 ff. (163 ff.); Hesse, Grundzüge, Rn. 3,299. 43 44 45
Badura, DÖV 1989,491 (491 ff.) So Badura, DÖV 1989,491 (492). (Hervorhebung durch Verfasser). Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, §57, Rn.120.
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
Verfassungsordnung verwirklicht werden46. Der Gesetzgeber darf nicht durch eine intensive Auslegung über verfassungsrechtlich gebotene Staatsaufgaben zum Verfassungsvollzugsorgan degradiert werden. In einem demokratischen Verfassungsstaat existiert kein Verfassungsvorbehalt der Staatsaufgaben im Sinne einer notwendigen Ableitung und Begründung aus der materialen Zielvorgabe der Verfassung47. Auch ohne materiale verfassungsrechtliche Direktive kann eine Staatsaufgabe gemäß verfassungsrechtlichen gesetzten formellen Anforderungen ohnehin vom zuständigen Staatsorgan wahrgenommen werden. Einer ausdrücklichen Regelung der Staatsaufgaben in der Verfassung oder einer besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigung des Gesetzgebers, bestimmte Staatsaufgaben zu erfüllen, bedarf es in der parlamentarischen Demokratie nicht48. Andererseits darf auch nicht übersehen werden: das Grundgesetz ist kerne in der Weise offene Verfassung, daß sie alle Angelegenheiten des Gemeinwesens als staatliche Aufgabe zuließe, wenn es nur die Staatsgewalt will49. Das Grundgesetz enthält zwar die aufgabenflexiblen Generalklauseln, wie etwa die Sozialstaatsklausel, es gewährleistet aber auch die grundrechtlichen Freiheiten vor staatlichen Eingriffen. In dem Maß, wie die Gefahr einer im Widerspruch zur Verfassung laufenden Staatstätigkeit auf irgendeine Weise untersagt wird, sei auch von „Vorbehalt der Verfassung" zu sprechen50. Zweifellos ist auch, daß die Feststellung der Staatsaufgaben im Grundgesetz - sei es ausdrücklich, sei es durch Interpretation - unübersehbar die Folge hat, daß die Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit des Gesetzgebers und sekundär auch die Regierung und Verwaltung in ihrer Leitungsaufgabe, schließlich auch die Rechtsprechimg in gewissem Maße, beschränkt sind. Das ist eine folgerichtige Konsequenz daraus, daß unter der Geltung des Grundgesetzes jede Verfassungsnorm juristisch durchsetzbar und auch kontrollierbar ist. In diesem Sinne ist auch eine Eigenschaft der verfassungsrechtlich materiell verankerten Staatsaufgaben auszumachen: Die sich aus dem Verfassungstext ergebenden Aufgaben des Staates sind unter der Geltung des Grundgesetzes mit unterschiedlicher Bindungskraft an den Staat zur Erfüllung gerichtet. Es bestehen unter der Geltung des Grundgesetzes nach herrschender Meinung keine unverbindlichen Verheißungen oder Appelle mehr, wie sogenannte Programmsätze in der Weimarer Verfassung; ist aus dem Inhalt einer Verfassungsvorschrift eine Staatsaufgabe zu entnehmen, dann ist diese Staatsaufgabe dem Staat mit gewisser Bindungskraft anvertraut worden.
46 47 48 49 50
Vgl. Häberle, AöR 111 (1986), 595 (604). Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, §57, Rn. 125 ff. Statt vieler nur Badura, Staatsrecht, D 40. Vgl. Stern, in: Bitburger Gespräche 1984,5 (12). Vgl. Stern, in: Bitburger Gespräche 1984,5(12).
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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B. Kategorien der imperative Staatsaufgaben begründenden Verfassungsnormen des Grundgesetzes Die vom Grundgesetz formulierten oder festgelegten materiellen Regelungen von Staatsaufgaben, die eine staatliche Verpflichtung zur Wahrnehmung beanspruchen, sind auf verschiedene Normtypen zurückzuführen. Die Einteilung der Typen von Verfassungsnormen ist unterschiedlich, es besteht aber auch Einigkeit über folgende Kategorien der Aufgabennormen des Grundgesetzes. Zuerst fallt die Gruppe der Staatszielbestimmungen ins Auge. In der weiten Skala auf Sachinhalt gerichteter normativer Aussagen der Verfassung finden sich auch Gesetzgebungsaufträge und grundrechtliche Schutzpflichten.
1. Staatszielbestimmungen Als verbindliche Aufgabennormen des Grundgesetzes läßt sich zuerst die Kategorie von Staatszielbestimmungen heranziehen. Nach herrschender Meinung liegt sie auf der höchsten Ebene als Leitlinie und Zielvorgabe für staatliches Handeln unter der Geltung des Grundgesetzes. Im Unterschied zum Staatszweck, der herkömmlicherweise aus staatstheoretischer Sicht zu betrachten und bei dem nach Sinn und Rechtfertigung des Staates zufragen ist, siedeln sich die Staatszielbestimmungen als mit der normativen Kraft positiven Rechts in der Verfassung an51. Die Bildung der Normkategorie von Staatszielbestim-
51 Dabei läßt sich jedoch ein nuancierter Unterschied zwischen „Staatszielen" und „Staatszielbestimmungen" ausmachen. Während Staatszielbestimmungen eine verfassungsrechtliche Normkategorie ftlr die Ableitung von Staatsaufgaben bilden, bezieht sich der Begriff Staatsziele - losgelöst von der Normqualifikation - eher abstrakt auf den anzustrebenden Zustand der Staatstätigkeiten. Vgl. auch Michel, Staatszwecke, S. 109 fT. Der Begriff „Staatsziele" wird im Schrifttum meistens sehr allgemein verwendet und dient als Oberbegriff zur Bezeichnung aller in einer Verfassung aufkommenden inhaltlichen Sachgehalte für staatliche Tätigkeiten. Bei einer Aufzählung der „Staatsziele" läßt sich oft eine enge Verbindung zwischen Staatszielen und klassischen Staatszwecken erkennen, nur beruhen jene eher konkret auf einer Verfassungsordnung, hier dem Grundgesetz. So werden nicht selten im Schrifttum eine Reihe von Staatszielen aufgezählt, die entweder als Konkretisierung allgemeiner Staatszwecke, oder als spezifische (Teil-)Ausprägungen des Wohlfahrtszwecks zu konzipieren sind. Beispielweise sind die Staatsziele bei Isensee „die Belange des Gemeinwohls (öffentliche Interessen), die der Staat sich zu eigen macht und in deren Dienst er sich planmäßig stellt." Staatsziele sind dann innere und äußere Sicherheit, Gewähr von Frieden, Freiheit und Wohlfahrt, was auch herkömmlich unter dem Begriff Staatszweck erfaßt wird. Ähnlich ist es auch bei H. H. Klein, wenn er das Ziel der Gerechtigkeit und das Ziel des Gemeinwohls als selbständige Staatsziele des Grundgesetzes versteht; ders., DVB1. 1991, 729 (734). Staatstheoretisch betrachtet liegt der Begriff Staatsziele wohl unumstritten auf einer „mehr mittleren Ebene der Reflexion" (s. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. (240)) zwischen dem hoch abstrakten und historisch belasteten Begriff
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
mungen spielt auch eine zentrale Rolle bei der verfassungspolitischen Diskussion52. Ausdrücklich existiert die Wendung „Staatszielbestimmung" im Grundgesetz nicht. Dieser Ausdruck wurde von Ipsen zur Bezeichnung für das in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG enthaltene Prinzip des sozialen Rechtsstaates eingeführt. Ipsen umriß die Staatszielbestimmung jedoch nur kurz als „rechtsgrundsätzliche Zielbestimmimg"53. Erst bei Scheuner wurde die Staatszielbestimmung als grundgesetzliche Normkategorie umfassend und grundlegend auseinandergesetzt54. Seiner Ansicht nach werden als Staatszielbestimmung diejenigen Verfassungsprinzipien55 zu bezeichnen sein, „die einen dynamischen Zug tragen, die auf künftige noch zu gestaltende soziale Fragen hinweisen und der staatlichen Aktivität weniger die Grenzen ziehen als vielmehr die Bahn weisen."56 Entscheidendes Merkmal - auf das Sozialstaatsprinzip wird hingewiesen - sei, daß es kerne festumrissene, bis in Einzelheiten entfaltete Aussage enthält, sondern sich mit dynamischen Komponenten sowohl als Auslegungsgrundsatz wie als
Staatszweck und den konkreteren Staatsaufgaben. Vgl. nur Scheuner, aaO.; Stern, in: Bitburger Gespräche 1984, 5 (18); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, §57, Rn. 115; Link, in: WDStRL 48 (1990), 7 (18ff.). Insofern ist Sommermann zuzustimmen, wenn er Staatsziele als „säkularisierte Staatszwecke" bezeichnet; siehe ders., Der Staat 1993, 430 (432). Insoweit ist die Bezeichnung „Staatsziele" geeignet, sämtliche verfassungsrechtlichen Sachgehalte mit direktiven Eigenschaften an den Staat zu umfassen. Dagegen dient der Begriff Staatszielbestimmungen eindeutig als verfassungsrechtliche, dogmatische Normqualifikation, worin freilich ein bestimmtes Staatsziel vorhanden ist. Es ist also festzustellen: Staatsziele ergeben sich nicht unbedingt aus Staatszielbestimmungen, aber eine als Staatszielbestimmung qualifizierte Verfassungsnorm enthält notwendigerweise bestimmte Staatsziele. 52 Die neuere Literatur ist nur beispielweise zu nennen: Badura, Staatsaufgaben und Teilhaberecht als Gegenstand der Verfassungspolitik, in: Symposion Verfassungsdiskussion, hrsg. v. der Bayerischen Landeszentrale fìlr politische Bildungsarbeit, 1992, S. 73ff; ders., ThürVBl. 1992, 73 ff; ders., in: FS Redeker, S. 111 ff; Brohm, JZ 1994, 213 ff; H. H. Klein, DVB1. 1991,729 ff; Sommermann, DVB1. 1991,34 ff; ders., Der Staat 1993,430 ff ; Stenographischer Bericht von der Gemeinsamen Verfassungskommission, 2. öffentliche Anhörung „Staatsziele und Grundrechte", 1992. 53
Ipsen, in: ders. Über das Grundgesetz, S. 17. Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. 55 Unter Verfassungsprinzipien verstand Scheuner die in der Verfassungsordnung festgelegten verbindlichen Normen objektiven Charakters, die formende und richtungweisende Sachgehalte für das staatliche Handeln enthalten, gleichgültig, ob sie in die Zukunft gerichtet oder mehr der Erhaltung bestimmter Grundentscheidungen der Grundordnung dienen. Als Beispiel ließe sich vor allem das Rechtsstaatsprinzip nennen. Er stellte Staatszielbestimmungen zuerst also als einen besonderen Unterfall der Kategorie der Verfassungsprinzipien auf; siehe Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff (232 ff); ders., in: FS Scupin, S. 323 ff. (332 ff.) 56 Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff (233). 54
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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Richtungsbestimmung eine Bedeutung besitzende, normative Bindung der staatlichen Aktivität zeigt57. Als Beispiel für Staatszielbestimmungen nennt Scheuner außer dem Sozialstaatsprinzip u.a. die durch Art. 109 Abs. 4 GG eingeführte Aufgabe der Erhaltung des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts"58. Die Begriffsbildung Scheuners hat in wissenschaftlichen Erörterungen der folgenden Zeit grundsätzlich als Orientierungsrahmen gedient59. Eine weitere aussagekräftige Definition der Staatszielbestimmung in der neueren Zeit ergibt sich aus dem Bericht der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge", die von der Bundesregierung im Jahre 1981 mit der Aufgabe zur Überprüfung der Erwünschbarkeit einer Einfügung von Staatszielbestimmungen über Arbeit, Kultur und Umweltschutz eingesetzt wurde. Darin ist folgende Begriffsdefinition umschrieben: „Staatszielbestimmungen sind Verfassungsnormen mit rechtlich bindender Wirkung, die der Staatstätigkeit die fortdauernde Beachtung oder Erfüllung bestimmter Aufgaben sachlich umschriebener Ziele - vorschreiben. Sie umreißen ein bestimmtes Programm der Staatstätigkeit und sind dadurch eine Richtlinie oder Direktive für das staatliche Handeln, auch für die Auslegung von Gesetzen und sonstigen Rechtsvorschriften." 60
Dieser präziseren Kontur für die Staatszielbestimmung wird in der Literatur danach wesentlich gefolgt, wenn auch noch nicht gesagt werden kann, daß eine allgemein anerkannte Definition erzeugt wird61. Eine derartig definierte Staatszielbestimmung bewegt sich dabei in einem relativ weitwirkenden Raum im Verfassungsrecht. Wesentlich ist, daß Staaszielbestimmungen materielle Zielangaben beinhalten, die Richtlinien oder Direktiven für das staatliche Handeln - in erster Linie für die Politik - geben. In ihnen
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Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. (233).
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Scheuner y Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. (233); ders., in: FS Scupin, S. 323 ff. (333). 59 So beschreibt Herzog die Staatszielbestimmungen als „mehr oder minder kompakte Aussagen darüber, von welchem Geist und von welchen Zielvorstellungen das gesamte Handeln des Staates geprägt sein soll"; ders., Staatslehre, S. 320; Angeschlossen an dieses Verständnis etwa auch Stern: „Staatszielnormen sind legitimierende Grundsatzaussagen der Verfassung, Richtnormen für die Staatsorgane, die jedoch für konkrete Handlungsanweisungen meist einer gesetzlichen Umsetzung bedürfen. In ihnen sind Orientierungen für das staatliche Tätigwerden enthalten. Sie weisen bei der Erfüllung von Staatsaufgaben die Richtung, begründen aber keine einklagbaren Pflichten zur Tätigkeit." Ders., in: Bitburger Gespräche 1984,5 (18). Vgl. auchBadura, Der Staat 1975,17 (17); Lücke, AöR 107 (1982), 15 (27 f.); Bull, Staatsaufgaben, S. 44. 60
Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 7. Vgl. Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (536); Michel, Staatszwecke, S. 110 ff ; MüllerBromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 38 f.; H H Klein, DVB1. 1991,729 (733); Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. 61
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sind Orientierungen für das staatliche Tätigwerden enthalten. Bei Staatszielbestimmungen handelt es sich übrigens meistens um solche Themen, Probleme und Fragestellungen, welche über den aktuellen Problemlösungsbedarf hinaus für die Zukunft des Gemeinwesens von erheblicher Bedeutung sind62. Dem Inhalt nach gilt die Staatszielbestimmung wegen ihres zukunftsorientierten, relativ offenen Charakters als bestimmter (Teil-)Gemeinwohlauftrag 63 des Staates, woraus Staatsaufgaben entnommen werden können, zu deren Verwirklichung und Erfüllung staatliche Beachtung und Verfolgung stets gefordert wird64. Insoweit ist die Staatszielbestimmung auch wegen der normativen Verbindlichkeit für den Staat der verfassungsgerichtlichen Kontrolle zumindest hinsichtlich der Beachtung und Erfüllung zugänglich, was schon eindeutig der Unterschied zu solchen unverbindlichen Programmsätzen zeigt, wie sie in der Weimarer Verfassung zu finden waren. Mit dem materiell-inhaltlichen Normcharakter lassen sie sich auch vom verfahrensmäßigen Charakter der Staatsstrukturprinzipien, wie Rechtsstaatsprinzip und Demokratie (mit Ausnahme des Sozialstaatsprinzips) unterscheiden, welche vielmehr ohne gesetzliche Umsetzung unmittelbar durchsetzbar sind65. Staatszielbestimmungen sind übrigens objektivrechtliche Verfassungsnormen mit Bindungswirkung gegenüber aller Staatsgewalt und verschaffen in der Regel dem Einzelnen als solche keine durchsetzbaren Rechtspositionen66. Damit unterscheiden sie sich von den Grundrechten, die in erster Linie als subjektive Ansprüche gegen staatliche Eingriffe konstituiert sind. Als Staatszielbestimmungen im Grundgesetz werden in der Literatur neben dem Sozialstaatsprinzip auch u.a. übereinstimmend Art. 109 Abs. 2 GG 67 sowie das nun endgültig erfüllte, und deshalb im Text des Grundgesetz gestrichene Wiedervereinigungsgebot genannt Klar ist dabei, daß der Normtypus der Staats62 In bezug auf die Verfassungsreform hat Wienholtz demnach betont, daß wegen dieses leitenden Charakters Staatszielbestimmungen kein tauglicher Ersatz ftlr ein in konkreter historisch-politischer Situation versäumtes oder nicht durchsetzbares politisches Handeln und Entscheiden seien; AöR 109 (1984), 532 (536). 63 Nach Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, § 57, Rn. 115, sind Staatsziele die Belange des Gemeinwohls (öffentliche Interessen), die der Staat sich zu eigen macht und in deren Dienst er sich planmäßig stellt. Als solche sind Staatsziele inhaltlich konkreter und thematisch enger als das Gemeinwohl, dessen verfassungsrechtlicher Bestandteil es ist; aber sie sind abstrakter als eine Staatsaufgabe, die sich auf bestimmte Tätigkeitsbereiche bezieht. 64
Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff (116). Manche definieren Staatszielbestimmung jedoch weiter, einschließlich der verfahrensrechtlichen Bestimmungen wie Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip, wie Kirchhof. Vgl. ders., Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz? S. 31; und Denninger, Staatsrecht I, Staatszielbestimmungen, Staatsorgane, Staatsfunktionen; der offensichtlich Staatszielbestimmung mit verfassungsgestaltenden Grundentscheidungen gleichgesetzt hat. 66 Vgl. Bericht der Sachverständigenkommision, Rn. 5. 67 Vgl. Badura, Staatsrecht, D 38. 65
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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zielbestimmung vor allem für Gemeinschaftsbelange dienlich ist. Daran lassen sich auch die in vorliegender Arbeit interessierenden Umweltschutzbelange anknüpfen.
2. Gesetzgebungsaufträge Im Grundgesetz finden sich einige Verfassungsbestimmungen, die einerseits verbindliche sachliche Anweisungen für staatliche Tätigkeit enthalten und sich andererseits ausdrücklich oder implizit an die gesetzgebenden Organerichten.Sie sind zutreffend durch den Begriff „Gesetzgebungsaufträge" gekennzeichnet68. Die Eigenschaft der Gesetzgebungsaufträge begründenden Normen ist es, daß sie dem Gesetzgeber die Regelung oder die bestimmte Regelung einzelner Vorhaben oder in einzelnen Sozialbereichen verpflichtend vorschreiben, gleichgültig, ob auch eine Bindung in zeitlicher Hinsicht bestimmt wird69. Danach bilden Gesetzgebungsaufträge eine Kategorie der verpflichtenden Staatsaufgabennormen im Grundgesetz70. Als Beispiele sind u.a. die Regelungsaufträge zur Gleichberechtigung in Art. 3 Abs. 2 GG, zur Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3 GG, zum Gleichstellungsrecht der unehelichen Kinder in Art. 6 Abs. 5 GG, zur Strafbarkeit der Vorbereitung eines Angriffskrieges in Art. 26 Abs. 1 S. 2 GG, zum Recht des Öffentlichen Dienstes unter Berücksichtigung der Grundsätze des Berufsbeamtentums in Art. 33 Abs. 5 GG, zur Rechtstellung der Bundesrichter in Art. 98 Abs. 1 GG, über Freiheitentziehungen in Art. 104 Abs. 2 S. 4 GG und zum Beamtenrecht in Art. 131 GG zu nennen.71 Nach Badura lassen sich derartige Gesetzgebungspflichten auch dem Typus von Gesetzgebungsaufträgen zuordnen, die den Gesetzgeber dazu auffordern, bei einer Fehlprognose oder bei veränderten Umständen Korrektur- oder Nachbesserungspflichten zur Änderung eines einen Grundrechtseingriff bewirkenden Gesetzes zu erfüllen 72. Gesetzgebungsaufträge betreffen regelmäßig keine grundsätzlichen staatspolitischen Fragen73 und weisen meist auf eine konkrete legislative Aktivität hin,
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Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff (230 f.); ders., in: FS Scupin, S. 323 ff. (330 ff); Lücke, AöR 107 (1982), 15 (22). 69 Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 8; Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Vn,§ 159, Rn. 18. 70 Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §159, Rn. 14 ff 71 Die Zuordnung vgl. Scheuner y Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. (230); Müller -Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 44. 72 Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §159, Rn. 19. Über Nachbesserungspflicht s. BVerjGE 50,290 (335); 56,54 (78); Badura, in: FS Eichenberger, 1982, S. 481 ff 73 Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff (231).
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
wobei sich ein deutlicher Unterschied zu Staatszielbestimmungen ausmachen läßt. Letztere wirken allenfalls in allgemeiner Form auf den Gesetzgeber und andere Staatsorgane ein74. Außerdem entfaltet sich die Bindungswirkung für den Gesetzgeber bei Gesetzgebungsaufträgen wegen des höheren Konkretisierungsgrades hinsichtlich des Norminhalts folglich auch deutlich stärker als bei Staatszielbestimmungen, d. h. der dem Gesetzgeber überlassene Gestaltungsspielraum ist geringer als bei Staatszielbestimmungen75. Obwohl aus Staatszielbestimmungen auch Gesetzgebungsaufgaben zu entnehmen sind, bilden die beiden Begriffe aufgrund der soeben gezeigten Unterschiede unterschiedliche Aufgabenkategorien. Eine Zuordnung dahin, daß „Staatszielbestimmungen" selbstverständlich „Gesetzgebungsaufträge" enthalten, also Gesetzgebungsaufträge als Unterfall von Staatszielbestimmungen zu verstehen sind, verkennt die unterschiedlichen Eigenarten der beiden Normtypen76. Das schießt aber nicht aus, daß eine Staatszielbestimmung mit einem Gesetzgebungsauftrag gekoppelt ist, wie etwa in Art. 26 Abs. 1 GG77. Obwohl sich die Gesetzgebungsaufträge nur an den Gesetzgeber wenden, also nur der Gesetzgeber Normadressat ist, strahlen sie mit ihrem materiellen Inhalt gewissermaßen auch auf die Exekutive und Judikative aus. In der Anweisung an den Gesetzgeber, eine bestimmte sachliche Regelung zu treffen, weist die Verfassung zugleich auch auf eine entsprechende Wertentscheidung hin, an die die übrigen Staatsorgane im Rahmen ihrer jeweiligen Gestaltungsfreiheit notwendigerweise auch gebunden sind78. Dazu spricht Badura von „Garantiewirkung" der Gesetzgebungsaufträge. Sie haben daher die Wirkung einer Auslegungsrichtlinie79. Insoweit entfalten Gesetzgebungsaufträge die gleiche Wirkung wie Staatszielbestimmungen. Gesetzgebungsaufträge sind an den Gesetzgeber gerichtetes objektives Recht; subjektive Berechtigungen Einzelner auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers sind daher grundsätzlich nicht gewährt. Es ist aber nicht auszuschließen, daß bei einer offenkundigen Nichterfüllung des Gesetzgebungsauftrages in Verbindung mit dem betroffenen Grundrecht oder grundrechtsgleichen Recht ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers entsteht80.
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Vgl. Hattenberger, Der Umweltschutz als Staatsaufgabe, S. 140. Lücke, AöR 107 (1982),15 (23). 76 Lücke, AöR 107 (1982), 15 (23), m. w. N. 77 Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 159, Rn. 18. 78 BVerJGE 8,210 (216f.); 25,167 (173). 79 Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §159, Rn. 18. 80 Vgl. Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 46; Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VE, §159, Rn. 18; BVerJGE 25,167 (173) - Nichtehelichkeit. 75
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des G
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An dieser Stelle sind auch die sog. „Verfassungsaufträge" zu erwähnen. In der Rechtsprechung und Literatur wird dieser Begriff uneinheitlich und manchmal sehr verwirrend verwendet. Dem zugeschriebenen Inhalt nach wird er aber überwiegend im Sinne von Gesetzgebungsaufträge begriffen 81. Um eine Überlappung der Normkategorie zu vermeiden, ist es ratsam, den Begriff „Verfassungsaufträge" als Synonym für Gesetzgebungsaufträge zu verwenden.
3. Bundesstaatliche Kompetenzvorschriften Sachliche Gehalte enthaltend und deshalb als Erkenntnisquellen der Staatsaufgaben tauglich, bieten sich im Grundgesetz noch die bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften der Art. 70ff. an. Zwar dienen die Kompetenzvorschriften der Art. 70ff. GG in erster Linie der Verteilung der hypothetisch denkbaren Aktivitäten der staatlichen Organe zwischen Bund und Ländern; die Auffassung dahin, die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes begründeten nur Zuständigkeiten, nicht aber auch eine materiell-rechtliche Wirkung, greift jedoch wohl zu kurz. Die Aufnahme einer Regelungsmaterie in das normative Grundgesetz weist herrschender Meinung zufolge - schon gewisse materiell-rechtliche Wirkung auf, wenngleich keine übereinstimmende Vorstellung über deren rechtliche Bindungskraft besteht82. Anerkannt dürfte zumindest die legitimierende Wirkung für staatliche Tätigkeiten im jeweils bezogenen Sachbereich von Kompetenzvorschriften sein83. Daraus lassen sich folgerichtig auch implizierte Themen der Staatsaufgaben schließen, die der Staat ohne weitere Rechtfertigung wahrnehmen
81 BVerfGE 8,210 (216)-Zahlvaterschaft; 25,167 (184)-Unehelichenrecht; 44,1 (22) - Nichtehelichenrecht. Badura, in: FS Ipsen, 1977,367 (376ff.); Derminger, Verfassungsauftrag und gesetzgebende Gewalt, 1966, in: ders., Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 75 (76 ff.); Graf Vitzthum, in: Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik, 61 (64, Fn. 14); Lücke, AöR 107 (1982), 15 (25 ff); Stern, Staatsrecht I 2 , S. 85. 82 Vgl. Ehmke, WDStRL 20 (1963), S. 53 (89); Bull, Staatsaufgaben, S. 152 ff ; Bleckrmann, DÖV1983,129 (129ff.); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 73, Rn. 7; Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (424 ff); vgl. auch BVerfGE 12,45 (50); 41, 205; 48, 127 (159). Zum „materiellen Kompetenzverhältnis" vgl. Böckenförde, AöR 106 (1981), 580 (590 f., 597 ff). 83 So führt das BVerfG im Mühheim-Käiiich-Beschluß aus: „(da) auch aus Kompetenzvorschriften der Verfassung eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des darin behandelten Gegenstandes durch die Verfassung selbst folgt und ... dessen Verfassungsmäßigkeit nicht aufgrund anderer Verfassungsbestimmungen grundsätzlich in Frage gestellt werden könnte", BVerfGE 53,30 (56). Vgl. Bull, Staatsaufgaben, S. 152; Bleckmann, DÖV 1983, 129 (130 ff); Maunz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 73, Rn. 7; Stern, Staatsrecht I 2 , S. 118; auch Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 159, Rn.17.
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darf 84, ohne daß er verpflichtet wäre, tätig zu werden oder die Materie auszuschöpfen 85. Bedenklich ist jedoch, ob den Kompetenzvorschriften darüber hinaus eine den angesprochenen Normsetzer zum Tätigwerden verpflichtende Bindungskraft zukommt. So könnten etwa aus den die Gesetzgebungszuständigkeit zwischen Bund und Ländern verteilenden Katalogen der Art. 73 ff. GG verbindliche Staatsaufgaben - als implizierte Staatszielbestimmungen oder Gesetzgebungsaufträge - abgeleitet werden. Während ein Teil der Rechtslehre diese Frage klar verneint86, versuchen andere, aus Kompetenzvorschriften Tätigkeitsverpflichtungen des Gesetzgebers zu entnehmen, sei es durch eine Begründimg des Wertcharakters von Kompetenznormen87, sei es durch eine wörtliche Verfassungsauslegung aufgrund der unterschiedlichen Formulierungen in den Kompetenzvorschriften 88.
84 Badura, ThürVBl. 1992,73 (77); ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §159, Rn. 17. Dies führt aber keineswegs dazu, daß Kompetenzvorschriften als implizierte Staatsaufgaben ohne weiteres die Grundrechte beschränken können; dazu vgl. Pieroth, AöR 114 (1989), 422 (422 ff.). Diese Frage ist hier nicht weiter zu behandeln. Zu zeigen ist jedoch, daß die Anerkennung der Kompetenzvorschriften als konkludente Aufgabenthemen des Staates eher selbstverständlich und überflüssig zu sein scheint. Wie oben schon dargelegt (s. oben in diesem Kapitel I), begrenzt und schränkt das Grundgesetz die staatlichen Tätigkeiten nicht primär durch die materiell-inhaltlichen Hinweise, sondern eher durch Verfahrens- und Kompentenznormen ein. Demnach ist der Staat des Grundgesetzes grundsätzlich jedem Sachbereich zugänglich, soweit er die erforderlichen Kompetenzen und Befugnisse dem Grundgesetz nach besitzt. Der Staat des Grundgesetzes braucht weder materielle Ermächtigung noch materielle Rechtfertigung in der Verfassung zu suchen, um bestimmte Aufgaben wahrnehmen zu dürfen. 85 In dem vorliegenden Zusammenhang ist das Pflicht-Moment nicht schon beim Begriff der Aufgabe mitgedacht. 86 Badura, Staatsrecht, D 40; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §159, Rn.17 ff.; Bock, Umweltschutz, S.109. Bull, Staatsaufgaben, S. 153ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 135 ff.; Hofmann , JZ 1988,265 (273); Kloepfer, DVB1. 1988,395 (307); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 73, Rn. 7; Michel, Staatszwecke, S. 197 ff.; Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 62ff.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 271 f.; v. Mutitus, WiV 1987, 51 (55); Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (177); Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (546 ff.). So auch die Sachverständigenkommission, Rn. 3,131.
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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Obwohl das Bundesverfassungsgericht bisher noch keinen Anlaß hatte, zu dieser Frage eindeutig Stellung zu nehmen, hat es jedoch Verfassungsgüter aus Kompetenznormen in eher Reihe von Entscheidungen abgeleitet. So hat es etwa aus den Vorschriften der Art. 12a, 73 Nr. I, 87a und 115b GG eine verfassungsrechtliche Gmndentscheidung für erne effektive militärische Landesverteidigung herausgelesen, mithin den verfassungsrechtlichen Rang der Einrichtung und Funktionsfahigkeit der Bundeswehr anerkannt und gegen das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung und andere Grundrechte in Anschlag gebracht89. In ähnlicher Weise hat das Bundesverfassungsgericht auch aus Art. 74 Nr. 1 la GG die Verfassungsmäßigkeit der Erzeugung und Nutzung der Atomenergie zu friedlichen Zwecken abgeleitet und gefolgert, daß deren Verfassungsmäßigkeit grundsätzlich nicht aufgrund anderer Verfassungsnormen in Zweifel gezogen werden könne90. Auf Kompetenzvorschriften zurückzugreifen und daraus Wertentscheidungen zu entnehmen, dient dem Bundesverfassungsgericht hauptsächlich der Gewinnung von Abwägungspositionen, welche zur Begrenzung von Grundrechten, insbesondere vorbehaltsloser Grundrechte, herangezogen werden91. Soweit die in Kompetenzvorschriften genannten Materien als Verfassungsgüter betrachtet werden, liegt es nahe, daß der Staat auch zur Bewahrung solcher Güter verpflichtet würde. Es könnte also zur Verpflichtung der Wahrnehmung der bezogenen Aufgaben fuhren.
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So hat Bleckmann, DÖV 1983,808 (808 f.), versucht, die Werthaftigkeit von Normen des Staatsorganisationsrechts und deren Qualität als „Verfassungswert" zu begründen. Damit stellt er fest, daß „der Kompetenzkatalog des Bundes ganz klar die Absicht des Verfassungsgebers über bestimmte Kernbereiche der modernen Staatsaufgaben widerspiegelt, die ebensoviele Staatszwecke und damit Allgemeininteressen oder Werte des ganzen Volkes festlegen". Dies folge daraus, daß dem Staatsorganisationsrecht und damit auch den Bestimmungen über die Gesetzgebungszuständigkeiten das gleiche „hermeneutische Gewicht" zukomme wie etwa den Grundrechten, da beide Normgruppen gleichermaßen werthaft seien. Vgl.auch Ehmke, WDStRL 20 (1963), S. 90 f.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 70 ff. 88 Nach Scheuners Auffassung enthalten solche Kompetenzvorschriften, die eine zielgerichtete Tendenz in der Formulierung aufweisen, wie „Förderung", „Schutz" oder „Sicherung",wie etwa Art. 74 Nr. 13 oder Art. 74 Nr. 19a GG, den Charakter der Norm als Aufgabenzuweisung und Gebot staatlichen Tätigwerdens, die der Kategorie von Staatszielbestimmungen zuzuordnen sind, wenn auch sich keine unmittelbare Verbindlichkeit zur bestimmten Gesetzgebung begründen läßt. Er sieht insoweit nämlich Hinweise auf „legislative Aktivität" die der Gesetzgebungstätigkeit gewisse Richtungen vorgeben. Siehe Scheuner, Gewährleistungen und Fakten im Verfassungstext, in: FS Scupin, S. 331ff. (333); vgl. auch ders., Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. (234 f.); in dieser Richtung auch Ehmke, WDStRL 20 (1963), S. 90 f. 89
BVerJGE 28,243 (256); 69,1 (21 ff).
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BVerJGE 53,30 (56 f.); Siehe auch Bleckmann, DÖV 1983,129 (131).
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Man muß sich allerdings stets vor Augen halten, daß die Kompetenzvorschriften der Art. 70 ff. GG primär als Organisationsnormen gelten, die die Ausübimg staatlicher Gewalt in Konkretisierung der föderalen Struktur der Verfassungsordnung des Grundgesetzes verteilen sollen92. Inhaltlich gesehen setzen sie vielmehr die in ihnen genannten Materien bzw. Sachgebiete voraus. Durch die Aufzählung der dem Bund zugewiesenen Bereiche lassen sich folgerichtig Anschauungen und auch gewisse „Fingerzeige" dafür erkennen, welche Gegenstände als Staatsaufgaben verfassungsrechtlich legitimierend bestehen oder in Betracht zu ziehen sind93. Ob die Erfüllung solcher Aufgaben verfassungsrechtlich erzwungen werden kann, kann allein aus den Kompetenzvorschriften nicht beantwortet werden. Selbst wenn eine inhaltliche Tendenz in der Formulierung erscheint, wie Scheuner zeigt94, ergibt sich nicht schon die Verpflichtung des Gesetzgebers zum Tätigwerden. Schließlich haben Kompetenzvorschriften ohnehin keine Antwort darauf zu geben, welche Art von Gesetzen in den genannten Sachgebieten geeignet wäre und in welcher Weise der notwendige Ausgleich mit anderen verfassungsrechtlich anerkannten Aufgaben, Schutzgütern und Rechten zu erfolgen hätte95. Mit den zahlreichen erst durch strapazierende Verfassungsauslegung zu gewinnenden Pflichtanweisungen wäre der Staat, besonders der demokratische Gesetzgeber, zum „Verfassungsvollzugsorgan" degradiert, wobei nicht nur das Demokratieprinzip beeinträchtigt, sondern die Bindungskraft der Verfassungsordnung auch in der Tat geschwächt würde. Das gleiche gilt auch für das Argument, die in Kompetenzvorschriften enthaltenen Sachgegebenheiten seien Wertentscheidungen des Verfassungsgebers und würden daher auch den Gesetzgeber zur Ausschöpfung verpflichten.
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Hintergrund dieser Entwicklung bildet das vom Bundesverfassungsgericht selbst entwickelte Postulat, daß die Einschränkbarkeit von vorbehaltlos gewährten Grundrechten auf einen in der Verfassung selbst anerkannten Belang rückführbar sein muß; vgl. etwa BVerJGE 28,243 (261); 69,1 (21). 92 93
Vgl. nur Stern, Staatsrecht Π, S. 534.
Badura, Staatsrecht, D 40; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 159, Rn. 17. 94 Scheuner, Staatszielbestimmungen, in: Gesammelte Schriften, S. 223 ff. (233); ders., in: FS Scupin, S. 323 ff (331 ff). Der Grund, daß Scheuner aus den Kompetenzvorschriften einerseits Staatszielbestimmungen entnimmt, anderseits aber den Charakter der Gesetzgebungsaufträge verneint, liegt wohl darin, daß für ihn das Pflicht-Moment bei einer Staatszielbestimmung eine geringere Rolle spielt als bei einem Gesetzgebungsauftrag, was in der vorliegenden Untersuchung jedoch nicht der Fall ist. 95 So Badura, ThürVBl. 1992, 73 (77).
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
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Es ist danach festzuhalten, daß aus den Kompetenzvorschriften keine verbindlichen Staatsaufgaben zu begründen sind. Die Kompetenzvorschriften können nur den Staat zur Wahrnehmung der von ihnen benannten Materien berechtigen, begründen aber keine Handlungspflicht. 4. Grundrechtliche Schutzpflichten Die grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes und die besonderen Sicherungen ihrer Geltung haben unter dem Grundgesetz vorrangig die Abwehr staatlicher Eingriffe in die individuelle Lebenssphäre zur Aufgabe, wie das Bundesverfassungsgericht bisher immer noch betont96. In dieser Dimension stellen die Grundrechte für den Staat eher eine Achtungs- und Nichtstörungspflicht dar. Sie gewähren dem einzelnen also den status negativus97; angestrebt ist das Unterlassen der staatlichen Handlungen. Dementsprechend sind die abwehrrechtlichen Grundrechtsgewährleistungen für die verfassungsrechtliche Festlegung der Staatsaufgaben unergiebig; aufgrund ihres Charakters als negative Kompetenzbestimmungen für die staatlichen Gewalten98 wirken sie vielmehr als Negation möglicher Staatsaufgaben. Der Schutzgehalt der Grundrechte wird aber nicht in dieser subjektiven Abwehrrechtsgewährleistung erschöpft; mit der fortschreitenden Grundrechtsentwicklung wird die Wirkung der Grundrechte immer mehr ausgeweitet und ausgebaut. Dem Verständnis über den abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz liegt freilich die Annahme zugrunde, daß Freiheiten durch die Gewährleistung einer staatsfreien Sphäre des Individuums schon aus eigener Kraft entfaltet und verwirklicht werden können. Sie sind insoweit als bürgerlich-liberale, vorstaatliche oder antistaatliche Freiheiten zu begreifen99. Diese Vorstellung verliert aber angesichts der Realität der heutigen Gesellschaft ihre Überzeugungs- und Durchsetzungskraft 100. Von dem empirischen Ergebnis her betrachtet sind die Freiheiten heutzutage zwangsläufig in weitem Maße bedingt durch die staatliche
96
Vgl. BVerJGE 7,198 (204 f.) - ständige Rechtsprechung; vgl. insbesondere BVerJGE 21, 362 (369); 50, 290 (336, 337); 61, 82 (101); 68, 193 (205). Vgl. auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 1 ff., 37 fT. 97 Jellinek, G., System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1919, S. 87,94 fT. 98 Hesse, Grundzüge, Rn. 291. 99 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 309 ff.; Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S.115 ff. (119 ff.); Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, jetzt in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 159 ff. (162). 100 Vgl. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? jetzt in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221ff. (227 ff).
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1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
Hilfe, nämlich die materiellen Leistungen und nicht zuletzt Schutzgewährungen. Sie sind also erheblich angewiesen auf Rahmenbedingungen des Rechts, auf Institutionen, auf finanzielle Förderung, die der Staat bereitstellt bzw. bereitstellen muß101. Dies hat vor allem die anwachsenden Erwartungen sowie Verpflichtungen für das staatliche positive Tätigwerden zur Grundrechtsverwirklichung zur Folge. Dem Staat wird dabei die allgemeine Verantwortung zur Schaffung und Sicherung der Voraussetzungen grundrechtlicher Freiheitsausübimg auferlegt 102. Schon deswegen gelten die Grundrechtsgewährleistungen auch als Anregungen und gar Aufträge im politischen Entscheidungsprozeß: Sie stellen Impulse und Richtlinien für die gesamte Staatstätigkeit dar103. Daraus sind also ohne Zweifel konkludente Staatsaufgaben zu entnehmen. Als verfassungsrechtliche Staatsaufgabenquellen sind daher die Grundrechtsgewährleistungen heranzuziehen104. Damit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, ob und ggf. inwieweit verpflichtende Staatsaufgaben, die den Staat zum Tätigwerden verfassungsrechtlich verpflichten können, sich aus den Grundrechtsgewährleistungen entnehmen lassen. Für die Antwort daraufkommt esfreilich auf das zugrundegelegte Grundrechtsverständnis und die Grundrechtstheorie an105. So umstritten die vielfaltigen Versuche auch sind, über den klassischen abwehrrechtlichen Grundrechtsgehalt hinaus weiterreichende Gewährleistungsgehalte unter der Geltung des Grundgesetzes anzureichern, wie etwa die Teilhaberechte, Leistungsrechte sowie soziale Grundrechte usw.106, lassen sich doch zumindest die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates als „fester Bestandteil der heutigen Grundrechtsdogmatik"107 erachten. Es besteht heute wohl weitgehende Einigkeit darüber, daß die Grundrechte auch den Staat verpflichten, die grundrechtlichen Güter vor Beeinträchtigungen Dritter zu schützen, auch wenn die dogmatische Begründung dieses Phänomens nicht unumstritten ist.
101
Denninger, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 113, Rn. 1 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 115, Rn. 1. 102
Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 84. Vgl. Scheuner, DÖV 1971,505 (505 ff.). 104 Ober die Grundrechte als Staatsaufgabenbestimmungen vgl. Häberle, AöR 111 (1986), 595 (602f, 604f., 611). 105 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 115 ff. 106 Vgl. etwa Badura, Der Staat 1975,17 (17 ff.); Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im VerfassungsgefÜge, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 146 ff.; Breuer, in: FG aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverwaltungsgerichte, S. 89 ff.; MüllerBromley , Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 56 ff.; Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 112, Rn. 14 ff.; Stern, Staatsrecht, m/1, S. 690 ff. 107 Stern, Staatsrecht ΠΙ/1, S. 907. 103
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
45
Der Gedanke von grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates ist kein Fremdkörper für das Grundgesetz. Wendet man sich zuerst an den Text des Grundgesetzes, lassen sich schon vereinzelt ausdrücklich normierte Schutzpflichten des Staates herausfinden. So kommen zumindest die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG sowie die Schutzversprechungen für die Ehe, Familie, Kinder und Mutter in Ait. 6 GG im Betracht. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG legt aller staatlichen Gewalt die Verpflichtung auf, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Da diese Schutzverpflichtung an den Staat eindeutig im verfassungsrechtlichen Text angeordnet wird, bedarf es keiner besonderen rechtsdogmatischen Begründung106. Soweit einzelne Grundrechte generell oder nur in einem gewissen Grade zugleich die Würde des Menschen schützen, erstreckt sich die Schutzverpflichtung des Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG wohl unumstritten auch auf die Schutzgüter dieser Grundrechte bzw. auf den Schutz des jeweiligen in ihnen enthaltenen „Menschenwürdekerns"109. Der in Art. 6 Abs. 1 GG vorgesehene besondere Schutz der staatlichen Ordnung für Ehe und Familie110, das in Art. 6 Abs. 2 GG statuierte „Wächteramt" des Staates über die Pflege und Erziehung der Kinder durch ihre Eltern111 sowie die Schutzgewährung für die Mutter in Art. 6 Abs. 4 GG 112 erweisen sich auch ohne Zweifel als eindeutige Aussage des Grundgesetzes über die Schutzpflichten des Staates. Über derartige im Grundgesetz vereinzelt benannten Schutzzuweisungen hinaus hat das Bundesverfassungsgericht die Schutzpflichten unmittelbar den Grundrechtsgewährleistungen entnommen. Nach der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen und in der Literatur auch vielfach - wohl überwiegend befürworteten Auffassimg ergeben sich die staatlichen Schutzpflichten aus den Gehalten der Grundrechte als „objektiv-rechtliche Wertentscheidungen bzw. Grundsatznormen"113. Diese objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte hat
108
So auch Starck, in: ders., Praxis der Verfassungsauslegung, S. 86. Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Rn. 16,102,131; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 125. 110 Vgl. etwa BVerJGE 6,55 (76); 24,104 (109); 55,114 (126 f.); 87,1 (35 ff.). 109
111
Vgl. BVerJGE 24,119 (144); 60,79 (88); 72 155 (170 ff). Vgl. BVerJGE 32,273 (277); 52, 357 (365); 55, 154 (157); 77, 170 (214); 79, 174 (201 f.); 84,133 (156); 85,167 (175). 112
113
Vgl. etwa BVerJGE 6, 55 (71); 7,198 (205); 35,79 (114); 39,1 (41 f.); 49,89 (141); 73,261 (269); 76,1 (49). Aus der Literatur^lexy, Theorie der Grunderchte,1985, S. 71 ff ; Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, 1990, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 159 ff (159 ff); Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? 1988, jetzt in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221 ff. (229 ff); Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, insb. S. 187 ff; Hesse, Grundzüge, Rn. 305 ff; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 27 ff; ders., in: HStR V, § 111, Rn. 80 ff ; Jarass, AöR 110 (1985), 363 (363 ff); Jeand'Heur, JZ 1995,161 (162 ff); Stern, Staatsrecht, W\, S. 890 ff; E. Klein, NJW
46
1. Teil: Vorüberlegungen zur Inkorporierung der Umweltschutzaufgabe
ihren normativen Grund gerade in den Grundrechtsgewährleistungen selbst: Die Gewährleistungsfunktion der Grundrechte bezieht sich letzten Endes auf die Unversehrtheit der grundrechtlichen Schutzgüter, die von sich aus nicht relativ - wie die für die Grundrechte als subjektive Abwehrrechte im Verhältnis BürgerStaat der Fall ist - , sondern vielmehr „absolut" im Sinne von einer umfassenden Realisierung bestehen. Schließlich haben die Grundrechte individuelle Güter des Menschen als integraler Bestandteil seiner Personalität zum Schutzgegenstand gemacht114; diese Güter sind also als integraler Teil des Grundrechtsträgers absolute Zuordnung der grundrechtlichen Schutzgüter zu der Personalität der Grundrechtsträger - eigentlicher Grund des Schutzes115. Der Staat hat demzufolge nicht nur ungerechtfertigte Eingriffe in die Grundrechte zu unterlassen, sondern auch die grundrechtlichen Schutzgüter vor drittvermittelten Beeinträchtigungen zu schützen, um die Unversehrtheit der Schutzgüter zu bewahren. Dies ist eher eine folgerichtige Kosequenz aus der Grundrechtsgewährleistungsfunktion 116: Mit dieser Gewährleistungsfunktion hat sich der Staat mit seinem Gewaltmonopol sowie angesichts der Friedenspflicht der Bürger für den umfassenden und wirkungsvollen Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter einzusetzen. Obwohl sich die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die grundrechtlichen Schutzpflichten hauptsächlich auf die Schutzgüter Leben und Gesundheit konzentriert, ist die Schutzpflicht eher eine allgemeine Grundrechtsfunktion, da sie letztlich auf die objektive Gewährleistungspflicht des Staates zurückzuführen ist117. Es bleibt noch zu betonen, daß sich die Schutzpflichten in objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalten begründen, nicht aber aus der Schutzpflicht des Staates aus der Menschenwürdegarantie des Art. 1 S. 2 GG resultiert. Die ausdrücklich normierte Verpflichtung des Staates, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, soll als eine Verdeutlichtung für die Begründung der objektivrecht-
1989,1633 (1633 ff); H.H. Klein, DVB1. 1994,489 (489 ff); Starck, in: ders, Praxis der Verfassungsauslegung, S. 46 ff ; kritisch demgegenüner Schwab, Grundrechtsdogmatik, S. 213ff ; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 89 ff ; Schlink, EuGRZ 1984,457 (463 ff). 114
E. Klein, NJW 1989,1633 (1636). Vgl. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 63; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 94 ff. 115
116
Vgl. Badura, in: Achtes Atomrechts-Symposium, 1989, S. 227 ff. (238); ders., ThürVBl. 1992,73 (77); Murswiek, Die staatliche Verantwortung, 107 ff. 117 Badura, ThürVBl. 1992,73 (77); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 93 ff.
1. Kap.: Staatsaufgabenbestimmung im Verfassungsstaat des GG
47
liehen Schutzpflichten aus den Grundrechten herangezogen werden118. Wenn das Bundesverfassungsgericht im zweiten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch davon gesprochen hat, daß die Schutzpflicht für das ungeborene menschliche Leben ihren Grund in Art. 1 Abs. 1 GG habe, ihren „Gegenstand und - von ihm her - ihr Maß" durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt würden, so soll es derartig verstanden werden, daß Art. 1 Abs. 1 GG lediglich als Auslegungshilfe für die Bestimmung der konkreten Schutzpflicht zu begreifen ist. Welches Recht der Staat zu schützen hat und in welchem Umfang er Beeinträchtigungen durch Dritte zulassen darf, ergibt sich also nicht aus der Menschenwürdegarantie, sondern aus den konkreten in Frage stehenden Schutzgütern119. Die derartig aus den Grundrechten abgeleitete Schutzpflicht definiert dann die verfassungsrechtlich verpflichtende objektiv-rechtliche Staatsaufgabe, die das staatliche Tätigwerden erfordert 120. Sie betrifft alle drei Staatsfunktionen, vor allem aber den Gesetzgeber. Sie tritt nämlich in Erscheinung als Regelungspflicht des parlamentarischen Gesetzgebers, als Pflicht der Exekutive zum Vollzug schützender Gesetze und als Maßstab für die gerichtlichen Entscheidungen. Insoweit dienen die Grundrechtsbestimmungen mit dieser Schutzverpflichtungswirkung für den Staat gerade als Staatsaufgaben begründende Verfassungsnormen.
118 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 80. Während Art. 1 Abs. 1 GG in der früheren Rechtsprechung (BVerJGE 39,1 (41); 49,89 (142)) noch ausdrücklich erwähnt wurde, war spätestens seit dem Mülheim-Kärlich-Beschluß keine Ankoppelung der herangezogenen Schutzpflicht an die Norm des Art. 1 Abs. 1 GG mehr zu finden; vgl. BVerJGE 53, 30 (57); 56, 54 (73) m. w. N. So bleibt es bis zum zweiten Schwangerschaftsabbruch-Urteil, BVerJGE 88,203 (251). 119
So auch Hermes/Walther, NJW 1993,2337 (2339). Badura, ThürVBl. 1992,73 (Πχ Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 84,90. 120
Zweiter Teil
Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes im Grundgesetz und staatliche Schutzverpflichtung Zweites Kapitel
Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung des Umweltschutzes im Grundgesetz I. Vorbemerkung: Die Forderung nach Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz A. Aufruf zur Aufnahme einer verfassungsrechtlichen Umweltschutzbestimmung ins Grundgesetz Das seit Anfang der 70er Jahre stetig gewachsene Umweltbewußtsein der Öffentlichkeit hat nicht nur zu parteipolitischen Bemühungen und zu einer Reihe von umfangreichen Umweltschutzgesetzen geführt. Die Frage, auf welche Weise die Jurisprudenz einen Beitrag zum Umweltschutz leisten kann und muß, wurde von Anfing an auch aus verfassungsrechtlicher und -politischer Sicht betrachtet. Es wurde zuerst bei wissenschaftlichen Diskussionen angestrebt, die verfassungsrechtlichen Umweltschutzgedanken und -möglichkeiten mittels Verfassungsauslegung ins Gebäude des Grundgesetzes zu verorten und daraus Leitlinien für die staatlichen Umweltschutzaktivitäten herauszuziehen1. Die öffentliche Diskussion neigte aber von Anfang an dazu, das Fehlen einer ausdrücklichen Gewährleistung des Umweltschutzes im Grundgesetz als Defizit zu empfinden. Kaum abzustreiten ist immerhin, daß dem Parlamentarischen Rat als Verfassungsgesetzgeber des Grundgesetzes sich in Anbetracht der Erfordernisse des Wiederaufbaus des kriegzerstörten Deutschlands die ökologische Frage noch nicht stellte. Während in Art. 150 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung zumindest noch programmatisch die Denkmäler der Kunst, der Geschichte und der Natur sowie die Landschaft unter den Schutz des Staates gestellt wurden, findet die Umweltschutzthematik außer einzelnen gesetzlichen Kompetenzzuweisungen2 so gut wie keine Erwähnung im Grundgesetz von 1949. Die
1
Über die Ableitung der verfassungsrechtlichen mittelbaren Gewährleistungen des Umweltschutzes siehe unten im dritten Teil.
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
49
Forderung, das Bekenntnis zum Umweltschutz de constitutione ferenda ausdrücklich im Grundgesetz zu verankern, hatte daher für eine lange Zeit andauernde Konjunktur. Von verfassungspolitischen Gesichtspunkten her betrachtet, handelt es sich bei einer derartigen Forderung um die Überlegung der Notwendigkeit einer Verfassungsänderung. Verfassungsänderung im Verfassungsstaat wird regelmäßig dort gefordert, wo es einer teilweise „Erneuerung" des Verfassungstextes bedarf, was trotz etwaiger Weite und Offenheit seines Textes einer staatlichen oder gesellschaftlichen Konfliktlage nicht angemessen gerecht wird, was also nicht mehr oder nicht ganz der Zeitströmung oder den geänderten Verhältnissen entspricht3. Zufragen ist daher, welche Motive bzw. Gründe für eine Verfassungsänderung zugunsten des Umweltschutzes in der öffentlichen Diskussion sprechen. 1. Ein wesentliches Argument für eine Ergänzung des Grundgesetzes durch eine Umweltschutzbestimmung, abgesehen vorerst von der Art und dem Inhalt solcher Bestimmung, ging von der Unzulänglichkeit der Gewährleistung im Grundgesetz für die Umweltschutzbedürfhisse aus. Es wurde dargelegt, daß sich hinsichtlich der Umweltfragen erhebliche Gewährleistungslücken und Regelungsdefizite auf der verfassungsrechtliche Ebene zeigten. So hat z.B. die Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge" abschließend festgestellt, daß ein zufriedenstellender Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen angesichts der Bedrohungslage der ökologischen Krise im bis dahin geltenden Verfassungsrecht nicht gewährleistet war4. Es blieb eine „erheb-
2
Ursprünglich etwa im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auf den Gebieten Landwirtschaft (Art. 74 Nr. 17 GG) und Pflanzenschutz (Art. 74 Nr. 20 GG) sowie im Bereich der Rahmengesetzgebungftlr die Gebiete Jagdwesen, Naturschutz und Landschaftspflege (Art. 75 Nr. 3 GG) und Bodenverteilung, Raumordnung, Wasserhaushalt (Art. 75 Nr. 4 GG). Einhergehend mit der immer aktiver gewordenen Umweltpolitik in den 70er Jahren wurden noch zwei Erweiterungen der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeiten nämlich für den Tierschutz (Art. 74 Nr. 20 GG) und für die Bereiche Abfallbeseitigung, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Art. 74 Nr. 24 GG) - niedergelegt. Mittelbarer Bezug läßt sich außerdem auch in Art. 74 Nr. 11,1 la, 18,19,21-23 GG finden. 3
Wie Häberle zutreffend formuliert: „Das klassische Institut, um Neuem formalisiert und unmittelbar Eingang in die Verfassung zu eröffnen, ist die Verfassungsänderung, also die Änderung des Verfassungstextes in bestimmten Verfahren und meist mit qualifizierter Mehrheitals veigrößerte Konsensbasis (vgl. Art. 79 Abs. 2 GG). Alle Verfassungsstaaten mit Verfassungsurkunde kennen diese Möglichkeit, dem Wandel der Zeit auch textlich Rechnung zu tragen, mögen sich die Voraussetzungen im einzelnen (etwa die Größe der Mehrheit) unterscheiden."; Häberle, Zeit und Verfassungskultur, in: Anton Peise / Armin Möhler (Hrsg.), Die Zeit, München 1983, S. 289 ff. (307); siehe auch ders, ZfP 1992,16 (16f.). Vgl. übrigens Hesse, Grundzüge, Rn. 38 ff.; Stern, Staatsrecht, I 2 , S. 100,160 ff. 4
Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 142.
4 Tsai
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
liehe Schutzlücke, namentlich hinsichtlich des Lebens- und Gesundheitsschutzes der Nachwelt (künftige Generationen), des Schutzes von öffentlichem Land, öffentlichen Gewässern, Ökosystemen, der Artenvielfalt und des Klimas, hinsichtlich globaler Faktoren, der Ressourcenbewirtschaftung, der Erholung und ästhetischer Werte."5 Gewiß, daß solche materiell-rechtlichen Schutzlücken auf verfassungsrechtlicher Ebene nicht notwendig zu einer unbefriedigenden Umweltschutzleistung des Staates führen. Wie oben schon dargelegt6, ist der Staat des Grundgesetzes ohnehin imstande, im Rahmen der Kompetenz- und Verfahrensordnung gemeinwohlorientierte Aufgaben - einschließlich der Umweltschutzaufgabe - wahrzunehmen. Insoweit bedarf er auch keiner ausdrücklichen Verfassungsanweisung oder -rechtfertigung. Die Umweltschutzbedürfhisse sind daher durchaus schon im Prozeß politischen Handelns und Entscheidens zu erfüllen. Dabei haben die politischen Entscheidungsorgane also ein thematisches „Zugriffsrecht" im Umweltschutzbereich. Das Problem ist allerdings, daß staatliche Schutzmaßnahmen im Umweltbereich sowohl auf der gesetzlichen Ebene als auch auf der vollziehenden Ebene - von einem Vollzugsdefizit im Umweltschutzbereich ist seit langem die Rede7 - vielfaltig als ungenügend für einen wirksamen Umweltschutz empfunden und beklagt werden. Unter diesen Umstände konnte nur durch eine ausdrückliche Verfassungsforderung zum Umweltschutz, die die politische Zielsetzung gewissermaßen einschränken kann, die Beseitigung solcher bisher unter derfreien Disposition der politischen Entscheidungen stehenden Schutzlücken verfassungsrechtlich gewährleistet werden8. Eine derartige Verfassungsänderung kann also die Verpflichtung, nicht nur das Dürfen, des Staates zum Umweltschutz herbeiführen 9. 2. Vom Politischen her betrachtet ist eine ausdrückliche Erwähnung des Umweltschutzgedankens in der Verfassung auch erwünscht. Das liegt an der Erwartung der Impuls-, der Integrations- und der Edukationsfunktion einer derartigen Verfassungsvorschrift für die politische Machtausübung und auch das Gemeinwesen überhaupt10. Die Befürworter, die trotz der Skepsis gegenüber der oben beschriebenen Regelungsdefizite bzw. Gewährleistungslücke des Grundgesetzes für den Umweltschutz auch eine Verfassungsänderung vertreten, sehen nämlich die Notwendigkeit einer derartigen Verfassungsänderung in der anregen-
5 6 7 8 9
Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 142. Siehe oben in 1. Kapitel I. Vgl. Hoppe, in: WDStRL 38 (1980), 214 (216 ff) m. w. N. Bericht der Sachverständigenskommision, Rn. 143.
Vgl. Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (547 ff). Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 60; H H. Klein, DVB1. 1991,729 (733); Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 32 ff; ders., DVB1. 1988,305 (315); Soell, NuR 1985,205 (212). 10
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
51
den Kraft, die die Argumente des Umweltschutzes im öffentlichen Prozeß der Rechtsfindung verstärkt. Wenn Umweltschutz grundsätzlich als unausweichliche Aufgabe längst im politischen sowie gesellschaftlichen Bereich - obwohl die Meinungen im Detail nach wie vor gespalten sind - nicht mehr umstritten ist, dann ist es nur folgerichtig, diese Konsensbasis durch ausdrückliche Normierung in der Verfassung widerzuspiegeln11. Sie könne, so wurde argumentiert, nicht nur ein stärker konzeptionelles gesamthaftes Vorgehen im Umweltschutz beibringen12 und die langfristige Verantwortung des Staates für die natürlichen Lebensgrundlagen verstärken, sondern auch eine verstärkte Identifikation des Bürgers, vor allem auch der jungen Generation mit der Verfassung, erzeugen13. Gelte der Umweltschutz als die unübersehbare Herausforderung unserer Zeit, sei der Umweltschutzgedanke im öffentlichen Bewußtsein durchgesetzt, dann müsse er auch in der Verfassung eindeutig wiedergegeben sein. „Die Integrationsfunktion der Verfassung kann nur dann effektiv sein, wenn sich die Bürger mit ihren entscheidenden Anliegen in ihr wiedererkennen könnten"14. Wenn die Übereinstimmung über die Notwendigkeit des Umweltschutzes mit der Zeit schon zur Verfassungswirklichkeit gehöre und wenn man heute Umweltschutzsünden weithin als solche erkennt und brandmarke, so sei es nur folgerichtig, den Verfassungstext im Sinne dieser schon vorhandenen Überzeugung zu ergänzen, um künftig auch in diesem Punkt zum Einklang von Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit zu gelangen15. Schließlich sei es Aufgabe der Verfassungspolitik und nicht der Gesetzgebungspolitik, auf den grundlegenden ökologischen Strukturwandel zu reagieren und den Menschen der lebenden und der zukünftigen Generationen eine Perspektive zur Lösung dieser elementaren Aufgabe zu vermitteln16. Eine derartige Verfassungsgewährleistung könne darüber hinaus durch ihre verfassungtextliche Verortung im Grundgesetz auch eine eindeutigere, im politschen Abwägungs- und Entscheidungsprozeß zu berücksichtigende
11 Vgl. Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (551 f.). So hat Denninger auch gedacht: die Verfassung gilt als ein Dokument des jeweils erreichten Standes existenzbezogener Selbstreflexion einer demokratischen Gesellschaft. Dieses Sich-Rechenschaft-Geben über das gemeinsam für wichtig Gehaltene ist zugleich auch ein Integrationsakt von großer legitiatorischer Kraft; in: Stenographischer Bericht, S. 5. 12 Die Erkenntnis, daß Umweltschutz nicht allein Aufgabe des Staates ist, sondern auch Aufgabe der Gesellschaft, des einzelnen Bürgers sein muß, ist politisch dann leichter zu vermitteln, wenn die Verantwortung des Staates ausdrücklich in der Verfassung festlegt ist, Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (552). Insoweit ist eine Erziehungswirkung ersichtlich. 13 14
Vgl. Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (551 f.).
Sommermann, Der Staat 1993,430 (440). Lerche, Verfassungsnorm, Verfassungswirklichkeit, Verfassungswandel, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hrsg.), Verfassungsdiskussion in Deutschland, S. 15 ff. (19). 16 So vonMutius, WiVerw 1987, 51 (55). 15
4*
52
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Position erlangen; hierbei ist also eine politische Impulswirkung zu erwarten17. Dies könnte vor allem verhindern, daß die zugunsten des Umweltschutzes zu erlassenden Maßnahmen nicht immer voreilig an kurzfristigen Interessen, wie etwa ökonomischen Interessen, scheitern18. Sie könne also durch die Entziehimg der politischen Auseinandersetzungsmöglichkeit bis zu einem bestimmten Grad eine nicht unerhebliche Minimumssicherung für staatliche Umweltschutzaktivitäten erzeugen. Der Aufnahme einer ausdrücklichen Umweltschutzbestimmimg, ungeachtet der Ausformulierung im einzelnen, könnten also insgesamt bedeutsame positive Auswirkungen politischer Art zukommen19. In diesem Zusammenhang bleibt noch anzumerken, daß die Verankerung einer Umweltschutzbestimmung in der Verfassung eine sichtbare Tendenz der Entwicklung in Verfassungsstaaten ist. Schließlich ist Schutz der natürlichen Umwelt eine vordringliche Aufgabe der Menschheit auf der Erde überhaupt. In Deutschland haben die Bundesländer auf die Umweltschutzfrage schneller auf verfassungsrechtlicher Ebene reagiert als der Bund. Seit Mitte der 70er Jahre wurden in einer Reihe von Fällen Bestimmungen über den Umweltschutz in die Verfassungen der Länder aufgenommen20. Darüber hinaus zeigen in jüngerer Vergangenheit entstandene Verfassungen dritter Staaten westlicher Prägung auch erne deutliche Tendenz zur verfassungsrechtlichen Verankerung eines umfassen-
17
Zum erwarteten „Impulseffekt" insbesondere Dellmann, DÖV 1975, 588 (592). Ähnlich auch Steiger, Mensch und Umwelt, S. 71. 18 Bull, NVwZ, 1989,801 (806). 19 Vgl. auch Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 166. 20 Art. 86 Verf. Baden-Württemberg ( vgl. Gesetz zur Änderung der Verfassung des Landes Baden-Württenberg vom 10.2.1976, GBl. 1976, S. 98). Seitdem haben Bayern durch Ergänzung des Art. 141 Abs. 3 (vgl. Fünftes Gesetz zur Änderung der Verfassung des Freistaates Bayern vom 20.6.1984, GVB1.1984, S. 223), das Saarland durch einen neuen Art. 59 a (vgl. Gesetz Nr. 1182 zur Änderung der Verfassung des Saarlandes vom 25.1.1985, S. 105f.), Nordrhein-Westfalen durch Einfügung eines Art. 29 a (vgl. Gesetz zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15.3.1985, GVB1. 1985, S. 225), Rheinland-Pfalz durch Verabschiedung des Art. 73 a (Landesgesetz Rheinland-Pfalz zur Änderung der Landesverfassung - Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen vom 19.11.1985, GVB1.1985, S. 260), Bremen durch ein Gesetz zur Aufnahme des Umweltschutzes (Gesetz zur Aufnahme des Umweltschutzes in die Landesverfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 9.12.1986, BremGBl., S. 283) und Hamburg durch Änderung der Präambel (Gesetz zur Änderung der Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 27.6.1986, GVB1.1986, S. 167) ebenfalls ihre Verfassungen mit dem Umweltschutzziel geändert. In den neu gegebenen Verfassungen der neuen Bundesländer lassen sich auch ohne Ausnahme Bestimmungen über den Umweltschutz finden: Art. 21a der Verfassung von Berlin (1.9.1994), Art. 39 Abs. 1 der Verfassung des Landes Brandenburg (20.8.1992), Art. 12 der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern (23.5.1993), Art. 35 der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt, Art. 7 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, Art. 31,32 der Verfassung des Freistaats Thüringen (25.10.1993).
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
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den staatlichen Umweltschutzes21. Auch auf europäischer Ebene kann der Umweltschutz nach der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1987 verankert angesehen werden. In dem Vertrag von Maastricht vom 7.2.1992 über die Gründung einer Europäischen Union verpflichtet sich die Gemeinschaft in Art. 130r überdies ausdrücklich, eine Umweltpolitik zu betreiben.
B. Denkbare Modelle Zur Aufnahme einer ausdrücklichen Verfassungsbestimmung zum Umweltschutz in das Grundgesetz werden aus rechtsvergleichender und historischer Sicht hauptsächlich zwei Ansatzpunkte kontrovers diskutiert, nämlich der subjektivrechtliche Ansatz und der objektivrechtliche Ansatz. 1. Subjektiv-rechtliches Modell Beim subjektivrechtlichen Ansatz handelt es sich um das Modell von Grundrechtsverbürgungen. Erwogen wird die Einführung eines selbständigen Grundrechts hinsichtlich des Umweltschutzes, sei es in Form des status negativus libertatis, sei es in Form des Leistungsgrundrechts des status positivus socialis. Kernpunkt dieses Ansatzes liegt darin, daß eine klagbare, individualrechtliche Anspruchsposition auf Schutz der natürlichen Umwelt bzw. auf eine „menschenwürdige" oder „saubere" Umwelt einzuräumen versucht wird22. In den geläufigen Grundrechtsbestand und das vorherrschende Grundrechtsverständnis eingegliedert, läßt sich ein derartiges Grundrecht auf Umwelt(schutz) unter drei Bedeutungsmöglichkeiten verstehen, nämlich als Abwehrrecht23, Schutzrecht24 und Leistungsrecht25. Nach der abwehrrechtlichen Konzeption 21 Z.B. die Verfassung Griechenlands (1975), Portugals (1976), Spaniens (1978) und der Schweiz und Niederlande (1983). Vgl. auch Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, S. 76. 22 Bereits im Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 wird die Überprüfung des Projekts eines Umweltgrundrechts angekündigt (BT-Drs. VI/2710, S. 9 f.). Die Diskussion in der Literatur vgl. Dellmann, DÖV 1975,588 (588 ff.); Benda, UPR 1982,241 (242 ff.); H Huber, in: FS H. Klecatsky, 1980, S. 353 ff. (367 ff.); H H Klein, FS W. Weber, 1974, S. 643 ff. (643 ff.); Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 9 f., 31 ff.; Karpen, in: Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, S. 9 ff.; Kloepfer, DVB1.1988,305 (314 f.); Soell, NuR 1985,205 (209 ff.). 23
Über die Konzeption des Umweltgrundrechts als Abwehrrecht vgl. Dellmann, DÖV 1975,58 (590 f.); Lücke, DÖV 1976,289 (291 f.); Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 15 f. 24
Vgl. etwa Steiger, Mensch und Umwelt, S. 43 ff.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
macht ein derartiges Grundrecht die Abwehr schädlicher Umweltauswirkungen zu Lasten des Grundrechtsträgers zum Gegenstand26. Die zu gewährleistende „Freiheit" soll daher das Recht auf Umwelt als Bedingung der Existenz sein. Solange die grundrechtliche Drittwirkung nicht anerkannt ist, kann diese Art Abwehrrecht nur gegenüber von Hoheitsträgern selbst bewirkten Beeinträchtigungen gegeben sein. Betrachtet man das Umweltgrundrecht als Schutzrecht, bedeutet dies dann ein Recht auf staatliches, insbesondere legislatives, Tätigwerden, um die Grundrechtsberechtigten vor Umweltgefährdungen von nichtstaatlicher Seite zu schützen. Das Grundrecht auf Umweltschutz als ein umweltbezogenes Leistungsrecht, unter welchem ein Recht auf Gewährung von staatlichen Leistungen i.e.S.27 zu verstehen ist, ist als Freiheitsvoraussetzungsschutz zu begreifen 28; es gehört auch zu der Kategorie von sozialen Grundrechten29. Ein derartiger Freiheitsvoraussetzungsschutz soll also durch die Gewährleistung einer „sauberen" bzw. „menschenwürdigen" Umwelt ein menschliches Dasein frei von Lebens-, Gesundheits- oder Eigentumsgefährdungen ermöglichen. Zu welcher Art das hier vorgestellte Umweltgrundrecht auch immer gehört, besteht vom Inhaltlichen her gesehen eine Gemeinsamkeit: Anders als die klassischefreiheitliche Grundrechtsgewährleistung, die individuale Interessen als Schutzgut hat, muß ein derartiges Grundrecht auf Umweltschutz wegen des Gemeinwohlcharakters des Umweltschutzes notwendigerweise die Allgemeininteressen zum grundrechtlichen Schutzgut machen. Mit anderen Worten, es
25
Über die Konzeption des Umweltgrundrechts als Leistungsrecht vgl. Dellmann, DÖV 1975,58 (590 f.) - als soziales Grundrecht bezeichnet; 77. 77. Klein, in: FS W. Weber, 1974, S. 643 ff. (648 ff); Scholz, JuS 1976, 232 (234); Steiger, Mensch und Umwelt, S. 60 ff; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 23 ff. 26
So etwa Lücke, DÖV 1976,289 (289 ff). Nämlich solche Gegebenheiten, die bestimmte, insbesondere auf soziale Lebensgüter bezogene sozialstaatliche Aktivitäten zum Gegenstand haben, Ansprüche auf andersartige Staatshandlungen, vor allem für Schutzansprüche, werden ausgegrenzt; vgl. nur Kloepfer, Grundrechte als Entstehungssicherung und Bestandschutz, S. 3; ders., Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 23 f; Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 112, Rn. 41,66; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 61; Suhr, EuGRZ 1984,529 (537 ff). 28 Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 23 f.; ders., in: Umweltstaat als Zukunft, S. 203 f.; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 37 ff 29 Nach herkömmlichem Verständnis haben die sozialen Grundrechte eben die Gewährleistung und Sicherung der sozialen Lebensgüter, mit denen die Verwirklichung der Grundrechte erst möglich ist, zum Gegenstand. Dieser Gegenstand soll also vom Staat durch positive Leistungen hergestellt und gesichert werden, sowie die Leistungsrechte i.e.S.. Über die sozialen Grundrechte vgl. Badura, Der Staat 1975, 17 (18 ff); Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im Verfassungsgeftlge, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 146 ff. (146 ff.). 27
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
55
werden bei einem derartigen Grundrecht nicht Einzelinteressen, sondern Allgemeininteressen zum subjektiven Recht des einzelnen erklärt30. Es ist daher zutreffend als „gemeinwohlgerichtetes Grundrecht" bezeichnet worden31. Die Diskussion über die Aufnahme einer Umweltschutzbestimmung fing in Deutschland mit dem Grundrechts-Modell an. Inzwischen wurde aber dieses Modell nur noch von der politischen Partei der GRÜNEN vertreten. Ihre Grundgedanken gehen immer noch davon aus, daß dadurch, daß den Bürgern konkrete individuelle Rechte eingeräumt werden, die einzelnen am Schutz der Umwelt mitwirken und ihrer Verantwortung für die Zukunft des Planeten gerecht werden können.
2. Objektiv-rechtliches Modell Für die Konstituierung von Gütern, die nicht oder nicht ausschließlich der Individualsphäre zuordenbar sind, sondern die typisch im öffentlichen Interesse gelegen und daher dem Staat zum Schutz überantwortet sind, bieten sich objektive Verfassungsgestaltungen an. Kernpunkt dabei ist, daß sich eine derartige Verfassungsbestimmung ausschließlich an die öffentliche Gewaltrichtenund sie als solche keine subjektiven Rechte gegen den Staat oder gar gegen andere begründen will. Da unter der Geltung des Grundgesetzes ein unverbindlicher politischer Programmsatz in bezug auf die staatlichen Tätigkeiten ausgeschlossen ist32, bleibt nur die Form einer Staatszielbestimmung33 sowie die eines Gesetzgebungsauftrags34 denkbar. Für das Umweltschutzbedürfhis ist die Form einer Staatszielbestimmung in Deutschland das geläufigste Instrument.
30
Brohm, JZ 1994,213 (216).
31
Brohm, JZ 1994,213 (216). Siehe oben in 1. Kapitel Π A
32 33
Siehe oben in 1. Kapitel ΠΒ 1. Zu der Form der Staatszielbestimmung ist auch das soziale Grundrecht zu zählen, wenn bei diesem sozialen Grundrecht keine subjektive Rechtsgrundlage, sondern nur objektive Verpflichtung an den Staat anerkannt ist. Die sozialen Grundrechte ähneln strukturell Staatszielbestimmungen. Vgl. Böckenförde, Die sozialen Grundrechte im VerfassungsgefÜge, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 146 ff. (155 ff.). Wenn das soziale Grundrecht ohne subjektive Rechtsgrundlage überhaupt zu kennzeichen versucht wird, so läßt sich sagen: Die Differenz von sozialen Grundrechten zu klassischen Grundrechten ist, daß ein subjektiver Anspruch nicht gewährleistet ist, während die Differenz zu,feinen" Staatszielbestimmungen ist, daß mit der Ausweisung als Grundrecht die individuelle Klagemöglichkeit verbunden, zumindest nicht gänzlich auszuschließen ist. Mit Staatszielbestimmungen teilen daher die sozialen Grundrechte die inhaltliche Allgemeinheit. 34
Siehe oben in 1. Kapitel Π Β 2.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
C. Argumente gegen die verfassungsrechtliche einer Umweltschutzklausel
Verankerung
In der mehr als 20 Jahre lang andauernden Diskussion in Deutschland über die Aufrahme einer Umweltschutzbestimmung in die Bundesverfassung hat sich gezeigt, daß die Stellungsnahmen der Staatsrechtslehrer - anders als in der parteipolitischen Diskussion - ganz überwiegend skeptisch bis warnend hinsichtlich einer derartigen Verfassungsänderung zur Aufnahme der Umweltschutzbestimmung ausgefallen waren35. Um die nun schon in Kraft getretene Umweltschutzklausel näher im Licht ihrer Entstehungsgeschichte zu erfassen, lohnt es sich, einen Blick auf die damaligen Gegenargumente insbesondere in der fachlichen Literatur zu werfen. 1. Argumente gegen das Grundrechts-Modell Das hauptsächliche Gegenargument für die verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes anhand des Grundrechtsmodells lag vor allem in der Unvereinbarkeit eines derartigen Umweltgrundrechts mit dem grundgesetzlichen Gewährleistungssystem36 sowie in der Schwierigkeit der Abgrenzung der zuzuerkennenden subjektiven Rechte37. Ein derartiges Umweltgrundrecht müßte notwendigerweise die Sicherung bzw. die Gewährleistung der natürlichen Umwelt „des einzelnen" zum Gegenstand machen, um die theoretische Grundlage eines subjektiven Rechts zu begründen, woraus auch erst die Reichweite des Eingriffsverbots bestimmt werden könnte. Ob die natürliche Umwelt bzw. einzelne Umweltgüter der Individualsphäre und der hieran anknüpfenden individuellen Erzwingbarkeit zuzuordnen sind, ist jedoch sehrfraglich 38.Schließlich können viele Umweltgüter, wie etwa Wasser, Luft, Landschaft, keine Individualgüter sein. Demnach ist die subjektive Betroffenheit, die für einen subjektiven Anspruch unentbehrlich ist, auch schwerlich zu bestimmen. Abgesehen
35
H.H. Klein, in: FS W. Weber, S. 643 ff. (660); Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschütz, S. 38; Benda, UPR 1982, 244; Breuer, in: v. Münch (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 34; Sendler, JuS 1983,258; Rupp y DVB1. 1985,990 (990 ff); Soell, NuR 1985, 205 (212 f.); Rauschning, DÖV 1986, 498 ff; Befürwortend etwa z.B. Steiger, Mensch und Umwelt, S. 73 ff ; Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 130 ff. 36 Vgl. Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 31; H H. Klein, in: FS W. Weber, S. 643; Umweltgutachten 1978 des Rates von Sachverständigenf für Umweltfragen, BT-Drs. 8/1938 v. 19.9.1978, Abschn. 1945. 37 Über die wesentlichen Argumente, die von wissenschaftlicher Seite gegen die Aufnahme eines Umweltschutzgrundrechts in das Grundgesetz vorgebracht wurden, siehe die Zusammenfassung von Rauschning, WDStRL 38 (1980), 178 (Fn. 31). 38 Vgl. Kloepfer, DVB1. 1988,305 (314 f.).
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
57
davon, ist noch folgendes zu bemerken: Wenn ein Umweltgrundrecht als Abwehrrecht vor staatlichen Umweltbeeinträchtigungen konzipiert wird, scheint es weitgehend ins Leere zu gehen, da umweltbelastende Vorhaben ersichtlich meist von Privaten betrieben werden, was dazu führt, daß ein Grundrecht auf Umweltschutz als ein Abwehrrecht vor staatlichen Beeinträchtigungen nur selten geltend gemacht werden kann. Allenfalls käme ein derartiger grundrechtlicher Abwehranspruch nachteilig Betroffener nur gegen die regelmäßig erforderliche staatliche Zulassung des jeweiligen Vorhabens (Genehmigung, Bewilligung, Erlaubnis, Planfeststellung) in Betracht, wenn in jener hoheitlichen Zulassung gegenüber Dritten ein Grundrechtseingriff liegt39. Auch wenn eine solche Situation vorliegt, könnten solche staatlichen Eingriffe auch anhand der bestehenden Grundrechtsgewährleistungen, wie etwa des Rechts auf Leben und Gesundheit, angegriffen werden. Was das Umweltgrundrecht als einklagbares Schutzrecht oder Leistungsrecht anbetrifft, ist daraufhinzuweisen, daß ein derartiges subjektives Recht entweder wegen der Notwendigkeit der gesetzlichen Ausformung unvollziehbar ist40 oder das Gewaltenteilungsprinzip erheblich bedroht werden könnte, wenn ein einklagbare Leistungsansprüche vermittelndes Umweltgrundrecht dem Parlament Entscheidungsräume und Gestaltungsräume entzieht und diese auf die Rechtsprechung verlagert. Zum Schutz der Umwelt sind stets positive Handlungen des Staates - genauer gesagt also der Legislative und Exekutive - im Hinblick auf Sicherung der Gemeinwohlinteressen, nicht oder nicht nur die individuellen Interessen, erforderlich. Ein einklagbares Umweltgrundrecht geht aber von einer individueller Position aus. Dies hat zur Folge, daß ein derartiges Umweltgrundrecht auf Schutz oder Leistung „utopisch wäre und unerfüllbare Hoflhungen weckte"41.
2. Argumente gegen das Staatszielbestimmungs-Modell Die Stellungnahmen gegen die Aufnahme einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz gingen hauptsächlich davon aus, daß eine derartige Verfassungsänderung unnötig, ja sogar in bezug auf das grundgesetzliche System schädlich wäre.
39
Vgl. Hofmann, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), 2. Aufl., HdbVerfR, § 21, Rn. 31. Unter diesem Umstand wirkt es in der Tat nicht anders als ein ohne subjektive Einklagkarkeit enthaltendes soziales Grundrecht. Vgl. auch Karpen, in: Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, S. 9 ff. (18 f.). 40
41
Rupp, DVB1. 1985,990 (990).
58
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
a) Es gebe deshalb keine Notwendigkeit für eine derartige Verfassungsbestimmung, weü keine „Regelungsdefizite" oder „Gewährleistungslücken" im Grundgesetz bestünden42. Im Hinblick auf die Umweltschutzbedürfnisse sei der Staat immerhin schon in der Lage, die erwarteten Tätigkeiten zum Umweltschutz wahrzunehmen, ohne verfassungsrechtlich inhaltlich ermächtigt werden zu müssen. Dem Staat des Grundgesetzes sei keine Aufgabe verwehrt, die dem Gemeinwohl diene43. Durch materielle Verfassungsvorschriften die staatlichen Tätigkeiten zu bestimmen, sei ohnehin dem Grundgesetz mit einigen Ausnahmen systematischfremd 44.Ganz abgesehen davon, werde das Umweltschutzbedürfhis auch schon mittels Verfassungsauslegung von dem vorhandenen Verfassungsrecht, also hauptsächlich den grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates für Leben, Gesundheit und Eigentum, gewährleistet. Die erwünschte staatliche Verpflichtung zum Umweltschutz könnte demnach auch zum großen Teil in der bis dahin geltenden Fassung des Grundgesetzes erfüllbar sein45. Ersichtlich sei auch, daß trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Umweltschutzbestimmung in der Verfassung schon eine strenge Umweltschutzgesetzgebung bestehe46. Unter solchen Umständen ermangele das Vorhaben der Aufnahme einer Staatszielbestimmung in die Verfassung daher des für Verfassungsergänzungen erforderlichen Kriteriums des „zwingenden Bedürfnisses"47. b) Die Gegner der Aufnahme einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz in das Grundgesetz gingen inhaltlich überwiegend von Überlegungen über Verfassungsfunktion und Normativität des Grundgesetzes aus48. Gewarnt wurde also bei einem derartigen Vorhaben vor einer zu weit gehenden „Verrechtlichung" der Politik. Mit einer höchstens allgemein und unpräzise gefaßten Umweltschutzklausel in der Verfassung wäre die Möglichkeit für die rechtsprechende Gewalt eröffnet, im Streitfall unter Berufung auf diesen Grundsatz umweltpolitische Leitentscheidungen selbst zu treffen oder den Gesetzgeber dazu
42
Vgl. nur Murswiek, ZRP 1988,14 (15); Rauschning, DÖV 1986,489 (489ff); Stern, NWVB1.1988,1 (3) 43 Badura, ThürVBl. 1992,73 (74); Rauschning, DÖV 1986,489 (489). 44 Rauschning, DÖV 1986,489 (489 ff). 45 So etwa Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, S. 50 f.; Michel, NuR 1988, 272 (281); Storm, Umweltrecht, S. 40; Rauschning, DÖV 1989,489 (489 f.); Rupp, DVB1. 1985,990 (990). 46 Vgl. Sommermann, Der Staat 1993,431 (440). 47
Michel, NuR 1988,272 (281). Bei dem Problem der Staatszielbestimmungen geht es also letzten Endes um die grundsätzliche Frage der Bedeutung und Funktion der Verfassung; dazu Badura, ThürVBl. 1992, 73 (74) unter Bezugnahme auf Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, jetzt in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 1990, S. 313 ff. 48
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
59
zu zwingen49. Diese Möglichkeit der tatsächlichen Verlagerung der politischen Entscheidungsgewalt von der Legislative auf die Judikative, vornehmlich also das Bundesverfassungsgericht, könnte insbesondere von der Opposition in einer politisch unzufriedenen Situation ausgenutzt werden50. Am Ende verschiebe jede Anreicherung des Verfassungsrechts mit Staatszielbestimmungen „den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat ein Stück weiter zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat"51. Das wäre aber mit dem Gewaltenteilungsgedanken und vor allem dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes schwerlich zu vereinbaren. c) Mit der Form einer Staatszielbestimmung kann sich zwar eine gewisse lenkende, anregende und dem Umweltschutzziel hinzusteuernde Kraft für die Politik entfalten. Eine derartige Staatszielbestimmung entbehrt aber wegen der weitgefaßten Formulierung notgedrungen der Kriterien für die unmittelbare Anwendbarkeit und Durchsetzbarkeit. Einerseits, wenn man die gerade beschriebene, unerwünschte Verrechtlichung der Politik vermeiden will, müßte man dann dem Gesetzgeber die erforderliche politische Gestaltungsfreiheit überlassen. Dies aber führt andererseits zwangsläufig dazu, daß die Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit einer derartigen Staatszielbestimmung nur schwach bliebe. Sie nähert sich somit dann eher einem Programmsatz bzw. einer Deklaration. Die Aufnahme einer derartigen Vorschrift ins Grundgesetz könnte aber die Illusion hervorrufen, es sei zum Schutz unserer gefährdeten Umwelt bereits wesentliches geleistet. Es wurde unter diesen Umständen von einer „Flucht in die Staatszielbestimmung" oder einem „Ruhekissen-Effekt" für die politisch Verantwortlichen gesprochen52. Das eigentliche Problem würde nicht gelöst, sondern nur wiederholt53. Schließlich sei daran zu erinnern, daß eine Globalregelung der Umweltprobleme auf hohem Abstraktionsniveau dem Politiker kaum Entscheidungshilfen bieten könnte54. d) Mit der Aufnahme einer Umweltschutzbestimmung ins Grundgesetz könnte das Umweltschutzbedürfhis unverhältnismäßig oder verabsolutiert hervorgehoben werden; um diese Folge zu vermeiden, käme es daher sehr wahrscheinlich zur Aufnahme weiterer Staatsziele und Staatsaufgaben ins Grundgesetz55.
49
Vgl. Badura, ThürVBl. 1992, 73 (74); Hoppe/Bleckmann, Murswiek, ZRP 1988,14 (17); Rupp, DVB1. 1985,990 (991). 50
Umweltrecht, S. 51;
Vgl. Rauschning, DÖV 1986,489 (495). Η. H. Klein, DVB1.1991 729 (734ff.); ders., in: FAZ, Nr. 89, v. 14.4.1992, S. 9 f. Vgl. auch Denninger Stenographischer Bericht, S. 8 ff.; Wassermann, Recht und Politik 1992,69 (73 f.). 52 Steiger, Mensch und Umwelt, S. 71. 53 So Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (535). 54 So Soell, NuR 1985,205 (212). 55 Rupp, DVB1. 1985,990 (991). 51
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Ob dies mit dem Stil des Grundgesetzes zu vereinbaren wäre, ist sehr fraglich. Eine derartige Tendenz würde auch zwangsläufig zu einer erheblichen Relativierung der Freiheitsrechte führen, da sämtliche Staatszielbestimmungen sowie Staatsaufgabennormen in die verfassungsrechtlichen Abwägungsprozesse einbezogen werden müssen, welche auch als Schranke der Freiheiten instrumentalisiert werden könnten56. II. Die verfassungspolitische Entwicklungsphase vor der Wiedervereinigung Nach dem Inhalt der verfassungspolitischen Diskussion der Aufnahme einer Verfassungsvorschrift über den Umweltschutz vor der deutschen Wiedervereinigung lassen sich vier Phasen unterscheiden57. A. „Recht auf eine menschenwürdige Umwelt" In Deutschland war das Thema der Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz in den 70er Jahren durch eine allgemeine umweltpolitische Aufbruchstimmung in der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt in die politische Arena gelangt58. In dem Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 war auch erstmals eine Überprüfüng des Vorhabens zur Verankerung eines „Rechts auf menschenwürdige Umwelt" im Grundgesetz vorgesehen59: „Maßstab jeder Umweltpolitik ist der Schutz der Würde des Menschen, die bedroht ist, wenn seine Gesundheit und sein Wohlbefinden jetzt oder in Zukunft gefährdet werden. Unser Grundgesetz gewährt weder ein ausdrücklich festgelegtes Grundrecht auf eine menschenwürdige Umwelt noch enthält der Grundrechtskatalog einen Anspruch auf Erhaltung der Gesundheit. Daher gilt es, auch an Hand ausländischer Vorbilder zu prüfen, wie dem Bürger ein Anspruch gegenüber dem Staat gewährt werden kann, der diesen verpflichtet, gegen die Verursacher schwerer Umweltschäden vorzugehen".
56
Vgl. Sommermann, Der Staat 1993,431 (440). So auch Michel, Staatszwecke, S. 269 ff. m.w.N.; auch ders., NuR 1988,272 (273 ff.); Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 34. Vgl. auch Bock, Umweltschutz, S. 53 ff. 58 Vgl.Müller, Innenwelt der Umweltpolitik, 1986, S. 51ff. Zu bemerken bleibt noch, daß die FDP die erste politische Partei war, die zur Förderung des Umweltschutzgedankens nach einer Ergänzung des Grundgesetzes durch ein Umweltgrundrecht fordert. In ihren Freiburger Thesen von 1971 hat sie sich nämlich schon für eine derartige Verfassungsänderung zugunsten des Umweltschutzes ausgesprochen. 59 Umweltprogramm der Bundesregierung vom 14.10.1971, BT-Drs. 6/2710, S. 9. 57
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
61
In der Regierungserklärung vom 18.1.1973 hat Bundeskanzler Brandt ein derartiges Vorhaben noch einmal bekräftigt 60. Diese Regierungserklärungen bildeten den Ausgangspunkt einer umfangreichen und vor allem immer wieder von der Regierung betriebenen Diskussion über die verfassungspolitische Wünschbarkeit und Angemessenheit eines Grundrechts auf Umwelt. In der kommenden Zeit war dann eine Reihe unterschiedlicher Vorschläge und Entwürfe für die Aufnahme eines Umweltgrundrechts oder einer entsprechenden Staatszielbestimmung in die Verfassung vorgelegt worden61. Im Jahr 1974 hatten sich der Arbeitskreis für Umweltrecht in seinem Bericht62 und der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen in seinem Gutachten63 für die Einführung eines Grundrechts auf menschenwürdige Umwelt ausgesprochen. Die Bemühungen dieser Phase blieben aber erfolglos, weil die Meinungen zwischen den dalmaligen im Bundestag vertretenen Parteien noch sehr voneinander abwichen. Auch die regierende Partei SPD verhielt sich dazu eher zurückhaltend. Darüber hinaus war die politische Vorstellung über ein derartiges Umweltgrundrecht noch recht diffus und schwach64.
B. Abschied vom Umweltgrundrecht Nach dem Regierungswechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt war die Diskussion über die Verfassungsänderung zugunsten des Umweltschutzes deutlich umorientiert. Die Regierungserklärungen von Bundeskanzler Schmidt seit 1974 enthielten im Gegensatz zur bisherigen Entwicklung kein Wort mehr über den Umweltschutz und ein Umweltgrundrecht. Der Umweltbericht der Bundesregierung 1976 sah auch nur noch die verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes in der Form einer Staatszielbestimmung vor65. Die Konzeption der Staatszielbestimmung war damit in den Vordergrund gerückt. Dementsprechend empfahl dann der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen auch eine objektiv-rechtliche Verankerung des Umweltschutzes in Form einer Staatsaufgabe in seinem Gutachten von 197866. In der Regierungserklärung vom
60 „Die Menschen insgesamt haben ein elementares Recht auf eine menschenwürdige Umwelt, dem Verfassungsrang zukommen sollte"; Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Deutschen Bundestag vom 18.1.1973, zitiert in: Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 35. 61 Ausführliche Nachweise siehe Soell, NuR 1985,205 fT. 62 Beschluß vom 11.3.1974, abgedruckt bei Steiger, Mensch und Umwelt, S. 80 ff. 63 Umweltgutachten 1974, S. 173. 64 65 66
Vgl. Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 36 ff. BT-Drs. 7/5684, S. 23. BT-Drs. 8/1938, S. 579.
62
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
24.11.1980 kündigte Bundeskanzler Schmidt schließlich eme Prüfung an, ob detaillierte Staatszielvorstellungen oder Gesetzgebungsaufträge in das Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Zur Durchführung dieser Prüfung ist im Herbst 1981 eine Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge" unter Vorsitz von Prof. Erhard Denninger berufen worden. Danach hat sich die Diskussion über die Positivierung des Umweltschutzes im Grundgesetz überwiegend von der subjektiven, grundrechtlichen Variante auf Konzeptionen objektiver Prinzipien - Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge, Verfassungsaufträge usw. - verlagert. Ihre Arbeit hat die Kommission in der Zeit der sozial-liberalen Koalition allerdings nicht beenden können.
C. Der Streit um das „ Ob " einer Staatszielbestimmung Umweltschutz in der Zeit der christlich-liberalen Koalition Bei der Diskussion dieser Phase, die von der Neubildung der christlich-liberalen Koalition Ende 1982 gekennzeichnet wurde, handelt es sich im wesentlichen um das „Ob" der Aufnahme einer Staatszielbestimmung Umweltschutz ins Grundgesetz. Die Positivierung eines Umweltgrundrechts wurde seither nur von den GRÜNEN ernsthaft gefordert. Im August 1983 legte die Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen / Gesetzgebungsaufträge" ihren Bericht vor. In diesem Bericht schlug sie zum einen eine Kurzfassung als Mehrheitsvorschlag vor, die Art. 20 Abs. 1 GG um eine Staatszielbestimmung zum Umweltschutz ergänzt und auch Art. 28 Abs. 1 GG entsprechend erweitern wollte67. Zum anderen wurde auch eine ausführlicher und ausdifferenzierter formulierte Fassung von der Minderheit der Kommission vorgeschlagen68. Obwohl die Vorschläge in diesem Bericht noch nicht im Wortlaut von den politischen Parteien allgemein übernommen wurden, kam aber aufgrund dieses Berichts endgültig Einvernehmen zwischen SPD und FDP über das „Ob" einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz zustande69. Auch die CDU/CSU, die bislang ein derartiges Vorhaben eher abgelehnt hatte, geriet zuneh-
67 Art. 20 Abs. 1 GG sollte danach lauten: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sie schützt und pflegt die Kultur und die natürlichen Lebensgrundlagen des MenschenFür Art. 28 Abs. 1 GG war eine entsprechende Änderung vorgesehen:, JDie verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes und der Verantwortung des Staates Jur Kultur und natürliche Umwelt entspreche Siehe Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 130. 68 Siehe Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 130,148. 69 Vgl. Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 44.
2. Kap.: Entstehung und Entwicung zur unmittelbaren Gewährleistung
63
mend unter Zugzwang70. In dieser Phase sind schließlich Gesetzesanträge der Fraktionen der SPD71 und der GRÜNEN72 zur Ergänzung des Grundgesetzes im Bundestag sowie Anträge der Länder Heesen73 und Schleswig-Holstein74 im Bundesrat eingebracht worden. Die Gesetzesanträge der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN wurden aber am 16.1.1986 im Bundestag abgelehnt75. Die Behandlung des Bundesrats der vorliegenden Gesetzesanträge der Länder Hessen und Schleswig-Holstein wurde daher auch blockiert. Als Ergebnis dieser Phase zeigt sich, daß trotz des klaren Bekenntnisses der SPD und der FDP zu einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz es weiterhin an der zur Verfassungsänderung erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit fehlte76.
D. Der Streit um das „ Wie " einer Staatszielbestimmung
Umweltschutz
Der anhaltende konjunkturelle Aufschwung in den 80er Jahren eröflhete der Bundesregierung wachsenden ökologischen Handlungsspielraum. Das Drängen des Koalitionspartners FDP auf eine Ergänzung des Grundgesetzes um eine Staatszielbestimmung Umweltschutz, das nunmehr klare Bekenntnis der SPD zu einer entsprechenden Verfassungsänderung, die Hinwendung der GRÜNEN zu einer Staatszielbestimmung Umweltschutz, vor allem aber die zunehmende Gewichtssetzung für eine stärkere ökologische Politikorientierung haben bei den Auseinandersetzungen um das Verhältnis von Grundgesetz und Umweltschutz aus der Diskussion um das „Ob" schließlich eine Diskussion um das „Wie" einer Staatszielbestimmung Umweltschutz gemacht77. Nach der Bundestagswahl 1987 einigten sich endlich die Koalitionsparteien, den Umweltschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen. Dies hat Bun-
70
Vgl. Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 44 ff. BT-Drs. 10/1502. Der Entwurf sah eine Einfügung einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz als Art. 20a wie vor: „Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates". Dementsprechend sollte auch Art. 28 Abs. 1 um einen neuen Satz 2 ergänzt werden: „Sie muß auch der Verantwortung des Staates für die natürlichen Lebensgrundlagen gerecht werden." 72 In dem Entwurf zur Änderung des Grundrechtskataloges im Jahr 1984 wollten sie den Art 2 um einen Abs. 3 erweitem: „Jeder Mensch hat das Recht auf eine gesunde Umwelt und den Erhalt seiner natürlichen Lebensgrundlagen". Zusätzlich war noch eine Ergänzung des Grundgesetzes um einen Art. 37a vorgesehen. Siehe BT-Drs. 10/990. 73 BR-Drs. 247/84. 74 BR-Drs. 307/84. 71
73
Vgl. Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 44 ff
76
Vgl. Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 44 ff Vgl. Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 47 f.
77
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
deskanzler Kohl in seiner Regierungserklärung vom 18.3.1987 auch bekräftigt 78. Danach hatte die Sachverständigenanhörung des Rechtsausschusses des Bundestages am 14.10.1987 stattgefunden79, in der eine Vielfalt neuer Formulierungsvorschläge vorgebracht wurden. Die umfassenden Erörterungen bezogen sich vor allem auf die Teilaspekte des Bestehens einer Regelungslücke, auf den Standort, auf die Formulierung sowie auf die Zweckmäßigkeit eines Gesetzesvorbehaltes oder einer Abwägungsklausel. Die Anhörung des Bundestagsrechtsausschusses führte aber in keinem der Punkte zu einer Übereinstimmung. Die Frage der Inkorporierung eines Umweltstaatszieles in das Grundgesetz blieb daher weiterhin offen. Den Ergebnissen dieser Beratungen kommt allerdings Initialwirkung für weitere Vorschläge und Gesetzesanträge zu. 1987 lag dann dem Bundestag ein Gesetzesentwurf des Bundesrates vor80. Danach sollte nach Art. 20 folgender Art. 20a ins GG eingefügt werden:
Art. 20a: (1) Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem Schutz des Staates. (2) Bund und Länder regeln das Nähere in Gesetzen unter Abwägung mit anderen Rechtsgütern und Staatsaufgaben.
Die SPD-Fraktion hatte übrigens auch einen Gesetzentwurf für einen Art. 20a GG, der in der vorangegangenen 10. Wahlperiode abgelehnt worden war, im Bundestag vorgeschlagen81:
Art 20a: Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates.
Außerdem sah dieser Entwurf der SPD-Fraktion eine entsprechende Modifikation der Homogenitätsklausel in Art. 28 Abs. 1 GG vor. Schließlich hat die Fraktion Die GRÜNEN auch einen Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes eingebracht82, wobei nicht nur in Art. 20 GG eine Staatszielbestimmung mit einer Vorrangsentscheidung zugunsten eines ökozentrisch ausgerichteten Umweltschutzes eingefügt werden sollte, sondern auch die Grundrechtsartikel 2 und 14 Abs. 2 GG geändert werden sollten83. 78
Bulletin Nr. 27 v. 19.3.1987, S. 205 (212). Anlaß für diese Anhörung war, daß sich die CDU/CSU-FDP Koalitionsregierung in ihren Vereinbarungen für die Aufnahme eines Staatszieles Umweltschutz aussprach. Michel, NuR 1988,272 (273). 80 BT-Drs. 11/885 und BR-Drs. 275/87. 81 BT-Drs.il/10. 82 BT-Drs. 11/663. 83 Die GRÜNEN hatten ein umfassendes, teilweise mehrfach überarbeitetes Umweltrechtspaket vorgelegt. Danach sollte den Rechten des Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) das Recht auf „die Erhaltung seiner natürlichen Umweif 4 79
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
65
Strittig waren in dieser Phase hauptsächlich nur die Fragen über den Schutzzweck einer derartigen Staatszielbestimmung (anthropozentrische oder ökozentrische Schutzrichtung), die Aufiiahme einer Abwägungsklausel, die Art des Schutzes („besonderer Schutz" oder nur „Schutz"), die Aufiiahme eines Gesetzesvorbehalts sowie die Einfügung einer Homogenitätsklausel84. So forderte die SPD nach wie vor die Einfügung ernes Art. 20a und die Änderung des Art. 28 GG. Der Entwurf des Bundesrates sah erne Abwägungsklausel und einen Gesetzesvorbehalt vor. Für solche Fragen konnte keine Übereinstimmung zwischen den Parteien im Bundestag erzeugt werden: Am 21.9.1990 war demzufolge dem verfassungsändernden Gesetzesvorhaben85 im Bundestag die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit versagt geblieben. Es bleibt festzuhalten, daß es vor der deutschen Wiedervereinigung trotz einer nunmehr zwei Jahrzehnte lang sehr intensiv geführten Auseinandersetzung nicht zu einer Erweiterung des Grundgesetzes um eine Staatszielbestimmung Umweltschutz gekommen ist.
III. Die verfassungspolitische Entwicklungsphase nach der Wiedervereinigung Die bisher immer wieder gescheiterten Bemühungen für die Verfassungsaufnahme einer Umweltschutzbestimmung erhielten nach der Wiedervereinigung einerseits wegen der Notwendigkeit einer Verfassungsreform, andererseits auch wegen der in vielen Bereichen als verhängnisvoll zu bezeichnenden Entwicklung der Umweltsituation in der ehemaligen DDR 86 erneut einen Auftrieb. Während
hinzugefügt werden. Dementsprechend erstreckte der Entwurf die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) auf die „ E r h a l t u n g der natürlichen Lebensgrundlagen". Art. 20 Abs. 1 GG sollte darüber hinaus um folgende Sätze erweitert wurden: „Die natürliche Umwelt steht als Lebensgrundlage des Menschen und um ihrer selbst willen unter dem besonderen Schutz des Staates. Bei Konflikten zwischen ökologischer Belastbarkeit und ökonomischen Erfordernissen ist den ökologischen Belangen der Vorrang einzuräumen, wenn andernfalls eine erhebliche Beeinträchtigung der natürlichen Umwelt droht."; Siehe dazu BTDrs. 11/663. 84
Vgl. Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 50 f. Die Formulierung des damalig geplanten Art. 20a lautete: (BT-Drs. 11/7905, S. 5) „ (1) Die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen stehen unter dem Schutz des Staates. (2) Das Nähere regeln die Gesetze. " 86 Obwohl die DDR längst eine solche Staatszielbestimmung zum Schutz der Natur in ihrer Verfassung von 1968 (Art. 15) gehabt hatte, konnten katastrophale Umweltsituationen nicht verhindert werden; der Grund dafür sollte nach Kloepfer nicht am Inhalt des Art. 15 der DDR-Verfassung liegen, sondern vielmehr an der normativ unzureichenden Verbindlichkeit 85
5 Tsai
66
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
die bisherigen Überlegungen sich eher auf eine Modifizierung bzw. Reform des Grundgesetzes beschränkt hatten, steht das Postulat einer Umweltschutzbestimmung in der Verfassung nach der deutschen Wiedervereinigung zumindest vor dem Hintergrund einer weitreichenden Verfassungsreflexion für das geeinte Deutschland. Nach Art. 5 des Einigungsvertrages vom 31. August 199087 wird den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschlands von der Regierung der beiden Vertragsparteien empfohlen, sich mit den im Zusammenhang mit der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen. Zu den insbesondere zu behandelnden Fragen werden u.a. „Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz" gezählt. Obwohl irgendeine Festlegung in der Sache damit nicht erfolgt 88, hat der Einigungsvertrag jedoch in einer Reihe von Bestimmungen Staatsaufgaben und Gesetzgebungsaufträge normiert, dazu gehört auch Umweltschutz: Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, „die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen unter Beachtung des Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzips zu schützen und die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens jedoch dem in der Bundesrepubik Deutschland erreichten Niveau zu fördern" (Art. 34 Abs. 1 EinV.). Dadurch wird die verfassungsrechtliche Umweltschutzproblematik erstmals in ihrer Entwicklungsgeschichte auf die Ebene des Bundesrechts erhoben und auch zum Gegenstand einer grundsätzlichen Debatte um Reichweite und Grenzen der Verfassimg, um ihren Geltungsgrund und ihre Geltungsdauer gemacht89. Die beiden gesetzgebenden Körperschaften hatten demgemäß eine aus 64 Bundes- und Landespolitikern zusammengesetzte Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat gebildet90, deren Aufgabe es war, über Verfassungsänderungen und -ergänzungen zu beraten, die den gesetzgebenden Körperschaften vorgeschlagen werden sollten91. Die hier interessieren-
und der fehlenden Erzwingbarkeit der DDR-Verfassung. Kloepfer, in: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Verfassungsgeschichte, 1994, S. 35 ff. (82). 87 BGBl. Π S. 889. 88 Badura, ThürVBl. 1992,73 (73). 89 Vgl. Badura, ThürVBl. 1992,73 (74); Robert, Umweltschutz und Grundgesetz, S. 52. 90 Beschluß des Bundestages vom 28. November 1991, BT-Drucks, 12/1670; und Beschluß des Bundesrats vom 29. November 1991, BR-Drucks, 637/92. 91 Die Gemeinsame Verfassungskommission stellt als verfassungspolitisches Organ, so Scholz, in: FS Lerche, S. 65 ff. (71 ff.), ein Novum in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland dar. Im wesentlichen verfügt sie lediglich über eine vorbereitende bzw. empfehlende Rolle, also in der Tat nur über den Charakter eines »Ausschusses"; die abschließende bzw. konstitutive Änderungsentscheidung liegt gemäß Art. 79 GG bei Bundestag und Bundesrat. Sie unterscheidet sich von Ausschüssen aber dadurch, daß sie ihren Auftrag über das Recht der „Selbstbefassung" erfüllt, d.h. daß sie selbst darüber entscheidet,
2. Kap.: Entstehung und Entwicklung zur unmittelbaren Gewährleistung
67
de Problematik der Umweltschutzklausel wurde in den Plenardebatten der Gemeinsamen Verfassungskommission zu den Staatszielen am 14. Mai 1992 sowie am 12. November 1992 behandelt. Die Frage des Umweltschutzstaatsziels wurde auch bei der Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission zum (General-)Thema „Staatsziele und Grundrechte" am 16. Juni 1992 diskutiert92. Die Diskussion über eine Aufnahme der Umweltschutzklausel in der Gemeinsamen Verfassungskommission ging offensichtlich von einer parteiübergreifenden Auffassung aus, daß die verfassungsrechtliche Verankerung einer Umweltschutzklausel auf jeden Fall erwünscht sei. In dieser Phase konzentriert sich die Diskussion also auf die Formulierungsfragen 93. Es wurden hauptsächlich der bereits genannte Bundesratsentwurf von 1987 94 und Entwürfe von SPD 95 und den GRÜNEN 9 6 diskutiert. Die Gemeinsame Verfassungskommission hat im Oktober 1993 ihren umfangreichen Abschlußbericht mit einigen Empfehlungen zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt97. Darin wurde - nach mühsamen Auseinandersetzungen98 - eine verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes durch
welche verfassungsrechtlichen Reform- oder Änderungsvorhaben sie diskutieren und ggf. verabschieden will - die Verabschiedung erfolgt allerdings nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit. Da der Auftrag der Gemeinsamen Verfassungskommission sich auf Art. 5 EinigungsV. gründet, wird ihr nicht der Auftrag oder die Befugnis anvertraut, eine neue Verfassung zu erarbeiten, sondern der Auftrag ist lediglich darauf beschränkt, die von ihr als nötig angesehenen Verfassungsänderungen vorzuschlagen oder eine konkrete Verfassungsreform vorzubereiten. Vgl. auch Badura, in: Bitburger Gespräche, Jahrbuch 1991/92,1991, S. 27; ders., in: FS Redeker, S. 111 ff. (111 ff.), Hesse, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 3, Rn. 37 ff. 92
Gemeinsame Verfassungskommission, Stenographischer Bericht, 2. öffentliche Anhörung „Staatsziele und Grundrechte", den 16. Juni 1992. 93 So hatte die CDU /CSU von vornherein auf einen Gesetzesvorbehalt gedrängt. 94 BT-Drs. 11/885 und BR-Drs. 275/87; siehe oben in 3. Kapitel Π D. 95 BT-Drs. 11/10; siehe oben in 3. Kapitel Π D. 96
BT-Drs. 11/663; siehe oben in 3. Kapitel Π D. BT-Drucks. 12/6000 98 Für verfassungsändernde Kommissionsempfehlungen war das Quorum einer Zweidrittel-mehrheit gefordert. Dieses Quorum sei politisch-praktisches Indiz dafür, daß die Vorschläge der Gemeinsamen Verfassungskommision von den gesetzgebenden Körperschaften aufge-griffen und umgesetzt werden, rechtlich sind diese aber hieran nicht gebunden. Vgl. Meyer-Teschendorf, ZRP 1994,73 (74). Ursprünglich hatte sich die Berichterstattergruppe der Gemeinsamen Verfassungskommission auf eine vom Kommissionsvorsitzenden Rupert Scholz (CDU) vorgeschlagene Kompromißformulierung geeinigt, die wie folgt lautete: „Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung unter dem Schutz des Staates. " Dieser Kompromißvorschlag scheiterte jedoch wegen des Drucks aus der CDU/CSU97
5*
68
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
eine Pflicht des Staates zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Art. 20a vorgeschlagen". Begründet hat die Gemeinsame Verfassungskommission ihren Vorschlag, ein Staatsziel Umweltschutz ins Grundgesetz aufzunehmen, mit folgenden Erwägungen: Beim Umweltschutz handele es sich um ein existentielles, langfristiges Interesse des Menschen. Die sich daraus ergebende ökologische Herausforderung an den Staat sei bei Schaffung des Grundgesetzes noch nicht absehbar gewesen. Die geltende Verfassungsordnung gewährleiste den natürlichen Lebensgrundlagen weder durch die Grundrechte noch durch objektivrechtliche Verfassungsprinzipien hinreichenden Schutz. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen sei eine hochrangige, grundlegende und auch in die staatliche Verantwortung fallende Aufgabe, die den in Art. 20 Abs. 1 GG genannten Staatszielen in Rang und Gewicht gleichkomme. Dieser Vorschlag zu einer Umweltschutzklausel der Gemeinsamen Verfassungskommission wurde samt anderen Änderungen zuerst vom Bundestag akzeptiert und am 30. Juni 1994 mit Zweidrittelmehrheit gebilligt100, scheiterte aber im Bundesrat vorerst wegen des Streites über u.a. Minderheitenschutz und die konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen der Länder. Nach Anruf des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat wurde die Umweltschutzklausel allerdings mit übrigen Kompromißvorschlägen des Vemittlungsausschusses schließlich vom Bundestag erneut verabschiedet und auch vom Bundesrat am 23. September 1994 gebilligt101.
IV· Art. 20a GG Eine ausdrückliche Verankerung des Umweltschutzes findet sich nun nach ihrem Inkrafttreten 102 in der Verfassung des geeinten Deutschland. Sie lautet:
„Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlich Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Geset
Fraktion am 11.2.1993 in der Gemeinsamen Verfasungskommission. Daraufhin wurden im Mai 1993 neue Verhandlungen zwischen SPD und Koalitionsfraktionen aufgenommen, um doch einen Kompromiß in Sachen Staatsziel Umweltschutz zustandezubringen. Heraus kam der Formulierungsvorschlag, der später dem Bundestag vorgelegt wurde. Schließlich wurde die gefundene Kompromißformulierung mit lediglich einer Stimme Mehrheit von der Kommission verabschiedet. 99 Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/6000, S. 65. 100 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Entwurf BT-Drs. 12/6633, Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 12/8165), beschlossen am 30.6.1994,238. Sitzung, stenogr. Ber., S. 21029. 101 Gesetz zur Änderung des GG vom 27.10.1994 (BGBl. 13146). 102
Diese Verfassungsänderung ist zum 15. 11. 1994 in Kraft getreten.
3. Kap.: Verfassungsrechtliche Grundlagen des Art. 20a GG
69
gebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und d Rechtsprechung. "
Drittes Kapitel
Verfassungsrechtliche Grundlagen der Umweltschutzklausel in Art. 20 a GG Die Verfassungsänderung zur Aufiiahme der Umweltschutzklausel ist, wie Isensee zeigt, ein Novum unter den zahlreichen Änderungen, die das Grundgesetz in seinen bisher 39 Revisionsgesetzen erfahren hat103. Alle diese dienten dazu, das bestehende Verfassungsrecht in bestimmter Hinsicht zu ändern. Für die Aufiiahme der Umweltschutzklausel ist jedoch weniger rechtspraktisches Interesse zu erkennen. Vielmehr sollte durch die ausdrückliche Aufiiahme der Klausel in die Verfassung ein Symbol für die Berücksichtigung und Förderung des allseits anerkannten Umweltschutzes geschaffen werden104. Damit ist aber keineswegs gesagt, daß diese Neuheit in die Verfassungsordnung des Grundgesetzes reibungslos einzuordnen ist. Schon die im Schrifttum mühsam erörterten vielfaltigen Problemdimensionen hinsichtlich der Umweltschutzklausel im Grundgesetz vor dem Inkrafttreten der Verfassungsänderung beweisen schon das Gegenteil. Besonders schwierig ist, wie diese ihrer Natur nach mit dem herkömmlichen Stil des Grundgesetzes nicht besonders verwandte Verfassungsvorschrift systematisch zu begreifen ist. Zunächst ist nach dem Rechtscharakter dieser Umweltschutzklausel zufragen; dann wird die systematische Einordnung in das Grundgesetz betrachtet.
I· Rechtscharakter: Zuordnung der Umweltschutzklausel als Staatszielbestimmung und Staatsaufgabennorm Wie oben dargestellt, wurde die Umweltschutzklausel aus Sicht der objektivrechtlichen Gewährleistungsweise von Anfang an unter dem Typus „Staatszielbestimmung" erfaßt. Um diese neue Umweltschutzklausel dogmatisch in das Verfassungssystem des Grundgesetzes einzuordnen und ihre Rechtsnatur klar zu stellen, ist dieser Begriff daher als ausschlaggebender Anhaltspunkt heranzu-
103 104
Isensee, NJW 1993,2583 (2585). Isensee, NJW 1993,2583 (2585).
70
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
ziehen. Da Rechtscharakter und Wirkungsweise der Kategorie von Staatszielbestimmungen oben schon dargelegt worden sind, können sich die Anmerkungen zur Bedeutung der Umweltschutzklausel als einer Staatszielbestimmung hier auf das wesentlichen beschränken. Zuerst ist hervorzuheben, daß die Umweltschutzklausel die volle Bindungskraft für die staatliche Gewalt in Anspruch nimmt; sie ist also zweifelsohne unmittelbar geltendes Recht. Es sei noch einmal daraufhingewiesen, daß keine unverbindlichen politischen Programmsätze oder Verfassungsdeklamatationen unter der Geltung des Grundgesetzes möglich sind. Das Grundgesetz besitzt mit der Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit strikten normativen Charakter. Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gilt daher als ein verfassungsrechtlich festgelegtes Staatsziel, dessen Beachtung von allen Staatsorganen bei der Ausübung der öffentlichen Gewalt verlangt wird. Nach der oben vorgenommenen Definition von Staatszielbestimmungen105 enthält eine als Staatszielbestimmung gekennzeichnete Verfassungsnorm notwendigerweise Hinweise auf die - material-inhaltlich vorgesehenen - auszufüllenden Staatsaufgaben. Demzufolge ist die Umweltschutzklausel daher auch eine verfassungsrechtliche Aufgabennorm, die das Thema der Staatsaufgaben betrifft und die Venvirklichung dieser Aufgabe durch staatliche Handlungen erfordert 106. Darin läßt sich gerade der Schwerpunkt der Umweltschutzklausel erkennen. Dieser Schwerpunkt macht auch einen ausschlaggebenden Unterschied von der Umweltschutzklausel zu dem ebenfalls als Staatszielbestimmung betrachteten Sozialstaatsprinzip aus. Während das in Art. 20 Abs. 1 sowie Art. 28 Abs. 1 GG verortete Sozialstaatsprinzip, wie Demokratie, Republik, Bundesstaatsprinzip und Rechtsstaatsprinzip, in erster Linie als Strukurprinzip der vom Grundgesetz verfaßten Staatlichkeit, also als objektives Prinzip der Ordnung von Individuum, Gesellschaft und staatlicher Gewalt, gilt, handelt es sich bei der Umweltschutzklausel in Art. 20a nur schlicht um eine Staatsaufgabe, so wichtig das Thema auch sein mag107. Dies wird auch durch ihre Verortung in Art. 20a GG, nicht aber in Art. 20 GG, implizit bestätigt. Die Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz bedeutet nichts anderes als, daß eine bestimmte Staatsaufgabe durch die Verfassung ausdrücklich anerkannt und betont wird 108. Vergegenwärtigt man sich, daß der demokratische Gesetzgeber gar keiner besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigung bedarf, um sich einer Sach-
105
Siehe oben in Kapitel 1 Π Β 1. Vgl. nur Badura, ThürVBl. 1992,73 (75 f.); ders., FS Redeker, S. 111ff. (116 f.); H. H. Klein, DVB1. 1991,729 (733); Leisner, in: Bundestags-Anhörung, S. 196. 107 Rupp, DVB1. 1985,990 (991). 108 Badura, Bundestags-Anhörung, S. 32. 106
3. Kap. : Verfassungsrechtliche Grundlagen des Art. 20a GG
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frage anzunehmen109, läßt es sich verdeutlichen, daß die Umweltschutzklausel als eine Staatszielbestimmung und Aufgabennorm nicht Ermächtigung für staatliches Handeln im Umweltschutzbereich ist. Inhaltlich gesehen ist sie vielmehr eine verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung für den Staat, die Aufgabe zu erfüllen. II. Subjektiv-rechtliche Wirkung A. Unmittelbare
Begründung eines subjektiven Schutzanspruchs?
Die Umweltschutzklausel bindet unmittelbar die öffentliche Gewalt; sie wirkt also ohne Zweifel als objektiv-rechtliche Norm. Fraglich ist jedoch, ob aus ihr auch unmittelbar eine subjektiv-rechtliche Anspruchsgrundlage zu entnehmen ist. Obwohl das Fehlen der unmittelbaren Einklagbarkeit durch den Bürger bei objektiv rechtlicher Verbindlichkeit eben die Staatszielbestimmung kennzeichnet110, kann aber eine bloße „Etikettierung" der Umweltschutzklausel als Staatszielbestimmung verfassungsrechtlich gesehen kaum in der Lage sein, subjektive Rechtspositionen völlig auszuschließen. Schließlich ergeben sich verfassungsrechtliche Bindungswirkung und Tragweite einer Verfassungsnorm nicht aus einem vorgegebenen Begriff der Staatszielbestimmung, sondern aus dem Regelungsgehalt der Verfassungsnorm, der aus Wortlaut und Auslegung faßbarist 111. Dabei ist schon vorauszuschicken, daß die Umweltschutzklausel eindeutig nicht in Form emes Grundrechts ausgestaltet ist112. Dies ergibt sich nicht nur aus ihrer Genese113, sondern auch aus der systematischen Stellung des Art. 20a nach Art. 20 GG, nicht innerhalb des Grundrechtskatalogs der Art. 2 bis 19 GG. Die
109
Vgl. nur Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. (117); siehe auch oben in Kapitel 11B. Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 164; Sommermann, Der Staat 1993,430 (436). Vgl. auch die Darstellung über Staatszielbestimmungen in 1. Kapitel Π B,1. 110
111
Badura, Stellungnahme zur Vorbereitung der öffentlichen Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission, in: Stenographischer Bericht, S. 3. 112 Soweit eine objektiv-rechtliche Schutzaufgabe des Staates ausdrücklich in den Text des Grundrechtsteils aufgenommen wäre, besteht wohl wenig umstritten auch ein subjektives Recht auf Schutzgewährung. Das gilt etwa für die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG sowie für die in Art. 6 GG enthaltenen besonderen staatlichen Schutzpflichten; vgl. dazu Die tie in, Die Lehre von den Grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 144 ff.; Starck, in: ders., Praxis der Verfassungsauslegung, S. 64. 113 Wie oben dargelegt wurde, geht die jetzige Umweltschutzklausel eindeutig von dem objektiv-rechtlichen Modell, namentlich der Kategorie von Staatszielbestimmungen aus, nicht aber von dem Grundrechts-Modell; Vgl. oben in 2. Kapitel B.
72
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
hier in Frage stehende subjektiv-rechtliche Wirkung bei der Umweltschutzklausel könnte deshalb nicht durch eine Zuordnung als Grundrechtsbestimmung gewonnen werden. Die Umweltschutzklausel in Art. 20a GG verpflichtet den Staat, die natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für die künftigen Generationen zu schützen. Würden daraus nicht nur eine objektive Verpflichtung für den Staat, sondern auch einklagbare, subjektive Rechte des einzelnen abgeleitet114, müßten sie dann das Recht des einzelnen auf staatlichen Schutz für die natürlichen Lebensgrundlagen - zuerst also durch Gesetzgebung - bedeuten. Dabei aber offenbaren sich schon Schwierigkeiten für die Begründung. Zuerst geht es um die Struktur subjektiver Rechte. Nach den herkömmlichen Unterscheidungsmerkmalen zwischen objektiver Norm und subjektiven Rechten handelt es sich bei diesen jedenfalls um eigene Interessenwahrnehmung der Rechtsträger. Voraussetzung dafür ist aber zumindest das Bestehen von Individualgütern. Der Schutzgegenstand der Umweltschutzklausel, die natürlichen Lebensgrundlagen, sind aber offenkundig vom Individuimi gelöste oder unabhängige öffentliche Güter, grundsätzlich also keine individuellen oder individualisierbaren Rechtsgüter, wie sie im Gegensatz dazu etwa persönliche Freiheit darstellt115. Was die Umweltschutzklausel begünstigen will, ist gerade die Menschheit insgesamt, nicht aber irgendein erkennbarer Kreis von Betroffenen. Die damit geschützten natürlichen Lebensgrundlagen sind unter dem Grundgesetz eindeutig weder rechts- noch parteifahig 116. Insgesamt fehlt der Umweltschutzklausel also der
114 Die Frage danach, ob eine verfassungsrechtliche Norm objektiv-rechtlicher Art oder subjektives Recht ist, kommt ausschließlich auf die inhaltliche Gestaltung an. Jede Rechtsnorm ist formell objektive Rechtsnorm, auch die subjektive Rechte begründende Norm objektiv steht. Die objektive Rechtsnorm und ihr Inhalt soll also nicht gleichgesetzt werden. Entscheidend ist, so Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 159 ff. (164, Fn. 12), welchen konkreten normativen Inhalt eine Norm des objektiven Rechts der Verfassung hat: dies kann - muß aber nicht - ein subjektives Recht, eine objektive Grundsatznorm oder möglicherweise auch beides zugleich sein; Vorgegebenheit oder notwendige Zusammengehörigkeit gibt es insoweit nicht. 115
Hofmann , in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 21, Rn. 54. Hierbei ist zwischen der Frage über die subjektiven Rechte der Natur und der Frage, ob die Natur auch um ihrer selbst willen geschützt werden soll, zu unterscheiden. Während es bei jenem um die subjektive Rechtsposition geht, geht es bei diesem eher um den Inhalt des staatlichen Umweltschutzes; dazu vgl. unten in 4. Kapitel Π Α. Da das Grundgesetz eindeutig von einer anthropozentrischen Gewährleistung für die Menschen ausgeht, bedürfte ein subjektives Recht der Natur auf Schutzgewährung als Ausnahmezumindest der ausdrücklichen Einräumung des Verfassungsgesetzgebers. Ohne eine derartige Rechtszuschreibung wird die Möglichkeit eines subjektiven Rechts der Natur schon durch Verfassungsinterpretation ausgeschlossen. Unter diesen Umständen geht es noch nicht um die subjektive Rechtsposition bei der objektiven Umweltschutzklausel. Über „Eigenrechte der Natur" vgl. Heinz, Der Staat, 1990, 415 (422); Freiherr v. Lersner, NVwZ 116
3. Kap.: Verfassungsrechtliche Grundlagen des Art. 20a GG
73
subjektive Rechtsvermittlungscharakter117. Schon dies verhindert die Möglichkeit, zu behaupten, daß der einzelne in eigenen Rechten betroffen wäre. Aus der Umweltschutzklausel selbst kann daher die subjektive Rechtsträgerschaft zur Wahrung eigener Interessen nicht begründet werden. In diesem Sinne ist die Umweltschutzklausel als eine objektive Staatszielbestimmung im Hinblick auf die Rechtsträgerschaft eher neutral. Daran könnte auch nichts geändert werden, wenn eine „evidente und willkürliche Mißachtung der Handlungs- und Schutzpflicht" des Gesetzgebers wegen unterlassener oder mangelhafter Erfüllung der ihm zugeschriebenen Schutzaufgabe in Betracht kommt. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich sowohl beim Sozialstaatsprinzip118 als auch bei grundrechtlichen Schutzpflichten119 impliziert, daß es unter solchen Umständen ein Recht auf erne Entscheidung des Gesetzgebers geben könnte, das deshalb eine Verfassungsbeschwerde auch unmittelbar auf Grund der objektiv-rechtlichen Norm zu rechtfertigen vermag. Die sozialen Ansprüche und die grundrechtlichen Freiheiten sind aber immerhin noch individuelle oder individualisierbare Rechtsgüter. Daraus folgt, daß selbst bei einem evidenten Verstoß des Gesetzgebers im Hinblick auf das Umweltschutzgebot auch keine unmittelbare Rüge durch den einzelnen in Betracht kommt. Ausschließlich auf die Verletzung der Umweltschutzklausel können verwaltungsgerichtliche Klagen und Verfassungsbeschwerden nicht gestützt werden120. Im übrigen sei noch darauf hingewiesen, daß ein subjektives Recht auf legislatorisches Tätigwerden ohnehin dem grundgesetzlichen Rechtssystemfremd ist. Ein derartiger Schutzanspruch würde auch zwangsläufig dazu führen, daß der politische Gestaltungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers erheblich durch die Kontrolle der Gerichtsbarkeit, vor allem des Bundesverfassungsgerichts verengt werden kann. Abgesehen davon wären der Inhalt und die Reichweite eines derartigen subjektiven Rechtsanspruches notwendigerweise wegen
1988,988 (988 ff.). 117 Vgl. auch Müller -Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 167. 118 Das Bundesverfassungsgericht hat gezeigt, daß es bei einer willkürlichen Verletzung der sozialstaatlichen Verpflichtung zu „sozialer Aktivität" möglich sei, daß dem Einzelnen hieraus ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch zukommt; Vgl. BVerJGE 1, 97 (105). 119 Ausgehend von dem Fluglärm-Beschluß hat das Bundesverfassungsgericht in der Rechtsprechung immer wieder impliziert, daß subjektive Ansprüche auf legislatorische Aktivitäten zum Umweltschutz im Fall einer „evidenten" Verletzung des Gesetzgebers in bezug auf seine Schutzpflicht akzeptiert werden können. Es gibt bisher aber noch keine erfolgreiche subjektive Verfassungsbeschwerde gegen staatliche Unterlassung des Schutzes. Vgl. BVerJGE 56,54 (77); 77,170 (214 f.); 77,381 (405); 79,174 (202); 81,242 (255 f.). 120 So auch Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 167. Anderer Auffassung wohl Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. (119).
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
des relativ unspezifischen Schutzgegenstandes der Umweltschutzklausel schwer zu bestimmen. Die Umweltschutzklausel ist daher ungeeignet, subjektive Rechtspositionen unmittelbar zu begründen121. B. Versubjektivierungsmöglichkeit Die Verneinung einer unmittelbaren Ableitung der subjektiven Rechtspositionen schließt aber keineswegs aus, daß die Umweltschutzklausel eine subjektivrechtliche Ausstrahlungswirkung in Verbindung mit den subjektive Rechten begründenden Normen, verfassungsrechtlich gesehen also den Grundrechte, entfalten kann. Mit anderen Worten, bedarf die Umweltschutzklausel als Staatszielbestimmung immer eines subjektiv-rechtlich wirkenden Anknüpfungspunktes - der dann auch die jeweilige Rechtsträgerschaft begründet - , um selbst „versubjektiviert" zu werden122. Die Umweltschutzklausel setzt demzufolge also die subjektive Rechtsträgerschaft voraus und kann sie nicht selber begründen123.
I I I . Dogmatische Struktur der Umweltschutzklausel in Art. 20a GG Mit der Erläuterung der Rechtsnatur der Umweltschutzklausel ist noch nichts darüber gesagt, wie die Wirksamkeit des Gewährleistungsgehaltes dieser Umweltschutzklausel zur Geltung zu bringen ist. Es ist vielmehr Aufgabe der Dogmatik, die Struktur des Gewährleistungsgehalts der Umweltschutzklausel aufzubauen. Bei einer verfassungsrechtlichen Norm mit voller bindender Kraft
121
Vgl. Bericht der Sachverständigkommission, Rn. 164. Heinz, Die Problematik des Staatszieles Umweltschutz im Lichte der Unterscheidung von subjektiven Rechten und objektivem Recht, in: Gegenwartsfragen des öffentlichen Rechts, S. 181ff. (202). 123 Heinz, Die Problematik des Staatszieles Umweltschutz im Lichte der Unterscheidung von subjektiven Rechten und objektivem Recht, in: Gegenwartsfragen des öffentlichen Rechts, S. 181 ff. (202). An dieser Stelle sei auch kurz die Kontroverse um Eigenrechte der Natur anzumerken. Trotz unterschiedlicher Vorstellungen im Detail bedeuten Eigenrechte der Natur jedenfalls subjektiv-rechtliche Berechtigungen der Natur gegen Übergriffe oder die Natur als Anspruchsinhaber von eigenen Rechten. Die neu aufgenommene Umweltschutzklausel vorausgesetzt, kann es bei der die Begründbarkeit von Eigenrechten der Natur mit der soeben gemachten Feststellung nur darauf ankommen, ob die Grundrechte als Anknüpfungspunkte den subjektiv-rechtlichen Wirkungen der Natur subjektive Rechtsträgerschaft zuschreiben. Dies ist aber kategorisch zu verneinen, da die Grundrechte des Grundgesetzes unzweideutig von der anthropozentrischen Grundrichtung ausgehen. Dabei läßt sich feststellen, daß auf jeden Fall bei der in Gestalt von objektiver Staatszielbestimmung ausgerichteten Umweltschutzklausel subjektive Rechte der Natur nicht vermittelt werden können. 122
3. Kap.: Verfassungsrechtliche Grundlagen des Art. 20a GG
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ist die dogmatische Konturierung nicht anders als in einer Weise vorzunehmen, die den Gewährleistungsgehalt der Umweltschutzklausel als justitiablen Maßstab verfassungsgerichtlicher Nachprüfung im Rahmen eines Streitverfahrens (insbesondere der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 und der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG124) ausweist125. Diese Aufgabe ist schon deshalb schwierig, weil die Umweltschutzklausel als solche eine Art Grundsatznorm ist. Wichtig ist jedoch, ausgehend von dem Leitgedanken der Einheit der Verfassung126, die zu den bestehenden Verfassungsstrukturen kompatiblen Konturen der Umweltschutzklausel herauszustellen und klare Abgrenzungen zu treffen. Die Konstruktion der Umweltschutzklausel als eine objektive Staatszielbestimmung läßt sich durch zwei wesentliche Bestandteile erfassen: Die Zielangabe und die Zielverwirklichung. Die Zielvorgabe stellt eme verfassungsrechtliche Wertentscheidung dar, woraus die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates zu entnehmen ist. Vom Inhaltlichen her betrachtet ist dabei keineswegs die Gewährleistung der natürlichen Lebensgrundlagen als solche das Ziel: Die natürliche Umwelt kann niemals vom Staat garantiert werden. Gegenstand ist vielmehr die Gewährleistung der Unverletzlichkeit bzw. Sicherheit der natürlichen Lebensgrundlagen, kurzum, die Schutzgewährung. Daraus ergibt sich folgerichtig die Umweltschutzverpflichtung des Staates. Zu erörtern ist daher zuerst, welche tatbestandlichen Voraussetzungen für das Bestehen einer derartigen Schutzverpflichtung (in einem konkreten Fall) erforderlich sind127. Bei einer derartigen festgestellten Umweltschutzverpflichtung ist der Staat dann zur Erfüllung gehalten, um das vorgegebene Ziel bestmöglich zu verwirklichen. Dabei sollen die unterschiedlichen Wirkungen der Schutzverpflichtung gegenüber den drei staatlichen Funktionen und die Aufgabenverteilung zwischen ihnen erörtert werden128.
124
Vgl. Badura, in: FS Redeker, S. 111 fT. (117); Schiaich, Das Bundesverfassungsgericht, S. 115 ff. 125 Bezogen auf ein Rechtssystem wie das der Bundesrepublik Deutschland, das eine umfassende verfassungsgerichtliche Kontrolle kennt, bezeichnet eine „bindende" verfassungsrechtliche Norm die Möglichkeit, daß ihre Verletzung durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt wird. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 495 ff. 126
Über den Leitgedanken der „Einheit der Verfassung" vgl. nur Badura, in: Festgabe BVerfG, Bd. 2, S. 1ff. (2 ff). 127 128
Dazu siehe unten in 4. Kapitel. Dazu siehe unten in 5. Kapitel.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Viertes Kapitel
Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung nach Art. 20a GG L Allgemeines Die Umweltschutzklausel des Art. 20a GG als eine Staatszielbestimmung mußte notwendigerweise die Form einer inhaltliche Offenheit und Unbestimmtheit aufweisenden Grundsatzaussage erhalten. Bleibt die Umweltschutzklausel eine verbindliche Verfassungsnorm, ist doch diese verfassungsrechtliche Bindungskraft in erster Linie auf die in der Norm enthaltenen, von den Adressaten zu erreichenden Zielvorgaben bezogen. Anders ausgedrückt: Was als Zielvorgabe anzusehen ist, das ist verfassungsrechtlich verbindlich bestimmt und für den Normadressaten verpflichtend; es muß zur optimierenden Verwirklichung beachtet und ausgefüllt werden. Die Zielvorgabe ist indes verfassungsrechtlich festgelegt; dabei besteht diesbezüglich kein sogenannter „Gesetzgebungsvorbehalt" im Sinne eines gesetzgeberischen Bestimmungsprärogativs129. Vielmehr ist es die Aufgabe der Verfassungsinterpretation bzw. -konkretisierung, den mit unbestimmtem Begriff ausgerichteten Norminhalt - Zielvorgabe - zu klären. Insoweit ist sie theoretisch auch verfassungsgerichtlich überprüfbar. Damit ist aber nicht gemeint, daß sich bloß durch verfassungsinterpretatorische Festsetzung der Zielvorgabe konkrete Maßnahmeanweisungen für den Staat ergeben könnten. Vielmehr soll zwischen Inhalt der verfassungsrechtlichen Zielbestimmung und Inhalt der danach zu erfüllenden Aufgabe unterschieden werden. Letztere ist verfassungsrechtlich offen, und es bleibt Aufgabe der zuständigen Staatsorgane, sie zu konkretisieren. Hierbei ist das Sozialstaatsprinzip ein vergleichbares Beispiel. Was als „sozial" unter dem Aspekt des Sozialstaatsprinzips zu verstehen ist, ist eine Sache der Verfassungsinterpretation, auch wenn diese regelmäßig nur in Form einer abgrenzenden Beschreibimg vorgenommen werden kann130. Dagegen ist der aus dem Sozialstaatsprinzip ent-
129 Ein „Gesetzgebungsvorbehalt" in bezug auf die Zielvorgabe der Umweltschutzverpflichtung des Staates bedeute, daß das Staatsziel Umweltschutz nur nach Maßgabe seiner Ausgestaltung durch den Gesetzgeber zu verwirklichen sei, der bei der Konkretisierung des Ziels am Maßstab des Grundgesetzes nicht weiter kontrolliert werden könne. Es führte dann dazu, daß der Gesetzgeber sich von seiner verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung freizeichnen könnte. Eine derartige Interpretation der Umweltschutzklausel in Art. 20a GG ist aber verfassungswidrig. Vgl. auch Murswiek, Umweltschutz als Staatszweck, S. 78; Sommermann, DVB1. 1991,34(35). 130
Zur Konkretisierung des „Sozialen" vgl. nur Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 25, Rn. 22 ff.
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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standene Auftrag inhaltlich offen und gestaltungsbedürftig: „Das Sozialstaatsprinzip stellt also dem Staat eine Aufgabe, sagt aber nichts darüber, wie diese Aufgabe im einzelnen zu verwirklichen ist"131. Die Adressaten, primär freilich der Gesetzgeber, sind gehalten, den Auftrag anhand der konkreten Situationen wie Bedarfslagen in der Wirklichkeit immer wieder zu aktualisieren132. Ausgehend von der verfassungstextlichen Gestalt sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung des Art. 20a GG für den Staat zwischen sachlicher und persönlicher Dimension des Schutzbereiches, Art des geforderten Schutzgebots sowie die - aus verfassungsrechtlicher Sicht - schutzbedürftigen Situationen, zu erörtern.
IL Schutzbereich A. Die sachliche Dimension des Schutzbereichs Die neue Umweltschutzklausel des Grundgesetzes hat, entsprechend den jeweiligen Umweltschutzklauseln in den Landesverfassungen133, „die natürlichen Lebensgrundlagen" zum Schutzgegenstand gemacht. Eine derartige Formulierung des Schutzgutes wird stets bei den verfassungspolitischen Diskussionen bevorzugt und auch als konkreter und konkretisierungsfahiger 134 gegenüber dem knappen, stichwortartigen und auch in zahlreichen Gesetzen verwendeten Begriff „Umwelt" bewertet. Es ist ohnehin kaum umstritten, daß die Bezeichnung „natürliche Lebensgrundlagen" nicht so mehrdeutig ist und sich daraus sprachlich auch mehr Anhaltspunkte für die Bestimmung des Inhalts ergeben können. Nichtsdestotrotz ist es schwer, den konkreten Inhalt und Umfang des Begriffs zweifelfrei zu bestimmen. Eine derartige Formulierung leidet vielmehr auch unter den gleichen Komplikationen und Problemen wie der Begriff Umwelt zur Inhaltserfassung und -umgrenzung135: Bei einem sehr engen Verständnis des
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BVerjG 52,283 (298); 59,231 (262). Vgl. nur Scholz, Sozialstaat zwischen Wachstums- und Rezessionsgesellschaft, S. 24. 133 Formulierung des Schutzgutes der Umweltschutzklausel, die in die Länderverfassungen der Republik Eingang gefunden haben, sind überwiegend auch die „natürlichen Lebensgrundlagen". Vgl. Art. 86 LV in Baden-Württemberg; Art. 3 und Art. 141 Abs. 1 BV in Bayern; Art. 21a in Verfassung von Berlin; Art. 26a LV in Hessen; Art. 11 a LV in Bremen; Art. 5 LV in Hamburg; Art. 1 Abs. 2 LV in Niedersächsische; Art. 7 und 29 a LV in Nordrhein-Westfalen; Art. 73 a LV in Rheinland-Pfalz; Art. 30 und 59 a LV in Saarland; Art. 10 Abs. 1 LV in Sachsen; Art. 35 LV in Sachsen-Anhalt, Art. 7 LV in Schleswig-Holstein; Art. 31 Abs. 1 LV in Thürigen. 132
134
So etwa Leisner, Bundestags-Anhörung, S. 193 ff ; Stern, NWVB1. 1988,1 (5).
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Schutzbereiches, wie z.B. nur im Sinne des für das menschliche Leben unbedingt notwendigen „ökologischen Existenzminimums", ginge es nicht nur um eine Selbstverständlichkeit, sondern bedeutete dies auch gewissermaßen einen Rückschritt im Vergleich zum vorher schon ableitbaren Gehalt des Verfassungsrechts für den Umweltschutz136; bei einem sehr weiten Verständnis des Begriffs dürfte der Umfang des Schutzbereiches uferlos werden137. Eine begriffliche Abgrenzung ist auch deswegen schwierig, weil sie mit den komplizierten, weitgestreuten, querschnittlichen Problemlagen im Umweltbereich zusammenhängt. Damit ist aber überhaupt nicht gemeint, daß der Begriff „natürliche Lebensgrundlagen" an sich unbestimmbar und völlig konturenlos ist. Es darf nicht übersehen werden, daß die Natur als solche trotz der vielfaltigen Einflußnahme des Menschen nicht vom Menschen geschaffen ist, deren Konturen jenseits rechtlicher Begriffsbildung natürlich vorgeprägt und erfahrbar sind, was einen großen Unterschied zu dem Begriff „sozial" im Sozialstaatsprinzip offenbart. Es bedarf zur Markierung des mit dem Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen bezeichneten Schutzbereiches demnach keiner gesetzlichen Konturierung im Sinne eines konstituierenden Tätigwerdens wie dies etwa für institutionelle Gewährleistungen regelmäßig erforderlich ist. Kurzum: Der Begriff natürliche Lebensgrundlagen ist an sich kein erst durch die gesetzliche Normierung konstituiertes Rechtsinstitut, er soll vielmehr durch verfassungsrechtliche Normierung rechtlichem Schutz zugeführt werden138. Von diesem Grundsatz ausgehend, läßt sich zumindest feststellen, daß der Bedeutungsinhalt der natürlichen Lebensgrundlagen bis zu einem gewissen Grad klar bestimmbar und auch als unumstritten anzusehen ist. Wenn überhaupt von Unbestimmtheit des Schutzgegenstands die Rede ist, kann dies nur dort sein, wo es im konkreten Fall um deren greifbare Abgrenzung der Reichweite und des Umfangs geht. Dies ist aber kein spezifisches Problem der Umweltschutzklausel. Für die verfassungsrechtlichen Bestimmungen ist eine substantielle, abschließende Definition ohnehin kaum möglich139. Der Schutzbereich und dessen Grenze lassen sich allenfalls um-
135
Es fand sich vielfach der Hinweis auf Bedenken über die inhaltliche Unbestimmtheit des Begriffs der natürlichen Lebensgrundlagen schon in Stellungnahmen zu der Aufnahme eines Umweltschutzstaatszieles ins Grundgesetz. Vgl. z.B. Badura, Bundestags-Anhörung, S. 33; Isensee, Bundestags-Anhörung, S. 279; Kloepfer, DVB1. 1988,305 (312ff.); Murswiek, ZRP 1988, 14 (16 f.); Rupp, DVB1. 1985, 991; Rauschning, DÖV 1986, 489 (490ff); Stern, NWVBL 1988,1 (5). 136 Vgl. auch Murswiek, ZRP 1988,14 (17). 137
So Rauschning, DÖV 1986,489 (491). Bull, Bundestags-Anhörung, S. 156; Rauschning, DÖV 1986,489 (492). 139 Dies zeigt sich schon klar bei den Grundrechtsbestimmungen, wobei der Schutzbereich durch Auslegung zu ermitteln ist und dabei nicht immer unproblematisch ist; vgl. nur Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 164, Rn. 36ff. Darüber hinaus läßt sich wohl sagen, 138
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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schreiben. Dies gehört übrigens zu der Aufgabe der Verfassungsinterpretation. Um den Schutzbereich präziser zu umschreiben, ist bei den begrifflichen Elementen der ausgewählten Formulierung anzusetzen. 1. Vom Wortlaut her bietet sich der Bezug auf die Natur als erster Anhaltspunkt an. Die natürlichen Lebensgrundlagen setzen eindeutig an den natürlichen Elementen der Umwelt 140 an: Gedacht ist nur an die außermenschlich und ohne Zutun des Menschen entstandene biologisch-physische Sphäre, die hauptsächlich aus den Umweltmedien (Boden, Wasser und Luft), den Umweltfaktoren (einerseits die unbelebten wie Ruhe, Klima, andererseits die belebten wie Tiere, Pflanzen und sonstige Lebewesen) sowie dem übrigen Ökosystem in seiner Gesamtheit mit den verschiedenen Stofflereisläufen und dem Energiehaushalt besteht141. Mit diesem Merkmal läßt sich zuerst die sogenannte „soziale Umwelt" oder „soziale Lebensgrundlage", die sich auf die menschlichen Beziehungen und die Institutionen bezieht142, aus dem Schutzbereich ausgrenzen. Auch die vom Menschen geschaffenen und gebauten Elemente der Umwelt, also künstlich hergestellte Gegenstände wie Gebäude, Verkehrswege, Brücken usw. sind ebenfalls vorerst aus dem Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen ausgenommen. Insoweit könnte zumindest die Gefahr vermieden werden, den Schutzbereich der Umweltschutzklausel uferlos und allzu weit zu fassen. Die Grenze zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen ist jedoch sehr fließend Die Abgrenzung ist besonders schwierig, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es eine vom Menschen unberührte Umwelt auf der Erde kaum noch gibt. Der Urzustand der Natur ist längst „weitgehend und großteils unwiderruflich durch eine künstliche, von der Zivilisation vollbrachte Umwelt überlagert"143. Selbst unbelebte Urlandschaften wären angesichts der von Menschen verursachten, weiträumigen, staatsgrenzenüberschreitenden Umweltverschmutzung - wie z.B. Luftverunreinigungen - nicht ganz frei von menschlichen
daß sich eine abschließende inhaltliche Umschreibung bei allen auf positives Tätigwerden des Staates abzielenden Verfassungsnormen prinzipiell entzieht. Inhaltliche Unbestimmtheit in diesem Sinne ist vielmehr solchen Verfassungsnormen immanent. Als Beispiel seien hier nur das Sozialstaatsprinzip und die grundrechtlichen Schutzpflichten zu nennen. 140
Michel, NuR 1988,272 (274).
mi Triffterer, in: Baur/Virt (Hrsg.), Für ein Lebensrecht der Schöpfung, S. 51; zitiert in Hattenberger, Der Umweltschutz als Staatsaufgabe, S. 28. Vgl. auch Setting , NuR 1989,325 (325). 142 Unter sozialer Umwelt ist das soziale Umfeld des Menschen wie die menschlichen Beziehungen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Einrichtungen sowie staatlichen Institutionen zu verstehen; vgl. Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, S. 3; Wicke, Umweltökonomie und Umweltpolitik, S. 6. 143 H Huber, in: FS H. Klecatsky, 353 (360).
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Einflüssen 144. Unter diesen Umständen ist es höchstfraglich, ob auf der Erde noch „natürliche" Natur, d.h. ohne menschliches Zutun bleibende Natur, vorhanden ist Würde all die vom Menschen entwickelte sog. Kulturlandschaft gänzlich als nicht „natürlich" gesehen, wäre die Umweltschutzklausel schließlich gegenstandslos. Es ist daher zwangsläufig, daß bei der Definition des Begriffs „natürlich" das Fehlen jeglichen menschlichen Eingriffs nicht erforderlich ist145. Das Merkmal „natürlich" soll danach nicht nur als die urwüchsige Natur, sondern auch weitgehend als der von Menschen gestaltete, genutzte, beeinflußte, aber nicht als der vom Menschen gemachte Lebensraum im Sinne von Kulturlandschaft verstanden werden146. 2. Ein weiterer Anhaltspunkt zur Präzisierung des sachlichen Schutzbereiches ist die Wortwendung „Lebensgrundlagen". Damit deutet sich schon der Schutzzweck an: Als Schutzobjekte des Umweltstaatsziels sollen nicht alle natürlichen Elemente der Umwelt, sondern nur die, die zu den Grundlagen des Lebens gehören, zählen. Danach sind unter den natürlichen Lebensgrundlagen zuvörderst sämtliche Bedingungen und Erfordernisse zur Ermöglichung der physischen Existenz des Lebewesens zu verstehen. Dementsprechend sind sodann diejenigen Güter in den Schutzbereich miteinzubeziehen, ohne die das Leben in all seinen Formen nicht hätte entstehen können und ohne die es über längere Zeiträume nicht fortbestehen könnte147. 3. Fraglich ist, ob „Leben", das vom Wort ausgehendfreilich auch als Leben in sämtlichen Formen, d.h. neben dem menschlichen Leben auch z.B. als das der Tiere, Pflanzen, Bakterien oder Viren, begriffen werden könnte148, näher eingegrenzt werden soll. Diese meist mit dem konzeptionellen Streit der Umweltpolitik um den sog. anthropozentrischen bzw. ökozentrischen Umweltschutz149 zusammengeführte Frage wird trotz der heftigen Strittigkeit nicht im Wortlaut
144 Vgl. auch Rauschning, DÖV 1986,489 (491); Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 104 ff. 145 So auch Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 105 ; Bock, Umweltschutz, S. 200. 146 Vgl. Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, S. 4; Bock, Umweltschutz, S. 200 f.; Hattenberger, Der Umweltschutz als Staatsaufgabe, S. 30 f. 147 Vgl. Keller, KJ 1986,339 (339 ff), zu §1 Abs. 4 BNatG. 148 Vgl. auch Rauschning, Bundestags-Anhörung, S. 219. 149 Der ökozentrische Umweltschutz zielt auf den Schutz der Umwelt um ihrer selbst willen, will sogar „ E i g e n r e c h t e der Natur " annehmen. Vgl. nur Kloepfer, Umweltrecht, S. 13. Für die bedrohlich zunehmende Zerstörung der Natur wird von einer Strömung innerhalb der Umweltschutzbewegung der herrschende Anthropozentrismus verantwortlich gemacht. Um das Oberlebensinteresse der Natur wirksam schützen zu können, sei die Anerkennung eigener Rechtspositionen der Natur, der einzelnen Lebewesen, notwendig. Vgl. etwa Bosselmann, KJ 1985,345 und 1986,1; ders., NuR 1987,1; ablehnend Keller, KJ 1986,339.
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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durch den Zusatz „des Menschen" ausdrücklich festgelegt150. Bedeutet die Lebensgrundlagen nicht nur die Grundlagen menschlichen Lebens, dann würde es nur folgerichtig sein, daß auch die nicht auf menschliche Interessen bezogenen natürlichen Grunderfordernisse für andere Lebewesen als Schutzobjekte berücksichtigt werden müssen. Im extremen Fall könnte es auch dazu führen, daß die Natur als Lebensgrundlage für bestimmte Lebewesen zu schützen ist, selbst wenn es dem Bedürfiiis des Menschen zuwiderläuft 151. Es bleibt daher zu erläutern, ob Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ohne Bezugnahme auf Menschen verfassungsrechtlich begründbar ist. In der auf die Verantwortung vor Gott und den Menschen rekurrierenden Präambel und in den Grundrechten, vor allem in der kantisch geprägten Menschenwürdegarantie des Art 1 des Grundgesetzes, die ein Verfassungsprinzip im Sinne eines tragenden Konstitutionsprinzips152 darstellt und in die „Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG einbezogen wird, läßt sich eindeutig erkennen, daß die Verfassungsordnung des Grundgesetzes sich als eine anthropozentrische Wertordnung versteht, in deren Zentrum der Mensch als Orientierungspunkt allen staatlichen Handelns steht. Danach müssen sich die Motive und Ziele der Gesetzgebung sowie diejenigen des Gesetzesvollzugs auf den Menschen beziehen153. Schutzwürdig sind von Verfassungs wegen vornehmlich die auf Menschen bezogenen Interessen, wobei dies hinsichtlich der Umweltfragen ebenfalls gilt. Gegenstand des verfassungsrechtlichen Umweltschutzes kann daher nicht die Natur und Umwelt aus eigenem Recht, sondern können nur die biologischphysischen Lebensgrundlagen des Menschen sein. Zu schützen ist der Mensch in seiner Biosphäre154. Danach ist die Natur als solche das menschliche Interessen vermittelnde Schutzobjekt; sie selbst stellt keinen Eigenwert dar, sondern ist
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Bei der langjährigen Debatte über die Aufnahme der Umweltschutzklausel ins Grundgesetz spielte die Schutzrichtungsfrage - anthropozentrisch oder ökozentrisch - immer eine Rolle. Die Frage, ob der Schutzgegenstand der natürlichen Lebensgrundlagen durch eine konkrete Bezugnahme auf den Menschen bestimmt werden soll, steht in diesem Zusammenhang. Vgl. Denninger, in: Bundestags-Anhörung, S. 171; Rauschning, in: BundestagsAnhörung, S. 219; Lerche, in: Bundestags-Anhörung, S. 203; Stern, NWVB1. 1988,1 (5). Vgl. auch Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 144. 151 Vgl. Kloepfer, DVB1. 1988, 305 (313); Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S.109 f. 152 „Die Würde des Menschen ist im Grundgesetz oberster Wert." BVerfGE 6, 32 (41); ständiger Rechtsprechung. 153 Bender/Sparwasser, Umweltrecht, S. 1. 154 Vgl. die von der Verfassungskommission gezogenen Konsequenzen, Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 144, vgl. auch Rn. 155. 6 Tsai
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Objekt des Menschen 155 . Unter solchen Umständen ist es kaum von Bedeutung, ob die Umweltschutzklausel mit dem Zusatz von „des Menschen" formuliert ist oder nicht156. Auch eine darauf verzichtende Formulierung würde keinen Umweltschutz „gegen den Menschen" ermöglichen, sondern sie bliebe als primär objektiv-rechtlich zu verstehendes Prinzip dem Menschenbild des Grundgesetzes verpflichtet 157. Dieses Ergebnis wird auch durch den Hinweis auf die künftigen Generationen - was eindeutig auf Menschen bezogen ist - bestätigt. Hervorzuheben ist aber, daß die Umweltschutzklausel offensichtlich die außermenschliche Natur zum Schutzgegenstand macht, wenn auch die Bestimmimg des Schutzumfangs sowie der Schutzgrenze ausschließlich auf menschliche Interessen zugeschnitten ist. Menschliche Interessen halten sich eher im Hintergrund bei einem so gearteten Umweltschutzgebot. Dabei offenbart sich der entscheidende Unterschied zu den übrigen Verfassungsbestimmungen, vornehmlich den Grundrechtsgewährleistungen, die auch Umweltschutzrelevanz aufweisen können158. Solcher außermenschliche Schutzgegenstand dient freilich den Allgemeininteressen der Menschheit, kann auch nur objektiv begriffen werden. Es darf des weiteren nicht übersehen werden, daß eine Abgrenzung der für menschliches Leben unerläßlichen natürlichen Grundbedingungen von solchen, für menschliches Leben nicht relevanten natürlichen Elementen theoretisch zwar vorstellbar ist, sich aber praktisch kaum durchsetzen läßt. Denn die Komplexität des ökologischen Gesamtgefüges und die bislang verfügbare Erkenntnis des Menschen verbieten es, für bestimmte Teile der Natur festzustellen, daß sie für die menschliche Existenz ohne Bedeutung waren, sind oder sein werden159. Daher müssen die natürlichen Lebensgrundlagen notgedrungen breit interpretiert werden: Der potentielle Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen erstreckt sich unvermeidlich auch auf Bereiche, die auf den ersten Blick in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Menschen zu stehen scheinen160. Insofern müssen die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen zwangsläufig
155
Das schließt aber nicht aus, daß die Natur dem Menschen um seiner selbst willen anvertraut wird. Die Verantwortung des Menschen für sich selbst verlange also auch Verantwortung für die Natur. Vgl. Leisner, in: Bundestags-Anhörung, S.195. 156 So auch z.B. Bull, Bundestags-Anhörung, S. 154; Denninger, Bundestags-Anhörung, S. 173. Für eine ausdrückliche Nennung „des Menschen" etwa Lerche, in: BundestagsAnhörung, S. 51,203. 157 158 159 160
Vgl. Heinz, Der Staat 1990,415 (426). Siehe unter in 8. Kapitell. Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S.107. Hoppe, Bundestags-Anhörung, S. 184; vgl. Kloepfer, DVB1. 1988,305 (313).
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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die Natur als Ganzes einschließen161; so können jedenfalls mittelbar mit dem Menschen verbundene, natürliche Umweltgüter wie allgemein die Tier- und Pflanzenwelt und der Naturhaushalt in den verfassungsrechtlichen Schutzbereich einbezogen werden162. Wichtig ist weiterhin, daß die so verstandenen Lebensgrundlagen auch nicht als starrer, rückwärts gerichteter Begriff aufgefaßt werden sollen. Es ist zutreffend darauf hingewiesen worden, daß der Begriff „natürliche Lebensgrundlagen" nur dynamisch undprozeßhaft verstanden werden kann; d.h. zugrundegelegt werden muß ein dem jeweiligen Entwicklungsstadium des Menschen als kultur- und wirtschaftsschaffenden Wesen angepaßtes Verständnis der natürlichen Lebensgrundlagen163. 4. Der Schutzgegenstand und der Schutzgehalt der Umweltschutzklausel existieren keineswegs isoliert im Verfassungssystem des Grundgesetzes. Aus dem Leitgedanken der „Einheit der Verfassung" heraus muß die Umweltschutzklausel zwangsläufig im Lichte des grundgesetzlichen Normgefüges interpretiert werden. Bei der Konkretisierung des Schutzgegenstandes der Umweltschutzklausel sind daher auch die vorhandenen verfassungsrechtlichen Schutzgüter und Wertentscheidungen zu berücksichtigen und daraus sachliche Implikationen für Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu entnehmen. Dabei spielen insbesondere die Grundrechtsgewährleistungen für die Konturierung des schutzgegenständlichen Horizontes eine erheblichen Rolle. Dies ergibt sich nicht
161
Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 108. Die Differenzierung zwischen Anthropozentrik und ökozentrik kann daher nicht strikt durchgehalten werden, schon weil sich beide Schutzzwecke überlagern. Vgl. Bender/Sparwasser, Umweltrecht, S. 1. 162
So auch Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 144. Auf diese Weise könnte der umstrittene Tierschutz, dessen verfassungsrechtlicher Aufnahmeversuch neulich bei der Gemeinsamen Verfassungskommission gescheitert ist (vgl. BT-Dr. 12/6000, S. 68 ff), auch teilweise den Verfassungsrang erhalten, was eine entscheidende Rolle zur verfassungskonformen Auslegung der tierschutzrechtlichen Befugnisnormen (z.B. §§ 7, 8, 9, 10 TierSchG) im Hinblick auf die Einschränkbarkeit der vorbehaltlosen Wissenschafts- und Forschungsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) spielen könnte. Vgl. BVerJG (Kammerbeschluß), NVwZ 1994, 894; Kloepfer, JZ 1986,205 (206); pier, NuR 1991,162 (163ff); Frankenberger, KJ 1994,421 (431 ff). Dabei soll der Tierschutz aber immer noch als ein Faktor der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen insofern geschützt werden, als aufgrund des qualitativen und quantitativen Ausmaßes der Beeinträchtigung der natürlichen Lebensgrundlagen zugleich die Lebensräume der Tiere beeinträchtigt würden. Ein Schutz vor nicht artgemäßer Haltung und vor vermeidbarem Leiden der Tiere würde damit nicht erreicht. Dazu vgl. Brohm, JZ 1994,213 (219). 163
Heinz, Die Problematik des Staatszieles Umweltschutz im Lichte der Unterscheidung von subjektiven Rechten und objektivem Recht,in: Gegenwartsfragen des öffentlichen Rechts, S. 181 ff. (191), unter Hinweis auf Steiger, in: BR-Prot. der 551. Sitzung des Rechtsausschusses und der 544. Sitzung des Ausschusses für innere Angelegenheiten v. 10.06.1985, S. 48 f. 6*
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
zuletzt daraus, daß bei einer nicht auf „Staatsräson", sondern höchstens auf „Verfassungsräson" gerichteten Verfassung, wie dem Grundgesetz, die verfassungsrechtlichen Zielkonzeptionen notwendigerweise eine weitgehende inhaltliche Ausrichtung auf die Wahrung, Beachtung und Förderung der Interessen und Rechtspositionen der Bürger erfahren, wobei die Grundrechtsgewährleistungen die entscheidende Stellung einnehmen. Die Staatszielbestimmung, die von Verfassungs wegen dem Staat die Wahrung und Gewährleistung bestimmter Allgemeininteressen - hier Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen - abverlangt, wird demnach durch die grundrechtlichen Positionen mitgeprägt164. Führt man sich die Grundrechte vor Augen, steht zuerst fest, daß eine Reihe von grundrechtlich geschützten Rechtsgütern und Interessen des Menschen wesentliche Ansatzpunkte für die Konturierung der Umweltschutzklausel bilden. Ganz offenkundig ist dies im Hinblick auf die Gewährleistung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG). Der gravierende Zusammenhang zwischen dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und diesen vitalen Grundrechten bedarf keiner Erklärung. Die Formulierung des Schutzgegenstandes der Umweltschutzklausel impliziert schon eindeutig diesen Sinnzusammenhang. Evidente Relevanz zeigt sich auch bei dem Recht auf Eigentum (Art. 14 GG), bei dem die Umweltschutzbelange auch klar zutagegekommen sind, insbesondere in bezug auf Grundeigentum165. Angesichts der immanenten Offenheit und Unbestimmtheit des Schutzbereiches der Umweltschutzklausel läßt sich die Bestimmung des Schutzbereiches aufgrund des Vorhandenseins der Grundrechtsrelevanz unterstützen166. 5. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß der mit dem Begriff der natürlichen Lebensgrundlagen gefaßte sachliche Schutzbereich der Umweltschutzklausel trotz ihrer auf den ersten Blick herrschenden Unbestimmtheit und Offenheit nicht völlig konturenlos ist. Ansatzpunkte für die Konkretisierung sind in erster Linie die den Gegenstand umhegenden Merkmale. Dabei hilft jeweils das Merkmal der natürlichen Elemente der Umwelt und das Merkmal der für die menschliche Existenz als unentbehrlich angesehenen Lebensgrundlagen. Als weitere
164
Vgl. Michel, Staatszwecke, S. 292 f.; Sommermann, DVB1. 1991,34 (35). Dazu siehe unten in 8. Kapitel I B 3) b) ii) (2). 166 Aus der Sicht der umweltschutzrelevanten Grundrechtsgewährleistungen gilt die Einwirkung der Umweltschutzklausel auch als eine Verstärkung der Geltungskraft der bezogenen Grundrechte. Dabei lassen sich - Michel zufolge - drei Arten von Effekten unterscheiden: zum einen die Verstärkung subjektiv-abwehrrechtlicher Gehalte der Grundrechte, zweitens die Verstärkung objektiv-rechtlicher Gehalte der Grundrechte, und drittens die Umwertung der Grundrechte in Leistungs- und Teilhaberechte, die in engem Zusammenhang mit der Subjektivierung der Umweltschutzklausel stehen. Vgl. Michel, Staatszwecke, S. 289; ders., NuR 1988,272 (275 ff.); auch Peters, NuR 1987,293 (295). 165
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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Ansatzpunkte der Konkretisierung ist dann auf solche Grundrechte zurückzugreifen, welche sachliche Relevanz für Umweltschutzbelange aufweisen. B. Die zeitliche Dimension des Schutzbereichs Anschließend an diese Feststellung, daß nur die auf Menschen bezogenen natürlichen Lebensgrundlagen der Schutzgegenstand des Art. 20a GG sind, fallt gleich die Frage der zeitlichen Reichweite des Schutzes ins Auge. Die Problematik des Umweltschutzes läßt sich seit langem nicht mehr auf die gegenwärtige Situation beschränken. Immer deutlicher wird vielmehr die Frage nach der staatlichen Verantwortung bezüglich der sog. „Langzeitrisiken" der modernen Industriegesellschaft ins Blickfeld gerückt. Die fortschreitende Umweltverschmutzung und Naturzerstörung könnte keine zeitlich sofortige Wirkung für heute Lebende haben, aber fatale Katastrophen in der Zukunft für die kommenden Generationen bereiten; jedenfalls könnten die mit dem technischen Fortschritt einhergehenden Langzeitrisiken die künftigen Generationen erheblich belasten. Ein besonders brisantes Problemfeld, auf dem sich die staatliche Verantwortung zur Wahrung der natürlichen Lebensgrundlagen im Zuge einer langfristigen Entwicklung bewähren muß, ist diefriedliche Nutzung der Kernenergie und die damit einhergehende atomare Entsorgung hochradioaktiver Stoffe, die wegen der langsam abklingenden Strahlung eine Bürde für die nachfolgenden Generationen darstellt167. Die Schutzbedürftigkeit und die Schutzwürdigkeit dieser künftigen Generationen wird sich deshalb kaum leugnen lassen. In diesem Zusammenhang ist also darüber nachzudenken, ob der Staat hier und jetzt auch zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen für die künftigen Generationen verfassungsrechtlich verpflichtet ist. Diese Problematik wird nicht selten als „Nachweltschutz"168 gekennzeichnet, und umfaßt u.a. die Fragen nach Rechten der künftigen Generationen im geltenden Verfassungsrecht und nach der Reichweite der Verantwortung des Staates für die Nachwelt169. Vor diesem Hintergrund wird bei der neuen Umweltschutzklausel im Wortlaut die „Verantwortung auch für die künftigen Generationen" hervorgehoben. Fraglich ist, was darunter zu verstehen ist und wozu dieser Zusatz beizutragen hat.
167
Abgesehen von den bislang wenig geklärten Auswirkungen der Wiederverarbeitungsund Endlagerungstechnik auf Menschen muß die radioaktive Endlagerung hochaktiven Atommülls nach im Schrifttum vertretener Auffassung nicht selten Jahrtausende überwacht werden; z.B. beträgt die Halbwertzeit bei Restplutonium (Pu 239) 24360 Jahre. Vgl. Bender/Sparwasser, Umweltrecht, Rn. 465; Hofmann , Rechtsfragen , S. 258. 168 Hofmann , Rechtsfragen, S. 278 ff. 169 Vgl. Hofmann, Rechtsfragen, S. 258 ff; ders., ZRP 1986,87 (87ff); Saladin/Zenger, Rechte künftiger Generationen, S. 10 ff.
86
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Wie oben schon erwähnt, dient die Umweltschutzklausel als eine objektivrechtliche Staatszielbestimmung. Sie verpflichtet den Staat primär objektiv und ist zukunftsorientiert. Die daraus gefolgerte Schutzpflicht des Staates - wie es auch bei grundrechtlichen Schutzpflichten der Fall ist170 - existiert mithin völlig unabhängig davon, ob die Schutzobjekte Subjekt-Qualität haben und ob ein entsprechendes individuelles Recht auf Seiten des Schutzbegünstigten zur Geltendmachung der Schutzvorkehrungen besteht oder nicht. Wichtig ist, daß die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen als verfassungsrechtliches Schutzgut vom Staat mit jetzigen Maßnahmen vor Beeinträchtigungen in Schutz genommen werden müssen. Mit dem Menschen ist hier eher die biologische Kategorie gemeint, nicht aber ein bestimmter Mensch oder bestimmte Menschen, in welcher zeitlichen oder räumlichen Dimension sie auch immer sich bewegen. Bei einem derartigen objektiv verstandenen Begriff läßt sich schwerlich von der „zeitlichen Reichweite" reden und es sollen deswegen nicht nur gegenwärtige, sondern auch zukünftige Menschen in den Begriff mit eingeschlossen werden171. Die Frage, ob das Grundgesetz in der ferneren Zukunft, in 100 oder 1000 Jahren, noch gilt oder nicht, spielt hier überhaupt keine Rolle172. Dementsprechend ist festzustellen, daß die künftigen Generationen selbstverständlich ebenso vom Begriff des Menschen umfaßt werden und deshalb auch Bezugspunkt der staatlichen Umweltschutzaufgabe sind173. Insoweit dient die ausdrückliche Nachweltorientierung „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen" in Art. 20a GG als keine eigenständigen Inhalt erzeugende Kraft, sondern wohl nur als eine Bestätigung der vorangegangenen Gedanken174.
170
Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 207ff.; Die tiein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 126. 171 Insoweit ist es bei der Staatszielbestimmung nicht anders als bei den grundrechtlichen Schutzpflichten, die den Staat zum Schutz der grundrechtlichen Schutzgüter auch objektiv verpflichten und zwar - wie Hofmann am Beispielder Schutzgüter Leben und Gesundheit in Art. 2 Abs. 2 S.l GG ausführte - nicht nur für gegenwärtige, sondern auch für künftige Generationen: „Gleichviel ob eine gegenwärtig praktizierte Technik Leben und Gesundheit von Menschen heute, in 100 oder erst in 1000 Jahren bedroht, verpflichtet Art. 2 Π 1 GG hier und jetzt zu Gegenmaßnahmen." Hofmann, Rechtsfragen , S. 553. Siehe dazu auch Kloepfer, DVB1.1988,305 (313), m. w. N. 172
So auch Hofmann, Rechtsfragen, S. 553. Ähnlich auch Badura, in: Lukes/ Birkhofer, Achtes Deutsches Atomrechts-Symposium, 1989,227 (241); Leisner, in: Bundestags-Anhörung, S. 194 ff. Anders sah dies aber z.B. die Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge", die der Auffassung war, daß es eine Schutzlücke hinsichtlich des Lebens- und Gesundheitsschutzes künftiger Generationen gebe; siehe Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 142. 174 So auch Lübbe-Wolff, Stellungnahme in: Stenographischer Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 7; Müller, Stellungnahme in: Stenographischer Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 9. 173
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
87
Die Feststellung, daß der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen auch unter Berücksichtigung der künftigen Generationen zu schützen hat, hat nichts damit zu tun, ob den künftigen Generationen auch „Rechte" zuerkannt, geschweige denn ob diese gegen das Handeln heute Lebender durchgesetzt werden175. Die Bedeutung eines verfassungsrechtlichen Bekenntnisses zur Verantwortung für die künftigen Generationen liegt vielmehr darin, daß der Staat bei der Wahrnehmung der heutigen Maßnahmen bezüglich des Umweltschutzes auch die Zukunftsrisiken mit einkalkulieren muß; eine unmittelbare Berührung individueller Rechtsgüter ist dabei nicht erforderlich. Das bedeutet nichts anderes als das, daß der durch heutige Risikohandlungen verursachten Gefahrdung für die Nachwelt, die nach den gegenwärtig verfügbaren wissenschaftlichen Prognosetechniken vorauszubestimmen ist, durch heutige staatliche Maßnahmen entgegengewirkt werden soll176. In diesem Sinne ist der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung für künftige Generationen wohl auch zutreffend als „Überlebenssicherung"177 im Sinne von „Zukunftssicherung"178 zu deuten. Eine zeitliche Abgrenzung zwischen Generationen, nämlich zwischen heutiger und künftiger Generation, ist ohnehin kaum möglich. Vom Juristischen her gesehen wäre es deshalb, wie Badura zeigt, gegenstandslos von einer generationenübergreifenden Güterabwägung oder einem je generationenbezogenen Vorteils- und Nachteilskalkül zu reden179. Unvermeidlich mag es jedoch sein, daß die größere Fernwirkung der heutigen Handlungen in die Zukunft eine geringere oder geringe Beherrschbarkeit der Wirkungen ergibt und daß diese Besonderheit der zukunftswirksamen Entscheidung für die Abwägung ins Gewicht fallen muß180. Nicht zuletzt zeigen sich bei genauerem Hinsehen in dieser Beschränktheit des menschlichen Erkenntnisvermögens auch die faktischen
175 Henseler, AöR 108 (1983), 489 (551); Murswiek, Die Verantwortung des Staates, S. 212ff:, Badura, in: Lukes/Birkhofer, Achtes Deutsches Atomrechts-Symposium, 1989,227 (241). 176 Vgl. Hofmann , Rechtsfragen, S. 270; Henseler, AöR 108 (1983), 489 (553); Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 211, 215; ders., ZRP 1988 14 (16); Kloepfer, in: ders., Umweltstaat, S. 39 ff. (48). 177 Kloepfer,OVBL 1979,639 (641); Bericht der Sachverständigenkommission, S. 79, 82. 178 Kloepfer, DVB1.1979,639 (642). 179 Badura, in: Lukes/ Birkhofer, Achtes Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 227 ff. (241), unter Hinweis auf Henseler, AöR 108 (1983), 489 (544); Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 212. 180 Badura, in: Lukes/ Birkhofer, Achtes Deutsches Atomrechts-Symposium, S. 227 ff. (241), unter Hinweis auf Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 216; Hofmann, ZRP 1986,87 (89) und die Abweichende Meinung Mahrenholz, BVerfGE 77,170 (234/237).
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Grenzen des Nachweltschutzes181. Unter solchen Umständen sei die Frage nach dem „Recht" der künftigen Generationen dahingestellt182. C. Die Stellung der natürlichen Lebensgrundlagen als Schutzgut in der verfassungsmäßigen Ordnung des Grundgesetzes 1. Durch die neu aufgenommene Umweltschutzklausel nehmen die natürlichen Lebensgrundlagen ausdrücklich als verfassungsrechtliches Schutzgut einen Platz im Grundgesetz ein. Im Grundgesetz bestehen jedoch noch andere ebenfalls explizit oder implizit anerkannte Schutzgüter oder Interessen, die mit den Umweltschutzbelangen - zumindest potentiell - kollidieren könnten, wie paradigmatisch Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Energieversorgung, Verkehr usw. Wie sich das Gewicht des Umweltschutzes gegenüber diesen verhält, ist fraglich. Es geht nämlich darum, wie das neu aufgenommene Schutzgut in die gesamte Verfassungsordnung einzuordnen ist; anders ausgedrückt, welcher Stellenwert diesem Schutzgut im Verhältnis zu anderen Verfassungsgütern zukommt. Diese Frage bildete einst einen Schwerpunkt bei der verfassungspolitischen Diskussion. Bedenken wurden vielfach darüber geäußert, daß durch eine ausdrückliche Aufiiahme dieses Umweltschutzgutes in das Grundgesetz die übrigen verfassungsrechtlichen Güter und Interessen auf den zweiten Rang zurückgedrängt werden könnten, wenn also einseitig primär zugunsten des Umweltschutzes entweder im Verfassungstext klar entschieden, oder ihm sekundär durch Interpretation eine Vorrangstellung eingeräumt würde183. Um der Gefahr zu entgegnen, sollte die Formulierung der Umweltschutzklausel durch eine Art Abwägungsbestimmung o.ä. explizit auf die Abwägimg mit anderen Schutzgütern und Interessen hinweisen184.
181
Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 207. Ob noch nicht Geborene subjektive Rechtsträger sein können, hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt offengelassen; vgl. BVerJGE 39,1 (41); 45,376 (386). 183 Besonders skeptisch zu dem Formulierungsvorschlag:„Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen unter dem besonderen Schutz des Staates" (Vgl. u.a. Gesetzesentwurf der SPDFraktion in der 11. Legislaturperiode v. 18.02.1987, BT-Dr. 11/10; Formulierungsvorschlag der Kommission Verfassungsreform beim Bundesrat v. 08.10.1991). Der Ausdruck „besonderer Schutz" könnte nämlich die Priorität des Umweltschutzes gegenüber anderen Belangen im Rahmen des gebotenen Abwägungsprozesses zur Folge haben. Dazu vgl. Bull, Bundestags-Anhörung, S. 155; Hoppe, Bundestags-Anhörung, S. 184; Murswiek, ZRP 1988, 14 (17); Stern, NWVB1. 1988,1 (6). 182
184
Randelzhofer, Bundestags-Anhörung, S. 210; Leisner, Bundestags-Anhörung, S. 88 f. u. 199 f. Der Formulierungsvorschag vgl. z.B. Art. 20a Abs. 2 des Gesetzesentwurfs des Bundesrats in der 11. Legislaturperiode (BT-Dr. 11/885): „Bund und Länder regeln das Nähere in Gesetzen unter Abwägung mit anderen Rechts
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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Vor diesem Hintergrund läßt sich wohl zum Teil die „mit staatsrechtlichen Selbstverständlichkeiten verklausulierte"185 Formulierung der Umweltschutzklausel erklären. Nach dem Wortlaut des Art. 20a GG stehen die natürlichen Lebensgrundlagen „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung" unter staatlichem Schutz. Die Formulierung will nämlich dem möglichen Mißverständnis etwas entgegensetzen, den Umweltschutzgütern hinsichtlich anderer ebenso verfassungsrechtlich gewährleisteter Schutzgüter und Interessen Priorität verliehen zu haben186. Der Bezug zur „verfassungsmäßigen Ordnung" will also die nötigen Ausbalancierungen mit anderen verfassungsrechtlichen Schutzgütern leisten187; er stellt sich also als ein „Abwägungsvorbehalt"188 dar. Was man unter der Formel „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung" genauer zu verstehen vermag, ist jedoch unklar und bedarf noch einer Erklärung. 2. Der Ausdruck „verfassungsmäßige Ordnung" ist kein Novum im Grundgesetz; er tritt in mehreren Verfassungsvorschriften auf, nämlich im Art. 2 Abs.l, Art. 9 Abs. 2 und Art. 20 Abs. 3 und Art. 28 Abs. 1 GG, wird jedoch wegen der Mehrdeutigkeit des Begriffe kaum an zwei Stellen im gleichen Sinne interpretiert und zählt daher zu den umstrittensten und schillerndsten Verfassungsbegriffen im Grundgesetz189. Im Grunde genommen lassen sich drei Bedeutungsvarianten unterscheiden. Als weiteste Interpretation des Ausdrucks „verfassungsmäßige Ordnung" ist die „verfassungsgemäße Rechtsordnung" anzusehen. Im Hinblick auf die Gewährleistungsschranke der allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) vertritt das Bundesverfassungsgericht seit dem Elfes-Urteil 190 in ständiger Rechtsprechung191 die Meinung, daß die „verfassungsmäßige Ordnung" alle formell und materiell mit der Verfassung vereinbaren Rechtsnormen umfaßt 192. Viel enger als „verfassungsgemäße Rechtsordnung" ist die verfassungsmäßige Ord-
gütern und Staatsaufgaben. " 185
Isensee, NJW 1993,2583 (2585). Vgl. nur Scholz, GVK-Prot. v. 12. 11. 1992 , S. 25; ders., Energiewirtschaftliche Tagesfragen 1993, S. 344. 186
187
So Meyer-Teschendorf ZRP 1994,73 (76). So Graf Vitzthum, Schriftliche Stellungnahme, in: Stenographischer Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, S. 13. 188
189 190
Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI, Rn. 9.
BVerJGE 6,32 (38). 191 Z.B. BVerJGE 6,389 (342); 7,111 (119); 10,89 (99); 10,354 (363); 17,306 (313); 10,20 (150); 23,288 (300); 24,75 (103); 26,246 (258); 31,222 (229); 34,165 (200); 37, 314 (324); 39,156 (166); 41, 88 (116); 42, 20 (27); 42, 191 (205); 44, 59 (69); 45,400 (413); 47,130 (138); 49,24 (57); 49,168 (180); 50,256 (262). 192 Vgl. nur BVerJGE 6,32 (38).
90
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
nung in Art. 9 Abs. 2 GG, wo es um das Verbot verfassungsfeindlicher Vereinigungen geht. Die verfassungsmäßige Ordnung in Art. 9 Abs. 2 GG ist nur im Rahmen der Verfassungsordnung zu verstehen. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts soll sich die verfassungsmäßige Ordnung im Sinne des Art. 9 Abs. 2 GG, „auf gewisse elementare Grundsätze der Verfassung [...] beschränken"153. So ist dieser Begriff in Art. 9 Abs. 2 GG nach herrschender Lehre völlig194 oder wenigstens überwiegend195 mit der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" (Art. 18 und 21 Abs. 2 S. 1 GG) deckungsgleich, bezeichnet also nur die fundamentalsten Grundsätze der Verfassung, nicht aber alle in der Verfassung stehenden Vorschriften. Weniger strittig ist der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung" in Art 20 Abs. 3 GG. Er geht unzweideutig von dem normativen Vorrang der Verfassung 196 aus, und zielt, der Vorstellung von der Rechtsnormenpyramide nach, auf eine unmittelbare Bindungswirkung des Gesetzgebers an das Grundgesetz197. Es ist daher von Anfang an unumstritten, daß „die verfassungsmäßige Ordnung" im Sinne dieser Vorschrift ausschließlich wie „Verfassung im formellen Sinne", d.h. als Inbegriff der im Grundgesetz enthaltenen Bestimmungen, verstanden werden soll198. Art. 20 Abs. 3 GG steht also, bildlich gesprochen, zwischen Art. 9 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 GG. Wie oben schon erwähnt, dient die Zufügung der Formel „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung" hauptsächlich als ein Kompromiß zur Vermeidung des Mißverständnisses, der Umweltschutz genieße Priorität. Hervorgehoben werden soll damit die verfassungsrechtliche Gleichwertigkeit aller Schutzgüter und Staatsziele, seien es geschriebene oder ungeschriebene. Übrigens steht Art. 20a GG systematisch unmittelbar nach Art. 20 GG, und erzeugt dabei einen Sinnzusammenhang. Bei den Diskussionen der Gemeinsamen Verfassungskommission ging man auch davon aus, daß im Kontext ihres Vorschlages der Begriff „die verfassungsmäßige Ordnung" auf Art. 20 Abs. 3 GG rekurrieren
193
BVerJGE 6,32 (38). Vgl. BVerwGE47,330,351 ff.; Stern, Staatsrecht P, S. 217; Stein, Staatsrecht, S. 128. 195 Scholz teilt diese Meinung auch, sieht jedoch einen etwas über die freiheitliche demokratische Grundordnung hinausgreifenden Begriffsinhalt, wie namentlich das Sozialstaatsprinzip sowie das Bundesstaatsprinzip, ders., in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9, Rn. 127. 196 Vgl. Wahl, Der Staat 1981, 485 (485 ff); Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, §24, Rn. 28; Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §163, Rn. 32 ff 197 Statt viele vgl. nur Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI, Rn. 1 ff ; Badura, Staatsrecht, D 52; Hesse, Grundzüge, Rn. 199. 198 Statt viele vgl. nur Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI, Rn. 9; Badura, D 51; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 163, Rn. 18 ff 194
4. Kap. : Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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sollte199. Alles in allem ist es wohl unzweifelhaft, daß sich „die verfassungsmäßige Ordnung" des Art. 20a wie in Art. 20 Abs. 3 GG auf die Gesamtheit der Normen des Grundgesetzes bezieht200. 3. Ein inmitten der gesamten Verfassungsnormen des Grundgesetzes befindliches Schutzgut der natürlichen Lebensgrundlagen darf einerseits nicht sachwidrig vernachlässigt werden, andererseits kann es aber auch keine Geltungspriorität beanspruchen. Dieser von der Formel „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung" verkörperte Gedanke der Gleichwertigkeit aller Verfassungsgüter ist aber ohnehin eher dem Grundgesetz immanent. „Das Grundgesetz kann nur als Einheit begriffen werden.", so zeigt das Bundesverfassungsgericht: „Daraus folgt, daß auf der Ebene der Verfassung selbst ranghöhere und rangniedere Normen in dem Sinne, daß sie aneinander gemessen werden könnten, grundsätzlich nicht denkbar sind."201 Die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes bildet vielmehr ein „Sinnganzes"202; die in ihr angebrachten Schutzgüter und Interessen sind also verfassungsrechtlich gleichwertig und stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit nebeneinander203. Obwohl das Bundesverfassungsgericht gern von der „Wertordnung"204 des Grundgesetzes und auch der Grundrechte spricht, ergibt sich daraus aber keine feste Vorstellung der Wertehierarchie205. Die Bewältigung und Lösung der möglichen Spannungs- und
199
Vgl. nur Schmude, GVK-Prot. v. 12.11.1992, S. 3; Scholz, ebd., S. 25; Ohle, DÖV 1993,950. 200 Die Forderung, daß der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung" schützt, tangiert auch die Problematik des sog. Gesetzgebungsvorbehalts. Ob die Zufiigung dieser Formel auch als Hinweis auf Gesetzgebungsvorbehalte hinsichtlich der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe anzusehen ist, wird unten behandelt. 201 BVerJGE 3,225,231- Gleichberechtigung. 202
BVerJGE 19,49 (34); 49,24 (55). Vgl. Roßnagel, Radioaktiver Zerfall der Grundrechte? S. 28. 204 Z.B. BVerJGE 6,32 (41); 7,198 (205) - bezüglich des Grundrechtsabschnitts; 10,59 (81); 12,45 (51); 13,46 (51); 13,97 (107); 13,331 (336); 14,288 (301); 21,362 (371 f.). 205 Das Bundesverfassungsgericht hat zwar einst behauptet, daß es eine „Wertrangordnung" gebe ( - Soweit ersichtlich, hat das Bundesverfassungsgericht diese Bezeichnung nur im LüthUrteil einmal ausdrücklich postuliert, s. BVerJGE 1,198 (215) -), aber es bisher, abgesehen von einigen Ausnahmen,vermieden, eindeutig generalisierbare Aussagen darüber zu machen über das, wie sie konkret aussieht. Vgl. Denninger, in: ders., Der gebändigte Leviathan, S. 147; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 167, unter Bezugnahme auf Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 17 ff., 43 ff., 45 ff.; Sachs in: Stern, Staatsrecht ΙΠ/2, S. 562. Die Ausnahmen ergeben sich aus der Bezeichnung der Menschenwürde als oberster Wert (Mephisto-Urteil, BVerJGE 30,173 (193)) sowie des Lebens als „Höchstwert" in der Abtreibungsentscheidung (BVerJGE 39, 1 (42)). Selbst die Menschenwürde und der sie rechtlich verkörpernde „soziale Wert- und Achtungsanspruch des einzelnen" können absolu203
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Kollisionslage zwischen kollidierenden Verfassungsinhalten kann daher nicht auf eine allgemeine verfassungsrechtliche Wertrangordnung zurückzuführen sein; sie kann und muß nur vom Gesetzgeber auf die Herstellung praktischer Konkordanz zielend unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles erfolgen 206. Es besteht grundsätzlich keine verfassungsrechtlich vorbestimmte Priorität irgendeines Rechtsgutes. Dies gilt gleichfalls für den verfassungsrechtlichen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Mit der Zufügung der Formel „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnimg" bestätigt sich also juristisch gesehen nur die Selbstverständigkeit des Verfassungsrechts 207.
I I I . Art des Schutzgebots Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen. Was unter dieser schlichten Schutzverpflichtung zu verstehen ist, mit anderen Worten, welche staatlichen Verhaltensdimensionen daraus zu entnehmen sind, wird im folgenden erläutert.
ten Vorrang vor anderen grundrechtlich geschützten Verfassungsgütern schwerlich beanspruchen; vgl. BVerJGE 30,173 (195) und Denninger, ebd.. In der ersten Abtreibungsentscheidung hat das Gericht zwar ausgeführt:, J)ie Schutzverpflichtung des Staates muß umso emster genommen werden, je höher der Rang des in Frage stehenden Rechtsgutes innerhalb der Wertordnung des Grundgesetzes anzusehen ist. Das menschliche Leben stellt innerhalb der ...(seil. Weit-) Ordnung einen Höchstwert dar..."; BVerJGE 39,1 (42); dabei ist wiederum das Bestehen einer Wertrangordnung angedeutet, wonach Rechtsgüter von höherem und niederem Rang zu unterscheiden wären. Aber ob derartige angenommene Wertrangunterscheidungen - die sich schließlich beliebig behaupten lassen - verfassungsrechtlich rechtfertigbar sind, ist höchst fragwürdig. Das könnte letztlich zur Folge haben, daß der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers erheblich verkürzt wird, da durch die Wertrangbestimmung jeder nur denkbare Kollisionsfall der Schutzgüter schon verfassungsrechtlich vorentschieden würde. In seiner zweiten Abtreibungs-Entscheidung hat das Gericht eher zurückhaltend gezeigt, daß auch der Schutz des Lebens nicht gegenüber jedem anderen Rechtsgut ausnahmslos Vorrang genösse; siehe BVerJGE 88,203 (253f.). Alles in allem ist jedenfalls eine konsequente Rangordnung aller verfassungsrechtlichen Werte nach bisheriger Rechtsprechung des BVerfG nicht abzuleiten. Darauf ist jedoch nicht näher einzugehen, vgl. nur Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 167 ff.; Dieltein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 86 ff ; Sachs in: Stern, Staatsrecht m/2, S. 562 f. 206
Dafür ausdrücklich BVerfGE 41,29 (51); 77,240 (255); 81,298 (308); 83,130 (143); in diese Richtung weisen auch andere Formulierungen, wie „verhältnismäßiger Ausgleich der gegenläufigen, gleichermaßen verfassungsrechtlich geschützten Interessen mit dem Ziele ihrer Optimierung", vgl. BVerJGE 81, 278 (292). Vgl. Denninger, in: ders., Der gebändigte Leviathan, S. 147.; Sachs in: Stern, Staatsrecht m/2, S. 563. 207 So auch GrafVitzthum, Schriftliche Stellungnahme, S. 13, in: Stenographischer Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission.
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
A. Negative Schutzverpflichtung
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- Eingriffsverbot?
Wie schon erwähnt, bezieht sich der Umweltschutz stets auf Gefahrdungslagen. Die die natürlichen Lebensgrundlagen beeinträchtigenden Gefährdungslagen können sowohl von nichtstaatlicher als auch von staatlicher Seite ausgehen. Im Hinblick auf die von staatlicher Seite entstandenen Gefährdungen findet sich die Meinung im Schrifttum, daß aus der Umweltschutzklausel auch ein Eingriffsverbot bzw. Unterlassungsgebot als negative Schutzverpflichtung des Staates zu begründen ist208. Der Staat müsse demzufolge im Prinzip darauf verzichten, die natürlichen Lebensgrundlagen selbst zu gefährden oder zu beeinträchtigen. Als wesentlicher Anhaltspunkt dafür lassen sich die bundesverfassungsgerichtlichen Interpretationen des Art. 6 Abs. 1 GG heranziehen209. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich diese scheinbare Binsenwahrheit jedoch als eher problematisch. Zur Verneinung des Eingriffsverbotes aus der Schutzverpflichtung der Umweltschutzklausel unter Anlehnung an die Interpretation des Art. 6 Abs. 1 GG hat Müller-Bromley210 den inhaltlichen und strukturellen Unterschied zwischen beiden herausgestellt und dargetan, daß wegen der notwendigen Unbestimmtheit des Schutzobjektes einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz konkrete Unterlassungspflichten als gefordertes Verhalten des Staates über das gleiche
208
Nicht zu übersehen ist, daß diese Auffassung hauptsächlich auf Formulierungsvorschlägen wie „Die natürlichen Lebensgrundlagen (des Menschen) stehen unter dem (besonderen) Schutz des Staates." ( Vgl. u.a. der Gesetzesentwurf des Bundesrates v. 10. 7 1987, BT-Dr. 11/885; die Gesetzesentwürfe der SPD-Fraktion v. 18.2.1987, BT-Dr. 11/10.) beruht. Weil der Formulierungsstil dieser Klausel dem in Art. 6 Abs. 1 GG ähnlich ist, wird deshalb die Interpretation des „Schutzes" i. S. v. Art. 6 Abs. 1 GG auch auf diese Umweltschutzbestimmung analog angewandt Vgl. Rauschning, DÖV 1986,489 (491 ff.); Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 141 ff. Diese Frage entbehrt keineswegs der Rechtfertigung, auch wenn die jetzige Formulierung ganz anders lautet. Hierbei handelt es sich nämlich um die eigentliche Auslegung des Wortsinns „Schützen" in der Umweltschutzklausel, das an sich abstrakt jede Gefährdungslage - auch von staatlicher Seite - als Bezug erlaubt. So sahen neuerlich z.B. Pieroth/Jarass in ihrem neuen GG-Kommentar auch eine solche Unterlassungspflicht, Art. 20a Rn. 3. 209
Der Terminus „Schützen" wird vom Bundesverfassungsgericht in der SteuersplittingEntscheidung (E 6, 55, 76) näher erläutert: Der Begriff des „Schützens" bedeute „seinem Wortsinn nach die Förderung des Schutzgutes, die Abwehr von Störungen oder Schädigungen und vor allem den Veizicht des Staates auf eigene störende Eingriffe". Demnach umfasse der in Art. 6 Abs. 1 GG statuierte besondere Schutz der staatlichen Ordnung für Ehe und Familie zwei Dimensionen: positiv die Aufgabe ftlr den Staat, Ehe und Familie nicht nur vor Beeinträchtigungen durch andere Kräfte zu bewahren, sondern auch geeignete Maßnahmen zu fördern, negativ das Verbot für den Staat selbst, die Ehe zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen". 210 Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 145 ff.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Merkmal des „Schützens" unmöglich zu entnehmen seien211. Denn die Vorstellung des Schützens als Eingriffsverbot setze ein hinreichend bestimmtes Schutzobjekt voraus, in das eingegriffen werden kann. Gerade die Unbestimmtheit der Umweltschutzbestimmung verhindere schon diese Möglichkeit. „Wenn nicht einmal bestimmt ist, was geschützt werden soll, ist es erst recht nicht möglich, in dieses imbestimmte Gut nicht einzugreifen." Es unterliege vielmehr auch einem Gestaltungsspielraum hinsichtlich des Zieles212. Als Ergebnis kann, so Müller-Bromley, die Unterlassungspflicht aus der Verbotsseite des „Schutzes" in Art. 6 Abs. 1 GG nicht auf eine Staatszielbestimmung zum Umweltschutz übertragen werden. Kein absolutes Eingriffsverbot sei danach zu entnehmen Abgesehen von dem Ergebnis, scheint dieses Argument nicht genügend zu überzeugen. Das liegt meines Erachtens eher in der Eigenschaft der Staatszielbestimmung im gesamten Verfassungssystem des Grundgesetzes. Das Eingriffsverbot und dementsprechend die Unterlassungspflicht des Staates befinden sich im wesentlichen im Grundrechtsbereich. Auf der klassischen liberalen Staatstheorie beruhend, dienen die Grundrechtsgewährleistungen des Grundgesetzes in erster Linie dazu, die Freiheit gegenüber der Staatsgewalt negatorisch auszugrenzen. Daraus ergeben sich die in den Grundrechten liegenden Eingriffsverbotsaussagen, die mit der Absicherung des Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung binden und Beachtung aller Staatsgewalt fordern 214. Im von den Grundrechten gesicherten gesellschaftlichen Bereich genießt der einzelne danach im Prinzip die Freiheit von staatlicher Gewalt. In diesem Bereich darf der Staat nur dort eingreifen und die grundrechtlichen Freiheiten beschränken, wo die Verfassung selbst dazu ermächtigt. Dieser zugelassene Staatseingriff unterliegt wiederum bestimmten verfassungsrechtlichen Anforderungen, wie etwa dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem Bestimmtheitsgebot etc. Auf diese Weise konstituieren die Grundrechte ihre klassische, abwehrende, dem Staat Grenzen setzende Funktion des status negativus sive libertatis und gewähren dem einzelnen die subjektiven Eingriffsabwehransprüche gegen den Staat. Daraus entsteht dementsprechend die staatliche Unterlassimgspflicht. Jenseits dieses Bereiches des Eingriffsverbotes liegt nach dem Grundgesetz grundsätzlich die politische Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit, die ihrerseits an die grundgesetzliche Verfahrens- und Kompetenzordnung gebunden und von ihr gestaltet ist. Es ist festzustellen, daß es bei Eingriffsverbot bzw. Unterlassungspflicht um die Begrenzung der staatlichen
211 212 213 214
Müller-Bromley, Müller-Bromley,
Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 146 ff. Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 146.
Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 146. Vgl. nur Stern, Staatsrecht m/1, S. 1257.
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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Macht geht215; mit anderen Worten: Das Eingriffsverbot und die Unterlassungspflicht beruhen auf den von den Grundrechtsverbürgungen festgelegten negativen Kompetenzgrenzen des Staates. Diese Unterlassungspflicht des Staates ist des weiteren erst durch die Gewährung des subjektiven Abwehranspruchs wirksam. Die Umweltschutzklausel als eine objektive Staatszielbestimmung steht in der grundgesetzlichen Ordnung auf der Seite der Gestaltung der Staatsgewalt; sie begrenzt die Staatsgewalt nur in dem Sinne, als sie die Gestaltungsspielräume der Staatsgewalt, die ihrerseits durch die grundgesetzliche Verfahrens- und Kompetenzordnung konstituiert wird, gewissermaßen einengt. Mit einer derartigen Verfassungsbestimmung wird dem gesellschaftlichen Bereich keine neue Freiheit vom Staat zuerkannt. Sie begründet außerdem auch kein entsprechendes subjektives Recht, damit eine Unterlassungspflicht des Staates erst vermittelt werden kann. Danach ist ein Eingriffsverbot bzw. ein Unterlassungsgebot verfassungssystematisch in der Regel nicht aus einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz unmittelbar abzuleiten. Dennoch besteht verfassungssystematisch kein Hindernis, aus der Staatszielbestimmung mit ihrem Schutzgebot zugunsten der Umwelt ein derartiges Eingriffsverbot für den Staat mittelbar abzuleiten. Ob und in welchen Fällen sich dieses Verbot im Einzelfall aktualisiert, ist eine Frage der dem Gesetzgeber aufgegebenen Abwägung. Die Unbestimmtheit des Zielinhaltes bleibt hinsichtlich dieser Frage nur von geringfügiger Relevanz: Keine aus objektiv-rechtlichen Grundsatzcharakteren der Grundrechte entnommene Schutzpflicht für die jeweils gewährleisteten Schutzgüter ist bestimmter und klarer als die in der Umweltschutzklausel216. Damit ist aber nicht gemeint, daß die von staatlicher Hand (potentiell) verursachten Gefahrdungslagen der natürlichen Lebensgrundlagen nicht zu berücksichtigen sind. Unter dem Geltungsbereich der Umweltschutzklausel findet die Verhinderung solcher Gefährdungslagen vielmehr im gesetzlichen Ausgestaltungsbereich statt. Dadurch, daß der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Gesetze aller Art stets die Umweltschutzbelange berücksichtigen und eine verfassungsmäßige Zuordnung der in Frage stehenden Schutzgüter samt Umweltschutzgütern durch den „schonendsten Ausgleich"217 bzw. die „praktische Konkordanz"218 unternehmen muß, stellt sich das in der Umweltschutzklausel geschützte Rechtsgut als relevantes Abwägungsmoment dar, dessen Unbeachten
215
Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 105. Selbst das Bundesverfassungsgericht drückt in der Ehegattensteuersplitting-Entscheidung gewissermaßen diese Bedenken aus: „ ...Es kann dahingestellt bleiben, ob auch denkbar sind, in denen seine Fassung bestimmt genug ist, um eine Norm niederen Ranges daran zu messen...."; BVerJGE 6,55 (76). 216
217 218
Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 153. Hesse, Grundzüge, Rn. 72,317.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
verfassungsrechtlich rügenswert ist. Insoweit bringt die Umweltschutzklausel dem Staat eher eine „Abwägungspflicht", nicht aber eine gegenstandslose „Unterlassungspflicht" bei.
B. Positive Schutzverpflichtung-Handlungspflicht Zweifelsohne verpflichtet die Umweltschutzklausel den Staat, die natürlichen Lebensgrundlagen unter Berücksichtigung der künftigen Generationen mit angemessenen Maßnahmen in Schutz zu nehmen. Gefordert ist das Tätigwerden des Staates; insoweit ist es auch folgerichtig, die positive Handlungspflicht als Gebot der Schutzverpflichtung aus Art. 20a GG abzuleiten. Die positive Handlungspflicht zum Schutz kann aber durch die verschiedensten Handlungen der Staatsorgane geschehen: Denkbar sind Gesetzgebung, Verwaltungsakte oder faktisches Handeln der Behörden sowie Tätigkeit des Richters. Festgestellt ist hier doch nur die positive Handlungspflicht als inhaltliches Kennzeichen der verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung des Art. 20a GG; was weiterhin die konkrete Art der Handlungen anbelangt, kommt es darüber hinaus noch auf die Aufgabenverteilung der betroffenen Adressaten an. Es geht dabei also um die Erfüllungsprobleme, nicht aber die tatbeständlichen Voraussetzungen der Schutzverpflichtung des Art. 20a GG.
IV. Schutzbedürftigkeit Mit dem Gebot zu aktiven Schutztätigkeiten erhebt sich dann die weitere Frage, ab welchem Zeitpunkt der Staat von Verfassungs wegen zum Tätigwerden für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet ist219. Dabei ist von den Umständen die Rede, die die positive Schutzverpflichtung des Staates auslösen; in diesen wandelt sich also die zuvor eher statisch existierende Gewährleistung der Verfassung für die natürlichen Lebensgrundlagen zur aktiven Schutzverpflichtung an den Staat um. Es handelt sich dabei um die Feststellung der Schutzbedürftigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen. Unumstritten ist wohl zuerst, daß das Umweltschutzbedürfhis vom Bestehen der Schäden oder Gefahrdungspotentiale ausgeht. Das Wort „schützen" im-
219
Ohne die Mühe zu scheuen, sei an dieser Stelle noch einmal daraufhingewiesen, daß es sich hierbei nur um die verfassungsrechtliche Reichweite der Schutzverpflichtung für den Staat handelt. Die demokratisch legitimierte Gestaltungsfreiheit für Rechtspolitik des Gesetzgebers außerhalb dieses von der Verfassung bestimmten Bereiches bleibt unberührt.
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
97
pliziert ohnehin schon die abzuwehrenden Gefährdungen220. Es bedarf keiner staatlichen Schutzleistungen, wenn anzunehmen ist, daß gar kein Gefährdungspotential für die Schutzgüter entstehen würde. Schließlich sind die natürlichen Lebensgrundlagen eindeutig kein Rechtsinstitut, sondern ein außerhalb des Rechts stehendes Schutzgut221. Die natürliche Umwelt folgt Naturgesetzen, nicht menschlichen Gesetzen. Ihre Existenz als solche hängt nicht von staatlichen Leistungen ab. Ohne Gefahrdungspotentiale braucht sie dann kein staatliches Zutun. Art und Intensität der denkbaren Gefahrdungspotentiale für die natürlichen Lebensgrundlagen können aber vielfältig und sehr differenziert sein. Generell gesehen, können sie von schon eingetretenen Schädigungen über ganz konkrete, akute Bedrohungen und Beeinträchtigungen bis hin zu sehr abstrakten, unwahrscheinlichen Risiken reichen. Zufragen ist daher, welcher Art von Gefährdungen die verfassungsrechtliche Umweltschutzgewährleistung entgegenzuwirken versucht, mit anderen Worten, wie für das Auslösen der staatlichen Umweltschutzpflicht relevante Gefahrdungen hinsichtlich der Sicherheit der natürlichen Lebensgrundlagen zu bestimmen sind. Um auf diese Frage zu antworten, kommt es auf drei Elemente an: Zunächst muß bestimmt werden, welches Sicherheitsbedürfhis in Frage kommt. Es geht dabei um den Sicherheitscharakter des verfassungsrechtlichen Umweltschutzgebots, der den Gewährleistungsumfang bestimmen kann und auch unmittelbar den Zeitpunkt des Auslösens der Schutzverpflichtung für den Staat beeinflußt. Als nächstes ist zufragen, welche Intensität der Gefährdungen aus verfassungsrechtlicher Sicht für die Inpflichtnahme des Staates zum Einschreiten als relevant anzusehen ist. Schließlich sollen noch die für das Auslösen der Schutzverpflichtung relevanten Gefährdungsquellen erörtert werden. A. Rechtsgütersicherheit
als Angelpunkt
Die verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung des Staates ist, ebenso wie die grundrechtiiche Schutzpflicht, als erne Folgerung aus der verfassungsrechtlichen Gewährleistung anzusehen. Denn durch die Aufnahme der Umweltschutzklausel ins Grundgesetz sind die natürlichen Lebensgrundlagen zu ausdrücklichen Schutzgütern des Grundgesetzes erhoben; in der Konzeption der Wertordnung
220
Vgl. die Erwägungen bei der verfassungspolitischen Diskussion, z.B.: „Mit dem Wort ,schützt4 ist die eher statische, abwehrende Komponente der Staatszielbestimmung (Abwehr von Beeinträchtigungen) angesprochen,...", Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 156. 221 Vgl. Rauschning, DÖV 1986,489 (492). 7 Tsai
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
des Grundgesetzes222 bedeutet dies zugleich eine Wertentscheidung über die Sicherung solcher Schutzgüter des Grundgesetzes. Aus dieser vom Grundgesetz verkörperten Wertentscheidung ist aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols und des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht223 die Gewährleistungspflicht des Staates für diese Wertentscheidung abzuleiten. Dem Staat ist danach die Garantenstellung für die Unversehrtheit der natürlichen Lebensgrundlagen anvertraut. Ist diese verfassungsrechtlich getroffene Wertentscheidung in Gefahr durch außerstaatliche Angriffe, muß der Staat kraft seiner Handlungspflicht eingreifen, um diese verfassungsrechtlichen Güter zu schützen. In diesem Sinne geht es bei der verfassungsrechtlichen Umweltschutzgewährleistung um àie Rechtsgütersicherheit, die auf die Sicherheit des Schutzgutes als solche zielt224. Anders als die Garantie der Rechtssicherheit, bei der die Relativität des Rechtsverhältnisses herrscht, ist die Gewährleistung der Rechtsgütersicherheit an sich eher eine absolute Garantie, die unabhängig von dem Rechtsverhältnis ist. Die natürlichen Lebensgrundlagen stellen sich nämlich nicht als ein Recht bestimmter Berechtigter gegen bestimmte Verpflichtete dar - bei dem, was als „Recht" verstanden wird, besteht implizit schon erne Beziehung zwischen verpflichtet und berechtigt, wie es bei den Grundrechten als Abwehrrechte des einzelnen gegen den Staat der Fall ist - , sondern als ein zu gewährleistendes Schutzgut, das die Sicherheit vor Beeinträchtigungen verlangt.
B. Schutzverpflichtung
als Prävention
Aus dem Charakter der Rechtsgütersicherheit ergibt sich auch ohne weiteres, daß eine Maximierung der Sicherheit immanent geboten ist. Das maximale Sicherheitsbedürfhis führt folgerichtig dazu, daß schon ein möglicherweise 222
Vgl. BVerJGE 5, 85 (139); 7, 198 (204); Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 24, Rn. 47; Götz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 79, Rn. 29 ff. 223
Vgl. BVerJGE 49,24 (56). Nach Denninger ist zwischen Rechtssicherheit und Rechtsgütersicherheit zu unterscheiden. In der Rechtsordnung läßt sich eine Akzentverlagerung von einem System der Rechtssicherheit hin zu einem System der Rechtsgütersicherheit deutlich erkennen: In dem liberalen Modell des Verfassungsstaates verkörpert Rechtssicherheit die Idee des formalen Rechtsstaates. Sie ist die prinzipielle Garantie des gesetzten Rechts. Gewährleistet wird nicht, daß die relevanten Rechtsgüter sichergestellt werden und soziale Gerechtigkeit durch staatliche Interventionen hergestellt wird, sondern daß durch die Positivität der Rechtsordnung auf allen Stufen des Rechtserzeugungs- und Anwendungsprozesses nicht willkürlich, von Fall zu Fall, entschieden wird. Der Gedanke der Rechtsgütersicherheit hat jedoch diese klassische Rechtsstaatsidee wegen ihrer Mängel im technisch-sozialen Wandel und dann auch die Ausrichtung staatlicher Aktivität modifiziert. Denninger, Der Präventions-Staat, in: ders., Der gebändigte Leviathan, S. 33ff. (33 ff). Vgl. auch Götz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 79, Rn. 16 ff. 224
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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entstehender Schaden oder eine Beeinträchtigung, nicht erst ein eingetretener Schaden oder eine stattgefündene Beeinträchtigung, verhindert werden muß. Dies ist insbesondere selbstredend, wenn dabei irreversible Folgen für die Schutzgüter entstehen könnten. Daraus folgt schließlich, daß hinsichtlich der bedrohenden Umweltgefährdungen hauptsächlich eine präventive, nicht aber repressive Aktivität des Staates gefordert wird, um die natürlichen Lebensgrundlagen wirksam in Schutz zu nehmen. Prävention ist nämlich eine Konzeption, die mögliche Gefahrdung bereits an der Quelle beseitigen oder doch die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens mindern will. Sie knüpft nicht notwendig an schon in der Vergangenheit stattgefundene Beeinträchtigungen von Rechtsgütern an und ist vielmehr generell auf die Vermeidung unerwünschter Entwicklungen und Ergebnisse und die Erreichung erwünschter Wirkungen aller Art ausgerichtet225. Der Präventionsgedanke büdet dann die zentrale Leitlinie der Schutzorientierung und -Voraussetzung der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung. Nicht erst das Eintreten der konkreten, tatsächlichen Schäden oder akuten, jedenfalls feststehenden Beeinträchtigungen für die Umweltschutzgüter wird die Umweltschutzpflicht des Staates auslösen, sondern der Staat hat schon zeitlich vorverlagert bei den Gefahrenherden anzusetzen226. Dogmatisch betrachtet haben die schon stattgefundenen Umweltschäden nichts mehr mit den diese staatliche Schutzverpflichtung aktivierenden Voraussetzungen (insbesondere für den Gesetzgeber) zu tun. Sie sind vielmehr nur noch Ausgangspunkte zur Überprüfung, ob der Staat, hier in erster Linie der Gesetzgeber, seine Umweltschutzverpflichtung verfassungsmäßig erfüllt hat, und gegebenenfalls ob die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers ausgelöst wird oder nicht.
C. Bestimmung der die Schutzverpflichtung Gefährdungsintensität
aktivierenden
1. Bedeutung der Bestimmung der Gefahrdungsintensität Nachdem festgestellt ist, daß die staatliche Umweltschutzverpflichtung bereits vor dem tatsächlichen Eintreten des Schadens ausgelöst werden soll, ist weiter-
225
Vgl. Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 197 ff. (198 ff.) 226 Vgl. Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 197 ff. (206). Unter diesem Umstand wirkt die Umweltschutzverpflichtung genau wie die grundrechtliche Schutzpflicht, die auf die Sicherheit der grundrechtlichen Schutzgüter zielt. Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird die Schutzpflicht nicht erst durch eine „faktische Verletzung der geschützten Rechtsgüter" ausgelöst; sie soll „einer solchen faktischen Verletzung vielmehr vorbeugen"; vgl. nur BVerJGE 53,30 (51). 7*
100
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
hin zu klären, welche Intensität das Gefährdungspotential aufweisen muß. Die Bedeutung für diese Intensitätsbestimmung läßt sich aus zwei Gründen begreifen. Zum einen geht es dabei um die tatbestandliche Begrenzung der verfassungsrechtlich geforderten Schutzpflicht des Staates für die natürlichen Lebensgrundlagen. Es darf nicht übersehen werden, daß die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung für den Staat jedenfalls eine Beschränkung der auf der Demokratie beruhenden politischen Entscheidungsfreiheit bewirkt. Ein sich zu weit erstreckender Verpflichtungsbereich, auch in bezug auf den Umweltschutz, würde folglich zum Verlieren der Machtbalance zwischen Verfassung und Gesetzgebung, also Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, führen. Zum anderen muß man sich auch vor Augen halten: Ein - theoretisch annehmbares - Risiko von Gefahrdungsmöglichkeiten im weitesten Sinne besteht normalerweise nur dort nicht, wo ein Zustand absolut statisch ist, wo keine Änderung zu erwarten ist oder erne mögliche Änderung jedenfalls nicht zu einem Nachteil führen kann227. Setzt man einen derartigen weitreichenden Risikobegriff für das Aktivieren der staatlichen Umweltschutzpflicht voraus, hätte das nichts anderes als die absolute Sicherheit als Umweltschutzziel zu Folge. Eine absolute Sicherheit für die natürlichen Lebensgrundlagen kann, verfassungsrechtlich gesehen, jedoch grundsätzlich nicht in Frage kommen. Die von der Verfassung geforderte Verpflichtung des Staates zum Tätigwerden kann keinen totalen Schutz des Schutzgegenstandes zwecks totaler Sicherheit gewähren. Dies ergibt sich einmal daraus, daß der allgemeine Rechtsgrundsatz des „ultra posse nemo obligatur" auch für Rechtspflichten der Staatsgewalt gelten soll228, zum anderen daraus, daß in einem freiheitlich-rechtsstaatlichen Staat keine totale Sicherheit vor allen Risiken im weitesten Sinne erwartet werden darf. Denn totale Sicherheit wäre nur durch totale Reglementierung auf Kosten der Freiheit und nicht einmal hierdurch zu gewährleisten229. Zumal wäre, wie Breuer zeigt, ein Schadenseintritt nur dann mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen, wenn er naturgesetzlich unmöglich wäre. Diese Utopie völliger Sicherheit kann jedoch von überhaupt keiner technischen Einrichtung gewährleistet werden, es gibt schlechthin keine Technik ohne Risiko230. Die Sicherheitskonzeption unter der Umweltschutzklausel kann dementsprechend nur relativ verstanden werden; sie ist danach von der die staatliche Schutzpflicht aktivierenden Gefahrdungsintensität abhängig. Unterhalb der erforderlichen Intensi227 228 229
Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 81. Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 105.
Vgl. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 41 f.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung,^ 139;Kloepfer,DVB1.1988,305 (311); ders.,OV&\. 1994,12 (16); Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 105. 230 Breuer, DVB1. 1978, 829 (834). Auch Ossenbühl, DÖV 1981, 1 (3); Hofmann, Rechtsfragen, S. 330.
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
101
tätsschwelle ist das „Risiko" also als irrelevant für das Sicherheitsziel anzusehen und löst daher keine staatliche Schutzpflicht aus. 2. Abgrenzungsmaßstäbe: Zum Begriff Gefahr, Risiko und Restrisiko Um die für das Auslösen der für die staatliche Umweltschutzpflicht relevanten Gefährdungsintensität zu bestimmen, erfordert es zuerst eine nähere Bewertung und Abgrenzung der allgemein unter dem Oberbegriff „Risiko" erfaßten Gefahrdungspotentiale231. Als mittlerweile schon geläufige Kategorienbildung hinsichtlich der Unterscheidung der Gefahrdungsintensität für Schutzgütersicherheit, auf verfassungsrechtlicher Ebene bisher hauptsächlich in bezug auf grundrechtliche Schutzgütersicherheit angewendet, wird überwiegend der dreiteilige Begriff „Gefahr, Risiko und Restrisiko" zugrunde gelegt, wenn sich auch dabei noch keineswegs eine einheitliche Begriffsbildung durchgesetzt hat232. Die Begriffe werden dort gebraucht, wo eine Differenzierung hinsichtlich der Bedrohlichkeit und Ernsthaftigkeit der Sachlage notwendig ist, um zu bestimmen, wann die Schutzpflicht des Staates zwangsläufig gefordert wird. Sie repräsentieren also drei verschiedene Erscheinungsformen der Bewertung von Gefahrdungsintensität in bezug auf mögliche Schadensereignisse. Entscheidende Anhaltspunkte für die Herstellung und Abgrenzung dieses dreiteiligen Begriffes sind herrschender Meinung nach „Wahrscheinlichkeit des Eintritts des schadenverursachenden Ereignisses in einer zugrundegelegten Zeit" (Eintrittswahrscheinlichkeit) und „Ausmaß des durch den Eintritt des Ereignisses verursachten Schadens (Potentielles Schadens ausmaß)233. Dazu ist noch Näheres zu erörtern. Die Büdung des Gefahrenbegpffs als eines Unterfalls des Risikos i.w.S. wird herkömmlicherweise vor allem im Rahmen des Sicherheitsrechts - namentlich des Polizei- und Ordnungsrechts - mit dem Ziel, den Zeitpunkt für das Einschreiten der Polizei zum Schutz der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu
231
Der Begriff „Risiko" wird mit Kloepfer in der vorliegenden Arbeit sowohl im weiteren als auch im engeren Sinne verwendet: Im weiteren Sinne wird er als Oberbegriff der Gefährdungsmöglichkeit verstanden, während er im engeren Sinne als Unterfall des Risikos i.w.S. verwendet wird; s. Kloepfer, Handeln unter Unsicherheit im Umweltstaat, in: ders. (Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55 ff. (64 ff.); vgl. auch Murswiek, Die Verantwortung des Staates, S. 80 ff. 232 Breuer, DVB1. 1978, 829 (832 ff.); ders., NVwZ 1990,211 (213); Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55 ff. (64 ff.); Rehbinder, in: FS H. Sendler, S. 269 ff. (272). 233 Vgl. Kloepfer, Handeln unter Unsicherheit im Umweltstaat, in: ders. (Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55 ff. (58); Murswiek, Die staatliche Verantwortung, 80ff.; Reich, Gefahr, Risiko, Restrisiko, S. 31 ff.
102
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
bestimmen, entwickelt234. Übertragen auf die verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung für den Staat in bezug auf die Schutzbedürftigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen, kann mit dem Gefahrenbegriff die Situation gekennzeichnet werden, daß die Gefahrdungsintensität dabei wegen ihrer ernsthaften Bedrohlichkeit als auf keinen Fall hinnehmbar im Sinne von inakzeptabel bewertet wird 235, und daher Abwehrmaßnahmen gegen solche Gefährdungen dringend geboten sind. Die Gefahrenbestimmung beruht zunächst auf der Prognose über eine Sachlage, bei der für die Schutzgüter bei ungehindertem Ablauf des Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Eintritt eines Schadens zu erwarten ist236. Die Gefahrenschwelle wird erst dann überschritten, wenn die Befürchtung eines Schadensemtritts über die bloß entfernte Möglichkeit hinaus begründet ist 237 . In diesem Sinne bezieht sich die Gefahr in der Regel auch auf bekannte, mögliche Schadensereignisse, für die sich aus der menschlichen Erfahrung eine hinreichende Eintrittswahrscheinlichkeit im Einzelfall angeben läßt238. Eine Gefahr ist danach nicht ein Kausalitätszusammenhang zwischen einer gegenwärtigen Lage und einem zukünftigen Schadensereignis, sondern das Urteil über einen derartigen Zusammenhang239. Ein solches Urteil setzt einerseits voraus, daß Kausalketten von Umweltschäden zu deren Ursachen bekannt und beweiskräftig sind. Andererseits ist jedoch auch klar, daß dem Urteil angesichts der Begrenzung menschlicher Erkenntnisfahigkeit stets bis zu einem gewissen Grad an Ungewißheit immanent ist. Die Schwelle unterhalb der so verstandenen „Gefahr" ist mit dem Begriff Risiko im engeren Sinne zu bezeichnen240. Das Risiko i.e.S. erfaßt daher die ferne oder bisher unbekannte, bloß denkbare Möglichkeit des Schadensereignisses, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit im Einzelfall sehr klein oder nicht hinreichend bestimmbar ist oder dessen Kausalität zwischen Ursache und Ereignissen nur unzureichend oder gar noch nicht bekannt ist. Ein Risiko besteht demnach bereits dann, wenn der Schaden immerhin möglich erscheint, d.h. wenn er nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann241. In diesem Sinne kann „Risiko"
234
Vgl. nur Gusy, Polizeirecht, S. 54.
235
Vgl. Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55 ff. (65). Hierzu nmBVerwGEAS,51 (57 f.); vgl. auch Dr ews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 224, m.w.N.; Breuer, DVB1. 1978,829 (833); Rehbinder, FS H. Sendler, 1991, 269 (273). 237 Vgl. Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55 ff. (65). 238 Reich, Gefahr - Risiko - Restrisiko, S. 2. 236
239 240
Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 382. Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 86.
241 Vgl. nur Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, 1993, S. 55 ff. (64 ff). Murswiek, Staatliche Verantwortung, S. 80 ff, 83 ff.
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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sich eher wertfrei auf jeden beliebigen unerwünschten Erfolg beziehen - und zwar nicht „rechtswidrig"242 - , während „Gefahr" dagegen nur auf einem rechtlich mißbilligten Ereignis beruht243. Wichtig ist, daß Risiken in der Wirklichkeit nicht etwa objektiv weniger wahrscheinliche Schadensereignisse als Gefahren sind Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts als Abgrenzungsmaßstab ist also kein Element der „objektiven", unabhängig vom Menschen gedachten Realität, sondern eher ein Ergebnis der vom menschlichen Erkenntnisvermögen beschränkten, subjektiven Einschätzung. Wie groß die „Wahrscheinlichkeit" eines Schadenseintritts einzuschätzen ist, hängt daher notwendigerweise vom Stand der menschlichen Kenntnis ab, die hinsichtlich der das Geschehen beeinflussenden Faktoren besteht244. Da die beiden Begriffe „Gefahr" und „Risiko" gleichermaßen als Produkte von Schadenswahrscheinlichkeit definiert werden, unterscheiden sie sich hauptsächlich nur im Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit, wie oben beschrieben ist245. Allein eine derartige Abgrenzung zwischen bloßer Möglichkeit und hinreichender Wahrscheinlichkeit des Schadensemtritts verliert jedoch zunehmend die greifbaren Konturen für die Bestimmung der Gefahr und des Risikos. Denn je nach Qualität des bedrohten Rechtsguts, aber auch des quantitativen Ausmaßes eines Schadensereignisses246, muß der notwendige, die Gefahrenabwehrmaßnahme begründende Wahrscheinlichkeitsgrad wegen der anwachsenden Schadensdimension notgedrungen relativiert werden247. Die Gefahrdungsmöglichkeit bei Kernkraftwerken bietet sich als zutreffendes Beispiel an: Der Schadensumfang und das Schadensausmaß der Störfalle bei Kernkraftwerken könnte katastrophal sein, obwohl die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts vergleichsweise gering einzuschätzen ist, ja sogar gegen Null gehen kann248. Im
242
Vgl. Kloepfer, DVB1. 1994,12 (17). Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 85,149. 244 Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 85, 382; Preuß, Risikovorsorge als Staatsaufgabe, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, S. 523 ff. (529 f.). 245 Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, jetzt in: ders., Freiheit, Verantwortung, Kompetenz, S. 1057 ff. (1061). 246 Hier bieten die Gefahren bei der Atomkraft ein zutreffendes Beispiel: Der Gefahrenbegriff des Atomrechts ist zwar durch seinen extrem geringen Grad der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens gekennzeichnet, dessen Schadensumfang und Schadensausmaß sind jedoch beträchtlich. 243
247 Vgl. Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (191); Rehbinder, Immissionsschutzrechtlicher Gefahrenbegriff-Beurteilung von Störanföllen durch äußere Einwirkungen, BB 1976, 1(4). 248 Im herkömmlichen Polizeirecht gibt es schon den Sonderfall, daß die Eintrittswahrscheinlichkeit zwar gegen Null geht, der Schadensumfang aber katastrophale Ausmaße annehmen kann. Siehe Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und
104
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Atomrecht beweist sich der Unterschied zwischen Gefahr und Risiko offenkundig nicht, zumindest nicht nur in der abstrakt-generellen Eintrittswahrscheinlichkeit, mit der eine wirkliche Lebenssituation auf ihre Gefährlichkeit hin beurteilt wird, sondern vielmehr in der strukturellen Eigenart des Sachbereiches, die mit der Errichtung und dem Betrieb atomarer Anlagen gegeben ist. Diese Eigenart ist außerdem durch den Mangel an Erfahrungswissen gekennzeichnet249. Eine derartige Situation führt dazu, daß bei der Bestimmung der Gefahrengrenzen im Einzelfall flexibel der „Je-desto-Formel" zu folgen ist, die wie folgt lautet: Je gewichtiger das gefährdete Gut und/oder je größer der zu befürchtende Schaden ist, desto geringere Anforderungen sind an die Höhe der Eintrittswahrscheinlichkeit zu stellen250. Daher handelt es sich bei der für eine Gefahr „hinreichenden" Wahrscheinlichkeit nicht um einen festen Wert, sie hängt vielmehr auch von der Wertigkeit des jeweils bedrohten Rechtsguts ab 251 . Unter diesem Umstand ist es auch klar, daß die Grenze zwischen Gefahr und Risiko sehr fließend ist. Es ist erheblich von der Verfügungsmöglichkeit über Wissen abhängig und kommt schließlich auf die gesetzgeberische Bewertung und Entscheidung an; im konkreten Fall könnte hierbei sogar der Zweifel auftauchen, ob neben der Kategorie Gefahr eigentlich noch eine Kategorie für Risiken erforderlich ist 252 .
Umweltschutz, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, S. 1057ff. (1061). 249 Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, S. 1057 ff. (1062). 250 Kloepfer, in: ders.(Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, 1993, S. 55 ff. (65). Vgl. auch BVerwG NJW 1970, 1890 (1892); BVerwG DÖV 1974, 207 (209); BayVGH DVB1.1979,673 (675); Bender, NJW 1979,1425 (1428); Benda, Technische Risiken und Grundgesetz, S. 5; Breuer, DVB1. 1978, 829 (833); Degenhart, Kernenergierecht, S. 25; Murswiek, Staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, S. 165 f. Zu bemerken bleibt, daß der Einbezug der potentiell betroffenen Rechtsgüter in den Gefahrenbegriff selbst schon deutlich macht, daß die Festlegung jeglichen Grades einer Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens mehr eine normative Entscheidung, eine „wertende Abwägung auf der Grundlage des rechtsstaatlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit" (Friauf, in: v. Münch, Besonderes Verwaltungsrecht, S. 217) ist, als eine exakte naturwissenschaftlich begründbare bzw. legitimierbare Dezision (Vgl. Papier, Rechtskontrolle technischer Großprojekte, in: Bitburger Gespräche, 1981, 81 (86).) 251
Daraus ergibt sich wiederum die Frage nach der Quantifizierbarkeit und gegenseitigen Abstufung verschiedener verfassungsrechtlicher Rechtsgüter, siehe oben in 4. Kapitel HC. 252 Ossenbühl. „Da jedoch Gefahr und Risiko nach denselben Parametern bestimmt werden, bringt es keinen Vorteil, wenn man zwischen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge trennen wollte. Denn es bliebe dann ungeklärt, bei welchem Grad von Eintrittswahrscheinlichkeit die Gefahr aufhört und das Risiko beginnt." Ist die Ansicht des Bundesverfassungsgericht im Kalkar-Beschluß, die Gefahr erst dann fur behoben zu erklären, „wenn es nach dem Stand von Wissenschaft und Technik praktisch ausgeschlossen erscheint, daß Schadensereignisse eintreten werden", mit anderen Worten: Verläuft die maßgebliche Gefahrengrenze an der
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
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Unter dem Begriff Restrisiko ist schließlich innerhalb des Risikobereiches jener Bereich extrem geringer Eintritts Wahrscheinlichkeit herauszufassen. Es geht dabei wohlgemerkt um Ergebnis und Geschehensabläufe, die „erwiesenermaßen - d.h. durchaus diesseits der Grenzen menschlicher Erkenntnis - zu Schäden fuhren, deren Eintritt aber so selten oder unwahrscheinlich sei, daß sie als zu vernachlässigende Größe hinzunehmen seien". Als Maßstab für die Abgrenzung zwischen Risiko und Restrisiko hat das Bundesverfassungsgericht die „praktische Vernunft" herangezogen253, die eindeutig ein wertungsabhängiger Maßstab ist. Das unterhalb der Schwelle dieser praktischen Vernunft liegende Risiko wird als Restrisiko bezeichnet. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß seine Existenz die zwangsläufige Folge des Bestehens und Akzeptierens der wissenschaftlich-technischen Zivilisation oder gar des Zusammenlebens ist. Dabei wird seme Risikoqualität, die sich ebenfalls als Produkt aus Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensumfang ergibt, keineswegs negiert, nur ist aber dieses praktisch nicht auszuschließende Gefahrdungspotential als akzeptabel hinzunehmen254. 3. Schutzverpflichtung zur Gefahrenabwehr Wie oben dargelegt, zielt die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung in erster Linie auf eine präventive Schutzgewährung für die Schutzgütersicherheit. Sie ist letzten Endes auf das Verhindern der tatsächlichen Schadensentstehung gerichtet. Schutzgütersicherheit kann aber nur dann wirksam erhalten bleiben, wenn man bereits solche Geschehensabläufe unterbindet, die zwar nicht mit Gewißheit, aber schon sehr wahrscheinlich einen Schaden herbeiführen würden. Dazu erfordert es Gefahrenabwehr. Gefahrenabwehr dient also der Schadensabwendung255. Die staatliche Umweltschutzverpflichtung muß folgerichtig bereits durch die Gefahr einer nachweisbar möglichen Schädigung der natürlichen Umwelt ausgelöst werden. Dem Staat obliegt demnach ohne Zweifel
„Schwelle der praktischen Vernunft", so sei es schwer ersichtlich, wie man jenseits dieser Schwelle noch eine zusätzliche gefahrenunabhängige Risikovorsorge legitimieren wolle. Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, S. 1057 ff. (1062). 253 Die Formel der praktischen Vernunft als Abgrenzungsmaßstab zwischen Risiko und Restrisiko wurde vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der technischen Sicherheit entwickelt. Siehe BVerJGE 49,89 (143) - Kalkar, 53,30 (59) - Mühlheim-Kärlich. Ihr wird auch in der Literatur weitgehend zugestimmt, vgl. nur Breuer, DVB1. 1978, 829 (835); Degenhart, Kernenergierecht, S. 148; ders., DVB1. 1983,926 (931); Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (192 f.); Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205 (208). 254 255
Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 238 ff. Murswiek, Die Staatliche Verantwortung, S. 382.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
die Gefahrenabwehrpflicht als Schutzpflicht vor solchen noch ausbleibenden Gefahren für die natürlichen Lebensgrundlagen. Die Gefahrdungsschwelle von Gefahren ist nämlich normativ als nicht hinnehmbar zu bewerten und „unbedingt" zu verhüten, auch wenn bei der Bestimmung der Gefahr, insbesondere des nach Art und Umfang möglichen Schadens und des Maßes der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, gewisse Abwägungs- und Prognosespielräume der zuständigen Adressaten bestehen mögen256. 4. Schutzverpflichtung zur Risikovorsorge Fraglich ist jedoch, ob der Staat auch zur Risikoschutzgewährleistung verpflichtet ist; mit anderen Worten, ob die staatliche Umweltschutzverpflichtung auch schon beim Vorliegen des unter der Gefahrenschwelle liegenden Risikos ausgelöst wird. Um diese Frage zu beantworten, soll zuerst ein Blick auf die Eigenschaft der erwünschten Risikoschutzgewährleistung geworfen werden. Während hinsichtlich der Gefahren das Entgegenwirken und die Ausschließung der begrifflich schon vorhandenen Gefährdungen erwartet wird und deshalb die auf solche relativ konkrete Gefahrenslagen gerichteten Abwehrmaßnahmen erforderlich sind, soll die Risikoschutzgewährleistung eher auf die Verhinderung bzw. Vermeidung der Möglichkeit, Gefahren überhaupt entstehen zu lassen, zielen. Mit ihrem abstrakt-generellen Charakter können Risiken nicht „abgewehrt" im Sinne des traditionellen Verständnisses der Gefahrenabwehr, sondern es kann ihnen nur vorgesorgt werden257. Vorsorge als ein Rechtsbegriff erfaßt die Maßnahmen, die schon allgemein vor der Entstehung konkreter Gefahren einsetzen und die möglichst gefahrenfreien Bedingungen und Kapazitäten für die Rechtsgütersicherheit herzustellen versuchen. Sierichtetsich nach der wohl überwiegenden Meinung an die gefahrenunabhängige Sicherheit und verlangt daher die aktive und planungsvolle Gestaltung eines komplexen soziotechnischen Bedingungsgeflechtes, in dem technische, ökonomische und rechtliche Elemente vielfaltig ineinander verwoben sind258. Da die gezielte Verhinderung der möglichen Gefahren im Risikostadium nur sehr abstrakt gefaßt
256
Vgl. Kloepfer, DVB1. 1994,12 (15). „Gefahrenabwehr setzt schon begrifflich das Vorhandensein einer Gefahr voraus, während die Gefahrenvermeindung daraufgerichtet ist, von vornherein die Entstehung von Gefahren zu verhindern. In dieser Gegenüberstellung könnte man der >Vor-sorge< die >Sorge< gegenüberstellen. Die >Sorge< betrifft bestehende Gefahren, die >For-Sorge< hingegen Maßnahmen, die vor der Entstehung von Gefahren liegen.", Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, S. 1057 ff. (1061). 257
258
Preußy Risikovorsorge als Staatsaufgaben, in: Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, S. 523 ff. (537 ff.).
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
107
werden kann, gehen die Risikovorsorgemaßnahmen in der Regel bis zum hoheitlich-regulierenden Zugriff auf die Gefahrenherde vor, um menschliches Verhalten zwecks Schadens- und Gefahrenvermeidung zu beeinflussen259. Sie neigen daher in sehr prospektiver und flächendeckender Weise zu einer lückenlosen Kontrolle und Steuerung der Bürger und des Bürgerverhaltens und auch deswegen begegnet ihnen ein Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit. Abgesehen davon, ob der Staat für die Risikovorsorge verfassungsrechtlich gefordert ist, ist es jedoch wohl unumstritten, daß mit dem wissenschaftlichtechnischen Fortschritt und den damit einhergehenden vielfaltigen Risiken der Staat heutzutage kaum noch auf die präventiven, vorsorgenden Tätigkeiten verzichten kann. Die Notwendigkeit der Umweltschutzvorsorge ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß Kausalketten von Umweltschäden zu deren Ursachen oft nicht beweiskräftig zurückzuverfolgen sind. Gerade im Umweltbereich und bei neuen Technologien sind die denkbaren Gefährdungspotentiale oft nicht abzusehen oder allenfalls nur zu schätzen. Damit schließt sich nicht selten schon die Möglichkeit einer Zuordnung solcher Gefährdungspotentiale in den Gefahrenbegriff aus. Darüber hinaus handelt es sich bei Umweltbelastungen und Zerstörungen häufig um irreversible Prozesse. Dabei können solche Kausalketten, einmal in Gang gesetzt, oft gar nicht oder nur unter größten Anstrengungen - also auch volkswirtschaftlichen Belastungen - abgebrochen oder rückgängig gemacht werden260. Ein System des „Trial and Error" ist nur dort und insoweit sinnvoll, wo eine Fehlerkorrektur möglich bleibt; man kann sich dabei eben auch „den Error leisten"261. All diese Überlegungen führen zu der nicht zu übersehenden Bedeutung und der Zwangsläufigkeit der Risikovorsorge für den wirksamen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Darüber besteht wohl zumindest keine Strittigkeit im Umweltschutzbereich, zumal das Vorsorgeprinzip längst neben dem Verursacherprinzip und dem Kooperationsprinzip als grundlegendes Umweltschutzprinzip anerkannt wurde und sich mitterweile auch in der Praxis durchgesetzt hat262. Der Staat weitet mittlerweile die präventiven Vorsorgemaßnahmen im Umweltschutzbereich sogar beträchtlich aus263. Die staatlichen Risikovorsorgemaßnahmen müssen aber trotz aller Notwendigkeit
259
Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 179 ff. (199); Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, S. 1057 ff. (1061). 260
Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, S. 77; Salzwedel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 85, Rn. 22; Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, S. 27. 261 Vgl. dazu Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 339 f. 262 Vgl. Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, S. 17. 263 Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 197 ff. (204).
108
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
und Zwangsläufigkeit immer auch noch wegen der potentiellen Freiheitsbeeinträchtigungen streng den rechtsstaatlichen Anforderungen, insbesondere dem Bestimmtheitsgebot und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, unterstellt werden264. Wenn aber von der staatlichen Verpflichtung für die Risikovorsorge die Rede ist, dann muß geklärt werden, ob das bloß als Risiko bewertete Gefahrdungspotential auch für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verfassungsrechtlich relevant ist. Diesefrüher im Schrifttum offengelassene Frage265 soll nach der Einfügung der Umweltschutzklausel ins Grundgesetz bejaht werden. Der Grund liegt m.E. zum einen wiederum in der Eigenschaft der Umweltschutzgewährleistung. Schließlich zielt die verfassungsrechtliche Umweltschutzgewährleistung auf die Sicherheit der natürlichen Lebensgrundlagen als solche. Um diese Sicherheit wirksam zu behalten, muß auch das Potential zu einer Schädigungfrühzeitig verhindert werden, zumal es sich dabei oft um irreversible Folgen handelt266. Zum anderen muß man sich vor Augen halten, daß es hierbei - anders als bei der polizeirechtlichen Prävention - um die verfassungsrechtliche Prävention als Schutzverpflichtung des Staates geht. Während die grundsätzliche Beschränkung der polizeilichen Prävention auf die Gefahrenabwehr sich in der gesetzlichen Entscheidung gründet, setzt das Verfassungsrecht keine ausdrückliche Grenze der staatlichen Umweltschutzverpflichtung in der Abwehr der erkennbaren Gefahren. Während das Gefahrenabwehrgebot sich im Sicherheitsrecht vom Gesetzgeber an die exekutiven Organe, vor allem die Polizei,richtet,wird der Gesetzgeber bei der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung auch zum Erlaß allgemeiner gesetzlicher Regelungen berufen werden, die gewissermaßen schon als eine Art „Risikovorsorge" anzusehen sind. Als Ergebnis bleibt festzustellen, daß die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung des Staates nicht nur im Bereich der Gefahrenabwehr besteht. Sie bezieht sich auch auf den Bereich der noch nicht die Gefahrenschwelle überschreitenden Risiken und fordert die Risikovorsorgemaßnahmen des Staates267. Diese Feststellung der staatlichen Verpflichtung auch zur Risikovor-
264
Über die Aussagen der Verfassung für die vom Staat zu treffenden Vorkehrungen gegen die unterhalb der Gefahrenschwelle liegenden Risiken siehe u.a. Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 197 ff. (209ff.); Kloepfer, Handeln unter Unsicherheit im Umweltstaat, in: ders.(Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55 ff. (75 ff.). 265 Vgl. Ossenbühl, Vorsorge als Rechtsprinzip im Gesundheits-, Arbeits- und Umweltschutz, in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, S. 1057 ff. (1064); Kloepfer, Handeln unter Unsicherheit im Umweltstaat, in: ders.(Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55 ff. (74). 266 Siehe oben in diesem Kapitel IV A und B.
4. Kap. : Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
109
sorge wird übrigens durch die Zufügung „auch in Verantwortung der künftigen Generationen" eindeutig zum Ausdruck gebracht268. Soweit also faktische Auswirkungen umweltbeeinträchtigender Handlungen hinreichend prognostizierbar sind und sich dabei nicht hinnehmbare Risiken für zukünftige Generationen ergeben, besteht eine Pflicht des Staates, diesen Risiken durch heutige Vorsorgemaßnahmen zu begegnen269. Gegen die so verstandenen Risikolagen können also nur Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden. In bezug auf die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates hat das Bundesverfassungsgericht auch im Kalkar-Beschluß ausdrücklich „bestmögliche Gefahrenabwehr und Risikovorsorge" gefordert. Es hat sich gezeigt, daß sowohl Gefahrenabwehr als auch Risikovorsorge als unbedingte Gebote gelten270. „Es muß diejenige Vorsorge gegen Schäden getroffen werden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Läßt sie sich technisch noch nicht verwirklichen, darf die Genehmigung nicht erteilt werden; die erforderliche Vorsorge wird mithin nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt"271. Dies gilt ebenfalls für die Umweltschutzverpflichtung des Staates für die natürlichen Lebensgrundlagen. An dieser Stelle ist auch hervorzuheben, daß bei der Einbeziehung der Risikovorsorgepflicht in die staatliche Umweltschutzverpflichtung noch nichts darüber gesagt wird, wie weit die staatlichen Umweltschutzhandlungen aufgrund dieses verfassungsrechtlichen Schutzgebots gehen sollen und dürfen. Es ist die Erfüllungsfiage der verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung, nicht aber die Frage der tatbestandlichen Voraussetzungen. 5. Sozialadäquates Restrisiko als Grenze der staatlichen Schutzverpflichtung Die Verpflichtung des Staates zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen kann keinen vollständigen Ausschluß jeglichen Risikos gebieten272 . Die Forderung nach einem völligen Risikoausschluß und absoluter Sicherheit durch den Staat würde zwangsläufig zu der totalen Staatsdisposition der Freiheiten -
267
Vgl. Kloepfer, in: ders. (Hrsg.), Umweltstaat, S. 39 ff. (48 f.); ders., Handeln unter Unsicherheit im Umweltstaat, in: ders. (Hrsg.), Handeln unter Risiko im Umweltstaat, S. 55. 268 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 3. 269 Vgl. Kloepfer, in: ders. (Hrsg.),Umweltstaat, S. 48. 270 271
BVerfGE 49, 89(143).
BVerfGE 49,89(138). 272 Marburger, Das technische Risiko als Rechtsproblem, Bitburger Gespräche 1981, S. 39 ff. (44), demzufolge der Verfassung kein individuelles, dem Staat gegenüber geltend zu machendes Recht auf Risikofreiheit entnommen werden kann.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
schließlich stellt sich das Restrisiko als typische Folge grundrechtlich geschützter Freiheitsausübung dar273 - und im praktischen Ergebnis zu einem nahezu unbegrenzten Technikverbot führen 274. Ein bestimmtes Restrisiko als Ungewißheit jenseits der Schwelle der praktischen Vernunft wird folgerichtig verfassungsrechtlich akzeptiert und begrenzt die verfassungsrechtlich geforderte Schutzpflicht. Das Restrisiko hat seine Ursache letzten Endes in den Grenzen des menschlichen Erkenntnisvermögens und muß dann in Kauf genommen werden275; es ist deshalb unentrinnbar und als „sozialadäquate Last" von allen Bürgern zu tragen276. Gegen ein derartiges Risiko darf in verfassungsrechtlich zulässiger Weise nicht mehr eingeschritten werden277. Insofern besteht also keine staatliche Schutzpflicht einschließlich Vorsorgepflicht. Die Grenzziehimg zwischen Vorsorgepflicht und hinzunehmendem (Rest-)Risiko erfolgt anhand einer im konkreten Einzelfall vorzunehmenden Güterabwägung zwischen der oben bezeichneten Schutzpflicht des Staates unter Beachtung vergleichbarer Zivilisations- und Lebensrisiken sowie des jeweiligen Standes der Wissenschaft und Technik und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Z). Zur Bestimmung der Gefahrenquellen Das Auslösen der staatlichen Schutzverpflichtung für die natürlichen Lebensgrundlagen setzt selbstverständlich eine bestimmte Gefahrenquelle als Ursache des möglichen Schadens für die natürlichen Lebensgrundlagen voraus. Zu klären ist, ob und ggf. wie eine Abgrenzung der Gefahrenquellen für die aus der Umweltschutzklausel ausgehenden Schutzverpflichtungen vorgenommen werden soll. Juristisch gesehen lassen sich die das verfassungsrechtliche Schutzgut beeinträchtigenden Gefahrenquellen, ebenso wie bei der grundrechtlichen Schutzpflicht, wesentlich nach staatlichem, nicht-staatlichem Ursprung und Naturkräften unterscheiden. Kein Streit bestünde wohl mindestens dort, wo die Gefahrenquellen von privaten Dritten ausgehen. Angesichts der Tatsache, daß das staatliche Handeln im Verfassungsstaat die Begrenzung und Kontrolle der verfassungsmäßigen Ordnung bestehen muß, ist zu folgern, daß die sich aus staatlicher Hand ergebenden Gefahrdungslagen, hätten sie die Überprüfung der
273 Vgl. etwa Kloepfer, DVB1. 1994,12 (17); Leisner, Umweltschutz durch Eigentümer, S. 159 ff. 274 Breuer y DVB1. 1978,829 (834); ders., WiVerw 1981,219 (228). 275 BVerJGE 49,89 (137,141). 276 Vgl. BVerJGE 49. 89 (143). 277 Kloepfer, DVB1. 1994,12 (17).
4. Kap.: Tatbestandliche Voraussetzungen der Umweltschutzverpflichtung
111
Verfassungsmäßigkeit bestanden, nicht wiederum der vom Staat durch aktive Handlungen abzuwehrende Gegenstand sein können. Denn die verfassungsrechtliche Bedeutung der vom Staat selbst erzeugten Gefahrdungssituationen ist nichts anderes als die Folge der Ausübung der Staatsgewalt. Die Behandlung solcher Gefährdungssituationen ist der Frage nach der verfassungsrechtlichen Beurteilung der durch Gefahrdungssituationen ausgelösten staatlichen Handlungen gleichzusetzen. Dabei hat diese Gefahrenquelle nichts mit der Schutzverpflichtung der Umweltschutzklausel zu tun278. Ob rein schicksalhafte, natürliche Gefahren wie Naturkatastrophen oder Seuchen zu den Tatbeständen der Umweltschutzverpflichtung des Staates zu zählen sind, ist aberfraglich. Im Bereich der grundrechtlichen Schutzpflicht ist die Meinung dazu nämlich gespalten279. Während in der Literatur die Meinung vertreten wird, daß die Gefahr als auslösendes Moment für die grundrechtliche Schutzpflicht parallel zu der polizeirechtlichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit interpretiert wird, die auch natürliche Gefahren einschließt280, ist Isensee eher der verneinenden Auffassung mit dem Argument, daß der Ursprung der natürlichen Gefahren nicht im Verantwortungsbereich eines Grundrechtsträgers liegt und deswegen der zurechenbare Eingriff für das Auslösen der grundrechtlichen Schutzpflicht fehlt 281. Aber nicht zu vergessen ist, daß sowohl die grundrechtliche Schutzpflicht als auch die Schutzverpflichtung aus der Umweltschutzklausel verfassungsrechtlich gesehen auf die Gewährleistung der Sicherheit der verfassungsrechtlichen - objektiven - Schutzgüter bzw. Wertentscheidungen zugeschnitten ist. Es geht lediglich darum, ob der Staat von Verfassungs wegen verpflichtet ist, die Sicherheit solcher Güter durch positive Handlungen zu
278
Bei solcher Feststellung soll das Problem freilich nicht sein Bewenden haben. Vielmehr ist die schwierige Frage aufgetaucht: Wie ist eigentlich die Trennlinie zwischen staatlicher und nichtstaatlicher Gefahrenquelle zu ziehen? Hinsichtlich der staatlichen Genehmigungen ist diese Frage besonders akut. Diese Frage kann hier aber nicht eingehend behandelt werden; sie läßt sich aber an die zahlreichen Diskussionen bezüglich der grundrechtlichen Schutzpflicht anknüpfen; vgl. Dietlein, Die Lehre der grundrechtlichen Schutzpflicht, S. 87 ff.; Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 83 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 219 ff.; Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 50 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.),HStR V, §111,Rn. 116 ff.; Kloepfer, DVB1. 1988,305 (309); ders., in: ders.(Hrsg.), Umweltstaat, S. 47; Lübbe-Woljf, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 178 ff.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 58 ff.; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205 (215). 279
Dafür z.B. Dietlein, Die Lehre der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 102ff.; Robbers., Sicherheit als Menschenrecht, S. 124, 127, 192; Stern, Staasrecht W\, S. 735 f. Dagegen etwa Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 112. 280
So Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 124,127,192; Stern, Staatsrecht Wl, S.
735 f. 281
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §111, Rn. 112.
112
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
gewährleisten und zu schützen. Nicht Verursacher, sondern Gefahren für die Schutzgüter sind entscheidend. Die verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung des Staates ist mithin eindeutig schutzgutorientiert. Mit dieser schutzgutorientierten Konzeption aber ist eine Differenzierung nach dem Ursprung der Gefahrdungslagen nicht erforderlich, ja sogar unvereinbar282. Denn eme wirksame Sicherung der Schutzgüter, hier der natürlichen Lebensgrundlagen, erfordert vielmehr, diese gegen jegliche Art von potentiellen Gefahrenquellen zu schützen283. Dabei ist festzustellen, daß die durch Naturkräfte verursachten Gefahrdungslagen auch von der staatlichen Schutzverpflichtung der Umweltschutzklausel zu berücksichtigen sind. Wichtig ist außerdem, daß es bei der die staatliche Schutzverpflichtung aktivierenden Gefahrdungsintensität ausschließlich auf die zu schützenden Güter ankommt; dabei spielt es keine Rolle, ob diese Gefährdungen aus einer allmählichen Kumulation von Risiken gleichen oder unterschiedlichen Ursprungs, wie es bei den Umweltgefahrdungen meistens der Fall sind284, herrühren. Ziel der verfassungsrechtlichen umweltschützenden Verpflichtung ist es, die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen durch nichtstaatliche Einwirkungen abzuwehren, nicht aber gegen die Verursacher der Umweltgefährdungen Vorwürfe zu erheben.
Fünftes Kapitel
Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung I. Allgemeines Sobald die tatbestandlichen Voraussetzungen für das Auslösen der staatlichen Schutzverpflichtung nach Art. 20a GG vorliegen, rücken die Erfüllungsprobleme
282
Im Vergleich zur grundrechtlichen Schutzpflicht siehe Die tiein, Die Lehre der grundrechtlichen Schutzpflicht, S. 103; auch Stern, Staatsrecht m/1, S. 734. 283
Nicht abzustreiten ist auch, wie Dietlein zu Recht gezeigt hat, daß die rechtlichen Voraussetzungen für ein schützendes Tätigwerden des Staates von gänzlich andersartiger Qualität sein kann, je nachdem, ob die Störungsquelle natürlichen oder personalen Ursprungs ist. Für den Schutz vor den Gefahren natürlichen Ursprungs wird man nicht gleich strenge Maßstäbe fordern müssen wie ftlr den personalen Ursprung. Die Handlungsspielräume der staatlichen Organe sind für jene in der Regel weiter bemessen als für diese; ders., Die Lehre der grundrechtlichen Schutzpflicht, S. 103 ff. 284
Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 227; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 80 ff. (127 ff, 149ff. jeweils m.w.N.); Kloepfer, DVB1. 1988,305 (311).
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
113
dieser Schutzverpflichtung ins Blickfeld. Vergegenwärtigt man sich, daß die Umweltschutzveφflichtung eine positive Handlungspflicht des Staates verlangt, stellt sich die die Voraussetzungen erfüllende Schutzverpflichtung für den Staat inhaltlich gesehen nicht anders als eine Staatsaufgabe dar. Dabei läßt sich sagen, daß erst nach tatbestandlichen Präzisierungen und Feststellungen die Konturen der zuvor nur in Latenz existierenden staatlichen Schutzpflicht gezeichnet und als Schutzaufgabe des Staates zur Erfüllung verfassungsrechtlich konkret gefordert werden. Adressat einer solchen Umweltschutzaufgabe ist der Staat, wobei alle drei staatlichen Gewalten, die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt, ausdrücklich in Art. 20a GG angesprochen sind. In einem Bundesstaat wie Deutschland schließt der Begriff des Staates sowohl den Bund als auch die Länder285 ein. Bund und Länder sind gleichermaßen in die Pflicht genommen286. Die verfassungsstaatlichen Organe der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung in Bund und Länder (im Rahmen des Homogenitätsgebots, Art. 28 Abs. 1 GG) sind aber von der Verfassung mit je spezifischen Funktionen und Entscheidungsvollmachten unterschiedlich ausgestattet. Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung kann sich folglich keine einheitliche Schutzaufgabe ergeben, sondern nur gesondert eine legislative, exekutive und judikative Schutzverpflichtung und Schutzaufgabe entstehen. Jede Gewalt ist nach ihrer spezifischen Aufgabenstellung in unterschiedlicher Weise zur Durchsetzung der Umweltschutzveipflichtung berufen: Die Gesetzgebung ist beispielsweise zum Tätigwerden verpflichtet, wenn grundlegende Schutzmaßnahmen fehlen, die vollziehende Gewalt hat die Umweltschutzpflicht im Einzelfall zu verwirklichen. In Streitfällen schließlich sind die Gerichte zur Durchsetzung aufgerufen 287. Wesentlich ist, daß die Staatsfunktionen je nach ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenz und Befugnis die Sicherheit der natürlichen Lebensgrundlagen vor Gefahrdungen bzw. Beeinträchtigungen mit rechtsstaatlichen Mitteln wirksam zu gewährleisten haben. Bevor auf die jeweils zugemessene Schutzaufgabe der Staatsorgane eingegangen wird, ist noch Grundsätzliches über
285
In der langjährigen Diskussion über die verfassungsrechtliche Aufnahme der Umweltschutzklausel wurde gelegentlich eine entsprechende Ergänzung (Modifikation) des Art. 28 Abs. 1 GG, also der Homogenitätsklausel, vorgeschlagen, wie ζ. B. der Vorschlag im Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 157; der Gesetzentwurf der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands v. 18.2.1987, BT-Drs. 11/10; auch beim Formulierungsvorschlag des Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder i.d.F. v. 29.6.1991; beim Formulierungsvorschlag des Kommission Verfassungsreform beim Bundesrat vom 8.10.1991. Die Empfehlung der Gemeinsamen Verfassungskommission hat aber auf eine derartige Modifikation verzichtet. 286 287
8 Tsai
Vgl. Meyer-Teschendorf, ZRP 1994,73 (77). Vgl. Stern, Staatsrecht ΙΠ/1, S. 950, in bezug auf die grundrechtliche Schutzpflicht.
114
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
die Erfüllung der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung vorauszuschicken. A. Charakter der Schutzverpflichtung: Konkretisierungsbedürftigkeit und Optimierungsgebot Inhaltlich gesehen wird keine Unterlassung des Staates, sondern eine positive normative oder faktische Leistung des Staates für die Aufgabenbewältigung erwartet. Schon diese positive Handlungserwartung an die Adressaten bringt große Schwierigkeiten für eine rechtliche Konturierung der Aufgabenbewältigung mit sich. Der Grund dafür hegt auf der Hand. Was der Staat einer Unterlassungspflicht, die auch von der grundrechtlichen Abwehrfunktion dem Staat abverlangt wird, ist ohnehin relativ klar zu bestimmen und abzugrenzen, da die Bestimmung und Abgrenzung der Pflicht immer logischerweise ein Tun des Staates voraussetzt. Was ein „Tun" betrifft, ist es schon dadurch charakteristisch, daß es in sich bestimmt ist288. Gefordert ist eindeutig das Gegenteil dieses „Tuns"289; dabei ist es auch völlig gleichgültig, ob es nun um eine Maßnahme der Legislative, der Exekutive oder der Judikative geht. Demgegenüber kann das „staatlich Geschuldete"290 bei einer Handlungsanforderung an den Staat, das an staatliches Nicht-Handeln bzw. nicht genügendes Handeln anknüpft und dieses korrigieren will291, wegen der Gegenstandslosigkeit und Unspezifität des „NichtHandelns" nicht durch ein zu korrigierendes „Gegenteil" gekennzeichnet und inhaltlich bestimmt werden. Wenn eine staatliche Unterlassung verfassungswidrig ist, existiert in aller Regel auch kein schon definites verfassungsmäßiges Gegenteil, sondern höchstens eine indefinite Vielzahl verfassungsmäßiger Alternativen292. Damit wird in der Regel auch folglich ein Auswahlspielraum für die Adressaten eröffnet 293. Er führt sodann zu einer sachlichen Offenheit der zu erfüllenden Schutzaufgabe. Der definitive Inhalt der Schutzaufgabe liegt also nicht von vornherein fest; es kommt letzten Endes auf die Konkretisierung der
288
Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221 ff. (238). 289 „Stellt es [seil: ein Tun] sich als verfassungswidrig heraus, so existiert folglich ein definites verfassungsmäßiges Gegenteil: die Annullierung des Aktes."; Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221 ff (238). 290 WahVMasing, JZ 1990, 553 (558). 291
Vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (558) über grundrechtliche Schutzpflichten. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221 ff. (238)\Älexy 9 Theorie der Grundrechte, S. 420; Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (558). 293 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 421. 292
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
115
zuständigen Adressaten an. Die verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung ist demnach stets konkretisierungsbedürftig. Bei einer derartigen Schutzverpflichtung handelt es sich ihrer Rechtsnatur nach um nichts anderes als um eine Prinzipiennorm, die gebietet, daß die Umweltschutzaufgabe in einem hohen Maße konkretisiert und realisiert wird294. Sie enthält daher ein „Optimierungsgebot 66295 und eine „ Verwirklichungstendenz" 296 in dem Sinne, daß diese Aufgaben in unterschiedlichen Graden erfüllt werden können und daß das gebotene Maß ihrer Erfüllung nicht nur von den tatsächlichen, sondern auch von den rechtlichen Möglichkeiten abhängt297.
B. Sachliche Offenheit
der Verfassung in der Aufgabenerjüllung
Mit diesem Charakter ist es nur folgerichtig, daß es von der die Staatsaufgabe verpflichtenden Verfassungsnorm praktisch kaum zu erwarten ist, selbst eine detaillierte Programmierung hinsichtlich der Aufgabenerfüllung - wie die Schutzaufgabe zu bewältigen ist - vorzunehmen, die für die Beurteilung der verfassungswidrigen Nichterfüllung der Schutzaufgabe relevant ist. Den Weg der Zielannäherung und die dazu erforderlichen Mittel muß die Verfassungsnorm zwangsläufig offenlassen Dies gehört darüber hinaus auch zu den Eigenschaften des Normtyps der Staatszielbestimmung: Hierbei ist die Zielvorgabe - das zu erreichende Ziel als solches - verfassungsrechtlich festgelegt, insoweit der Staat auch daran gebunden ist. Die Gestaltung und Verwirklichung im Prozeß der Zielverfolgung soll und kann nicht von der Verfassung - material-sachlich genau vorgezeichnet werden. Die aus Art. 20a GG abgeleitete Umweltschutzverpflichtung an den Staat ist unter diesem Aspekt ein sog.,Finalprogramm" ; sie fragt nur nach dem Ergebnis, nicht aber nach der Art und Weise der Erfüllung. Dazu genießen die Adressaten, vornehmlich die politische Macht, also der volksvertretende Gesetzgeber, die auf rechtsstaatlicher und demokratischer Legitimation beruht, Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Art, Weise, Finanzierung und Modalität der Aufgabenbewältigung298. Dies bleibt bei
294
Ober die Unterscheidung von Regeln und Prinzipien und die Bedeutung von Prinzipiennormen siehe Alexy y Theorie der Grundrechte, S. 71 ff. 295 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75. 296 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 159 (174), in bezug auf die grundrechtliche Schutzpflicht. 297
Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. Die Rechtsprechung über die grundrechtliche Schutzpflicht findet hier auch Anwendung: „Dem Gesetzgeber wie der vollziehenden Gewalt kommt bei der Erfüllung der Schutzpflicht ein weiterer Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu, der auch Raum läßt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen."; BVerJGE 298
8*
116
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
allen Meinungsverschiedenheiten unbestritten299. Schließlich enthält die Umweltschutzklausel verfassungstextlich keine vorweggenommene Entscheidung über die konkreten Modalitäten der staatlichen Aufgabenerfüllung. Die Unvermeidbarkeit und sogar Notwendigkeit der sachlichen Offenheit der Verfassung in der Ausführung der Umweltschutzaufgabe läßt sich des weiteren auch aus der Verfassungswirklichkeit begründen. In Anbetracht der Tatsache, daß die Mittel und die Ressourcen des Staates nicht unbegrenzt sind, während die Aufgabe an sich gegenständlich uferlos sein könnte, ist es nur folgerichtig, daß eine nach der Verfassung verpflichtende Staatsaufgabe, wie wesentlich auch immer, notwendigerweise nur von dem jeweils zuständigen Organ in der konkreten Situation zeitmäßig und abwägend ausgefüllt werden kann300. Aus einer solchen Verfassungsnorm unmittelbar konkrete Rechtsfolgen, d.h. bestimmte Handlungsinhalte, zu entnehmen, wäre verfassungsrechtlich unmöglich. In unserem Zusammenhang darf dies auch ausnahmslos für die Umweltschutzklausel in Art. 20a GG gelten. Schließlich kann die Umweltschutzaufgabe keine Priorität vor den übrigen ebenfalls von der Verfassung gewährleisteten Staatsaufgaben beanspruchen, wie oben schon dargelegt301. Die sjachliche Offenheit der Verfassung im Hinblick auf die konkrete Aufgabenerfüllung zeigt überdies auch die Grenze der „Verrechtlichung" von Verfassung und Politik. Selbst eine als „rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens"302 angesehene Verfassung kann nicht sämtliche politische Macht oder gar den politischen Prozeß insgesamt in rechtlichen Kriterien einfangen303; sie bleibt zwangsläufig rahmenartige Ordnung, auch wenn materielle Zielzuweisungen in ihr enthalten sind Dies zeigt sich umso deutlicher bei den verfassungsrechtlichen Verpflichtungen für die Erfüllung von Staatsaufgaben. Wegen der notwendigen Offenheit, Unbestimmtheit und Unvollständigkeit der Verfassungsrechtssätze ist die Verfassung notgedrungen auf „konkretisierende Aktualisierung"304, vor allem auf eine den politischen Umständen entsprechende „Vervollständigung"305 bzw.
77, 170 (214 f.) - C-waffen-Beschluß. Auch im Fluglärm-Beschluß, BVerJGE 56, 54 (81) spricht das Gericht davon, daß es eine höchst komplexe Frage ist, wie eine positive Schutzund Handlungspflicht durch aktive gesetzgeberische Maßnahmen zu verwirklichen ist, vgl. auch BVerJGE 77, 381 (405) - Kernbrennstofifewischenlager, BVerJGE 79, 174 (202) Verkehrslärm. 299 Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. (117). 300 301 302 303 304 305
Vgl. Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. (116). Siehe oben in 4. Kapitel Π C. Hesse, Grundzüge, S. 10. Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §163, Rn. 4. Hesse, Grundzüge, Rn. 30. Maunz/Zipplius, Staatsrecht, S. 46.
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
117
Ausgestaltung durch den Gesetzgeber angelegt306. Auf diese Weise überläßt die Verfassung den politischen Kräften Raum für die weitere Gestaltung der verfassungsrechtlich nicht detaillierter gebundenen politischen Auseinandersetzungen307. „Die Verfassung liefert keine bereitliegenden Lösungen für die in konkreten Entscheidungssituationen zu wahrende gerechte und wirksame Rechtsordnung."308 In dieser Dimension können die verfassungsrechtlichen Zielweisungen, aus denen Staatsaufgaben zu entnehmen sind, zutreffend als rahmensetzende Direktiven der Verfassung für die Politik gekennzeichnet werden309. In der rechtsstaatlichen Demokratie ist der Staat, zumal die demokratisch legitimierte Volksvertretung, als reines „Verfassungsvollzugsorgan" ohnehin nicht denkbar. Andererseits heißt es aber auch nicht, daß die politische Gestaltungsfreiheit völlig verfassungsfrei ist. Sie besteht vielmehr immer nur nach Maßstäben verfassungsrechtlicher Rahmenbedingungen und Direktiven310. In diesem Zusammenhang läßt sich nochmals folgendes hervorheben: Die Zielvorgabe der Umweltschutzklausel, wie abstrakt die Formulierung des Schutzgegenstandes auch immer, ist an sich nicht „unbestimmt"; sie klarzumachen, ist die Aufgabe der Verfassungsinterpretation, wobeifreilich das Bundesverfassungsgericht im strittigen Fall das letzte Wort hat. Unbestimmt ist vielmehr nur das, was die Adressaten im konkreten Fall für die Erfüllung dieser verfassungsrechtlich geforderten Schutzverpflichtung zu erbringen vermögen. Angesichts des Prinzipcharakters der Schutzaufgabe ist diese Unbestimmtheit aber immanent unvermeidlich, da die Umweltschutzaufgabe niemals für immer erledigt wird. Sie ist in die Zukunft offen und wird immer erneut aktiviert, wenn die Voraussetzungen gegeben sind.
C. Das Problem der Gewaltenteilung Mit der Feststellung, daß die Verfassung selbst nicht in der Lage ist, die Ausgestaltung der Schutzaufgabenbewältigung ausführlich zu bestimmen,
306
Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΥΠ, §163, Rn. 5; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, S. 46. 307
Hesse, Grundzüge, Rn. 30; Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 163, Rn.
5. 308
Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. (117). Vgl. Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §163, Rn. 5. Nach Starck sind verfassungsrechtliche Aufträge, bestimmte Ziele zu verwirklichen, insoweit als Rahmen zu verstehen, als die zur Zielerreichung eingesetzten Mittel unter politischen Gesichtspunkten frei gewählt werden können; in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 164, Rn. 8. 310 Isensse spricht dabei von „rechtsgebundenem politischen Ermessen". Siehe Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 162, Rn. 20. 309
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
sondern dafür die Ausgestaltungsfreiheit der von ihr bestimmten Adressaten einräumen muß, ist dann folgerichtig die Frage nach der Aufteilung und Anforderung der Aufgabenerfüllung ausschlaggebend für die Wirkkraft der Umweltschutzklausel. Denn wodurch und wie die verfassungsrechtlich geforderte Schutzaufgabe erfüllt wird, wird schließlich vom jeweiligen Pflichtadressaten im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterschiedlich gewaltenspezifisch - gestaltet. Die konkreten Schutzinhalte können zwar nicht unmittelbar von der Verfassung angewiesen werden, der Vorgang der Aufgabenerfullung bleibt jedoch im Rahmen der verfassungsrechtlich geordneten Institutionen allen den von der Verfassung allgemein vorgesehenen Formen, insbesondere unter Berücksichtigung der demokratisch-rechtsstaatlichen Anforderungen, unterworfen. Insoweit läßt sich auch zutreffend von dem „Vorbehalt des rechtlich Möglichen"311 bei der Wahrnehmung der Umweltschutzaufgabe sprechen. Dabei handelt es sich wesentlich um die Frage der Kompetenz und Befugnis der verpflichteten staatlichen Organe 312.
311
Vgl. Kritik Böckenfördes an BVerwGE 82, 76 (Warnung vor Jugendreligionen) und BVerfG (Kammer), NJW1989,3268, in: Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 21, Fn. 35; H. H. Klein, DVB1.1994,489 (494 f.). Zum Vorbehalt des Möglichen als einem allgemeinen Verfassungsprinzip vgl. Eckertz, ZRP 1993,297 (300). 312 In der Staatsrechtslehre besteht keine übereinstimmende Begriffsbildung und -abgrenzung über die Begriffe „Aufgabe", „Kompetenz" und ,3efugnis". Zur ausführlichen begrifflichen Auseinandersetzung und Klarstellung vgl. Bull, Die Staatsaufgaben nach dem Grundgesetz, S. 52ff.; Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 31 ff. Hier ist nicht der richtige Ort, diese Frage eingehend zu erörtern; ausreichend wäre es, festzustellen, daß zumindest zwischen „Aufgabe", „Kompetenz" und ,3efugnis" unterschieden werden muß, obwohl sie sehr eng benachbart sind. Die Kompetenz setzt nämlich eine Staatsaufgabe voraus und begrenzt den rechtlichen Handlungsrahmen einer staatsinternen Organisationseinheit gegenüber dem einer anderen: „...es geht gerade darum, festzustellen, welche Aufgaben rechtlich anerkannt werden müssen, nicht nur darum, bestehende Aufgaben einem oder mehreren möglichen Rechtssubjekten (,Aufgabenträgern') zur Ausführung zu übertragen. Manche Tätigkeiten werden überhaupt erst dann als ,Aufgabe4 erfaßt, wenn der Staat zu ihrer Ausführung ansetzt; dann wird sogleich eine Kompetenzzuweisung nötig, die jedoch logisch der zweite Schritt ist" (Bull, Staatsaufgaben, S. 52 f.). Außerdem beinhalten Kompetenz sowie Staatsaufgaben - in unserem Zusammenhang besonders von Bedeutung - nicht notwendig eine staatliche Verpflichtung. Die Kategorie von staatlicher Verpflichtung, Staatsaufgaben und Kompetenzen ist also jeweils zu begründen (Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, §57, Rn. 141,148.; ders., Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §111, Rn. 148; Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, §59, Rn. 16 ff.). Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob der Staat berechtigt oder auch verpflichtet ist, im Bereich der Befugnisse bestimmte Handlungen vorzunehmen. Den Denkschritten folgt dann folgendes: „wenn schon keine staatliche Aufgabe vorliegt, erübrigt sich die Frage nach den Befugnissen zu ihrer Durchführung; ist aber eine Aufgabe festgestellt, so muß weiter gefragt werden, welche Befugnisse zu ihrer Durchführung benötigt werden..." (Bull, Staatsaufgaben, S. 54).
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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1. Schutzverpflichtung und Kompetenzverteilung Zur Verfolgung staatlicher Aufgaben muß zuerst bestimmt werden, wer verfassungsrechtlich imstande ist, diese Umweltschutzaufgaben zu erfüllen, und inwieweit, unter dieser Voraussetzung könnte dann von einer Verpflichtung zum Tätigwerden die Rede sein. Dies erfordert als erstes die Bestimmung und die funktionelle Verteilung der notwendigen Handlungsmacht für staatliche Organe im Hinblick auf die Erfüllung dieser Umweltschutzaufgabe. Dabei kommt nämlich die Kompetenzfrage zum Zuge. Hier handelt es sich sowohl um die horizontale, als auch um die vertikale Kompetenzfrage. Nach herrschender Meinung ist das Verhältnis zwischen Aufgabe und Kompetenz als Zweck-Mittel-Beziehung zu charakterisieren; anders ausgedrückt, ist die Relation von staatlicher Agende und zur Verfügung gestellter Kompetenz instrumenteller Natur313. Die Aufgabe bestimmt, welcher Tätigkeitsbereich der Staatsorganisation insgesamt im Verhältnis zur Gesellschaft zukommt, während die Kompetenz bestimmt, welche Stelle der Staatsorganisation - im Bund oder in den Ländern - die Aufgabe wahrnimmt314. Daraus folgt, daß die Bestimmung oder Feststellung der Staatsaufgabe nicht schon die erforderliche Kompetenz vermittelt. Am Beispiel des Sozialstaatsprinzips315 und der Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten316 zeigt sich, daß Staatszielnormen auf staatlich verpflichtete Aufgaben hinweisen, an sich aber in der Regel nichts darüber sagen, welches Staatsorgan für die Wahrnehmung solcher Aufgaben im konkreten Fall verpflichtet und zuständig ist. Sie selbst schaffen also in der Regel kerne neue Kompetenz für die Staatsgewalt, sollen jedoch auch keine bereits dem jeweiligen Staatsorgan zugeteilte Kompetenz wegnehmen. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur Schutzaufgabe geht vielmehr von einer vorab bestimmten Kompetenzordnung aus. Dies betrifft auch die neu aufgenommene Umweltschutzklausel, die, wie schon erwähnt, unbestritten als Staatszielbestimmung und Staatsaufgabennorm konzipiert ist. Was die horizontale Ebene betrifft, ist zuerst daraufhinzuweisen, daß die Zuweisung, die staatliche Schutzaufgabe für die natürlichen Lebensgrundlagen „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung" zu erfüllen, nicht als eine neue Regelung über die Kompetenzverteilung angesehen werden darf. Das ergibt sich zunächst daraus, daß eine
313 Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 159. Vgl. auch Kirchhof, see/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, §59, Rn. 16 ff. 314 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §111, Rn. 148. 315 316
Vgl. Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 25, Rn. 108. Vgl. nur Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn.137.
in: Isen-
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
derartige eindeutig an die Formulierung des Art. 20 Abs. 3 GG angelehnte Hinweisung in Art. 20a GG nach Absicht des verfassungsändernden Gesetzgebers grundsätzlich identischen Inhalt von Rechtsbindung der Judikative und Gesetzesbindung der Exekutive zum Ausdruck bringen wollte; es wird nur die schon vorhandene Anforderung bestätigend wiederholt317. Das könnte dazu beitragen, den möglicherweise entstehenden Streit darüber zu vermeiden, ob mit Art. 20a GG an der Rechtsbindung der Judikative und an der Gesetzesmäßigkeit der Verwaltung mit dem analogen Bedeutungsgehalt wie in Art. 20 Abs. 3 GG festgehalten werden soll318. Eine derartige Wiederholung könnte wegen der redaktionellen Nähe zu Art. 20 GG vor allem verdeutlichen, daß die neu aufgenommene Umweltschutzklausel Verwandtschaft mit anderen Staatszielbestimmungen und Staatsstrukturprinzipien besitzt319, und als wichtiger Bestandteil des Grundgesetzes im Rahmen der grundgesetzlich vorgegebenen Kompetenzordnung systemkonform ausgelegt und ausgestaltet werden soll; ihr kommt in dieser Hinsicht also lediglich deklaratorische und symbolische, nicht aber konstitutive Bedeutung zu320. Diese Feststellung wird umso deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Kompetenzordnung in einem vom Grundgesetz verfaßten Staat wesentlich in Artikel 1 und 20 geregelt ist, die als Ewigkeitsgarantie der Verfassung allen Änderungsmöglichkeiten entzogen sind (Art. 79 Abs. 3 GG)321. Zumindest darf die Auslegung der Umweltschutzklausel nicht den Grundsätzen in Art. 20 GG zuwiderlaufen 322. Wenn die vertikale Kompetenzverteilung hinsichtlich der Umweltschutzaufgabe in Frage kommt, müssen auch die Kompetenzvorschriften in Art. 70 ff. GG eingehalten werden. Durch die Aufiiahme der Umweltschutzklausel ins Grundgesetz hat sich die bundesstaatliche Kompetenzordnung nicht geändert. Es weist die Aufgabe der Verwirklichung des Umweltschutzgebots des Art. 20a GG dem Bundesgesetzgeber weder als Materie der ausschließlichen noch der konkurrierenden Gesetzgebung zu. Es gibt dem Bund nach Maßgabe seiner Kompetenzen nur spezielle Gesetzgebungsbefugnisse zur Verwirklichung des Umweltschutzgebots323.
317
Vgl. Meyer-Teschendorf ZRP 1994,73 (78); Jarass/Pieroth y GG, Art. 20a, Rn. 8. ™ Meyer-Teschendorf ZRP 1994,73 (78). 319 Meyer-Teschendorf ZRP 1994,73 (77). 320 Vgl. Abg. Vogel, GVK-Prot. v. 1.7.1993, S. 8; Abg. Scholz, ebd. S. 13 f; Meyer-Teschendorf ZRP 1994,73 (78)., Uhle, DÖV 1993,947 (952). 321 Vgl. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79, Rn. 44ff.; Hesse, Grundzüge, Rn. 700 ff. 322
Ähnlich auch Meyer-Teschendorf, ZRP 1994,73 (78). Hervorzuheben sei: Das Umweltschutzgebot muß eher durch die gesamte Rechtsordnung geprägt sein, so daß allgemeine Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes schon deshalb nicht denkbar sind. 323
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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Als Ergebnis läßt sich feststellen, daß die zur Ausübung öffentlicher Gewalt berufenen Organe der Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung im Bund und in den Ländern bei der Erfassung und Erfüllung der sie treffenden Aufgabe und Verpflichtung aus Art. 20a GG auf die allgemeine Kompetenzordnung des Grundgesetzes angewiesen bleiben. Die vorgegebenen Hierarchien der Entscheidung sind so auch der Zuständigkeit für die Konkretisierung des Umweltschutzgebots vorgegeben. Es steht also fest: „Verpflichten lassen sich Gewaltenträger in Bezug auf die ihrer Kompetenz zugewiesenen Tätigkeiten"324.
2. Schutzverpflichtung und Befugnis Ist von staatlicher Befugnis325 zum Handeln die Rede, bezieht sich dies auf die Rechtspositionen der Bürger. Die Befugnisnorm dient gegenüber der Kompetenznorm - die sich nicht an den Bürger, sondern an die staatlichen Organe richtet - dem Rechtsschutz des Individuums326. Die staatliche Befugnis ist dabei wesentlich durch die formal-rechtsstaatlichen Anforderungen, insbesondere den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt und das Verhältnismäßigkeitsprinzip beschränkt327. Die Aufgabenzuweisung mit Kompetenz (Zuständigkeit) schließt nicht ipso iure die Befugnis der staatlichen Organisationseinheit ein, die erforderlichen Eingriffe in den Rechtskreis des Bürgers zu tätigen328. Es gilt als ein rechtsstaatliches Verbot, von Kompetenzen unmittelbar auf die Befugnis zu schließen329. Dies könnte nämlich die Gefahr auslösen, dem Bürger eine „Grundpflicht" anhand einer objektiven Verfassungsnorm direkt aufzuerlegen 330 und daher den Grundrechtsvorbehaltsgedanken ins Leere zu führen. Auch wenn die Verfassung Schutz gebietet, so muß die dazu erforderliche Befugnis, vor allem Eingriffslegitimation, nicht schon auch gegeben sein331. Vielmehr ist die gesetz-
324
Düng, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 m, Rn. 101. Über die Deutungsinhalte und das Verhältnis zu den Begriffen Aufgabe, Kompetenz usf. vgl. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 43 ff. 325
326
Vgl. Ossenbühl, Umweltpflege durch behördliche Warnungen und Empfehlungen, S.
38 ff. 327
Vgl. Kirchhof, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, §59, Rn. 24 ff.
328
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, §57, Rn. 142, unter Hinweise mi Hans Julius Wolff, in: ders./Otto Bachhof, Verwaltungsrecht 19,1974, §30 Dia 3 (S. 184); ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 149. 329
Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (555). Über den Grundpflichtsgedanken unter dem Grundgesetz vgl. Badura, DVB1. 1982, 861 (868); Hofmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 114, Rn.17 ff. 331 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 57, Rn. 142; Wahl/Masing, JZ 1990, 553 (555). 330
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
geberische Umsetzung erforderlich, wenn grundrechtlich gewährleistete Freiheiten berührt werden. Demnach ist auf die Umweltschutzklausel nicht unmittelbar eine Eingriffslegitimation der Exekutive und Judikative zu begründen. Beim Sozialstaatsprinzip zeigt dieser Grundgedanke Übereinstimmung sowohl in der Literatur als auch in der Rechtsprechung. Was für die grundrechtliche Schutzpflicht gilt, daß die Schutzpflicht keine neue und zusätzliche Befugnis des Staates zum Eingriff (gegen den Dritten) geschaffen und den allgemeinen formellen und materiellen Erfordernissen des Grundgesetzes zu genügen hat332, findet auch für die Schutzverpflichtung aus der Umweltschutzklausel Anwendung. Die Umweltschutzklausel und die darauf begründete Umweltschutzverpflichtung als Staatsaufgabe ist keineswegs von der rechtsstaatlichen Reglementierung befreit.
II. Die legislative Schutzpflicht A. Funktionell-rechtliches
Aktivieren
der legislativen Schutzpflicht
Sofern die verfassungsrechtlich gebotene Umweltschutzaufgabe staatlicher Konkretisierung und Verwirklichung bedarf, d.h. keine konkrete Handlungsanweisung aus der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung ableitbar ist, kann sich diese verfassungsrechtlich verpflichtete Aufgabe zunächst allenfalls nur an den die Rechtsordnung gestaltenden Gesetzgeber wenden. Es ist Sache des Gesetzgebers, die verfassungsrechtlich vorgesehene Schutzgewährleistung normativ aufzustellen und umzusetzen. Dies ergibt sich schon aus dem funktionsspezifischen Gewalten- und Kompetenzverteilungssystem des Grundgesetzes, in dem primär der volksvertretende Gesetzgeber für die Gestaltung der Rechtsordnung des Gemeinwesens zuständig ist. Die von der Verfassung begründete Schutzpflicht für die natürlichen Lebensgrundlagen muß also in der Rechtsordnung verwirklicht werden. Demnach ist der Gesetzgeber folgerichtig der erste und primäre, wenn auch nicht ausschließliche Adressat der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung. Der Gesetzgeber nimmt daher im Steuerungssystem politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Umweltschutzaufgabe die bevorzugte und entscheidende Rolle ein333. Mit seiner funktionellen Eigenschaft im Verfassungsstaat wird dem Gesetzgeber bei der Erfüllung des Verfassungsgebots zum Umweltschutz verfassungsmäßig schon eine Konkretisierungsprärogative gegenüber der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt - stillschweigend - zuerkannt, und die Verfassung 332 Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 206 ff ; WahlMasing, JZ 1990,553 (557 ff); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 148,150. 333 Vgl. Badura, Staatsrecht, D 50; Hesse, Grundzüge, Rn. 502 ff.
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
123
brauchte dazu eigentlich - es sei an die leidenschaftliche Debatte über die Einfügung eines „Gesetzgebungsvorbehalts"334 in die Umweltschutzklausel zu erinnern335 - keine ausdrückliche Normierung vorzunehmen. Auf jeden Fall wird
334 Ein solches Vorhaben wurde nicht selten einfach als „Gesetzesvorbehalt" bezeichnet, so die der Sachverständigen-Anhörung durch den Rechtsausschuß des Deutschen Bundestags zugrundeliegenden Fragen 2.8 bis 2.10, Bundestags-Anhörung, S. 13, und auch zahlreiche Stellungnahmen; Sommermann, DVB1. 1991,34 (34 ff.); Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. (118). Herkömmlicherweise wird aber der Begriff „Gesetzesvorbehalt" hauptsächlich im Bereich der Grundrechte sowohl auf die Voraussetzungen der Grundrechtseinschränkungen (grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt) als auch auf den allgemeinen Eingriffsvorbehalt (Art. 20 Abs. 3 GG) bezogen; vgl. Ossenbühl in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 62, Rn. 7 ff., Rottmann, EuGRZ 1985, 277 (280 ff.). Die gezielte gesetzgeberische Tätigkeit im hier interessierenden Zusammenhang beruht jedoch auf einer die Gesetzgebungspflicht begründende Staatszielbestimmung; sie wirkt an sich also als Konkretisierung dieser Staatszielbestimmung. Um Mißverständnisse und Verwechslungen zu vermeiden, wird hier anstatt des Begriffs Gesetzesvorbehalt der Begriff „Gesetzgebungsvorbehalt" verwendet. Mit diesem Begriff soll nämlich nur die Gewährung der primären Stellung des Gesetzgebers vor den anderen Staatsgewalten zur Erfüllung der Umweltschutzaufgabe bezeichnet werden. 335
Vielfach wurde in der Diskussion über die Aufnahme der Umweltschutzklausel ins Grundgesetz immer wieder davor gewarnt, daß die Umweltschutzklausel wegen der unvermeidlichen Offenheit der zu erfüllenden Schutzverpflichtung eine Schwächung des Gesetzgebers und sogar eine Kompetenzverlagerung von Parlament und Regierung auf die (Verfassungs-) Gerichtsbarkeit praktisch zur Folge haben könnte, wenn auch dabei gar nicht abgestritten wurde, daß der Gesetzgeber theoretisch der bevorzugte Pflichtadressat sein soll. Um diese Gefahr zu verhindern, wurde deswegen bei den verfassungspolitischen Diskussionen die Einführung einer Regelung über einen „Gesetzgebungsvorbehalt" leidenschaftlich debattiert. Das Vorhaben wollte also ausdrücklich eine (ausschließliche) Konkretisierungsprärogative bzw. den Ausgestaltungsvorbehalt zugunsten des Gesetzgebers in der Erfüllung der verfassungsrechtlich geforderten Umweltschutzaufgabe sichern, um eine unmittelbare Umsetzung des verfassungsrechtlichen Umweltschutzgebots ohne gesetzliche Grundlagen durch andere Staatsgewalten, insbesondere die rechtsprechende Gewalt, zu verwehren. Bei der langjährigen Debatte über die Aufnahme des Umweltschutzstaatsziels ins Grundgesetz spielte diese Frage über die Regelungsnotwendigkeit des Gesetzgebungsvorbehaltes immer eine entscheidende Rolle. So betonten CDU/CSU bei den Diskussionen der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat stets die Unverzichtbarkeit einer Gesetzgebungsvorbehaltsklausel, etwa mit der Formel wie: „Das Nähere regeln die Gesetze", wie es bei dem vom Rechtsausschuß des Bundestages in der 11. Wahlperiode vorgeschlagenen Art. 20a Abs. 2 GG der Fall war (Vgl. BT-Drs. 11/7905, S. 4). Die SPD sprach sich aber nach wie vor dezidiert gegen derartige Gesetzesvorbehaltsklauseln aus, da damit einerseits der Umweltschutz im Ergebnis zur Disposition des Gesetzgebers gestellt werde, andererseits - im Vergleich zum Sozialstaatsziel, das keinem Gesetzesvorbehalt unterliegt - der Umweltschutz zu einem Staatsziel „zweiter Klasse" degradiert werden könnte (Vgl. auch BT-Drs. 11/7905, S. 6, in bezug auf den Verfassungsänderungsvorschlag in der 11. Wahlperiode). Es war bekannt, daß die Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission sich stets darum bemühten, zwischen diesen eben dargestellten konträren Positionen zur Frage des Gesetzgebungsvorbehalts einen Kompromiß zu finden (Vgl. MeyerTeschendorf, ZRP 1994, 73 (75)). Vor diesem Hintergrund hat Mitvorsitzender Abg. Prof.
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
nach der jetzt in Kraft getretenen Formulierung des Art. 20a GG diese aus der bestehenden Kompetenzverteilung des Grundgesetzes bereits zu entnehmende Konkretisierungsprärogative des Gesetzgebers gewissermaßen dadurch bestätigend abgesichert, daß die vollziehende und rechtsprechende Gewalt die natürlichen Lebensgrundlagen „nach Maßgabe von Gesetz und Recht" schützen sollen. Genau wie in Art. 20 Abs. 3 GG ist mit dieser Bindungsformel in der Tat „ein Recht des ersten Zugriffe" des Gesetzgebers auf die Gestaltung und Konkretisierung der Umweltschutzaufgabe gewährleistet336. Es soll aber nicht übersehen werden, daß die durch diese Bindungsformel hervorgerufenen Grundsätze von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes sowie Gesetzesmäßigkeit in Art. 20 Abs. 3 und 20a GG - beide sind gleichermaßen zu interpretieren - nur der hierarchischen Kompetenzverteilung der Staatsgewalt dienen, nicht aber der Zuweisimg der Gesetzgebungspflicht. Es handelt sich dabei um die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen für Exekutive und Judikative, nicht aber um die Notwendigkeit der Gesetzgebung, geschweige denn einer Gesetzgebungspflicht. Angesichts der Tatsache, daß der Gesetzgeber schon ohne diese neue Umweltschutzklausel die natürlichen Lebensgrundlagen in vielen Gesetzen umfangreich geschützt hat, wäre der darauf gerichtete Gesetzgebungs vorbehalt, ob die gesetzlichen Grundlagen für exekutiven und judikativen Umweltschutz existieren, praktisch jedoch nur noch von geringer Bedeutung337. Nach Art. 20a GG sollen übrigens die natürlichen Lebensgrundlagen „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung" durch die Gesetzgebung geschützt werden. Die Zuweisung des gesetzgeberischen Schutzes „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung", die sich hier auf die Gesamtheit der Normen des
Dr. Scholz (CDU) darauf zuerst folgende Formulierung als Kompromiß vorgeschlagen: „ Die natürlichen Lebensgrundlagen stehen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung un dem Schutz des StaatesDieser Vorschlag war zwar von der SPD akzeptiert und in der Sitzung der Gemeinsamen Verfassungskommission am 11. Februar 1993 zur Abstimmung gestellt worden, verfehlte mit 41 Stimmen aber knapp eine ausreichende Zweidrittelmehrheit von 43 Stimmen. Danach wurde noch von der CDU/CSU-Fraktion in der Sitzung am 112.1993 der Formulierungsvorschlag „Die natürlichen Grundlagen des Lebens stehen unter dem Schutz des Staates. Das Nähere regeln die Gesetze" (Kommissions-Drs. 47) und in dieser Richtung auch von Bayern der Vorschlag „Der Staat schützt die natürlichen Lebensgrundlagen durch seine gesetzliche Ordnung" zur Abstimmung gestellt. Beide blieben aber erfolglos. Zu der Problematik eines Gesetzgebungsvorbehalts für die Umweltschutzklausel neben den zahlreichen Stellungnahmen in Bundestags-Anhörung und im Stenographischen Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission sei hier nur auf folgende Literatur hinzuweisen: Müller-Bromley, Staatszielbestimmung, S. 136 ff.; Murswiek, ZRP, 1988,14 (17 iy,Sommermann yOWm. 1991,34 ff.;Stern,NWVB1. 1988,1 (5). 336
Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 V, Rn. 80. Damit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, inwieweit der Gesetzgeber die Umweltschutzaufgabe erfüllen muß. Siehe unten in diesem Kapitel Π C 2. 337
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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Grundgesetzes bezieht338, erscheint zwar tautologisch, da schließlich die Umweltschutzklausel freilich auch ein Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung ist, ist jedoch wohl auch als eine Bestätigung der eben dargestellten Konkretisierungspriorität des Gesetzgebers vor den anderen Staatsgewalten zu sehen339. Hervorgehoben sei nur die Notwendigkeit der gesetzgeberischen Abwägung und Entscheidung über die jeweils vorzunehmende Priorität zwischen Umweltschutzbelangen und anderen verfassungsrechtlichen Interessen340. B. Gehalt der legislativen Schutzverpflichtung 1. Gesetzgebungspflicht Die Umweltschutzverpflichtung des Gesetzgebers bedeutet in erster Linie einen positiven und verbindlichen Normgestaltungsauftrag 341. Der Gesetzgeber ist dementsprechend aufgefordert, mit und in den Gesetzen die bedrohten natürlichen Lebensgrundlagen in Schutz zu nehmen. Die gesetzgeberische Pflicht, die Umweltschutzverpflichtung zu erfüllen, ist umfassend zu verstehen. Dazu zu zählen ist nicht nur die Pflicht, Initiativen und Entscheidungen in Form von umweltrechtlichen Spezialgesetzen vorzunehmen, sondern auch die Pflicht, Umweltschutzbedürfhisse bei der Ausgestaltung anderer Gesetzesmaterien ebenfalls angemessen zu berücksichtigen342. Gedacht sein soll außerdem nicht nur an die materiellen Regelungen, sondern vor allem auch an die Regelungen über die Organisation und das Verfahren der konkreten Entscheidung, die eine
338
Ober die Bedeutungsmöglichkeit des Begriffs „verfassungsmäßige Ordnung" unter dem Grundgesetz siehe oben 4. Kapitel Π C. 339 Dem verfassungsändernden Gesetzgeber zufolge würde diese Bindungsformel wohl vor allem dazu dienen, die notwendigen anthropozentrischen Belange sowie die stets erforderlichen Abwägungen mit anderen, gleichfalls verfassungsrechtlich legitimierten Schutzgütern zu gewährleisten. Vgl. ctw& Scholz, Grundgesetz zwischen Reform und Bewahrung, 1993, S. 27 f. 340 Ober die Absicht der Einführung eines Gesetzgebungsvorbehalts siehe Murswiek, ZRP 1988,14 (18); Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 134 ff.; Sommermann, DVB1.1991,34 (35 f.); Η. Η Klein, DVB1.1991,729 (737). Ober die Wertordnung des Grundgesetzes siehe auch oben 4. Kapitel Π C. 341 „Die Staatszielbestimmung ist in erster Linie ein Handlungsauftrag an die Gesetzgebung und eine normative Richtlinie für die Ausfüllung dieses Handlungsauftrags."; Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 161. 342 Auch Michel, Staatszwecke, S. 300; Wieholtz, AöR 109 (1984), 532 (534).
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2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
entscheidende Rolle im Umweltschutzbereich spielen, da materielle Feststellungen der gesetzlichen Regelungen nicht selten wegen der hochkomplizierten Sachverhalte im konkreten Fall versagen müssen343. Es sei an dieser Stelle zu bemerken, daß die gebotene gesetzgeberische Tätigkeit in der Ausführung der verfassungsrechtlich geforderten Umweltschutzaufgabe keineswegs von konstituierender Art ist, wie die etwa bei der Einrichtungsgarantie, z.B. die Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) der Fall ist. Bei der gesetzgeberischen Bestimmung zum Eigentumsinhalt geht es darum, die grundrechtliche Substanz („Eigentum"), auf die sich der Freiheitsschutz bezieht, zu konstituieren344. Insoweit ist die gesetzgeberische Tätigkeit die Ausformung grundrechtlicher Substanz. Ohne solche Konstituierung durch die Rechtsordnung könnte der Grundrechtsgebrauch gar nicht möglich sein. Dabei ist der einzelne zum Grundrechtsgebrauch nicht schon durch seine Natur und auch nicht durch seine gesellige Natur, sondern erst durch die Rechtsordnung imstande345. Die natürliche Umwelt als der Schutzgegenstand wird aber nicht von der Rechtsordnung konstituiert, sondern ist ein a priori außerrechtliches Gut, welchem über einen Verfassungsbegriff rechtlicher Schutz zugeführt werden soll346. Die „Unbestimmtheit" des Begriffs der natürlichen Lebensgrundlagen, auf die vielfaltig hingewiesen wurde, soll daher nicht dazu führen, daß der Schutzbereich der Umweltschutzklausel erst durch eine gesetzliche Regelung konstituiert werden könnte. Wie oben schon erörtert 347, sind die natürlichen Lebensgrundlagen als
343
Der Gedanke, daß die Regelungen über das Verfahren und die Organisation auch als Schutzmittel gefordert werden, ist vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der grundrechtlichen Schutzpflicht geprägt. Im Mülheim-Kärlich-Beschluß führt das Gericht aus, daß „Grundrechtsschutz weitgehend auch durch die Gestaltung von Verfahren zu bewirken sei und daß die Grundrechte demgemäß nicht nur das gesamte materielle, sondern auch das Verfahrensrecht beeinflussen, soweit dieses für einen effektiven Grundrechtsschutz von Bedeutung ist"; BVerJGE 53, 30 (65). Die Schwierigkeit, diesen Gedanken „Grundrechtsschutz durch Verfahren" durchzusetzen, besteht aber darin, wie handhabbare Kriterien für die Abgrenzung der vom Grundgesetz nicht nur zugelassenen, sondern von ihm gebotenen grundrechtsschützenden Verfahrens- und Organisationsregeln zu entwickeln sind. Es ist jedenfalls bekannt, daß Verfahrensregelungen ganz unterschiedlichen, gegenläufigen Aufgaben dienen sollen. Vgl. nur Wahl und Pietzcker, in: WDStRL 1983,151 ff., 193 ff. Die Situation gilt ebenfalls für die Problematik der Erfüllung der Umweltschutzpflicht des Staates durch die Regelungen über das Verfahren und die Organisation. Diese Frage ist nämlich für die verfassungsgerichtliche Nachprüfbarkeit von solchen Verfahrens- und Organisationsvorschriften von entscheidender Bedeutung; Vgl. Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 113, Rn. 8 ff. 344
Siehe nur Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121, Rn. 39. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 241. 346 Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 138, m.w.N. 4 Siehe oben in diesem Kapitel . 345
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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Schutzgegenstand nicht „unbestimmt" in dem Sinne der Konstituierungsbedürftigkeit Die mögliche unbestimmte Grenze des Schutzgegenstandes ist mittels Verfassungsauslegung festzulegen. Was allerdings die Unbestimmtheit der Art, Weise und Modalität der Erfüllung der Schutzaufgabe anbetrifft, ist angesichts der politischen Gestaltungsfreiheit der Umweltschutzklausel immanent und verfassungsrechtlich auch anerkannt, zumal die Schutzaufgabe stets auf Gefahrdungslagen bezogen ist, was schon unvermeidbar zu einer ständigen Anpassung an die aktuelle Situation führt. Die gesetzlichen Regelungen ähneln in dieser Situation vielmehr denen bei der grundrechtlichen Schutzpflicht: Die Gesetzgebung konkretisiert das abstrakt erfaßte Schutzgebot der Verfassung. Da die Umweltschutzklausel dem Staat eine stets zu beachtende Leitlinie und Anforderung für das staatliche Handeln liefert, führt dies dazu, daß die daraus entnommene Schutzverpflichtung des Gesetzgebers zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen eine permanente Aufgabe ist. Bei ihr kommt es nämlich ausschließlich auf die Gefahrdungslagen für die natürlichen Lebensgrundlagen an und sie zielt auf die Abwehr vor solchen potentiellenGefahrdungen. Sie ist deswegen dynamisch und als in die Zukunft offen zu verstehen, ebenso wie die grundrechtlichen Schutzpflichten348. Kraft dieses dynamischen Charakters kann die Schutzaufgabe folgerichtig nicht mit einem einmaligen Tätigwerden ein für allemal erledigt werden, wie das beim deutschen Wiedervereinigungsgebot der Fall war, sondern bleibt weiter bestehen. Die Gesetzgebungspflicht aktualisiert sich immer dort, wo neuartige Gefährdungen für die natürlichen Lebensgrundlagen auftreten und dabei entsprechende Schutzvorkehrungen fehlen. Es sei noch zu bemerken, daß es keine Rolle spielt, ob das vom (historischen) Gesetzgeber erlassene Gesetz ausdrücklich auf die Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung angelegt ist. Wichtig ist vielmehr, ob das Gesetz in seinem objektiven Gehalt zur Verwirklichung der Schutzverpflichtung (auch) in der Lage ist349. Unter diesen Umständen kann die erforderliche Gesetzgebung zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung hinlänglich von den vorhandenen gesetzlichen Regelungen erfaßt werden, wobei die hergebachten Normen des Privatrechts, des Strafrechts, des Polizei- und Ordnungsrechts usw. auch mitbedacht werden sollen. „Der verfassungsrechtlichen Forderung nach einem Tätigwerden des Gesetzgebers ist schon damit genügt, wenn objektiv eine gesetzliche Regelung vorhanden ist, die nach den allgemeinen Grundsätzen der Gesetzesauslegung den
348
Vgl. nur Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 154. Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 153, in bezug auf die grundrechtlichen Schutzpflichten.
128
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
in Frage stehenden Sachverhalt erfaßt und den Anforderungen der Schutzpflicht inhaltlich genügt"350. 2. Nachbesserungspflicht Die dynamischen und fortdauernden Herausforderungen der Umweltprobleme können auch dazu fuhren, daß die einmal vom Gesetzgeber getroffenen Schutzmaßnahmen mit der tatsächlichen Entwicklung der Umstände von Umweltproblemen351 nicht mehr als angemessen bzw. genügend bewertet werden können. Dabei kommt nicht eine neue Gesetzgebung, sondern eher ein mögliches „Nachbessern" des berührten Gesetzes im Betracht. Fraglich ist, ob dem Gesetzgeber mit der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung auch eine Nachbesserungspflicht abverlangt wird. Erinnert man an die Tatsache, daß in Deutschland die bisher erkannten Umweltprobleme zu einem großen Teil schon durch umfangreiche umweltschutzdienende gesetzliche Regelungen erfaßt sind, ist die Frage nach der Nachbesserungspflicht in unserem Zusammenhang insbesondere von großer Bedeutung. Der Gedanke der gesetzgeberischen Nachbesserungspflicht wird durch das Bundesverfassungsgericht unter Grundrechtsaspekten entwickelt352. Ausgangspunkt ist, daß sich eine dem Gesetz zugrundeliegende Prognose über regelungserhebliche Tatsachen oder über die Auswirkungen des Gesetzes als fehlerhaft erweist oder die für Art und Ausmaß des Grundrechtseingriffs maßgeblichen Umstände sich geändert haben353, deren Verfassungsmäßigkeit - trotz im nachhinein entstandener Ungewißheit über die Auswirkungen solcher gesetzlichen Regelungen in der Zukunft - wegen des dem Gesetzgeber zuerkannten Prognosespielraums bzw. der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers grundsätzlich
350
BVerJGE 77,381 (404) - Zwischenlager Gorleben. Obwohl diese Aussage die grundrechtliche Schutzpflicht betrifft, kann sie wohl wegen der strukturellen Ähnlichkeit zwischen grundrechtlichen Schutzpflichten und der Umweltschutzpflicht des Art. 20a GG auf diese anwendbar sein. 351 Dies könnte dort der Fall sein, wo z.B. technische Entwicklungen neue, vorher unbekannte Gefahrenlagen bzw. neue Erkenntnisse über schädliche Folgen bisher sozialadäquaten Handelns entstehen, aber auch wo neue verbesserte Gefahrenabwehrmöglichkeiten entwickelt sind, oder wo die gesellschaftliche Sensibilität und der Standard von Sozialadäquanz und Zumutbarkeit gewandelt sind. Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 155. 352
Vgl. BVerJGE 16, 147 (188) - Werkverkehrsentscheidung; 50, 290 (335) - Mitbestimmungsurteil; 49,89 (130,132) - Kalkar, 56,54 - Fluglärm; 65, 1 (55f.); 77, 84 (109); 88,203 (309ff) - Schwangerschaftsabbruch Π. 353 Badura, in: FS Eichenberger, S. 481ff. (484)
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
129
nicht in Frage gestellt werden kann354. Die Frage lautet daher, welche nachträgliche Verantwortung dem Gesetzgeber dabei von Verfassungs wegen geboten ist In diesem Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung mehrfach gezeigt, daß der Gesetzgeber demnach verfassungsrechtlich gehalten sein könne, eine ursprünglich als verfassungsmäßig angesehene Regelung im Wege der Nachbesserung neu zu gestalten, wenn er sich in seiner Prognose geirrt oder sich nachträglich seine Entscheidungsgrundlage geändert hat355. So hat das Gericht im Kalkar-Beschluß hinsichtlich des Tatbestandes der Genehmigungsvoraussetzungen ausführlich dargetan: „Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage gestellt wird, dann kann er von Verfassungs wegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter veränderten Umständen aufrechtzuerhalten ist"356. Einhergehend mit dieser „Überprüfungspflicht" tritt dann die Feststellung der gesetzgeberischen Nachbesserungspflicht eindeutig hervor: Ein Gesetz, dessen Verfassungswidrigkeit das Bundesverfassungsgericht nicht feststellen könne, weil es den Prognosespielraum des Gesetzgebers zu respektieren habe357, könne sich durch veränderte Umstände als grundrechtsverletzend erweisen358. Dem Gesetzgeber sei deswegen aufgegeben, das Gesetz „nach Erkenntnis der tatsächlichen Entwicklung dieser entsprechend aufzuheben oder zu ändern"359. „Es soll die Mißlichkeit kompensieren, daß das Bundesverfassungsgericht Prognosen des Gesetzgebers respektiert, deren Richtigkeit zweifel-
354
So BVerJGE 49, 89 (131): „In dieser, notwendigerweise mit Ungewißheit belasteten Situation liegt es zuvorderst in der politischen Verantwortung des Gesetzgebers und der Regierung, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen die von ihnen für zweckmäßig erachteten Entscheidungen zu treffen. Bei dieser Sachlage ist es nicht Aufgabe der Gerichte, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten. Denn insoweit ermangelt es rechtlicher Maßstäbe". Ist die Prognose des Gesetzgebers nicht zu beanstanden, so ist das Gesetz - zumindest zunächst - auch dann verfassungsmäßig, wenn sich die Prognose ex post als unzutreffend erweist. Vgl. Stettner, DVB1.1982,1123 (1125); Steinberg, Der Staat 1987,161 (164). 353 BVerJGE25,1 (12f.); 49,89 (130f.); 50,290 (335,377f.); 53,30 (58); 55,274 (317); 56,54 (78f.); 65,1 (56); 88,203 (309) m.w.N. aus der Rechtsprechung. Zweifelnd hinsichtlich des Wesentlichkeits-Kriteriums, s. Badura, in: FS K. Eichenberger, 1982, S. 482. 356 BVerJGE 49,89(144). 357 Denn die Entscheidung, wie die Handlungs- und Schutzpflichten positiv zu verwirklichen sind, ist eine höchst komplexe Frage und erfordert vielfach auch Kompromisse. Sie zu treffen, liegt in der Verantwortung des vom Volk unmittelbar legitimierten Gesetzgebers und kann vom Bundesverfassungsgericht in der Regel nur begrenzt nachgeprüft werden, sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf dem Spiel stehen; vgl. BVerJGE 56,54 (80 f.). 358 Kriele, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §110, Rn. 56. 359 BVerJGE 25,1 (13)-Mühlengesetz. 9 Tsai
130
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
haft ist, die sich aber später als fehlerhaft erweisen können"360. Eine derartige Verpflichtung für den Gesetzgeber läßt sich noch deutlicher aus den Schutzpflichten erkennen, die dem Gesetzgeber ohnehin schon eine fortdauernde Verantwortung für einen tatsächlich angemessenen und als solchen wirksamen Schutz auferlegen. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, daß der Gesetzgeber verpflichtet sei, durch Änderung oder Ergänzung der bestehenden Vorschriften auf die Beseitigung der Mängel und die Sicherstellung eines dem Untermaßverbot genügenden Schutzes hinzuwirken, wenn sich nach hinreichender Beobachtungszeit herausstelle, daß das Gesetz das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz nicht zu gewährleisten vermöge361. Die Schwierigkeit in der Annahme dieser Nachbesserungspflicht ergibt sich, wie Stern mit Recht zeigt, in der Suche nach ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung362. Obwohl sich die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die gesetzgeberische Nachbesserungspflicht ausschließlich auf die Grundrechte, insbesondere auf die grundrechtlichen Schutzpflichtsgedanken bezieht363, soll die Anwendungsmöglichkeit vorerst aber nicht darauf beschränkt werden. Unumstritten ist, daß die gesetzgeberische Nachbesserung auf erheblichen Fehlprognosen basiert, welche eine verfassungsrechtlich relevante Unvereinbarkeit zwischen Recht und Wirklichkeit mit sich bringen, und dann die Legitimität des Gesetzes in Frage gestellt wird364. Ob die Nachbesserungs/?/7/c7îf des Gesetzgebers allein mit deren Fehlprognose eines Gesetzes begründet werden kann, ist aber höchstfraglich 365.Fehlgeschlagene Prognosen führen zu den unzulänglichen, ungenügenden oder unangemessenen Zuständen hinsichtlich des gesetzlich erstrebten Schutzziels. Solche Unerreichbarkeit des Schutzziels ist eher der unausgesprochene Grund für ein gesetzliches Nachbessern bzw. Nachfassen. Ist aber von der Pflicht des Gesetzgebers zur Nachbesserung die Rede, so muß schon der Erlaß dieses Gesetzes, also die Verfolgung des gesetzlichen Schutzziels, verfassungsrechtlich gesteuert und gebunden sein. Anders würde die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in einem demokratischen Rechtsstaat beeinträchtigt. Demzufolge soll die gesetzgeberische Nachbesserungspflicht nicht in den Fehlprognosen, sondern in der den Gesetzgeber betreffenden verfassungsrechtlichen Gesetzgebungsverpflichtung, die wiederum aus der verfas-
360 361 362 363 364
Kriele, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §110, Rn. 56. Vgl. BVerJGE 88,203 (309) - Schwangerschaftsabbruch Π. Stern, Staatsrecht, m/1, S. 1316. Vgl. etwa BVerJGE 49,89 (140); 77,381 (404).
Vgl. Gusy, ZRP 1985,291 (294). Anders aber Steinberg, Der Staat 1987,161 (164), demzufolge soll die Nachbesserungspflicht ausschließlich von erheblichen Fehlprognosen abhängen. 365
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
131
sungsrechüichen Schutzverpflichtung abzuleiten ist, begründet werden366. Nicht nur aus der grundrechtlichen Schutzpflicht, sondern auch aus der Umweltschutzverpflichtung des Art. 20a GG, ist erne derartige Gesetzgebungspflicht abzuleiten. Die Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers aus der Umweltschutzverpflichtung ist demnach festzustellen. Unter dieser Nachbesserungspflicht ist zwar die nachträgliche Verfassungswidrigkeit wegen des dem Gesetzgeber vorbehaltenen Beurteilungsspielraums für die Feststellung der Tatsachen und Prognosen eines Gesetzes bloß aufgrund von Fehlprognosen verhindert, der Gesetzgeber wird aber angesichts der Schutzverpflichtung von Verfassungs wegen zum Nachbessern der Prognosengrundlage und Beurteilung verpflichtet.
C. Umfang und Grenze der verpflichtenden der Legislative
Schutzaufgabe
Nach der Erörterung über die Adressatenstellung des Gesetzgebers und die von dem Gesetzgeber zu erwartende Handlungsart der Aufgabenerfüllung rückt dann die Frage der Reichweite - also Umfang und Grenze - der verpflichtenden Umweltschutzaufgabe ins Blickfeld. Es handelt sich um die konkrete Bestimmimg des Pflichtumfangs des Gesetzgebers, innerhalb dessen der Gesetzgeber zum Tätigwerden verpflichtet ist. Dabei ist nur von dem „Daß" der gesetzgeberischen Handlungsverpflichtung die Rede; insoweit hat der Gesetzgeber nämlich keine Auswahlmöglichkeit im Hinblick auf das „Ob" des Tätigwerdens. Wenn der Gesetzgeber pflichtwidrig gar kerne oder nicht genügende Umweltschutzmaßnahmen zur Erfüllung dieser ihm abverlangten Umweltschutzverpflichtung erläßt, liegt dann die Nichterfüllung der legislativen Umweltschutzaufgaben als verfassungswidriges Unterlassen vor367. Es ist jeweils unter sachlicher sowie funktionsspezifischer Dimension zu diskutieren.
366
So auch Badura, in: FS K. Eichenberger, 1982, S. 481 (486); ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VE, §163, Rn. 30; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §111, Rn.155. 367 Verfahrenmäßig gesehen, besteht aber keine Möglichkeit für eine primäre Normenkontrolle des Bundesverfassungsgerichts, da eben noch keine Norm vorhanden ist. Zulässig ist aber die inzidente Überprüfung des Unterlassens, sofern dafür die prozesssualen Voraussetzungen vorliegen; dazu vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, S. 155 f.; Zeidler, EuGRZ 1988,207 (209 ff.). *
132
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
1. Sachliche Dimension a) Positive Bestimmimg aa) Allgemeines D a Gesetzgeber als primärer Adressat der Umweltschutzverpflichtung hat die Reichweite seiner Schutzpflicht ohne Zweifel ausschließlich an Hand der verfassungsrechtlichen Maßstäbe zu bestimmen. Anders als das ebenfalls als Staatszielbestimmung und Staatsaufgabennorm bewertete Sozialstaatsprinzip, das eher dynamisch auf soziale Gerechtigkeit und Sicherheit abzielt und als Ermächtigung für staatliche soziale Ausgestaltung anzusehen ist, ist die aus der Umweltschutzklausel abgeleitete Umweltschutzverpflichtung des Staates auf sachliche Schutzgüter und darauf bezogene Gefahrdungslagen im Umweltbereich orientiert. Sie setzt also die Unversehrtheit der natürlichen Umwelt als Lebensgrundlage des Menschen voraus. Im Prinzip geht daher die gesetzgeberische Schutzverpflichtung so weit, daß die befürchteten Gefahrdungslagen für die natürlichen Lebensgrundlagen, die die staatliche Umweltschutzverpflichtung auslöst, grundsätzlich durch entsprechende Schutzmaßnahmen verhindert werden können. Insofern kann hinsichtlich der Reichweite der legislativen Schutzpflicht schwerlich von einem „ökologischen Schutzminimum" die Rede sein. Mit anderen Worten, es besteht kein überzeugender Grund dafür, die Reichweite der gesetzgeberischen Schutzpflicht vorab auf ein „Minimum" zu beschränken. Für die sachliche Reichweite der Schutzverpflichtung des Gesetzgebers soll es zunächst allein auf den Ausschluß der die Umweltschutzpflicht auslösenden Gefahrdungen ankommen.
bb) Untermaßverbot Die natürlichen Lebensgrundlagen als verfassungsrechtliches Schutzgut genießen aber wie oben schon dargelegt kernen absoluten Vorrang vor den anderen ebenfalls von der Verfassung gewährleisteten Schutzgütern368. Dies führt zwangsläufig dazu, daß der tatsächliche Schutzumfang der natürlichen Lebensgrundlagen notwendig von den im konkreten Fall konkurrierenden Schutzgütern und Interessen beeinflußt wird. Inwieweit die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen sind, ist schließlich auf die Abwägung und Prioritätsentscheidimg des Gesetzgebers hinsichtlich aller relevanten Schutzgüter und Interessen abzustellen. Bei dieser sich aus der politischen Abwägungsnotwendigkeit ergebenden, relativen Offenheit des Schutzumfangs muß aber stets vor Augen gehalten 8
Siehe oben in
Kapitel C.
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
133
werden, daß es hierbei um die verfassungsrechtliche Schutzpflicht des Staates geht. Die Abwägungsnotwendigkeit ist schließlich das Mittel der Erfüllung der verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung, nicht dagegen Handreichung zu seiner Aufweichung und Vernachlässigung369. Wenn die Forderung nach der gesetzlichen Ausgestaltung für den Schutz der bedrohten natürlichen Lebensgrundlagen eine verfassungsrechtliche Verpflichtung ist, dann liegt es nahe, daß es zumindest ein verfassungsrechtlich stets erforderliches Schutzminimum bestehen muß, wenn auch kein optimaler Schutz möglich ist. Ohne das Bestehen eines derartigen Schutzminimums, das auf keinen Fall zugunsten anderer Schutzgüter und Interessen geopfert werden kann, könnte die verfassungsrechtlich gebotene staatliche Schutzpflicht ausgehöhlt werden. Ein derartiges „Untermaßverbot" folgt demnach folgerichtig aus der dem Staat angetragenen verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung. Inhaltlich gesehen ist das Untermaßverbot der aus dem Sozialstaatsprinzip i. V.m. der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) abgeleiteten „Existenzminimumgarantie"370 ähnlich und wird mittlerweile auch im Bereich der grundrechtlichen Schutzpflichten als ein verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstab hervorgerückt 371. Es setzt also die Mindest-
369
Vgl. Götz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, § 79, Rn. 31. Vgl. nur Breuer, in: Festgabe Bundesverwaltungsgericht, 1978,89 (95 f.). 371 Der Begriff „Untermaßverbot" wurde erstmals - soweit ersichtlich - von Canaris in bezug aufgrundrechtliche Schutzpflichten eingeführt (s. AcP 184 (1984), 201 (228); JuS 1989, 161 (163f.)) und mittlerweile auch von Isensee (s. Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 90,165) angenommen. In der mit dem Gewaltmonopol des Staates zusammenhängenden Problematik der Verfassungsnotwendigkeit des Einsatzes staatlicher Gewalt zur Herstellung der inneren Sicherheit, zu der auch die Schutzpflicht für die grundrechtlichen Schutzgüter sowie die Verfassungsaufträge zum Schutz der Gemeinschaftsgüter zählen, wird auch der Begriff „Untermaßverbot" eingeführt; vgl. Götz, Innere Sicherheit, in: HStR ΠΙ, § 79, Rn. 30 ff. In dem zweiten Schwangerschaftsabbruchsurteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerJGE 88, 203 (254)) ist das Untermaßverbot schließlich bestätigt und als ein Gebot von verfassungsrechtlichem Rang anerkannt werden. Unter dem Hinweis auf das Untermaßverbot hat das Bundesverfassungsgericht die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht darauf abgestellt, daß der Gesetzgeber unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter die Schutzpflicht in dem Maß erfüllen solle, in dem die von ihm getroffenen Schutzvorkehrungen für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend seien und daher Mindestanforderungen entsprechen müßten. Isensee zufolge hat das Gericht also auch die Gewährleistung der effektiven Erfüllung der Schutzpflicht als Ziel des Untermaßverbots erklärt. Das Untermaßverbot gibt nämlich dem Gesetzgeber auf zu bedenken, welches das Schutzminimum staatlicher Maßnahmen im Hinbick auf bestehende Schutzpflichten ist, den ggf. auch das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber einfordern und insoweit als Untergrenze legislative Schutzpflicht festlegen kann; vgl. BVerJGE 88,203 (254). Dieser Gedanke ist inzwischen auch von der Literatur angenommen wurden; vgl. H. H. Klein, DVB1.1994,489 (495). Es ist allerdings umstritten, ob das Untermaßverbot ein neben dem vorhandenen Übermaßverbot selbständiger Maßstab ist, vgl. Starck, JZ 1993, 816 (817); Hain, DVB1. 1993,982 (982 ff.). 370
134
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
anforderung bzw. die Untergrenze für die gesetzgeberischen Umweltschutzmaßnahmen, deren Unterschreiten verfassungsrechtlich gerügt werden kann. Die Verfassungswidrigkeit bei der staatlichen Schutzpflicht liegt gerade darin, daß das gebotene Tätigwerden des Staates zum Schutz nicht oder nicht genügend erfolgt, während die Verfassungswidrigkeit bei der aus den Grundrechten abgeleiteten Unterlassungspflicht des Staates in einem übermäßigen Tätigwerden hegt. Schon dies zeigt, daß das Untermaßverbot, anders als das Übermaßverbot, als Kontrollmaßstab weniger für das „Wie" der Aufgabenerfüllung als für den Umfang bzw. die Grenze der gesetzgeberischen Schutzaufgabe („Ob") gilt 372 . Mit diesem Untermaßverbot soll - anders ausgedrückt - eine Antwort auf die Frage gegeben werden, welches der Mindeststandard staatlicher Maßnahmen im Hinblick auf bestehende Schutzpflichten ist, den ggf. auch das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber einfordern kann373. Unklar bleibt jedoch, wie diese Mindststandard zu ziehen ist. Es geht dabei letzten Endes um die Überprüfbarkeit und den Umfang der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Erfüllbarkeit der Umweltschutzverpflichtung des Gesetzgebers. Dafür, ob der Minimumstandard unterschritten wird, soll es aber jedenfalls im konkreten Fall auf die gesamten staatlichen
372
Die bisher ersichtige Auffassung in der Literatur über das Untermaßverbot neigt aber dazu, diese Forderung als ein Kriterium für die inhaltliche Aufgabenerfüllung einzuordnen; so etwa Canaris , AcP, 1984,201 (228); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 90,165 („Die Schutzpflicht richtetdem Gestaltungsermessen ein Untermaßverbot auf, das dem Übermaßverbot des Abwehrrechts korreliert".); Starck, JZ 1993, 816 (817); ders., Praxis der Verfassungsauslegung, S.81 ff.; Hain, DVB1. 1993, 982 ff; in dieser Richtung wohl auch BVerfJE 88,203 (254). Der Grund dafür ergibt sich wohl daraus, daß das neu „entwickelte" Untermaßverbot dem herkömmlichen Übermaßverbot gleichsam unter dem Begriff Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechend gegenübergestellt worden ist. Ob das Untermaßverbot eine entsprechende Funktion wie das Übermaßverbot hat, scheint m.E. aber sehr bedenklich. Das Übermaßverbot wirkt ohne Zweifel als ein Kontrollmaßstab der Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Eingriffen in die Grundrechte der Bürger, es zielt also auf eine Beschränkung der staatlichen Tätigkeiten. Insoweit ist es auch als ein Kriterium für das „Wie" der staatlichen angemessenen Eingriffe anzusehen; es ist als „Schranken-Schranke" (zum Begriff: Schnapp, JuS 1978,729 ff.) für die Grundrechte zu begreifen und dient der Grundrechtssicherung. Bei der Schutzverpflichtung des Staates zum Tätigwerden geht es aber um eine positive Gestaltungsnotwendigkeit des Schutzes. Das Untermaßverbot gebietet gerade ein Minimum dieser erwarteten Schutzgestaltung. Hierbei geht es also eher um eine Frage der erforderlichen „Quantität", nicht aber um die Frage der „Qualität". Eine inhaltlich korrespondierende Gegenüberstellung von Übermaßverbot und Untermaßverbot verkennt m.E. den strukturellen Unterschied zwischen der Unterlassungspflicht des Staates bei den grundrechtlichen Abwehrrechten und der Handlungspflicht des Staates bei den verfassungsrechtlichen Schutzpflichten. Mit dem Untermaßverbot ist noch nichts darüber gesagt, wie die Schutzaufgabe erfüllt werden soll, sondern es weist nur daraufhin, daß ein bestimmtes Schutzminimum geboten ist. 373
Vgl. Hain,
DVB1. 1993,982 (982).
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
135
Schutzmaßnahmen ankommen. Die Schutzmaßnahmen, die der Gesetzgeber trifft, müssen also insgesamt für einen angemessenen und wirksamen Schutz ausreichend sein374 und zumindest dem Minimumstandard entsprechen. In dem Maß, in dem der staatliche Schutz unter dem Untermaßverbot auf jeden Fall verlangt wird, läßt es sich auch von einem „ökologischen Schutzminimum" in dem Sinne sprechen, daß dieses Minimum unbedingt zu erreichen ist, nicht aber in dem Sinne, daß der gebotene Schutz sich auf ein solches Minimum beschränkt und reduziert.
b) Negative Bestimmung aa) Grundrechte als Schranken der gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht Vergegenwärtigt man sich, daß die Zerstörung und Beeinträchtigung der natürlichen Umwelt Folge der menschlichen Tätigkeiten ist, und daß der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen überwiegend erst durch Einflußnahme auf das menschliche Verhalten erfolgen kann, dann liegt es nahe, daß der Staat bei Erfüllung der Umweltschutzaufgabe auf entgegenstehende grundrechtliche Freiheiten des einzelnen stoßen kann. Umweltschutz ist nämlich typischerweise durch Einschränkungen von Freiheit zu realisieren375. Lärmschutzmaßnahmen zum Beispiel könnten als Berufsausübungsregelungen die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG berühren; bei der Benutzungseinschränkung von Grundwasser oder Boden zugunsten der Umwelt könnte die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG in Frage gestellt werden; das wegen hoher Ozonbelastuiig erlassenen Fahrverbot könnte auch die persönlichen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG entgegenstehen, usw. Es hegt auf der Hand, daß je umfassender und perfekter der rechtliche Schutz der Umwelt ausgestaltet wird, desto mehr die Tätigkeitsbereiche der Menschen von umweltrechtlichen Freiheitseinschränkungen betroffen werden. Und je intensiver der rechtlich gebotene Umweltschutz, desto einschneidender die Freiheitsbegrenzungen für die Umweltnutzer376. Es ist daher berechtigt, zufragen, ob und ggf. inwieweit die Grundrechte des potentiellen Umweltbelasters die negative Grenze der Erfüllung der gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht darstellen. Unter diesem Aspekt wirkt also die abwehrrechtliche Funktion der Grundrechte gegen staatliche Eingriffe.
374
Dieses Effektivitätsgebot ist also ein Kriterium dafür, ob das Schutzminimum erreicht wird oder nicht. Es betrifft also die inhaltliche Kontrolle. Dazu siehe unten 5. Kapitel, Π D 2 b). Vgl. auch BVerJGE 88,203 (254) - Schwangerschaftsabbruch Π. 375 376
Vgl. nur Murswiek, JZ 1988,985 (985). Murswiek, JZ 1988,985 (985).
136
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
(1) Umweltnutzung als Bestandteil der Freiheitsverbürgung Die Grundrechte des potentiellen Umweltbelasters als negative Grenze der Erfüllung der gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht setzen aber voraus, daß die umweltnutzenden Tätigkeiten vom Schutzbereich der betroffenen Grundrechte eingeschlossen werden, was heute nicht unumstritten ist. Nach herkömmlicher Auffassung der Freiheitsverbürgungen scheint es keine Bedenken zu geben, daß die Umweltnutzung, von einigen Ausnahmen im Eigentumsbereich abgesehen, grundsätzlich als selbverständlicher integraler Bestandteil der betroffenen Freiheitsbereiche miteinbezogen wird. Die Umweltnutzung ist danach als Grundrechtsgebrauch anzusehen. Der Grund dafür ergibt sich aus dem Charakter der Umweltgüter in der Rechtsordnung377. Betrachtet man Umweltgüter wie Boden, Wasser und Luft alsfreie Güter, als kostenlose, herrenlose, verschmutz- und benutzbare Güter, dann liegt es nahe, daß die Grundrechte notwendigerweise ein Recht auf Umweltnutzung- von der anderen Seite her betrachtet dann ein Recht auf Umweltverschmutzung - miteinschließen, wobei zunächst davon abgesehen wird, ob ein solches Recht verfassungsmäßigerweise eingeschränkt werden kann. Soweit die Erfüllung der Umweltschutzpflichten zu Grundrechtseinschränkungen zu führen vermögen, kann daher vor allem von der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), Berufsfreiheit einschließlich der Gewerbefreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG)378 und Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG) des potentiellen Umweltbelasters die Rede sein; zumindest kommt doch noch die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) für sonstige umweltbelastende Tätigkeiten in Betracht379. Angesichts der Offenheit des Tatbestandes, der sämtliche menschlichen Verhaltensweisen umfaßt, die nicht in den Schutzbereich eines Spezialgrundrechts fallen, bewirkt Art. 2 Abs. 1 GG dann nichts anderes als eine allgemeine Umweltbelastungsfreiheit380.
377
Analyse über die Bedeutung von Umweltgütern in der Rechtsordnung des Marktwirtschaftssystems vgl. Murswiek, JZ 1988, 985 (991 ff); auch Hofmann , in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 21, Rn. 4. 378 Die vom Art. 12 Abs. 1 GG gewährleistete Berufsausübung erfordert nicht selten eine unmittelbare Benutzung und Belastung der natürlichen Umwelt. Solch eine umweltnutzende und ggf. -belastende Aktivität bei der Berufsausübung soll an sich keinen Einfluß auf die Beurteilung haben, ob die verfassungsrechtlich gewährleistete Berufsfreiheit besteht. Die staatlichen Umweltschutzmaßnahmen, die in Form von Berufsausübungsregelungen derartige Aktivitäten einschränken, tangieren daher regelmäßig die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG, auch wenn sie verfassungsmäßig zu rechtfertigen sind. 379
Vgl. nur BVerJGE 49,89 (127,144 ff); 53,30 (57f.); 57,54 (80); Hofmann, , Rechtsfragen, S. 295ff., 317ff.; ders., in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., §21, Rn. 39; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 25; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 233 ff; Rauschning,, WDStRL 38 (1980), 167 (189). ™ Murswiek, DVB1. 1994,77 (79).
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
137
Im Umweltschutzbereich ist es jedoch wegen der zunehmenden Umweltzerstörung bedenklich, ob die von den staatlichen Umweltschutzmaßnahmen „berührten" Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension überhaupt noch herangezogen werden können. Hier stellt sich die Frage, ob eine Art „Umweltschutzvorbehalt" für die Grundrechte aus der neu aufgenommenen Umweltschutzklausel zu entnehmen ist, oder ob dieser überhaupt schon unter dem grundrechtlichen Gewährleistungssystem des Grundgesetzes besteht. Ein derartiger Umweltschutzvorbehalt wirkt etwa wie eine allgemeine Umweltpflichtigkeit der Grundrechte und kann dazu führen, daß umweltbelastende oder umweltgefährdende Aktivitäten von vornherein überhaupt nicht oder jedenfalls nicht in vollem Umfang grundrechtlich geschützt werden. Es bestünde danach also kein Recht auf Umweltverschmutzung und -belastung im grundrechtlichen Schutzbereich. Unter solchen Umständen würden die Schutzbereiche der Grundrechte zugunsten des Umweltschutzes schon vorab limitiert. Dies hieße somit, daß umweltwidriges Verhalten dem Schutz der Grundrechte von vornherein nicht unterläge. Die staatlichen Umweltschutzmaßnahmen bedürften dann keiner Rechtfertigung bezüglich der grundrechtlichen Einschränkungen unterstehen. Unter dieser Situation setzen die Grundrechte des einzelnen auch keine Grenze der hier interessierenden gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht. An dieser Stelle ist aber schon vorauszuschicken, daß die neue aufgenommene Umweltschutzklausel als solche keine Wirkungskraft besitzt, die die Grundrechte verfassungsrechtlich unmittelbar - also ohne gesetzgeberische Umsetzung einschränkt. Wie oben dargelegt381, schafft die Umweltschutzklausel als eine Staatszielbestimmung und Staatsaufgabennorm keine neue Befugnis der staatlichen Organe für ihre Betätigungen. Was für den einzelnen und zwischen den einzelnen in der Ausfüllung der Umweltschutzaufgabe erlaubt und was verboten ist, soll nicht schon von Verfàssungs wegen entschieden werden, sondern vorrangig dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben. Ein Umweltschutzvorbehalt bzw. eine Umweltpflichtigkeit der Grundrechte, welcher bzw. welche sich in der Umweltschutzverpflichtung des Staates nach Art. 20a GG begründet, besteht insoweit nicht. Aus der Umweltschutzklausel läßt sich also keine unmittelbare immanente Grundrechtsbegrenzung entnehmen382. Dogmatischer Anhaltspunkt für eine derartige allgemeine Umweltpflichtigkeit der Grundrechte könnte allenfalls im Grundrechtsbereich zu finden sein. Dabei kommt vor allem die Eigentumgarantie (Art. 14 GG) wegen der Gestaltungsmöglichkeit des Gesetzgebers für den Eigentumsschutzbereich in Betracht. Das Eigentum soll nämlich im Rahmen der gesetzlichen Inhalts- und Schranken-
381
Siehe oben in 5. Kapitell C 2. Über die verfassungsunmittelbaren Begrenzungen der Grundrechte vgl. neulich Stern, Staatsrecht m/2, S. 494 ff. 382
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. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
bestimmung „zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen" (Art. 14 Abs. 1 und 2 GG), worunter die Sozialbindung des Eigentums zu verstehen ist. Es ist denkbar, daß der Gesetzgeber schon bei der Inhaltsbestimmung des Eigentums die entsprechenden Umweltnutzungsmöglichkeiten aufgrund der Sozialbindung aus dem Eigentumsbegriff herausnimmt. Schon im Naßauskiesungs-Beschluß383 wurde deutlich, daß sich das Bundesverfassungsgericht auf diesem Weg befindet: Ausgehend von der Anerkennung der gleichrangigen Wirkungskraft des bürgerlichen Rechts und öffentlich-rechtlicher Gesetze im Hinblick auf die Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums, hat das Gericht ausgeführt, daß zur Sicherung überrangender Gemeinwohlbelange und zur Abwehr von Gefahren die für die Allgemeinheit lebensnotwendigen Güter, hier also das Grundwasser, nicht der Privatrechtsordnung, sondern einer öffentlich-rechtlichen Ordnung unterstellt werden dürfen. Als Ergebnis kam somit zutage, daß die Grundwassernutzung von vornherein - durch die Gestaltung des Gesetzgebers384 - nicht Gegenstand des Eigentums ist. Demzufolge greift die Sozialbindungsklausel also kaum anders als eine totale Sozialpflichtigkeit des Eigentums ein385. Hinsichtlich des Grundeigentums hat das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesgerichtshof außerdem die Denkfigur „Situationsgebundenheit"386 entwikkelt, mit deren Hilfe gemeingefährlichen Umweltschädigungen eventuell von vornherein der Grundrechtsschutz versagt wird387. Alle diese Tendenzen zeigen, daß durch die Verortung der Umweltschutzbelange als Gemeinwohlbelange in Art. 14 Abs. 2 GG die herkömmlicherweise mit dem Eigentum verbundenen
383 384
BVerJGE 58,300 (338 ff.).
Badura: „Sie (seil.: Die Naßauskiesungsentscheidung) hat zugleich Auftrag und Vorrecht des Gesetzgebers befestigt, die Eigentumsordnung zu gestalten und die Rechte und Pflichten des Eigentümers inhaltlich zu bestimmen", in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 10, Rn. 56. 385 Vgl. Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 138 ff. 386 Insbes. BGHZ 23,30 (32ff.); 30,338 (342f.); 72,211 (216f.); 73,351 (354); 87,66 (72); BVerwGE 15,1 (2); 17,315 (318); 26,111 (119); 32,173 (178); 49,365 (368); 60, 126 (131); in der Literatur siehe nur Kloepfer, Umweltrecht, § 10, Rn. 54; Leisner, Umweltschutz durch Eigentümer, S. 80 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 157 ff.; Soell, DVB1. 1983,241 (244 ff.). Das Kriterium „Situationsgebundenheit" besagt im wesentlichen: „Befugnisse, die zur Nutzung oder Benutzung von Grundstücken berechtigen, unterliegen einer Sozialbindung insbesondere darin, daß alle Arten der Nutzung oder Benutzung der jeweiligen ,Lage( des Grundstücks, seiner ,Situation4 und der sich daraus im allgemeinen Interesse ergebenden ,Situationsgebundenheit' entsprechen müssen"; siehe Leisner, Umweltschutz durch Eigentümer, S. 80. 387 Ob Beschränkungen des Grundeigentums zugunsten des Umweltschutzes die Grenze zur entschädigungslos hinzunehmenden Sozialbindung überschreiten, würde sich daher regelmäßig nach der Situationsgebundenheit des betroffenen Grundstückes richten; vgl. Kloepfer, Umweltrecht, § 10, Rn. 54.
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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Umweltnutzungsmöglichkeiten, wie etwa die Nutzung des Bextens sowie des Wassers, sogar sämtlich aus dem Eigentumsbereich „wegdefiniert" werden können. Das heißt: Solche Umweltnutzungsmöglichkeiten sind nicht bloß eine Beschränkung des als gegeben und verbleibend vorausgesetzten Eigentums, sondern eine negative Inhaltsbestimmung. Ein derartiges Ergebnis scheint aber sehr zweifelhaft zu sein388. Wie das Bundesverfassungsgericht selbst hervorgehoben hat, sei in Art. 14 Abs. 2 GG vorausgesetzt, daß das Eigentumsobjekt in „einem sozialen Bezug und einer sozialen Funktion steht"389. Die These, jedes Eigentum sei sozial gebunden, trifft daher nicht zu390. Die Frage der Sozialbindung des Eigentums stellt sich dann nur, wenn und insoweit der Mensch mit seiner Sache in einer Beziehung zur Rechtsgemeinschaft steht. Die Sozialbindungsformel bildet insofern vielmehr eine für den Gesetzgeber zu ergreifende Beschränkungsgrundlage des dem einzelnen schon zustehenden Eigentums. Darin läßt sich die Notwendigkeit einer theoretischen Unterscheidung zwischen Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums391 sehen. Selbst eine Sozialpflichtigkeit zugunsten des Wohls der Allgemeinheit - dazu zählen wohl unumstritten auch die Umweltschutzbedürfnisse - , die sich schon im Eigentumstatbestand ansiedelt, und somit keine Differenzierung zwischen Inhalts- und Schrankenbestimmung vornimmt392, soll zumindest nur als ein - einheitlich hinsichtlich der Inhalts- sowie Schrankenbestimmung393 - an den Gesetzgeber gerichteter Gesetzesvorbehalt konzipiert werden, keineswegs aber als eine dem Eigentümer unmittelbar auferlegte Pflicht394. Art. 14 Abs. 2 GG darf nicht so verstanden werden, daß die Sozialbin-
388 389 390
Vgl. Isensee, in: Ossenbühl (Hrsg.), Eigentumsgarantie und Umweltschutz, 3 (15). BVerJGE 37,132 (140); 42,263 (294). Böhmer, NJW 1988,2561 (2573).
391
Ausführliche Analyse siehe Sachs, in: Stern, Staatsrecht ΙΠ/2, S. 404 ff.; auch Jarass/Pieroth,GG,Axt 14, Rn. 15; Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 9,54 ff., 63 ff, 133 ff.; Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, S. 177 ff.; 294 ff. 392 Es wird nämlich vertreten, daß die Inhalts- und Schrankenbestimmung voneinander nicht klar abgrenzbar seien, sondern daß sie vielmehr ein einheitliches Ganzes bildeten. So etw& Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 10, Rn. 58; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 144 (Fn. 140); Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 300. 393
Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 299; implizit u.a. auch Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 10, Rn. 55 ff. 394 Vgl. nur Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., §10, Rn. 58; Gätz, WDStRL 41 (1983), 38 (32); Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 136; Osterloh, DVB1.1991,906 (910); Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 298 ff. Es gibt allerdings in der Literatur auch die Auffassung, daß sich unmittelbar aus Art. 14 Abs. 2 GG Gebrauchs-, Nutzungs- und Verfügungsbeschränkungen ergeben, ohne daß der
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dung des Eigentums auch durch Richterspruch oder Verwaltungsakt konkretisiert werden kann. Das Wohl der Allgemeinheit ist Orientierungspunkt, aber auch Grenze für die dem Eigentum aufzuerlegenden Beschränkungen395. Damit ist jedoch klar, daß eine Verallgemeinerung des Ausschlusses der Umweltnutzung aus dem Eigentumsschutzbereich anhand der das Gemeinwohl verkörpernden Sozialpflichtigkeit auf alle anderen Grundrechte nicht zu begründen ist Die Eigentumgarantie ist immerhin ein stets auf gesetzgeberische Gestaltung angelegtes Grundrecht. Die meisten Grundrechte als vor-staatliche Freiheitsverbürgungen untersagen prinzipiell jedoch eine Definitionsmacht des Gesetzgebers hinsichtlich der Reichweite des abwehrrechtlichen Grundrechtsschutzes. Darüber hinaus ist noch auf folgendes hinzuweisen: Schließt man die Umweltnutzung vorab schon vom Schutzbereich der Grundrechte aus, würden dann die freiheitlichen Grundrechte als Abwehrrechte gegen hoheitliches Handeln beinahe völlig ausgehöhlt, da dann so gut wie kein Freiheitsrecht des einzelnen noch den staatlichen Umweltschutzmaßnahmen, wie tief und wie weit solche Maßnahmen in die gesellschaftliche Sphäre auch immer eindrängen, entgegenwirken kann. Die staatlichen Umweltschutzmaßnahmen bewegten sich also weitgehend im abwehrrechtslosen Bereich. Damit wird auch das zweistufige Schutzsystem der Grundrechte von Schutzbereichen und Grundrechtsschranken396
Gesetzgeber im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG derartige Eigentumsschranken ausdrücklich vorsieht; vgl. u.a. Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 10, Rn. 24; Hofmann , in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 114, Rn. 18; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14, Rn. 154, 175. Rupp deutet auch an, daß der Umweltschutz bedeute eine bisher „wahrscheinlich noch unbekannte Sozialpflichtigkeit aller Grundrechte" bedeute; JZ 1971,401 (403). 395 BVerJGE 79, 174 (198); Böhmer, NJW 1988,2561 (2572). Badura scheint auch in dieser Richtung zu folgen, wenn er zeigt: „Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist, [...], ein Element der Institutsgarantie des Eigentums. Die Rechtsvorschriften des Natur- und Umweltrechts beschränken und binden den Gebrauch und die Nutzung des Grundeigentums und hindern eine Rechtsausübung des Eigentümers [...], soweit dadurch eine Beeinträchtigung oder Gefährdung der Schutzgüter der Natur und Umwelt eintreten könnte. Durch die Gesetze des Natur- und Umweltrechts werden Inhalt und Schranken des Grundeigentums bestimmt." Immerhin seien dabei die gesetzlichen Regelungen erforderlich; in: HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, § 10, Rn. 85. 396 Nach vorherrschender Auffassung - sog. Außenthese - soll bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechte zwischen dem grundrechtlichen Schutzbereich und den Schranken des Grundrechts unterschieden werden. Die notwendigen Gemeinwohlbezüge der Freiheit sind danach nicht schon im grundrechtlichen Schutzbereich, sondern grundsätzlich erst in den Grundrechtsschranken zu prüfen. Statt vieler siehe nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 250 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121, Rn. 1 ff.; Scheuner, Zur Systematik und Auslegung der Grundrechte, jetzt in: Gesammelte Schriften, S. 723 f.; Stern, Staatsrecht m/2,S. 15 ff., 225 ff.
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sowie das Verhälüiismäßigkeitsprinzip gefährdet 397. Schon aus diesem Grund ist der Gedanke der sog. allgemeinen Umweltschutzpflichtigkeit der Grundrechte im Sinne einer Vorab-Limitierung des grundrechtlichen Schutzbereiches zugunsten des Umweltschutzes höchst zweifelhaft und nicht vertretbar 398. Schließlich hat das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit einer immittelbaren Grundrechtseinschränkung durch das Sozialstaatsprinzip, das ohne Zweifel als Staatszielbestimmung konzipiert worden ist, ausdrücklich verneint399, was wohl unumstritten auf die Umweltschutzklausel übertragbar ist.
(2) Umweltnutzung als Teilhaberecht? Es wird aber in der Literatur der Versuch unternommen, daß die Umweltnutzung durch eine theoretische Rekonstruktion der Freiheiten von Anfang an nicht als Teil der grundrechtlichen Freiheit erfaßt werden soll400. So hat Murswiek401 versucht, dies durch das Unterscheiden zwischen Freiheitsausübung und Teilhaberecht zu erreichen. Er hat ausführlich dargelegt, daß Umweltgüter keine „freien" Güter, sondern knappe Gemeingüter seien. Sie könnten nicht einzelnen, sondern nur der Allgemeinheit zugeordnet werden, und nur der Staat als Repräsentant der Allgemeinheit könne und dürfe einen Verteilungsschlüssel für die Benutzung solcher Allgemeingüter - wenn erforderlich - bestimmen. Der Gesetzgeber müsse also letztlich über die Umweltbefugnisse entscheiden. Der Einzelne habe kein Verhaltensfreiheitsrecht auf solche Allgemeingüter, sondern nur ein Teilhaberecht darauf: Die Nutzung öffentlicher Umweltgüter ist demnach eine Teilhabe an Gütern der Allgemeinheit. Bei der Umweltnutzung, die für die Freiheitsausübimg unentbehrlich ist, ginge es insoweit der Sache nach um die Problematik der Teilhaberechte, nicht aber um die der (Handlungs-) Freiheitsrechte402, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß diese beiden Problemkreise eng
397 Kloepfer, Freiheit und Umweltschutz (Zusammenfassung), in: ders. (Hrsg.), Umweltstaat als Zukunft, S. 203. 398 Kloepfer, in: FS Lerche, S. 755 ff. (759); ders., DVB1. 1994,12 (14 f.); ders., Freiheit und Umweltschutz (Zusammenfassung), in: ders. (Hrsg.), Umweltstaat als Zukunft, S. 203. 399 Vgl. nur BVerfGE 59,231 (262 f.): „Dem Sozialstaatsprinzip kann Bedeutung für die Auslegung von Grundrechten sowie für die Auslegung und verfassungsrechtliche Beurteilung von - nach Maßgabe eines Gesetzesvorbehaltes - grundrechtseinschränkenden Gesetzen zukommen. Es ist jedoch nicht geeignet, Grundrechte ohne nähere Konkretisierung durch den Gesetzgeber, also unmittelbar, zu beschränken." 400 Vgl. nur Murswiek, JZ 1988, 985 (992); ders., DVB1. 1994, 77 (79); Sendler, UPR 1983,33(42). 401
Vgl. Murswiek, JZ 1988, 985 (985 ff.); ders., DVB1. 1994, 77 (79 ff); ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 112, Rn. 67,83.
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miteinander verknüpft sind. Die Nutzung der Umweltgüter ist mit anderen Worten die Freiheitsausübung auf der Basis der Teilhabe403. Die Gegenstände, an die die Teilhabefreiheit anknüpft, sind nämlich dann die Voraussetzungen der grundrechtlichen Freiheiten, nicht aber die grundrechtlich gewährleisteten Freiheiten als solche. „Zur Freiheitsausübung im Rahmen der bürgerlichen Rechtsordnung gehört also nicht die Benutzung, der Verbrauch, die Zerstörung fremder Rechtsgüter oder sonstige Verfügungen über diese Güter."404 Die Voraussetzungen der Freiheitsausübung würden aber nicht von der Garantie der Grundrechte als Freiheitsrechte umfaßt. Sie genössen dementsprechend nicht die abwehrrechtliche Gewährleistung der Grundrechte. Sie wären überdies rechtlichen Gestaltungen grundsätzlich und sogar notwendigerweise zugänglich. Dies ergibt sich aus der bekannten dogmatischen Unterscheidung zwischen grundrechtlichen Freiheiten und Teilhaberechten: Während die staatlichen Einschränkungen der grundrechtlichen Freiheiten rechtfertigungsbedürftig und nur begrenzt zulässig sind, sind die Teilhaberechte an sich prinzipiell begrenzt und grundsätzlich von staatlichen Regelungen abhängig405. Daraus folgt auch, daß die gesetzgeberischen Reglementierungen über derartige Umweltverschmutzungshandlungen nicht vom Grundrechtsschrankensystem erfaßt sind. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranke vor gesetzgeberischen Eingriffen käme auch nicht zum Tragen. Ein Gewerbebetrieb etwa, der Umweltressourcen beansprucht, fallt damit nicht unter den Schutzbereich von Art. 12 GG. Freiheitsausübung findet dort ihre Grenze, wo sie Güter der Allgemeinheit in Anspruch nimmt. Der Gesetzgeber könnte daher umweltbelastende Handlungen ohne weitere Begründung beschränken, da insoweit kein Eingriff in Freiheitsrechte vorliege. Diese Beschränkungen wären nach der Teilhaberechtsdogmatik nur an die Verteilungsgerechtigkeit nach Art. 3 GG gebunden. Gegen diese von Murswiek aufgestellten Thesen sind dort Bedenken zu erheben, wo er die Umweltgüter und darauf bestehende Umweltnutzung anhand des Unterscheidens von Freiheitsbereichen und Teilhabebereichen völlig aus den grundrechtlichen Freiheitsbereichen ausschließt. Seiner These wäre insofern zuzustimmen, als er dargetan hat, daß man an öffentlichem Gut nur teilhaben kann und die natürliche Umwelt gerade als öffentliches Gut gilt. Daraus wäre aber schwerlich schon zu folgern, daß die Nutzung derartigen öffentlichen Gutes deswegen kein Thema der grundrechtlichen Freiheit wäre. Das „Entweder-OderSchema" wäre m. E. nicht zwingend. Schließlich ist die Umweltbeanspruchung
402
Murswiek, JZ 1988,985 (992); ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §112, Rn.
66 ff. 403 404 405
Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §112, Rn.83. Murswiek, DVB1.1994,77 (80). Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 112, Rn. 67.
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für jede Art Freiheitsausübung unentbehrlich. Die Ausübung, ja gar das Bestehen der grundrechtlichen Freiheit, ist grundsätzlich nicht von der Umweltnutzung und daher auch von der entsprechenden möglichen Umweltverschmutzung zu trennen. Es ist noch darauf hinzuweisen, daß die natürliche Umwelt und die Umweltgüter, anders als die sozialstaatlichen Leistungen, nicht vom Staat geschaffen werden. Ihre Existenz hängt gar nicht von staatlichen Reglementierungen ab. Schon unter diesem Aspekt lassen sich die sozialstaatlichen Teihaberechte und die ökologische Nutzung der Allgemeingüter nicht vergleichen. Die „Teilhabe" an sozialen Gütern und an Umweltgütern erscheint von Natur aus unterschiedlich. Diese sollen nicht von vornherein aus den grundrechtlichen Freiheitsbereichen ausgeschlossen werden. Als Ergebnis läßt sich hier feststellen, daß weiter davon auszugehen ist, daß die die Umweltgüter in Anspruch nehmenden menschlichen Aktivitäten in der Regel grundrechtsgeschützt sind. Die Umweltnutzung, auch wenn sie zur Umweltverschmutzung führen kann, ist nicht von vornherein aus dem grundrechtlichen Freiheitsbereich auszuschließen. Sie genießt im wesentlichen auch die verfassungsrechtliche Gewährleistung für die grundrechtlichen Freiheiten.
(3) Rechtfertigungszwang des Eingriffs und Verhältnismäßigkeitsprinzip An das vorangegangene Ergebnis anknüpfend, kann festgehalten werden: Die gesetzgeberischen Umweltschutzmaßnahmen, die in Erfüllung der Umweltschutzpflicht erlassen werden und dabei die grundrechtlichen Freiheiten tangieren, müssen sich rechtfertigen lassen, auch wenn sie sich ihrerseits auf die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung stützen. Hier greift also der Eingriffsvorbehalt der Grundrechte grundsätzlich ein. Insoweit bilden die Grundrechte anderer eine äußerste, negative Grenze der gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht. Nur in dem Maß, in dem die Grundrechtseinschränkung durch den Gesetzgeber verfassungsrechtlich erlaubt ist, ist der Gesetzgeber zur Erfüllung der Umweltschutzaufgabe verpflichtet und befügt. Demzufolge bewegt sich die Überprüfung der auf Grundrechte bezogenen staatlichen Umweltschutzmaßnahmen nämlich im Bereich der Grundrechtsschranken, was zur Folge hat, daß alle verfassungsrechtlich gesetzten Grenzen für staatliche Grundrechtseingriffe ebenfalls für die staatliche Umweltschutzpflicht gelten. Da es in der Literatur ganz üblich ist, die Grundrechte des Umweltbelasters als Grenze der staatlichen Umweltschutzmaßnahmen heranzuziehen, läßt sich dieser Standpunkt für das Recht auf Umweltverschmutzungsfreiheit durchaus als herrschende Meinung bezeichnen406.
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Nach der dogmatischen Konstruktion des grundrechtlichen Eingriffsvorbehalts ergeben sich die Rechtfertigungsgrundlagen der Grundrechtseinschränkungen zum einen aus den im Grundrechtsbereich ausdrücklich vorgesehenen - einfachen sowie qualifizierten - Gesetzesvorbehalten407. In diesem Rahmen gilt das in der Umweltschutzklausel enthaltene Umweltschutzziel ohne Zweifel als Rechtfertigungsgrund vieler Grundrechtsbeschränkungen aufgrund der Gesetzesvorbehalte zugunsten des Gemeinwohls408. Zum anderen gelten diese verfassungsrechtlichen Umweltschutzgüter auch nach der inzwischen gefestigten Auffassung in der Rechtsprechung und Literatur als verfassungsimmanente Schranke für die Grundrechte409, die an sich keinem Gesetzesvorbehalt unterworfen sind, wie etwa die Wissenschafts- und Forschungsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG 4 1 0 . Mit diesen beiden Möglichkeiten behält die Verfassung selbst dem
406 Bock, Umweltschutz, S. 175 ffBreuer, in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 391 ff. (407 ff.); Hofmann, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., Rn. 39 ff.; Hoppe/Beckmann, Umweltrecht, S. 53 ff.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 5; Kloepfer, Umweltrecht, S. 50 ff. ; v. Mutius, WiVerw 1987,51 (60ff.); Michel, Staatszwecke, S. 287 ff. 407
Hesse, Grundzüge, S. 126; Wülfing, Grundrechtliche Gesetzesvorbehalte und Grundrechtsschranken, S. 26 ff. 408 Über die Figur der Gemeinwohlbelange als materielle Legitimationsgrundlage im Rahmen des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts siehe nur Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121, Rn. 7ff, 45 ff; Sachs, in: Stern, Staatsrecht, m/2, S. 341 ff. 409 Nach Lerches Ansicht (in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 122, Rn. 23) seien nur solche Verfassungsgüter „mit eigenem konkreten Verfassungsrang", genauer solche, „die entsprechend zwingende verfassungsrelevante Schutzgebote gegenläufig aussenden", in der Lage, als verfassungsimmanente Schranken für die Grundrechte angesehen zu werden. Dazu gehören wohl zweifellos die in der Umweltklausel gewährleisteten Umweltschutzbelange. Obwohl es bisher immer noch umstritten ist, ob gesetzliche Umsetzungen für die verfassungsimmanenten Schranken der Grundrechte erforderlich sind, hat dieser Streit hier im vorliegenden Zusammenhang wohl gar keine Bedeutung, da die Umweltschutzklausel als solche, ebenfalls wie das Sozialstaatsprinzip, stets einer gesetzlichen Umsetzung bedarf, um verwirklicht zu werden. Daran wird nichts dadurch geändert, daß bei der Verwirklichung eine Kollision mit vorbehaltlosen Grundrechten entsteht und sie sich daher für solche Grundrechtsbeeinträchtigungenrechtfertigen lassen muß. Anderer Auffassung jedoch Michel, NuR 1988, 272 (276). Über die verfassungsimmanenten Grundrechtsschranken vgl. u.a. BVerJGE 28, 243 (260 f.); 32,98 (108); 47,327 (369); 69,1 (21); 69,57 (58ff, 65 ff); 81,278 (289 ff, 292 ff); 83,130 (138 f.); Jarass/Pieroth, GG, S. 33; Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 122, Rn. 23 ff; Pieroth/Schlink, Grundrechte - Staatsrecht Π, Rn. 345ff; Sachs, in: Stern, Staatsrecht ΙΠ/2, S. 550 ff Über die Einschränkungskraft des Sozialstaatsprinzip für die Grundrechte und das Erfordernis der gesetzlichen Ermächtigung siehe Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Vm, Rn. 45; Stern, Staatsrecht I, S. 924, sowie BVerJGE 52,283 (298); 59,231 (262f.); 65,182 (193).
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Gesetzgeber die Lösung und den Ausgleich der möglichen Kollision zwischen Grundrechtsbelangen und Umweltschutzbelangen vor411. Die Notwendigkeit, die Freiheiten des einzelnen bei der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe einzuschränken, stellt schon deutlich eine Kollision der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen dar. Die betroffenen Freiheiten können freilich nicht um jeden Preis den Umweltschutzbelangen geopfert werden; jede gesetzliche Freiheitseinschränkung ist daher prinzipiell begrenzt. Es bedarf einer Herstellung der „praktischen Konkordanz"412 zwischen den kollidierenden Verfassungsgütern im Sinne eines „nach beiden Seiten möglichst schonenden Ausgleiches"413. Die praktische Handhabimg der Ausgleichsvorstellung richtet sich nach herrschender Meinung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, worunter man präziser die Erforderlichkeit und Geeignetheit der gesetzgeberischen Maßnahmen sowie die Verhältnismäßigkeit i. e. S. von Mittel und Zweck der grundrechtlichen Einschränkung versteht414. Freiheitseinschränkungen, die zur Verwirklichung eines legitimen Gemeinwohlzwecks, hier also das Umweltschutzziel, nicht geeignet oder nicht erforderlich sind, sind verfassungswidrig; dem Betroffenen wird außerdem eine Mindestposition an Freiheit in der Weise garantiert, daß ein Freiheitseingriff, der ihm im konkreten Fall nicht zugemutet werden kann, unterbleiben muß. Eine derartige Anforderung an den „Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes"415 für das grundrechtseingreifende hoheitliche Handeln bildet daher eine negative Grenze der Erfüllung der gesetzgeberischen Umweltschutzverpflichtung.
bb) Andere entgegenstehende Interessen und Rechtsgüter Nicht nur die Grundrechte des potentiellen Umweltbelasters können zu einer Kollision mit der gesetzgeberischen Umweltschutzaufgabe führen. Angesichts der
410
So etwa Jarass/Pieroth, GG, Art. 20a, Rn. 5. Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121, Rn. 47. 412 Hesse, Grundzüge, S. 27; ausdrücklich auch BVerJGE 41,29 (51); 77,240 (255); 81, 298 (308); 83,130(143). 413 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 152 f. In diesem Zusammenhang ist Lerche zuzustimmen, wenn er hervorhebt, das Prinzip „praktischer Konkordanz" solle nicht so weit verstanden werden, daß der Gesetzgeber dadurch auf eine bestimmte, gerichtlich voll kontrollierbare Linie des Optimalen festgelegt werde; siehe ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V,§ 122, Rn. 6. 414 Statt vieler nur Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, passim.; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, passim.; Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 122, Rn. 16 f. 415 Schlink, EuGRZ 1984,457 (459 f.). 411
10 Tsai
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Tatsache, daß dem Staat verschiedene Verfassungsauflräge sowie -Verpflichtungen auferlegt werden, liegt es nahe, daß die Umweltschutzbelange auch mit anderen ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutzgütern und Interessen, für deren Schutz der Staat auch berufen werden könnte, nicht im Einklang stehen können. So kann z.B. das Staatsziel „Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht" (Art. 109 Abs. 2 GG), das einen „umfassenden Verfassungsauftrag für die Politik von Bund, Ländern, Gemeinden und sonstigen Körperschaften des öffentlichen Rechts darstellt"416, und die Staatsaufgabe „Wachstumsvorsorge"417 durchaus mit der Umweltschutzaufgabe in Konflikt geraten418, wie die übliche Bezeichnung „Ökonomie vs. Ökologie" andeutet. Wie oben schon dargestellt, ist eine festgelegte Rangordnung der Werte schwerlich aus dem Grundgesetz zu entnehmen419. Mit der verfassungsrechtlichen Aufiiahme des Umweltschutzziels genießen die Umweltschutzbelange auch keinen absoluten Vorrang vor anderen verfassungsrechtlichen Schutzgütern und Interessen. Das führt zwangsläufig dazu, daß jede in Frage kommende Schutzaufgabe des Staates angemessen erfüllt werden muß. Daraus, daß das Grundgesetz keine bloßen Programmsätze bzw. unverbindliche Richtlinien enthält, sondern alle Verfassungsbestimmungen mit bindender Kraft ausgerichtet hat, ist zu folgern, daß es nicht die eine oder die andere, sondern alle Staatsaufgaben bis zu einem bestimmten Grad verwirklicht sieht. Dabei ist schon impliziert, daß jede verfassungsrechtlich verbindliche Staatsaufgabe einen minimalen Standard der Erfüllung erreichen muß. Daraus könnte also eine Art „Untermaßverbot" für jegliche verbindliche Staatsaufgabe abgeleitet werden, wobei das Bundesverfassungsgericht ein etwaiges Unterschreiten grundsätzlich auch überprüfen darf. Die vom Staat, hier namentlich vom Gesetzgeber, zu verwirklichenden verfassungsrechtlich verpflichteten Aufgaben, die jeweüs ein Untermaß verbot beinhalten, können daher auch der gesetzgeberischen Umweltschutzaufgabe eine negative Grenze setzen. Der beim Untermaß verbot zu haltende Mindeststandard der jeweiligen Aufgabenerfüllung ist aber nicht fest fixiert; er ergibt sich vielmehr erst im konkreten Kollisionsfall. Besteht einerseits jeweils ein Untermaßverbot und andererseits eine Konfliktslage zwischen der Umweltschutzaufgabe und anderen Verfassungsgeboten, liegt es auf der Hand, daß die in Konflikt geratenen verfassungsrechtlichen Schutzgüter und Interessen im konkreten Fall miteinander ausgeglichen werden müssen. Ohne Zweifel hat der Gesetzgeber dazu auch die praktische Konkordanz herzustellen, um all die berührten Schutzgüter und Interessen bestmöglich zu verwirklichen420. Dabei ist eine Abwägung zwischen allen 416 417 418 419
Papier, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 18, Rn. 21. Vgl. Badura, in: FS IIP. Ipsen, 1977, S. 367. Vgl. Hofmann, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 21, Rn. 15 ff. Siehe oben 4. Kapitel UC.
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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betroffenen Schutzgütern und Interessen durch „verhältnismäßige" Zuordnung und Grenzziehung erforderlich 421. Das bei der Überprüfung der staatlichen Grundrechtseingriffe bekannte Verhältnismäßigkeitsprinzip findet hier also auch Anwendung422. Das verhältnismäßige Zurückdrängen der anderen ebenfalls vom Gesetzgeber zu berücksichtigenden bzw. zu erfüllenden Verfassungsgüter oder -aufgaben beinhaltet also auch die Grenze der gesetzgeberischen Umweltschutzaufgabe.
cc) Vorbehalt des Möglichen Zufragen bleibt, ob der sog. „Vorbehalt des Möglichen" bei der Bestimmung der Reichweite der gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht auch zum Tragen kommt. Der Begriff „Vorbehalt des Möglichen" wurde ursprünglich vom Bundesverfassungsgericht 423 auf die sozialstaatliche Leistungspflicht des Staates
420
Hesse, Grundzüge, Rn. 72. Lerche spricht von einem „möglichst schonenden Ausgleich" beim unmittelbaren Zusammentreffen kollidierender Verfassungsgüter; zuerst in: Obermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 152f.; auch in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 122, Rn. 5. Er unterstreicht auch zu Recht, daß als allgemein auslegungsleitender Gedanke das Prinzip des beidseitig (u.U. mehrseitig) schonenden, angemessenen Ausgleichs nicht auf das Grundrechtsfeld beschränkt bleibt; s. aaO., Fn. 16. 421 Obwohl es nicht unstrittig ist, welches Verhältnis zwischen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und der Güterabwägung besteht, ist hier von der Auffassung auszugehen, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip als ein Anwendungsfall des Prinzips der Güterabwägung zu verstehen ist. Siehe Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 22,225; in diese Richtung auch Hesse, Grundzüge, S. 29; Schneider, H., in: BVerfG und Grundgesetz, Bd. Π, S. 390 ff. (402ff.). Danach ist der Begriff der Güterabwägung eher ein methodischer Begriff, der zwar impliziert, daß der jeweils zu bestimmende Rang durch Erarbeitung der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter aufzufinden ist, jedoch keinen Abwägungsmaßstab fixiert. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist dagegen vielmehr gerade eine Aussage über den Maßstab als inhaltlicher Begriff gekennzeichnet; vgl. im übrigen auch Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 83 ff. 422 Zur Begründung der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips auch auf nicht primäre grundrechtliche Bereiche siehe neuerlich Bleckmann, JuS 1994, 177 (181 ff). Dabei ist es nicht zu leugnen, daß die Verallgemeinerung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als ein allgemein-rechtsstaatliches Prinzip, also in Gestalt eines umfassend vorgestellten Angemessenheitsdenkens, dazu führen könnte, daß das Bundesverfassungsgericht die sog. Kontrolldichte erhöht und verstärkt (Vgl. Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121, Rn. 29). Andererseits darf man aber auch nicht aus dem Auge verlieren, daß die Erfüllung der verfassungsrechtlich bindenden Staatsaufgaben, hier also der Umweltschutzverpflichtung, eindeutig mit Bindungskraft angeordnet wird; sie untersteht schon insoweit stets der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts. Eine erweiterte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gibt zumindest dem Bundesverfassungsgericht eine handhabbares Werkzeug, das zu einer vernünftig nachvollziehbaren Entscheidung verhilft.
10*
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angewandt, deren Erfüllung ohne Zweifel schwerwiegend auf die verfügbaren finanziellen Mittel des Staates angewiesen ist424. Dabei wird nämlich deutlich, daß die sozialstaatlichen Aktivitäten weitgehend nicht nur in der rechtlichen, sondern auch in der faktischen Möglichkeit vom Wohlstand der Gesellschaft und von der Entwicklung des Bruttosozialprodukts, abhängen. Der Gedanke vom Vorbehalt des Möglichen greift jedoch nicht nur in den sozialstaatlichen Leistungsbereich ein. Dadurch, daß der Gedanke davon ausgeht, daß staatliche Leistungskraft und -fahigkeit zwangsläufig bedingt sind, hat zur Folge, daß alle Staatsaufgaben wegen des menschlichen Erkenntniszustands und der staatlichen Leistungskapazität vielmehr immanenterweise mehr oder weniger solche Möglichkeitsgrenzen enthalten. Auch die von Verfassungs wegen wahrzunehmenden Staatsaufgaben können diese Grenze nicht überspringen. Im Rahmen der Erfüllung der verfassungsrechtlich festgelegten Staatsaufgaben stößt der Gesetzgeber notwendigerweise an faktische Grenzen, an die Grenzen der staatlichen Handlungskapazität und nicht zuletzt an die Grenzen der staatlichen Möglichkeiten, den Erfolg seiner Bemühungen zu garantieren. Der Grundsatz, die Staatsaufgabe Sicherheit stehe unter dem Vorbehalt des Möglichen425, gilt demnach ebenfalls für die staatliche Umweltschutzaufgabe. In diesem Sinne ist auch die unerreichbare absolute Sicherheit ausgeschlossen426. 2. Funktionsspezifische Dimension: Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt Die Feststellung, daß der Gesetzgeber der bevorzugte Adressat der Umweltschutzverpflichtung des Art. 20a GG ist427, bedeutet zuerst nur das Erfordernis eines Gesetzes, um die verfassungsrechtliche Umweltschutzaufgabe zu erfüllen. Nach der Bestimmung der sachlichen Reichweite seiner Schutzverpflichtung bleibt aus der gewaltenspezifischen Dimension noch die Frage offen, inwieweit der Gesetzgeber die Umweltschutzaufgabe vor anderen Staatsfunktionen von Verfassungs wegen zu erfüllen verpflichtet ist, also selbst regeln muß. Es geht dabei um die erforderliche „Dichte" der gesetzlichen Regelungen: Zufragen ist, inwieweit die Umweltschutzregelungen, vor allem die in den Umweltschutzmaßnahmen zu treffenden technischen Detailregelungen, vom Gesetzgeber selbst bestimmt werden müssen. Es geht im wesentlichen um die kompetenzrechtliche
423
Formulierung aus dem Numerus-clausus-Urteil, BVerJGE 33,303 (333). Zum „Vorbehalt des Möglichen" bei sozialen Leistungsansprüchen vgl. auch Murswiek, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 112, Rn. 57 ff 424
425
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 144.
426
Schon oben 4. Kapitel IV C 1. Siehe oben 5. Kapitel Π Α.
427
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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Reichweite der gesetzgeberischen Schutzverpflichtung gegenüber der vollziehenden Gewalt. Im Rechtsstaat sichert vor allem der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes eine kompetenzielle Verteilung zwischen der Legislative und Exekutive (vgl. Art. 20 Abs. 3 GG). Die herkömmliche Auffassung vom Vorbehalt des Gesetzes bestimmt jedoch nur den notwendigen grundrechtseinschränkenden Regelungsbereich des Gesetzes - Eingriffsbereich - , nicht auch die erforderliche sachliche Regelungsdichte des Gesetzes428. Der Gedanke vom Vorbehalt des Gesetzes verkörpert nämlich erne entscheidende Ausprägung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung im demokratischen Rechtsstaat. Grundsätzlich ist es daher ein Gebot für die Exekutive, aber nicht eine Pflicht für die Legislative, bestimmte gesetzliche Regelimgen zu erlassen. Der Gesetzgeber ist nach diesem rechtsstaatlichen Gebot in der Regel befügt, den bestimmten Sachbereich selbst abschließend zu regeln oder unter Berücksichtigung der Bedingungen in Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG im Wege der Delegation der Exekutive zu überlassen429. Da die Umweltschutzklausel als solche zum einen schon eine Art „Gesetzgebungsvorbehalt" enthält430 und zum anderen auf eine Konkretisierung und Gestaltung, nicht aber auf eine Beschränkung der gesetzlichen Regelungen angewiesen ist, hat sie mit dem herkömmlichen Gesetzesvorbehalt als Eingriffsvorbehalt nur wenig zu tun. Die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Umsetzung der Umweltschutzverpflichtung durch den Gesetzgeber ist nämlich schon aus der Umweltschutzklausel abzuleiten. Es stellt sich daher im vorliegenden Zusammenhang vielmehr die Frage, inwieweit der Gesetzgeber im Hinblick auf die Erfüllung der Umweltschutzaufgabe inhaltlich selbst entscheiden muß; die Delegationsfreiheit des Gesetzgebers hinsichtlich der Kompetenzenverteilung zwischen Legislative und Exekutive muß demnach beschränkt werden. Eine derartige Beschränkung führt freilich zu einer ausschließlichen Schutzverpflichtung des Gesetzgebers. Dabei ist schon anzumerken, daß für die Beantwortung der Frage nach der erforderlichen Regelungsdichte Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht weiterhilft. Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zielt auf die Bestimmtheitsforderungen für das eine Ermächtigung erteilende Gesetz, gibt aber keine Antwort auf die Frage, welche konkrete Sachenentscheidung auf welcher Stufe ausschließlich der Gesetzgeber zu treffen hat431. Wenn überhaupt von der kompetenziell ausschließlichen Umweltschutz-
428
Vgl. nur Badura, Staatsrecht, C 16. Vgl. nur Badura, Staatsrecht, D 55 ff; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR DI, § 62, Rn. 40. 430 Siehe oben in diesem Kapitel Π Α. 431 Das Bundesverfassungsgericht hat auch immer wieder betont, daß Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht so verstanden werden dürfe, daß das ermächtigende Gesetz so bestimmt wie irgend möglich sein müsse; vielmehr genüge es, wenn das Gesetz „hinreichend bestimmt" (BVerJGE 55, 207, 226; 69, 162,167) sei. Das Bestimmtheitsgebot als solches liefert ohnehin keine 429
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aufgabe des Gesetzgebers die Rede sein kann, kommt daher wohl nur die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Wesentlichkeitstheorie und der darauf beruhende Parlamentsvorbehalt in Betracht. Die Wesentlichkeitstheorie432 besagt im Grundsatz, daß der Gesetzgeber verpflichtet ist, auch „losgelöst vom Merkmal des Eingriffs, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen" 433. In dem Bereich, der von den Wesentlichkeitskriterien markiert wird, besteht also der Parlamentsvorbehalt. Der Parlamentsvorbehalt wird nämlich durch die Wesentlichkeitstheorie substantiiert434 und fordert, daß der Gesetzgeber bei wesentlichen Problemlagen alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muß und sie nicht der Exekutive überlassen darf. Dabei ist also eindeutig ein Verbot der Delegation an die Exekutive und gleichzeitig ein „Gebot verstärkter Regelungsdichte"435 in bezug auf wesentliche Entscheidungen formuliert 436. Zur Begründung der Wesentlichkeitstheorie ist neben der herkömmlichen rechtsstaatlichen Komponente auch noch die demokratische Komponente herangezogen worden437, mit der auf den Gedanken hingewiesen wurde, daß alle im Staat wesentlichen Entscheidungen vom Parlament als dem unmittelbar demokratisch legitimierten Organ getroffen werden müssen438. Mit der Wesentlichkeitstheorie kommt demnach nicht nur die rechtsstaatliche, sondern insbesondere auch die
konkreten Maßstäbe. Vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HstR ΙΠ, § 64, Rn. 17 ff.; Umbach, in: FS N. J. Faller, 1984, S. 111 (128). 432
Vgl. nur etwa BVerfGE 34,165 (192 f.); 45,400 (417 ff.); 49, 89 (126 f.); 53,30 (56); 56, 155 (157 ff.); 57,360 (363 f.) Der ursprüngliche Ansatzpunkt für die Entwicklung der Wesentlichkeitstheorie wurde darin gesehen, zur Abkehr von der herkömmlichen Lehre vom besonderen Gewalten Verhältnis beizutragen, indem eine gesetzliche Grundlage für bis dahin gesetzesfreie Räume gefordert wurde. In dieser Phase stand eher nur die Ausdehnung des Vorbehalts des Gesetzes über die Eingriffsverwaltung hinaus im Vordergrund. Vgl. BVerJGE 41,251 (259 f.) m.w.N.; vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, § 62, Rn. 43. 433 BVerJGE 49,89 (126f. m.w.N.). 434 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR m, § 62, Rn. 42. Nicht zu verwechseln ist, daß der Parlamentsvorbehalt sich nicht auf diesen Bereich beschränkt. Der Begriff Parlamentsvorbehalt drückt vielmehr im allgemeinen das verfassungsrechtliche Institut aus, das den Kreis deijenigen Entscheidungen markiert, die das Parlament selbst treffen muß und nicht anderen Organen überlassen darf. Was mit Hilfe der Wesentlichkeitstheorie markiert wird, gehört nur zu einem Teil des Parlaments Vorbehalts. Vgl. Löffler, Parlamentsvorbehalt im Kernenergierecht, S. 41. 435 Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis, S. 30 f., 136 ff.; zitiert in: Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 62, Rn. 42 (Fn. 117). 436 Dazu Eberle , DÖV 1984,486 ff. 437 H. M, vgl. nur Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, § 62, Rn. 35 ff. 438 BVerJGE 34,192 f; 41,259 f; 45,417; 47,78; 58,268.
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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demokratische Garantiefunktion des Gesetzes ausdrücklich zur Geltung. Der Unterschied zwischen dem herkömmlichen Gesetzesvorbehalt als Eingriffsvorbehalt zur Mäßigung der vollziehenden Gewalt und des Parlamentsvorbehalts als Hervorhebung der demokratischen Legitimation des Gesetzes ist vornehmlich darin zu sehen, daß sich der Akzent vom grundsätzlichen Erfordernis einer gesetzlichen Regelung beim Eingriffsvorbehalt auf den Umfang solcher gesetzlichen Regelungen verlagert, mithin vom „Ob" auf das „Wie"439. „Die verfassungspolitische Funktion des Gesetzesvorbehalts hat sich [...] praktisch umgekehrt. Richtete sich der Gesetzesvorbehalt in seiner rechtsstaatlichen Ausprägung ursprünglich gegen die Exekutive, so wendet sich der demokratische Gesetzesvorbehalt fordernd an das Parlament, seme Gesetzgebungsaufgabe nicht zu vernachlässigen"440. Was unter dem Wesentlichkeitsprinzip als inhaltlich „Wesentliches" angesehen werden kann, bleibt also der Entscheidung des Parlaments vorbehalten; insofern kommt keine Delegation an die Verwaltung in Frage. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit dem Wesentlichkeitsprinzip etwa eine Reduzierung des Gesetzeserfordernisses auf nur „wesentliche" Entscheidungen vorzunehmen sei. Die Wesentlichkeitslehre soll eher zur Ausdehnung als zur Einschränkung dieses Erfordernisses führen 441. Wieweit erne derartige Ausdehnung geht, hängtfreilich davon ab, wo eigentlich das Anwendungsgebiet der Wesentlichkeitstheorie liegt, und was darin als „wesentlich" anzusehen ist. Dies ist allerdings nach wie vor umstritten442. Zwar kann das Wesentlichkeitsmerkmal bei dem Parlamentsvorbehalt hinsichtlich dessen Verhältnis zum klassischen Gesetzesvorbehalt wohl wenig strittig als eine erweiterte Bedingung im grundrechtlichen Eingriffsbereich konzipiert werden, wobei die Zuordnung von Gesetzesvorbehalt und Parlamentsvorbehalt als Stufenverhältnis begriffen wird: Auf der ersten Stufe ist nämlich zu entscheiden, wann eine Materie durch oder aufgrund Gesetzes geregelt werden muß, und auf der zweiten Stufe ist dann die
439 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 398 f., zeigt den Zusammenhang zwischen Wesentlichkeitskriterium und Gesetzesbegriff auf. 440 Ossenbühl, in: Götz/Klein/Starck (Hrsg.), Die öffentliche Verwaltung zwischen Gesetzgebung undrichterlicher Kontrolle, S. 9ff. (22). 441 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121, Rn. 46. 442 Vgl. BVerJGE 58, 267 (269). Angesichts der Konturenlosigkeit und gar Konturenunfähigkeit bei den Wesentlichkeitskriterien wird in der Literatur nicht selten davon gesprochen, daß es in der Tat dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist, was eigentlich „wesentlich" ist. So z.B. Kloepfer:,Jm Ergebnis handelt es sich bei der Wesentlichkeitstheorie bisher weitgehend nur um eine theoretisierende Bemäntelung freier richterlicher Dezision: Wesentlich ist, was das Bundesverfassungsgericht dafür hält"; JZ 1984,685 (692). Vgl. auch Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR DI, § 62, Rn. 44.
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Grenze zwischen Parlamentsgesetz und Rechtsverordnung zu ziehen443. Die Entwicklung der Wesentlichkeitstheorie zeigt jedoch, daß sich das hauptsächliche Anwendungsgebiet der Wesentlichkeitstheorie nicht mehr auf die „FreiheitEigentum-Eingriff-Formel" bezieht („losgelöst vom Merkmal des Eingriffs" 444), sondern vielmehr überall dort, wo sich - zumindest - Grundrechtsrelevanz erweist, schon der Gedanke des Parlamentsvorbehaltes eingreifen kann445. In der Regel bedeutet die Grundrechtsrelevanz also das, was„wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte"446 ist. Das heißt im Prinzip, je intensiver eine Regelung die Grundrechte berührt, um so eher muß sie in der Form eines Parlamentsgesetzes erfolgen 447. Ob dabei ein grundrechtlicher Eingriff nach dem traditionellen Verständnis besteht, spielt nur eine geringere Rolle. Dies zeigt sich besonders deutlich bezüglich der Ausgestaltung von Sonderrechtsbeziehungen, für den Bereich staatlicher Leistungen und für die Realisierung der objektiven Schutzpflichten des Staates, wobei der Eingriffsbegriff und eine damit operierende Vorbehaltsdogmatik eindeutig nicht geeignet sind, Erfordernis und Umfang gesetzlicher Regelungen hinreichend zu begründen448. Den Anwendungsbereich des Parlaments vorbehaltes auf diese „eingriffslosen" Sachverhalte, die aber für die Grundrechtsverwirklichung als relevant anzusehen sind, auszudehnen, hat zur Folge, daß fast alle vom Gesetzgeber zu regelnden Materien in diesen Bereich fallen können, da der Begriff der Grundrechtsverwirklichung schon alle Grundrechtsfunktionen, auch die Grundrechte als Wertent-
443 Vgl. Erichsen, VerwA 69 (1978), 396 (396 ff); ders., VerwA 70 (1979), 252 (252 ff); Eberle , DÖV 1984,485 (486); Löffler, Parlamentsvorbehalt im Kernenergierecht, S. 42. 444 BVerJGE 49, 89 (126f. m. w. N.). 445 Das Bundesverfassungsgericht macht selbst die Grundrechtsrelevanz einer Maßnahme zum Wesentlichkeitmaßstab; siehe BVerJGE 49, 89 (126). 446 So lautet der vom Bundesverfassungsgericht mehrfach verwendete Satz, z. B. in: BVerJGE 34,165 (192); 40,237 (248 f.); 41,251 (260 f.); 47,46 (79). 447 Eberle , Gesetzesvorbehalt und Paralmentsvorbehalt, DÖV 1984,485 (487); Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 62, Rn. 45. 448 So schon die Erkenntnis in BVerJGE 33,125 (158); 33,303 (346); 40,237 (248 f.). Dies brachte im Kalkar-Beschluß {BVerJGE 49, 89 ff.) und Mühlheim-Kärlich-Beschluß (BVerJGE 53, 30 ff.) auch deutlich zutage; da Kernkaftwerke trotz großer staatlicher Beteiligung an den Energieversorgungsunternehmen nicht in staatlicher Regie betrieben werden, kann das von ihnen ausgehende Gefährdungspotential nicht als staatlicher Eingriff qualifiziert werden. Der Staat übernimmt deshalb eine Mitverantwortung für das damit geschaffene Gefahren- und Risikopotential, weil er das Betreiben von Atomanlagen durch die gesetzliche Zulassung und Regelung friedlicher Nutzung von Atomenergie erlaubt, nicht weil er selbst unmittelbar grundrechtliche Gefährdungswirkungen auslöst. Demzufolge genügt zur Sicherung von Leben und Gesundheit der Bürger die dem liberalem Verständnis entsprechende Funktion der Grundrechte als subjektive, staatlicher Herrschaftsmacht Schranken setzende Abwehrrechte nicht.
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Scheidungen und objektiv-rechtliche Normen, einschließen kann. Die Bestimmung des Wesentlichen kann demnach nicht bloß anhand der sog. Grundrechtsrelevanz erfolgen. Vielmehr soll die Wesentlichkeitstheorie und der darauf bezogene Parlamentsvorbehalt angesichts der in der Wesentlichkeitstheorie verkörperten parlamentarisch-demokratischen Komponente auch ohne unmittelbare grundrechtliche Anbindung für alle wichtigen politischen Leitentscheidungen gelten, die für das Schicksal des Gemeinwesens von erheblicher Bedeutung sind und deshalb eine Beteiligung des Gesetzgebers unerläßlich sei449. Insbesondere ist dabei an die hochentwickelten, technischen Bereiche, die unberechenbare Risiken für die Menschheit bergen, wie die Kernenergie- und Gentechnikfrage zu denken. Danach soll es bei der Bestimmung des „Wesentlichen" ausschließlich darauf ankommen, ob die strittigen Angelegenheiten, als „die wirklich wichtigen Dinge in einem parlamentarisch-demokratischen Staatswesen, vor das Parlament gehören", wobei der Schutz der Grundrechte nur „einen wichtigen Gesichtspunkt"450 vermittelt. In diesem Kontext ist auch deutlich zutagegetreten, daß der Gesetzgeber dabei noch stärker an das Verfassungsrecht gebunden ist und es daher auch zu einer verschärften Spannungslage zwischen dem Gesetzgeber und dem Bundesverfassungsgericht kommen könnte451. Dieses Ergebnis findet im vorliegenden Zusammenhang auch Anwendung. Festzustellen ist dementsprechend, daß die staatlichen Schutzmaßnahmen für die natürlichen Lebensgrundlagen, die an sich eine wesentliche Bedeutung für das Gemeinwesen aufweisen, dem Gesetzgeber als primärem und unmittelbarem Pflichtadressaten vorbehalten sein sollen. Er muß also die wesentlichen Entscheidungen selbst bestimmen, dabei eine hinreichende Regelungsdichte im parlamentarischen Gesetz fordern und sogar die Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensvorschriften limitieren452. Insofern ergibt sich folgendes als Gesichtspunkt zur Bestimmung der Reichweite der gesetzgeberischen Umweltschutzverpflichtung dar: Von der fünktionsspezifischen Dimension her betrachtet, bestimmt sich die gesetzgeberische Umweltschutzaufgabe danach, was unter dem Wesentlichkeitskriterium von dem Gesetzgeber gefordert werden kann.
449 450
Löjfler, Parlamentsvorbehalt im Kernenergierecht, S. 51 ff.
BVerJGE 47, 46 (79). In dieser Richtung auch BVerJGE 45, 400 (417 f.); 58, 257 (268f.). 451 Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 163, Rn. 16,36 ff 452 Dazu vgl. BVerJGE 33,303 (345 f.); 57,295 (327); 64,261 (268). Lerche, Bayerisches Schulrecht und Gesetzesvorbehalt, S. 59,71, nennt dies die Tatbestands- und Rechtsfolgenwirkung des Wesentlichkeitskriteriums.
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ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
D. Art und Weise der Erföllung
der legislativen Schutzaufgabe
1. Leitprinzip: Politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers a) Allgemeines Die oben dargestellte Inpflichtnahme des Gesetzgebers zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen bedeutet zunächst nur eine nach obigen Kriterien abgegrenzte Reichweite existierende Verpflichtung hinsichtlich des tatbestandlich präzisierten Umweltschutzziels. Insoweit hat der Gesetzgeber keine freie Auswahlmöglichkeit in bezug auf das „Ob" semes zielentsprechenden Tätigwerdens in diesem bestimmten Bereich. Das heißt, der Gesetzgeber hat damit nicht wie üblich auf der Grundlage der Kompetenznormen die Möglichkeit, sondern die verfassungsrechtliche Pflicht, mit Rücksicht auf die oben beschriebenen Reichweite der Schutzpflicht, das zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen Erforderliche und Mögliche zu tun453. Die normentsprechende Zielverfolgung ist damit verfassungsrechtlich verpflichtend. Damit ist aber nichts darüber gesagt, wie eigentlich der Gesetzgeber dieses bestimmte Ziel verfolgen soll; mit anderen Worten, wie die Schutzaufgabe pflichtgemäß erfüllt werden soll. Das betrifft - genau genommen - die Problematik, wie eigentlich im konkreten Fall die Ziel- und Wertungskonflikte angemessen zu lösen sind, in welchem Ausmaß Regelungsbedarf auf welchen Gebieten besteht, welche Prioritäten zu setzen und welche Mittel zu ihrer Realisierung notwendig sind. Diese Frage wird aber von der Umweltschutzklausel offengelassen. Wie oben ausgeführt 454, gilt diese Umweltschutzpflicht ihrem Charakter nach als „Optimierungsgebot" sowie „Finalprogramm"; sie stellt inhaltlich gesehen also einen gesetzgeberischen Gestaltungsauftrag dar455 und zielt insgesamt auf einen „Erfolg" hinsichtlich der konkreten Umweltschutzbedürfhisse. Um zu diesem Erfolg zu gelangen, genießt der Gesetzgeber im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Kompetenz grundsätzlich nach wie vor erne politische Gestaltungsfreiheit 456. Ein derartiger gesetzgeberischer Spielraum begründet sich einerseits vielmehr - Alexy zufolge - schon in den strukturellen Eigenschaften des Optimierungsgebots der Normen. Er ist nämlich all den
453
Wienholtz, AöR 109 (1984), 532 (548). Siehe oben in diesem Kapitel IA. 455 Im Hinblick auf die grundrechtlichen Schutzpflichten vgl. nur Scherzberg, DVB1. 1989, 1128 (1134); Dietlein, Die Lehre von grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 112. 456 Zum Begriff der Gestaltungsfreiheit vgl. ζ. B. BVerJGE 18,121 (124); 38,187 (205); sowie Badura, Staatsrecht, D 34,40,43. Nicht zu übersehen ist, daß im vorliegenden Zusammenhang die Reichweite der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers schon wegen der Schutzverpflichtung viel enger als herkömmlich ist. 454
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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Normen immanent, die vom Optimierungscharakter gekennzeichnet sind457, wozu die Umweltschutzklausel auch zu zählen ist. Andererseits soll der Gesetzgeber als demokratisch unmittelbar legitimierte Volksvertretung keineswegs zum Verfassungsvollzugsorgan degradiert werden458. Auch wenn die Verfassung selbst bestimmte Regelungen über Staatsaufgaben - wie die Umweltschutzaufgabe - als verbindlich vorsieht, bleibt die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers für die konkrete Aufgabenausfüllung unerläßlich. Danach bleibt die Möglichkeit einer konkreten Handlungspflicht des Gesetzgebers, nämlich der Erlaß bestimmter Regelungen aus der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung heraus völlig ausgeschlossen. Diese theoretisch zu entnehmende Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in Erfüllung der verfassungsrechtlichen Umweltschutzaufgabe läßt sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts über die Erfüllung des Sozialstaatsgebots und der grundrechtlichen Schutzpflichten - die Analogie solcher Ergebnisse auf die Umweltschutzklausel dürfte wegen der Gemeinsamkeit ihres Rechtscharakters unumstritten sein - bestätigen: Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder betont, daß das Sozialstaatsprinzip dem Staat nur eine Aufgabe stellt, nichts aber darüber sagt, wie diese Aufgabe im einzelnen zu verwirklichen ist. Das Bundesverfassungsgericht respektiert also in der Regel die Prärogative des Gesetzgebers, sozialstaatliche Ziele zu wählen und mit anderen Zielen und politischen Bereichen in Einklang zu bringen, wie auch die geeigneten Mittel auszuwählen459. In dieser eingeräumten Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers liegt auch die Ursache dafür, daß das Bundesverfassungsgericht gerade bei der Kontrolle staatlicher Sozialpolitik, entweder Gesetze zwar für verfassungswidrig erklärt, aber dem Gesetzgeber Spielraum und Zeit beläßt, diesen Zustand zu beseitigen, oder Gesetze wegen großer Prognoseunsicherheit und notwendig weiter Beurteilungsspielräume für noch verfassungsmäßig hält460. Für
457 Er ist also auch zutreffend als „struktureller Spielraum" zu bezechnen; Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, jetzt in: ders., Recht, Vernunft, Diskurs, S. 262 ff. (278 ff.). 458
Dabei ist wiederum daraufhinzuweisen, daß die Verfassung keine materielle Ermächtigung für die Gesetzgebung bildet: „Die Gesetzgebung kann nicht als , Verfassungsvollzug 4 verstanden werden. Die Verfassung ordnet die Organe, die Zuständigkeiten und das Verfahren der Gesetzgebung, bildet jedoch - was den sachlichen Inhalt der Gesetze anbetrifft - nicht etwa die,Ermächtigung4 für den Gesetzgeber. Ob und welche Gesetze von der parlamentarischen Volksvertretung erlassen werden, ist im Rahmen der Verfassung Sache der politischen Entscheidungs- und Gestaltungsfieiheit des parlamentarischen Gesetzgebers."; Badura, in: FS Scheuner, S. 19 ff. 459
BVerJGE 52,283 (298); 59,231 (262 f.). Vgl. einerseits BVerJGE 39,169 (169 ff.); 51,1 (1 ff.); andererseits ΒVerJGE 50,290 (290 ff.); Pestalozza, in: Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976, Bd. 1, S. 519 ff. 460
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die Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auch grundsätzlich einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum eingeräumt461. Aus dieser Gestaltungsfreiheit läßt sich auch schließen, daß in der Regel keine notwendige Maßnahme für die Erfüllung der Schutzverpflichtung besteht. Pflichtverbunden und pflichtgenügend ist dabei in der Regel nicht irgendeine Schutzmaßnahme, sondern sind alle denkbaren Alternativen zur Verfolgung des Umweltschutzziels. Wenn nämlich mehrere Maßnahmen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen geeignet sind, dann ist keine von ihnen zur Erfüllung des Schutzgebots notwendig; notwendig ist nur, daß irgendeine vorgenommen wird 462 . Es bleibt noch einmal zu betonen, daß diese Gestaltungsfreiheit nicht von einer Verfassungsermächtigung bzw. Einrichtungsgarantie ausgeht. Die Umweltschutzklausel als eine Staatszielbestimmung darf nicht als verfassungsrechtliche Ermächtigung für staatliches Handeln angesehen werden. Unter der Geltung des Grundgesetzes bedarf der Gesetzgeber vielmehr keiner besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigungen, um sich einer Sachfrage anzunehmen. Staatszielbestimmungen begründen für die politisch entscheidenden Staatsorgane, für Regierung und Parlament, Pflichten zum Handeln, die sich je nach konkreten Umständen soweit verdichten können, daß das Unterlassen einer Entscheidung verfassungswidrig ist463. Die Umweltschutzklausel gilt aber auch nicht als Einrichtungsgarantie, zu deren Inhaltsbestimmung der Gesetzgeber verfassungsrechtlich ermächtigt ist 464 . Die Leistungen, die der Staat zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu erbringen hat, konstituieren nicht den Schutzgegenstand der Umweltschutzklausel, sondern bringen die in ihr geschützten Güter zur aktiven Verwirklichung. Zwar besteht in beiden Fällen ein Gestaltungsspielraum, jedoch bezieht er sich bei der Einrichtungsgarantie auf die Gestaltung des Rechtsgutes, das im übrigen geschützt werden soll, während er
461
Vgl. zusammenfassend etwa: BVerJGE 79,174 (201 f.). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 421, in bezug auf die grundrechtliche Schutzpflicht. Die Frage, ob die Ausnahmesituation, bei der eine bestimmte Maßnahme zur Erfüllung der Schutzaufgaben unerläßlich ist, wenn nur diese als geeignet betrachtet wird, auch auf die Umweltschutzaufgabe analog anzuwenden ist, kann offen bleiben, da eine solche Situation bei der Umweltschutzaufgabe, die vordergründig keine individuellen Schutzgüter zum Schutzgegenstand macht, kaum vorstellbar ist. Vgl. BVerJGE 39,1 (42,44); 46,160 (164). 463 Badura, in: FS Redeker, S. 111 ff. (117). 464 Wie z.B. die Ermächtigung zur Inhaltsbestimmung durch den Gesetzgeber in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG auf das Eigentum in seiner Funktion als Institutsgarantie; vgl. Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 11 ff. Ähnliches gilt auch für die Institutsgarantie für Ehe und Familie (Art 6 Abs. 1 GG), vgl. Lecheler, Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 133, Rn. 56. 462
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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im Fall der Umweltschutzaufgaben bei Ziel, Art und Weise des Schutzes, den das ausgestaltete Gut genießt, Bedeutung gewinnt465.
b) Aspekte der Gestaltungsfreiheit Mit dieser Gestaltungsfreiheit kann dem Gesetzgeber folglich ein erheblicher „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich" bzw. ,,-spielraum"466 in der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe zukommen, wobei hauptsächlich unter vier Aspekten unterschieden werden kann. Zuerst besitzt der Gesetzgeber auch in der Erfüllung der ihm zukommenden Schutzpflicht die Entscheidungsfreiheit für den im konkreten Gesetz zu erstrebenden Schutzzweck. Entsprechend dem Sozialstaatsprinzip467 läßt sich aus der Umweltschutzklausel auch keine bestimmte, präzise, nicht konkretisierungsbedürftige Zweckangabe für das staatliche Handeln, die ζ. B. einen Rückschluß vom Zweck auf ein Mittel im Rahmen der Zweck-Mittel-Kontrolle des rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgebots erlaubt, erschließen. Das Ziel der Schutzverpflichtung im Art. 20a GG gilt vielmehr nur als eine Art „Zweckrahmen": Mit dem Vorliegen der tatbestandlichen Vorausssetzungen der Umweltschutzverpflichtung für den Staat wird dieser Rahmen festgelegt; innerhalb dieses Rahmens steht die Auswahl des mit konkreten Situationen zu konfrontierenden Zwecks des Schutzgesetzes ausschließlich dem Gesetzgeber zu. Zweitens handelt es sich um die Auswahlfreiheit der Schutzmittel. Es liegt grundsätzlich in der Entscheidung des Gesetzgebers, mit welcher gesetzlichen Form die Umweltschutzpflicht zu erfüllen ist. In Betracht kommen dabei alle gesetzlichen Formen: nicht nur für die verwaltungsrechtliche Form, sondern auch für zivilrechtliche sowie strafrechtliche Regelungen kann der Gesetzgeber sich entscheiden.
Dem Gesetzgeber ist - drittens - auch ein Gestaltungsspielraum hinsichtlich der erforderlichen Tatsachenfeststellungen und Prognosenentscheidungen a Voraussetzungen der Bestimmung einer Schutzmaßnahme überlassen.
465
Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 138. BVerJGE 88, 203 (262): „Ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum kommt dem Gesetzgeber auch dann zu, wenn er [...] verfassungsrechtlich verpflichtet ist, wirksame und ausreichende Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen". 467 Das Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes enthält infolge seiner Weite und Unbestimmtheit in der Regel keine unmittelbaren Handlungsanweisungen, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnten. BVerJGE 65,182 (193). Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, S. 37 ff. 466
158
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
Bei der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit geht es - viertens - nicht zuletzt auch um Gewichtung, Abwägung und Prioritätssetzung der konkurrierend Rechtsgüter und Interessen in der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe. Sieht man solche Gestaltungsfreiheit als „Mittel" der Zielverfolgung an, kann auch von „Ermessensfreiheit" die Rede sein468. 2. Schranken der legislativen Gestaltungsfreiheit a) Allgemeines Das Einräumen der legislativen Gestaltungsfreiheit im Hinblick auf die Art und Weise der Erfüllung der Umweltschutzpflicht weist zweifellos auf die Leitfunktion des Parlaments bei der Zuordnung und Konkretisierung der Umweltschutzaufgabe hin. Aber ebensowenig wie hierin weder eine normativ ausschließliche noch faktisch überwiegende Kompetenz des Gesetzgebers zu sehen ist, besteht eine grundsätzliche verfassungsrechtliche Ungebundenheit des Gesetzgebers hinsichtlich der Erfüllung der Schutzaufgabe. Ohne Zweifel ist, daß die gesetzgeberische Gestaltung in Erfüllung der Umweltschutzaufgabe verfassungsmäßig sein muß. Solange die gesetzgeberische Erfüllung der Umweltschutzaufgabe erne verfassungsrechtliche Verpflichtung und nicht bloß eine politische Handlungsmaxime ist, ist die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit über die Art und Weise der Aufgabenerfüllung notwendigerweise auch durch verfassungsrechtliche Anforderungen eingeschränkt. Zufragen ist daher, wo diese grundsätzlich gewährte Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers konkret ihre Schranken und Grenzen findt. Dies ist auch im Licht der Überprüfungsmöglichkeit des Bundesverfassungsgerichts zu erläutern, wobei die Frage einer angemessenen Ausbalancierung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gesetzgeber stets vor Augen gehalten werden muß. b) Effektivitätsgebot Aus der Festhaltung der verbindlichen Umweltschutzverpflichtung einerseits sowie der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit zur inhaltlichen Erfüllung solcher Schutzverpflichtung andererseits ist wohl logisch zu folgern, daß sich die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe an dem wirksamen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
468 Isensee: „Verfassungsdirektiven und Optimierungsgebote determinieren das politische Handeln des Staates von innen heraus und verwandeln die politische Entscheidungsfreiheit in politisches Ermessen."; in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VE, § 162, Rn. 45.
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
159
orientieren muß. Die vom Gesetzgeber getroffenen Schutzmaßnahmen sind aber nur dann als wirksam zu bewerten, wenn sie einen Erfolg zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen in dem gebotenen Umfang - orientiert an dem Untermaßverbot469 - erreichen, zumindest bewirken können. Die Wirksamkeit bzw. Effektivität der Schutzmaßnahmen zur Erfüllung des Umweltschutzgebots könnte danach eine Schranke der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit bilden. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers über die Auswahl der Art und Weise der Aufgabenerfüllung ist also insofern beschränkt, als die getroffenen oder zu treffenden Vorkehrungen, welche Art und Weise sie auch immer haben, zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dem Effektivitätsgebot genügen müssen, und dies das Bundesverfassungsgericht anhand dieses Maßstabs überprüfen kann. Derartige Versuche, die Effektivität als Orientierangs- und Kontrollmaßstab in der Erfüllung der verfassungsrechtlich gebotenen Schutzpflicht herzustellen, ist ohnehin schon bei der Konturierung der grundrechtlichen Schutzpflicht zu finden 470. Wichtig ist dabei zu betonen, daß es bei der Beurteilung der Effektivität allein darauf ankommt, ob die Gesamtheit der staatlich getroffenen Vorkehrungen, nicht aber irgendeine Maßnahme, geeignet ist, das erforderliche Maß an Schutz zu gewährleisten. Wo ein Mittel des Schutzes unter vielen anderen den geforderten Effekt erreicht471, ist der Schutzpflicht Genüge getan. Dabei dürfen alle denkbaren Schutzmittel nicht durch das Setzen von Wertmaßstäben noch differenziert werden472. Das Bundesverfassungsgericht dürfte also die Effektivitätskontrolle nicht so weit strapazieren, daß die Ermessens- und Auswahlmöglichkeit des Gesetzgebers über verschiedene Schutzmittel diesem aus der Hand genommen wird. Nur ausnahmsweise könnte
469 Vgl. BVerJGE 88, 203 (254f.); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 165. S. auch oben in diesem Kapitel Π C 1 a) bb). 470 „Art 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet den Staat, jedes menschliche Leben zu schützen. Diese Schutzpflicht ist umfassend.... Wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung zu einem ejfektiven Schutz des Lebens erfüllen, ist von ihnen grundsätzlich in eigener Verantwortung zu entscheiden. Sie befinden darüber, welche Schutzmaßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten."; BVerJGE 46,160 (164 f.) - Schleyer (Hervorhebung vom Verfasser); auch BVerJGE 39, 1 (47). Vgl. auch Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 39 f.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 165; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 261; Klein, NJW 1989,1633 (1637). 471 Dabei ist gar nicht auszuschließen, daß Effektivitätsgrade ganz unterschiedlich sind. Wichtig ist jedoch nur, ob ein minimaler Effektivitätsgrad überschritten werden kann, nicht aber ob eine höhere oder höchste Effektivität erreicht werden kann. Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 f. 4,72 Dazu vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 262; Jakobs, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 61 f.
160
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
diese Gestaltungsfreiheit erst auf bestimmte Weise verengt werden, wenn es also nur ein einzig effektives Mittel im konkreten Fall gibt473. Bei der Frage, ob die staatlichen Maßnahmen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen insgesamt wirksam sind, handelt es sich unvermeidlich mehr oder weniger um eine verfassungsgerichtliche Überprüfung von Beurteilungen und Prognosen des Gesetzgebers hinsichtlich der bezogenen Zweck-MittelRelation und der Wirkung gegenwärtiger Maßnahmen in der Zukunft, die als wesentlicher Teil der politischen Gestaltungsfreiheit anzusehen ist. Es soll nicht Aufgabe der Gerichte sein, auch nicht des Bundesverfassungsgerichts, mit ihrer Einschätzung an die Stelle der dazu berufenen politischen Organe zu treten474. Dabei ist eher eine zurückhaltende Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts zugunsten der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit geboten: Die „Evidenzformer findet auch hier Anwendung; sie besagt, erne Schutzpflicht sei erst dann verletzt, wenn die Nichterfüllung bzw. nicht genügende Erfüllung des Gesetzgebers der Schutzaufgabe evident sei475. Die Kontrollintensität des Bundesverfassungsgerichts ist aber alles anderes als eindeutig zu bestimmen476. Auf jeden Fall vertritt das Bundesverfassungsgericht auch die Auffassung, daß die verfassungsrechtliche Prüfüng über die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen sich darauf erstreckt, ob der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich wesentlichen Fakten ausreichend berücksichtigt und seinen Einschätzungsspielraum in vertretbarer Weise gehandhabt hat. Die bloße Feststellung, daß die Schutzmaßnahmen nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, könnte der Erfüllung der Schutzpflicht des Gesetzgebers noch nicht genügen477. In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, daß sich auch eine Nachbesserungspflicht478 ergeben kann, wenn sich die Schutzmaßnahmen als ungeeignet erweisen, den gebotenen Schutz im erforderlichen Umfang zu realisieren oder zu fördern.
473
So zeigt Bundesverfassungsgericht etwa in BVerJGE 39,1 (46 f.); 46,160 (164 f.); 88, 203 (309). 474 Vgl. BVerJGE 49,89 (131). 475 Vgl. BVerJGE 56,54 (81). 476 Im Mitbestimmungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht die bekannten drei Kontrollmaßstäbe fllr gesetzgeberische Einschätzungen formuliert: Evidenzkontrolle, Vertretbarkeitskontrolle und intensivierte Inhaltskontrolle. Die Kontrolldichte oder die Breite des gesetzgeberischen Prognosespielraums wird dabei außer von der „Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden" gerade auch von „der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter" determiniert. BVerJGE 50, 290 (333). 477 48
Vgl. BVerJGE 88,203 (262 f.). Siehe oben in diesem Kapitel Π .
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
161
c) Verhältnismäßigkeitsgebot? Angesichts der Tatsache, daß es bei der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe auch um die Ausübung der staatlichen Macht geht und bei dem Verhältnis zwischen der Umweltschutzverpflichtung und der Erfüllung der verpflichtenden Umweltschutzaufgabe eine Art Zweck-Mittel-Relation der Staatstätigkeit und eine Prognose über die Wirkung gegenwärtiger Maßnahmen in der Zukunft 479 zu betrachten ist, ist es auch denkbar, das Verhältnismäßigkeitsprinzip für die Beschränkung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers heranzuziehen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das ursprünglich im Verwaltungsrecht, insbesondere im Polizeirecht, heute aber wohl unumstritten auf nahezu allen Rechtsgebieten angewendet wird480, hat sich mit seinen Unterprinzipien der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne als ein ungeschriebenes Verfassungsprinzip für die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von staatlichen Eingriffen in die Grundrechte der einzelnen erwiesen. Es zielt also auf eine Kontrolle der Zweck-Mittel-Relation der staatlichen Handlungen, deren herkömmliche Bedeutung gerade im Sinne des „tfaer/wqßverbotes" 481 liegt. Der Begriff Übermaß verbot impliziert eindeutig seine Funktion als prinzipielle Beschränkung der staatlichen Gewalten. Im vorliegenden Zusammenhang geht es aber um eine Forderung nach gesetzgeberischem Tätigwerden. Dabei fehlt eindeutig die für eine Erforderlichkeits- und Proportionalitätsprüfung nach dem Übermaßverbot unentbehrliche Zweck-Mittel-Relation482. Dieser strukturelle Unterschied schließt eme unmittelbare Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips im herkömmlichen Sinne als Schranke der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit grundsätzlich aus.
479
Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 423 ff. Vgl. nur Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 25 ff. 481 Vgl. nur Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 134 ff ; neulich auch Bleckmann, JuS 1994,177 ff. Ossenbühl nennt zwei Begrenzungen für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips: Zum einen ist es hinsichtlich der Breite auf „Eingriffe" beschränkt; zum anderen ist die Intensität der Übermaßkontrolle eine Art Zweck-Mittel-Prüfung; in: FS Lerche, 1993, S. 151(158). 482 Der Zweck bei der „Zweck-Mittel-Relation" des Übermaßverbots ist der vom Gesetzgeber festgesetzte - sei es ausdrücklich, sei es konkludent - Zweck der Gesetze;„Mittel" ist das vom Gesetzgeber eingesetzte, den bestimmten Zweck zu erstrebende Staatshandeln. Dazu vgl. etwa Haverkate, Rechtsfragen des Leistungsstaats, S. 11ff. Im Fall einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zum Tätigwerden handelt es sich um einen verfassungsrechtlich gesetzten Zweck, der die gesetzgeberische Umsetzung erfordert. Hier ist die Relation zwischen dem verfassungsrechtlichen Zweck und der gesetzgeberischen Aufgabenerfüllung einer anderen Art als die im Übermaßverbot. Siehe auch Ossenbühl, in: FS Lerche, 1993, S. 151ff. (160). 480
11 Tsai
162
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
In der Literatur existieren zwei Varianten des Verhältnismäßigkeitsprinzips als ein Überprüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts. Zum einen hat Böckenförde483 gezeigt, daß die Grundrechte als objektive Grundsatznormen, die ihre Wirkungen in alle Richtungen und Rechtsbereiche hinein entfalten und dementsprechend auch Kollisionen in sich entstehen können, notwendigerweise die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips als Abwägungsgrundlage impliziert. Denn die berührten Interessen und Rechtsgüter müssen einander zugeordnet, gegeneinander abgewogen und austariert werden. Dieses Verhältnismäßigkeitsprinzip als Abwägungsgrundlage sei aber nicht im klassischen Sinne zu verstehen. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip im klassischen Sinne erfordere nämlich einen festen Bezugspunkt, also den Zweck des Gesetzes bzw. der Gesetzesnorm, um daraufhin (relational) Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit i.e.S. zu bestimmen, welcher bei der verfassungsrechtlich gebotenen Schutzpflicht gerade fehle und fehlen müsse. Die geforderte Verhältnismäßigkeit bei der Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht sei vielmehr eine Angemessenheits- Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Erreichung von Vereinbarkeit, Ausgleich, angemessene Zuordnung mehrerer, auch gegenläufiger normativer Prinzipien484. Inhaltlich gesehen ist dieser Ansicht zuzustimmen, sie scheint aber m.E. nicht tauglich bzw. es scheint überflüssig, sie als einen selbständigen Kontrollmaßstab zur Erfüllung der Schutzaufgabe - hier sind grundrechtliche Schutzpflicht und Umweltschutzpflicht des Art. 20a GG gleichartig zu behandeln - anzuerkennen. Dieses Angemessenheits-Verhältnismäßigkeitsgebot ist nämlich schon aus dem Untermaßverbot und dem Effektivitätsgebot abzuleiten. Denn: Das Untermaßverbot gilt als eine folgerichtige Forderung an jede verfassungsrechtlich verpflichtende Schutzaufgabe485; es gebietet jeweils eine minimale Erfüllung der in Frage kommenden Schutzaufgabe. Mit dem Effektivitätsgebot sind dann die ergriffenen Maßnahmen zur Verfolgung eines solchen Schutzminimums überprüft. Dieser Vorgang gilt für alle miteinander kollidierenden Interessen oder Schutzgüter. Oberhalb des erforderlichen Schutzminimums bleibt dem Gesetzgeber der Gestaltungsspielraum, wie weit der Schutz gewähr-
483
Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 159 ff. (183 f.); auch ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, S. 52 ff. 484 Ossenbühl spricht von einem „maßvollen" Austarieren von „Verhältnissen"; in: FS Lerche, 1993, S. 151 ff. (160). 485 Siehe oben in diesem Kapitel Π C 1 a) bb).
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
163
leistet wird. Insoweit sollte eine weitere Überprüfung des Bundesverfassungsgerichts mit dem Untermaßverbot nicht erfolgen. Im Ergebnis ist dieser Vorgang auch als eine Angemessenheits-Verhältnismäßigkeitsprüfung anzusehen486. Die andere Variante geht von einer inhaltlich korrespondierenden Abspiegelung des klassischen Verhältnismäßigkeitsprinzips im Sinne des Übermaßverbots auf den Verhältnismäßigkeitsgedanken im Sinne des Untermaßverbots aus. Danach wird das Untermaßverbot als Maßstab für das Wie der Schutzpflichten herangezogen487, und seine Inhalte werden je nach der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit i.e.S. dem Übermaßverbot entsprechend entnommen488. Eine derartige Auffassung verkennt m.E. aber den strukturellen Unterschied zwischen der Beschränkung der staatlichen Eingriffe und der Schutzpflicht. Wie schon gezeigt, zielt die Schutzpflicht stets auf einen „Erfolg", für den es auf die gesamten Schutzmaßnahmen des Staates ankommt. Jede staatliche Tätigkeit, die in die Grundrechte des einzelnen eingreift, muß aber zur Sicherung der Grundrechte die Verhältnismäßigkeitsprüfung bestehen, sonst wäre dieser Eingriff nicht zu rechtfertigen und deshalb verfassungswidrig. Daraus sind erst die Gründe für die inhaltliche Nachprüfung anhand der Erforderlichkeit, Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit i.e.S. ersichtlich. Diese strukturelle Grundlage für die Nachprüfung gemäß der Zweck-Mittel-Relation fehlt gerade bei dem positiven Handlungsgebot zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Das Untermaßverbot bleibt also eine Begrenzung der vom Gesetzgeber geforderten Erfüllung der Umweltschutzaufgabe, nicht aber ein die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit beschränkender Überprüfungsmaßstab.
d) Bestimmtheitsgebot Ebenso wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip findet das Bestimmtheitsgebot in seiner allgemeinen Ausprägung keinen unmittelbaren Niederschlag im Verfas-
486
Ohne Zweifel ist dabei, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip im herkömmlichen Sinn zumindest entsprechend geändert werden müßten, wenn es auch im Bereich der objektivrechtlichen Grundrechtsgehalte herangezogen werden sollte. Für eine Anwendung ist neben Böckenförde etwa noch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 465f.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 204; wohl auch Lerche, in: HStR V, § 122, Rn. 17. Dagegen ist etwa Canaris, JuS 1989,161 (163); Ossenbühl, in: FS Lerche, 1993, S. 151ff. (164,169). 487 Canaris, Ac? 1984,201 (223ff.); Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. Rn. 90, 165; Starck, in: ders., Praxis der Verfassungsauslegung, S. 81 f.; wohl auch BVerJGE 88, 203 (254). Hier ist von der grundrechtlichen Schutzpflicht die Rede; das Untermaß verbot läßt sich aber auch auf die Umweltschutzpflicht übertragen. 488 Dazu siehe Starck, in: ders., Praxis der Verfassungsauslegung, S. 81 f.
1
164
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
sungsgesetz. In Rechtsprechung489 und Schrifttum 490 ist es jedoch üblich, das Bestimmtheitsgebot als einen Aspekt der Rechtssicherheit im Rechtsstaatsprinzip anzusehen. Das Bestimmtheitsgebot gebietet im Prinzip, daß das Gesetz inhaltlich eine gewisse Klarheit und Verständlichkeit aufweist, um dem Bürger zu gestatten, sich ein eigenes Bild von seiner Rechtslage zu machen491. Rechtssätze, die auch bei Anwendung der juristischen Auslegungsmethoden nicht hinreichend klar erkennen lassen, was rechtens sein soll, sind nichtig492. Da das Bestimmungsgebot eine allgemeine Anforderung des Rechtsstaatsprinzips darstellt, findet es auch bei der gesetzgeberischen Gestaltung zur Erfüllung der Umweltschutzaufgabe Anwendimg. Es bildet hier wie sonst eine Schranke der gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit. Mit dieser Bestimmtheitsanforderung wird aber keineswegs schon die Verwendimg von unbestimmten Rechtsbegriffen und Generalklauseln verboten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist sie vielmehr in der Regel zulässig493. „Es hieße das Gebot der Bestimmtheit mißverstehen", so das Bundesverfassungsgericht, wenn man den Gesetzgeber zur Fixierung eines bestimmten Gehalts des Gesetzes verpflichten wollte494. „Zwar sollen die Bestimmtheitsanforderungen auch zur Gewährleistung von Rechtssicherheit beitragen; dièse läßt sich jedoch nicht bei jedem Regelungsgegenstand in gleichem Maße verwirklichen. Eine gewisse Rechtsunsicherheit, die sich durch Rechtsverordnungen der Exekutive, durch die Verwaltungspraxis sowie durch die Rechtsprechung im Laufe der Zeit noch in bestimmtem Umfang verringert, muß
489
BVerJGE 1,14 (45); 8,274 (326); 13,153 (161); 17,67 (82). Statt aller nur Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VII, Rn. 61ff.; Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 67; Stein, Staatsrecht, S. 157. 491 BVerJGE 14, 13 (16); 20, 150 (158 f.); 21, 73 (79); 25, 269 (285). Dabei ist dieses allgemeine rechtsstaatliche Bestimmtheitsgebot zu unterscheiden von dem Bestimmtheitserfordernis von Verordnungsermächtigungen gemäß Art. 80 Abs. 1 GG. Beim allgemeinen Bestimmtheitsgebot geht es nur darum, daß klar erkennbar sein muß, was mit dem Rechtssatz gemeint ist, während es bei dem Bestimmtheitserfordernis von Verordnungsermächtigungen vielmehr um die Begrenzung der Ermächtigung, nicht aber um die Eindeutigkeit der Formulierung geht. Vgl. Stein, Staatsrecht, S. 157. Diese beiden Grundsätze sind aber nicht selten aufeinander bezogen; so hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: „daß eine gesetzliche Ermächtigung der Exekutive zur Vornahme von Verwaltungsakten nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt und begrenzt ist, so daß das Handeln der Verwaltung meßbar und in gewissem Ausmaß für den Staatsbürger voraussehbar und berechenbar wird", BVerfGE 56,1 (12), m.w.N. 492 Vgl. etwa BVerJGE 1,14 (45); 5,25 (31ff); 25,216 (227). 493 Für unbestimmte auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe etwa BVerJGE 4,352 (357f.); 78, 205 (212); 80,103 (108); 87,234 (263f.); für Generalklauseln BVerJGE 8. 274 (326); 13, 153 (161); 56,1(12). 494 BVerJGE 49,89(137). 490
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
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jedenfalls dort in Kauf genommen werden, wo der Gesetzgeber ansonsten gezwungen wäre, entweder unpraktikable Regelungen zu treffen oder von einer Regelung gänzlich Abstand zu nehmen, was letztlich beides zu Lasten des Grundrechtsschutzes ginge"495. Ob der Gesetzgeber in einer Vorschrift unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet oder sie spezieller faßt, fallt also in seinen Gestaltungsspielraum. Nur in extremen Ausnahmefallen verstößt ein Gesetz gegen die Bestimmtheitsanforderung 496.
E. Das Verhältnis von umweltschützendem einfachen Recht und verfassungsrechtlicher Schutzverpflichtung Nach der Erörterung über die inhaltliche Ausfüllung der legislativen Umweltschutzaufgabe ist im vorliegenden Zusammenhang noch eine weitere Frage zu klären, wie die vom Gesetzgeber getroffenen, als „Ausfüllung und Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Schutzverpflichtung" geltenden Gesetze sich zum Verfassungsrecht verhalten. Mit anderen Worten: Haben die Regelungen, die vom Gesetzgeber zur Ausfüllung des Verfassungsgebots erlassen werden, durch ihren das Verfassungsrecht konkretisierenden Charakter auch Verfassungsrang errungen? Eine bejahende Antwort würde unausweichlich dazu fuhren, die schützenden Regelungen der einfachen Gesetze als verfassungsrechtlich geboten anzusehen mit der Folge, daß sie nicht ersatzlos aufgehoben werden dürfen und daß bei unzureichendem Schutz vorhandene Regelungen nachgebessert bzw. neu eingeführt werden müssen497. Dem soll aber folgendes entgegengehalten werden. Hat der Gesetzgeber in Erfüllung seiner Umweltschutzaufgabe bestimmte Regelungen getroffen, so bedeutet dies nicht, daß diese Regelungen nunmehr ihrerseits schon verfassungskräftig festgeschrieben wären. Zur Klarstellung ist noch einmal darauf aufmerksam zu machen, daß die Gesetzgebung zur Erfüllung der verfassungsrechtlich geforderten Umweltschutzaufgabe nicht schlicht Verfassungsauslegung bzw. konkretisierung, sondern politisch gestaltende Tätigkeit im Rahmen von inhaltlichen Vorgaben der Verfassung ist, zumal diesem Bereich der Gesetzgebung die Gestaltungsfieiheit hinsichtlich Art, Weise und Zeitpunkt zuerkannt ist. Der dem Gesetzgeber eingeräumten Gestaltungsfreiheit steht zwar nicht entgegen, daß eine einmal gewählte Regelung vom Grundgesetz geboten ist und insoweit
™ BVerJGE 49,89(137). 496
So auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VII, Rn. 63; Stein, Staatsrecht, S. 157. Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 266, unter Hinweise auf Seewald, Gesundheit als Grundrecht, S. 67. 497
166
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
„verfassungsrechtlich notwendiges Recht"498 darstellt. Es wäre aber verfehlt, versuchte man den Inhalt des Umweltschutzprinzips aus einfach-gesetzlicher Realisation abzuleiten. Es läßt sich allenfalls sagen, daß wegen der in der Zukunft offenen Eigenschaft die Bedeutung der Umweltschutzbestimmung aus ihrer jeweiligen, vor allem durch den Gesetzgeber vorgenommenen Konkretisierung erfaßt wird. Eine umgekehrte Schlußfolgerung wäre schon deswegen unzulässig, weil die Inhalte der Umweltschutzklausel nicht erst vom Gesetzgeber konstituiert werden. Durch die staatlichen Aktivitäten zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen - wie vielfaltig sie auch immer sind - kann auch keine abschließende Aussage über den verfassungsnormativen Gehalt des Umweltschutzgebots getroffen werden. Der Unterschied zwischen Verfassimg und Gesetz wird auch keineswegs durch den gesetzlichen Umsetzungsbedarf der Staatszielbestimmung aufgehoben. Das bedeutet, daß der Gesetzgeber immer noch Herr der Normen bleibt für die Ausfüllung der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung. Sein Werk wird auch nicht wegen der Verfassungsrechtsgrundlage automatisch ein Bestandteil des Verfassungsrechtes 499. Eine derartige Trennungsbehandlung zwischen verfassungsrechtlichem Schutzgut - hier also die natürlichen Lebensgrundlagen - und schützendem einfachen Recht sichert auch die politische Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers500. Die Aufhebung oder Änderung solcher der Umweltschutzaufgabe dienenden Gesetze unterliegen also keiner verfassungsrechtlichen Anforderung der Verfassungsänderung. Die die staatliche Umweltschutzverpflichtung begründende Verfassungsnorm als solche, die ohnehin nur eine objektive Norm für die staatliche Tätigkeit ist, schafft grundsätzlich keine Bestandsgarantie. In diesem Zusammenhang läßt sich auch deutlich unterscheiden, daß die Gestaltungsfreiheit nicht die Folge aus der Unbestimmtheit des verfassungsrechtlichen Rahmens, hier nämlich das die staatliche Umweltschutzaufgabe auffordernde Umweltschutzziel ist, sondern Folge des Ausmaßes der von der Verfassung getroffenen Festlegungen, die in vielen Fällen nur eine geringe Dichte aufweisen. Diese Unterscheidung ist besonders im Hinblick darauf von Bedeutung, Funktionsbereiche zwischen Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit abzugrenzen und gegeneinander einzuhalten501.
498
Wahl, WDStRL 1983, S. 151 (169); zitiert in: Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S.
266. 499 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 159 ff, in bezug auf die grundrechtliche Schutzpflicht. 500
Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 267. Über die Unterscheidung von verfassungsrechtlichem Rahmen und politischer Gestaltungsfreiheit siehe Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162, Rn. 8. In unserem Zusammenhang ist diese Unterscheidung dort von besonderer Bedeutung, wo mißverständlicherweise die gesetzgeberische Prärogative für die Umweltschutzaufgabe aus der sog. Unbe501
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
167
III. Die exekutivische Schutzverpflichtung A. Die vollziehende Gewalt als Adressat der Schutzverpflichtung Die staatliche Schutzverpflichtung für die natürlichen Lebensgrundlagen wird nach Art. 20a GG auch der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt nach Maßgabe von Gesetz und Recht auferlegt, was aufgrund des Rechtscharakters des Art. 20a GG eher nachvollziehbar ist. Die ausdrückliche Bezugnahme des Art. 20a GG auf die vollziehende und rechtsprechende Gewalt könnte an sich höchstens nur auf erne verfassungspolitische Funktion hinweisen: Die Exekutive und Judikative sollen im Bereich des Umweltschutzes nicht anders und auch nicht besser stehen als in sonstigen Bereichen der Staatstätigkeit502. Wenn in Art. 20 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG, wie auch in Art. 1 Abs. 3 GG von vollziehender Gewalt die Rede ist, so sind dabei alle Exekutivorgane zu verstehen, die die Funktionen des unmittelbaren staatlichen Tätigwerdens umfassen503, worunter nicht nur die herkömmliche Verwaltung - administrative Aufgaben - , sondern auch die Regierung - staatsleitende Aufgaben - fallen 504. Die Verwaltung umfaßt alle staatlichen Organen, deren wesentliche Aufgabe in der Ausführung der Gesetze besteht. Dazu zu zählen sind etwa die Ministerien, sowie die ihnen unterstellten Behörden und sonstigen Organisationseinheiten einschließlich der juristischen Personen des öffentlichen Rechts der mittelbaren Staatsverwaltung und Selbstverwaltung505. Der Begriff „Verwaltung" erstreckt sich nachrichtiger Auffassung auch auf die Leistungsverwaltung und die Fiskalverwaltung. Verwaltungshandeln in privatrechtlicher Form befreit nicht von verfassungsrechtlichen Bindungen506. Obwohl die Regierung eine nicht nur Gesetze ausführende oder vollziehende Funktion hat, sondern vielmehr leitende und führende Entscheidungsgewalt und Aufgaben für politisches Gestalten einnimmt, ist sie als die „Spitze" der Exekutive ein Teil der vollziehenden Gewalt. Daran besteht heute kein Zweifel 507. Die vollziehende Gewalt im Sinne des Art. 20a GG umfaßt demnach Regierung und Verwaltung.
stimmtheit des Schutzbereiches abgeleitet ist. 502
Meyer-Teschendorf ZRP 1994,73 (78). Hesse, Grundzüge, Rn. 530. 504 Siehe nur Badura, Staatsrecht, G 2. 505 Badura, Staatsrecht, G 14; Hesse, Grundzüge, S. 138; Gusy, DÖV 1984, 872 (878); Peters, NuR 1987,293 (294). Stern, Staatsrecht m/1, S. 1324. 503
506 507
Peters, NuR 1987,293 (294). Badura, Staatsrecht, E 17; Hesse, Grundzüge, Rn. 531 ; Stern, Staatsrecht Π, § 3912 b).
168
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
B. Schutzverpflichtung
„nach Maßgabe von Gesetz und Recht"
1. Parallele Auslegung nach Art. 20 Abs. 3 HS. 2 GG Wie oben schon erläutert, hat die Bindungsformel des Art. 20a keinen eigenständigen Bedeutungsinhalt. Sie wiederholt vielmehr nur das, was schon unter Art. 20 Abs. 3 GG gefordert wird. Bezüglich deren Bedeutung ist deshalb auf Art. 20 Abs. 3 GG hinzuweisen. Die Grundlegung in Art. 20 Abs. 3 HS. 2 GG - die vollziehende Gewalt ist an Gesetz und Recht gebunden - bringt den Grundsatz der Gesetzesmäßigkeit der Exekutive als ein wichtiges Element der rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes zutage: Zur Sicherung und Verwirklichung der rechtsstaatlichen Anforderungen der Berechenbarkeit des Rechts und der Rechtssicherheit sowie der Entscheidungsvollmacht des gesetzgeberischen Palaments sichert nämlich dieser Grundsatz das Gesetz als Grundlage und Grenze der exekutiven Tätigkeiten508. 2. Die Bedeutung von Gesetz und Recht Nach der Bedeutung des Art. 20 Abs. 3 GG bedeutet „Gesetz" die förmlichen Gesetze, die ungeachtet ihrer inhaltlichen Qualität509 durch Entscheidung des Parlaments in den für Gesetze vorgesehenen Formen und Verfahren zustandegekommen sind510. Da in Art. 20 Abs. 3 GG eine Normhierarchie des Grundgesetzes projiziert wird511, ist es nur folgerichtig, daß Rechtsverordnungen und Satzungen nicht als „Gesetze" im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG anzusehen sind512. Schließlich sind Rechtsverordnungen und Satzungen - wie die gesamte
508
Badura, Staatsrecht, G 8. Deshalb können neben der großen Gruppe der Normgesetze mit generell-abstraktem Regelungsgehalt auch die diffuse Gruppe der Maßnahmengesetze, Einzelfallgesetze, Haushalts-, Organgesetze sowie Vertragsgesetze nach Art. 59 Abs. 2 GG die Bindungswirkung des Art. 20 Abs. 3 auslösen. Vgl. Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 24, Rn. 34. 509
510
Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VI, Rn. 50; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 61, Rn. 5 ff; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 24, Rn. 34. 511
Rn. 2. 512
Vgl. Badura, Staatsrecht, D 52; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, § 62,
Vgl. Badura, Staatsrecht, D 52; auch Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, §24, Rn. 37, der aber die Funktion eines Stufenbaus verneint. Anders aber Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VI, Rn. 51; Stein, Staatsrecht, S. 163. Sie sehen Gesetze im materiellen Sinne, also Verordnungen und Satzungen, auch als vom Art. 20 Abs. 3 gemeintes Gesetz.
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
169
administrative Normsetzung - Adressaten des Bindungsgebotes, nicht aber zugleich Bindungsmaßstäbe513. Fraglich ist jedoch, ob das Grundgesetz selbst auch als hier genanntes „Gesetz" anzusehen ist. Sieht man den Gedanken von „Vorrang der Verfassung" und „Vorrang des Gesetzes" als zwei Eckpfeiler der Normhierarchie des Grundgesetzes an, soll die Verfassung dann als solche nicht zu dem „Gesetz" in Art. 20 Abs. 3 GG gezählt werden; die Verfassung selbst bildet vielmehr einen selbständigen Bindungsmaßstab für legislative Tätigkeiten. Schließlich ist darauf zu achten, daß das Gesetz als Bindungsmaßstab der exekutiven Machtausübung ein Ausdruck der politischen Entscheidungsvollmacht der demokratisch legitimierten Volkesvertretung ist. Die Exekutive soll in ihrer Machtausübung zuerst der Bindung durch das Gesetz gegenüberstehen, und ihre Verfassungsmäßigkeit wird wiederum durch die Bindimg des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung gesichert. Unter dem Gedanken des Gewaltenteilungsprinzips soll die Exekutive nur ausnahmsweise zur unmittelbaren Anwendung des Verfassungsrechts berufen werden514. Der Zusatz „Recht" ist nach herrschender Meinung kerne präzise dogmatische, sondern eine appellative Aufgabe515. Es steht nur fest, daß „das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes hinsichtlich der Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als „unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichen hat516. Durch diesen Zusatz will die Verfassung also auf eine Grundlage aller Rechtsstaatlichkeit, auf die Idee der Gerechtigkeit, hinführen 517. „Die Formel hält das Bewußtsein aufrecht, daß sich Gesetz und Recht zwar faktisch im allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken"518. Wichtig ist hierbei, daß der Begriff „Recht" keiner „Auffangfunktion" dient, um alle jene Rechtssätze aufzunehmen, die nicht unter den Begriff „Gesetz" fallen 519.
513
So zutreffend Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, §24, Rn. 37. Eine andere Frage ist die Lehre von einer durchgängigen „verfassungskonformen" Rechtsanwendung durch die Exekutive und die Gerichte. Vgl. Badura, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR Vn, § 159, Rn. 13. 515 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VI, Rn. 51, 52; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 24, Rn. 41. 516 Radbruch, in: Erik Wolf / Hans-Peter Schneider (Hrsg.), Rechtsphilosophie, 8. Aufl. 1973, S. 345; vgl. BVerJGE 3,225 (233); 34,269 (286); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI, Rn. 53. 514
517
Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 24, Rn. 41.
M8
BVerJGE 34,269 (286 f.). Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 24, Rn. 41.
519
170
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
3. Vorrang des Gesetzes Das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Exekutive enthält zwei Ausprägungen: den Vorrang und den Vorbehalt des Gesetzes520. Der Vorrang des Gesetzes besagt im Prinzip, daß die Geltungskraft der oben beschriebenen Gesetze allen anderen staatlichen Akten vorgeht. Die Exekutive muß danach nicht nur die vorhandenen Gesetze anwenden und vollziehen (Anwendungsgebot521), sondern bei ihrem Handeln muß sie auch ausnahmslos im Einklang mit dem Gesetz bleiben und darf nicht gegen gesetzliche Vorschriften verstoßen (Abweichungsgebot522). Das gilt für jegliches Verwaltungshandeln, einschließlich des Handelns der Regierung: für belastende und begünstigende Maßnahmen, für Verwaltungsakte sowie Realakte, für das Verwaltungshandeln in der Rechtsform des Vertrages, wie auch für den Erlaß von Rechtsverordnung und Satzungen523. Im vorliegenden Zusammenhang heißt es demnach, daß die Exekutive die vom Gesetzgeber erlassenen Umweltschutzgesetze anzuwenden und auszuführen hat; in der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe muß sie auch stets die gesetzlichen Regelungen beachten und an sie gebunden bleiben. Da der Gedanke vom Vorrang des Gesetzes hauptsächlich auf die Sicherung des Stufenbaus der Rechtsordnung des Grundgesetzes und der Gewährleistungsfünktion des Gesetzes zielt, spielt es hierbei keine Rolle, ob die von der Exekutive zu beachtenden Gesetze unmittelbar dem Umweltschutz dienen oder nicht.
4. Vorbehalt des Gesetzes Mit dem Begriff „Vorbehalt des Gesetzes" bezeichnet man das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für das exekutive Handeln. Es geht dabei eindeutig
520 Badura, Staatsrecht, D 53 ff; Degenhart, Staatsrecht I, S.101; Ossenbühl, Die Quellen des Verwaltungsrechts, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, § 5, Rn. 7. Herzog vertritt jedoch die Auffassung, daß der Begriff der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nach dem hergebrachten verwaltungsrechtlichen Sprachgebrauch zwar sowohl den Vorrang des Gesetzes als auch den Vorbehalt des Gesetzes bedeutet, Art. 20 Abs. 3 aber die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nicht in diesem vollen Umfang verankert, sondern sich nur auf den Vorrang des Gesetzes beschränkt, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VI, Rn. 33 ff. Überzeugend wäre die Auffassung, daß der Vorbehalt des Gesetzes zwar nicht in Art. 20 Abs. 3 ausdrücklich angesprochen, er jedoch dort vorausgesetzt wird. Denn die Bindung der Verwaltung an das Gesetz wäre gegenstandslos, könnte sie nach ihrem Ermessen ohne Bindung an eine gesetzliche Ermächtigung tätig werden. Dazu Hesse, Grundzüge, Rn. 200; Degenhart, Staatsrecht I, S. 102. 521
Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 62, Rn. 4. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, § 62, Rn. 5. Vgl. auch Badura, Staatsrecht, D 54, G 8; Hesse, Grundzüge, Rn. 200; Stern, Staatsrecht I 2 , S. 801 ff. 523 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, VI, Rn. 37. 522
5. Kap.: Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
171
um das verfassungsrechtliche Kompetenzproblem: Es betrifft die Abgrenzung der Wirkungsbereiche von Parlament und Exekutive524. Ausgangssituation ist, daß die Exekutive der Ermächtigung durch ein Gesetz bedarf, wenn sie einen Eingriff in Freiheit und Eigentum des einzelnen bewirken möchte525. Der Erlaß eines den einzelnen belastenden Verwaltungsaktes ist also nur aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung zulässig. Nach Art. 20 Abs. 3 GG bleibt doch immer noch die Möglichkeit für eine „gesetzesfreie" Tätigkeit der Verwaltung im Rahmen der ihr zugewiesenen Aufgabe, wie z.B. den einzelnen begünstigende Verwaltungstätigkeiten oder ein großer Teil der planenden, vorbereitenden Tätigkeiten. Nicht nur das Parlament, sondern auch die Exekutive verfügt unter der Geltung des Grundgesetzes sowohl über eine eigenständige demokratische Legitimation526 wie auch über einen eigenen „Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung"527; sie ist nicht einem „aus dem Demokratieprinzip falschlich abgeleiteten Gewaltenmonismus in Form eines allumfassenden Parlamentsvorbehaltes"528 untergeordnet. Ein totaler Gesetzesvorbehalt widerspricht deswegen der gewaltenteilenden Demokratie des Grundgesetzes und ist nicht begründbar529. Führt der Bedeutungsgehalt der Bindungsformel in Art. 20a GG auf Art. 20 Abs. 3 GG zurück, bedeutet dies dann unter dem Aspekt des Vorbehalts des Gesetzes zuerst, daß die Exekutive als Adressat der Umweltschutzverpflichtung keineswegs von der rechtsstaatlichen Anforderung des Eingriffsvorbehaltes befreit wird. Das heißt: Die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung aus dem Art. 20a liefert keine immittelbare Eingriffsermächtigung im Sinne des Gesetzesvorbehalts für die Exekutive; sie schafft auch keine unmittelbaren Interventionsmöglichkeiten zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
524
Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, § 62, Rn. 7. Vgl. Badura, Staatsrecht, G 8; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, §62, Rn. 16. Dieser mit der „Freiheit und Eigentum"-Formel verbundene Gesetzesvorbehalt wird traditionell auch als Eingriffsvorbehalt bezeichnet. Im Vergleich zu den speziellen geschriebenen Gesetzesvorbehalten des Grundgesetzes, insbesondere den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten (z. B. Art. 4 Abs. 3 GG) und institutionellen Gesetzesvorbehalten (z. B. Art. 87 Abs. 1 GG), wird er auch als ungeschriebener, allgemeiner Gesetzesvorbehalt angesehen; Vgl. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΙΠ, §62, Rn. 25. Obwohl zwischen den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten und dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt theoretisch zu unterscheiden ist, fallen sie nahezu zusammen, denn die Rechtssphäre des Bürgers wird heute fast überall grundrechtlich erfaßt und abgeschirmt, besonders im Licht der Entwicklung der Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG. 525
526 527 528 529
Vgl. BVerJGE 49,89 (126). BVerJGE 67,100 (139); 68,1 (87). BVerJGE 49,89 (125); 68,1 (87). Vgl. Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR ΠΙ, § 62, Rn. 18 ff.
172
2. Teil: Unmittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
außerhalb der geltenden Gesetzgebung"530. Dort, wo Eingriffe in Freiheit und Eigentum des einzelnen in der Erfüllung der exekutiven Schutzverpflichtung unerläßlich sind, bedarf die vollziehende Gewalt dafür also stets einer gesetzlichen Grundlage. Der Gesetzesvorbehaltsgedanke bei der Umweltschutzverpflichtung kann allerdings wie bei Art. 20 Abs. 3 GG nicht so weit getrieben werden, daß sich alle Entscheidungen und Regelungen in allen Details vom Gesetzgeber ableiten müssen, und nur einen Gesetzesvollzug von der Exekutive erwartet wird Die neu ins Grundgesetz aufgenommene Umweltschutzklausel soll keine vorhandene Kompetenzzuordnung der vollziehenden Gewalt wegnehmen. Insofern, als die Exekutive ohne derartige Staatszielbestimmung schon aus eigenen verfassungsrechtlichen Kompetenzen und Zugriffsbefugnissen zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen tätig werden darf, soll dies auch nicht durch die zugunsten des Umweltschutzes vorgenommene Verfassungsergänzgung geändert werden531. Das könnte zur Folge haben, daß die Exekutive, konkreter genommen die Verwaltung, beim Schweigen des Gesetzes zum Handeln aufgerufen ist, soweit dies ohne Eingriffe in Rechte Dritter möglich ist532. C. Zur Erßllung der exekutivischen Schutzverpflichtung 1. Sekundäre Adressatenstellung zur Umweltschutzverpflichtung Nicht nur wegen des Bindungsmaßstabs im Zeichen des Vorrangs und insbesondere des weitreichenden Vorbehaltes des Gesetzes, sondern vor allem wegen der gesetzlichen Konkretisierungsbedürftigkeit der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung 533 bleibt der vollziehenden Gewalt nur eine sekundäre Stellung in der Erfüllung der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung. Das Aktivieren der exekutiven Schutzverpflichtung setzt danach stets eine gesetzliche Grundlage voraus; sie ist nämlich gesetzesakzessorisch. Nicht zu verwechseln ist jedoch, daß die Umweltschutzklausel auf Grund der oben
530
Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 162. Damit ist aber überhaupt nicht gemeint, daß die Exekutive auch insoweit verfassungsrechtlich „verpflichtet" ist. Die Reichweite, in der die Exekutive unter dem Gebot des Gesetzesvorbehaltes tätig werden darf, und die Reichweite, in der die Exekutive durch die verfassungsrechtliche Umweltschutzklausel zum Tätigwerden verpflichtet wird, sind nicht deckungsgleich. 532 Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 162. Dies bedeutet aber keineswegs schon eine verfassungsrechtliche Pflicht der Verwaltung im Sinne der positiven Justitiabilität. Daß sich die vollziehende Gewalt ohne ausdrückliche Gesetzesentscheidung betätigen kann, heißt nicht schon unbedingt, daß sie auch dazu verpflichtet ist. In diesem Sinne läßt sich durchaus von der sekundären Adressatenstellung der Umweltschutzaufgabe sprechen. 5 Siehe oben in diesem Kapitel . 531
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
173
beschriebenen Bindungsmaßstäbe keine unmittelbare Bindungswirkung fur die Exekutive verliert 534. Anders wäre die Umweltschutzklausel zu einem Gesetzgebungsauftrag degradiert, wenn keine unmittelbare Bindungswirkung für die Exektive erzeugt würde.
2. Die Erfüllung der exekutiven Schutzpflicht Die Erfüllung der exekutiven Schutzverpflichtung kann sich in der Regel weitgehend in der Anwendung der Gesetze realisieren. Der Versuch einer unmittelbaren Verbindung der exekutiven Umweltschutzhandlungen mit Art. 20a GG könnte nur dort von praktischer Bedeutung sein, wo der Gesetzgeber verfassungsmäßig - keine ausreichenden bzw. präzisen Regelungen im konkreten Fall zur Verfügung gestellt hat und der Exekutive ein eigener Raum der Entscheidung verbleibt. Dies könnte vor allem dort der Fall sein, wo der Verwaltung innerhalb generalklauselartiger Rechtssätze oder bei einem unbestimmten Gesetzesbegriff vom Gesetzgeber ein selbständiger Beurteilungs- und Ermessensspielraum eingeräumt ist535. Unter diesem Aspekt gilt die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung als Ermessensrichtlinie oder Auslegungskriterium für die Exekutive: Die Belange des Umweltschutzes sind danach bei der Auslegung und Konkretisierung solcher unbestimmten Gesetzesbegriffe, der Ausübung von Ermessen und der Ausführung planerischer Entscheidungsspielräume oder der Abwägung z.B. zwischen verschiedenen Planungszielen, zu berücksichtigen536. Nur insofern sieht sie sich unmittelbar - also ohne Vermittlung durch ein Gesetz, aber vom Gesetz - mit der verfassungrechtlichen Umweltschutzforderung konfrontiert. Diese Art Umweltschutzverpflichtung ist um so bedeutungsvoller, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Umweltschutzgesetze wegen der Komplexität und Vernetztheit der Umweltproblematik in zunehmendem Maß eine finale Struktur aufweisen. Sie beschränken sich in ihrer Aussage auf die Vorgabe von Schranken und Zielen. Unter diesem Umstand muß der Gesetzgeber der Verwaltung in der umweltschützenden Gesetzgebung notgedrungenerweise weitreichende Gestaltungsspielräume überlassen. Bei der Ausfüllung solcher Spielräume muß die Exekutive also den Umweltschutzbelangen von Verfassungs wegen gerecht werden. Eine Nichtberücksichtigung dergestalt, daß Umweltbelange, soweit entscheidungserheblich, überhaupt nicht in erforderliche Abwägungsprozesse eingebunden oder aber faktisch wie rechtlich
534
So auch Sommermann, DVB1.1991,34 (35). Dagegen aber wohl Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 7. 535
Stern, Staatsrecht, m/1, S. 1352 ff. Vgl. Benda, UPR 1982, 241 (245); Steiger, Mensch und Umwelt, S. 59 f., 67 ff; Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 162. 536
174
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
unterbewertet werden, könnte zu einem Ermessensfehler und daher zu Rechtswidrigkeit fuhren, und zwar auch dann, wenn sich aus der unterverfassungsrechtlichen Norm selbst kein auf Umweltbelange bezogener ermessensleitender Gesichtspunkt entwickeln läßt537.
IV. Die judikative Schutzverpflichtung Nach Art. 20a GG ist die rechtsprechende Gewalt ebenfalls als Adressat zur Erfüllung der Umweltschutzaufgabe verpflichtet. Diese judikative Schutzverpflichtung vollzieht sich wie die exekutive Schutzverpflichtung auch nur „nach Maßgabe von Gesetz und Recht"; d.h. sie setzt die vorangegangenen politischen Entscheidungen voraus. Wie oben schon erwähnt, hat die Umweltschutzklausel, die nur darüber bestimmt, daß der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen schützen soll, eben verfassungsrechtlich nicht vorentschieden, wie und in welchem Maße sie zu schützen ist; diese Entscheidung zu treffen, kann in einem rechtsstaatlich-demokratischen Staat nicht Sache des Richters sein538. Immerhin ist Aufgabe der Rechtsprechung nach der Funktionenordnung des Grundgesetzes, das Handeln der übrigen Staatsorgane auf seine Gesetz- und Rechtmäßigkeit zu kontrollieren539, nicht aber selbst staatliches Handeln zu bestimmen. Ihre Entscheidungsbefugnis beginnt dann erst dort, wo die Gestaltungsspielräume der übrigen Staatsorgane enden540. In bezug auf das Sozialstaatsprinzip hat das Bundesverfassungsgericht541 von Anbeginn betont, daß der Sozialstaatsgrundsatz für sich allein Gebote und Verbote, Rechte und Pflichten grundsätzlich nicht hervorzubringen vermag, daß es Sache des Gesetzgebers ist, das Sozialstaatsgebot konkret auszugestalten und zu verwirklichen. Infolge der Weite und Unbestimmtheit des grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzips enthält dieses regelmäßig weder unmittelbare Handlungsanweisungen noch Grundrechte beschränkende Kraft, die durch die Gerichte ohne nähere gesetzliche Konkretisierung in einfaches Recht umgesetzt werden könnte. Hinsichtlich der Umweltschutzverpflichtung soll gleiches gelten. Demnach wird die rechtsprechende Gewalt dieser Aufgabe in erster Linie durch Anwendung des umweltschützenden einfachen Rechts gerecht. In der Regel hat sie im Einzelfall die vom Gesetzgeber und ggf. von der Verwaltung in
537
V. Mutius, WiVerw 1987, 51 (65). Vgl. z.B. v. Mutius, WiVerw 1987,51 (65f),Murswiek, ZRP, 1988,14 (17). 539 Badura, Bundestage-Anhörung, S. 149 f.; Hesse, FS Huber, S. 266; vgl. auch BVerJGE 49,89 (136); 61,82 (114 f.) m.w.N. 538
540 541
Stern, Staatsrecht Π, §44 Π 2 b). BVerJGE 1,97 (100); 5, 85 (198); 65, 182 (193).
5. Kap. : Zur Erfüllung der Umweltschutzverpflichtung
175
abstracto gefundene Kollisionslösung zu konkretisieren und dabei den Konflikt der betroffenen Rechtsgüter im Rahmen der ihr zustehenden Auslegungs- und Abwägungsfreiheit, insbesondere in bezug auf Generalklauseln, möglich schonend zum Ausgleich zu bringen542, ohne daß es eines unmittelbaren Rückgriffs auf die verfassungsrechtliche Umweltschutzklausel bedürfte 543. Darüber hinaus sollen die Gerichte auch bei der Auslegung die Grundrechte sowie die übrigen Gesetze, die nicht primär dem Umweltschutz dienen, das verfassungsrechtliche Umweltschutzgebot berücksichtigen544. Die Umweltschutzklausel wirkt also grundsätzlich als eine „Auslegungsrichtlinie " für die rechtsprechende Gewalt. Die bindende Wirkung der Umweltschutzklausel für die Rechtsprechimg kommt gerade dort deutlich zutage, wo ohnehin Ermessen bzw. Abwägungen vorgenommen werden müssen. Dabei erinnert sie das Gericht daran, daß der Umweltschutz ein Anliegen des Gemeinwohls ist, das aufgrund seiner Hervorhebung im Grundgesetz besonderes Gewicht besitzt545. Insbesondere könnte damit die verwaltungsgerichtliche Kontrolle bei der Überprüfung von planerischen Entscheidungen und Ermessensentscheidungen der Verwaltung verstärkt werden. Die judikative Umweltschutzverpflichtung und -aufgabe ist daher ausnahmslos eine sekundäre Pflicht: Die Rechtsprechung genießt einerseits keine politische Gestaltungsfreiheit; ihr wird aber auch keme verfassungsrechtlich einforderbare Umweltschutzpflicht vor der Legislative und Exekutive auferlegt. Diese Feststellung ist um so bedeutender, wenn man sich darauf hinweist, daß in der Diskussion über die Aufnahme einer Staatszielbestimmung zum Umweltschutz ins Grundgesetz vielfach die Befürchtung geäußert wurde, eine solche Verfassungsnorm könne zu einer Gewichtsverlagerung von der Legislative auf die Judikative führen546. Dem entgegenzuwirken, muß dann diese gesetzesakzessorische Adressatenstellung der rechtsprechenden Gewalt möglichst gewahrt werden. Auch wenn ein Gericht im Streitfall zu der Auffassung gelangt, daß das entscheidungserhebliche Gesetz im Lichte des Art. 20a GG mangelhaft ist oder daß ein für einen bestimmten Sachverhalt gemäß Art. 20a GG notwendiges Gesetz
542
Bedenklich wäre, daß über eine solche Generalklausel dem Normgeber die Entscheidung über den Konkretisierungsgrad aus der Hand genommen wird. Badura, Bundestags-Anhörung, S. 10. 543 Im Analog zu grundrechtlicher Schutzpflicht vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 271. 544 Vgl. nur Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 163. 545 Murswiek, ZRP 1988,14 (17, Fn. 30). 546 Depenheuer, DVB1. 1987,809 (814); Stern, NWVB11988,1 (7); Rauschning, DÖV 1986, 489 (495); ders., Bundestags-Anhörung, S. 218 f.; Rupp, DVB1. 1985, 990 (991); RandeIzhofer, Bundestags-Anhörung, S. 209.
176
. Teil:
ittelbare Gewährleistung des Umweltschutzes
fehlt, dürfte das Gericht nicht schon an die Stelle des Gesetzgebers treten 547. Das Gericht sollte vielmehr nach Art. 100 Abs. 1 GG verfahren mit der Begründung, daß ein verfassungswidriges Unterlassen des Gesetzgebers vorläge. Schließlich ist allein das Bundesverfassungsgericht in der Lage, durch Richterspruch die Nichterfüllung oder mangelhafte Erfüllung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung durch den Gesetzgeber zu tadeln. Eine judikative Ergänzung des einfachen Rechts anhand der verfassungsrechtlichen Umweltschutzklausel, oder sogar eine Verdrängung einfachen Rechts durch eine unmittelbare Heranziehung und Anwendimg dieser Umweltschutzklausel wären dann mit den verfassungskonformen Auslegungen der Umweltschutzklausel nicht vereinbar. Im Ergebnis fordert also die Umweltschutzklausel auch einen „judicial selfrestraint " der rechtsprechenden Gewalt 548 , wenn dabei auch nicht zu leugnen ist, daß eine derartige Forderung eher im Feldrichterlichen Ethos liegt, in dem sie sich rein subjektiv, ohne greifbaren Maßstab und folglich ohne Objektivierbarkeit erweist 549.
547
In diesem Zusammenhang ist der heftig umstrittene Gentechnik-Beschluß des VGH Kassel vom 6.11.1989 (NJW 1990,336) ein negatives Beispiel. Der VGH Kassel hat nämlich die Zulässigkeit gentechnischer Anlagen von einem Genehmigungsgesetz abhängig gemacht, das damals im konkret zu entscheidenen Fall fehlte. Darüber hinaus hat das Gericht den Umgang mit der Technologie ohne ein entsprechendes Genehmigungsgesetz verboten. Es hat - mit anderen Worten - ein Verbot für die Grundrechtsausübung (das Betreiben der gentechnischen Anlagen) dann angenommen, wenn ein für einen bestimmten Sachverhalt erforderliches Gesetz nicht erlassen worden war. Mit diesem Verbot wird faktisch eine über den Einzelfall hinausgehende Entscheidung durch Gerichte getroffen, bevor der Gesetzgeber die relevante Regelung erläßt. Mit einer derartigen Entscheidung verkehrt das Gericht nicht nur das Gewaltenteilungsprinzip, sondern es verkennt auch das Wesen der staatlichen Schutzpflicht. Die aus den Grundrechten abgeleitete Schutzpflicht beinhaltet keinen konkreten Hinweis für die staatliche Tätigkeit, es ist ausschließlich die Aufgabe des Gesetzgebers, die Art und Weise sowie den Zeitpunkt der Aufgabenerfüllung zu entscheiden. Das Gericht durfte nicht selbst die Erfüllungsmöglichkeit der Schutzpflicht auf das schlichte Verbot reduzieren. Zu Recht ist dieser Beschluß in der Literatur überwiegend als unhaltbar bewertet worden. Dazu vgl. nur Kloepfer, in: FS Lerche, S. 755 ff.; Preu, JZ 1991,265 (265 ff.); Scholz, in: FS Sendler, S. 93 ff. (96 ff.); Sendler, NVwZ 1990,231 (231 ff.); WahVMasing, JZ 1990,553 (553 ff.). 548 Zum judicial self-restraint vgl. BVerJGE 36,1 (14f.); auch Kriele, NJW 1976, III ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §110 ; Rn. 4, 62; Wahl, Der Staat 1981,485 (504 f.). 549 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznorm, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 159 ff. (192).
Dritter Teil
Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im Grundgesetz und staatliche Schutzverpflichtung Daß der Umweltschutzgedanke auch ohne eine ausdrückliche Verankerung unter bestimmten Aspekten, zumindest hinsichtlich des Schutzes der auf die natürliche Umgebung bezogenen Interessen des Menschen, bereits implizierte Gestalt in der Verfassung findet, darüber besteht wohl kein Zweifer. Im Rahmen der Grundrechtsgewährleistungen und Strukturprinzipien des Grundgesetzes sind nämlich (Teil-)Ausprägungen des Umweltschutzgehaltes zu erkennen, die für die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates zum Umweltschutz Konsequenzen ziehen lassen. Mit der Aufnahme einer Umweltschutzklausel ins Grundgesetz werden solche, für die staatlichen Umweltschutzpflichten relevanten Verfassungsbestimmungen auch nicht an Bedeutung verlieren. Der Begriff des Umweltschutzes, der zutreffend als „Bündelbegriff' für unterschiedliche Unterbegriffe und Belange im Umweltbereich bezeichnet wird, läßt ohnehin verschiedene Betrachtungs- und Gestaltungsweisen zu. Es stellt sich demnach eher die Frage nach dem Sinnzusammenhang und der Abgrenzung der Anwendungsbereiche. Sämtliche verschiedenen Gewährleistungs- und Schutzperspektiven der auf Umweltschutzgedanken bezogenen Verfassungsbestimmungen, seien sie ausdrücklich als Umweltschutzklausel konzipiert oder als mittelbare Umweltschutzbedeutung abgeleitet, schließen sich vielmehr zu einem Gesamtbild der Verfassimg über den Umweltschutz zusammen.
Vgl. etwa Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 131 ff; H. H. Klein, DVB1. 1991, 729 (731); Kloepfer, DVB1. 1988, 305 (310); Michel, Staatszwecke, S. 152 ff ; Murswiek, ZRP 1988,14 (15 f.); Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (179 ff); Rupp, DVB1. 1985,990 ff. (990). 12 Tsai
178
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
Sechstes Kapitel
Das Sozialstaatsprinzip und Umweltschutz L Sozialstaatliche Gestaltungspflicht Die in Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG verortete Sozialstaatsklausel gilt heute kaum noch umstritten als eine unmittelbar geltende und damit alle Staatsgewalten bindende Verfassungsnorm1. Mehr als die übrigen Staatsstrukturprinzipen, wie etwa das Rechtsstaatsprinzip, die Demokratie und das Bundesstaatsprinzip, die einen vorzugsweise formellen, verfahrensmäßigen Charakter haben, enthält das Sozialstaatsprinzip eine materielle inhaltliche Dimension2: aus ihm ist nämlich die inhaltliche Zielangabe für die staatlichen Tätigkeiten zu entnehmen, auch wenn eine derartige Zielangabe nur sehr weit und pauschal zu erfassen ist. Es besteht daher Einigkeit darüber, daß das Sozialstaatsprinzip dieser Eigenschaft nach als „Staatszielbestimmung" zu interpretieren ist3. Demzufolge läßt sich einerseits die Befugnis des Staates zur Sozialgestaltung begründen4; anderseits ist der Staat auch zielmäßig verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität verpflichtet5.
1
In den funfeiger Jahren wurde eine Debatte über die Rechtsnatur der Sozialstaatsklausel geführt. Vor allem vertrat Forsthoff die Meinung, daß die Formel sozialer Rechtsstaat kein Rechtsbegriff, sondern nur ein „substanzloser BlankettbegrifF sei, in: WDStRL 12 (1954), S. 26 ff. Dazu eine ausführliche Darstellung der wissenschaftlichen Diskussion bei Noack, Sozialstaatsklauseln und juristische Methode, S. 131 ff.; Stern, Staatsrecht I 2 , S. 886 ff. 2
Verwendet von Stern, Staatsrecht I 2 , S. 887. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, S. 16 ff. (21); Scheuner, Staatszielbestimmungen, 1972, 325 (328ff.); Badura, Staatsrecht, D 35 und 43; ders., DÖV 1989,491 (493);Maunz/Zippelius, Staatsrecht, S. 99. 4 BSGH 15,1 (8); Ipsen, Über das Grundgesetz, S. 10 f.; Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 189 f.; Hesse, Grundzüge, Rn. 213. 5 BVerJGE 1,97 (105); 43,213 (226); Badura, Verwaltungsrecht im liberalen und im sozialen Rechtsstaat, 1966, S. 446; Stern, Staatsrecht I 2 , S. 915; Bieback, EuGRZ 1985,657 (658). Das Bundesverfassungsgericht und auch der Bayerische Verfassungsgerichtshof sprechen von einer „staatlichen Sozialpflicht", BVerJGE 9,124 (131), BayVerJGHE 15 Π 59 (65); so auch Ridder, Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, S. 44 ff.; und Stein, Staatsrecht, S. 230 ff. 3
6. Kap.: Das Sozialstaatsprinzip und Umweltschutz
179
IL Der Inhalt des Sozialstaatsprinzips Mit dem vagen, schlichten Prädikat „sozial" in Art. 20 Abs. 1 und 28 Abs. 1 GG ist es jedoch höchst schwierig, den Inhalt des Sozialstaatsprinzips und den Umfang des verpflichtenden Sozialstaatsauftrags zu bestimmen. Dies ist aber die unausweichliche Aufgabe der Verfassungsinterpretation. Die Interpretation des Begriffs „sozial" kann wegen seiner relativ neuen Erscheinung schwerlich an die rechtsgeschichtliche Entwicklung ansetzen. Angesichts der immanenten Vieldeutigkeit des Begriffs „sozial" ist eine isoliert grammatische Auslegung auch wenig ergiebig. Vor allem ist es nicht vertretbar, den Wortlaut „sozial" mit „gesellschaftlich" und „gesellschaftsbezogen" zu übersetzen6. Sonst würden alle gesellschaftlichen Gegebenheiten von der Sozialstaatsklausel aufgefangen, und schließlich würde ihre normative Aussagekraft und Bindungskraft erheblich geschwächt7. Die herrschende Meinung in der Literatur und auch in der Rechtsprechung geht daher davon aus, die Fassung und Auslegung des Sozialstaatsgehalts im Zusammenhang der historisch-konkreten politischen Sozialbewegung zu verstehen8. Von seiner historischen Entwicklung her betrachtet, reagiert das Sozialstaatsgebot vornehmlich auf den ökonomisch-sozialen Strukturwandel in den Industriegesellschaften. Mit der Abkehr vom bürgerlichen Rechtsstaat, der ausschließlich „formelle" Freiheit und Rechtsgleichheit vor Augen hielt, hat der Sozialstaat nämlich versucht, durch planende, leistende und verteilende Tätigkeiten eine Relativierung sozialer Spannungen und sozialer Ungleichheit und eine Gewährleistung der „realen" Freiheit und Gleichheit für jedermann zu erstreben9. Es ist vor allem den Lebensrisiken entgegenzuwirken, insbesondere denen wirtschaftlicher Natur 10. Das Geforderte ist grundsätzlich unter „sozialer Sicherheit" und „sozialer Gerechtigkeit" zu verstehen. Danach zielt ein Sozialstaat einerseits darauf, den Schwächeren in der Gesellschaft zu helfen, um ein menschenwürdiges Existenzminimum für jedermann zu schaffen. Anderseits zählt es auch zu der Aufgabe des Sozialstaates zu versuchen, die Teilhabe an wirtschaftlichen Gütern nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit für jedermann
6
Vgl. Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 25, Rn. 20. So Stern, Staatsrecht I 2 , S. 909 f. Für eine restriktive Auslegung des Sozialstaatsprinzips auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 GG, Vm, Rn. 18 ff. 7
8
Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 25, Rn. 21. Böckenförde, Die Bedeutung der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft im demokratischen Sozialstaat der Gegenwart, 1972, S. 234 ff. 10 Vgl. nur Bieback, EuGRZ 1985,657 (658 ff.). 9
12*
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3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
zu bewirken11. Aus diesem Sozialstaatsziel erwachsen daher sozialstaatliche Staatsaufgaben, die in erster Linie vom Gesetzgeber zu konkretisieren und zu erfüllen sind. III. Begrundbarkeit einer Umweltschutzverpflichtung des Staates aus dem Sozialstaatsprinzip Daran anknüpfend ist daher zufragen, ob diese sozialstaatliche Verpflichtung auch die hier interessierende Umweltschutzaufgabe einschließt. Aufgrund des Mangels einer ausdrücklichen Verfassungsbestimmung zum Umweltschutz wurde in der Literatur gelegentlich auch die Auffassung vertreten, daß anhand der Sozialstaatsklausel eine umweltschützende Verpflichtung des Staates abzuleiten sei12. Auf jeden Fall gelte die Sozialstaatsklausel als Rechtfertigung (Ermächtigung) für staatliche umweltschützende Aktivitäten13. Die heutige Umweltzerstörung und Ressourcenerschöpfung ist zwar überwiegend das Ergebnis eines Wirtschaftsprozesses. Dies mag mit dem Sozialstaatsprinzip den gleichen Ursprung teilen. Nicht zu verkennen ist jedoch, daß es bei dem Umweltproblem nicht, wie bei der sozialen Frage, um eine mit der wirtschaftlichen Entwicklung in der Industriegesellschaft einhergehende soziale Ungerechtigkeit zwischen gesellschaftlichen Mitgliedern geht. Vielmehr können alle Menschen gleichermaßen und zur gleichen Zeit von der Bedrohung der Umweltschäden oder von deren Beeinträchtigung betroffen werden. Der Kerngedanke des Sozialstaatsprinzips, durch staatliche Intervention die sozialen Gegensätze abzugleichen und eine gerechte Sozialordnung herzustellen14, findet beim Umweltschutz offensichtlich keinen Platz. Das Sozialstaatsprinzip thematisiert die Minima der sozialen Gerechtigkeit, also der Rechtsgüterverteilung zwischen den Menschen, nicht aber das Verhältnis des einzelnen zu elementaren Naturbedingungen der physischen Existenz15. Darüber hinaus zielt der Sozialstaatsaufbrag auf eine Verbesserung der sozialen Positionen des einzelnen durch die staatliche Hilfestellung. Das Umweltschutzgebot erfordert dagegen die staatliche Zur-Sicherheit-bringende Abwehr der Umweltgefährdungen, die die 11
Zacher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 25, Rn. 21; Badura, DÖV 1989,491
(483). 12
Strecket, Umweltschutz und sozialer Rechtsstaat, in: Rehbinder (Hrsg.), Recht im sozialen Rechtsstaat, 1973,329 (333 ff.); Soell, NuR 1985,205 (211 f.); ablehnend Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (185). 13
Bull, Staatsaufgaben, S. 224; Kloepfer, DVB1. 1988,305 (307 ff.); Steiger, ZRP 1971, 133 (133). 14 Vgl. BVerJGE 22,180(204). 15 Vgl. nur Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, S. 222.
7. Kap.: Die Kompetenzvorschriften und Umweltschutz
181
Menschheit, einschließlich der kommenden Generationen, in ihrem Leben und ihrer Gesundheit insgesamt betreffen können. Nicht abzustreiten ist aber auch, daß das Sozialstaatgebot und das Umweltschutzgebot sich zum Teil überschneiden können. Die Bereitstellung gesundheitlich unbedenklichen Trinkwassers beispielsweise begründet sich einerseits mit der Daseinsvorsorgepflicht des Staates, andererseits wird sie auch als eine Ausprägung des Umweltschutzgebots angesehen. Es kann damit aber nicht gesagt werden, daß das Umweltschutzgebot ein Spezifikum des Sozialstaatsgebots darstellt. Es sind vielmehr zwei in sich unabhängige Staatsaufgabentypen in der Verfassung. Es ist daher davon abzuraten, den Umweltschutzgedanken in das Sozialstaatsgebot einzuordnen16. Es bleibt festzuhalten, daß eine Berufung auf das Sozialstaatsprinzip zur Begründimg einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zu umfassendem Umweltschutz erfolglos bleibt.
Siebtes Kapitel
Die bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften und Umweltschutz Die Elemente der natürlichen Umwelt lassen sich als Gegenstände einiger bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften erkennen: Die Kompetenzzuweisungen im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung auf den Gebieten Landwirtschaft (Art. 74 Nr. 17 GG) und Pflanzenschutz, Tierschutz (Art. 74 Nr. 20 GG), die AbMbeseitigung, die Luftreinhaltung und die Lärmbekämpfung (Art. 74 Nr. 24 GG) sowie im Bereich der Rahmengesetzgebung für die Gebiete Jagdwesen, Naturschutz und Landschaftspflege (Art. 75 Nr. 3 GG) und Bodenverteüung, Rahmenordnung, Wasserhaushalt (Art. 74 Nr. 4 GG) bieten nämlich gegenständliche Anknüpfungspunkte für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen. Insoweit kann ein sachlicher Zusammenhang zwischen Umweltschutzforderung und Kompetenzvorschriften gesehen werden. Solche materialen Vorgaben in den Kompetenzenvorschriften, wie oben schon dargestellt wurde17, könnten aber höchstens als Implizierung der Themen der möglicherweise vom Staat wahrzunehmenden Staatsaufgaben angesehen wer-
16
Im Schrifttum wird übrigens vertreten, daß den durch Naturkräfte verursachten Gefahren für verfassungsrechtlich geschützte Güter im Rahmen der Sozialstaatsverpflichtung vom Staat entgegenzuwirken seien. Dazu vgl. Dietlein, Die Lehre von grundrechtlichen Schutzpflichten, S.104. 17 Siehe oben in 1. Kapitel Π Β 3.
182
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
den; daraus lassen sich keine verfassungsrechtlich verpflichtenden Staatsaufgaben zum Umweltschutz entnehmen. Achtes Kapitel
Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz I. Standort der natürlichen Umwelt im Rahmen der Grundrechtsbestimmungen Wendet man nun die verfassungsrechtliche Umweltschutzfrage an die Grundrechtsbestimmungen an, so ist zuerst die Position der natürlichen Umwelt dabei zu bestimmen, bevor die Frage erörtert wird, wieweit der Umweltschutz von Grundrechten gewährleistet wird und wieweit den Grundrechten eine Umweltschutzverpflichtung des Staates zu entnehmen ist. Dabei kommen zwei mögliche Einordnungsweisen der natürlichen Umwelt in die Grundrechtsbestimmungen in Betracht: Zum einen stellt sich die Frage, ob die natürliche Umwelt mittels Verfassungsinterpretation irgendwo bereits als grundrechtliches Schutzgut thematisiert wird. Zum anderen könnte die natürliche Umwelt von den grundrechtlich geschützten Freiheiten her betrachtet werden.
A. Umweltschutz als grundrechtliches Thema: Das Grundrecht auf Umweltschutz? Auf den bestehenden Grundrechtskatalog des Grundgesetzes bezogen läßt sich zuerst erfragen, ob die natürliche Umwelt als solche bereits als grundrechtliches Schutzgut de constitutione lata ableitbar ist. Ein solches Grundrecht auf Umwelt aus den Grundrechtsgewährleistungen - meistens aus Art. 2 Abs. 2 i. V.m. Art. 1 Abs. 1 GG18, aber auch aus Art. 2 Abs. 1 GG19, gelegentlich in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip20 herangezogen - herauszufinden, wurde in den 70er Jahren im Schrifttum vereinzelt versucht. Zu Recht hat die Rechtsprechung21 und die überwiegende Meinung im Schrifttum22 diese Ansicht nicht geteilt. Es zeigt sich erstens, daß ein Grundrecht auf
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Etwa Lücke, DÖV 1976,289 (290). Rupp, JZ 1971,401 (402). Vgl. W. Weber, DVB1. 1971,406. BVerJGE 54,211 (219).
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
183
Umwelt die natürlichen Elemente als solche, etwa die Umweltmedien, Klima, Pflanzen und Tiere etc., zum Schutzgut des subjektiven Grundrechts machen würde. Was aber bei diesem Schutzgut gewährleistet werden soll, darüber herrschen nur vage und diffuse Vorstellungen23. Diese würden im Einzelfall zu der Schwierigkeit führen, zu entscheiden, ob das Grundrecht verletzt ist24. Übrigens ist ein derartiges Umweltgrundrecht wegen seiner Unschärfe zwangsläufig auf den Vollzug durch den Gesetzgeber angewiesen. Dies bedeutet vor allen Dingen Schwierigkeiten bei der Justitiabilität, die gegenüber den übrigen Grundrechten notwendig eingeschränkt wäre25. Am Ende bewirkte ein derartiges Umweltgrundrecht wohl nichts anderes als ein soziales Grundrecht. Dies paßte aber wiederum nicht in das System der auf Individualschutz ausgerichteten Freiheitsgarantien des Grundgesetzes. Damit läßt sich feststellen, daß kein Grundrecht auf Umwelt bzw. den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen aus den bestehenden Grundrechtsgewährleistungen abzuleiten ist. Die Bedeutung der Grundrechtsbestimmungen für den Umweltschutz kann daher nur auf einem Umweg dort erlangt werden, wo auf den Umweltschutz bezogene Gefahrdungslagen - nicht aber die Umwelt als solche - von den Grundrechtsgewährleistungen abgedeckt werden.
B. Grundrechtliche
Schutzgüter als thematische Bezugsgröße
Die natürliche Umwelt kann zwar nach dem geltenden Grundgesetz nicht unmittelbar als grundrechtliches Schutzgut konzipiert werden, es ist aber in erster Linie denkbar, die Bedeutung der natürlichen Umwelt in den Grundrechtsbestimmungen von der Gefährdungsquelle für die grundrechtlichen Schutzgüter her zu erfassen. Auf diese Weise tritt der Umweltschutz eher in den Hintergrund; im Argumentationsvordergrund steht beherrschend der grundrechtliche Freiheits-
22 Vgl. Badura, Staatsrecht, C 36; Breuer, in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 391 ff. (407); Dirnberger, Recht aufNaturgenuß und Eingriffsregelung, S. 261; Hofmann , Rechtsfragen, S. 304; Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, 27 ff. m. w. N.; ders., DVB1. 1988, 305 (314 f.); Murswiek, ZRP 1988, 14 ff.; Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (177); Soell, NuR 1985,205 ff. 23 Die verschiedenen Formulierungen eines solchen Grundrechts, z.B. „Grundrecht auf unschädliche Umwelt" (Rupp, JZ 1971,401,402; W. Weber, DVB1. 1971, 806); „Grundrecht auf angemessene Umweif 4 (Rehbinder, JZ 1973,712); „Grundrecht auf menschenwürdige Umwelt"' (H.H. Klein, in: FS W Weber, 1974, S. 643) deuten bereits diese Unsicherheit an. 24
Vgl. Dimberger, Recht aufNaturgenuß und Eingriffsregelung, S. 262. Vgl. Dirnberger, Recht aufNaturgenuß und Eingriffsregelung, S. 262; Rauschning, WDStRL 38 (1980), S. 167ff. (178); Soell, NuR 1985,205 (209 f.). 25
184
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
schütz26. Mit anderen Worten, könnte das Ziel des Umweltschutzes mittels des Schutzes der grundrechtlichen Schutzgüter teilweise erreicht werden. Der Bezugspunkt der Grundrechtsgewährleistungen für die Umweltschutzbedürfnisse ergibt sich daraus, daß durch die natürliche Umwelt vermittelte Gefährdungen oder Beeinträchtigungen auf die grundrechtlichen Schutzgüter einwirken, und sie deshalb den grundrechtlichen Schutzbereich berühren. 1. Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) Nach überwiegender Meinung ist die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht nur ein objektives Verfassungsprinzip im Sinne eines tragenden Konstitutionsprinzips27, sondern auch ein verbindlich geltendes Grundrecht des einzelnen28. Ihr kommt zwar ein bestimmter materieller Gehalt zu, der sich aber wegen der Offenheit des Begriffs nur schwer konkretisieren läßt. Die vom Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG erfaßten Sachverhalte lassen sich mithin kaum abstrakt positiv, sondern nur über den jeweiligen konkreten Verletzungstatbestand „negativ" bestimmen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß bei neuartigen Grundsatzfragen des Verfassungsrechts, wie etwa der Gentechnik, immer wieder der Versuch unternommen wird, mittels der Menschenwürdegarantie eine verfassungsrechtliche Stellung herauszugewinnen29. Auch für die Umweltschutzproblematik wird diese Garantie in der Literatur herangezogen, um die natürliche Umwelt als Rechtsgut von Verfassungsrang zu begründen30.
26
Vgl. Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 18. BVerJGE 6,32 (36). 28 BVerJGE 61, 126 (137): „Daß Art. 1 Abs. 1 kein nachfolgendes' Grundrecht ist, schließt eine Bindung der staatlichen Gewalten an dieses oberste Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes nicht aus". Auch BADURA, Staatsrecht, C 30; Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdVerfR, 2. Aufl., § 6, Rn. 7, 8; Starck, in: Mangoldt/Klein/starck, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 17f. Dagegen wird in der Literatur auch die Auffassung vertreten, daß die Menschenwürdegarantie nur als Staatskonstitutionsnorm, nicht aber als subjektives öffentliches Recht anzusehen ist; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 13; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 164 ff.; Stein, Staatsrecht, S. 183. 29 Etwa Enders, Probleme der Gentechnologie in grundrechtsdogmatischer Sicht, in: MelinghofïïTrute (Hrsg.), Die Leistungsfähigkeit des Rechts, S. 157 ff.; ders., EuGRZ 1986, 241 (241 ff.); GraJVitzthum, JZ 1985,201 (207ff.); ders, ZRP, 1987,33 (33 ff.); GeddertSteinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S.15, m. w. N. 30 Rupp, DVB1. 1985,990 (990); Steiger, Mensch und Umwelt, S. 35 ff. 27
8. Kap. : Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
185
Der Schutz der Menschenwürde bezieht sich auf den Menschen schlechthin und nicht auf bestimmte Vorstellungen von Menschen31: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Würde zu"32. Von der Entstehungsgeschicht her betrachtet ist Art. 1 Abs. 1 GG zuerst ohne Zweifel eine Antwort des Grundgesetzgebers auf das menschenverachtende System des Nationalsozialismus33. Demnach verletzen alle Willkürakte des Staates, wie etwa Folter oder Sklaverei, die Menschenwürde. Der Gehalt der Menschenwürdegarantie wird aber nicht auf diese Funktion gegen totalitäre Verhaltensweisen beschränkt. Begreift man die Menschenwürde des einzelnen als den Zustand des Menschen, in dem der Mensch als erne „mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit'"34 und geistig-sittliches Wesen in der Lage ist, „in Freiheit und Selbstbewußtsein" sich selbst zu bestimmen und in der Umwelt auszuwirken"35, so müssen auf jeden Fall dem Menschen die Grundvoraussetzungen für seine Existenz zur Verfügung gestellt werden36. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet daher jedenfalls, daß dem Einzelnen die für ein menschenwürdiges Dasein unabweisbar notwendigen Güter zu belassen sind37. In dem Maß, in dem die natürliche Umwelt Bedingungen menschenwürdiger Existenz umfaßt, könnte die Unversehrtheit der Umwelt auch von Art. 1 Abs. 1 GG garantiert seien. In Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 GG ist die Gewährleistung der natürlichen Umwelt als Bedingung menschenwürdiger Existenz wohl auch als Gewährleistung des „ökologischen Existenzminimums" des Menschen zu bezeichnen38. Es ist daher denkbar, daß der Staat demnach verpflichtet ist, den Bürger vor Umweltbeeinträchtigungen zu schützen, um die Menschenwürde des einzelnen zu bewahren, vorausgesetzt aber, daß die Minimalgröße der ökologischen Exi-
31
Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 6, Rn. 9; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Rn. 6,7. 32 BVerJGE 39,1 (49). 33 Es ist daher nicht zu verwundern, daß das Bundesverfassungsgericht in einer frühen Entscheidung darlegte, daß Art. 1 Abs. 1 GG nicht eine Pflicht des Staates zum Schutz vor materieller Not meine, sondern die Menschenwürde vor Angriffen wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. schütze; BVerJGE 1,97 (104). Das Verständnis doeser Norm entsprach zunächst die Reaktion auf das erfahrene Unrecht im „Dritten Reich"; vgl. auch Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 19 ff. 34
BVerJGE 5, 85 (204).
35
BGHZ 35,1 (8); BGHZ 52,1 (2).
36
So Michel, Staatszwecke, S. 168; ähnlich auch Häberle, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR I, § 20, Rn. 74. 37 Der Staat darf z.B.das vom einzelnen selbst erzielte Einkommen, das zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird, nämlich die Existenzminimum, nicht entziehen, insbesondere nicht besteuern. Vgl. BVerJGE 82,60 (85). 38 Kloepfer, DVB1. 1988,305(310).
186
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
stenzbedingungen nicht mehr vorhanden ist oder zumindest eine ernsthafte ökologische Not zu befurchten ist und die Menschenwürde deswegen verletzt würde39. Abgesehen von einem derart extremen Fall, berühren doch die Umweltschädigungen und -gefahrdungen in der Regel nicht die Menschenwürde schlechthin40, es sei denn, der Schutzbereich der Menschenwürdegarantie wird darüber hinaus gehend so weit ausgedehnt, daß auch das seelisch-geistige Wohlbefinden bezüglich der natürlichen Umwelt auch von der Menschenwürdegarantie eingeschlossen würde. Ob eine derart weitgehende Interpretation vertretbar ist, bleibt sehr fragwürdig. Vertretbar ist daher, daß die Würde des Menschen i.S.d. Art. 1 GG nur als eine verfassungsrechtliche Notbremse im System des verfassungsrechtlichen Rechtsgüterschutzes anzusehen ist. Sie dürfte deshalb nicht bei jeder Unebenheit der Strecke herangezogen werden41. Für den Umweltschutz sollte man sich daher zuerst an die speziellen grundrechtlichen Schutzgüter wenden und nur im extremen Fall die Menschenwürdegarantie in Betracht ziehen. Der Rekurs auf die Würde des Menschen sollte der negativen Großlage, die den Fundamentalkonsens der Verfassung selbst in Frage stellt, wie etwa bei der Beurteilung der Gentechnologie oder medizinischer Manipulation bei der Zeugung von Menschen, vorbehalten bleiben42.
2. Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) a) Das Verhältnis zum Umweltschutz Ohne Zweifel stellt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG die bedeutendste Bezugsgröße zum Schutz der natürlichen Umwelt dar. Die umweltvermittelten Gefahren wie Lärm, Abgase, Strahlen, Schadstoffe in Luft, Wasser und Boden, die oft auf Umwegen zum Menschen gelangen, wirkenfrüher oder später, mehr oder weniger auf menschliches Leben und Gesundheit ein. Es wird zutreffend darauf hingewiesen, daß letztlich die
39
Vgl. Bock, Umweltschutz, S. 121 f.; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 35 f. So auch Bock, Umweltschutz, S. 123, Murswiek, WiVerw 1986,179 (ISO);MüllerBromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 158 f. 41 Graf Vitzthum, ZRP 1987,33 (36); ders., JZ 1985,201 (209). 42 Vgl. Graf Vitzthum, ZRP 1987,33 ff; ders., Rechtspolitik als Verfassungsvollzug? in: Günther/Keller (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik, S. 61 ff. (62). 40
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
187
meisten Umweltschutzaktivitäten der Sicherung und Verbesserung der menschlichen Lebensgrundlagen dienen43. Die Bedeutung der natürliche Umwelt für die in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleisteten Schutzgüter von Leben und körperlicher Unversehrtheit ist, grundrechtsdogmatisch gesehen, nur von denGefahrdungslagen her zu erfassen. Die natürliche Umwelt ist danach verfassungsrechtlich insoweit mittelbar gewährleistet und geschützt, als dies zur Sicherung der Schutzgüter von Leben und körperlicher Unversehrtheit vor umweltvermittelten Gefahren unerläßlich ist. Umweltschutz gilt insoweit als Mittel zum Schutz der Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit.
b) Sachlicher Schutzbereich Das Leben als Schutzgut ist zunächst als die biologisch-physische menschliche Existenz zu verstehen44. Es ist hauptsächlich anhand der Naturwissenschaft qualifiziert, und jegliche Differenzierung und Abstufung „nach der sozialen Wertigkeit, der Nützlichkeit, dem körperlichen Zustand oder der geistigen Verfassung"45 ist nicht zulässig46. Fraglich ist, ob das Leben im Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG über das biologische Verständnis hinaus auch eine „geistig-seelische" Komponente enthält47. Eine so weitgehende Auffassung des Rechts auf Leben ist aber nicht vertretbar. Einerseits würde damit der unterschiedliche und spezifische Gehalt verschiedener Grundrechte verschwimmen - die Grenzen des Schutzgutes von Leben mit Menschenwürde, körperlicher Unversehrtheit undfreie Entfaltung der Persönlichkeit wären dann schwer zu bestimmen48 - , andererseits spricht auch die Entstehungsgeschichte der Positivierung des Grundrechts auf Leben für einen im Gegensatz zum „Tode" stehenden Begriff des Lebens: Das Recht auf Leben ist eine Absicherung vor willkürlicher Lebensvernichtung wie in der Zeit
43
Hattenberger, Der Umweltschutz als Staatsaufgabe, S. 40. Bei den umweltschutzrelevanten Leitentscheidungen des BVerfG zur Schutzpflicht handelt es sich auch vornehmlich um die Schutzgüter Leben und körperliche Unversehrtheit, BVerJGE 49,89; 53,30; 56, 54; 77,170; 79,174. 44 Vgl. nur Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art.2 Abs.2, Rn.9. 45 Zitiert in: Lorenz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, §128, Rn. 8. 46 Vgl. BVerJGE 39,1 (36). 47
H. H. Klein weist ausdrücklich darauf hin, daß Leben „Menschenwürdiges Leben" bedete, in: FS W. Weber, 643 (651). Bejahend auch Lücke, DÖV 1976,289 (190); SchmidtAßmamm, AöR 106 (1981), 205 (209). 48
Vgl. Bock, Umweltschutz, S. 127; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 222; Steiger, Mensch und Umwelt, S. 33.
188
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
des Nationalsozialismus49 und bedeutet eher das Recht „zu leben"50. Zu dem Schutzbereich zählen danach nur die materiellen, biologisch-physischen Grundlagen der menschlichen Existenz vor lebensvernichtenden und lebensgefahrdenden Eingriffen 51. Auch der Begriff von körperlicher Unversehrtheit ist zunächst biologischphysisch zu verstehen52, diese bedeutet demnach die Gesundheit im Sinne der Negation pathologischer Zustände53. Gewährleistet von dieser Freiheit ist die körperliche Integrität oder „objektive Substanz", d.h. die Freiheit von Verletzungen der körperlichen Gesundheit54. Unklar ist aber, ob und inwieweit darüber hinaus in den Begriff der körperlichen Unversehrtheit auch das geistig-seelische und das soziale Wohlbefinden55 miteinbezogen werden kann. Sollte der Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dahingehend ausgedehnt werden können, würde dessen Gewährleistung den Schutz der natürlichen Umwelt größtenteils einschließen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Fluglärmentscheidung, die den Düsseldorfer Flughafen betraf und sich zu Verfassungsbeschwerden äußerte, die ein verfassungswidriges Unterlassen wirksamer Maßnahmen gegen den Fluglärm durch staatliche Organe rügten, zwar noch offengelassen, ob auch das psychische Wohlbefinden schlechthin unter den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG fiele; in der Entscheidung heißt es aber, daß eine enge Auslegung kaum dem Verständnis des Menschen als einer Einheit von Leib, Seele und Geist und den vielfaltigen Wechselwirkungen zwischen physischen und psychischen Gesundheitsstörungen gerecht werde. Daher müßten zumindest auch solche nichtkörperlichen Einwirkungen in den Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit fallen, die ihren Wirkungen nach körperlichen Eingriffen gleichzusetzen seien,
49
Steiger, Mensch und Umwelt, S. 33; mit Hinweis auf BVerJGE 39,1 (36) So v. Münch, in: GG-Kommentar, Bd. 1, Art. 2, Rn. 40,51; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 429. 51 „Recht auf - von Menschen nicht beeinträchtigte - Fortexistenz", vgl. Starck, GGKommentar, Art 2 Π, Rn. 129. 52 v. Münch, GG-Kommentar, Art. 2, Rn. 53; Vgl. auch die Einteilung bei Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Abs. 2, Rn. 30; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 430. 53 Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205 (209); Scholz, DB-Beilage, 10/79. S. 16. 54 Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 2 Π, Rn. 30; vgl. BVerJGE 47,239 (248). 55 Ein solch weiter Begriff der Gesundheit liegt der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zugrunde. Gesundheit ist danach ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht lediglich das Freisein von Krankheiten und Gebrechen, vgl die Präambel Abs. 2 der Satzung der Weltgesundheitsorganisation, wiedergegeben in Steiger, Mensch und Umwelt, S. 34. 50
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
189
wie beispielsweise in Form von Schlafstörungen durch Fluglärm56. Obwohl aus dieser Entscheidung wohl lediglich eine gewisse Sympathie für eine vorsichtige Erweiterung des Gesundheitsbegriffs auf den geistig-seelischen Bereich zu entnehmen ist57, zeigt sie aber wichtige Schlüsselpunkte für die Bestimmung der vom Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu berücksichtigenden geistig-seelischen Beeinträchtigungen. Um die Grenzen zu den Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG möglichst eng zu halten, soll jedoch die Ausdehnung des Schutzbereichs der körperlichen Unversehrtheit auch auf geistig-seelische Beeinträchtigungen restriktiv gesehen werden. Insbesondere im Hinblick auf die Umweltschutzbedürfiüsse darf das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht durch einen zu weit gefaßten Schutzbereich gegen alle behaupteten „Störungen" für das geistigseelische Befinden einer Person eingesetzt werden. Vertretbar ist vielmehr, daß das Recht auf körperliche Unversehrtheit nur vor solchen Umweltbelastungen schützt, die in einer objektiv feststellbaren Weise körperlich empfunden werden58. Der Schutz des sozialen Wohlbefindens, der vom Gesundheitsbegriff der WHO mitumfaßt wird, ist dagegen nach überwiegender Auffassung vom Schutzbereich der körperlichen Unversehrtheit ausgeschlossen59. 3. Eigentumsfreiheit (Art. 14 Abs. 1 GG) a) Das Verhältnis zum Umweltschutz Unter dem Aspekt des Umweltschutzes ist das Eigentum von Bedeutung, soweit es einen Bezugspunkt für den Schutz vor Umweltbeeinträchtigungen, die auf das Eigentum einwirken, gebietet60. Dabei fällt vor allem - wenn auch nicht ausschließlich - das Grundeigentum als wesentlicher Anknüpfungspunkt ins Blickfeld. Denkbar sind außerdem solche Eigentumsobjekte, deren Bestand oder Nutzung durch umweltvermittelte Gefahrdungspotentiale gefährdet werden
56 57
BVerJGE 56,54(74).
So zu Recht bei Dirnberger, Recht aufNaturgenuß und Eingriffsregelungen, S. 266. Dazu vgl. Schmidet-Aßmann, AöR 106 (1981), 205 (210). 59 Rauschning WDStRL 38 (1980), 167 (179); Schmidt-Aßmann, AöR 1981, 205 (210); Steiger, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, S. 31. Offengelassen aber BVerJGE 56,54 (74 ff.). 60 Vgl. Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 132; Bock, Umweltschutz, S. 131; Kloepfer, DVB1.1988,305 (310), Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 157 f.; Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (179). 58
190
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
könnten61. Dienen die grundrechtlichen Schutzgüter Leben und körperliche Unversehrtheit als personale Bezugspunkte zum Schutz der natürlichen Umwelt als menschliche Lebensgrundlagen, bietet sich das Eigentum dann als Bezugspunkt zum Sachenschutz im Umweltbereich an62. Dies geht davon aus, daß eine Interessenparallelität zwischen den Belangen des Umweltschutzes und jenen des Eigentumsinteresses besteht63. Dies geschieht am häufigsten in Form des Nachbarschutzrechtes64. In agrarischen und landwirtschaftlichen Bereichen liegt auch nicht selten eine deratige Obereinstimmung, wenn auch nicht auszuschließen ist, daß dies dabei meistens nicht primär zur Verbesserung des Umweltschutzes, sondern zur wirtschaftlichen Sicherung des Eigentums geschieht65. Entscheidend ist jedenfalls, daß die Eigentumsgarantie als eine grundrechtliche Freiheit an sich schon Umweltschutzinteressen einschließt66. Da die Eigentumfreiheit darüber hinaus auch als Abwehr staatlichen Umweltschutzes tauglich ist67, ist zutreffend von der „Ambivalenz des Eigentumsgrundrechts"68 für den Umweltschutz zu sprechen.
b) Sachliche Reichweite des Eigentumsschutzes im Umweltbereich aa) Allgemeines Die in Art. 14 Abs. 1 GG niedergelegte Eigentumsgarantie will zweifellos neben der Funktion als Institutsgarantie - die Freiheit des Einzelnen sichern; sie dient unumstritten auch als subjektive Bestandsschutzgarantie69. Demnach ist
61
So können im Eigentum befindliche Umweltgüter wie Planzen, Wälder, landschaftliche Nutzfläche oder auch Tiere ducrh Umwelteinwirkungen geschädigt werden. 62 Vgl. Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (179). 63 Im Fall des „Waldsterbens" zeigt sich diese Interessenparallelität am deutlichsten. Übrigens besteht in der Frontstellung gegen Erholungssuchende, insbesondere im Streit um die Betretungsrechte, auch eine Interessenparallelität zwischen Privateigentümern und Gemeinschaft aus der Sicht des Umweltschutzes. 64 Vgl. Friauf Baurecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 477 ff. (584 ff.); SchmidtAßmann, Diskussionsbeitrag, in: WDStRL 51 (1992), S. 294. 65 Vgl. Leisner, Umweltschutz durch Eigentümer, S. 38. 66 Diesem gegenüber wären die in der Sozialbindungsklausel (Art. 14 Abs. 2 GG) liegenden Umweltschutzinteressen als Gemeinwohl aufzufassen, was nicht als grundrechtlicher Schutzbereich, sondern als grundrechtliche Schranke erfaßt werden soll. 67
Dazu siehe oben in 5. Kapitel Π C b) aa). Isensee, in: Ossenbühl (Hrsg.), Eigentumsgarantie und Umweltschutz, S. 2 ff. (2 ff.). 69 BVerfGE 50,49 (55 ff.); 84,322 (334); BGHZ 87,66 (78 ff.); Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art. 14, Rn. 101 ff, Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 1 ff. 68
8. Kap. : Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
191
das Eigentumsrecht auch als Freiheitsrecht des einzelnen zu bezeichnen70. Zwar sind bei dem Eigentumsrecht Inhalt und Schrank gleichsam auf gesetzgeberische Bestimmungen angewiesen: Der Eigentumsschutz ist also normgeprägt, er setzt begrifflich eine bestimmte rechtliche Ordnung voraus, die der Gesetzgeber bereitstellen muß. Die dogmatische Gegenüberstellung von Schutz und Schranke der Grundrechte findet aber herrschender Meinung nach auch in dem Eigentumsrecht Anwendung71. Demzufolge darf der Eigentumsinhalt im Prinzip nicht schon über die Inhaltsbestimmung „wegdefiniert" werden, bevor es überhaupt zur Schrankenbestimmung kommt. Anders bedürfe es dann gar keiner Schranken mehr - Schutz und Schranken deckten sich insofern schon miteinander. Es könnte auch zu einer „Schrumpfung des Eigentums auf Null" führen 72, wenn der Gesetzgeber Güter von vornherein aus dem Eigentumsbegriff ausklammert. Der Schutzbereich der Eigentumsgarantie umfaßt demnach alle dem Grundrechtsinhaber zustehenden Vermögenswerten Rechtspositionen jedenfalls des Privatrechts73. Wie das Schutzgut von Leben und Gesundheit ist das Eigentum auch Individualrechtsgut. Schutzgegenstand des Art. 14 GG ist das Eigentum Privater, nicht aber das „Privateigentum"74; Eigentum ist daher von der Person eines individualisierbaren Eigentümers nicht zu lösen75. Öffentliche Güter können deshalb nicht durch die Eigentumsgarantie geschützt werden. Nur in der Eigentumsgarantie begriffene Freiheitsrechte können auch als Anknüpfüngspunkt für die eigentumrechtlichen Umweltschutzbelange dienen.
70 Das Bundesverfassungsgericht spricht von der Funktion des Eigentums „als Element der Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen"; BVerJGE 50,290 (340 f.). Es hat stets die primäre Wirkung des Eigentumsgrundrechts als Sicherung des „konkreten Bestands des Eigentums in der Hand des Eigentümers" bezeichnet; BVerJGE 24,400; 38,181; 46,324. 71 Das Bundesverfassungsgericht hat auch - explizit oder implizit - diese Trennung immer wieder bestätigt: so z.B. hat es in der Sozialversicherungsjudikatur Inhaltsausweitung deutlich unterschieden von der sodann zu prüfenden Schrankenziehungsbefugnis. Vgl. Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, §149, Rn. 133 ff.; Kimminich, in: Bonner Kommentar, Art.14, Rn. 133 ff.; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 27. 72 Vgl. nur Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 137. Auf diese Weise ist aber das Bundesverfassungsgericht im Naßauskiesungs-Beschluß vorgegangen, BVerJGE 58,300. 73
Vgl. BVerJGE 70,191 (199); Kimminich, Bonner Kommentar, Art. 14, Rn. 65; Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 56. 74 BVerJGE 61, 82 (108 ff.). 75 Kloepfer, Zum Grundrecht auf Umweltschutz, S. 28.
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3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
bb) Insbesondere: Grundeigentumsschutz Unter Bezugnahme auf die Umweltschutzdimension ist auf die Frage näher einzugehen, ob und inwieweit die auf dem Grundeigentum beruhende Nutzung der Umweltmedien mit in den Schutzbereich der Eigentumsgarantie einbezogen werden kann. Die Frage ist besonders dort von Bedeutung, wo entschieden werden muß, ob der Eigentumsschutz auch als Bezugspunkt für den Umweltschutz dienen kann, wenn die Nutzung des Bodens, des Wassers und der Luft wegen Umweltschädigungen eingeschränkt wird. (1) Das Recht auf Bodennutzung Zunächst ist zufragen, ob zum Element des verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundeigentums die Bodennutzung, vor allem die Baufreiheit, gehört. Diese umstrittene Frage entsteht besonders dadurch, daß die Dispositionsbefugnisse des Grundeigentümers in Ansehimg der baulichen Nutzung seines Grund und Bodens nach dem heutigen Planungs- und Ordnungsrecht nur noch geringe Spielräume aufweisen. Führt man die Baubefügnis des Grundeigentümers nur auf die öffentlich-rechtliche „Nutzungszuweisung" zurück, so läßt sich sagen, daß die bauliche Nutzbarkeit nur auf einfachgesetzlicher Grundlage besteht und nicht von der verfassungsrechtlichen Eigentumsgewährleistung umfaßt wird76. Nicht zu übersehen ist aber, wie Ehlers hervorhebt, daß die bauliche Nutzung von Grundstücken zum elementaren Bestand der vermögensrechtlichen Betätigimg gehört, welcher der Privatrechtsordnung nicht gänzlich entzogen werden darf 77. Die bauliche Nutzbarkeit eines Grundstücks wird dem Grundeigentum daher keineswegs „von außen zugefügt"78. Eine nur auf Grund der öffentlichrechtlichen Verleihung anerkannte Bebauungsbefugnis verfehlt diese Eigenschaft und würde sich weitgehend im grundrechtsfreien Raum bewegen; sie wäre also nur als „staatlich verliehene Tätigkeit" anzusehen79. Sie könnte auch zur Folge haben, daß die in Art. 15 GG geregelte Sozialisierung von Grund und Boden gegen Entschädigung dadurch leerläuft 80. Schließlich soll der Eigentümer einen Anspruch darauf haben, daß seine aus dem privatrechtlichen Eigentum
76
Vgl. nur Böckenförde y Eigentum, Sozialbindung des Eigentums, Enteignung, in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, S. 28 ff.; Breuer, Die Bodennutzung im Konflikt zwischen Städtebau und Eigentumsgarantie, 1976, S. 158 ff. 77 Ehlers, WDStRL 51 (1992), 211 (217). 78 Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rn. 56. 79 Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 104. 80 Leisner. „Nichtanerkennung der Baufreiheit bedeutet eine Bresche zur Sozialisierung aller Freiheiten."; in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 104.
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
193
resultierenden Belange bei der Baurechtsgesetzgebung und auch Bebauungsplanung berücksichtigt werden81. Demzufolge läßt sich feststellen, daß die in Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG gewährleistete Eigentumsgarantie zumindest das Recht des Eigentümers schützt, sein Grundstück auf der Grundlage und im Rahmen der bezogenen Regelungen zu bauen82. In dem Maß, in dem die Bodennutzung durch die Umweltschädigung beeinträchtigt wird, kann daher auch der Eigentumsschutz in Betracht gezogen werden.
(2) Das Recht auf Gewässernutzung Hinsichtlich des Rechts auf Nutzimg des Wassers ist daraufhinzuweisen, daß das Wasserhaushaltsgesetz die Gewässerbenutzung und den Ausbau der oberirdischen Gewässer zwar nicht vollständig, aber weitgehend der Privatrechtsordnung entzogen und von einer im Ermessen der Verwaltung stehenden Zulassung abhängig gemacht hat. Die auch vom Bundesverfassungsgericht anerkannten83 öffentlich-rechtlichen Regelungen über die Nutzung des Wassers bedeuten daher nichts anderes als eine prinzipielle Herausnahme der Gewässerbenutzung aus dem Grundeigentum. (3) Das Recht auf Luftnutzung Fraglich ist außerdem noch, ob auch die Luftnutzung auf dem Eigentum beruhen kann. Anders als bei der Gewässerbenutzung wurde diese Frage noch nie in der Rechtsprechung behandelt. Richtig ist zwar, daß ein zweidimensionales „luftleeres" Grundeigentum für jedermann fünktionslos wäre84. Dies führt jedoch nicht unbedingt dazu, daß die Luftnutzung ein Bestandteil des Eigentums
81
Ehlers, WDStRL 51 (1992), 211 (217).
82
Im Ergebnis auch Badura, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), HdbVerfR, 2. Aufl., § 10, Rn. 80; Leisner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VI, § 149, Rn. 104. Vgl. auch BVerJGE 35,263 (276 f.). 83 Nach dem Bundesverfassungsgericht ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, jedes Vermögenswerte Rechtsgut einer privatrechtlichen Ordnung zu unterstellen. Er ist nicht gehindert, für die Allgemeinheit lebensnotwendige Güter zur Sicherung überragender Gemeinwohlbelange und zur Abwehr von Gefahren für die Allgemeinheit öffentlich-rechtlich zu regeln. Vgl. BVerJGE 24,367 (389) - Hochwasserrecht. Vgl. auch Böhmer, NJW 1988. 2561 (2563). Dieser Gedanke ist im Naßauskiesungsbeschluß ausdrücklich genannt, s. BVerJGE 58,300 (332 ff.). 84 Vgl. Ehlers, WDStRL 51 (1992), 211 (221); Friauf, WiVerw 1986, 87 (102 ff.); Schröder, URP 1986,127 (130).
13 Tsai
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3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
ist85. Auch wenn eine Grundstücksnutzung nie ohne Inanspruchnahme der Luft möglich ist, könnten die Luit und die Luftnutzung für den Eigentumsschutz nur die Grundrechtsvoraussetzung86 darstellen, nicht aber den Schutzbereich als solchen. Die Grundrechtsvoraussetzungen werden aber nicht von sich aus zwangsläufig von dem Grundrechtsschutz eingeschlossen87. Schließlich sind die Luft und Luftnutzung auch für jede grundrechtliche Freiheit unentbehrlich; sie sind die existenzielleVoraussetzung der Menschheit überhaupt. Die Nutzung der Luft sollte daher m.E. nicht primär im Schutzbereich des Grundeigentumsrechts begründet werden88. Als Ergebnis läßt sich klar ersehen, daß die Nutzung der Umweltmedien zu einem erheblichen Teil aus dem Schutzbereich des Grundeigentums herausfallt. In vorhegendem Zusammenhang bedeutet dies folgerichtig, daß das Eigentumsrecht als eine Freiheit nur sehr beschränkt einen Gewährleistungspunkt für die Abwehr von Umweltschädigungen bieten kann89. 4. Allgemeine Handlungsfreiheit und persönliches Entfaltungsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) Bei der Frage danach, ob das durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit als Freiheitsrecht auch durch die umweltvermittelten Gefahrdungen beeinträchtigt werden und daher einen Gewährleistungspunkt für den Umweltschutz darstellen kann, kommt es zuerst darauf an, was als Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG zu verstehen ist. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit geht in der Rechtsprechung grundsätzlich in zwei Richtungen: Zum einen wird es als „allgemeines Freiheitsrecht" konzipiert90, da es die menschliche Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne schützt, „ohne Rücksicht darauf, welches Gewicht der Betätigung für
85
So aber Ehlers, VVDStRL 51 (1992), 211 (220). Über den Begriff der Grundrechtsvoraussetzung vgl. nur Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V,§ 115,Rn.7ff. 87 Für die Frage, ob und inwieweit die Grundrechtsvoraussetzungen auch verfassungsrechtlich gewährleistet und geschützt werden, kommt es schließlich auf die zugrundegelegte Grundrechtsverständnisse und Grundrechtstheorie an. 88 Ein das Grundstückeigentum betretender Nicht-Eigentümer genießt wohl ohne Zweifel auch das Recht auf Nutzung der Luft über dem Boden, zumindest zum Atmen. 89 Damit ist aber gar nicht ausgeschlossen, daß der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ein Element der Institutsgarantie des Eigentums ist. Dazu Badura, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 51 (1992), S. 290 f. 90 Vgl. BVerJGE 6, 32 (37); 63,45 (60). 86
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
195
die Persönlichkeitsentfaltung zukommt"91. Geschützt wird nicht ein bestimmter, begrenzter Lebensbereich, sondern jedes menschliche Tun und Unterlassen, sofern es nicht vom Schutzbereich eines anderen Freiheitsrechts erfaßt wird92. Die allgemeine Handlungsfreiheit füngiert also als subsidiäre Generalklausel der Freiheitsrechte93; sie ist auch als „Hauptfreiheitsrecht" 94 oder „Auffanggrundrecht"95 zu bezeichnen. Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein allgemeines Persönlichkeitsrecht entwickelt96, wobei es „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen" gewährleistet97. Anders als die allgemeine Handlungsfreiheit sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts enger gezogen98. Zufragen ist zunächst, ob umweltvermittelte Gefährdungen ohne Berührung spezieller Freiheiten die allgemeine Handlungsfreiheit tangieren können. Denkbar wären im vorliegenden Zusammenhang die Umweltbelastungen im geistigseelischen Bereich99. Der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit ist ohnehin tatbestandlich offen. Er könnte daher auch auf nichtökonomischem Gebiet, wo in der Regel von den speziellen Grundrechten Schutz versagt wird, verwendet werden100. So könnten z.B. Emissionen, die sich weder auf das Eigentum noch auf den menschlichen Körper auswirken, das psychische Wohlbefinden empfindlich beeinflussen. Auch wenn die allgemeine Freiheit als Bezugspunkt für die Abwehr solcher in den geistig-seelischen Bereich hineinwirkenden Umweltbelastungen heranzuziehen ist, darf die Leistungsfähigkeit dieser Freiheit für den Umweltschutz nicht überschätzt werden. Der Grund dafür liegt eben an dem der „Auffangsfünktion" dienenden, weit zu interpretierenden Schutzbereich. Zwar kann der Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit so weit begriffen werden, daß sämtliche denkbaren menschlichen Handlungsweisen,
91 92
BVerJGE 80,137 (152f.), dagegen aber Hesse, Grundzüge, Rn. 428. Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 401.
93
Vgl. Jarass/Pieroth,
94
Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 6.
95
GG, Art. 2, Rn. 1 ; Pieroth/Schlink,
Grundrechte, Rn. 401.
Pieroth, AöR 115 (1990), 33 (33); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 402. Vgl. BVerJGE 6,32 (36); Scholz, AöR 100 (1975), 80 (90 f.); Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rn. 25 f. 97 Vgl. BVerJGE 54, 148 (153); Jarass, NJW 1989, 857 (857 ff.); Scholz, AöR 100 (1975), 80 (265). 98 BVerJGE SA, 148(153). 99 Vgl. Steiger, Mensch und Umwelt, S. 35; Hofmann , Rechtsfragen, S. 308 f. 100 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 10. 96
13*
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3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
Zustände und Positionen von Art. 2 Abs. 1 GG umfaßt werden; dementsprechend hegt dann - aus dem abwehrrechtlichen Aspekt - in jeder Belastung durch eine staatliche Maßnahme ein Eingriff. Die Gewährleistung des Art. 2 Abs. 1 GG steht aber auch unter der weitreichenden verfassungsrechtlichen Schrankentrias: die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Insbesondere durch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung, unter der man die als die Gesamtheit der mit der Verfassung in Einklang stehenden Normen versteht101, existiert die allgemeine Handlungsfreiheit letztendlich als nur in der vom Staat zu gestaltenden, verfassungsmäßigen Rechtsordnung. Ein derartiger weit zu interpretierender Schrankenvorbehalt dieses Grundrechts ist die konsequente Folge des eben weit gefaßten Schutzbereiches. Soweit es um die Abwehrfunktion der Grundrechte geht, steht die vom einzelnen behauptete Freiheit daher unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Rechtsordnung. Die tatbestandliche Bestimmung und Eingrenzung des Geltungsbereiches sind eben nicht erforderlich 102. Kommt aber die Schutzfunktion der allgemeinen Handlungsfreiheit in Betracht, muß der Schutzbereich herausgearbeitet werden, in dem der staatliche Schutz gewährleistet wird. Dies ist aber wegen der tatbestandlichen Offenheit des Art. 2 Abs. 1 GG einerseits und wegen des Verbots der staatlichen Definition desfreiheitlichen Inhalts andererseits kaum möglich. Im Hinblick auf die Umweltschutzfrage könnte es in ein Chaos fuhren, wenn der einzelne den Staat um Schutz vor jeglichen Umweltbelastungen im Bereich seines geistig-seelischen Wohlbefindens bitten. Mit Recht wird im Schrifttum überwiegend die Auflassung vertreten, daß aus Art. 2 Abs. 1 GG keine staatliche Schutzpflicht für den Umweltschutz abzuleiten ist103. Hinsichtlich des ebenfalls von Art. 2 Abs. 1 GG geschützten persönlichen Entfaltungsrechts bleibt das Ergebnis gleich. Schließlich ist die umweltvermittelte Beeinträchtigung für die individuelle Entfaltungsmöglichkeit, wie etwa das Recht auf informationelle Selbstbestimmung104, nicht vorstellbar, ohne den Schutzbereich des persönlichen Entfaltungsrechts uferlos auszudehnen.
101
Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit BVerJGE 6,32 (38 ff.). Art. 2 Abs. 1 GG fängt insoweit nämlich alle Freiheitsbetätigungen auf, ohne daß spezielle Schutzbereiche aus Art. 2 Abs. 1 GG herausgearbeitet werden müßten. 103 Verneinend etwa Breuer, Umweltschutzrecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Aufl., S. 433ff. (Rn. 23); Jarass, NJW 1983,2844 (2847); Kloepfer, Umweltrecht, S. 44; Müller-Bromley, Staatszielbestimmung, S. 160; Schwerdtfeger, NVwZ 1982,5(10). i0 * BVerJGE 65,1 (41 ff.). 102
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
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II. Zur staatlichen Schutzverpflichtung aus den umweltschutzrelevanten Grundrechtsgewährleistungen Mit dem Ergebnis, daß bestimmte grundrechtliche Freiheiten als Bezugspunkte für den Umweltschutzgedanken herangezogen werden können, bleibt noch zufragen, wie sich daraus eine staatliche Schutzverpflichtung für die Umwelt ergeben kann. Dabei handelt es sich um die Prüfung und Auswahl der handhabbaren Grundrechtsfunktionen für eine Inpflichtnahme des Staates zum Umweltschutz.
A. Auf abwehrrechtliche Funktion bezogene Unterlassungspflicht des Staates 1. Allgemeines Die die Freiheiten gewährleistenden Grundrechte gelten nach dem klassischen liberalen Verständnis105 zuerst als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen gegen staatliche Macht. Sie sind in erster Linie dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern106. Nach dieser grundrechtlichen Abwehrfünktion werden Unterlassungsansprüche des einzelnen gegen staatliche ungerechtfertigte Eingriffe bzw. auf Seiten des Staates entsprechende Eingriffsunterlassungspflichten begründet107. Dieser Abwehrfünktion der Grundrechte wird, trotz einer Vielzahl weiterer von der Verfassungsrechtsprechung und Staatsrechtslehre entwickelten Grundrechtsfunktionen, immer noch der Vorrang gewährt. Alle weiteren Funktionen eines Grundrechts, so es sie denn gibt, treten ergänzend hinzu108. Demzufolge läßt sich feststellen, daß die umweltschutzrelevanten Freiheiten zuerst als Eingriffsabwehrrechte gegen staatlich verursachte Umweltbeeinträchtigungen wirksam sind. Genauer betrachtet sind sie dort zu berufen, wo es um die Abwehr von unmittelbaren Eingriffen 105
Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 163 ff.; Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, jetzt in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 115 ff. (119 ff). 106
BVerJGE 7,198 (204 f.). Vgl. nur Düng, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 94; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395. 108 Vgl. BVerJGE 50,291 (337 ff) - Mitbestimmungsurteil; vgl. auch ISENSEE, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 11,21. Zu der Primat der Abwehrfunktion: H. H. Klein, Grundrechte im demokratischen Staat, 1972, S. 73 ff ; Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 120 ff; ders., Grundrechte als Grundsatznormen, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 159 ff (182). 107
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3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
seitens des Staates in einzelne Umweltelemente geht, die zu Beeinträchtigungen der darauf bezogenen Freiheiten fuhren können109. Unter diesen Umständen ist vom Staat eher „Nichttun" um des Umweltschutzes willen gefordert, nicht aber positive Handlungspflicht zum Schutz der Umwelt. Streng genommen hat eine derartige Unterlassungspflicht des Staates wenig mit dem Begriff „Umweltschutz" zu tun, bei dem nämlich schon die positive Handlung impliziert wird. Nicht zu leugnen ist jedoch, daß dadurch auch eine mittelbare Wirkung für die Sicherung der Umwelt entsteht. Inwieweit diese Wirkimg zu erreichen ist, hängt aber davon ab, inwieweit die Umweltgefährdungen als Konsequenzen staatlicher Eingriffe anzusehen sind; m.a.W. inwieweit dem Staat Ursachen von Störungen der Umwelt zuzurechnen sind. Dabei geht es zunächst um die allgemeine dogmatische Auseinandersetzung über den Eingriffsbegriff. Es zeigt sich, daß das klassische Eingriffsverständnis, nämlich die Finalität des staatlichen Handelns, die Unmittelbarkeit der Verletzung, die rechtliche, nicht nur tatsächliche Qualität der Beeinträchtigung, die Adressierung der staatlichen Maßnahmen an den betroffenen Grundrechtsträger und die Beeinträchtigung durch Befehl und Zwang, also ihr imperativer Charakter110, zunehmend in der Rechtsprechung und Literatur mit neuen Kriterien ausgedehnt wird111. An dieser Stelle soll nicht tiefer auf die Frage eingegangen werden. Es bleibt nur festzuhalten, daß unter Eingriff jedes staatliche Handeln zu verstehen ist, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fallt, unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkungfinal oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich (faktisch), mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt 112. Zweifellos ist, daß der Wirkungskreis der abwehrrechtlichen Dimension umso größer ist, je weiter der staatliche Eingriffsbegriff gefaßt wird. Gleichgültig wie weit der Eingriffsbegriff auch geht, es ist wichtig, daß sich die Wirkung auf ein ursächliches und zurechenbares Verhalten der öffentlichen Gewalt zurückführen läßt113. Damit kommt aber ein weiteres schwieriges Problem auf: die Zurechnungskriterien. Einerseits sind im Umweltschutzbereich die zweifellos durch den hoheitlich handelnden Staat verursachten Umweltbeeinträchtigungen zwar denkbar114, doch stammen sie wohl überwiegend - zumindest erstem Anschein
109
Da Umweltbeeinträchtigungen sich in tatsächlichen Einwirkungen vollziehen, richten sich die Grundrechte zunächst in den Grenzen ihres Schutzbereiches gegen umweltbelastende Realakte des Staates selbst. Vgl. Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (181 ff.). 110 Vgl. nur Bleckmann, Staatsrecht Π, S. 336; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §111, Rn. 61; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 271. 111 Ausführliche Darstellung s. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, S. 236 ff. 1,2 Vgl. nur Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 274. 113 BVerJGE 66, 39 (60).
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nach - von privater Seite115. Unter dem Aspekt der grundrechtlichen Abwehrfünktion ist es unerläßlich zufragen, ob und inwiefern der Staat fur private Tätigkeit verantwortlich gemacht wird. Andererseits ist auch daraufhinzuweisen, daß es immer weniger Bereiche sind, in denen der beruflich, gewerblich, kulturell tätige Bürger nicht auf eine gesetzliche oder exekutivische Vorprägung der Situation, auf eine durch vielfältigen Formen und Möglichkeiten staatlicher Beteiligung bzw. Mitwirkung an seinem Verhalten, stößt. Solches vom Staat geregelte, überwachte, genehmigte, veranlaßte, unterstützte oder gar geduldete Verhalten Privater erschwert die Beurteilung, ob damit nicht letztlich staatliche „Eingriffe" bewirkt werden. Dabei geht es schließlich darum, ob die Grundrechte mit der herkömmlichen Abwehrfunktion gegen den Staat auch in der Lage sind, den Staat zu positivem Schutz in Gestalt von Unterlassimgspflichten vor solchen von privater Tätigkeit ausgehenden Umweltgefahren zu Gunsten der beeinträchtigten Schutzgüter aufzufordern. Eine dadurch begründete grundrechtliche Schutzpflicht des Staates würde einerseits ohne weiteres subjektive Abwehrrechte auf staatliche Schutzleistung einräumen. Andererseits wäre mit einem derartigen weitreichend Anwendungsfeld der grundrechtlichen Abwehrfünktion die Annahme eines Dreiecks-Verhältnisses Staat-Störer-Opfer überflüssig.
2. Zum Eingriffscharakter staatlicher Genehmigungen Die allgemein geschilderte Abgrenzungsschwierigkeit zeigt sich besonders deutlich bei privaten Vorhaben oder Grundstücksnutzungen, die einem Genehmigungsvorbehalt unterliegen und zu Nachteilen für Dritte führen können. Es ist umstritten, ob diese Art von Privaten ausgehender Beeinträchtigungen für grundrechtliche Schutzgüter, welche auf staatliche Erlaubnis zurückzuführen sind, auch als staatlicher Eingriff werden kann, und ob deswegen schon anhand der grundrechthchen Abwehrfünktion ein subjektives Recht auf staatliche Eingriffsunterlassung geltend zu machen ist116. Diese Frage ist gerade im Hinblick auf die Umweltschutzproblematik von Bedeutung, denn solche an staatliche positive Erlaubnis anknüpfende Gefahrenquellen sind im Umweltbereich allenthalben vorhanden; wie z.B. ein vom Staat genehmigtes Betreiben von
114
Ein evidentes Beispiel ist die mögliche Umweltschädigung beim staatlichen Autobahn-
bauen. 115
Murswiek hat zu Recht gezeigt, daß Umweltschutz in einem freiheitlich verfaßten Gemeinwesen mit privatwirtschaftlicher Struktur vor allem Schutz vor umweltschädlichen Folgen privater Freiheitsbetätigung ist, WiVerw 1986,179 (179). 116 Über diese Problematik vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 85 ff.; Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 178 ff.; Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 61 ff.; Schwabe, NVwZ 1983,523 (524).
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kerntechnischen Anlagen nach dem Atomgesetz und die immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigungen. Dieses Problem ist durch die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts noch verwirrender geworden. Im Kalkar-Beschluß spricht das Bundesverfassungsgericht nämlich davon, „daß nicht schon die Genehmigungsvorschrift als solche, sondern allenfalls die behördliche Entscheidung im Einzelfall Grundrechte Dritter verletzen kann"117. Im Mülheim-Kärlich-Beschluß fuhrt das Gericht außerdem aus, daß „der Staat seinerseits eine eigene Mitverantwortung" für die Gefahrdungen übernehme, die von einem Kernkraftwerk ausgingen, wenn er dieses genehmigt118. Es wird damit der Eindruck erweckt, als wäre das Gericht der Meinung, über einen Genehmigungsakt private Übergriffe dem Staat zurechnen zu können. In der Literatur wird daher die Meinung vertreten, der Staat müsse sich ein von ihm genehmigtesrisikobehaftetes Handeln Privater als eigenes (Eingriflfs-)Handeln zurechnen lassen mit der Folge, daß staatliche Genehmigungen potentiell grundrechtseingreifenden Charakter besitzen können119. Die von dem Dritten abzuwehrenden Beeinträchtigungen gehen aber nicht von der Genehmigungserteilung selbst aus, sondern eindeutig allein von dem zugelassenen Handeln der Privaten. Es bleibt völlig der privatautonomen Entscheidung überlassen, ob überhaupt ein Genehmigungsverfahren in Gang kommt und ob von einer erteilten Genehmigung tatsächlich auch Gebrauch gemacht wird. Insoweit läßt sich erkennen, daß der Staat zumindest mit der Erteilung von Genehmigungen regelmäßig nicht aktiv in die Grundrechtssphäre Dritter eingreift. Außerdem enthalten staatliche Genehmigungen in der Regel auch keine Legitimation für private Verletzungshandlungen, sondern bezwecken lediglich die Kontrolle und Überwachung möglicher Gefahrenquellen 120, die ohne staatliche Genehmigungsvorbehalte durchaus auch aufgrund der zunächst als uneingeschränkt gedachten Freiheit des Individuums entstehen können. Hinzu kommt noch: Bei der Überprüfüng, ob ein grundrechtlicher Eingriff besteht oder nicht, ist nur staatliches, nicht aber auch privates Handeln heranzuziehen. Die Prüfung der Eingriffsqualität der staatlichen Genehmigungen muß daher bei der Rechtsentscheidung des Staates als solcher ansetzen, das faktische Tun des Privaten bleibt dagegen außer Betracht. Die Zurechnung privaten Handelns durch den Begriff staatlicher „Mitverantwortung" an den Staat hieße folglich ein fragliches Vermengen zwischen der Handlungsebene des staatlichen Gestat-
U1
BVerJGE 49,89(140). BVerJGE 53,30 (58). 119 So Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, S. 50; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205(215). 120 So etwa Schwerdtfeger, NVwZ 1982, 5 (7); Steiger, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechtes, S. 21 ff. (42f.); Rauschning, WDStRL 1980,167(182,184); Kloepfer, DVB1. 1988,305 (309).
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
201
tungsaktes und der der privaten Durchführung des gestatteten Handelns121. Es ist insofern zutreffend hervorgehoben, daß Verantwortung des Staates in diesem Bereich grundsätzlich immer nur Mitverantwortung sein kann122. Eine derartige Mitverantwortung liefert eben den Grund der staatlichen Schutzpflicht für die von privaten Dritten beeinträchtigten Grundrechtsgüter. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, daß die staatliche Genehmigung keinen Zurechnungsgrund darstellt. 3. Zurechnung aufgrund der vom Staat auferlegten Duldungspflicht der Bürger In der Literatur wird auch die ziemlich radikale Meinung vertreten, daß durch die vom Staat dem einzelnen auferlegte Duldungspflicht eine umfassende Zurechnung privaten Handelns an den Staat besteht123. Nach Murswiek wird nämlich ein Grundrechtseingriff nicht erst etwa in der positiven staatlichen Genehmigung drittbelastender Vorhaben gesehen, sondern ganz generell in der jedem erlaubten drittbelastenden Verhalten gegenüber bestehenden Duldungspflicht. Die Beeinträchtigung grundrechtlich geschützter Rechtsgüter durch Dritte werde daher dem Staat durchweg als eigener Eingriff zugerechnet124. Denn: Im bürgerlichen Zustand komme es für den Umfang der Freiheit vor Eingriffen Dritter ausschließlich auf das staatliche Recht an. Der Staat sei notwendigerweise in das grundrechtsbeeinträchtigende Handeln Privater verstrickt, gleich, ob er es ausdrücklich erlaube oder ob er es toleriere, ob er sich durch gesetzliche Regelung, behördliche Genehmigung, gerichtlichen Ausspruch oder Zwangsvollstreckung an der privaten Rechtsverletzung beteilige oder ob er überhaupt nicht tätig werde125. Da der Staat sich durch rechtliche Regelungen an jedem privaten Verletzungsvorgang beteilige und der Staat alles erlaube, was nicht ausdrücklich verboten sei, gebe es daher kein privates Verhalten, das rechtlich indifferent
121
Dazu ausführlich siehe Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten,
S. 92. 122
Dirnberger, Recht auf Naturgenuß und Eingriffsregelung, S. 87. Als bedeutende Vertreter vor allem Schwab und Murswiek,; siehe Schwab, Grundrechtsdogmatik, S. 213;Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 88,93; ders., WiVerw 1986, 179 (182); ders., NVwZ 1987,481. Grundsätzliche Kritik vgl Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 415 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 38 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 393 ff.; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V,§ 111, Rn. 118 f. 123
124
Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 91 ff., 102 ff.; auch ders., WiVerw 1986, 179 (180 ff.). 125 So Schwabe, Grundrechtsdogmatik, S. 213; Murswiek, NVwZ 1986,611 (612); ders., Staatliche Verantwortung, S. 63 ff, 108 f.
202
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
sei und dem Staat nicht zugerechnet werden könne126. Auch dort, wo es keine rechtsformlichen Regelungen gebe, bestehe diese Duldungspflicht. Denn sie ergebe sich aus dem allgemeinen Verbot der privaten Gewalt, das von vornherein jegliche Gegenwehr ausschalte127. Demnach werde nämlich jede nicht vom Staat verbotene Grundrechtsbeeinträchtigung durch Private dem Staat als Eittgröfzurechenbar 128. Hinsichtlich der Umweltschutzproblematik ermöglicht eine derartige Theorie die unmittelbare Zurückfuhrung der Umweltschäden auf den Staat und die Zuweisung der Umweltschutzverantwortung des Staates schon aus grundrechtlichen Abwehransprüchen des Einzelnen: In der Sache immissionbedingter Waldschäden etwa griffe der Staat durch die Festlegung eines Immissionswertes für Stickoxyde nicht nur in die Freiheit des Verursachers ein, um Dritte zu schützen; vielmehr griffe er zugleich auch in die Grundrechte Dritter ein, da er Drittem auch eine Duldungspflicht auferlegt, die erlaubte Immissionsbelastung hinzunehmen129. Fragwürdig ist zuerst, ob das private Selbsthilfeverbot und damit die Duldungspflicht als Anknüpfungspunkt der Zurechnung überhaupt tauglich ist. Im Rechtsstaat wirkt das Selbsthilfeverbot der Bürger - von Ausnahmen wie z.B. akute Notwehrsituationen abgesehen - nicht nur im Bereich des erlaubten privaten Handelns, sondern grundsätzlich auch im Bereich ausdrücklich verbotener Beeinträchtigungen Privater130. Es ist daher unerklärlich, warum der Staat unter diesem Umstand noch die Verantwortung für solche von ihm verbotene private Beeinträchtigungen übernehmen soll. Vertretbar wäre vielmehr, daß das Selbsthilfeveibot gerade als Kehrseite des staatlichen Gewaltmonopols anzusehen ist. Mit diesem Gewaltmonopol ist der Staat verpflichtet, die notwendigen Instrumente zum Schutz des Bürgers zur Verfügung zu stellen, um private Selbsthilfe soweit wie möglich zu unterbinden131. Der Staat wird insoweit eindeutig zum Schutz der Grundrechtsgüter seiner Bürger berufen, nicht nur wegen seiner
126
So führt Murswiek aus: „wenn der Staat seine Bürger verpflichtet, das erlaubte Verhalten seiner Mitbürger zu dulden, dann muß er sich dies erlaubte Verhalten auch als Folge seiner Rechtssetzung zurechnen lassen". Vgl. ders., Die staatliche Verantwortung, S. 65 f., 89 ff. 127 Murswieky Die staatliche Verantwortung, S. 91. 128 Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 92. Vgl. auch ders., NVwZ 1986, S. 611 und NVwZ 1987, S. 481. 129 130
Murswiek, NVwZ 1986,611 (611); ders., Die staatliche Verantwortung, S. 245 ff.
Vgl. Lübbe-Wolffy Eingriffsabwehrrechte, S. 187. Ähnlich auch Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 128. 131 Zum Selbsthilfeverbot und dem staatlichen Gewaltmonopol vgl. Isensee, in: FS Sendler, S. 39 ff. (48 ff.).
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
203
„vorangegangenen" Duldungsforderung an seinen Bürger. Der in den Grundrechten verortete Schutzpflichtsgedanke will eben als rechtlicher Ausgleich für das Selbsthilfeverbot des Bürgers wirken132. Auch wenn der Staat verpflichtet ist, seine Rechtsordnung auf einfachgesetzlicher Ebene so zu gestalten, daß „Eingriffe Dritter in grundrechtlich geschützte Rechtsgüter grundsätzlich rechtswidrig sind"133, ist daraus nicht selbstverständlich zu folgern, daß die Verletzungs- und Gefährdungshandlungen des Dritten dem Staat zuzurechnen sind. Die konkreten Verletzungs- und Gefahrdungshandlungen des Dritten sind offensichtlich keine Handlungen des Staates. Die staatliche Zurechnung der privaten Handlungen beruhte daher eher auf dem Erfolg solcher Handlungen. Die Zurechnung des Erfolges resultierte mithin nicht aus einem Handeln des Staates, sondern aus der Tatsache, daß er es unterlassen hat, seine Regelungspflicht zu erfüllen. Ursache und Folge würden dann verwechselt134. Solche umfassende staatliche Zurechnung würde schließlich zu einer völligen Auflösung des Eingriffsbegriffs führen, da bei dieser Zurechnungstheorie der unterschiedlichen Qualität und dem unterschiedlichen Intensitätsgrad staatlicher Mitwirkungsakte an dem Verhalten Dritter die grundrechtsdogmatische Relevanz abgesprochen wird135. Des weiteren führt erne derartige umfassende Zurechnung unausweichlich dazu, daß die grundrechtlichen Interessenkonflikte zwischen dem Störer und dem Opfer gewissermaßen zugunsten des Opfers ignoriert werden. Die Position des Opfers ist also deutlich verbessert, da ein eindeutig bestimmtes und auch finanziell leistungsfähiges Verantwortungssubjekt schon im Staat bereitsteht136. Die Folge ist aber, „daß sich die rechtlichen Gewichte verschieben vom Grundrechtsschutz des Störers zu dem des Opfers, von der Grundrechtsgarantie privater Freiheit zur Verantwortung und damit zur Macht des Staates"137. Es liegt auch nahe, daß diese staatliche Zurechnung auf der dogmatischen Prämisse beruht, daß die grundrechtliche Freiheit dem Staat nicht vorgegeben ist, sondern auf seiner Delegation
132
Vgl. auch Isensee, in: FS Sendler, S. 39 ff. (61). Murswiek, WiVerw 1986,179 (181). 134 Vgl. Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 97 f.; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 129. 133
135
So Hermes, Das Grundrecht auf Schutz, S. 95; Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981 ), 205
(215). 136
Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 119. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 119. Es scheint daher wohl nicht verwunderlich zu sein, wenn Murswiek im Umweltbereich soweit gegangen ist, alle Umweltnutzungen und entsprechende Umweltschädigungen sämtlich aus den grundrechtlichen Freiheiten ausschließen zu wollen; ders., DVB1.1994,77 (79 ff.). 137
204
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
beruht138. Ob dies überzeugen kann, ist aber sehrfraglich 139.Bei dieser Theorie ist darüber hinaus eine „totale" staatliche Rechtsordnung impliziert140. Demnach würde die Unterscheidung zwischen den Verantwortungsbereichen des Bürgers und des Staates, zwischen Privatautonomie und Heteronomie, eingeebnet141. Die verfassungsrechtliche Polarität von grundrechtlicher und demokratischer Legitimation, der die Polarität von Eigenverantwortung des Bürgers und Verantwortung des Staates entspricht, wird damit auch aufgelöst142. Es ist daher nicht verwunderlich, daß diese Theorie einer umfassenden Zurechnung des privaten Handelns an den Staat in der Literatur auf heftige Kritik gestoßen ist. Sie veikannte den grundlegenden strukturellen Unterschied zwischen der auf staatliches Unterlassen zielenden grundrechtlichen Nichteingriffspflicht und der auf staatliches Handeln gerichteten Schutzpflicht des Staates143. Diese Zurechnungstheorie ist auch hier abzulehnen. B. Grundrechtliche
Schutzpflicht
Angesichts der Tatsache, daß in einemfreiheitlich verfaßten Gemeinwesen mit privatwirtschaftlicher Wirtschaftsstruktur die Umweltgefährdungen und Umweltschädigungen überwiegend von Privaten als Folgen der Freiheitsbetätigungen stammen144, ist die Umweltschutzfrage kaum anhand der grundrechtlichen Abwehrfunktion des einzelnen gegen den Staat zu lösen. Denn die von den Umweltschädigungen beeinträchtigten Freiheiten stehen vielmehr den die Umweltschädigungen auslösenden Freiheitsbetätigungen des privaten Einzelnen, nicht aber den Eingriffen des Staates, gegenüber. Es bestehen insoweit Interessenkonflikte zwischen gleichgeordneten Privaten. Schon dies unterscheidet sich grundlegend von abwehrrechtlichen Konstellationen, die die Interessenkonflikte im Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen Staat und Bürger behandeln145. Ohne
138
Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 65 ff.
139
Zur juristischen Relevanz der „Vorstaatlichkeit" der Freiheit vgl. nur Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 46; § 115, Rn. 34 ff. 140 Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung, S. 65. 141 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 119. 142 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 119. 143 Vgl. Badura, in: Achtes Deutsches Atomrechts-symposium, Köln/Berlin/Bonn/ München, S. 227 ff. (238); Bleckmann, DVB1. 1988,938 (940); Ehlers, in: FS Lukes, S. 337 ff. (339f. Fn.14); E. Klein, NJW 1989,1633 (1639); Schmidt-Aßmann, AöR 106 (1981), 205 (215); Steiger, in: Salzwedel (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, S. 21ff. (42). 144 145
Vgl. Murswiek, WiVerw 1986,179 (179). Vgl. Preu, JZ 1991,265 (267).
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
205
Anerkennung der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte - die Grundrechte sind ohnehin staats-, nicht aber drittgerichtet - 1 4 6 , kann für solche von den privaten Dritten ausgelösten, umweltvermittelten Beeinträchtigungen in die grundrechtlichen Freiheiten des anderen daher nur die Rechtsfigur grundrechtlicher Schutzpflicht des Staates als Lösungsorientierung in Betracht gezogen werden147. Der Schutzpflichtgedanke beruht gerade auf der Überlegung, daß die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter nicht nur durch hoheitliche Handlungen, sondern auch durch nicht-staatliche Dritte beeinträchtigt werden können. Angesichts der wachsenden Komplexität der gesellschaftlichen Strukturen und Funktionen können die von Privaten herbeigeführten Gefahrdungen sogar bedrohlicher als die Gefahrdungen durch den Staat sein148.Um die Unversehrtheit der grundrechtlichen Güter auch zwischen Privaten zu garantieren, finden die Grundrechtsfunktionen den dogmatischen Rückhalt in den Schutzpflichten des Staates149. Der Staat ist demnach verpflichtet, die grundrechtlichen Schutzgüter vor Beeinträchtigungen Dritter aktiv zu schützen. Gefordert ist das positive Tätigwerden des Staates, nicht aber das Unterlassen der staatlichen Handlungen150. Im vorliegenden Zusammenhang ist die grundrechtliche Schutzpflicht für die Umweltschutzerfordernisse gerade dort von Bedeutung, wo die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter des Einzelnen durch Umweltschädigungen bzw. gefahrdungen, die von privater Seite ausgehen, beeinträchtigt werden. Der Staat ist unter diesen Umständen verpflichtet, die Umweltschutzaufgabe zu erfüllen,
146
Kennzeichen der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ist, daß den Grundrechten eine unmittelbare, d.h. nicht notwendig durch einfache Gesetze vermittelte, Bedeutung für die Beziehung der Privaten untereinander zuerkannt ist. Jeder Private wäre also gleichzeitig Grundrechtsträger und potentieller Grundrechtsverpflichteter. Für eine derartige Grundrechtsfunktion steht im Vordergrund nicht mehr die Staat-Bürger-Relation, sondern die BürgerBürger-Relation. Dazu vgl. nur Hesse, Grundzüge, Rn. 35Iff.; Rüjher, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 117, 54 ff.; Stern, Staatsrecht m/1, S. 1151 ff. Abgesehen von einigen Ausnahmen, insbesondere im Arbeitsrechtsbereich, wird die Lehre der unmittelbaren Drittwirkung überwiegend abgelehnt; ausführliche und überzeugende Kritik siehe noch Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rn. 129 ff.; Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 160 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 188 ff.. 147
Über die Begründung der grundrechtlichen Schutzpflichten siehe oben in 1. Kapitel Π
Β 4. 148
So auch Hesse, Grundzüge, Rn. 349. Vgl. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis? jetzt in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221 ff. (234). 150 Vgl. mx Hesse, Grundzüge, Rn. 350; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 3; E. Klein, NJW 1988,1633 (1633 ff.); Η Η Klein, DVB1. 1994,489 (490 ff.). 149
206
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
um die gefährdeten Freiheiten zu schützen, soweit die Voraussetzungen für die Inpflichtnahme des Staates erfüllt sind.
III. Leistungsfähigkeit und Tragweite der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates für Umweltschutz Die Frage, inwieweit die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates zum Umweltschutz beitragen kann, läßt sich einerseits von den erforderlichen Voraussetzungen für die Inpflichtnahme des Staates zum Schutz der für den Umweltschutz relevanten grundrechtlichen Rechtsgüter, andererseits von der Reichweite der gebotenen Schutzaufgabe her betrachten. A. Voraussetzungen der staatlichen Schutzpflicht der Umweltschutzaufgabe
unter Berücksichtigu
1. Individualgüter als thematischer Bezugspunkt der Schutzpflicht Aus dem Ergebnis der bisherigen Untersuchung darf gefolgert werden, daß ein wichtiger Teil des Umweltschutzbedürfhisses von den staatlichen Schutzpflichten für die grundrechtlichen Freiheiten Leben, Gesundheit und Eigentum erfüllt werden könnte. Dies setzt aber voraus, daß dabei derartige Individualgüter betroffen sind oder betroffen werden können. Grundrechtsschutz geht also immer vom Schutz der Individualgüter aus. Auch die von einer objektiv-rechtlichen Wirkung der Grundrechte gewährleisteten Rechtsgüter können sich nicht vom Individuum lösen151. Ausführlich dargestellt: Nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG hat jeder ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Damit werden diese Rechtsgüter für jeden einzelnen Menschen geschützt. Dies gilt sowohl für die subjektive abwehrrechtliche als auch die objektiv-rechtliche Dimension152. Art. 14 GG schützt das Eigentum Privater, nicht aber Privateigentum. Gegenstand der Schutzpflicht ist daher eindeutig das von dem individualisierbaren Eigentümer nicht zu lösende Eigentum. Danach kann zwar die Umweltschutzaufgabe des Staates zu einem bestimmten Teil durch gewisse Grundrechtsgewährleistungen gefordert werden. Dieser Grundrechtsschutz betrifft aber nur Individualgüter. Beim Schutz der Umwelt kommen aber nicht zwangsweise Individualgüter in Frage. Selbst von einer
151
Müller-Bromley, Staatszielbestimmung Umweltschutz, S. 155. Dies hat das Bundesverfassungsgericht neuerlich im zweiten SchwangerschaftsabbruchUrteil deutlich gezeigt: „Die Schutzpflicht für das ungeborene Leben ist bezogen auf das einzelne Leben, nicht nur auf menschliches Leben allgemein"; BVerJGE 88,203 (252). 152
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
207
anthropozentrischen Umweltschutzrichtung ausgegangen, sind dabei nicht alle Interessen beim Umweltschutz Individualgüter oder individualisierbare Güter. Wenn aber solche für den Umweltschutz relevanten individualen Rechtsgüter nicht verletzt oder wenigstens gefährdet werden, könnten die grundrechtlichen Schutzpflichten des Staates überhaupt nicht ausgelöst werden153. Daraus folgt: Überall dort, wo Umwelt unabhängig von der konkreten Gefährdung Einzelner geschützt werden muß - also keine unmittelbaren Individualgüter oder individualisierbare Güter in Betracht gezogen werden können - , wie z.B. bei den überregionalen und globalen Wirkungen der Luftverunreinigungen, der atomaren Entsorgung, bei Automobilabgasen, beim Verkehrslärm, im Bereich der natürlichen Ressourcen hinsichtlich der Erhaltung der Artenvielfalt, des Bodenschutzes, des Landverbrauches etc., besteht grundsätzlich keine staatliche Schutzpflicht (auch) für die natürliche Umwelt aus den Grundrechtsgewährleistungen154. Eine selbstverständliche Folge des Individualgüterschutzes ist außerdem, daß der Umweltschutz aus sog. ökozentrischem Aspekt nicht von der grundrechtlichen Schutzpflicht erwartet werden kann. Damit ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der für den Umweltschutz relevanten, grundrechtlichen Schutzpflicht und der auf die Umweltschutzklausel des Art. 20a GG begründeten Umweltschutzpflicht des Staates zu machen: Während bei ersterer eindeutig eine Anbindung des Schutzgegenstands an das Individuum erforderlich ist, steht bei zweigenannter nur ein allgemeiner Bezug auf menschliche Interessen im Vordergrund.
2. Umweltvermittelte Gefahren von nicht-staatlicher Seite Eine weitere Voraussetzung für das Auslösen der grundrechtlichen Schutzpflicht ist das Vorhandensein von Übergriffen Privater in die grundrechtlichen Schutzgüter. Die grundrechtliche Schutzpflicht steht in einem komplementären Verhältnis zu der als primäre und originäre Grundrechtsfunktion angesehenen staatlichen Nichteingriffspflicht. Aus diesem komplementären Verhältnis ergibt sich, daß beide Pflichten des Staates nur alternativ, niemals aber kumulativ gefordert werden können155. Die Schutzpflicht bezieht sich daher ausschließlich auf nichtstaatlich-verursachte Gefährdungslagen, nicht auch auf staatliche Eingriffe.
153
Es wurde dabei von der verfassungsrechtlichen Schutzlücke gesprochen; vgl. nur Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 142. 154
Bericht der Sachverständigenkommission, Rn. 142; Karpen, in: Thieme (Hrsg.), Umweltschutz im Recht, S. 9 ff. (16); Soell, NuR 1985,205 (208). 155 Dietlein, Die Lehre von grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 87, 88; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 116 ff.
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3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
Die die staatliche Schutzpflicht auslösenden Gefährdungen für die umweltschutzrelevanten grundrechtlichen Schutzgüter sind jedoch nicht auf die Gefährdungen mit inländischem Ursprung beschränkt. Die von im Ausland gelegenen Anlagen ins Inland eindringenden Immissionen gelten beispielsweise auch als grundrechtsrelevanten Gefahren für das Auslösen der Schutzpflicht156. Die die Schutzpflicht auslösenden Gefahrdungen müssen aber eine bestimmte Gefahrdungsintensität aufweisen157; reine Vermutungen, bloße Unannehmbarkeiten sowie Belästigungen können nicht Gegenstand der Schutzpflicht sein158. Im vorliegenden Zusammenhang ist es ohnehin einleuchtend, daß nicht jede Einwirkung auf die Umwelt ausgeschlossen werden kann. Als Begrenzungsorientierung sind die Kategorien von Gefahr, Risiko und Restrisiko maßgebend, die auf die Eintrittswahrscheinlichkeit und das Schadenausmaß abstellen, wie oben schon ausführlich dargelegt159. Das dort gewonnene Ergebnisfindet auch hier Anwendung: Der Tatbestand der Schutzpflicht deckt zwar sowohl die Gefahr i.e.S. als auch das Risiko ab, nicht aber das Restrisiko, das als unvermeidbare Zivilationsrisiken bezeichnet wird160. 3. Kausalitätsfrage Das „Zur-Wirkung-Bringen" 161 der grundrechtlichen Schutzpflicht für den Umweltschutz erfordert über die oben dargestellten Voraussetzungen hinaus noch die feststellbare Kausalität zwischen der Umweltbeeinträchtigung und der Betroffenheit der bezogenen grundrechtlichen Schutzgüter162. Im konkreten Fall ist diese Kausalität aber schwerlich nachzuweisen. Die Ursache-Wirkung-Beziehungen sind im Umweltschutzbereich ohnehin hochkomplex. Insbesondere steht in der Umweltfrage meistens nicht ein individueller Verursacher einem individuellen Geschädigten gegenüber, sondern eine Vielzahl von Verursachern von Umweltbelastungen trägt dazu bei, daß bei im einzelnen nicht im voraus und oft
156
So auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 125; Vgl. auch BVerJGE 72,66 (75 ff.) - Fluglärm des Flughafens Salzburg. 157 Über die Bedeutung füe die Bestimmung der Intensität des Gefährdungspotential siehe oben in Kapiel 5IV C 1. 158 Vgl. auch Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 111, Rn. 107. 159 Siehe oben in 4. Kapiel IV C 2. 160 Ausführlich siehe oben 5. Kapitel IV. 161 Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (182). 162 Vgl. Rauschning, WDStRL 38 (1980), 167 (179,180); Soell, NuR 1985,205 (208).
8. Kap.: Die Grundrechtsbestimmungen und Umweltschutz
209
auch nicht im nachhinein feststellbaren Individuen Schäden eintreten163. Ein Beispiel dafür zeigt die Erwartung der staatlichen Umweltschutzreaktion auf das „Waldsterben". Die Kausalität sei unter Berücksichtigung grenzüberschreitender Einwirkungen kaum festzustellen; sie ist im einzelnen weithin noch ungeklärt164. Die Folge daraus ist, daß die agrarischen Eigentümer bisher erfolglos nach staatlichem Umweltschutz vor Gericht gerufen haben165. Auch diese Voraussetzung bildet eine Schranke für die Leistungsfähigkeit der grundrechtlichen Schutzpflicht hinsichtlich des Umweltschutzes.
B. Umweltschutzaufgabe als Erfüllung der grundrechtlichen Schutzpflicht des Staates Besteht der grundrechtlichen Schutzpflicht, so muß der Staat die grundrechtlich geschützten Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen Dritter in Schutz nehmen. Daraus ergibt sich nämlich die staatliche Schutzaufgabe. Der Umweltschutz dient hier folglich als notwendiges Mittel zum Schutz grundrechtlich geschützter Rechtsgüter. Verpflichtet sind zwar alle drei staatlichen Gewalten (Art. 1 Abs. 3 GG), der Gesetzgeber ist aber wegen der Offenheit der zu erfüllenden verfassungsrechtlichen Schutzaufgaben zuerst zum Tätigwerden gefordert. Da die objektiv-rechtliche Natur der grundrechtlichen Schutzpflicht mit der Kategorie der Staatszielbestimmungen durchaus vergleichbar ist166, ist für die Erfüllungsproblematik der grundrechtlichen Schutzpflicht im Detail auf die oben dargestellte dogmatische Struktur der Erfüllung der aus der Umweltschutzklausel abgeleiteten Umweltschutzaufgabe hinzuweisen167. Nicht zu übersehen ist jedoch, daß die aus den grundrechtlichen Schutzpflichten abzuleitende Umweltschutzaufgabe des Staates nur eine Staatsaufgabe unter vielen ist. Ihr kommt in der Regel keine bestimmte Priorität zu. Eine Abwägung des Gesetzgebers ist daher unerläßlich, wenn die Umweltschutzerfordernisse mit den anderen Interessen, wie z.B. wirtschaftlichen Belangen, in Konflikt geraten. Ein absolut sicherer Ausschluß jeder Umwelteinwirkung ist jedenfalls vom Gesetzgeber nicht zu verlangen. Die staatliche Umweltschutzleistung soll aber nicht die Untermaßgrenze unterschreiten168. Dabeifindet das
f.
163
Vgl .Murswiek, WiVerw 1986,179 (189); ders., Umweltschutz als Staatszweck, S. 34
164
Vgl. Leisner, Umweltschutz durch Eigentümer, S. 39. Dazu ausführlich bei Leisner, Umweltschutz durch Eigentümer, S. 38 ff. H. M.; vgl. nur Bericht der Sachverständigkommission, Rn.133. Siehe oben in ó.Kapitel. Dazu ausführlich siehe oben in 5. Kapitel IV C 1 sowie in 6. Kapitel Π 1 a).
165 166 167 168
14 Tsai
210
3. Teil: Mittelbare Gewährleistungen des Umweltschutzes im GG
Untermaßverbot Anwendung169. Die Auffassung, daß bei der staatlichen Umweltschutzpflicht aus den bezogenen grundrechtlichen Schutzpflichten nicht mehr als das „ökologische Existenzminimum" gefordert werden könne170, greift jedoch zu kurz. Die grundrechtliche Schutzpflicht macht die Schutzgütersicherheit zum Ziel, die nicht vorab auf einen „Minimumschutz" reduziert werden darf. Die staatliche Umweltschutzpflicht kann daher über die Gewährleistung eines Existenzminimums insofern hinausgehen, als die Umweltschutzpflicht für die Sicherheit der Schutzgüter unerläßlich ist171. Insgesamt läßt sich festhalten, daß die Leistungsfähigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten zugunsten des Umweltschutzes wegen der Akzessorität des Umweltschutzes zu der grundrechtlichen Rechtsgütersicherheit nicht sonderlich hoch veranschlagt werden darf, auch wenn dabei nicht zu leugnen ist, daß ein entscheidender Teil der Umweltschutzerfordernisse von der grundrechtlichen Schutzgütersicherheit abgedeckt werden kann. Die Eigenschaft des Grundrechtsschutzes bedingt die Reichweite der aus den grundrechtlichen Schutzpflichten abzuleitenden Umweltschutzpflicht des Staates.
169
Siehe oben in 5. Kapitel Π 1 a). So Kloepfer, Umweltrecht, S. 19 ff.; ders., DVB1. 1988, 305 (310). Zu dem Begriff ,ökologisches Existenzminimum" siehe Scholz, JuS 1976,232 (234). 171 So auch Murswiek, DVB1. 1994,77 (82). 170
Zusammenfassung
Zur Einleitung 1.
Angesichts der fortdauernden Umweltzerstörungen und -belastungen ist eine wirksame Erhaltung und ein effektiver Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen heutzutage zweifellos eine der wichtigsten Herausforderungen der Risikogesellschaft. Da die Gesellschaft nur schwach in der Lage ist, die Umweltprobleme selbst zu lösen, ist der Staat zu wirksamen Maßnahmen zum Umweltschutz mit zunehmenden Erwartungen aufgefordert. Zur Bestimmung der Reichweite und Grenze der dem Staat auferlegten Umweltschutzaufgabe wird sich das Augenmerk des Juristen zunächst und vor allem auf die verfassungsrechtliche Grundordnung, das Grundgesetz, richten.
Zum ersten Kapitel 2.
Die Frage, wie der Umweltschutz als Thema der Staatsaufgaben ins verfassungsrechtliche System des Grundgesetzes einzuordnen ist, ist in zwei Richtungen zu bedenken: Die Staatsaufgaben sind verfassungsrechtlich entweder formell-prozedual oder inhaltlich-material zu bestimmen. Die Staatsaufgaben sind in erster Linie im offenen politischen Prozeß der Auseinandersetzung und in den förmlichen Entscheidungsverfahren der repräsentativ-demokratischen, gewaltenteiligen Staatsorgane auszuwählen und zu erledigen. Dafür ist vornehmlich die parlamentarische Volksvertretung und - eingeschränkt - die Regierung zuständig. Materielle Ermächtigungen der Verfassung für die Auswahl der Staatsaufgaben sind nicht erforderlich.
3.
Durch materiell-inhaltliche Zuweisungen des Grundgesetzes für die staatlichen Tätigkeiten sind die Staatsaufgaben auch unmittelbar dem Grundgesetz zu entnehmen. Da dem Grundgesetz unverbindliche Verheißungen oder Appellefremd sind, sind derartige Staatsaufgaben dem Gesetzgeber mit gewisser Bindungskraft anvertraut. Für die Feststellung der von der Verfassung vorgesehenen Staatsaufgaben kommt es aber nicht nur auf die wörtlichen, expliziten Zuweisungen der Verfassung an. Letzten Endes ist es eine Frage der Auslegung der Verfassung.
4.
Die die Staatsaufgaben begründenden Verfassungsnormen sind auf verschiedene Normtypen zurückzuführen: Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge und die grundrechtlichen Schutzpflichten. Staatsziel-
14*
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Zusammenfassung
bestimmtmgen liegen auf der höchsten Ebene als Leitlinie und Zielvorgabe fur staatliches Handeln unter der Geltung des Grundgesetzes. Sie sind objektiv-rechtliche Verfassungsnormen mit Bindungswirkung gegenüber aller Staatsgewalt und verschaffen in der Regel dem Einzelnen keine durchsetzbare Rechtsposition. Gesetzgebungsaufträge betreffen in der Regel keine grundsätzlichen staatspolitischen Fragen, sondern konkrete Handlungsverpflichtungen für den Gesetzgeber. Aus den bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften sind keine verbindlichen Staatsaufgaben zu begründen. Die aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte abgeleiteten Schutzpflichten des Staates definieren auch die verfassungsrechtlich verpflichtenden Staatsaufgaben, die das staatliche Tätigwerden erfordern. Zum zweiten Kapitel 5.
Der Aufruf zur Aufnahme einer ausdrücklichen Gewährleistung des Umweltschutzes in das Grundgesetz begründete sich einerseits aus der Gewährleistungslücke und aus Regelungsdefiziten des Grundgesetzes hinsichtlich des Umweltschutzes, andererseits aus der Erwartung einer Impuls-, Integrations- und Edukationsfunktion einer derartigen Verfassungsvorschrift für die Politik und das Gemeinwesen. Das Gegenargument gegen die verfassungsrechtliche Verankerung des Umweltschutzes stützt sich zum einen - hinsichtlich des Grundrechts-Modells - auf die Unvereinbarkeit mit dem grundgesetzlichen Gewährleistungssystem und auf die Abgrenzungsschwierigkeit der zuzuerkennenden subjektiven Rechte, und verweist zum anderen - hinsichtlich des Staatszielbestimmungs-Modells auf die Überflüssigkeit einer ausdrücklichen Umweltschutzklausel und auf die bedenkliche Verrechtlichung der Politik.
Zum dritten Kapitel 6.
Die Umweltschutzklausel ist eine Staatszielbestimmung: Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gilt nämlich als ein verfassungsrechtlich festgelegtes Staatsziel, dessen Beachtung von allen Staatsorganen bei der Ausübung der öffentlichen Gewalt verlangt wird. Diese Klausel ist zugleich eine verfassungsrechtliche Aufgabennorm, die das Thema der Staatsaufgaben betrifft und die Verwirklichung dieser Aufgabe durch staatliche Handlungen erfordert. Inhaltlich gesehen ist sie daher eine verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung für den Staat.
7.
Die Umweltschutzklausel wirkt als objektiv-rechtliche Norm. Ihr fehlt der subjektive Rechtsvermittelungscharakter; aus ihr kann daher eine subjektive Rechtsträgerschaft für Wahrung eigener Interessen nicht begründet werden. Selbst wenn ein evidenter Verstoß des Gesetzgebers im Hinblick auf das Umweltschutzgebot vorliegt, kommt keine unmittelbare Rüge
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durch den einzelnen in Betracht. Dabei ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß die Umweltschutzklausel eine subjektiv-rechtliche Ausstrahlungswirkung in Verbindung mit den Grundrechten entfalten kann. Zum vierten Kapitel 8.
Die natürlichen Lebensgrundlagen sind an sich kein erst durch die gesetzliche Normierung konstituiertes Rechtsinstitut; der Bedeutungsinhalt des Begriffs ist bis zu einem gewissen Grad klar bestimmbar und auch als unumstritten anzusehen. Der sachliche Schutzbereich der Umweltschutzklausel ist die als physischbiologische Existenzgrundlage des menschlichen Lebens anzusehende natürliche Umwelt. Bei der Konkretisierung des Schutzgegenstandes der Umweltschutzklausel sind auch die vorhandenen verfassungsrechtlichen Schutzgüter und Wertentscheidungen zu berücksichtigen und daraus sachliche Implikationen für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu entnehmen. Dabei spielen insbesondere die Grundrechtsgewährleistungen eine erhebliche Rolle.
9.
Die künftigen Generationen gehören selbstverständlich zum Bedeutungsgehalt des Begriffs vom Menschen und sind deshalb auch Bezugspunkt der staatlichen Umweltschutzaufgabe. Insoweit hat die ausdrückliche Nachweltorientierung „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen" in Art. 20a GG keine eigenständigen Inhalt erzeugende Kraft. Die Bedeutung eines verfassungsrechtlichen Bekenntnisses zur Verantwortung für die künftigen Generationen liegt darin, daß der Staat bei der Wahrnehmung der heutigen Maßnahmen bezüglich des Umweltschutzes auch die Zukunftsrisiken mit einkalkulieren muß.
10. Mit der Zufügung der Formel „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnungdie sich auf die Gesamtheit der Normen des Grundgesetzes bezieht, ist die Gleichwertigkeit aller Verfassungsgüter hervorgehoben: Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen darf einerseits nicht sachwidrig vernachlässigt werden, andererseits kann er aber auch keine Geltungspriorität beanspruchen. 11. Die Umweltschutzklausel verpflichtet den Staat, die natürlichen Lebensgrundlagen unter Berücksichtigung der künftigen Generationen mit angemessenen Maßnahmen in Schutz zu nehmen. Gefordert ist das Tätigwerden des Staates; insoweit ist auch folgerichtig die positive Handlungspflicht als Gebot der Schutzverpflichtung aus Art. 20a GG abzuleiten. Dagegen ist aus dieser Umweltschutzklausel als solcher in der Regel kein Eingriffsverbot für den Staat abzuleiten. 12. Bei der verfassungsrechtlichen Umweltschutzgewährleistung geht es um die Rechtsgütersicherheit, die auf die Sicherheit des Schutzgutes als solche zielt. Anders als die Garantie der Rechtssicherheit, bei der Relativi-
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tät des Rechtsverhältnisses herrscht, ist die Gewährleistung der Rechtsgütersicherheit an sich eher eine absolute Garantie, die unabhängig von dem Rechtsverhältnis ist. 13. Beim Umweltschutzgebot wird hauptsächlich eine präventive, nicht aber eine repressive Aktivität des Staates gefordert. Nicht erst das Eintreten der konkreten, tatsächlichen Schäden oder akuten, jedenfalls feststehenden Beeinträchtigungen für die Umweltschutzgüter löst die Umweltschutzpflicht des Staates aus, sondern der Staat hat schon zeitlich vorverlagert bei den Gefahrenherden anzusetzen. 14. Die von der Verfassung geforderte Umweltschutzverpflichtung des Staates gewährt keinen totalen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen im Sinne absoluter Sicherheit. Die Sicherheitskonzeption unter der Umweltschutzklausel kann nur relativ verstanden werden; sie ist danach von der die staatliche Schutzpflicht aktivierenden Gefahrdungsintensität abhängig. 15. Der Staat ist zunächst zur Gefahrenabwehr verpflichtet. Gefahrenabwehr dient der Schadensabwendung. Dem Staat obliegt demnach die Gefahrenabwehrpflicht als Schutzpflicht vor drohenden Gefahren für die natürlichen Lebensgrundlagen. Die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung des Staates bezieht sich aber auch auf den Bereich der noch nicht die Gefahrenschwelle überschreitenden Risiken und fordert Risikovorsorgemaßnahmen des Staates. Diese Schutzpflichtung des Staates kann jedoch kernen vollständigen Ausschluß jeglichen Risikos gebieten; ein bestimmtes Restrisiko als Ungewißheit jenseits der Schwelle der praktischen Vernunft wird verfassungsrechtlich akzeptiert und begrenzt die verfassungsrechtlich geforderte Schutzpflicht. 16. Nicht nur die von privaten Dritten ausgehenden Gefahrenquellen, sondern auch die natürlichen Gefahren, sind für das Auslösen der staatlichen Schutzverpflichtung relevant. Zum Jünften Kapitel 17. Die verfassungsrechtliche Schutzverpflichtung ist stets konkretisierungsbedürftig. Bei einer derartigen Schutzverpflichtung handelt es sich ihrer Rechtsnatur nach um eine Prinzipiennorm, die gebietet, daß die Umweltschutzaufgabe in einem hohen Maße konkretisiert und realisiert wird. Sie enthält daher ein Optimierungsgebot und eine Verwirklichungstendenz. Sie gilt als ein Finalprogramm. Dazu genießen die Adressaten, vornehmlich die politische Macht Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Art und Weise, der Finanzierung und der Modalität der Aufgabenbewältigung. Die Verfassung ist selbst nicht in der Lage, die Ausgestaltung der Schutzaufgabenbewältigung abschließend zu bestimmen.
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18. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung kraft der Umweltschutzaufgabe geht von einer vorab bestimmten Kompetenzordnung aus. Die zur Ausübung öffentlicher Gewalt berufenen Organe der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung im Bund und in den Ländern bleiben bei der Erfüllung der sie treffenden Aufgabe und Verpflichtung aus Art. 20a GG auf die allgemeine Kompetenzordnung des Grundgesetzes angewiesen. Eine Eingriffslegitimation der Exekutive und Judikative darf außerdem nicht unmittelbar auf die Umweltschutzklausel gegründet werden. 19. Der Gesetzgeber ist der primäre und unmittelbarer Adressat der verfassungsrechtlichen Umweltschutzverpflichtung. Er besitzt eine Konkretisierungsprärogative bei der Erfüllung des Verfassungsgebots zum Umweltschutz gegenüber der vollziehenden und der rechtsprechenden Gewalt. 20. Die Umweltschutzverpflichtung des Gesetzgebers ist in erster Linie ein positiver und verbindlicher Normgestaltungsauftrag für den Gesetzgeber. Diese Gesetzgebungspflicht ist eine permanente Aufgabe. Dem Gesetzgeber wird außerdem eine Nachbesserungspflicht abverlangt, wenn ein bestimmtes Gesetz das von der Verfassung geforderte Maß an Schutz nicht mehr zu gewährleisten vermag. 21. Für die sachliche Reichweite der Schutzverpflichtung des Gesetzgebers kommt es zunächst auf den Ausschluß der che Umweltschutzpflicht auslösenden Gefährdungen an. Obwohl ein totaler Ausschluß der Gefährdungen nicht zu erwarten ist, muß der gesetzgeberische Schutz für die natürlichen Lebensgrundlagen das Schutzminimum erreichen. Dieses Untermaßverbot kann das Bundesverfassungsgericht vom Gesetzgeber einfordern. 22. Die gesetzgeberischen Umweltschutzmaßnahmen, die in Erfüllung der Umweltschutzpflicht erlassen werden und dabei die grundrechtlichen Freiheiten tangieren, müssen sich rechtfertigen lassen, auch wenn sie sich ihrerseits auf die verfassungsrechtliche Umweltschutzverpflichtung stützen. Hier greift also der Eingriffsvorbehalt der Grundrechte grundsätzlich ein. Insoweit bilden die Grundrechte eine Grenze der gesetzgeberischen Umweltschutzpflicht. Die vom Gesetzgeber zu verwirklichenden verfassungsrechtlich verpflichtenden Aufgaben, die jeweils ein Untermaßverbot beinhalten, können auch eine negative Grenze der gesetzgeberischen Umweltschutzaufgabe setzen. Der Grundsatz, die Staatsaufgabe Sicherheit stehe unter dem Vorbehalt des Möglichen, gilt auch für die staatliche Umweltschutzaufgabe. 23. Staatliche Schutzmaßnahmen für die natürlichen Lebensgrundlagen haben eine wesentliche Bedeutung für das Gemeinwesen und sind deshalb im Hauptpunkt dem Gesetzgeber vorbehalten, der primärer und unmittelbarer Adressat der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht ist. Von funktionsspezi-
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fischer Dimension her betrachtet, umfaßt die gesetzgeberische Umweltschutzaufgabe das, was unter dem Wesentlichkeitskriterium von dem Gesetzgeber gefordert werden kann. 24. Dem Gesetzgeber kommt bei der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe ein erheblicher Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum Diese Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers endet dort, wo das Effektivitätsgebot und das Bestimmtheitsgebot eingreifen.
zu
25. Da die Gesetzgebung zur Erfüllung der verfassungsrechtlich geforderten Umweltschutzaufgabe nicht schlicht Verfassungsauslegung bzw. -konkretisierung, sondern politisch gestaltende Tätigkeit im Rahmen von inhaltlichen Vorgaben der Verfassung ist, haben die vom Gesetzgeber zur Ausfüllung der Umweltschutzverpflichtung getroffenen Schutzregelungen keinen Verfassungsrang. Die die staatliche Umweltschutzverpflichtung begründende Verfassungsnonn als solche gewährleistet grundsätzlich keine Bestandsgarantie. 26. Die vollziehende Gewalt im Sinne des Art. 20a GG umfaßt Regierung und Verwaltung. Die Erfüllung der exekutivische Umweltschutzverpflichtung erfolgt nach Maßgabe von Gesetz und Recht, wobei nur das schon in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Exekutive wiederholt wird. Die zwei Ausprägungen der Gesetzmäßigkeit der Exekuive, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, finden auch hier Anwendung. Der vollziehenden Gewalt bleibt wegen der Bindungsklausel und der Konkretisierungsbedürftigkeit der Umweltschutzverpflichtung nur eine sekundäre Stellung in der Erfüllung der Umweltschutzaufgabe. Die Erfüllung der exekutiven Schutzaufgabe kann sich in der Regel weitgehend in der Anwendung der vom Gesetzgeber erlassenen Gesetze realisieren. 27. Diejudikative Schutzverpflichtung vollzieht sich auch nur nach Maßgabe von Gesetz und Recht. Die rechtsprechende Gewalt erfüllt diese Aufgabe in erster Linie durch Anwendung des umweltschützenden einfachen Rechts. Die Umweltschutzklausel wirkt also grundsätzlich als eine Auslegungsrichtlinie für die rechtsprechende Gewalt. Zum sechsten und siebten Kapitel 28. Das Umweltschutzgebot stellt kein Spezifikum des Sozialstaatsgebots dar; es kann daher nicht dem Sozialstaatsgebot zugeordnet werden. Eine Berufung auf das Sozialstaatsprinzip zur Begründung einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zu umfassendem Umweltschutz bleibe erfolglos. Aus den Kompetenzenvorschriften können zwar konkludent die möglicherweise vom Staat wahrzunehmenden Staatsaufgaben, nicht aber die verfassungsrechtlich verpflichtende Staatsaufgabe zum Umweltschutz abgeleitet werden.
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Zum achten Kapitel 29. Das Ziel des Umweltschutzes kann teilweise auch mittels der grundrechtlichen Schutzgüter erreicht werden. Der Bezugspunkt der Grundrechtsgewährleistungen für die Umweltschutzbedürfhisse ergibt sich daraus, daß durch die natürliche Umwelt vermittelte Gefährdungen oder Beeinträchtigungen auf die grundrechtlichen Schutzgüter einwirken, und deshalb den grundrechtlichen Schutzbereich berühren. Für den Umweltschutz relevante Grundrechtsgewährleistungen sind vor allem Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 14 GG. Für die Inpflichtnahme des Staates zum Umweltschutz kommt vor allem die grundrechtliche Schutzpflicht des Staates in Betracht.
30. Obwohl der Umweltschutz als Mittel des Schutzes für Grundrechtsgüter dienen kann, darf die Leistungsfähigkeit der grundrechtlichen Schutzpflichten zugunsten des Umweltschutzes nicht sonderlich hoch veranschlagt werden. Der Grund dafür ergibt sich aus der Eigenschaft des Grundrechtsschutzes, die die Tragweite der abzuleitenden Umweltschutzpflicht des Staates bedingt. Zuerst geht Grundrechtsschutz immer vom Schutz der Individualgüter aus. Beim Schutz der Umwelt kommen aber nicht unbedingt Individualgüter in Frage. Die für das Auslösen der grundrechtlichen Schutzpflicht erforderliche Kausalität zwischen der Umweltbeeinträchtigung und der Betroffenheit der berührten grundrechtlichen Schutzgüter ist außerdem im konkreten Fall häufig schwerlich nachzuweisen. Soweit sich die Grundrechte als ungenügende Gewährleistungen für die Umweltschutzbedürfhisse erweisen, gewinnt die Umweltschutzklausel des Art. 20a GG eine selbständige Bedeutung. Sie tritt mit ihrem spezifischen Schutz- und Garantiegehalt neben den Freiheitsschutz durch die Grundrechte.
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