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German Pages 262 Year 1992
W A L T E R S C H M I T T GLAESER
Private Gewalt im politischen Meinungskampf
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 586
Private Gewalt im politischen Meinungskampf Zugleich ein Beitrag zur Legitimität des Staates
Von
Prof. Dr. Walter Schmitt Glaeser unter Mitwirkung von Dr. Hans-Detlef Horn Universität Bayreuth
Zweite, ergänzte Auflage
Duncker & Humblot * Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schmitt Glaeser, Walter: Private Gewalt im politischen Meinungskampf : zugleich ein Beitrag zur Legitimität des Staates / von Walter Schmitt Glaeser. Unter Mitw. von Hans-Detlef Horn. - 2., erg. Aufl. Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 586) ISBN 3-428-07520-X NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-07520-X
Die Bedrohung der Freiheit in der modernen Gesellschaft kommt nicht vom Staat, wie der Liberalismus annimmt, sondern von der Gesellschaft. Hannah Arendt, Vita activa (1960), S. 331.
Wenn die Willkür und die Gesetzlosigkeit frech und dreist ihr Haupt zu erheben wagen, so ist dies immer ein sicheres Zeichen, daß diejenigen, welche berufen waren, das Gesetz zu verteidigen, ihrer Pflicht nicht nachgekommen sind. Rudolf von Jhering, Der Kampf ums Recht (1872), S. 26.
Vorwort zur 2. Auflage In den knapp zwei Jahren seit dem Erscheinen der 1. Auflage hat sich nichts ereignet, was eine konzeptionelle Überarbeitung des Buches erfordert hätte. Im Jahre 1991 eröffnete sich aber mit Vehemenz ein neues Feld tiefgreifend-menschenverachtender Gewalttätigkeiten vornehmlich jugendlicher Täter gegen Ausländer bzw. Asylbewerber, Wirtschafts- oder genauer Armutsflüchtlinge, zum Teil auch gegen Personen und Einrichtungen der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte in Deutschland sowie gegen deutschstämmige Aussiedler. Diese deprimierende Entwicklung bedurfte einer ausführlichen Schilderung und einer wenigstens vorläufigen Bewertung. Auch die Fortsetzung linksextremistischer Gewalttaten mußte angemessene Berücksichtigung finden, so daß vor allem im 2. Kapitel Ergänzungen vorzunehmen waren. Neuerschienene Literatur und Rechtsprechung wurden eingearbeitet. Mein Assistent, Herr Dr. Hans-Detlef Horn, hat mir auch bei der Herstellung der 2. Auflage wertvolle Hilfe geleistet. Dafür möchte ich ihm herzlich danken. Sehr zu danken habe ich ebenso wiederum meiner Sekretärin, Frau Marlen Eckenberger, die mit vorbildlicher Genauigkeit die mühevolle Erstellung der Reinschrift besorgte.
Bayreuth, im Mai 1992 Walter Schmitt Glaeser
Vorwort zur 1. Auflage Nie wieder Gewalt gegen einen demokratischen Rechtsstaat anzuwenden oder zuzulassen - dies war einer der nationalen Schwüre der Deutschen in der Bundesrepublik nach dem 2. Weltkrieg und eine der Folgerungen aus schmerzvoll geborenen Erkenntnissen um den Niedergang der Weimarer Republik. Seit über zwanzig Jahren wird dieser Schwur immer und immer wieder gebrochen, mit verteufelt gutem Gewissen, nicht nur von Randgruppen, häufig unter Duldung, nicht selten sogar mit Billigung der für unseren freiheitlichen Rechtsstaat Verantwortlichen und flankiert von Rechtfertigungsideologien sich als "progressiv" gerierender Wissenschaftler und Richter. Ende 1987 hat die Bundesregierung eine "Unabhängige Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission)" konstituiert, die am 16. Januar dieses Jahres ihr Gutachten vorgelegt hat. Es enthält auch eingehende und umfangreiche Überlegungen zur politisch motivierten Gewalt. Der Bericht, seine Analysen und seine Vorschläge zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt, ist eine deprimierende Bilanz, aber auch ein Dokument der Besinnung und der Hoffnung. Mit aller Entschiedenheit betont die Kommission: "Es muß alles getan werden, um die Öffentlichkeit bzw. Bevölkerung zu überzeugen, daß Gewalttätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland weder zu heroisieren noch juristisch, ideologisch oder politisch zu rechtfertigen, sondern ohne Wenn und Aber abzulehnen ist." Freilich: Der Wunsch der Kommission, "daß die Ergebnisse ihrer Arbeit konstruktiv aufgenommen und nicht in die Freund-Feind-Schablonen der parteipolitischen Auseinandersetzungen eingeordnet werden", dürfte sich kaum erfüllen. So meint etwa Heribert Franti schon einen (!) Tag nach der Vorlage des Gutachtens in der Süddeutschen Zeitung (vom 17.1.1990) feststellen zu müssen, es sei "mit dem polizeistaatlichen Griffel geschrieben", und die Analysen, die sich mit der politisch motivierten Gewalt beschäftigten, krankten "an einer Dramatisierung der Situation". Diese Äußerung ist symptomatisch für die Einstellung gewisser Kreise in unserem staatlichen Gemeinwesen, die - aus welchen Gründen auch immer - die Augen vor der Wirklichkeit verschließen und die Gefahren nicht wahrnehmen
10
Vorwort
(wollen), die unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie durch die politisch motivierte Gewalt erwachsen. Die Verharmlosung gewalttätiger Ausschreitungen in politicis gehört zu einer der wichtigsten Strategien der Gewaltrechtfertiger. Die vorliegende Abhandlung begnügt sich daher nicht mit einer bloßen Registrierung privater Gewaltsamkeiten der letzten zwanzig Jahre, sondern bemüht sich um eine exemplarische Dokumentation tätlicher Angriffe auf unsere Republik, vor allem anhand von Berichten in der seriösen Presse (2. Kap., A). Ein weiterer Akzent liegt auf der schematischen Aufbereitung der geistigen Angriffe (2. Kap., B), die bedauerlicherweise auch Realität sind. Spätestens hier erweist sich das Problem des staatlichen Gewaltmonopols und der bürgerlichen Friedenspflicht als Phänomen staatlicher Legitimität. Diesen Grundfragen ist das 3. Kapitel gewidmet. Das 4. Kapitel über die Voraussetzungen und Strategien für eine effektive Gewaltverhinderung beschränkt sich auf einige wenige Aspekte. Die hier angesprochenen Fragen können aus juristischer Sicht nur sehr bedingt beantwortet werden; außerdem hat die (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung vor allem die Verhinderung und Bekämpfung gerade auch der politisch motivierten Gewalt eingehend behandelt. Es ist mir ein besonderes Anliegen, Herrn Dr. Hans-Detlef Horn für seine wertvolle Hilfe bei der Abfassung der Schrift herzlich zu danken. Die von ihm geleistete Unterstützung ging weit über eine bloße Assistenz hinaus. Er ist daher im Titelblatt auch ausdrücklich als Mitarbeiter genannt. Sehr zu danken habe ich auch meiner Sekretärin, Frau Marlen Eckenberger, die mit viel Fleiß und Akkuratesse die Reinschrift erstellt hat.
Bayreuth, im Juli 1990 Walter Schmitt Glaeser
Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
15
Einleitung
19
1. Kapitel
Idee und Funktion des Volkswillensbildungsprozesses A.
26
Die Grundrechte als Basis eines freien und offenen Prozesses der Volkswillensbildung
B.
26
Die verfassungstheoretische Einordnung I. II.
»
27
Volkswillensbildung und Volkswahl
27
Die integrierende Wirkung des Volkswillensbildungsprozesses und seine Friedensfunktion
29
2. Kapitel
Die gegenwärtige Situation: Zunahme politisch motivierter Privatgewalt und Versuche ihrer Rechtfertigung A.
Die tätlichen Angriffe I.
II.
32 33
Terroristische Gewalt
33
1.
Linker und rechter Terror: die Extreme berühren sich
34
2.
Eindeutige Ablehnung durch die Bevölkerung
41
Gewalttaten anderer Art und Mischformen
41
1.
Schwerpunkt "Demonstrationen"
42
2.
Tarifauseinandersetzungen als neues Feld der Gewalttätigkeiten
48
3.
Die exterritorialen Räume
52
12
nsverzeichnis 4.
B.
Richterliche Privatgewalt - die Pervertierung des Rechtsstaats
Die geistigen Angriffe I.
II.
III.
60 61
In der wissenschaftlichen Literatur
62
1.
Das Grundschema
63
2.
Die "Lehre" von der "strukturellen Gewalt"
65
3.
Der "Ausweg" Gewalt
69
In der Rechtsprechung
75
1.
Die Rechtsprechung der Strafgerichte
76
2.
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
80
a)
Die Brokdorf-Entscheidung
80
b)
Die Sitzblockaden-Entscheidung
99
In der Politik 1.
2.
116
Die Behandlung politisch motivierter Gewalt unterhalb der Schwelle des Terrorismus
116
a)
116
Die Massenmedien
b)
Die Kirchen
121
c)
Die Gewerkschaften
124
d)
Die politischen Amtsträger
126
Die Behandlung politisch motivierter terroristischer Aktionen
131
3. Kapitel
Die Legitimität der Staatsmacht, das staatliche Gewaltmonopol und die Friedenspflicht des Bürgers A.
Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens I. II.
III.
135 140
Der (Grund-)Typus "moderner Staat"
141
Die Strukturprinzipien des modernen Staates: Einheit und Legitimität
142
1.
Das Prinzip der Einheit
143
2.
Das Prinzip der Legitimität
150
Die Legitimation des Staates als Frage seiner Anerkennungswürdigkeit
153
1.
Legitimität als materiale Rationalität und rechtliche Kategorie
153
2.
Die Grundlegung des Staates in ethischen Wertsetzungen
159
nsverzeichnis
IV.
B.
Die Hüter der Legitimität
163
4.
Gesichtspunkte der Legitimität
167
Die Legitimität der Staatsmacht und staatliche Gewalt
170
1.
Das Übel der Gewalt und ihrer Rechtfertigung
170
2.
Zum Verhältnis von Macht und Gewalt
175
3.
Die Struktur der Machteinheit und das staatliche Gewaltmonopol
179
Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates I.
II.
C.
3.
Der Ursprung staatlicher Macht: Frieden und Sicherheit als Dokumente der Zivilisation
184
1.
Die Entwicklungslinien des modernen Staates
184
2.
Die Idee des Entstehungsgrundes
187
Echter Friede und echte Sicherheit als Essenz legitimer Staatsmacht
197
1.
Das Recht zum Widerstand als Äquivalent
198
2.
Essentielle Legitimität im modernen und rechtsstaatlich-demokratisch verfaßten Staat 202
Insbesondere: Das demokratische Mehrheitsprinzip I.
Funktion und Legitimität 1.
II.
183
209 209
Das Mehrheitsprinzip als Instrument zur Entdeckung des wirklichen Volkswillens
209
2.
Die Gegenposition: Wahrheit statt Mehrheit
211
3.
Selbstbestimmung statt Wahrheitsfindung
215
4.
Demokratie verlangt auch Schutz der Mehrheit
219
Friedenspflicht und Gewaltfreiheit im Prozeß legitimer Machtbildung
221
1.
Die Bedeutung der Friedlichkeit im Volkswillensbildungsprozeß
221
2.
Der Begriff der Unredlichkeit
224
4. Kapitel
Voraussetzungen und Strategien für eine effektive Gewaltverhinderung A.
Notwendige Grunderkenntnisse I.
Die eigentliche Bedrohung der Freiheit kommt von der Gesellschaft
230 231 231
14
nsverzeichnis II. III.
B.
Die Gewalt ist eine Eigenproduktion unserer staatlichen Gemeinschaft
236
Dialog, Partizipation und Erziehung zur Staatlichkeit
238
Mögliche Gegenstrategien und ihre Instrumente I. II.
243
Familie und Schule als zentrale Orte der Erziehung zur Gewaltlosigkeit
243
Öffentlichkeitsarbeit als politischer Aufklärungs- und Bildungsauftrag
245
III.
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als Vorbilder und Orientierungsträger 246
IV.
Soziale Kontrolle durch den Bürger
Literaturverzeichnis
247
249
Abkürzungsverzeichnis ΑΑ . a.a.O. Abs. AfP AG AL Anm. AöR ARSP Art. BayObLG BayVBl. Bd. BGH BGHSt
= = = = = = = = = = = = = = =
BR BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE bzw. CDU CSU DAG DDR ders. DGB d.h. dies. DKP
= = = = = = = = = = = = = = =
Anderer Ansicht am angegebenen Ort Absatz Archiv für Presserecht Amtsgericht Alternative Liste Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Artikel Bayerisches Oberstes Landesgericht Bayerische Verwaltungsblätter Band Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Bundesrepublik Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise Christlich-Demokratische Union Christlich-Soziale Union Deutsche Angestellten-Gewerkschaft Deutsche Demokratische Republik derselbe Deutscher Gewerkschaftsbund das heißt dieselbe(n) Deutsche Kommunistische Partei
16
Abkürzungsverzeichnis
DÖV DRiZ DVB1. EG EvStL evtl. f. FAZ F.D.P. ff. FN FR GG
= = = = = = = = = = = = =
h.M. Hrsg. / hrsg. i.d.R. IG i.S.d. i.V.m. insbes. i.w.S. JA JbRSoz. JöR JR JuS JZ Kap. KG KJ LG MDR m.(w., z.)N. NJW NStZ NVwZ OLG
= = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = = =
Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Richterzeitung Deutsches Verwaltungsblatt Europäische Gemeinschaften Evangelisches Staatslexikon eventuell folgende (Seite) Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei fortfolgende (Seiten) Fußnote Frankfurter Rundschau Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland herrschende Meinung Herausgeber / herausgegeben in der Regel Industriegewerkschaft im Sinne des / der in Verbindung mit insbesondere im weiteren Sinne Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Kammergericht Kritische Justiz Landgericht Monatsschrift für Deutsches Recht mit (weiteren, zahlreichen) Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Oberlandesgericht
Abkürzungsverzeichnis
PVS RAF RdNr(n). RiA S. sc. SED Sp. SPD StA StGB SZ u.a. u.ä. UPR usw. VersG
vgl. VVDStRL wib z.B. Zeitschr. f. ev. Ethik ZBR ZfP ZParl. ZRP z.T.
2 Schmitt Glaeser
Politische Vierteljahresschrift Rote Armee Fraktion (terroristische Vereinigung) Randnummer(n) Das Recht im Amt Seite scilicet Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Spalte Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsanwaltschaft Strafgesetzbuch Süddeutsche Zeitung und andere(s), unter anderem / anderen und ähnliche(s) Umwelt- und Planungsrecht und so weiter Gesetz über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz) in der Fassimg der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. III 2180-4) vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Woche im Bundestag zum Beispiel Zeitschrift für evangelische Ethik Zeitschrift für Beamtenrecht Zeitschrift für Politik Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik zum Teil
Einleitung Das ist keine Gedächtnisschrift für den Rechtsstaat. Aber es gibt gefährliche Symptome, die zu einer raschen Erosion unseres freiheitlichen Gemeinwesens führen können. Besonders beunruhigend ist die schwindende Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols und der bürgerlichen Friedenspflicht. Bei allzuvielen Bürgern unserer Republik sitzt die Gewalt locker, wenn es um die Durchsetzung ihrer Interessen geht1. Vor allem die politisch motivierte Gewalt hat seit Ende der 60er Jahre besorgniserregend zugenommen. Immer öfter wird versucht, mit Gewalt zu erzwingen, was man mit Argumenten nicht erreicht oder nicht erreichen zu können glaubt2. Natürlich gibt es auch Motive, Ursachen und Erklärungen für die Anwendung politisch motivierter Gewalt. Sieht man von jenen ab, die Gewalt um der Gewalt willen ausüben und daher jede Gelegenheit nutzen, um ihren kriminellen Energien freien Lauf zu lassen, denen es allein auf die Sachbeschädigung und die Verletzung von Menschen ankommt, gleichgültig in welchem Rahmen sich solche Gewalttätigkeiten verwirklichen lassen, ob in Fußballstadien oder aus Anlaß politischer Demonstrationen3 (irrationale Gewalt), so dürften es neben Desorientierungen, Kommunikationsschwierigkeiten, Zukunftsängsten und falschen oder mißverstandenen Vorbildern vor allem zwei Beweggründe sein, die zu Gewaltsamkeiten als Mittel der
1
Das Recht, so konstatiert H. Tröndle
(Die Vernachlässigung und die Ausbeutung des
Rechtsstaates, S. 35), wird allenthalben nur noch dann anerkannt, V e n n es mit den eigenen oder Gruppeninteressen konform geht. Das 'Recht an sich' oder gar seine Autorität und Würde ist wenig gefragt. In der Ausprägung von 'law and order' ist es extrem negativ belegt und Gegenstand von Hohn und Häme...". 2
Dazu statt vieler H. Oberreuter,
Gewalt und Politik, S. 171 ff. m.w.N. - Die Tatsache, daß
die meisten der westlichen Demokratien seit Ende der 60er Jahre eine "Renaissance der Gewalt" erleben (U. Matz, Politik und Gewalt, S. 7), macht die Sache nicht besser. Vgl. dazu W. J. Mommsen, Nichtlegale Gewalt und Terrorismus, S. 441 ff. - Zum Gewaltpotential in den Ländern der EG: H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I V , S. 21 ff. 3
Vgl. H.-D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Ge-
walt, Bd. II, S. 901 ff., S. 934 ff., RdNrn. 101 ff., 184 ff.
20
Einleitung
Konfliktlösung im politischen Bereich führen: Zum einen ist es die Überzeugung, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein, für deren Durchsetzung jedes Mittel recht ist, auch das Mittel der Gewalt. Insbesondere die extremste Form der Gewalt, der Terrorismus, ist - wie Uwe Backes 4 zutreffend feststellt - "weit weniger ein Wirklichkeits- als ein Wahrnehmungsproblem. Nicht so sehr die realen politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse, sondern deren spezifische Perzeption durch eine kleine Minderheit bilden den Hintergrund der Entstehung terroristischer Gruppen"5. Begleitet wird diese Überzeugung häufig von Machttrieb und Fanatismus. Zum anderen ist es das Gefühl oder auch die vermeintliche Gewißheit, auf "normalem" Wege mit der eigenen Meinung nicht durchzudringen, vielleicht nicht einmal Gehör zu finden. Nur allzuleicht paart sich dieses Gefühl mit einem tiefen Mißtrauen gegen Ordnungen und Institutionen im allgemeinen und gegen die Regeln des demokratischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesses im besonderen. Rigorose Interessendurchsetzung wird mit individueller Autonomie verwechselt. Die Folge ist ein politisch-radikaler Egoismus, der im selbstdefinierten "Bedarfsfall" die Identität von Legalität und Legitimität aufkündigt, eine eigene Legitimität contra legem installiert, diese gegen alles und jeden immunisiert und dementsprechend nur noch "eigengefälligen", "selektiven Rechtsgehorsam"6 übt. "Regelverletzung", "ziviler Ungehorsam" und prinzipiell auch die Ausübung privater Gewalt sollen in einer über die Legalität hinausgreifenden Legitimität ihre Basis finden 7. Dieser intellektuelle Touch führt in der in hohem Maße stimmungsanfälligen Gesellschaft der Gegenwart8 zur Einstufung der Renitenz gegen den Staat als "schick", "modern", ja "progressiv"9, dies freilich nur, sofern es sich um "linke" Gewalt handelt. - Häufig sind die beiden Beweggründe auch miteinander verbunden und nur unterschiedlich stark akzentuiert. Hinzu
4
Geistige Wurzeln des Linksterrorismus in Deutschland, S. 41. 5
Exemplarisch für Wahrnehmungsprobleme im literarischen Bereich sind die Beiträge in
dem von H. Janssen und M. Schubert herausgegebenen Sammelband "Staatssicherheit. Die Bekämpfung des politischen Feindes im Innern". 6
R. Wassermann, Ist der Rechtsstaat noch zu retten?, S. 8.
7
Nach Hans H. Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 656, liegt hier, in der Auflehnung ge-
gen die legitime Legalität im Namen einer neuen Legitimität, der Kristallisationspunkt der Diskussion um Grenzen der Mehrheitsdemokratie, g
R. Wassermann, Rechtsstaat ohne Rechtsbewußtsein?, S. 22. 9
Zur Faszination der Gewalt in modernen Gesellschaften: H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 46 f., RdNr. 64.
Einleitung
kommt eine Gewöhnung an gewisse Gewaltsamkeiten, die durch ständige Übung so etwas wie Normalität angenommen haben. Straßenblockaden sind ein Beispiel. In manchen öffentlichen Diskussionen kommt in den Geruch der Unanständigkeit, wer diesen angeblich so "lebendigen" und selbstverständlich "demokratischen" Protest als Gewalt bezeichnet, zumal wenn damit "richtige", "edle" Ziele verfolgt werden. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier ganz allgemein eine Strategie der Gewaltdesensibilisierung in Gang gesetzt ist10. Auf den Begriff der Gewalt bzw. der Unfriedlichkeit ist noch im einzelnen einzugehen11. Im wesentlichen unbestritten ist jedenfalls, welche Gewalt als "politisch motiviert" qualifiziert werden kann. In Anlehnung an den Begriff des politischen Konflikts wird darunter eine Gewalt verstanden, "die von Bürgern zur Erzwingung oder Verhinderung von Entscheidungen, die für die Gesellschaft oder Teilbereiche von ihr verbindlich getroffen werden, eingesetzt wird oder mittels der gegen Zustände und Entwicklungen protestiert wird, die solchen Entscheidungen angelastet werden". Zutreffend ist allerdings der Hinweis, daß die Einstufung von Gewalt als "politisch motiviert" in tatsächlicher Hinsicht Schwierigkeiten begegnet, weil die wahre Motivation des Gewalttäters als ein Internum nicht immer sicher ausgemacht werden kann. Auf eine Unterscheidung nach tatsächlich und vorgeblich politisch motivierter Gewalt muß daher verzichtet werden12.
10
Typisch dafür etwa schon R. Dahrendorf \ Gesellschaft und Demokratie in Deutschland,
S. 235: "Für die Verfassung der Freiheit ist die Herrschaft des Rechts weniger wichtig als die Lebendigkeit des Konflikts." Inzwischen können sich immerhin 36 % der bundesdeutschen Bevölkerung Umstände vorstellen, welche die Anwendung von Gewalt in der Politik rechtfertigen. Die Hälfte davon, also ein Sechstel der Bevölkerung, rechtfertigen Gewaltanwendung mit Überlegungen, die den friedlichen Meinungskampf ernstlich in Frage stellen: "Widerstand" gegen unliebsame Entscheidungen (insbes. in Sachen Umweltbelastung) sowie Gewalt als Reaktion auf Gefühle, der Wählerwille sei mißachtet worden. Es tritt hinzu, daß 24 % der Bevölkerung "passive Hinderung" anderer Personen (z.B. Sitzblockaden) nicht als Gewalt einstufen: H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 48, 47, RdNrn. 67, 65. Insofern kann die Tatsache, wenn sie denn überhaupt zutrifft, daß Gewalt in der Bevölkerung im allgemeinen negativ bewertet und speziell politisch motivierte Gewalt gegen Personen und Sachen von 94,7 % bzw. 95,4 % abgelehnt wird (vgl. H.-D. Schwind / J. Baumann, a.a.O., S. 46,48, RdNrn. 64,68), wenig beruhigen. 11
Unten 3. Kap., C, II, 2.
12
Vgl. auch H.-D. Schwind //. Gewalt, Bd. I, S. 52 f., RdNr. 87.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von
22
Einleitung
Systematisch wird zwischen Amts- oder Staatsgewalt (potestas) und der in diesem Zusammenhang vor allem interessierenden "rohen Gewalt" (violentia oder vis) unterschieden. Die "rohe Gewalt" stellt einen Modus des Handelns dar, der durch eine absichtliche Verletzung oder Vernichtung von Personen und Sachen charakterisiert ist13. Offen bleibt dabei, ob auch die Entfaltung körperlicher Kraft, die in nicht so brutaler Gestalt auftritt, aber in ebenso gezielter Willkür Menschen bei der Bildung und Betätigung ihres Willens behindert, gleichermaßen als Gewalt bezeichnet werden kann. Mit dieser Frage werden wir uns noch zu beschäftigen haben. Konkret angesprochen sind damit Blockaden der unterschiedlichsten Art: das Sitzen oder Stehen auf Straßen oder Straßenbahnschienen, das Bilden von "Menschenmauern" oder von Barrieren aus Kraftfahrzeugen u.ä. mit dem Ziel, Fahrzeuge zum Halten zu bringen, sie am Weiterfahren zu hindern oder Zu- und Ausgänge von Gebäuden oder Anlagen (z.B. Kasernen, Zeitungsdruckereien) zu versperren. Blockaden sind seit geraumer Zeit bevorzugte Mittel politischen Protestes14. Schon hier muß klargestellt werden, daß der gelegentlich unternommene Versuch, wenigstens bei Sitz- und Stehblockaden Gewalt im strafrechtlichen Sinne generell zu verneinen15, weil das "schlichte" Sitzen (Stehen) oder Sitzen- bzw. Stehenbleiben keine Gewalt sein könne16, "allein aus dem Bestreben erklärbar (ist), diese Fälle aus dem Tatbestand des § 240 (StGB) herauszulösen"17, und rechtlich in keiner Weise überzeugen kann. Dabei
13
Vgl. statt vieler U. Matz, Stichwort "Gewalt", in: Staatslexikon, Sp. 1018 f. - Beispiele
sind: Werfen von Steinen und Brandsätzen, Verschießen von Stahlkugeln und Schraubenmuttern mit Zwillen, Schleudern oder Katapulten, Brand- und Sprengstoffanschläge, Anschläge auf den Bahnverkehr und Versorgungseinrichtungen, Überfälle auf Büroräume mit Beschädigung und Zerstörung von Akten und Einrichtungsgegenständen, Beschädigung und Zerstörung von Fahrzeugen, Fensterscheiben und Maschinen. Vgl. auch H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 53 ff., RdNrn. 88, 90 ff. 14
Dazu allgemein, auch zur Mentalität der Blockierer und den Zukunftsperspektiven: W.
Offenloch, 15
JZ1986, S. 11 ff.
So etwa AG Reutlingen vom 18.7.84, NStZ 1984, S. 508/509; AG Frankfurt
vom 13.1.84,
Strafverteidiger 1985, S. 61/62; E vom 15.3.85, ebenda, S. 373/374; E vom 26.7.85, ebenda, S. 462 f.; /. Wolter, 16
NStZ 1985, S. 193 ff., 245 ff., insbes. S. 246 f.
Vgl. auch BVerfGYL
73, 206/244: Nach Auffassung der vier, die Entscheidung nicht tra-
genden Richter, sei den Teilnehmern an der fraglichen Sitzdemonstration keine Gewalt (i.S.d. § 240 StGB) zur Last zu legen; diese hätten sich vielmehr "völlig passiv, also gerade nicht gewaltsam verhalten". 17
E. Dreher/H.
Tröndle, StGB-Kommentar, § 240, RdNr. 12.
Einleitung
wird nämlich völlig außer acht gelassen, daß - wie Winfried Brohrn 18 überzeugend ausführt - bei einer Sitzblockade nicht nur die Phase des (passiven) "Sitzens" und "Sitzenbleibens", sondern auch die des (aktiven) "Sich-Hinsetzens" zu berücksichtigen ist. "Beide zusammen bilden eine soziale Einheit". Mit Recht weist Brohm auch den Einwand zurück, zum Begriff der Gewalt gehöre ein gewisses Maß an aggressivem Verhalten; aber auch wenn man dieses Merkmal akzeptieren sollte, sei "es ohne weiteres in dem Hinsetzen 'zum Zwecke der Behinderung anderer' zu sehen". Auch die Tatsache, daß der Blockierer regelmäßig einen nur geringen physischen Kraftaufwand entfalten muß, um die Freiheit der Willensentschließung und -betätigung des Opfers zu beeinflussen bzw. einen geleisteten oder erwarteten Widerstand zu überwinden, führt nicht dazu, das Vorliegen von Gewalt zu verneinen. Ohne hier auf Einzelheiten der Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs (in Strafsachen) eingehen zu müssen, kann festgestellt werden, daß zwar stets die Entfaltung körperlicher Kraft als essentiell gefordert wurde und wird, die Intensität des Kraftaufwands aber im Laufe der Entwicklung zunehmend an Bedeutung verlor und schon seit langem "auch ein nicht erheblicher Kraftaufwand" als genügend angesehen wird; entscheidend ist das "Maß der bei dem Genötigten eingetretenen Zwangswirkung"19. Prägnant formuliert Harro Otto 20: "Körperlich wird ein Zwang empfunden, wenn das Opfer ihm in der konkreten Situation gar nicht, nur mit erheblicher Kraftentfaltung oder in unzumutbarer Weise begegnen kann". Dementsprechend kommt die Unterkommission VII (Strafrechtswissenschaft) der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung 21 zu dem überzeugenden Ergebnis: "Blockaden, die andere zwingen, anzuhalten oder einen anderen Weg einzuschlagen als den beabsichtigten, die andere am Fortund Weiterfahren hindern, den öffentlichen Verkehr zum Erliegen bringen oder Zu- und Ausgang von bestimmten Gebäuden sowie Anlagen versperren, stellen eine Nötigung mit Gewalt dar, unabhängig davon, ob sie durch eine einzelne Person, eine Menschenmauer oder durch das Errichten von 18
JZ 1985, S. 504 m.N. Vgl. etwa auch E. Dreher / H. Tröndle,
StGB-Kommentar, § 240,
RdNr. 12. 19
K. Schäfer,
in: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, § 240, RdNrn. 7 ff. m.z.N. Vgl.
auch BGHSt 37, 350 ff. 20
Grundkurs Strafrecht, S. 82. Zustimmend K. Schäfer,
in: Strafgesetzbuch. Leipziger
Kommentar, § 240, RdNr. 35 m.w.N. 21
H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. II, S. 887, RdNr. 62.
24
Einleitung
Barrikaden verwirklicht werden. Die körperliche Kraftentfaltung liegt hier im Errichten der Barrikade bzw. im Hinsetzen oder Hinstellen, die beabsichtigte körperliche Zwangswirkung ist im Verhindern der vom Opfer gewollten, ursprünglichen (Fort-)Bewegung zu sehen." Insgesamt allerdings konnte in der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung nur ein Minimalkonsens über den Gewaltbegriff erzielt werden. Im Interesse einer effektiven Zusammenarbeit und einer sinnvollen Verständigung über Ursachen der Gewalt in bestimmten Bereichen und über Konzepte zur Gewaltverhütung mußte der Kommissionsarbeit daher ein restriktiver Gewaltbegriff zugrundegelegt werden; sie orientierte sich an folgender inhaltlichen Ausgestaltung des Gewaltterminus, der weitgehend dem in den Sozialwissenschaften überwiegend anerkannten Gewaltbegriff entspricht: "Der Gewaltbegriff soll aus der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols bestimmt werden. Dabei soll es primär um Formen physischen Zwangs als nötigender Gewalt sowie Gewalttätigkeiten gegen Personen und/oder Sachen unabhängig von Nötigungsintentionen gehen. Ausgeklammert werden sollen die psychisch vermittelte Gewalt im Straßenverkehr und die strukturelle Gewalt."22 So selbstverständlich die Nichtberücksichtigung des strukturellen Gewaltbegriffs ist23, so sehr kann dieser restriktive Gewaltbegriff im übrigen nur als Arbeitsbegriff für die konkrete Kommission hingenommen werden. Wissenschaftlich kann er in keiner Weise überzeugen. Insbesondere läßt sich ein derart restriktiver Gewaltbegriff nicht "aus der Sicht des staatlichen Gewaltmonopols" gewinnen. So betont auch die (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung an anderer Stelle24 selbst, es stehe "außer Zweifel", daß "durch Blokkaden das staatliche Gewaltmonopol tangiert" würde. Das Gewaltmonopol soll nicht nur physische Gewalt verbieten, sondern insgesamt Friedlichkeit sichern25.
22
H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt,
Bd. I, S. 38 f., RdNrn. 31 - 33; zu den Folgen für den Gewaltbegriff bei der strafrechtlichen Nötigung siehe dies., a.a.O., S. 136, RdNr. 381 und S. 216, Vorschlag Nr. 118. 23
Dazu unten 2. Kap., Β, I, 2.
24
H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Präventionen und Kontrolle von Ge-
walt, Bd. I, S. 53, RdNr. 89. 25
Falsch ist schließlich die Behauptung, ein restriktives Verständnis wäre notwendig, um von einem eindeutigen Gewaltbegriff ausgehen zu können: H.-D.
Schwind / J. Baumann
(Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 181, Ziffer 6. Hier wird offensichtlich versucht, aus der Not (des mangelnden Konsenses) eine Tugend zu machen.
Einleitung
Unabhängig davon, ob es sich um "brachiale Gewalt" im Sinne von Gewalttätigkeiten oder um andere Gewaltbetätigungen handelt, in jedem Fall will der Gewaltausübende die Meinungsbildung, genauer den Volkswillensbildungsprozeß als "politischen Meinungskampf' beeinflussen, die öffentliche Meinung und letzten Endes auf diese Weise den Staatswillensbildungsprozeß mitbestimmen, und er will dies auf besonders massive Weise tun, nicht dadurch, daß er überzeugt, sondern dadurch, daß er zwingt, eben mit Gewalt. Politisch motivierte Gewaltausübung durch Private ist also zunächst ein Problem des Volkswillensbildungsprozesses. Hier sollen die Überlegungen beginnen.
1. Kapitel
Idee und Funktion des Volkswillensbildungsprozesses A. Die Grundrechte als Basis eines freien und offenen Prozesses der Volkswillensbildung "Das Grundgesetz selbst geht als selbstverständlich von der in der Demokratie bestehenden Notwendigkeit einer 'politischen Willensbildung des Volkes' aus, wenn es in Art. 21 GG von den Parteien sagt, daß sie daran mitwirken."1 Die Formulierung "mit-wirken" verweist neben den Parteien noch auf andere Kräfte der Willensbildung im gesellschaftlich-politischen Bereich2, auf Vereinigungen (Interessenverbände, Idealvereine, Kirchen u.a.), auf die Massenmedien (Presse, Rundfunk, Film) und nicht zuletzt auf den einzelnen Bürger. Alle diese Kräfte finden in grundrechtlichen Freiheiten die Gewährleistung ihrer möglichen Aktivitäten, und es sind Freiheiten des Bürgers zur Einzelbetätigung (insbes. Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Art. 5 Abs. 3 GG) ebenso wie zur sozialen Gruppenbildung (Art. 9 Abs. 1 GG), zur Tätigkeit in und durch die Gruppe (insbes. Art. 4 Abs. 2, Art. 8, Art. 9, Art. 21 GG) 3 . In ihrer Dimension als Gestaltungsrechte wirken hier die Grundrechte als "funktionelle Grundlage der Demokratie"4, indem sie es dem einzelnen ermöglichen, am politischen Leben der staatlichen Gemeinschaft mitzuwirken und die eigenen Vorstellungen und Werte bei der Ausformung des Gemeinwesens einzubringen5. Ziel ist die Begründung eines Jedermann-Wettbewerbs in Freiheit um die nicht vorgegebene oder verordnete "richtige" Ansicht und die Verhinderung geschlossener Meinungsmärk1
BVerfGE
8,104/112 f.
2
BVerfGE
52,63/83 m.N.
3
Vgl. dazu näher W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, RdNrn. 21 ff.
4
P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG, S. 17 ff.
5
BVerfGE
5, 85/204 ff.; K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 288; W. Schmitt
Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, S. 83 ff., insbes. S. 91 ff. m.z.N.
Β. Die verfassungstheoretische Einordnung
27
te und Eliten. Auf diese Weise ist zum einen dem elementaren Bedürfnis des einzelnen Rechnung getragen, seine Meinung sagen zu dürfen und sich geistig in der Gemeinschaft entfalten zu können. Zum anderen gibt die grundrechtlich abgesicherte Freiheit des Volkswillensbildungsprozesses den Bürgern und Bürgergruppen auch die Möglichkeit, über die Bildung öffentlicher Meinung und die "Vorformung des politischen Willens"6 auf den Staatswillensbildungsprozeß Einfluß zu nehmen.
B. Die verfassungstheoretische Einordnung I. Volkswillensbildung und Volkswahl
Die Einflußnahme des Volkswillensbildungsprozesses auf die Bildung des Staatswillens ist bedeutungsvoll, aber begrenzt. In der freiheitlichen Demokratie unserer Verfassung ist Herrschaft konstituiert und durch das institutionalisierte und streng kanalisierte Verfahren der Volkswahl legitimiert. Das Grundgesetz lehnt die utopische Konzeption einer Demokratie als herrschaftslose Ordnung und damit jede undifferenzierte Identifikation von Staat und Gesellschaft ab. In Erkenntnis der Tatsache, daß es eine Identität von Regierenden und Regierten nicht gibt, jeder Staat als verfaßte Herrschaftsordnung einer Repräsentation bedarf und alle Machtentfaltung dem "Gesetz der kleinen Zahl" unterliegt (Hermann Heller), trennt es in Art. 20 Abs. 2 GG zwischen Legitimation als der Frage nach Sinn und Rechtfertigung von Herrschaft (Satz 1) und Ordnung als der Frage nach dem konkreten Herrschaftsvorgang (Satz 2). Die Volkswahl ist institutionalisierter Ausdruck einer Legitimationskette vom Volk zu den "besonderen Organen" im Sinne des Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, und die in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verankerten Grundsätze gewährleisten, daß es die tatsächliche Mehrheit des Volkes ist, die den Herrschaftsauftrag erteilt 7. In diesem Sinne ist die politische Führung in der Demokratie keine dem Volk durch einzelne Machtträger aufgezwungene, "sondern von der Mehrheit des Volkes anvertraute und 6
U. Scheuner, Zeitschr. f. ev. Ethik 1 (1957), S. 34.
7
Zum Vorstehenden W. Schmitt Glaeser, W D S t R L 31 (1973), S. 211 und die dortigen
Nachweise sowie E.-W. Böckenförde,
in: Handbuch des Staatsrechts I, § 22; Hans Meyer, in:
Handbuch des Staatsrechts II, §§ 37, 38. Demgegenüber ablehnend D. Czybulka,
Die Legi-
timation der öffentlichen Verwaltung, S. 51 ff., 76 ff., der die Legitimation der Staatsgewalt aufspaltet und sie mit der Bindung an einen Individualkonsens im Einzelfall in die Nähe elitär-arroganter Legitimitätsdoktrinen Habermasschcr Prägung rückt.
28
1. Kap.: Idee und Funktion des Volkswillensbildungsprozesses
legitimierte, dem Volk verantwortliche Herrschaft" 8. Die Legitimation der Volkswahl ist eine Legitimation durch "Äußerung des Volkswillens"; dieser fällt hier mit dem Staatswillen zusammen, weil das Volk als "Verfassungsoder Kreationsorgan" selbst Staatsgewalt ausübt9. Außerhalb des punktuellen Phänomens der Volkswahl decken sich Volkswille und Staatswille nicht. Die "Äußerung des Volkswillens" im grundrechtlich garantierten Volkswillensbildungsprozeß steht vielmehr ergänzend neben dieser "Äußerung des Volkswillens" durch Wahlen. Hierin liegt ein spezifisches Kriterium der freiheitlichen Demokratie (des Grundgesetzes): daß sich das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen äußert, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung, der Bildung öffentlicher Meinung10. Die Legitimationsfunktion des Art. 20 Abs. 1 Satz 1 GG trägt nicht allein die Volkswahl, sondern greift darüber hinaus und trägt ebenso den Volkswillensbildungsprozeß. In der Demokratie geht nicht nur die Staatsgewalt, sondern grundsätzlich auch die Willensbildung vom Volke aus. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 weist nicht nur auf Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG, sondern auch auf die grundrechtlichen Freiheiten des Bürgers zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung, auf Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 5 Abs. 1 und Abs. 3, Art. 8, Art. 9 Abs. 1 und Abs. 3, auch auf Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG. Der Volkswillensbildungsprozeß ist nicht nur demokratisch legitimiert, in einem gewissen Sinne legitimiert er auch die Demokratie, indem er als freier und offener Prozeß öffentliche Meinung bildet, die dem Volk auch zwischen den Wahlen größeres Gewicht verleiht 11 und zugleich die Volkswahl inhaltlich vorbereitet. Der Volkswillensbildungsprozeß ist der Lebensstrom der Demokratie. Nichts anderes will das Bundesverfassungsgericht sagen, wenn es die ihn konstituierenden Grundrechte, zunächst die Meinungsfreiheit und dann auch die übrigen Kommunikationsgrundrechte12, als für die freiheitliche Staatsordnung "schlechthin konstituierend" g Κ. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 153. BVerfGE 20, 56/98.
9
10
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNrn. 149 ff.
11
Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNrn. 149 f.; BVerfGE
27, 71/81 f.: "Ein
demokratischer Staat kann nicht ohne freie und möglichst gut informierte öffentliche Meinung bestehen." 12
Vgl. BVerfGE
7, 198/208, E 62, 230/247 (Meinungsfreiheit); E 27, 71/81 f. (Informati-
onsfreiheit); E 50, 234/239 (Pressefreiheit); E 12, 205/260 f., E 60, 52/64 (Rundfunkfreiheit); E 69, 315/344 f. (Versammlungsfreiheit).
Β. Die verfassungstheoretische Einordnung
29
bezeichnet. So tritt der Volkswillensbildungsprozeß ergänzend neben das Legitimationsverfahren der Wahl, die dadurch an ihrer zentralen Legitimationsfunktion selbstverständlich nichts einbüßt. Nur die Volkswahl schafft die Basis, auf der die "besonderen Organe" verantwortlich und verbindlich entscheiden können.
IL Die integrierende Wirkung des Volkswillensbildungsprozesses und seine Friedensfunktion
Die Bedeutung der Wahl als Organisierung legitimierender Machtverteilung, als Kreation des politischen Personals und als bestimmender Rhythmus des politischen Lebens13 ist unbestritten. Im Bundesstaat gewinnt diese Bedeutung, vor allem was den politischen Lebensrhythmus betrifft, noch zusätzliches Gewicht durch die Vielzahl der Wahlen, die durch die Wahl zum Europäischen Parlament weiter erhöht wird. Hinzu tritt, daß heute jede Wahl, gelegentlich auch bloße Teil-Nachwahlen, als politisches Gesamturteil und allgemeines Richtungsvotum interpretiert wird, so daß selbst Kommunalwahlen landes- und bundes- oder europapolitische Bedeutung gewinnen. Man mag diese Entwicklung in mancher Hinsicht negativ beurteilen, aber der Einfluß des Volkes auf die Regierenden wird auf diese Weise ohne Zweifel erhöht. Trotzdem bleibt die Wahl ein punktuelles Ereignis, und der Bürger ist in diesem Rahmen im wesentlichen auf eine Globalentscheidung, die eine Personal- und Richtungsentscheidung ist14, beschränkt. Unbefriedigend ist dies vor allem für Minderheiten, die sich einer politischen Richtung, insbesondere einer politischen Partei mit der Chance, an Entscheidungen beteiligt zu werden, nicht anzuschließen vermögen. Für sie stellt die Wahl einen eher formalen Vorgang dar, durch den sich inhaltlich soviel wie nichts bewirken läßt; dementsprechend ineffektiv bleibt das Wahlrecht für die Selbstverwirklichung ihrer Individualität in politicis. Aber auch jene, die sich einer bestimmten, vielleicht sogar herrschenden politischen Richtung anschließen können, müssen sich mit der globalen Natur der Stimmabgabe abfinden und auf Differenzierungen verzichten. Selbstverwirklichung jedoch ist so facettenreich wie die Person, um deren Verwirklichung es geht. Diesem Anliegen auf (differenzierte) Selbstverwirklichung entsprechen die politi-
13
Hans Meyer, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 37, RdNrn. 1 ff.
14
Hans Meyer, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 37, RdNrn. 6 ff.
30
1. Kap.: Idee und Funktion des Volkswillensbildungsprozesses
sehen (demokratischen) Freiheiten und der von ihnen konstituierte Volkswillensbildungsprozeß15. Weil dieser Prozeß jedermann offensteht und in seiner Funktion als herrschaftskonstituierendes Wirkelement im Vorfeld des letztlich dann entscheidenden Aktes der Parlamentswahl dem Staatswillensbildungsprozeß zugeordnet ist und diesen mittelbar beeinflußt, verbindet er - bei aller Dominanz der Organisationen und Massenmedien16 - auf optimale Weise die individuell-differenzierte inhaltliche Mitwirkung aller Bürger in politicis mit der konkreten Chance, auch tatsächlich etwas bewirken zu können, den eigenen Vorstellungen bei der Gestaltung des staatlichen Gemeinwesens Geltung zu verschaffen, Neues zu initiieren oder Bestehendes zu bewahren. Diese Möglichkeit einer effektiven inhaltlichen Mitgestaltung ist für jeden Staatsbürger wichtig, wichtig auch für den Staat selbst, wëil sich nur auf diese Weise ein gesundes Gemeinschaftsgefühl, eine Identifikation des einzelnen mit seinem Staat und die notwendige Integration bewirken läßt. Besondere Bedeutung aber hat die Möglichkeit der Mitgestaltung für die (jeweilige) Minderheit, weniger in dem Sinne, daß - wie Manfred Hättich 17 zutreffend betont - eine Minderheit zur Mehrheit werden kann, weil dies in der modernen Demokratie jedenfalls für kleine Minderheiten gerade da, wo die Ordnung stabil ist, eine geringe Chance hat: "Näher liegt im Maße der Freiheitlichkeit einer Ordnung die Möglichkeit der Minderheit, dahin zu wirken, daß sich die Auffassung über Umfang und Inhalt der Minderheitsrechte verändert und damit der Spielraum ihrer Lebensverwirklichung sich vergrößert." Einbruchstellen für derartige Veränderungen sind hier natürlich in erster Linie Generalklauseln und unbestimmte Gesetzesbegriffe, wie z.B. das "Sittengesetz" in Art. 2 Abs. 1 GG. So wäre etwa - abgesehen von der inzwischen erfolgten Gesetzesänderung - die Homosexuellenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 195718 schon seit geraumer Zeit nicht mehr konsensfähig. In einer freiheitlichen Ordnung mit einem freien und offenen Willensbildungsprozeß gibt es also keine "geborene", keine "hoffnungslose Minderheit", keine "ewigen Verlierer" 19, und hierin liegt auch der Grund dafür, daß die am Ende getroffenen Entscheidungen
15
Vgl. in diesem Zusammenhang auch E.-W. Böckenförde,
in: Handbuch des Staatsrechts I,
§ 22, RdNrn. 37 ff. 16
Dazu W; Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 41, RdNrn. 38 ff. m.N.
17
Demokratie, S. 148.
18
BVerfGE
19
Vgl. etwa auch BVerfGE
6, 389/434 ff. 5, 85/198 ff., insbes. 199.
Β. Die verfassungstheoretische Einordnung
31
nicht nur verbindlich, sondern ebenso verbindend und einigend sind, womit die realistische Aufgabe jedes freiheitlichen-demokratischen Prozesses politischer Willensbildung offenbar wird: die Friedensfunktion 20. Diese Friedensfunktion des Volkswillensbildungsprozesses kann freilich nur gedeihen, wenn das den Volkswillen und die öffentliche Meinung bildende Verfahren selbst friedlich ist, der Kampf um die beste (öffentliche) Meinung also mit geistigen Argumenten und nicht mit harten Fäusten geführt wird, der Prozeß auf Überzeugen und nicht auf Überwältigen angelegt ist. Hierin liegt das aktuelle Problem, dem diese Schrift gewidmet ist: Es ist heute keineswegs mehr selbstverständlich, daß Auseinandersetzungen mit Argumenten und allein mit Argumenten geführt werden. Die bürgerliche Friedenspflicht wird nur noch bedingt akzeptiert.
20
Dazu M Hättich, Demokratie, S. 128 ff. m.z.N. pro und kontra. Vgl. auch BVerfGE
125/141 ff.
44,
2. Kapitel
Die gegenwärtige Situation: Zunahme politisch motivierter Privatgewalt und Versuche ihrer Rechtfertigung Im Grundgesetz ist nur an einer Stelle ausdrücklich von der Friedenspflicht des Bürgers die Rede: Die Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG ist unter dem Vorbehalt gewährt, daß das Sich-Versammeln "friedlich und ohne Waffen" erfolgt. Zutreffend wird dieses Friedlichkeitsgebot als immanente Grenze qualifiziert, die den Grundrechtsinhalt mitbestimmt, so daß unfriedliche Versammlungen den Schutz des Art. 8 GG von vornherein nicht in Anspruch nehmen können1. Der punktuelle, besondere Hinweis auf die Friedenspflicht in Art. 8 GG läßt sich damit erklären, daß es sich bei diesem Grundrecht um eine besonders gewaltgeneigte Freiheitsgewährleistung handelt, die Friedenspflicht bei Versammlungen im Soge häufig auftretender Massenaggressivität leicht verletzt werden kann2. Darüber hinaus kennt das Grundgesetz ein ausdrückliches Verbot friedensstörenden Verhaltens nur im Verhältnis der Völker zueinander, wobei insbesondere die Vorbereitung zur Führung eines Angriffskrieges als verfassungswidrig bezeichnet wird (Art. 26). Für den Verfassunggeber des Jahres 1949 war die bürgerliche Friedenspflicht und das ihr korrespondierende staatliche Gewaltmonopol offensichtlich eine Selbstverständlichkeit, so daß er auf jedes grundsätzliche Bekenntnis verzichtete3. Tatsächlich sind Gewaltmonopol und Bürgerfriede "nicht
1
K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 310; M Kloepfer, in: Handbuch des Staatsrechts V I , § 143, RdNr. 35; BVerfGE 69, 315/360 (allerdings bezogen nur auf "Gewalttätigkeiten" gegen Personen und Sachen; vgl. ebenso E 73, 206/248: dazu noch näher unten 2. Kap., B, II, 2); /. Isensee, in: Festschrift für Sendler, S. 39 ff. 2 3
Vgl. etwa /. Isensee, Ziviler Ungehorsam, S. 60. Vgl. auch IC Kröger, Bürgerprotest, S. 49.
Α. Die tätlichen Angriffe
33
Thema der Verfassung, sondern ihre Voraussetzung"4. Die durch das staatliche Gewaltmonopol ermöglichte und garantierte Friedensordnung ist Staatsbedingung, aus ihr leitet die Institution Staat ihre "eigentliche und letzte Rechtfertigung" ab5. Dogmatisch handelt es sich um Kategorien der Allgemeinen Staatslehre, was seiner (zunehmenden) Bedeutung für das Staatsrecht nicht entgegensteht6. Das Gewaltmonopol des Staates und die Friedenspflicht des Bürgers sind aber derzeit, wie schon betont, keine Selbstverständlichkeiten mehr. Das Gewaltmonopol wird allgemein und speziell für den Staat der BR Deutschland in Frage gestellt, durch Taten und durch Worte 7. Zu konstatieren ist eine Krise des Rechtsbewußtseins, genauer des Bewußtseins der Rechtsordnung als Friedensordnung 8, also eine Krise des Staatsbewußtseins.
A. Die tätlichen Angriffe I. Terroristische Gewalt
Gewalt erscheint in unterschiedlichen Intensitätsstufen. An der Spitze steht die durch eine besondere Struktur des Täterkreises charakterisierte terroristische Gewalt. Sie ist auf totale Destruktion gerichtet und wird definiert als "der nachhaltig geführte Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum Dritter durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten, wie sie in § 129 a Abs. 1 des Strafgesetzbuches genannt sind (vor allem: Mord, Totschlag, erpresserischer Menschenraub, Brandstiftung, Herbeiführung einer Explosion durch 4
Vgl. J. Isensee, in: Festschrift für Eichenberger, S. 31. Immerhin werden
- worauf Isensee
(a.a.O., S. 32, F N 19) zutreffend hinweist - Aspekte des Gewaltmonopols auch im Text de Verfassung indirekt deutlich, wenn z.B. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 das (Gesamt-)Volk als Quelle der Staatsgewalt bezeichnet und in Satz 2 der Bestimmung die Ausübung dieser Gewalt - abgesehen von Wahlen und Abstimmungen - Organen des Staates vorbehalten bleibt. 5 BVerfGE 46, 202/209; vgl. in diesem Zusammenhang auch U. Matz, Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung, S. 336 f.; H. Tröndle, Die Vernachlässigung und die Ausbeutung des Rechtsstaates, S. 38, sowie /. Isensee, in: Festschrift für Sendler, S. 45 ff. 6
Vgl. auch J. Isensee, in: Festschrift für Sendler, S. 54 ff.
7
J. Isensee, in: Festschrift für Eichenberger, S. 35: "Das Gewaltmonopol ist in Deutschland
geistigen und tätlichen Angriffen ausgesetzt." Vgl. auch U. Matz, Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung, S. 337: Probleme der Akzeptanz in Theorie und Praxis, sowie P. Waldmann, Strategien politischer Gewalt, S. 12 f. 8
Vgl. auch H. Sendler, NJW 1989, S. 1761 ff., insbes. S. 1765 f., 1769 m.N.
3 Schmitt Glaeser
34
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Sprengstoff), oder durch andere Gewalttaten, die der Vorbereitung solcher Straftaten dienen"9.
1. L i n k e r und rechter Terror: die Extreme berühren sich
a) Terrorismus in der BR Deutschland ist vor allem geprägt vom "bewaffneten Kampf' der RAF. Ihre Geburtsstunde kann auf den 14. Mai 1970 gelegt werden. An diesem Tag wurde der wegen Bandstiftung zu drei Jahren Haft verurteilte Andreas Baader durch Ulrike Meinhof und Astrid Proli aus dem Lesesaal der Bibliothek des Zentralinstituts für soziale Fragen in Berlin-Dahlem befreit. Der Institutsangestellte Georg Linke wird dabei durch einen Schuß schwer verletzt, überlebt aber den Anschlag. Wenig später, am 22. Oktober 1971, kommt es dann zu dem ersten Todesopfer. Bei dem Überfall auf eine Filiale der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank in Kaiserslautern erschießen RAF-Terroristen den Polizeibeamten Herbert Schoner. Seit diesem Mord, also seit über zwanzig Jahren, reißen Gewalttaten dieser Art, Bombenattentate, Entführungen, Brandstiftungen, Anschläge auf Telefonmasten, Energieleitungen, Verkehrsmittel nicht mehr ab: Am 4. Februar 1972 verübt die "Bewegung 2. Juni" einen Bombenanschlag in Berlin-Gatow. Ein Mann kommt ums Leben. Am 11. Mai 1972 wird bei einem Bombenanschlag der RAF auf das amerikanische Hauptquartier in Frankfurt ebenfalls ein Mann getötet. Drei amerikanische Soldaten sterben am 24. Mai 1972 bei einem Anschlag der RAF auf das amerikanische Armeehauptquartier in Heidelberg. Am 10. November 1974 wird der Berliner Kammergerichtspräsident, Günter von Drenkmann, von einem RAF-Kommando ermordet. Am 27. Februar 1975 entführt die "Bewegung 2. Juni" den Berliner CDU-Vorsitzenden, Peter Lorenz, und preßt für seine Freilassung inhaftierte Terroristen frei. Am 24. April 1975 zünden Terroristen eine Sprengladung in der deutschen Botschaft in Stockholm; dabei sterben zwei Diplomaten und zwei Terroristen. Am 7. April 1977 kommen der Generalbundesanwalt, Siegfried Buback, sein Fahrer und ein Sicherheitsbeamter im Kugelhagel eines RAF-Kommandos in Karlsruhe ums Leben. Der Bankier Jürgen Ponto wird am 30. Juli 1977 in seinem Haus in Oberursel bei Frankfurt erschossen. 9
Verfassungsschutzbericht Bayern 1990, S. 140; vgl. auch P. Waldmann, Strategien politischer Gewalt, S. 70 ff. Siehe ferner K. Rebmann, Der deutsche Terrorismus, S. 1 ff.; G. Mann, Gedanken über den Terrorismus in unserer Zeit, S. 39 ff.; U. Backes, Bleierne Jahre. BaaderMeinhof und danach; B. Peters, RAF. Terrorismus in Deutschland.
Α. Die tätlichen Angriffe
35
Wenig später, am 5. September 1977, entführt die RAF Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und tötet dabei seinen Fahrer und drei Sicherheitsbeamte; am 13. Oktober 1977 erschießen die Entführer ihr Opfer. Am 11. Mai 1981 wird der hessische Wirtschaftsminister, Heinz-Herbert Karry, am 1. Februar 1985 der Chef der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), Ernst Zimmermann, ermordet. RAF-Terroristen töten am 8. August 1985 den amerikanischen Soldaten Edward Pimentel und schaffen mit Hilfe seines Dienstausweises eine Autobombe auf die Frankfurter Luftwaffenbasis der Amerikaner. Die Explosion tötet zwei Menschen. Am 9. Juli 1986 werden Karl Heinz Beckurts, Vorstandsmitglied bei Siemens, und sein Fahrer Opfer eines Bombenanschlags. Der Diplomat Gerold von Braunmühl wird am 10. Oktober 1986 vor seinem Haus in Bonn erschossen. Am 20. September 1988 mißglückt ein Mordanschlag auf den Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Dr. Hans Tietmeyer. Den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Dr. Alfred Herrhausen, tötet am 30. November 1989 eine Lichtschrankenbombe. Der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Hans Neusei, überlebt am 26. Juli 1990 einen ähnlichen Anschlag. Das jüngste Opfer in dieser "Chronik der Morde und Attentate" in den vergangenen zwei Jahrzehnten10 ist Detlev Karsten Rohwedder, Chef der Treuhandanstalt. Er wird am 1. April 1991 in seinem Düsseldorfer Haus erschossen. Ein RAF-Kommando "Ulrich Wessel" bezichtigt sich des Mordes. Insgesamt beläuft sich die Zahl schwerer linksterroristischer Delikte (Tötungen, Tötungsversuche, Geiselnahmen, Sprengstoff- und Brandanschläge, Raubüberfälle) für den Zeitraum von 1968 - 1990 auf nahezu 3.000, die entsprechende Zahl des Rechtsterrorismus beträgt 19011. Man wagt es kaum zu hoffen, daß der linke Terror, insbesondere die Aktivitäten der "KommandoUnternehmen" der RAF, die in den meisten Fällen auf die Vernichtung von Menschenleben gerichtet sind, längerfristig und nachhaltig zurückgehen könnten. Immerhin ist die Zahl linksterroristischer Terrorakte seit 1987
10
Siehe F A Z Nr. 77 vom 3.4.1991, S. 3. Vgl. auch Bayernkurier vom 2.11.1991, S. 16.
11
U. Backes, Geistige Wurzeln des Linksterrorismus in Deutschland, S. 40 (unter Verweis
auf die Verfassungsschutzberichte des Bundes). - Der seit den 70er Jahren verstärkt in Erscheinung tretende militante Rechtsextremismus insbesondere neonazistischer Färbung hat zwar die Ordnung von Staat und Gesellschaft der BR Deutschland weit weniger zu erschüttern vermocht. Nicht zuletzt die 29 Menschenleben, die im Zeitraum von 1979 bis 1989 rechtsextremistischem Fanatismus zum Opfer gefallen sind (vgl. die Angaben von H. Sippel, Aktuelle Fragen des Rechtsextremismus, S. 85), mahnen jedoch, auch dieses Gewaltpotential stets wachsam im Auge zu behalten.
36
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
rückläufig 12, und es stimmt auch optimistisch, daß mit dem Beitritt der DDR zur BR Deutschland die RAF einen mächtigen Komplizen, den Staatssicherheitsdienst des SED-Regimes, verloren hat. Auch konnten durch die Verhaftung der in der ehemaligen DDR mit Wissen und Hilfe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) untergeschlüpften Terroristen {Susanne Albrecht, Werner Lotze u.a.) neue und aufschlußreiche Informationen über die ideologischen und logistischen Strukturen der RAF für die Jahre 1977 bis 1981 erlangt werden13. Darüber hinaus soll es Meinungsverschiedenheiten zwischen den im Untergrund lebenden "Kommandos" und der Unterstützerszene der RAF geben14. Vor diesem Hintergrund dürfte auch das Schreiben der RAF vom 10. April 1992 an die französische Nachrichtenagentur AFP zu sehen sein. Darin kündigt die Terrororganisation ein Ende der "gezielt tödlichen Aktionen" gegen die "Spitzen aus Staat und Wirtschaft" an. Zugleich werden allerdings "Zugeständnisse für politische Lösungen" gefordert, worunter in erster Linie die Freilassung der angeblich haftunfähigen und der am längsten einsitzenden verurteilten RAF-Mitglieder und die Zusammenlegung der anderen Häftlinge gemeint sind. Für den Fall, daß solche Zugeständnisse verweigert werden, droht die RAF mit der Fortsetzung des Mordens: "Dann ist für uns die Phase des Zurücknehmens der Eskalation vorbei"; Krieg, so heißt es, könne nur mit Krieg beantwortet werden15. Der Ton hat sich also nicht geändert und wohl auch die Einstellung nicht. Zwar übt die RAF Selbstkritik. Seit 1989 sei sie sich klar darüber geworden, daß es "nicht mehr so weitergehen kann wie bisher". Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des sozialistischen Staatensystems habe sich gezeigt, "daß die Vorstellung, im gemeinsamen internationalen Kampf einen Durchbruch für Befreiung zu schaffen, nicht aufgegangen ist".16 An einen endgültigen Verzicht auf Gewalt denkt die RAF aber offenbar nicht, und von Reue und Umkehr ist keine Rede. Das läßt nicht unbedingt Gutes hoffen und ist kaum eine geeignete Basis für "Versöhnung", wie sie vor allem von Bundesjustizminister Kinkel (F.D.P.) angestrebt wird 17.
12 13
Verfassungsschutzbericht des Bundes 1990, S. 58 ff. Verfassungsschutzbericht des Bundes 1990, S. 65; Bayernkurier vom 17.11.1990, S. 8.
14
Verfassungsschutzbericht des Bundes 1990, S. 60 f.; F A Z Nr. 63 vom 14.3.1992, S. 5.
15
F A Z Nr. 90/16 D vom 15.4.1992, S. 1 f.
16
Vgl. Volker
Zastrow,
Ein konditionierter Verzicht auf weitere Gewaltverbrechen, in:
F A Z Nr. 90 vom 15.4.1992, S. 2. 17
F A Z Nr. 92 vom 18.4.1992, S. 2; F A Z Nr. 98 vom 27.4.1992, S. 4.
Α. Die tätlichen Angriffe
37
b) Aber selbst wenn die linksterroristischen Aktionen wesentlich zurückgingen, bestünde kein Grund zur Entwarnung für den Rechtsstaat. Seit dem Jahre 1991 hat sich mit Vehemenz ein neues Feld tiefgreifend-menschenverachtender Gewalttätigkeiten eröffnet, dessen Grenzen noch nicht abzustekken sind. Es ist die Gewalt vornehmlich jugendlicher Täter gegen Ausländer bzw. Asylbewerber, Wirtschafts- oder genauer: Armutsflüchtlinge, z.T. auch gegen die (ehemaligen) sowjetischen Streitkräfte und ihre Einrichtungen in Deutschland sowie gegen deutschstämmige Aussiedler. Der spektakuläre Beginn dieser neuen Terrorwelle 18 ist mit dem Namen Hoyerswerda symbolhaft verknüpft. Matthias Matussek 19 gibt einen drastischen Bericht über die erschütternden Szenen, die sich Mitte September 1991 in der sächsischen Kleinstadt abgespielt haben: "Mordstimmung im sächsischen Hoyerswerda, die triste Siedlung in der Müntzerstraße feiert. Es ist das erste Fest, seit es die Siedlung gibt. Frauen in wattierten Bademänteln stehen auf der braunen Grasnarbe. Sie halten ihre Säuglinge im Arm und feixen. Teenager in stone-wasched Jeans kreischen, Radios dudeln, Hunde pinkeln. Aus den Fenstern lehnen Männer in Unterhemden auf Kissen. Die Müntzerstraße feiert den Sieg des Mobs. Alle starren auf den Hauseingang, aus dem dunkelhäutige Menschen mit verstörten Gesichtern ihre Habseligkeiten schleppen, Säcke, Koffer, Kisten. 'Guck mal, was die alles haben', ruft eine magere Frau mit schütterer Dauerwelle. Die 16jährige Dana, die das mit glänzenden Augen verfolgt und dabei nervös auf ihrer Unterlippe kaut, stößt hervor: 'Geschieht denen recht. Die haben Frauen vergewaltigt.' Ihre Freundin setzt hinzu: 'Und Schafe geschlachtet.' Und ein Mann in fleckiger Hose: 'Die haben sich doch nie gewaschen.' In Hoyerswerda hat der häßliche Deutsche sein Coming-out. Fünf Terrornächte lang haben Halbwüchsige mit Flaschengeschossen, Leuchtspurmunition und Steinen die Asylantenunterkünfte sturmreif geschossen. Nun können die Behörden, die lange tatenlos zugeschaut haben, 'die Sicherheit der ausländischen Mitbürger' nicht mehr länger garantieren und lassen evakuieren. Und die Männer in den Unterhemden? Die Mütter, die braven Bürger Hoyerswerdas? Sie haben sich gefreut. Erst heimlich, dann zunehmend mu18
Erinnert sei aber auch an den Brandanschlag in der Nacht zum 17. Dezember 1988 auf ein überwiegend von Ausländern bewohntes Haus in Schwandorf (Bayern), der vier Todesopfer und mehrere Verletzte forderte und etwa eine Million D M Sachschaden verursachte (vgl. Verfassungsschutzbericht Bayern 1988, S. 168 f. mit Anführung weiterer Fälle). 19 Jagdzeit in Sachsen, in: Der Spiegel vom 30.9.1991, S. 41 ff.
38
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
tiger, schließlich haben sie applaudiert ... Unter dem nachlässigen Schutz schmunzelnder Polizisten besteigen rund 150 Rumänen und Vietnamesen die bereitstehenden Verkehrsbusse. Mit Blaulicht setzt sich der Konvoi in Bewegung. Die Menge grölt und dann fliegen die Steine. Tarn Le Thanh, ein 21jähriger Junge aus Hanoi, hat einen Fensterplatz. Er hatte in die zähnebleckende Menge hinausgewinkt, krampfhaft grinsend, um seine Angst zu verbergen. Plötzlich verschwindet sein Gesicht hinter einem Netz aus Glassprüngen. In der Scheibe klafft ein häßliches Loch. Tarn bricht blutüberströmt im Polster zusammen. Treffer' brüllt einer aus der Menge. Die anderen applaudieren..." Die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Asylbewerber in Hoyerswerda waren nicht die ersten ihrer Art. So berichtet der Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Hans Neusei, am 9. Oktober 1991 vor dem Innenausschuß des Deutschen Bundestages20, daß von Januar bis September 1991 rund 500 Anschläge gegen Asylbewerber und deren Unterkünfte registriert worden seien. Die Ereignisse in Hoyerswerda hatten aber Signalwirkung und lösten einen Schub weiterer Gewalttaten aus. So hat nach Neuseis Bericht das Bundeskriminalamt allein vom 1. bis 7. Oktober nicht weniger als 59 Brandanschläge festgestellt. Betroffen waren davon nicht nur Sachsen, sondern vor allem Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Im gesamten Jahr 1991 sind nach Angaben des Bundeskriminalamts21 insgesamt 338 Brandanschläge aus fremdenfeindlichen Motiven verübt worden; die Zahl an Körperverletzungen gegen Asylbewerber und andere Ausländer mit vermutlich rechtsextremistischen und ausländerfeindlichen Motiven belaufe sich auf 219. Hinter diesen nackten Zahlen verbirgt sich viel menschliches Leid. Das Muster der Anschläge ist den linksterroristischen Gewalttaten sehr ähnlich, wenn es auch bislang noch nicht zu gezielten "Hinrichtungen" gekommen ist. Im Vordergrund stehen Brandanschläge auf Asylbewerberunterkünfte, vereinzelt auch auf Aussiedlerwohnheime, Angriffe mit Steinen, Farbflaschen und Molotow-Cocktails, das Schleudern von Bleikugeln, das Inbrandsetzen von Kraftfahrzeugen und sonstige Verwüstungen. Bei einem Brandanschlag am 3. Oktober 1991 auf eine Unterkunft für Asylbewerber im niederrheinischen Hünxe im Kreis Wesel sind zwei libanesische Mädchen von der brennenden Flüssigkeit getroffen wor-
20
Wib 17/91-11/72 vom 16.10.1991, S. 7.
21
Siehe Bericht in F A Z Nr. 15 vom 18.1.1991, S. 4.
Α. Die tätlichen Angriffe
39
den; sie haben schwere Unterleibsverletzungen erlitten 22. Bei einem Brandanschlag am 4. Oktober 1991 auf ein von Asylbewerbern und türkischen Familien bewohntes Reihenhaus in Seesen am Harz erlitten zwei Erwachsene und drei Kinder Rauchvergiftungen. Bei einer Brandlegung in einem Asylbewerberheim am gleichen Tag in Zwickau (Sachsen) wurden drei Asylbewerber und vier Polizisten verletzt 23. Auf dem Brühler Volksfest griffen am 5. Oktober 1991 vier Skinheads drei Männer und eine Frau aus Nigeria mit Bierflaschen, Bänken und Schlagwerkzeug an; sie schlugen auch einen Lokalpolitiker, der sich schützend vor die Asylbewerber gestellt hatte. Einer der Nigerianer erlitt lebensgefährliche Kopfverletzungen. In Gotha wurde am selben Tag ein Fähnrich der (ehemaligen) sowjetischen Streitkräfte schwer verletzt, als ihn Unbekannte aus dem dritten Stock eines Hauses warfen 24. Im bayerischen Immenstadt (Allgäu) drangen in der Nacht vom 12. auf 13. Oktober 1991 sechs Skinheads in ein Asylantenwohnheim ein und steckten es in Brand. Zwei Asylbewerber und drei Feuerwehrleute wurden schwer verletzt, das Haus brannte nieder; der Sachschaden wird auf eine halbe Million DM geschätzt. In Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) überfielen in der gleichen Nacht etwa 30 Jugendliche einen 26 Jahre alten Marokkaner; er erlitt mehrere Platzwunden am Kopf, zwei Finger wurden ihm gebrochen25. Unbekannte Täter schnitten am 17. Januar 1992 in Berlin einem 19jährigen Polen ein Drittel der Zunge ab26. In der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 1992 schoß in Saalfeld ein 50jähriger Mann mit einer Pistole auf Angehörige der Streitkräfte der ehemaligen Sowjetarmee. Als die Soldaten den Mann stellen wollten, fuhr er mit seinem Auto in die Gruppe; zwei Soldaten wurden schwer, einer leicht verletzt. In Jena schlugen am selben Wochenende mehrere Skinheads einen 20 Jahre alten Chilenen mit einem Baseballschläger zusammen; sie brachen ihm dabei die linke Hand. In Eisenach verfolgten in der Nacht zum 18. Januar 1992 fünf junge Männer einen 31jährigen Kubaner und prügelten so heftig auf ihn ein, daß er in ein Krankenhaus eingeliefert werden mußte27.
22
F A Z Nr. 230/40 D vom 4.10.1991, S. 1.
23
F A Z Nr. 231 vom 5.10.1991, S. 2.
24
F A Z Nr. 232 vom 7.10.1991, S. 2.
25
F A Z Nr. 238 vom 14.10.1991, S. 7.
26
F A Z Nr. 17 vom 21.1.1992, S. 9.
27
F A Z Nr. 16 vom 20.1.1992, S. 4.
40
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Die Aufzählung ist selbstverständlich - wie auch bei den linksterroristischen Aktionen - lückenhaft, aber sie ist aussagekräftig genug. Dahinstehen mag, ob die alsbaldige Zuordnung dieser Gewalt zum Rechtsextremismus28 durch die veröffentlichte Meinung richtig war oder nicht29, ob man die Renaissance rechtsextremistischen und in Besonderheit neonazistischen Gedankenguts vielleicht hätte verhindern oder wenigstens hemmen können, wenn die nach der Wiedervereinigung im Osten Deutschlands aufkommende Jugendgewalt nicht sogleich als politisches, sondern mehr als sozialpsychologisches, in Identitätsstörungen, Zukunfts- und Fremdenangst30 gründendes Problem behandelt worden wäre. Eines jedenfalls ist sicher: Daß manche Fernsehberichte über rechtsextremistische Ausschreitungen "gestellte Szenen" wiedergegeben haben (sollen)31, ist ein betrübliches Beispiel verantwortungsloser Medienberichterstattung 32. Schon die Zahl "echter Szenen" ist unerträglich hoch; das Ausmaß an Gewalt darf nicht noch künstlich erweitert werden, es ist schrecklich genug. 28
Zur Lage des Rechtsextremismus in der B R Deutschland noch vor der Wiedervereinigung vgl. H. Sippel, Aktuelle Fragen des Rechtsextremismus; zur Situation in den Ländern der ehemaligen D D R siehe A. Pfahl-Taughber, 29
Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern.
Seriöse Beobachter der Szene haben immer wieder vor einer undifferenzierten Betrachtungsweise gewarnt. Vgl. etwa F A Z Nr. 134 vom 13.6.1991, S. 16; F A Z Nr. 230/40 D vom 4.10.1991, S. 1.; Kurt Reumann, Mensch, nicht Wolf, in: F A Z Nr. 250/44 D vom 28.10.1991; R. Wassermann, Wie man Vertrauen verspielt, in: Die Welt vom 8.11.1991; F A Z Nr. 266 vom 15.11.1991, S. 5; Nikolai
Krcitl,
Keine Ängste zelebrieren, in: Münchner Merkur vom
15.11.1991; FR vom 3.12.1991; Dieter W Rockenmaier, Nicht vergleichbar, in: Main-Post vom 11.12.1991; F A Z Nr. 292 vom 17.12.1991, S. 12. 30
Zu dieser vgl. etwa J. Eibl-Eibesfeldt,
Der Mensch - das riskierte Wesen, S. 109 ff., 186
ff., 217 f. 31 So heißt es z.B. im Gong (Fernseh-Magazin) vom 14. - 20.12.1991, Nr. 50, S. 17: "Haben Skinheads für Honorar vom Fernsehen Straftaten begangen? Beim Landgericht Berlin wird deswegen gegen Skins ermittelt, nachdem zwei Anzeigen des Bürgermeisters von Marzahn eingegangen sind. In einem Fall sollten von RTL-Plus bezahlte Skinheads nach Alkoholkonsum zu einem Ausländerwohnheim gefahren worden sein. Im zweiten sollten Skins bei Aufnahmen von RIAS-TV mehrere Scheiben eines Ausländerheims eingetreten und ausländerfeindliche Parolen gegrölt haben. Jeder habe dafür 50 D M erhalten. R T L und RIAS bestritten die Vorwürfe. Es sei aber jeweils für die Skins Alkohol gezahlt worden, da sie sonst keine Auskunft gegeben hätten. Peinlich auch ein 'Tagesthemen'-Bericht über Tumulte vor einem Ausländerheim mit Randale-Szenen. NDR-Redakteur Ulrich Semmler aus Kiel mußte einräumen, daß die Randale-Szenen nicht von Ausschreitungen vor dem Heim, sondern von einem nahe gelegenen Fußballplatz stammten. Ein zur Sportberichterstattung anwesendes Kamerateam habe sie aufgenommen, die Aufnahme des Angriffs auf das Heim sei nicht möglich gewesen." 32
Zu dieser noch unten 2. Kap., B, III, 1, a.
Α. Die tätlichen Angriffe
41
2. Eindeutige Ablehnung durch die Bevölkerung
Die Tatsache, daß es Menschen gibt, die auf Grund einer fehlgeleiteten Heilsgewißheit menschliches Leben zerstören, Körperverletzungen begehen und Sachschäden in Millionenhöhe anrichten, ist unerträglich. Eine ernsthafte Gefährdung unseres freiheitlichen Staates und speziell des staatlichen Gewaltmonopols droht von dieser Seite aber vorläufig nicht33. Die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lehnt terroristische Gewalttaten entschieden ab, unabhängig davon, welche (politischen) Motive dahinterstehen, und es kommt daher auch nicht von ungefähr, daß viele Terroristen gerade durch Hinweise aus der Bevölkerung dingfest gemacht und ihrer Strafe zugeführt werden konnten. Dementsprechend unangefochten ist - jedenfalls dem Grundsatz nach - die polizeiliche Arbeit in diesem Bereich; die staatlichen Instanzen stehen im sicheren Bewußtsein eines legalen und legitimen Auftrags, sie arbeiten effektiv und können Erfolge vorweisen. Insgesamt ist hier noch ein relativ breites Selbstverständnis der bürgerlichen Friedenspflicht zu konstatieren.
II. Gewalttaten anderer Art und Mischformen
Ganz anders liegen die Dinge dort, wo es um politisch motivierte Gewalt geht, die nicht so nackt und brutal auftritt wie die terroristische, zumal wenn sie in die Nähe einer Grundrechtsausübung gerückt oder gar mit dem würdigen Schein des "Widerstandes" getarnt wird. Insgesamt handelt es sich um "unfriedliche" Mittel in einem weiteren Sinne, die ebenso auf die Beeinflussung des Volkswillensbildungs- und letztlich des Staatswillensbildungsprozesses zielen. Allerdings läßt sich diese Art von politisch motivierter Gewalt nur typologisch von der rein terroristischen Gewalt trennen. In der Praxis vermischen sie sich häufig. Symptomatisch für solche Mischformen ist der Bereich der "Demonstrationen". Die Aktionen reichen hier von Sitzblockaden über die Errichtung von Barrikaden und weitreichenden Sachbeschädigungen bis hin zu Angriffen auf Personen (Polizeibeamte) mit MolotowCocktails und gezielten Schüssen.
33
Die prinzipielle Gefährlichkeit extremistischer Aktivitäten soll damit natürlich nicht un-
terschätzt werden. Dazu etwa K. Miltner, 115 ff.
Zur Situation des Rechts- und Linksextremismus, S.
42
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Die Orte der gewaltsamen Auseinandersetzungen wechseln: Einmal ist es ein Raketendepot der amerikanischen Streitkräfte (z.B. Mutlangen), ein Kernkraftwerk (z.B. Brokdorf) oder eine Zeitungsdruckerei (z.B. der Springer-Presse), ein andermal ist es ein Grenzübergang (z.B. der AutobahnGrenzübergang Kiefersfelden), eine Brücke (Düsseldorfer Rheinknie), ein Theaterneubau (Flora, Hamburg) oder die ehemals geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Die Strategie ist im wesentlichen immer die gleiche und sie ist fast stets gewalttätig oder mit Gewaltsamkeiten verbunden und nicht selten durch flankierende Maßnahmen grob rechtswidrigen Zuschnitts gestützt, z.B. durch Mahnwachen (vor dem Essener Privathaus des Krupp-Chefs Gerhard Cromme 34) oder durch Zeugenbedrohung35. Der entschieden größte Teil dieser Art von Gewalttaten ist linker Provenienz. Es sind fast durchweg "progressive" Ideen und Ziele, die gewaltsam verwirklicht oder angestrebt werden sollen. Sie basieren auf dem Irrglauben, linke Bewegungen seien identisch mit einem "Fortschritt", der mit Sicherheit auf das "Bessere" zuführe.
1. Schwerpunkt "Demonstrationen"
Es begann in der Zeit der Notstandsgesetzgebung (1968), "Übungsfeld" waren die Hochschulen, und das Instrumentenarsenal reichte von Vorlesungsstörungen über Institutsbesetzungen und Aussperrungen (z.B. studierwilliger Kommilitonen bei sogenannten "aktiven Streiks") bis hin zu erheblichen Sachbeschädigungen und tätlichen Angriffen gegen Professoren und Hochschulpersonal36. 34
Zur Problematik von Mahnwachen vor Privathäusern, BVerfG
vom 10.9.1987, NJW
1987, S. 3245: Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 G G (allgemeines Persönlichkeitsrecht) und Gefährdung der öffentlichen Sicherheit i.S.d. § 15 VersG. Vgl. auch H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. II, S. 880, RdNrn. 45 - 47. 35
Dazu näher//.-/). Schwind/ J. Baumann von Gewalt, Bd. II, S. 876 f., RdNr. 37. 36 Vgl. dazu etwa: Hochschulverband
(Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle
(Hrsg.), Bilanz einer Reform. Denkschrift zum
450jährigen Bestehen der Philipps-Universität zu Marburg (1977); Geisler /Hentschke merening (Hrsg.), 15 Jahre Notgemeinschaft 1970 bis 1985 (1986); International
/Pom-
Council on the
Future of the University , Bericht über deutsche Universitäten von der Kommission für deutsche Universitäten (1978); Verein für Studentische-
und Hochschulfragen
e.V. (Hrsg.), Freiheit in
Not. Universität Heute - Chaos oder Reformmodell? (1972). - Gewaltsamkeiten an Hochschulen kommen auch heute noch häufig genug vor: vgl. nur W. Schmithals, Abschlußbericht
Α. Die tätlichen Angriffe
43
Bald wurden diese neuen Methoden der Interessendurchsetzung auch in den allgemein-gesellschaftlichen Bereich getragen und manifestierten sich dort z.B. in der Blockade von Straßenbahnen, der "Belagerung" von Parlamenten, in der Besetzung von Zeitungsdruckereien, in der Verhinderung der Auslieferung bestimmter Zeitungen durch Gebäudebelagerung und Straßenblockaden, in der Regel verbunden mit massiven Sachbeschädigungen und auch mit Gewalttätigkeiten gegen Personen, häufig flankiert von Verbalterror 37. Quantitativ handelte es sich dabei anfangs um Minderheiten und dementsprechend gering war der Anklang, den diese ungewohnten Strategien der Beeinflussung des Volkswillensbildungsprozesses bei der Bevölkerung fanden. Das änderte sich, als neue, breitere Schichten der Gesellschaft interessierende Themen aufgegriffen wurden und bald auch an sich gesetzestreue Bürger und grundsätzlich staatstragende Bevölkerungsgruppen, wie Arbeiter und Landwirte, damit begannen, die im Rahmen der Studenten-Revolte entwickelten Instrumente der Interessendurchsetzung für ihre Proteste zu benutzen. Inzwischen ist die Negierung des staatlichen Gewaltmonopols und die Mißachtung bürgerlicher Friedenspflicht nichts mehr Extraordinäres, die Akzeptanz der Staatsbedingung "innerer Friede" hat entschieden nachgelassen38, politisch motivierte Gewalt ist fast schon alltäglich geworden. Das führt zwangsläufig zu einer allgemeinen Abstumpfung gegenüber der Gewalt, verleitet zur Nachahmung39, verdunkelt den Sinn des staatlichen Gewaltmonopols und läßt die fundamentalen Unterschiede zwides Prorektors vor dem Kuratorium der Kirchlichen Hochschule Berlin am 13. März 1989 sowie Dietrich-W.
Dorn / Clemens Krämer, Recht auf störungsfreies Studium?, in: Nrn. 667, 668
der Veröffentlichung der Notgemeinschaft für eine freie Universität, April 1989. Sie werden aber in der Regel nur noch lokal beachtet. Eine allgemeine Diskussion oder gar Verurteilung findet nicht (mehr) statt. Auch hier hat man sich an Gewalt gewöhnt. 37
Vgl. etwa H. Guradze, Z R P 1969, S. 6 ("Brecht dem Schütz die Gräten"; "Haut den Hu-
ber in den Zuber"). 38
Bei einer Allensbachumfrage im August / September 1986 (Allensbacher Archiv, IfDUmfrage 4077; vgl. auch E. Noelle-Neumann, F A Z vom 13.5.87, Nr. 110, S. 11) antworteten auf die Frage: "Sind Sie eigentlich grundsätzlich für oder gegen das Gewaltmonopol des Staates?" 45 % der Bevölkerung mit Dafür, 44 % mit Dagegen. Bei den unter 30jährigen waren sogar nur 38 % dafür und 48 % dagegen. - In der gleichen Umfrage sahen 41 % der Befragten in dem Begriff "Gewaltmonopol des Staates" eine negative Kennzeichnung des Staates; 13 % assoziierten sogar Polizeistaat und Diktatur. Ein ähnliches Bild ergab eine Allensbacher Untersuchung 1988: E . Noelle-Neumann, Rechtsbewußtsein aus der Sicht der Sozialforschung, in: K. Weigelt (Hrsg.), Freiheit - Recht - Moral (1988), S. 47 ff. 39 D. Merten, Rechtsstaat, S. 46 ff.; H. Tröndle, Die Vernachlässigung und die Ausbeutung des Rechtsstaates, S. 57. - Vgl. auch H.-D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Präventi-
on und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 78 f., RdNrn. 196 ff.
44
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
sehen legaler staatlicher und illegaler privater Gewalt verschwimmen. Selbst Abgeordnete halten es inzwischen für "legitim", sich aktiv an Straßenblockaden (z.B. in Mutlangen) zu beteiligen40. Ob es nun um Fahrpreiserhöhungen, die Stationierung von Raketen, Lärmbelästigungen durch dichten Verkehr oder Tiefflieger, um die Gefährdung der Umwelt, eine neue Straßentrasse, angeblich nicht hinreichend erfüllte Lohnforderungen, die friedliche Nutzung der Kernenergie (Kernkraftwerke), den Abbau von Arbeitsplätzen, ob es um das Einkommen der Bauern, zu teuere Wohnungen, Arbeitslosigkeit, Datenschutz, die Erhöhung der Mautgebühren oder einen Krieg 41 in einem anderen Land, ob es um ein unliebsames Hochschulgesetz, einen Theaterneubau als Symbol sogenannter "Kommerzkultur" (Flora-Bau, Hamburg) oder die Volkszählung geht, die Anlässe sind beliebig austausch- und vermehrbar, man begnügt sich nicht mehr mit dem geistigen Meinungskampf, dem Kampf der Argumente, sondern man verleiht den - selbstverständlich stets besonders berechtigten und stets besonders wichtigen - Forderungen "Nachdruckman macht "Druck" durch die Errichtung von Straßensperren, durch Betriebs- oder Hausbesetzungen42, Demonstrationsexzessen, Mahnwachen sogar vor privatem Besitztum - immer neue Formen spektakulären Protestes werden gesucht urid gefunden und fast durchwegs sind sie gewalttätig oder doch mit Gewalttätigkeiten verbunden43. Daß es sich dabei häufig nur um ein "bißehen Gewalt" handelt, ändert nichts an der Verwerflichkeit dieses Verhaltens. Spätestens seit der Ermordung von zwei Polizisten im Rahmen einer Demonstration in Frankfurt am 2. November 1987 (Startbahn West) muß jeder wissen, daß Gewalt, einmal in Gang gebracht, ihre Eigengesetzlichkeit hat und sich nicht 40
Dazu etwa Hans Georg Reißmüller,
Ein Modell, das nichts taugt, F A Z Nr. 291 vom
15.12.1983, S. 1. 41
Von "Interesse" scheinen allerdings nur Kriege zu sein, an denen westliche Demokratien, in Besonderheit die USA, beteiligt sind (z.B. der Golfkrieg im Jahre 1990), weil sie Gelegenheit geben, unter dem Deckmantel humaner Parolen den "antiimperialistischen Kampf" auf eine breitere Basis (vieler Gutgläubiger) zu stellen. Der nun schon über ein Jahr dauernde, außerordentlich brutal geführte Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat dementsprechend die deutsche "Friedensbewegung" zu keiner einzigen Demonstration veranlassen können. 42 Zum Phänomen "Hausbesetzungen" aufschlußreich D. Schultz / R. Leppin, Jura 1981, S. 521 ff. H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 108, RdNr. 282: "Die vorhandenen Daten lassen in der Bundesrepublik gegenwärtig ein politisches Klima erkennen, das ... im Hinblick auf die Gewaltfreundlichkeit spezifischer Teilgruppen vor allem der jüngeren Bevölkerung Anlaß zur Besorgnis gibt."
Α. Die tätlichen Angriffe
45
beliebig dosieren läßt44. Gewalt trägt den unaufhaltsamen Drang zur Eskalation in sich. Auch Sachschäden lassen sich in der Regel nicht auf Schäden "von eher symbolischer Bedeutung" beschränken, wie es uns so manch' blauäugiger Theoretiker der "gewaltlosen" Regelverletzungen weismachen möchte. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. So berichtet Karlheinz Gemmer 45 über die Sachschäden im Zusammenhang mit Demonstrationen an der Startbahn West in Frankfurt: "Der Polizei sind in der Zeit von Oktober 1981 bis November 1983 an der Startbahn mehr als 500 000 DM Schäden aus 351 Verletzungsfällen und Beschädigung von Kraftfahrzeugen, Ausrüstung, Fernmeldemitteln, Waffen und Kleidung entstanden. Die Flughafen AG mußte etwa 23 Millionen D M zur Sicherung der Baustelle und zur Schadensbeseitigung aufwenden. Allein die Reparatur von 3 700 herausgerissenen Baustreben kostete 13 Millionen DM. Private Baufirmen, die Bundesanstalt für Flugsicherung sowie das Autobahnamt registrierten weitere 1,3 Millionen DM an Schäden. Die Kosten für Polizeieinsätze, in Zeiten der Spitzenbelastung waren an der Baustelle der Startbahn 18 West bis zu 7 000 Beamte aus allen Teilen des Bundesgebietes eingesetzt, beliefen sich bis Mai letzten Jahres auf 35 Millionen DM." Tatsächlich sind gerade Versammlungen, in Besonderheit (Groß-)Demonstrationen bevorzugte Anlässe für Gewalttätigkeiten. Eine prägnante Zusammenfassung der Entwicklung seit 1970 gibt das Erstgutachten der Unterkommission VII (Strafrechtswissenschaft) der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung 46: "Die Anzahl der Demonstrationen ist von 1.983 im Jahre 1970 in etwa kontinuierlich auf 7.453 im Jahre 1984 gestiegen (Maximum im Jahre 1983 mit 9.237 Demonstrationen) und hält sich nach einem Absinken - 1985: 5.691 - in diesem Bereich - 1986: 7.143, 1987: 7.320 Die Zahl der unfriedlich verlaufenden Demonstrationen schwankte dabei zwischen 77 im Jahre 44
Vgl. etwa P. Waldmann, Strategien politischer Gewalt, S. 15. - Auch die R A F und andere linksterroristische Banden, wie z.B. die "Roten Zellen", sind schließlich aus der Konkursmasse einer Studentenbewegung vom Ende der 60er Jahre hervorgegangen, die sich als solche - von wenigen Ausnahmen abgesehen - keiner terroristischen, sehr wohl aber gewaltsamer Mittel bediente. 45
Polizeiliche Erfahrungen, S. 98. 46
H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt,
Bd. II, S. 902 f., RdNr. 104 (m.N.). - Zur Schwierigkeit einer statistischen Erfassung des Ausmaßes politisch motivierter Gewalt vgl. dies., a.a.O., Bd. I, S. 58 f., RdNrn. 110 ff.
46
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
1972 (Minimum) und 357 im Jahre 1981 (Maximum). Hinsichtlich der unfriedlichen Demonstrationen läßt sich weder eine deutlich zunehmende noch eine abnehmende Tendenz feststellen: 1984: 230, 1985: 207, 1986: 261, 1987: 289 unfriedliche Demonstrationen. Ihr Anteil schwankt zwischen 3 und 9 Prozent. Verändert hat sich jedoch Quantität und Qualität der Gewalt. Waren es in den 70er Jahren vor allem Sachschäden, die durchaus auch Schadenshöhen von mehreren hunderttausend D M erreichten ('Gewalt gegen Sachen'), so kennzeichnen nunmehr Gewalttätigkeiten gegen Personen und Sachschäden die Situation. Im Jahre 1985 wurden 237 Polizeibeamte im Einsatz verletzt, bereits 1986 waren es, durch die Großdemonstrationen in Brokdorf und Wackersdorf veranlaßt, 818,1987 wiederum 293 Beamte. Die vorsätzliche Tötung zweier Beamter am 2.11.1987 in Frankfurt ist ein Höhepunkt dieser Entwicklung, jedoch kein unvorhersehbarer. Zunehmend war eine Ausrüstung von den im Schutze der Großdemonstrationen agierenden Gewalttätern mit Präzisionsschleudern, Äxten, Beilen, Molotow-Cocktails u.ä. beobachtet worden." Auch nach dem Endgutachten der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung 47 erfährt die Polizei eine zunehmende Brutalisierung des Demonstrationsgeschehens, die sich vor allem in drei Punkten manifestiert: die Zahl gewaltbereiter und gewalttätiger Personen steigt; die Instrumente der Gewaltanwendung werden vielfältiger und gefährlicher; gewalttätiges Verhalten wird von teilnehmenden Personen durch aktive oder passive Unterstützung oder Billigung akzeptiert. So sei nach den Erfahrungen der Polizei "das gesamte Erscheinungsbild unfriedlicher Aktionen in Vorbereitung und Planung sowie im Verhalten aggressiver und gefährlicher geworden". Dies drücke sich "in den Aufrufen, in der Kleidung (Vermummung und Schutzbewaffnung), in der Blockbildung, in Parolen, in der Lautstärke, in Beleidigungen (beispielsweise durch Anspucken von Polizeibeamten) usw. aus". Auch Personen, die der Gewalt bislang als Protestmittel ablehnend gegenübergestanden hätten, solidarisierten sich nunmehr mit den Gewalttätigen oder zeigten Sympathie für das Begehen von Straftaten. Im Blick auf die absoluten Zahlen unfriedlich verlaufender Demonstrationen und die zunehmende Intensivierung der Gewalt bis hin zu vorsätzlichen Tötungen, kann die Tatsache niemand beruhigen, daß der Anteil unfriedlich verlaufender Demonstrationen an der Gesamtzahl relativ klein ist. 47
H.-D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt,
Bd. I, S. 60 f., RdNrn. 116 ff.
Α. Die tätlichen Angriffe
47
Es dürfte auch kaum optimistisch stimmen, daß es häufig nicht die Demonstranten selbst sind, die Gewalttätigkeiten initiieren, beabsichtigen und ausführen, sondern daß es sich um Polit-Kriminelle handelt, die, nicht selten von Ort zu Ort reisend, Demonstrationen benutzen, um ihre Aggressionen und ihre Lust an der Zerstörung auszuleben. Denn die Ausübung dieses schrecklichen Handwerks würde ohne eine Solidarisierung oder wenigstens einer Duldung durch die Demonstranten nicht möglich sein. Ebenso illustrativ wie überzeugend heißt es dazu in dem Erstgutachten der Unterkommission VII (Strafrechtswissenschaft) der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung 48: "Zur Gewalttätigkeit entschlossene Personen setzen bewußt friedliche Demonstranten, Neugierige oder Unbeteiligte zu ihrem Schutz ein... Sowohl bei der VerÜbung von Gewalttaten aus Großdemontrationen heraus wie auch bei den schweren Krawallen 1987/88 in Berlin-Kreuzberg, Freiburg und Hamburg ging die Taktik der militanten und weithin vermummten Gewalttäter dahin, große, selbst nicht Gewalt ausübende Gruppen als Schutzschild zu benutzen. Hinter diese Gruppen, die z.T. beim Versuch polizeilicher Verfolgung und Festnahmen Triedensketten' bilden oder mit Kleinkindern und Rollstuhlfahrern gleichsam eine Schutzmauer aufbauen, ziehen sich die Täter zurück. Eine beweiskräftige Individualisierung einzelner Gewalttäter wird durch färben- und artgleiche Kleidung, die z.T. ausgetauscht wird, sowie durch die Vermummung erschwert. Die Solidarisierung, soweit sie nicht im voraus geplant ist, ergibt sich aus der - vermeintlich - gleichen Zielsetzung: Wer gegen den Staat oder einzelne staatliche Maßnahmen oder Einrichtungen demonstriert, fühlt sich denen, die ausdrücklich die gleichen Ziele vertreten, näher als den Vertretern der staatlichen Ordnung. Die praktische Erfahrung zeigt, daß das 'VersteckspieP in der Menge wirksam ist. Obwohl bei Krawallen häufig hunderte von Straftaten - Sachbeschädigungen, Eigentumsdelikte, Körperverletzungen u.a. - begangen werden, kann nur ein verschwindend geringer Teil der Täter gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Das Risiko der Gewalttäter, identifiziert und festgenommen zu werden, ist minimal. In 20 Jahren ist es nicht gelungen, eine gegen derartige Gewalttäter wirksame Polizeitaktik zu entwickeln. Wenn in den letzten Monaten dennoch durch besondere Beweissicherungseinheiten Festnahmen auf frischer Tat erfolgen konnten, so ändert dieses die grund48
H.-D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt,
Bd. II, S. 903 f., RdNr. 105.
48
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
sätzliche Situation nicht. Der Einsatz derartiger Einheiten in der Gewaltsituation zur Festnahme einzelner individualisierter Täter ist risikoreich. Wenn der Täter hinter nichtgewalttätigen Personen Deckung gefunden hat, muß diese Tersonendeckung' gewaltsam durchbrochen werden. Dabei wird zum einen wiederum in erheblichem Maße Gewalt geübt, obwohl gerade die Gewaltausübung verhindert werden soll. Zum andern aber richtet sich die Gewalt gegen Personen, die sich nach geltendem Recht nicht strafbar gemacht haben. Der Solidarisierungseffekt mit den Gewalttätern wird dadurch geradezu potenziert..."49 Es mag hier dahingestellt bleiben, ob und inwieweit eine derartige Komplizenschaft der Demonstranten mit Kriminellen tatsächlich strafrechtlich nicht verfolgt werden könnte oder welche strafrechtlichen Neuregelungen notwendig wären, um eine entsprechende Verfolgung zu ermöglichen und zu effektuieren. Ausschlaggebend ist allein, daß Demonstranten, die Gewalttätern die Ausübung von Gewalt ermöglichen und sie überdies vor dem polizeilichen Zugriff schützen, aus der Perspektive des bürgerlichen Friedensgebots nicht anders beurteilt werden können wie die Gewalttäter selbst.
2. Tarifauseinandersetzungen als neues Feld der Gewalt
Nicht weniger alarmierend ist es, daß in den letzten Jahren auch Tarifauseinandersetzungen zunehmend gewalttätig verlaufen. Geradezu erschütternde Szenen ereigneten sich im Zusammenhang mit dem von der IG Druck eingeleiteten Arbeitskampf im Jahre 1984, bei dem es vornehmlich um Arbeitszeitverkürzung ging. In einer Dokumentation schildern die Tageszeitungen "Stuttgarter Nachrichten" und "Stuttgarter Zeitung" gemeinsam die Vorgänge, die sich vor den Toren der Turmhaus-Druckerei in Stuttgart abspielten50: "Und das sind die Tatsachen, vor dem Verlags- und Druckzentrum in Stuttgart-Möhringen: Unsere Mitarbeiter, vor allem aber unsere Redakteure und Redaktionsangestellte (die überhaupt nicht in den Tarifkonflikt ein49
Vgl. auch noch H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 53 ff., RdNrn. 90 ff. so Folgendes Zitat aus H.-D. Gärtner /P. Klemm, Der Griff nach der Öffentlichkeit, S. 96 f. Vgl. etwa auch Johann Georg Reißmüller, Das werden wir so bald nicht vergessen, F A Z Nr. 123 vom 29.5.1984, S. 1.
Α. Die tätlichen Angriffe
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bezogen sind), müssen Ausweise vorlegen. Privatautos werden angehalten, von Streikposten umstellt. Insassen werden mit Sprechchören und Megaphonen angegangen. Kofferräume von Autos werden durchsucht, manchmal die Wagen regelrecht gefilzt. Wagen wurden mit Fäusten traktiert. Wir werden fotografiert. Manche Streikposten haben Bandaufnahmegeräte und versuchen, Äußerungen unserer Mitarbeiter aufzunehmen. Es wurden 'Gassen' von 30 bis 40 Streikposten gebildet, fast 10 m lang. In Bauchhöhe wurde ein rotes Transparent darübergespannt. Mitarbeiter wurden aufgefordert, hier durchzukriechen: 'Damit ihr Kriecher in Euren Betrieb hineinkommt.' Manche weiblichen Streikposten packten Mitarbeiter von uns an Krawatte und Jackett. Wehrten diese ab, meldeten sich sofort einige Streikposten: 'Sie haben die Frau angefaßt. Wir können das bezeugen.' Wir werden beschimpft: Mörder, Nazischweine, Kapitalistenknechte, Faschistensäue, Verlegernutten. Patrouillen riegeln unser Gebäude ab." Ein vom DGB organisierter Aufmarsch gegen das Verlagshaus der "Braunschweiger Zeitung" am 21. Mai 1984 endete nach Berichten der Zeitung in einer Besetzung des Grundstücks und der Belagerung aller Ein- und Ausgänge51: "Gruppen von jeweils 30 beziehungsweise 50 Mann wurden per Megaphon durch einen Gewerkschaftsfunktionär zu den Toren dirigiert. Dabei waren auch Gruppen, die mit T-Trägern und Steinen ausgerüstet waren. Mitarbeiter der Druckerei und des Verlagshauses Eckensberger, das in den Arbeitskampf nicht einbezogen war, wurden nach Zeugenaussagen herumgestoßen, geschlagen, bespuckt und mit Schimpfworten überschüttet. Dringende Ersuchen des Verlags und die Anwesenheit der Braunschweiger Polizei, die nicht zu den Eingängen gelangen konnte, entspannten die Situation nicht. Die Demonstranten belagerten die Eingänge weitere zwei Stunden." Und weiter: 52 "In der Nacht zum 19. Mai versuchten 50 Demonstranten die Auslieferung der 'Deister- und Weser-Zeitung' und der 'Pyrmonter Nachrichten' durch eine Autoblockade vor dem Hinterhoftor des Verlages C. W. Niemeyer zu verhindern, berichtete diese Zeitung. In der Nähe der Ausfahrt des Verlags täuschte ein Pkw mit Hamburger Kennzeichen eine Reifenpanne vor. Innerhalb weniger Minuten hatten sich hinter diesem 51
Siehe zum folgenden K-D. Gärtner / P. Klemm, Der Griff nach der Öffentlichkeit, S. 98.
Vgl. etwa auch F A Z Nr. 121 vom 26.5.1984, S. 2. 52
Siehe H.-D. Gärtner/P.
4 Schmitt Glaeser
Klemm, Der Griff nach der Öffentlichkeit, S. 98 ff.
50
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Fahrzeug etwa 25 weitere Personenwagen aufgestellt und machten so eine Ausfahrt aus dem Verlag unmöglich. Auch die anderen Tore waren belagert. In Wuppertal und Essen behinderten Demonstranten ebenfalls die Auslieferung von mehreren Zeitungen. Störaktionen wurden aus den Städten Frankfurt und Stuttgart gemeldet. Kennzeichnend für all diese Aktionen war, daß sie teilweise durch betriebsfremde Gruppierungen, von Angehörigen der IG Metall und anderen Gewerkschaften organisiert wurden. Die Organisation ihrer eigenen Streikaktionen ließ sich die IG Druck und Papier damit offensichtlich bereitwillig aus der Hand nehmen. Rund 150 Belagerer blockierten Ende Juni eine Druckerei in Hamburg. Mitarbeiter und Besucher des Betriebes wurden beleidigt und tätlich angegriffen. Eine 'Todesanzeige' für organisierte Kollegen, die nicht streiken wollten, veröffentlichte die Streikleitung der IG Druck und Papier in Detmold am 30. Juni. Darin hieß es: 'Wir nehmen Abschied von unseren organisierten Kollegen. In der Vergangenheit konnten sie die Erfolge gewerkschaftlicher Solidarität durch ihre Mitgliedschaft mittragen. Aber unter dem Druck der Geschäftsleitung wurden sie zu Streikbrechern und fielen uns in den Rükken.' Danach wurden zwölf Namen genannt, und weiter hieß es: 'Anstatt freundlichst zugedachter Kranz- und Blumenspenden bitten wir um einen mitleidigen Blick und um ein ablehnendes Kopfschütteln gegenüber den Streikbrechern'." 53 Den absoluten Tiefpunkt stellen aber vorläufig die Ereignisse um die Blockade der Rheinbrücke durch Stahlarbeiter am 10. Dezember 1987 dar, die durch diese Blockade auf den möglichen Verlust von Arbeitsplätzen aufmerksam machen wollten: "Am 10. Dezember, dem inzwischen legendären Stahlaktionstag, sind ab 5 Uhr morgens die Ausfallstraßen und Brücken in Rheinhausen und Umgebung dicht. An den Bundesstraßen und Autobahnauffahrten staut sich in kilometerlangen Schlangen der Verkehr. Nur wer einen vom Betriebsrat oder den Vertrauensleuten abgestempelten und unterschriebenen Passierschein hat, kommt an der Sperre der Stahlarbeiter vorbei.
53
Zu ähnlichen Vorfällen bei der "Bestreikung" der Frankfurter Societäts-Druckerei: Ge-
org Paul Hefty , Als ein rotes Tuch um den Pfeiler gebunden wird, naht für die Zeitung der Tag X, F A Z Nr. 142 vom 1.7.1984, S. 3.
Α. Die tätlichen Angriffe
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Das ist auch für die Polizei verbindlich. Gut 50 m vor der lebenden Sperre' haben die Polizeibeamten auf der Β 57 ihren Einsatzwagen piaziert. Als Puffer zwischen Autofahrern und Stahlarbeitern fangen sie aggressive Beschimpfungen ebenso ab, wie sie mögliche 'Durchstarter', die es an anderen Stellen gibt, von Anfang an abbremsen. 'Dürfen Linienbusse durchfahren?', wollen Polizisten von den Blockierern wissen. 'Keiner fährt durch', ist die bündige Antwort. Und es fährt keiner durch. Über CB-Funk sind die Blockadepunkte mit dem Betriebsratsbüro verbunden. Auch dort befindet sich ein Kontaktmann zur Polizei. Gleichzeitig sitzen in einer 'Good-Will-Mission' sechs Polizeibeamte am eigens eingerichteten Bürgertelefon in Duisburg, um Auskunft über Straßensperren und Umleitungen zu geben. Präsent ist die Polizei auch in kritischen Situationen. Blitzschnell reagiert sie, wenn ein Autofahrer an diesem Tag den Durchbruch durch die Sperren versucht: Wer an diesem Tag nach der Devise 'Freie Fahrt für freie Bürger' fährt und Leib und Leben der Blockierer gefährdet, kassiert eine Anzeige wegen Nötigung bzw. Körperverletzung. Nicht derjenige, der sperrt, sondern derjenige, der sich der Sperre widersetzt, begeht also Nötigung."54 Diese Situation ist gespenstisch, ein Kommentar überflüssig. Man könnte allenfalls noch interessiert fragen, ob die durch die politische Führung angeordnete Komplizenschaft zwischen Polizei und Gewalttätern diese nicht zu staatlichen Vollzugsorganen gemacht hat, etwa im Wege der Beleihung Privater mit Hoheitbefugnissen. Die Faktizität spräche dafür. Inzwischen sind Blockaden und Betriebsbesetzungen aller Art und von unterschiedlichster Intensität unter Führung der Gewerkschaften, insbesondere im Zusammenhang mit (Warn-)Streiks, so alltäglich geworden, daß derartige Vorgänge in den Medien meist nur noch am Rande oder überhaupt nicht mehr erwähnt werden. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands hat dieser Bazillus rasch auf die neuen Bundesländer übergegriffen 55, 54
Siehe Bericht im Handelsblatt vom 16.5.1988 (Nr. 93, S. 4) unter Anführung von Zitaten
aus der Monatsschrift "Der Gewerkschafter" (Mai 1988). 55
So berichtet z.B. die F A Z (Nr. 274 vom 26.11.1991, S. 15) von einer einstündigen Blocka-
de des Autobahnkreuzes Schkeuditz bei Leipzig am 25.11.1991 durch Mitglieder der I G Metall, um der gewerkschaftlichen Forderung nach einer Verlängerung der Kurzarbeiterregelung Nachdruck zu verschaffen. Die Folge war ein zehn Kilometer langer Stau.
52
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
was nicht verwundern muß, sind dort doch die gleichen Gewerkschaften am Werke.
3. Die exterritorialen Räume
Darüber hinaus gibt es seit mehr als 10 Jahren auch "exterritorale Räume", gleichsam Refugien für Gewalttäter, zu festen Burgen ausgebaut, in die sich keine Amtsperson hineinwagen kann und von denen aus die Polit-Kriminellen ausschwärmen, um ihrem zerstörerischen Handwerk nachzugehen und sich dann nach getaner Arbeit dorthin wieder zurückzuziehen wie in Fluchtburgen. Wie diese "Arbeit" gewöhnlich aussieht, schildert exemplarisch Ralph Georg Reuth in der FAZ vom 3.5.1989, Nr. 102, S. 3, unter der Überschrift "Wir schauen zu, wenn die Chaoten alles kurz und klein schlagen. In Kreuzberg herrscht die Gewalt" (Auszug): "Berlin, 2. Mai. Schwarze Rauchschwaden verdunkeln den Himmel über 'SO 36'. Sie steigen von den Autos auf, die an vielen Stellen in dem Kreuzberger Quartier brennen. Die Straßen sind übersät mit zerbrochenem Glas, herausgebrochenen Pflastersteinen, Bierdosen und anderem Unrat. Einsatzfahrzeuge der Polizei, Notarztwagen und Löschzüge der Feuerwehr versuchen sich ihren Weg zu bahnen, vorbei an geplünderten Geschäften und Barrikaden, umgeworfenen Bauwagen, hin zu den rasch wechselnden Brennpunkten des Terrors. Auf dem Lausitzer Platz, wo nach einem - u.a. von der kommunistischen SEW organisierten - 'Straßenfest' am Nachmittag die Gewalt ihren Ausgang genommen hatte, bestimmen hunderte mit Sturmhauben und Fedajin-Tüchern Vermummte aus der linksextremistischen Szene das Geschehen. Sie werfen Scheiben ein, legen Feuer oder attackieren die Polizeibeamten, die tatenlos auf der anderen Seite des Platzes dem Treiben zusehen. Als die Männer mit den Plastikschilden und Schutzhelmen wieder einmal versuchen, den Terror einzudämmen, indem sie in breiter Front vorrücken, geraten sie in einen Hagel von Pflastersteinen. Sie werden mit Stahlkugeln beschossen, Brandsätze fliegen ihnen entgegen. Schließlich weicht die Polizei zurück. Die Randalierer können ihr Zerstörungswerk fortsetzen... An der Ecke Skalitzer- und Görlitzer-Straße schlagen in unmittelbarer Nähe einer großen Tankstelle Flammen aus einem demolierten Auto. Die Bewohner der umliegenden Häuser verrammeln die Fenster, und einige verlassen ihre Wohnung aus Angst, das Feuer könne auf die Tankstelle übergreifen. Die Chaoten verweigern dem herbeigerufenen
Α. Die tätlichen Angriffe
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Löschfahrzeug die Durchfahrt... Nicht weit davon entfernt, auf dem Heinrichplatz, wo es schon in der vorangegangenen Nacht zu schweren Ausschreitungen gekommen war, geht es noch friedlich zu, wenngleich auch hier die Stimmung gereizt ist. Vor den Häusern mit Aufschriften und Transparenten, die zur 'Solidarität mit den Gefangenen' aufrufen - gemeint sind die inhaftierten Terroristen der 'Rote-Armee-Fraktion' -, drängen sich die Menschen: Schwarzgekleidete, mit bunten Hahnenkämmen ähnelnder Haarpracht, die einen Fleischspieß von der türkischen Bude verzehren und sich noch schnell einige Dosen Bier oder einen 'Joint' genehmigen, ehe die 'Kampfpause' vorüber ist... Auf der Treppe, die zum Görlitzer-U-Bahnhof hinunterführt, wälzen sich Betrunkene zwischen leeren Bierflaschen im eigenen Erbrochenen. Rauch steigt von unten herauf. Die Züge der Linie 1 fahren seit Stunden nicht mehr. Randalierer haben Feuer gelegt und Passanten zusammengeschlagen, die sie für 'Faschisten' hielten. 'Faschisten' jagen offenbar auch die Vermummten, die in Gruppen, mit Totschlägern und anderen Waffen ausgerüstet, im Quartier herumziehen. Nicht weit von dem UBahnhof haben sie einen Polizisten zusammengeschlagen und seine Dienstwaffe samt Magazin geraubt... Auf dem Hügel vor dem Kreuzberg-Bad haben mehrere hundert vermummte Chaoten, teils in Siegerpose, Aufstellung genommen. Ein älterer Passant berichtet, weshalb. Die Beamten hätten nämlich mehrmals vergeblich versucht, die Brandsatzwerfer und Katapultschützen, die von dem Hügel herab ihr Unwesen trieben, abzudrängen. Dann seien schließlich diese zum 'Gegenangriff übergegangen. 'Sie hätten einmal sehen sollen, die schrecken doch vor nichts zurück', sagt der Passant mit verängstigter Stimme und fügt leise hinzu: 'welch ein Staat.' In 'SO 36' ist das Gewaltmonopol dieses Staates seit Stunden außer Kraft gesetzt. Die Randalierer aus der linksalternativen Terrorszene beherrschen das Feld. Dies bleibt die ganze Nacht so, die marodierenden Haufen ziehen weiter durch das Quartier. Sie plündern weiter Geschäfte, zünden Autos an, richten Sachschäden in Millionenhöhe an und versetzen die Menschen in Angst und Schrecken. Erst als der Morgen dämmert, haben sich die Rauchschwaden über 'SO 36' verzogen. Es ist Ruhe eingekehrt - eine trügerische Ruhe, denn niemand weiß, wie lange sie dauern wird." Die Ausschreitungen am 1. Mai 1990 boten ein ähnliches Bild. Die Kreuzberger "Mai-Randale" sind schon längst zum Ritual geworden. Neben
54
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
erheblichen Sachschäden wurden in diesem Jahr 232 Polizisten verletzt 56. Auch am 1. Mai 1992 kam es nach einer "revolutionären Kundgebung" von Linksradikalen und Autonomen in Kreuzberg zu Straßenschlachten mit Sachschäden von weit über einer halben Million DM und 100 verletzten Polizisten. Ein ähnliches Bild bot sich bei Ausschreitungen von Neonazis und Autonomen im Ostberliner Bezirk Penzlauer Berg 57. Ein willkommenes "Datum" für Gewalttäter war der "Tag der deutschen Einheit" am 3. Oktober 1990. Im Anschluß an eine genehmigte Demonstration unter dem Motto "Deutschland halts Maul", zu der u.a. die Jugendorganisationen von SPD und Alternativer Liste aufgerufen hatten, kam es zu schweren Krawallen in der Berliner Innenstadt. Beteiligt waren Angehörige der links-autonomen Kreuzberger Szene und türkische Jugendliche. Bierzelte wurden zerstört, gepflasterter Boden aufgerissen, Schaufenster eingeworfen, 20 Polizeibeamte verletzt58. Berüchtigt als "exterritorale Räume" sind vor allem die "Hafenstraße" in Hamburg, die "Kiefernstraße" in Düsseldorf und der "Kamphof ' in Bielefeld. Nach einem Bericht des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen vom April 1988 sind zur Szene der Kiefernstraße etwa 150 Personen zu rechnen, die sich aus Hausbesetzern, RAF-Unterstützern und Sympathisanten, Autonomen sowie Anhängern und Unterstützern der sogenannten Roten Zellen zusammensetzen. "Gewaltbereitschaft und bauliche Schutzmaßnahmen (verstärkte Türen, Mauerdurchbrüche als Fluchtwege) unterscheiden sich nicht wesentlich von denen vergleichbarer Szenen / Objekte (z.B. in Hamburg, Berlin, Freiburg)." 59
56
Vgl. Bayernkurier vom 12.5.1990, S. 7 unter Verweis auf die Berliner "tageszeitung". - In
eben diesem Berlin wurde durch den AL-SPD-Senat die politischen Abteilungen der Staatsanwaltschaft aufgelöst worden. Die zuständige Senatorin begründete die Entscheidung damit, daß der "leerformelhafte Begriff des politischen Bezuges" nicht Anknüpfungspunkt für eine Sonderzuständigkeit innerhalb der Staatsanwaltschaft sein dürfe. Außerdem bestehe bei der Beibehaltung die Gefahr eines "unangemessenen Verfolgungseifers" (vgl. F A Z Nr. 15 vom 18.1.1990, S. 4). - Zur Notwendigkeit der Einrichtung von Sonder-(Spezial-)Dezernaten bei den Staatsanwaltschaften zur Bearbeitung der Verfahren wegen politisch motivierter Gewaltkriminalität siehe demgegenüber H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 131, RdNr. 360 ff. 57
Vgl. etwa F A Z Nr. 103/19 D vom 4.5.1992, S. 1.
58
Siehe den Bericht in F A Z Nr. 232 vom 5.10.1990, S. 4.
59
Innenministerium N R W 1988, S. 7. Vgl. auch H.-Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. II, S. 867, RdNr. 12.
Α. Die tätlichen Angriffe
55
Symbolwert für "rechtsfreien Raum" hat vor allem die "Hamburger Hafenstraße" erlangt. Im Jahre 1991 konnte die Szene ihr zehnjähriges Jubiläum feiern, ein Jubiläum der Gewalt60. Sie ist ein Symbol für den erfolgreichen "Widerstand" politischer Gewalttäter gegen die Staatsgewalt, ein Symbol für das Versagen staatlicher Sicherheitspolitik und der mutwilligen Zerstörung rechtsstaatlicher Werte durch das feige Zurückweichen verantwortungsloser Politiker vor Politkriminellen. Es begann 1981. Um die abbruchreifen Häuser vor dem Zugriff vermeintlicher Bauhaie zu schützen, die aus den sanierungsbedürftigen Wohnungen angeblich sündhaft teuere Luxusappartements machen wollten, rückte die autonome Szene in die Hafenstraße ein. "Instandbesetzen statt Kaputtsanieren" war die Losung, die man mit Gewalt verteidigte. Als der damalige Innensenator, Alfons Pawelczky (SPD), die Absicht äußerte, die widerrechtlich besetzten Gebäude räumen zu lassen, mußte er sehr schnell erfahren, daß er damit nicht auf der "Parteilinie" lag. Schon damals ließ Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) keinen Zweifel daran, wie er mit der Hafenstraße verfahren wollte: "Würde sich die Politik aus ästhetischen Gründen dem Dialog mit den Besetzern verweigern, wäre sie am Ende - und heuchlerisch dazu", so seine programmatische Aussage! Die Antwort auf dieses Dialogangebot kam prompt und eindeutig: Die besetzten Häuser wurden zu Festungen ausgebaut, mit Stacheldraht und Falltüren. Am Ziel der baulichen Veränderungen ließ man keinen Zweifel: Leib und Leben von Polizeibeamten sollten in Gefahr geraten, wenn man es wagen sollte, eine Räumung der Häuser zu versuchen. In einer Dokumentation "Hafenstraße" der Hamburger CDU aus dem Jahre 1987 ist nachzulesen: "7. August. Aus den Häusern wird eine Gruppe von Berufsschülern mit Stahlkugeln beschossen. Ein Junge wird verletzt, andere fliehen in Panik. Gegen Mittag wird auf der Straße ein Kind von einem Lieferwagen angefahren, es bleibt schwerverletzt liegen. Sofort stürmen Fanatiker aus den Häusern herbei, zertrümmern die Heckscheibe des Autos und demolieren die Haube. Als die Polizei anrückt, ziehen sich die Militanten in die Häuser zurück und beschießen die Beamten mit Stahlgeschossen. Auch der Rettungswagen, der das am Boden liegende Kind aufnehmen will, gerät in den Kugelhagel". Zwischen 1983 und 1987 kommt es beinahe wöchentlich zu immer dreisteren und brutaleren Übergriffen in der Hafenstraße. Geparkte Autos, vor allem wenn sie gehobenen Zuschnitts sind, werden aufgebrochen und
60
Siehe zum folgenden insbesondere Ulrich Lechleitner,
sowie F A Z Nr. 249 vom 26.10.1991, S. 4.
Bayernkurier vom 28.9.1991, S. 9
56
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
mit Äxten, Beilen oder anderen Werkzeugen zertrümmert. Steine fliegen, Passanten werden angepöbelt und bedroht. Die Polizei, vom Senat oft genug im Stich gelassen, wagt kaum noch, dagegen anzugehen. Die Folge: aus Steinen werden Zwillen, aus Zwillen Leuchtraketen, aus Leuchtraketen Molotow-Cocktails. Der gewaltbereite Mob rüstet auf. Das Wort vom "zahnlosen Papiertiger" - gemeint war der immer noch dialogbereite Senat - machte die Runde. Jedes neue Gespräch empfanden die Chaoten als das, was es in Wahrheit auch war: eine neuerliche Kapitulation vor der Gewalt. Der Senat unter Führung von Herrn von Dohnanyi (SPD) war nicht bereit, die einzig angemessenen, nämlich die polizei- und strafrechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Er verschob vielmehr die hochbrisante Angelegenheit auf die Ebene des Zivilrechts. Ein Pachtvertrag, abgeschlossen von einer senatseigenen Gesellschaft (Hafenrand GmbH) mit einem Verein der Besetzer der Häuser in der Hafenstraße, sollte die Szene "befrieden". Dies war in der Tat wie Friedrich Karl Fromme 61 feststellt - das "schlimmste Versagen der Politik". Natürlich gingen die Gewalttaten und andere kriminelle Handlungen weiter. Im Mai 1988 z.B. wollten Bauarbeiter im Auftrag der Hamburger Elektrizitätswerke (HEW) neue Stromleitungen in einem der Häuser legen. Doch die Arbeiten waren beendet, bevor sie begannen. "Verschwindet, wir brauchen euere Leitungen nicht, wir brauchen nur Strom", so die höhnische Parole der Besetzer. Zwischen 1981 und 1988 waren in den Häusern der Hafenstraße rund DM 500.000 nicht bezahlte Stromgebühren angefallen. Trotzdem wurden - selbstverständlich - Strom und Wasser weiter geliefert, auf Kosten der Steuerzahler. Im Juli 1989 versuchte der Geschäftsführer der Hafenrand GmbH, Wolf gang Dirks en, die Gebäude in der Hafenstraße zu besichtigen. Er wurde mit Holzknüppeln von vermummten Tätern blutig geschlagen und mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Täter blieben unerkannt62. Wie zu erwarten war, konnte auch die endlich im Jahre 1989 ausgesprochene Kündigung des Pachtvertrags mit dem Verein Hafenstraße nichts bewegen. Sie wurde zwar vom Hanseatischen OLG für rechtens erachtet, die eigentlichen Probleme beginnen nun aber erst. Der Vertrag ist nämlich so gestaltet worden, daß die städtische Hafenrand GmbH gezwungen ist, Räumungstitel gegen jeden einzelnen der etwa 100 Bewohner zu erwirken, was 61
Der Staat auf der Flucht, in: F A Z Nr. 257/45 D vom 5.11.1991, S. 1.
62
Vgl. F A Z und Die Welt vom 26.7.1989. Vgl. auch "Hamburger Hafenstraße: Trutzburg
der Gewalt", Bayernkurier vom 30.12.1989, S. 6.
Α. Die tätlichen Angriffe
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viele Jahre dauern kann, weil bislang nicht einmal die Namen der Mieter bekannt sind und sich der Verein Hafenstraße - ungeachtet gerichtlich festgelegter Zwangsgelder - weigert, die Namen zu nennen63. "Der Senat steht also" - wie Friedrich Karl Fromme 64 konstatiert - "wieder dort, wo er schon war, als er sich entschloß, mit polizeilichen Mitteln nicht vorzugehen. Nun müßte versucht werden, für das Erwirken von Räumungstiteln festzustellen, wer eigentlich in welcher Wohnung wohnt. Es gibt Erfahrungen: Friedlich kann es dabei nicht immer hergehen. Wird der Senat also ein weiteres Mal zurückweichen, indem er das Urteil wie eine zerschlissene Siegesfahne schwenkt, aber auf Konsequenzen verzichtet - womit also alles bliebe wie bisher?" Vieles spricht dafür. Die Hafenstraße als internationales Symbol für die militante und erfolgreiche Bekämpfung des Rechtsstaats bleibt uns wohl bis auf weiteres erhalten. Allerdings zeichnet sich seit Anfang der 90er Jahre wenigstens im Ansatz ein gewisser Lernprozeß des Hamburger Senats ab. Auch in der Hafenstraße versucht man (wieder), Haftbefehle zu vollstrecken. Dazu freilich bedarf es stets mehrerer Hundertschaften der Polizei. So waren am 15. Mai 1990 an einer Suchaktion nach mutmaßlichen RAF-Mitgliedern nicht weniger als 2.200 Polizisten beteiligt65. Als ermutigendes Zeichen muß ebenso gewertet werden, daß man derzeit immerhin die Besetzung weiterer Häuser in Hamburg nicht mehr hinzunehmen gewillt scheint. So wurden mehrere Häuser im Karolinenviertel, die am 12. Mai besetzt worden waren, von der Polizei bereits am 14. Mai 1990 wieder geräumt66. Im Hamburger Schanzenviertel setzte es die Polizei nach einem blutigen Straßenkampf mit Links-Autonomen durch, daß die Bauarbeiten für die Errichtung von Sozialwohnungen beginnen konnten67. Grundsätzlich hat sich freilich an den schon sprichwörtlichen "Hamburger Zuständen" nichts geändert, wie die Krawalle am 29. und 30. Juni 1990 um den Theaterneubau am Rande von Altona ("Neue Flora") anläßlich der Deutschlandpremiere des Musicals "Phantom der Oper" zeigen. Zahlreiche Premierengäste wurden auf der Anfahrt oder beim Fußmarsch zum Theater tätlich angegriffen, beschimpft und bespuckt, mit Tomaten und Farbeiern beworfen. Die Bilanz im übrigen: 22 verletzte Polizei63
F A Z Nr. 257/45 D vom 5.11.1991, S. 1.
64
Der Staat auf der Flucht, in: F A Z Nr. 257/45 D vom 5.11.1991, S. 1.
65
Siehe Bericht in F A Z Nr. 113 vom 16.5.1990.
66
Siehe Bericht in F A Z Nr. 112 vom 15.5.1990.
67
Dazu Bayernkurier vom 3.8.1991, S. 7.
58
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
beamte, sechs verletzte Zivilpersonen, 73 demolierte oder verbrannte Fahrzeuge, viele Scherben und 52 Festnahmen68. Seit Öffnung der Mauer greifen Krawalle dieser Art zunehmend auch auf die neuen Bundesländer über. Sie werden zunehmend mit der "Gewalt von unten" konfrontiert. Einen Schwerpunkt bildet dabei Ostberlin 69. Bei Auseinandersetzungen zwischen Links- und Rechtsextremisten am 23. Juni 1990 im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg wurden über 20 (Volks-)Polizisten zum Teil schwer verletzt und erheblicher Sachschaden verursacht 70. In den Bezirken Berlin-Mitte, Berlin-Friedrichshain (Mainzer Straße) und in anderen Bezirken (Lichtenberg, Penzlauer Berg) wurden bald nach der Wiedervereinigung vor allem ehemals volkseigene Häuser besetzt. Ende 1990 waren es rund 100 an der Zahl. Die Besetzer kamen zum größten Teil (etwa 70 bis 90 Prozent) aus dem Westen Berlins, dem ehemaligen Bundesgebiet und dem westlichen Ausland angereist. Ein Teil der Hafenstraße ist von Hamburg nach Ostberlin umgesiedelt; auch militante Kreuzberger und holländische "Kraker" gehören dazu. Nach einem "Internschreiben" der Besetzer ist Ziel der Besetzung die Errichtung von "Widerstandsnestern", vor allem im Zentrum der künftigen "Reichshauptstadt". Nachdem der Ostberliner Magistrat mit Beschluß vom 24. Juli 1990 weitere Besetzungen untersagte und erkennbar wurde, daß unter gewissen Voraussetzungen eine Räumung der besetzten Häuser vorgenommen werden könnte, machten die Besetzer klar, was im Falle einer Räumung zu erwarten sei: "Eine Million Sachschaden pro Räumung!" hieß es auf Plakaten, die in der Mainzer Straße an die Wände geklebt wurden, und weiter war dort u.a. zu lesen: "Wir halten es zwar für richtig, daß das betroffene Haus direkt gegen die Räumung verteidigt wird, gehen aber davon aus, daß eine erfolgreiche militärische Verteidigung unmöglich ist. Daher muß nach einem Bullenangriff etwas passieren - als Reaktion auf die erfolgte Aggression und gleichzeitig als Warnung vor weiteren Untaten." Angekündigt werden dann folgende Aktionen: "In der Nacht: dezentrale Aktionen mit möglichst hohem Sachschaden - Glasbruch, Schlösser verkleben, Barrikaden ... Am nächsten Tag: den ganzen Tag möglich: Buttersäure in Verwaltungsgebäude, Aktionen in oder vor Ämtern, 'Stop the City-Aktionen - Verkehrschaos, Ampeln auf rot stellen, Straßenbarrikaden 68
Klaus Wagner, Häßlichkeit unter der Halbmaske, F A Z Nr. 150 vom 2.7.1990, S. 33 und
Eckart Kauntz, Ohnmacht angesichts der "Lust auf Randale", F A Z Nr. 151 vom 3.7.1990, S. 5. 69
Siehe F A Z Nr. 94 vom 23.4.1990, S. 4 sowie F A Z Nr. 109 vom 11.5.1990, S. 1.
70
Siehe F A Z Nr. 144 vom 25.6.1990.
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auf den Hauptverkehrsadern, Notbremsen in U- und S-Bahnen, Feuerwehr beschäftigen durch Müllkontainerbrände ..." Zum Schluß die Aufforderung: "Werdet kreativ und böse! Der Untat folgt die Strafe auf dem Fuß! Eine Million Sachschaden pro Räumung!"71 Diese Drohungen wurden nahezu Wort für Wort wahr gemacht. Als die Räumungen am 12. November 1990 begannen, kam es zu Straßenschlachten, die mit Unterbrechungen bis in die Nacht des 13. und den frühen Morgen des 14. Novembers 1990 andauerten und alles bisher Dagewesene an Brutalität auf Seiten der Hausbesetzer übertraf. Mit einem gestohlenen Schaufelbagger und Preßlufthämmern wurden Straßengräben ausgehoben. Aus Lkw-Anhängern, Müllkontainern, Teerfässern, Bauwagen und Pkw wurden Barrikaden errichtet und an einigen Stellen in Brand gesetzt. Auch öffentliche Verkehrsmittel gingen in Flammen auf. Auf die Polizeibeamten regnete es Molotow-Cocktails, Signalraketen, Pflastersteine und Dachziegel; sie wurden mit Stahlkugeln - von Zwillen abgeschossen - attakiert. 146 Polizisten trugen zum Teil schwere Verletzungen davon. Der damalige Regierende Bürgermeister, Walter Momper (SPD), brachte die Ausschreitungen der Besetzer auf einen kurzen Nenner: "Das war blanke Mordlust" 72. Diese Erkenntnis konnte ihn freilich nicht dazu veranlassen, die Koalition mit der Alternativen Liste (AL) aufzukündigen, obwohl nachweislich mehrere ihrer Abgeordneten unter den festgenommenen Gewalttätern waren und die A L insgesamt keinen Zweifel daran ließ, daß sie auf Seiten der Hausbesetzer stand73. Dieser Höhepunkt an Brutalität war nicht der Schlußpunkt. Die Gewalt geht weiter, in Berlin und anderswo. Am 15. September 1991 lieferten Angehörige der "autonomen" Szene der Polizei in Berlin-Kreuzberg eine Straßenschlacht, bei der sechs Beamte verletzt wurden. Polizeiautos gingen in Flammen auf oder wurden durch Steinwürfe und sogenannte Krähenfüße beschädigt. Zwei Lebensmittel-Supermärkte sind von den Randalierern geplündert worden 74. Bei Krawallen in Berlin-Kreuzberg am 4. Oktober 1991 wurden 60 Polizisten verletzt, 21 Pkw beschädigt und Geschäfte geplündert. Unter den 71
Siehe zum Vorstehenden Bayernkurier vom 29.9.1990, S. 8.
72
Zum Vorstehenden siehe die Berichte in Die Welt Nr. 267 vom 14.11.1990, S. 1, 4 und
Nr. 268 vom 15.11.1990, S. 1, 3. 73
Dazu insbesondere Die Welt Nr. 268 vom 15.11.1990, S. 1; Bayernkurier vom 17.11.1990,
S. 8. 74
F A Z Nr. 215 vom 16.9.1991.
60
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
etwa 500 an der Straßenschlacht beteiligten Gewalttätern waren auch viele ausländische Jugendliche75. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und "Autonomen" am 1. März 1992 im Frankfurter Stadtteil Bockenheim wurden vier Beamte verletzt 76; bei Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und "Autonomen" nach einer Demonstration gegen Rechtsradikalismus am 21. März 1992 in Leipzig wurden 17 Polizisten verletzt77 usw. usw.
4. Richterliche Privatgewalt - die Pervertierung des Rechtsstaats
Eine besondere rechtsstaatliche Delikatesse servierten der staunenden Republik 20 Richter, die der Initiative "Richter und Staatsanwälte für den Frieden" angehören, am 12. Januar 1987. Zwei Stunden lang verhinderten sie durch einen "Sitzstreik" vor den Toren des Depots für amerikanische Pershing-Raketen in Mutlangen die Durchfahrt von Fahrzeugen, dann wurden sie von Polizeibeamten weggetragen. Diese sogenannte Richterblockade von Mutlangen war insgesamt ein entwürdigendes Spektakel, entwürdigend auch für die Polizeibeamten, die die Richter wegtragen mußten und "an deren Vorstellungen von der Autorität des Richters aus solchem Anlaß einiges kaputtgehen muß"78. Aber diese Richter haben noch sehr viel mehr zerschlagen. Mit ihrem vorsätzlichen und in aller Öffentlichkeit spektakulär und als beispielhaft-vorbildlich zur Schau getragenen Rechtsbruch desavouierten sie die gesamte Richterschaft und stellten Grundbedingungen des Rechtsstaates in Frage79. Der Bock dürfe nicht zum Gärtner gemacht werden, so weiß es der Volksmund. Was aber ist zu tun, wenn der Gärtner zum Bock wird? Er darf dann wohl nicht mehr länger als Gärtner beschäftigt werden, so möchte man meinen. Aber kein einziger dieser Richter wurde aus seinem Amt entfernt. -
75
F A Z Nr. 231 vom 5.10.1991, S. 2.
76
F A Z Nr. 52/10 D vom 2.3.1992.
77
F A Z Nr. 70 vom 23.3.1992.
7 8
Friedrich
79
Zur Überzeugungskraft richterlicher Entscheidungen, die nicht zuletzt auf der "erkenn-
Karl Fromme, in: F A Z vom 13.1.1987.
baren Distanz auch in aktuellen politischen Auseinandersetzungen" beruht: E. Niebier, Beratungsgeheimnis und abweichende Meinung, in: Festschrift für H. Tröndle, S. 585. Außerdem siehe insbes. O. R. Kissel , D R i Z 1987, S. 304 sowie H. Sendler, NJW 1989, S. 1765.
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i e n Angriffe
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Die unter Ziffer I I gebrachten Beispiele und Szenenbeschreibungen, bei denen es - wie schon betont - nicht immer möglich ist, eindeutig zwischen unfriedlichen Versammlungen und genuinem Terror zu trennen, könnten fortgesetzt werden. Die bisherigen Darstellungen dürften aber schon hinreichend deutlich gemacht haben, wie es mit dem inneren Frieden und der Durchsetzung des Rechtsstaates in unserer Republik steht. Nur zur Abrundung sei noch ein kurzer Bericht im Nordbayerischen Kurier vom 28./29. Januar 1989, S. 13, mit der Überschrift "Ultimatum der Fernfahrer" wiedergegeben: "Notfalls mit einer Lkw-Blockade hat ein Passauer Gewerkschaftsmitglied der Münchner ÖTV-Zentrale gedroht, wenn die Versetzung des ehemaligen Passauer Gewerkschaftssekretärs, Jochen Barabas, nach Bayreuth nicht rückgängig gemacht wird." Das Ultimatum wurde von rund 2.000 Personen unterzeichnet. Nach Angabe des Initiators sollen sich 40 Fernfahrer bereit erklärt haben, eine entsprechende Blokkade durchzuführen. Es ist ein kurioser Fall, weil hier Gewerkschafter ihre eigene Organisation erpressen wollten, aber der Fall ist deswegen nicht weniger symptomatisch. Die Schwelle zur Gewalt ist niedrig geworden, und sie ist um so niedriger, je mehr die Auseinandersetzungen politische Bezüge aufweisen.
B. Die geistigen Angriffe Geistige Angriffe sind selten grob geschnitzt. Ungeschminkte Plädoyers für Gewalt und Anarchie würden auch gerade in der staatlichen Gemeinschaft unter dem Grundgesetz nur wenig Widerhall finden. Die geistigen Angriffe gegen Gewaltmonopol und Friedenspflicht werden in der Regel eher verdeckt geführt und sind oft fein gesponnen. Ihre Initiatoren geben oder verstehen sich meist als besonders differenziert denkende, der Ethik und Moral verpflichtete, modernen (Rechts-)Entwicklungen aufgeschlossene Verfechter der wahren Freiheit, mit liberal-toleranter Grundhaltung und stets bereit, für Minderheiten und die Schwachen dieser Welt einzutreten. Man darf annehmen, daß die einschlägigen Traktate und Aktivitäten nur zu einem geringeren Teil subversive Ziele verfolgen. Eine sehr viel größere Rolle dürften Profilierungssucht, Selbstherrlichkeit, auch fehlgeleiteter Idealismus, verbunden mit Mangel an Vorstellungsvermögen, Praxisferne und Naivität in politicis spielen. Aber das sind Spekulationen, denen nicht weiter nachgegangen werden soll, zumal die Gefährlichkeit der geistigen Angriffe
62
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
im wesentlichen unbeeinflußt bleibt von den Motiven, die die Angreifer leiten.
I. In der wissenschaftlichen Literatur
Die Versuche, politisch motivierte Gewaltausübung mit dem Ziel der Einflußnahme auf den Volkswillensbildungsprozeß wissenschaftlich zu rechtfertigen, sind inzwischen Legion geworden. Methodenstrenge und Rationalität sind dabei oft ebensowenig gefragt wie wissenschaftliche Redlichkeit. Immer häufiger wird Wissenschaft nur noch als Etikett benutzt, um extrem-einseitiges Politikverständnis der Öffentlichkeit als Ergebnis eines "ernsthaften planmäßigen Versuchs zur Ermittlung der Wahrheit" 80 anzubieten81. In vorderster Front stehen Politologen und Soziologen. Aber auch mancher Rechtswissenschaftler läßt sich von einer irrationalen bis anarchistischen Treibhausatmosphäre faszinieren und scheut keine juristische Rabulistik, um das staatliche Gewaltmonopol und die bürgerliche Friedenspflicht zu relativieren und, den anregend-wärmenden Wind des Zeitgeistes im Rücken, gelegentlich auch gänzlich zu dispensieren. Als durchaus erfolgreich hat sich dabei auch die Manipulation des Inhalts des Gewaltbegriffs erwiesen. Insgesamt geht es um die Veränderung der gesellschaftlichen Einstellung zur Gewalt und ihrer Anwendung. Sie bildet das "kognitive, evaluative und affektive Umfeld individueller Gewaltorientierungen. Eine tolerante soziale Bewertung von Gewalt im politischen Protest macht ihren Einsatz auch für den einzelnen akzeptabler und begrenzt die individuellen Kosten der Ausübung von Gewalt, die den Täter in Form von gesellschaftlicher Verur-
80
Vgl. BVerfGE
47, 327/367.
81
Dazu nur ein Beispiel: Die "Bielefelder Kritikergruppe" um den Kriminologen P. A. Albrecht scheute sich nicht, ihre ebenso ausufernden wie in Einzelheiten gehenden Einwände gegen das Gutachten der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung an demselben Tag, nämlich am 16.1.1990, auf einer Pressekonferenz der Öffentlichkeit vorzustellen, an dem die Kommission ihr Gutachten dem Bundeskanzler überreichte. In einem Leserbrief zu dem Bericht über die Einwände in der F R vom 2.2.1990, S. 1, zitieren H.-D. Schwind / J. Baumann (FR vom 17.2.1990) den Trierer Soziologen R. Eckert:
"Es ist mir unbegreiflich, wie Wissen-
schaftler die zweijährige Arbeit nach (wenn überhaupt) nur kurzer Durchsicht bereits verurteilen können." Begreiflich wird es, wenn man erkennt, daß es gar nicht um wissenschaftliche Kritik ging. Schwind / Baumann, a.a.O., weisen nach, daß es sich bei den Einwänden der "Kritikergruppe" um eine Aneinanderreihung von Unterstellungen, Verfälschungen und Fehlinformationen handelte.
. Die
i e n Angriffe
63
teilung und Abwertung treffen können"82. Politisch motivierte Gewalt soll "salonfähig" und zu einem tolerablen Mittel politischer Konfliktlösung gemacht werden. Darin besteht das Grundanliegen der Gewaltrechtfertiger und darin liegt auch die eigentliche Irritation für unser freiheitliches Gemeinwesen83. Die Rechtfertigungsversuche beziehen sich ausschließlich auf linke Gewalt. Gewalt von rechts hat gewiß auch ihre geistig-politischen Umfelder 84, sie ist aber - wie Heinrich Oberreuter 85 zutreffend betont - "traditionell... aktionistisch und theoretisch anspruchslos. Sie verzichtet von vornherein darauf, sich theoretisch zu verbrämen".
1. Das Grundschema
Der Schein gleißender Überzeugungskraft und vordergründig-augenscheinlicher Plausibilität kennzeichnet die Strategie. Entsprechend nachhaltig ist die Wirkung in der Öffentlichkeit. Eine gründliche Betrachtung offenbart aber rasch die Einfältigkeit der Argumentationsweise, die der Grundanlage nach stets dem gleichen Schema folgt und in einer bestimmten Stufenfolge verläuft 86. Im wesentlichen sind es vier Argumentationsschritte 87:
82
H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 108, RdNr. 282; vgl. auch S. 47, RdNr. 65. Vgl. auch H. Oberreuter, Gewalt und Politik, S. 183 ff. 83
/. Isensee, in: Festschrift für Sendler, S. 53: "Nicht so sehr die Praxis gewalttätiger Ausschreitungen irritiert, sondern der Legitimationsanspruch, den die seit 1968 in einer Art Gezeitenfolge über das Land sich ergießenden 'Bewegungen' mit heils- und unheilsgewisser Unbedingtheit erheben: Daß die jeweilige Sache, für die sie als Avantgarde progressiver Aufgeregtheit kämpfen, jeden Preis wert ist, jedes Mittel rechtfertigt, auch die private Gewalt und den Aufstand gegen die ('formale') Mehrheitsdemokratie, daß das Gewaltmonopol entstaatlicht wird und übergeht auf das jeweilige politische Lager, das für sich das Wahrheitsmonopol reklamiert." 84
85
H. G. Jaschke, Nationalismus und Ethnopluralismus, S. 3 ff. Gewalt und Politik, S. 179.
86 87
Auf eine lückenlose Verarbeitung der Literatur kann daher verzichtet werden. Exemplarisch dafür ist etwa P. C. Mayer-Tasch,
Widerstandsrecht und Widerstands-
pflicht, S. 29 ff. sowie die Beiträge in: Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat (1983), insbes. von /. Leinen, Ziviler Ungehorsam als fortgeschrittene Form der Demonstration, S. 23 ff. und J. Habermas, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, S. 29 ff.
64
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Erstens: Zunächst wird ein tatsächlich vorhandenes oder mehr oder minder geschickt konstruiertes Problem aufbereitet, etwa Umweltzerstörung, Gefährdung von Arbeitsplätzen, Wohnungsnot, drohende Einkommensverluste, Gefährdung des äußeren Friedens durch bestimmte Verteidigungsmaßnahmen, Preiserhöhungen bei öffentlichen Verkehrsmitteln usw. Zugleich wird das Problem für einzelne Gruppen, für das ganze Volk oder auch für die ganze Welt (Menschheit) als zentral und dringend qualifiziert, mit der notwendigen Folge, daß es einer sofortigen Lösung bedarf. Zweitens: Sodann wird zu Recht oder zu Unrecht behauptet, der Staat habe die Misere verursacht oder dulde sie jedenfalls, indem er zu wenig oder gar nichts unternehme, um das unaufschiebbare Problem der erforderlichen sofortigen Lösung zuzuführen, wobei die Gründe für die verabscheuungswürdige Untätigkeit (Geldmangel, Geschlagenheit mit der sprichwörtlichen Blindheit, falsches Energiekonzept, mangelnde soziale Umverteilung u.a.) eher nebensächlich sind, aber die allfällige Empörung steigern können. Als besonders schwerwiegend wird die Tätigkeit oder Untätigkeit des Staates empfunden, wenn sie zu angeblich irreversiblen Zuständen führt 88. Drittens: Auf dieser Ebene erfolgt die Verknüpfung der ersten beiden Stufen, mit der Folge, daß sich scheinbar nur ein einziger Ausweg aus dem unmittelbar bevorstehenden Unglück anbietet: Einsichtige müssen (aus Gewissensnot oder auch aus allgemein-demokratischem Verantwortungsbewußtsein) handeln, um dem renitenten Staat die Augen zu öffnen und das drohende - möglicherweise irreversible - Unheil noch in letzter Minute abzuwenden. Die Größe der bevorstehenden Misere ist dabei der Maßstab für das Maß der geforderten Aktivitäten. Der (edle) Zweck heiligt die Mittel 89 .
88
Vgl. etwa J. Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 45 ff.; H. Simon, Fragen der Verfassungspolitik, S. 103 ff.; W. Huber, Die Grenzen des Staates und die Pflicht zum Ungehorsam, S. 116 ff.; B. Guggenberger, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, S. 184 ff.; B. Guggenberger / C. Offe , Politik an der Basis, S. 8 ff. 89
Immerhin wird dieses "Handlungsschema" häufig mit gewissen - freilich von den "Einsichtigen" selbst bestimmten Grenzen versehen, so z.B. von John Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit), der für "gerechtfertigten zivilen Ungehorsam" drei Bedingungen nennt: Der Protest muß sich gegen wohlumschriebene Fälle schwerwiegender Ungerechtigkeit richten; die Möglichkeiten aussichtsreicher legaler Einflußnahme müssen erschöpft sein; und die Aktivitäten des Ungehorsams dürfen kein Ausmaß annehmen, welches das Funktionieren der Verfassungsordnung gefährdet. Grundsätzlich zustimmend z.B. /. Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 34 ff.
Β. Die geistigen Angriffe
65
Viertens: Am Ende weiß man, wer die Guten und wer die Bösen sind. "Wird der Staat", so etwa die rhetorische Frage von Peter Cornelius MayerTasch 90y "in seiner umweltpolitischen Laszivität nicht zum Verfassungsfeind par excellence?", und an einer anderen Stelle91 lesen wir: "Wer ... Gewaltlosigkeit zu Gewalt erklärt, wie dies der deutsche Innenminister Friedrich Zimmermann im Hinblick auf Sitzblockaden tat, betreibt... eine gefährliche Eskalation des - in diesem Fall psychologischen - Terrors." Der zivile Ungehorsam dagegen - so belehrt uns Jürgen Habermas 92 - hat "Würde", die er aus einem "hochgesteckten Legitimationsanspruch des demokratischen Rechtsstaates" bezieht. Und weiter: "Wenn Staatsanwälte und Richter diese Würde nicht respektieren, den Regelverletzer als Kriminellen verfolgen und mit den üblichen Strafen belegen, verfallen sie einem autoritären Legalismus. In den Begriffen eines konventionellen, aus vormodernen Rechtsverhältnissen stammenden Staatsverständnis verkennen und verkürzen sie die moralischen Grundlagen und die politische Kultur eines entwickelten demokratischen Gemeinwesens." Nicht nur um dem zivilen Ungehorsam Würde zu geben, sondern auch um derartige Irrlehren mit den nötigen personalen Weihen zu versehen, ist es äußerst beliebt, Mahatma Gandhi, Henry David Thoreau oder Martin Luther King als Zeugen des edlen, "gewaltlosen" Widerstandes aufzurufen. Am Ende muß sich der "normale" Bürger, der Rechtsgehorsam als seine selbstverständliche Bürgerpflicht begreift und sich bei seiner Mitwirkung am Volkswillensbildungsprozeß auf die (wahrlich zahlreichen93) verfassungs- und rechtmäßigen Möglichkeiten beschränkt, wie ein Paria vorkommen, der von der wahren Demokratie nichts versteht, weder moralische noch politische Kultur sein eigen nennen darf und es daher eigentlich gar nicht wert ist, in einem freien Gemeinwesen zu leben.
2. Die "Lehre" von der "strukturellen Gewalt"
a) Das soeben dargestellte Argumentationsraster basiert im wesentlichen auf der im Rahmen der sich selbst so benennenden "Kritischen Friedensfor90
91 92 93
Widerstandsrecht und Widerstandspflicht, S. 34. Widerstandsrecht und Widerstandspflicht, S. 36. Ziviler Ungehorsam, S. 43. Siehe oben 1. Kap. Hinzu tritt noch die bürgerschaftliche Partizipation an staatlichen
Entscheidungsverfahren: vgl. W. Schmitt Glaeser, Die Position der Bürger als Beteiligte im Entscheidungsverfahren gestaltender Verwaltung, S. 35 ff. m.w.N. 5 Schmitt Glaeser
66
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
schung" entwickelten, bereits in der Theorie des russischen Anarchisten Bakunin angelegten94, (soziologischen) "Lehre" von der strukturellen Gewalt95. Sie ist eine Anti-Lehre zum modernen Staat und zum Gebot des inneren Friedens96 und konfrontiert die Wirklichkeit mit Maßstäben, an denen jede (staatliche) Ordnung scheitern muß. Das Wesen der strukturellen Gewalt wird darin gesehen, daß sie "lautlos" und "verdeckt" sei, niemand festgemacht werden könne, der einem anderen direkt Schaden zufügt. Sie sei vielmehr in das staatliche und gesellschaftliche System eingebaut und äußere sich in ungleichen Machtverhältnissen und den sich daraus ergebenden ungleichen Lebenschancen; sie sei die "Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen, zwischen dem, was hätte sein können, und dem, was ist"97. Die Herbeiführung oder auch nur die Duldung sozialer Ungerechtigkeit in diesem Sinne wird gleichgesetzt mit der Ausübung (struktureller) Gewalt98. Diese Konzeption wird normativ umgesetzt und liefert die Grundlage für die Rechtfertigung von Gegen-Gewalt. Die "offene Konfrontation" gedeiht damit in gewissen Situationen zwangsläufig zum effektivsten oder gar zum einzigen Weg, "um eine Befreiung von dieser strukturellen Gewalt herbeizuführen" 99. Offen bekennt z.B. Lars Dencik m als seinen Standpunkt, "daß Friedensforschung, wenn sie ihr Hauptziel, eine von weniger Gewalt gekennzeichnete Welt, erreichen will, gerade das Gegenteil von Befriedungsforschung betreiben muß, d.h., sie muß primär die Mittel zur Abschaffung (Unterminierung, Umwälzung) jener strukturellen Macht94 95
Vgl. W. J. Mommsen, Nichtlegale Gewalt und Terrorismus, S. 447 f. Damit sollte selbstverständlich nicht die gesamte bzw. die Friedensforschung schlechthin
desavouiert werden. Die Lehre wird nur von einem Teil der Friedensforscher vertreten, die sich eben als "kritisch", "progressiv" und "revolutionär" verstehen: vgl. insbes. /. Galtung, Strukturelle Gewalt, sowie die Beiträge in: D. Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung (1979), vor allem: /. Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, S. 55 ff. und L. Dencik, Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung, S. 247 ff. - Aufschlußreich zur Denkweise dieser Art von Forschern ist die "Kopenhagener Erklärung zur Lage der Friedensforschung" (1969), ebenda, S. 271 ff. 96
Zur "Kritischen Friedensforschung" im Blick auf das Völkerrecht: A. Randelzhofer, normative Gehalt des Friedensbegriffs, S. 13 ff.
Der
97
98
/. Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, S. 58. Noch deutlicher: Strukturelle Gewalt ist ein anderer - spektakulärer - Begriff für soziale
Ungerechtigkeit. Vgl. / . Galtung selbst: Gewalt, Friede und Friedensforschung, S. 63. 99
L. Dencik, Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung, S. 268; vgl. auch "Erklärung zur Friedensforschung" (1971), in: D. Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, S. 417 f.
100
Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung, S. 267.
Β. Die geistigen Angriffe
67
Verhältnisse entwickeln, die für die Gewalt verantwortlich sind, um dann die Situation neu zu gestalten. Das wird dann nichts weniger als Friedensforschung mit dem Ziel der Subversion und Revolution, es wird Revolutionsforschung" m. Zutreffend konstatiert Ernst-Wolfgang Böckenförde 102: "Der Begriff der 'strukturellen Gewalt' ... ist kein Friedensbegriff, sondern ein Kriegs- und Revolutionsbegriff; er legitimiert - im Namen des inhaltlichen Friedens - die Anwendung physischer Gewalt (das heißt konkret Revolution, Bürgerkrieg, Guerillakrieg) gegenüber der strukturellen Gewalt wirklichen oder angenommenen Unrechts, wobei das Kriterium struktureller Gewalt darin gesehen wird, daß das in einer Zeitsituation objektiv mögliche Maß an Gerechtigkeit und Beseitigung von Abhängigkeit nicht erreicht wird. Es gibt kaum eine Gewaltanwendung, einschließlich Terrorismus, die sich damit nicht legitimieren läßt." Von der systematischen Anlage her kann die "Lehre" von der strukturellen Gewalt nicht nur für linke, sondern ebensogut für rechte Gegen-Gewalt instrumentalisiert werden. Die Asylproblematik, die faktisch schon lange zu einem Problem unbegrenzter und daher sozialunverträglicher Einwanderung geworden ist, drängt sich als Beispiel für strukturelle Gewalt geradezu auf, so daß die Anschläge auf Asylbewerber und ihre Unterkünfte 103 als legitime Gegen-Gewalt qualifiziert werden könnten. Das liegt freilich nicht im Sinne des "Erfinders". Marcuses Theorie von der "repressiven Toleranz", die in wesentlichen Aussagen der "Lehre" von der strukturellen Gewalt entspricht 104, vermittelt uns die vorsätzliche Einseitigkeit in schamloser Deutlichkeit. Im Rahmen einer bestehenden politischen Ordnung, die von struktureller Gewalt geprägt sei, könne sich Toleranz nur in besonders perfider Weise als repressive Toleranz auswirken und sei abzulehnen. Befreiende Toleranz müsse daher "parteilich intolerant" sein "gegenüber den Wortfüh-
101
Vgl. etwa auch H. Hannover, KJ 1968, S. 58 f.: Demonstrationsfreiheit als Recht auf Re-
volution. - Sehr viel zurückhaltender und vorsichtiger demgegenüber /. Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, S. 83 ff., der sich sehr eingehend mit der Frage beschäftigt, ob personale Gewalt notwendig ist, um strukturelle Gewalt zu beseitigen, und im Ergebnis eher zu gewaltlosen Aktionen neigt, wobei freilich recht verschwommen bleibt, was "gewaltlos" bedeuten soll (a.a.O., S. 91 f.). Bei dem unmäßig weiten Begriff der strukturellen Gewalt dürfte es schwerfallen, effektive und zugleich gewaltlose Mittel zu finden. 102 Der Staat als sittlicher Staat, S. 18, F N 16. 103
Siehe oben 2. Kap., A , 1,2.
104
Η Marcuse , Repressive Toleranz, S. 91 ff.
68
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
rem des unterdrückenden status quo"105. Das aber könne nur heißen: "Befreiende Toleranz würde Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links". Dementsprechend fordert er, "daß rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktiv werden können, daß Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten)"106. "Marcuses Pointe ist" - so zutreffend Heinrich Oberreuter 107 -, "daß er strukturelle Gewalt per se nicht verurteilt, sondern nur, wenn sie politisch in spezifischer Richtung wirkt. Wer auf der Seite des (von ihm definierten) Guten steht, darf nicht nur, sondern muß strukturelle Gewalt anwenden, gegebenenfalls wohl auch manifeste". Nicht nur die Gegen-Gewalt, sondern auch die strukturelle Gewalt wird damit in ihrer Legitimität oder Illegitimität zu einer Frage der "richtigen" (linken) Gesinnung. Linke Diktatur wird nicht nur möglich, sondern nötig (und legitim). Die "Lehre" von der strukturellen Gewalt entpuppt sich als theoretische Anweisung nicht etwa zum Systemwandel schlechthin, sondern allein zur Begründung einer linken Diktatur. Das kann nicht prononciert genug hervorgehoben werden; über das Endziel der (angeblich legitimen) GegenGewalt sollte es keine Unklarheiten geben. Erst dann läßt sich auch richtig bewerten, was unter "sozialer Gerechtigkeit" und anderen human klingenden Verschleierungs-Begriffen im Sinne dieser "Lehre" tatsächlich zu verstehen ist. b) Aus der Perspektive der "Lehre" von der strukturellen Gewalt lassen sich die oben108 geschilderten Argumentationsschritte weiter verdeutlichen: Hinsichtlich des ersten Schrittes zeigt sich, daß es einen qualitativen numerus clausus der Probleme nicht geben kann. Ungleiche Machtverhältnisse und Lebenschancen, soziale Ungerechtigkeit sind, zumal wenn man sie von einer "höheren" Warte aus betrachtet, Blankettbegriffe, in die alles paßt. Dementsprechend wird auch von Johan Galtun^ die Friedensforschung als die 'Wissenschaft von der menschlichen Erfüllung gekennzeichnet. Praktisch heißt das: Jeder kann alles zum Anlaß und zum Gegenstand seines Protestes
105
H. Marcuse y Repressive Toleranz, S. 97.
106
H. Marcuse , Repressive Toleranz, S. 120 f.
107
Gewalt und Politik, S. 181 f.
108
2. Kap., Β, 1,1.
109
Strukturelle Gewalt, S. 49.
Β. Die geistigen Angriffe
69
machen und vom Staat die entsprechende sofortige "Lösung" verlangen. Dies entspricht heute auch der tatsächlichen Situation in unserem Lande110. Der Vorwurf als nächster, zweiter Schritt, der Staat habe die Misere verursacht oder dulde sie jedenfalls, entspricht im wesentlichen der Kernidee der strukturellen Gewalt, die das Phänomen der individueller Freiheit entspringenden, bürgerlichen Selbstverantwortung ausklammert. Die Ursache für negative Zustände, was immer man darunter verstehen mag, werden im Zweifel dem staatlichen Gemeinwesen aufgebürdet, so daß - dem Prinzip der Verursacherhaftung folgend - von diesem auch die Lösung zu finden und die Kosten zu tragen sind. Wird das Problem vom Staat nicht entsprechend gelöst, und entsprechend heißt: so, wie es sich derjenige vorstellt, der das Problem ge- oder auch erfunden hat, dann wird darin eine unverschuldete Zwangslage gesehen {dritter Schritt), aus der man sich und andere befreien darf und muß, unter bestimmten Umständen (unter welchen?) mit Gewalt, die dann nichts anderes als eine Gegen-Gewalt zur strukturellen Gewalt ist. Und schließlich zur Wertung {vierter Schritt) nur ein Zitat: "Weiter behaupte ich, daß die neuen revolutionären Tendenzen in der Friedensforschung sich gerade aufgrund einer profunden und gründlichen Analyse der theoretischen Implikationen der Grundbegriffe 'Gewalt' und 'Konflikt'-lösung verbreitet haben. So ist es in der Tat nicht ein ideologischer Trend hin zu einer revolutionären Attitüde, der die neuen Tendenzen in der Friedensund Konfliktforschung ausmacht, sondern vielmehr eine vertiefte theoretische Einsicht in das Wesen der Gewalt und die davon abhängigen Möglichkeiten, zur Konfliktlösung zu kommen."111 Die "wahre" Wissenschaft von der Konfliktforschung führt also zur Legitimität von Gewalttätigkeiten.
3. D e r "Ausweg" Gewalt
Im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Überlegungen steht der dritte Schritt im Rahmen des skizzierten Grundschemas. Es geht um eine Art
110
Siehe oben 2. Kap., A.
L. Dencik, Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung, S. 249.
70
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Kompetenzzuweisung an "Einsichtige", die handeln dürfen und müssen, um das drohende Unheil abzuwenden, notfalls mit Gewalt. Vertreter einer offenen Gewaltstrategie sind allerdings - wie schon betont - selten, wenn auch, was nicht vergessen werden darf, die "Lehre" von der strukturellen Gewalt notwendig auf eine private "Gegen"-Gewalt bis hin zum Terrorismus hinausläuft 112. Unter Geltung des Grundgesetzes will man aber - verständlicherweise - nicht mit offenem Visier kämpfen, sondern unternimmt große Anstrengungen, um das positive, möglichst das Verfassungsrecht, oder gar "höheres Recht", für sich zu instrumentalisieren 113. Zugleich und flankierend bemüht man sich, offensichtliche Gewalttätigkeiten herunterzuspielen, zu verharmlosen und durch Begriffszerfaserungen, versteckte Umdeutungen und Wortschöpfungen die Sprache zu verwirren und die Überlegungen in eine falsche Richtung zu lenken. a) Beginnen wir mit der Sprach- zum Zwecke der Denkverwirrung. Dazu ist schon viel richtiges gesagt worden 114, so daß hier einige wenige Aspekte genügen. Der Schwerpunkt liegt auf dem Bemühen, gewaltsame Verhaltensweisen mit positiv besetzten Begriffen zu kennzeichnen, um damit ihren wahren Gehalt zu verschleiern, ihre Brisanz zu minimieren und Sympathie für diese Art des Protestes zu wecken. So spricht man gerne von "unkonventionellen Formen der politischen Willensbildung" als Zeichen einer "reifen politischen Kultur" 115, von den "Mitteln der Straße", die den "Bürger in seiner Ruhe" aufschrecken sollen116, wobei man unwillkürlich an einen Lausbu112
Konsequent insofern daher H Hannover, KJ 1968 S. 55 f., 58. Vgl. etwa auch H. Marcuse , Repressive Toleranz, S. 127. 113
Dazu gehören auch jene, die schnell bei der Hand sind, "Wirklichkeiten" zur Verfassungswirklichkeit zu erheben und damit zu sanktionieren, wie etwa R. Wiethölter,
KJ 1970, S.
136: "Eine friedliche, eine ordentliche, eine ruhige Demonstration entspricht einem überholten unpolitisch-liberalen Rechts- und Politikverständnis. Heute ist die unruhige und unfriedliche Demonstration ein Stück Verfassungswirklichkeit, sie gehört notwendig zum politischen und rechtlichen Leben unserer Gesellschaft." Ähnlich Hanno Kuhnert, in: Die Zeit vom 27.11.1981 und dazu H Tröndle, Die Vernachlässigung und die Ausbeutung des Rechtsstaates, S. 48 f. 114
Vgl. etwa D. Merten, Rechtsstaat, S. 49 f., 53; ders., Gewaltmonopol im Rechtsstaat, S. 42 f., 44; U. Matz, Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung, S. 337 f.; /. Isensee, in: Festschrift für Eichenberger, S. 29, 32 ff. 115 So /. Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 29, 32; ähnlich z.B. /. Leinen, Ziviler Ungehorsam, S. 24 f.; Th. Eben, Gesellschaft und Freiheit, S. 197 f.: Ziviler Ungehorsam als soziale Erfindung der Demokratie. 116
U. Diederichsen/P.
Marburger, NJW 1970, S. 780.
Β. Die geistigen Angriffe
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benstreich denken muß. Erich Kiichenhojf 17 versteigt sich schließlich sogar zu der Behauptung, gewaltsamer ziviler Ungehorsam sei "aktiver Verfassungsschutz"118. Weitere, häufig verwendete Tarnbegriffe sind "aktiver Streik", "passive Gewalt", "nachdrückliche Meinungsäußerung", "passiver Widerstand", "formaler Rechtsverstoß", aber auch die verharmlosenden Termini "Regelverletzung" und "ziviler Ungehorsam", ein Begriff, der soviel Aufrechtes an sich hat, in dem Zivilcourage und der "Mut vor Fürstenthronen" anklingt. Allerdings müssen sich hinter diesen Ausdrücken keineswegs immer gewaltsame Protesthandlungen verbergen. Das gilt nicht nur für den Begriff der "Regelverletzung", sondern auch für "Widerstand" und "ziviler Ungehorsam". So ging es dem Altmeister des "civil disobedience", David Henry Thoreau, um die Verweigerung von Steuerzahlungen (aus Protest gegen den mexikanischen Eroberungskrieg, gegen Sklaverei und die Behandlung der Indianer), und zuweilen wird das Gebrauchmachen von Rechtsmitteln und die Ausübung von Grundrechten - unzutreffenderweise - als (legaler) "Widerstand" bezeichnet119. Nur allzuhäufig handelt es sich aber um Deckbegriffe für Gewaltsamkeiten, wobei weniger auf eine scharfe Abgrenzung120 als auf die werbende Zugkraft der Worte Bedacht genommen wird. Es hegt daher nahe, daß sich bei den Gewaltrechtfertigern der Ausdruck "Widerstand" besonderer Beliebtheit erfreut, besitzt er doch naturrechtliches Pathos und weckt - in Deutschland - Assoziationen an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Allerdings wird - sieht man von der einen oder anderen abenteuerlichen Auslegung unserer Verfassung ab 121 - z.B. von Jürgen Habermas 122 sehr wohl erkannt, daß "heute die im GG Art. 20
117
Deutsche Polizei 9/1983, S. 26 ff.
118 In einem weiteren Sinne gehört hierher auch die sattsam bekannte Sprache, in der Rechtsanwälte ihre politische Verbrecherklientel verteidigen. RAF-Terroristen werden als "politische Gefangene in der BRD", als "Opfer" einer "Staatsschutzkampagne" bezeichnet, die mit der "menschenverachtenden Grausamkeit des Nationalsozialismus" verfolgt würden. Kronzeugen (wie Werner Lotze und Susanne Albrecht) werden als "Kollaborateure" gegeißelt; die Verfahren gegen die Terroristen würden "auf der Basis von Denunziation und Verrat" geführt usw. (vgl. Volker Zastrow, Eine sonderbare Sprache, in: F A Z Nr. 180 vom 6.8.1991, S. 5). 119
Vgl. dazu etwa R. Wassermann, Recht, Gewalt, Widerstand, S. 117 ff.; R Dreier, Widerstand und ziviler Ungehorsam, S. 54 f. 120 Typisch für einen weitgehend synonymen Gebrauch etwa /. Leinen, Ziviler Ungehorsam, S. 24 f. oder/. Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 34 ff. 121 Exemplarisch: P. C. Mayer-Tasch, Widerstandsrecht und Widerstandspflicht, S. 32 ff. 122
Ziviler Ungehorsam, S. 33 f. Vgl. etwa auch P. Glotz, A m Widerstand scheiden sich die
Geister, S. 14 f.
72
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Abs. 4 festgelegten Bedingungen für eine Ausübung des verfassungsgemäßen Widerstandsrechts ersichtlich nicht erfüllt sind". "Aber", so fragt er, "kann man eine soziale Bewegung auf einen juristisch begründeten Sprachgebrauch verpflichten? Kann man sie, wie Günter Frankenberg sagt, 'terminologisch enteignen'?". Der populäre Sprachgebrauch wolle mit dem Ausdruck "Widerstand" nur "die Dringlichkeit des Protestanliegens zum Ausdruck bringen. Das Wort wird nicht einmal metaphorisch verwendet, wenn es Äußerungen zivilen Ungehorsams bezeichnet - also Akte, die ihrer Form nach illegal sind, obwohl sie unter Berufung auf die gemeinsam anerkannten Legitimationsgrundlagen unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung ausgeführt werden. Wer auf diese Weise Protest einlegt, sieht sich in einer Situation, wo ihm in einer Gewissensfrage nur noch drastische, mit persönlichen Risiken belastete Mittel zur Verfügung stehen, um die Bereitschaft zur erneuten Beratung und Willensbildung über eine geltende Norm oder eine rechtskräftig beschlossene Politik zu wecken und den Anstoß für die Revision einer Mehrheitsmeinung zu geben. Wer sich zu zivilem Ungehorsam entschließt, will sich angesichts der Tragweite einer für illegitim gehaltenen Regelung nicht damit zufriedengeben, daß die institutionell vorgesehenen Revisionsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Warum sollte das Handeln desjenigen, der aus diesen Gründen das Risiko einer Strafverfolgung in Kauf nimmt, nicht Widerstand heißen dürfen?" Es mag schon sein, daß man eine "soziale Bewegung" nicht auf einen juristischen Sprachgebrauch verpflichten kann. Das heißt aber noch lange nicht, daß man den Sprachgebrauch dieser "Bewegung" billigen und übernehmen muß, der nichts geringeres bewirken soll, als die ordnende Funktion der Rechtssprache zu unterlaufen. Auch Jürgen Habermas könnte wissen, daß der richtige Gebrauch einer Sprache nun einmal unverzichtbare Voraussetzung eines Miteinander-Reden-Könnens ist und daß dies natürlich auch und vor allem für Fachsprachen gilt. In Wahrheit werden hier aber nur Scheingefechte veranstaltet. Es geht keineswegs um "terminologisches Eigentum" oder die entsprechende "Enteignung", sondern schlicht darum, sich durch die Bezeichnung illegaler Aktivitäten mit dem Wort "Widerstand" einen moralischen Rang zu erschleichen, der einem nicht zukommt. b) Aber nicht nur der Mißbrauch der Sprache findet seine Verteidiger, sondern auch der Mißbrauch des Rechts und seine Negierung. Dabei kann eine breit angelegte Strategie beobachtet werden. Das Terrain wird vorbereitet durch eine Trilogie der fundamentalen Zersetzung,, durch Dämonisie-
Β. Die geistigen Angriffe
73
rung, Diffamierung und Delegitimierung des staatlichen Gewaltmonopols. Seine Dämonisierung sucht man insbesondere durch die Behauptung einer Allgegenwärtigkeit und Allwirksamkeit staatlicher Gewalt zu erreichen 123; sie präge jegliche Funktion staatlichen Handelns bis ins letzte Detail, verhindere "herrschaftsfreie Kommunikation", lenke und bestimme also den Inhalt des Volkswillensbildungsprozesses124. Zudem sei die staatliche Gewalt parteilich, ein Zwangsinstrument der Herrschenden. Diffamierende Abwertungen staatlicher Zwangsausübung durch eine entsprechende Wortwahl geben dem Moloch die ihm gebührende abschreckende Fratze. Die Justiz erscheint als "Büttel der herrschenden Eliten gegenüber einer aufbegehrenden Jugend, die in höherem Maße demokratisch und antiautoritär gesinnt ist als die Generation ihrer Väter"; Polizeibeamte, die gegen gewalttätige "Demonstranten" vorgehen, beschützen nicht Leib, Leben und Eigentum und stellen die öffentliche Sicherheit wieder her, sondern "verprügeln" - notabene "junge Demonstranten"125. Beliebte Kennzeichnungen hoheitlichen Handelns sind (rechts)"faschistisch", "polizeistaatlich", "obrigkeitsstaatlich"126. Daß die Legitimität eines solchen Staates auf schwachen Beinen steht, versteht sich fast schon von selbst. Endgültig gebrochen wird sie im Wege einer "Veredelung" des grundgesetzlichen Demokratieprinzips durch die "wahre Demokratie", in der nach höherer Einsicht von Fall zu Fall nicht mehr die Mehrheit und die von ihr gewählten Organe, sondern eine selbsterkorene Elite die letzten Entscheidungen trifft. Nicht solche Normen heischen Anerkennung, die in einem von Verfassung und Recht vorgezeichneten demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahren erlassen werden, sondern jene, die von dieser Elite als in Wahrheit legitim angesehen werden und daher Anerkennung verdienen. Um diese Normen zu finden, greift z.B. Jürgen Habermas 127 auf Vorschläge zurück, die "in der Tradition des Vernunftrechts" und der "Kantschen Ethik" ausgearbeitet wurden, die alle der "Intuition" fol123 124
Vgl. dazu U. Matz, Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung, S. 341 ff. m.N. H. Hannover, KJ 1968, S. 57: Staatsapparat als Manipulator des Willensbildungsprozes-
ses.
125
H. Hannover, KJ 1968, S. 52,56. Vgl. z.B. auch£. Denninger, Z R P 1973, S. 269: "Kollek-
tiver Knüppeleinsatz". 126
Dazu auch D. Merten, Rechtsstaat, S. 53. - Eine derartige Dämonisierung und Diffamie-
rung schafft natürlich auch Feindbilder, die Aggressivität verstärken und Gewalt fördern: dazu H.-D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I,
S. 79 f., RdNr. 202. 127
Ziviler Ungehorsam, S. 37 ff.
74
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
gen, "daß nur solche Normen gerechtfertigt sind, die ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller Betroffenen finden könnten". Daher dürfe ein demokratischer Rechtsstaat, "weil er seine Legitimität nicht auf schiere Legalität gründet, von seinen Bürgern keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten Rechtsgehorsam fordern". Allerdings verkennt Habermas nicht, daß ein so verstandener Rechtsstaat vor einer "paradoxen Aufgabe" steht: "Er muß das Mißtrauen gegen ein in legalen Formen auftretendes Unrecht schützen und wachhalten, obwohl es eine institutionell gesicherte Form nicht annehmen kann." Aber Habermas hat die Auflösung parat. Er findet sie "in einer politischen Kultur, die die Bürgerinnen und Bürger mit der Sensibilität, mit dem Maß an Urteilskraft und Risikobereitschaft ausstattet, welches in Übergangs- und Ausnahmesituationen nötig ist, um legale Verletzungen der Legitimität zu erkennen und um notfalls aus moralischer Einsicht auch ungesetzlich zu handeln". Die politische Kultur fungiert hier also gleichsam als "Heiliger Geist" der Rechtswissenschaft, der die Erleuchtung bringt und das wahre Recht erkennen läßt. Solchermaßen auf festem Boden stehend, ist der Weisheit letzter Schluß leicht zu ziehen: "Wenn die Repräsentatiwerfassung vor Herausforderungen versagt, die die Interessen aller berühren, muß das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger, in die originären Rechte des Souveräns eintreten dürfen. Der demokratische Rechtsstaat ist in letzter Instanz auf diese Hüter der Legitimation angewiesen." Damit ist alles klar. Man braucht sich gar nicht mehr zu bemühen, Grundrechte (z.B. Art. 5 oder Art. 8 GG) als Gewährleistungen privater Gewalttätigkeiten zu reklamieren, wie es z.B. Heinrich Hannover versucht 128; selbstverständlich ist "gewöhnliche" kriminelle Gewalt etwas ganz anderes als politisch motivierte Gewalt129; auch Handlungen, die sich tatbestandsmäßig z.B. als Nötigung darstellen, können unter Umständen gerechtfertigt sein130; insgesamt lassen sich staatliche Gewalt und politisch motivierte Privatgewalt qualitativ nicht mehr so ohne weiteres unterscheiden131. Handelt 128
KJ 1968, S. 55 f., 57 ff.
129
So z.B. E. Denninger, Z R P 1973, S. 269.
130
E. Denninger, Polizei in der freiheitlichen Demokratie, S. 35. 131
Vgl. etwa /. Leinen, Ziviler Ungehorsam, S. 27: "Wir wünschten auch restlose Klarheit
darüber, daß die Gewaltfreiheit gleichfalls die Geschäftsgrundlage auf Staatsseite ist..."; P. C. Mayer-Tasch,
Widerstandsrecht und Widerstandspflicht, S. 30: "Wer ist der Angreifer, wer
handelt in Notwehr?"; E. Denninger, Polizei in der freiheitlichen Demokratie, S. 39: "... unmenschliche Mechanik von politischem Druck und polizeilichem Gegendruck überwinden ...".
Β. Die geistigen Angriffe
75
der einzelne, sensibilisiert durch politische Kultur, als Einsichtiger, die wahren Herausforderungen erkennend, mit den richtigen Zielen (Fernzielen) vertraut, dann tritt er ohnehin ein in die originären Rechte des Souveräns, und wenn der Bürger als Souverän Gewalt ausübt, wer möchte da noch von "politisch motivierter Privatgewalt" oder gar von Straftatbeständen faseln.
II. In der Rechtsprechung
Es wäre gewiß unzutreffend, wollte man global behaupten, die Gerichte der Bundesrepublik würden dazu neigen, politisch motivierte Privatgewalt (oder überhaupt Gewalt von Zivilpersonen) hinzunehmen, zu billigen oder gar zu fördern. Soweit es jedenfalls um physische Gewaltsamkeit geht, also um die unmittelbare körperliche Zwangseinwirkung auf Personen und Sachen (sogenannte Gewalttätigkeiten), wird die Friedenspflicht des Bürgers prinzipiell ernst genommen und die strikte Geltung des staatlichen Gewaltmonopols betont132. Auch in der Rechtsprechimg beginnen die Irritationen jedoch dort, wo es nicht um ein mehr oder minder brutales Zuschlagen, sondern um diffizilere Formen einer gewaltsamen Einwirkung zwischen Menschen geht, der Täter mit nur geringem Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzt und dadurch einen unwiderstehlichen Zwang auf das Opfer ausübt, also insbesondere bei den Blockaden in ihren unterschiedlichen Formen133. Bei dieser Art politisch motivierter Betätigung ist die Rechtsprechung weder eindeutig noch geschlossen; hier gibt es viele Wenn und Aber. Eine Zerfaserung des Postulats bürgerlicher Friedenspflicht ist die unausweichliche Folge. Als zentrale "Einbruchsteile" erweist sich der Nötigungstatbestand des § 240 StGB mit seiner Verwerflichkeitsklausel in Abs. 2, wonach eine Nötigung auch mit Gewalt nur dann rechtswidrig ist, wenn ihre Anwendung zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Der Rechtsprechung zu dieser Bestimmung muß daher unsere besondere Aufmerksamkeit gelten134. 132
Vgl. insbes. BVerfGE
54, 277/292; E 69, 315/360 sowie E 61, 126/136; E 73, 206/246; E
74, 257/261 f. und BGHSt 35, 270/282 f. 133
Vgl. oben Einleitung und allgemein dazu BVerfGE
73, 206/239 ff. m.z.N.
134
Vgl. im übrigen H.-D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kon-
trolle von Gewalt, Bd. II, S. 904 ff., RdNrn. 106 ff., insbes. zur Problematik des Landfriedensbruchs (§ 125 StGB) m.w.N.
76
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation 1. Die Rechtsprechung der Strafgerichte
a) Es ist bekannt, daß das Risiko, als Gewalttäter bei einer Massenveranstaltung gefaßt und verurteilt zu werden, gering veranschlagt werden kann. Es liegt derzeit unter ein Prozent 135. Zu einem wesentlichen Teil ist dies auf eine Überforderung der Polizei zurückzuführen, die auf dem Schlachtplatz einer gewalttätigen (Groß-)Demonstration zu viele Aufgaben gleichzeitig durchführen soll: Gewalttaten verhindern, Gewalttäter festnehmen, gerichtsfeste Beweise sichern und sich selbst schützen vor Wurfgeschossen, Brandsätzen und Schlagwaffen. Weitere Gründe kommen hinzu, wie z.B. Mängel in der Verhandlungsführung, Bedrohung von Zeugen, prozessuale Unzulänglichkeiten, zu lange Verfahrensdauer 136. Hemmend wirken aber auch spezifische Verhaltensweisen mancher Gerichte. So wird z.B. im Erstgutachten der Unterkommission VII (Strafrechtswissenschaft) der (Anti-)Gewaltkommission der Bundesregierung berichtet 137, eine Anhörung der Polizeipraktiker habe ergeben, daß Polizeibeamte als Zeugen in Gerichtsverhandlungen gegen Gewalttäter, insbesondere extremistische Gewalttäter, oft den Eindruck eines Rollentausches dahin haben, daß das Gericht sich mit dem Verhalten des Polizeibeamten auseinandersetzen wolle, weniger mit dem der Gewalttäter. Auch schon im Vorfeld der Hauptverhandlung zeigen sich äußerst bedenkliche Entwicklungen. Berüchtigt ist hier der sogenannte "Hirtenstab-Beschluß" des Amtsgerichts Hameln138, in dem die Eröffnung einer Hauptverhandlung wegen eines Vergehens nach § 27 VersG abgelehnt wurde: Der mit Helm und Gasmaske bekleidete Angeschuldigte war als Teilnehmer einer unfriedlich verlaufenden Demonstration festgenommen worden, weil er einen etwa 2,5 m langen und 2,5 cm starken Stock mit sich führte und in der Jackentasche Steine bei sich trug. Seine Einlassung, er habe diesen Stock als Spazierstock benutzen wollen und wisse nicht, warum er die Steine eingesteckt habe, sah das Amtsgericht als unwiderlegbar an, wobei es auf den sogenannten Hirtenstab verwies und darauf, daß man 2,5 m 135
H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 128, RdNrn. 347 ff. 136
Vgl. H.-D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Ge-
walt, Bd. II, S. 873 f., RdNrn. 27 ff.; K. Gemmer, Polizeiliche Erfahrungen, S. 98 ff. 137 H.-D. Schwind //. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. II, S. 876, RdNr. 35. 138
Vom 5.10.1977, 14^8/77 (12 Ls 69/77), StA Hannover, zitiert nach H.-D. Schwind / J.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. II, S. 875, RdNr. 33.
Β. Die geistigen Angriffe
77
lange Stöcke auch als Zeigestöcke benutzen könne, während der Besitz von Steinen keineswegs den Schluß zulasse, der Besitzer habe mit den Steinen auf Menschen werfen wollen. Da somit keine hinreichenden Anhaltspunkte vorlägen, um Stock und/oder Steine als Waffen im Sinne des § 27 VersG einstufen zu können, bestehe kein hinreichender Tatverdacht hinsichtlich eines Vergehens nach § 27 VersG. Es ist nicht bekannt, wie verbreitet solcherart Strategien zur Verhinderung von Hauptverhandlungen sind. Daß es sich beim "Hirtenstab-Beschluß" aber keinesfalls um einen exotischen Einzelfall handelt, zeigen die weiteren Beispiele ähnlicher Art, die von Karlheinz Gemmer 139 referiert werden. Nur eines dieser sehr illustrativen Beispiele soll hier wiedergegeben werden. Es geht dabei um ein Verfahren wegen gemeinschaftlicher Nötigung, das mit folgender Begründung eingestellt wurde: "Die Beschuldigten gehörten zu einer größeren Gruppe von Demonstranten, aus der heraus immer wieder Kraftfahrzeuge an der Weiterfahrt gehindert wurden, namentlich Polizeifahrzeuge. Als zuletzt ein Zug Schutzpolizei daran gehindert wurde, zum Gebäude der Sonderinspektion einzufahren, wurde die Inverwahrnahme der Personen angeordnet. Dabei wurden allerdings viele erst in der Situation ergriffen, als sie sich bereits vom Ort des Geschehens auf der Flucht befanden. Es kann deshalb hinsichtlich der oben genannten Personen nicht mit der zur Erhebung der öffentlichen Klage hinreichenden Sicherheit festgestellt werden, daß von jedem einzelnen konkret eine Blockadewirkung ausging." Mit derart überzogenen richterlichen Beweisanforderungen läßt sich kaum noch ein Gewaltdelikt, das im Rahmen von Massenveranstaltungen begangen wird, mit hinreichender Aussicht auf Erfolg verfolgen. Richterliche Verhinderungsstrategien dieser Art werden von den Medien nicht aufgegriffen, entgehen daher öffentlicher Beachtimg und erst recht öffentlicher Diskussion und Kontrolle. Sehr wohl bekannt aber sind sie jenen, die es angeht, also den Personen und Personengruppen, die in gewaltsamen Aktionen ein probates Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen sehen, und den Polizisten. Erstere werden ermutigt, in ihrem rechtswidrigen Tun fortzufahren und es gegebenenfalls zu intensivieren. Die Polizisten, die nicht selten Leib und Leben einsetzen, um Gewalttäter dingfest zu machen, werden demotiviert und sie werden ihren Einsatz verringern, weil und soweit er ihnen sinnlos erscheint. Auf diese Weise wird der Rechtsstaat langsam aber äu-
139
Polizeiliche Erfahrungen, S. 102 ff.
78
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
ßerst erfolgreich ausgehöhlt und geschädigt. Die einzig positive Seite dieser Strategie ist, daß eine rechtliche Beurteilung der Gewalt und damit auch bei solchen Richtern zu erwartende - Versuche von Gewaltrechtfertigungen vermieden werden. b) In den Versuchen einer Rechtfertigung von Gewaltbetätigungen liegt das zentrale Problem. Auflösungserscheinungen dieser Art zeigen sich in der Rechtsprechung der Strafgerichte seit Ende der 60er Jahre im Anschluß an die Studentenproteste und die damit verbundenen gewaltsamen Ausschreitungen gegen Personen und Sachen. Den hier interessierenden Urteilen zur Nötigungsvorschrift des § 240 StGB liegt durchweg das gleiche "Muster" zugrunde: Der Tatbestand des Abs. 1 wird als erfüllt angesehen, insbesondere das fragliche Verhalten in der Regel als Gewalt qualifiziert 140, verneint aber wird die Verwerflichkeit des Verhaltens 141. Mehr oder minder klar erkennbar unterscheiden die Gerichte dabei zwischen den Nötigungs/o/ge«, verstanden als die jeweilige Behinderung einerseits, und den Nötigungsz/e/en andererseits, wobei sie hier wiederum zwei Arten von Zielen ausmachen, nämlich die Erzwingung verstärkter Beachtung für (demonstrative) Meinungsäußerung als unmittelbares Nötigungsziel und das Femziel (Protest gegen Fahrpreiserhöhungen bei den öffentlichen Verkehrsmitteln, gegen Pressekonzentration, Aufrüstung, Atomkraftwerke, Umweltzerstörung u.a.). Die Nötigungsfolgen werden sodann gegen die Nötigungsziele abgewogen. Das unmittelbare Nötigungsziel erscheint den Gerichten um so gewichtiger, je schwerer es ist, auf einen Entscheidungsträger einzuwirken, je mehr nur druckvolle Protestaktionen Erfolg versprechen und je weniger bisherige "friedliche" Versuche, die fragliche Entscheidung zu ändern, Ergebnisse gezeigt haben. Das jeweilige Fernziel - vom Oberlandesgericht Köln 142 schlicht als "edler Endzweck" bezeichnet - wird als um so gewichtiger eingestuft, je anerkennenswerter ("edler") und bedeutsamer nach Einschätzung des Gerichts das betreffende Anliegen ist, wobei den gewaltausübenden Demonstrationsteilnehmern dann auch 140
A A . aber z.B. AG Reutlingen vom 18.7.1984, NStZ 1984, S. 508 f. Weitere Nachweise oben Einleitung, F N 15,16. 141
Siehe etwa AG Bremen vom 22.4.1968, JZ 1969, S. 79 f.; AG Esslingen vom 22.10.1968, JZ 1968, S. 800 ff.; AG Frankfurt
vom 30.10.1968, D R i Z 1969, S. 94 f.; LG Köln vom 31.10.1968,
JZ 1969, S. 80 ff.; SchöffenG Hannover vom 28.11.1968, D R i Z 1969, S. 90 f.; OLG Köln vom 22.7.1986, NJW 1986, S. 2443 ff. 142 E vom 22.7.1986, NJW 1986, S. 2443/2444.
Β. Die geistigen Angriffe
79
noch gelegentlich bescheinigt wird, sie hätten "maßvoll"143 und "in echtem Bewußtsein staatsbürgerlicher Gesinnung"144 gehandelt. Auch hier also wird, wie im Schrifttum 145, dem berüchtigten Handlungsschema gehuldigt, daß der Zweck die Mittel heilige. Unter Berufung auf das Bundesverfassungsgericht, insbesondere auf dessen Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit, zur Wechselwirkungstheorie und zur Vermutungsformel 146 wird betont, das Verwerflichkeitsurteil müsse im Licht der besonderen Bedeutung der Meinungsund Versammlungsfreiheit (Art. 5, 8 GG) gesehen und bewertet werden. Private und wirtschaftliche Interessen hätten daher im Zweifel zurückzutreten, wenn es dem Täter bei der nötigenden Behinderung nicht um eigene Vorteile oder materielle Ziele, sondern um Fragen von allgemeinem öffentlichen Interesse gegangen sei. Kurz und bündig (und wohl auch in Anlehnung an Bert Brecht: "Was ist schließlich der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?") heißt es in einem Beschluß des Amtsgerichts Esslingen147: "Was ist schließlich die nur um einige Stunden verzögerte Auslieferung eines Presseerzeugnisses wie der Bild-Zeitung gegenüber der staatsbürgerrechtlich gebotenen Auflehnung gegen Pressekonzentration und Meinungsdiktat?" Bis zum Sitzblockaden-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 11. November 1986148, auf das sogleich149 näher einzugehen ist, blieben Entscheidungen der geschilderten Art trotz ihrer Vielzahl doch eher Einzelerscheinungen und - wie den Zitaten zu entnehmen ist - meist auf die unteren Instanzen beschränkt. Die ganz überwiegende Rechtsprechung vor allem auch der Obergerichte bejahte bei solchen Sachverhalten die Verwerflichkeit 150. 143
So z.B. OLG Köln vom 31.10.1968, JZ 1969, S. 80/83.
144
So z.B. AG Esslingen vom 28.10.1968, JZ 1968, S. 799/800, und vom 22.10.1968, ebenda, S. 800/801. 145
Siehe oben 2. Kap., Β, 1,1.
146
Vgl. insbesondere BVerfGE
7, 198 ff. und ständig. - Zu dieser Rechtsprechung einge-
hend W. Schmitt Glaeser, A ö R 113 (1988), S. 52 ff. 147 E vom 22.10.1968, JZ 1968, S. 800/802. 148
E 73, 206 ff.
149
2. Kap., Β, II, 2, b.
150
Vgl. etwa OLG
Celle vom 21.10.1969, NJW 1970, S. 206 ff.; OLG Stuttgart
vom
14.3.1984, NJW 1984, S. 1909 ff.; AG Schwäbisch Gmünd vom 12.6.1986, NJW 1986, S. 2445 f.; OLG Koblenz vom 31.7.1986, M D R 1987, S. 162 f.; BayObLG vom 21.2.1986, BayVBl. 1986, S. 314 ff.; KG Berlin vom 31.10.1984, NJW 1986, S. 209 ff.; OLG Düsseldorf vom 10.12.1985, NJW 1986, S. 942 ff.
80
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Insbesondere wurde es abgelehnt, das jeweilige gesellschaftspolitische Anliegen (die "Fernziele") des Täters zu werten und bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung zu berücksichtigen. Sehr dezidiert auf dieser Linie liegt auch die Laepple-Entscheidung des Ersten Senats des Bundesgerichtshof aus dem Jahre 1969151. Unsicherheit verbreitete demgegenüber ein Beschluß des Zweiten Senats desselben Gerichts vom 24. April 1986152. Die Frage, ob das mit einer Demonstration verfolgte "Fernziel" von wesentlicher Bedeutung für die Rechtswidrigkeit der Tat sein kann, wurde zwar ausdrücklich offengelassen 153; die insgesamt doch recht nebulösen Darlegungen ließen aber die Befürchtung, bei manchen die Hoffnung, aufkommen, das Gericht könnte eine Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung beabsichtigen und auch Fernziele im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung berücksichtigen154. Diese Befürchtungen verstärkte eine wenig später ergangene Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtmäßigkeit von Sitzblockaden155, die eine entsprechende Berücksichtigung von Fernzielen von Verfassungs wegen nicht ausschließt. Ein Jahr zuvor hatte der gleiche Senat die erste grundsätzliche Entscheidung zur Versammlungsfreiheit getroffen, die sogenannte Brokdorf-Entscheidung 156, die durch ihre einseitige Akzentuierung des Freiheitsrechts der Demonstranten eine Auflösung rechtsstaatlicher Bedingungen effektiver Gewaltbekämpfung den Weg bereitete.
2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
a) Die Brokdorf-Entscheidung Die Grundeinstellung (das Vor-Urteil) eines Gerichts läßt sich nicht selten schon an Hand der Art und Weise der Abfassung des Tatbestandsteils
151
BGHSt
152
23, 46/53 ff.; vgl. etwa auch schon BGHS15, 245/246 sowie BGHZ 59, 30 ff.
BGHSt 34, 71 ff. - Vgl. dazu die kritische Anmerkung von G. Jakobs, JZ 1986, S. 1063 ff.
sowie K. Schäfer, in: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, § 240, RdNr. 61 (Ziff. 3, a). 153
BGHSt 34, 71/78.
154
Siehe insbes. BGHSt 34, 71/78, wo die "Beweggründe der an den Aktionen" beteiligten Demonstranten immerhin als rechtliche Kategorie angesehen werden. 155 BVerfGE 73, 206 ff.; vgl. auch E 76, 211 ff. 1
BVerfG
69, 3 1 5 .
Β. Die geistigen Angriffe
81
der Entscheidungsgründe erkennen. Die Brokdorf-Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts ist ein Lehrbeispiel dafür. aa) Das gilt zum einen für die Information über gewalttätige Ausschreitungen bei Brokdorf-Demonstrationen. Vom Senat selbst erfährt man darüber soviel wie nichts. Er unterrichtet nur indirekt über die Wiedergabe der Stellungnahme des Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein157, aus der sich ergibt, - daß es bei den bisherigen Demonstrationen in Brokdorf durchweg zu erheblichen Gewalttätigkeiten gekommen ist, wobei allein im Rahmen einer Demonstration am 16. November 1976 nicht weniger als 81 Polizeibeamte verletzt wurden und ein Schaden von einer halben Million DM entstanden ist; - daß bei der nunmehr in Betracht stehenden (nicht genehmigten) Demonstration schon am frühen Morgen des Demonstrationstages 1.000 überwiegend mit Helmen ausgerüstete "Demonstranten" an einer Sperre gegen die Polizei so vorgegangen sind, daß diese sich zurückziehen mußte, daß es nachmittags am Kernkraftwerk zu Gewalttaten gekommen ist, an denen 2.000 bis 3.000 "Demonstranten" teilgenommen hatten und insgesamt 7 Beamte schwer, etwa 40 mittelschwer und rund 80 leicht verletzt worden sind. Für den ersten Tatbestand hat der Senat nicht mehr Worte übrig als: "... Demonstrationen ..., die teilweise unfriedlich verliefen", und für die Beschreibung des zweiten Vorgangs genügt ihm die kurze Feststellung: "Dabei ist es zu Ausschreitungen gekommen."158 Diese weitgehende Ausblendung tatsächlicher Gegebenheiten zieht sich bis in die Entscheidungsgründe hinein. Der Senat unternimmt alles, um die häufig auftretenden Gewalttätigkeiten bei Demonstrationen im Hintergrund zu halten und (sich selbst?) eine möglichst heile Welt des aufrecht-mündigen Bürgers vorzugaukeln, der unvermummt und waffenlos das repräsentative System unserer Republik dadurch stabilisiert, daß er sich in und durch Demonstrationen im Prozeß von trail and error um die beste Meinung bemüht159. Selbst der Begriff "Gefahrenabwehr" wird häufig geradezu ängstlich 151
BVerfGE
69, 315/332 f.
158
BVerfGE
69, 315/320, 326.
159
Vgl. BVerfGE
6 Schmitt Glaeser
69, 315/345, 347.
82
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
vermieden; an seine Stelle treten so blasse Bezeichnungen wie "Berührung mit der Außenwelt", "kollidierende Interessen anderer" oder "Außenwirkungen"160. Dieser Drang nach Schönfärberei der tatsächlichen Lage bestimmt auch die Auswahl der Beispiele: So werden genannt der Gorleben-Treck (1979), die Bonner Friedensdemonstration (1981) und die Süddeutsche Menschenkette (1983)161; keine Erwähnung finden dagegen z.B. die gewalttätigen Störungen des Bundeswehrgelöbnisses in Bremen oder etwa die zahlreichen exzessiven Ausschreitungen bei Demonstrationen gegen den Bau der Startbahn West in Frankfurt 162. Nicht weniger symptomatisch sind die Akzentuierungen im Bericht über die Stellungnahme Dritter (§ 94 BVerfGG) und die Tatsache, daß man von der Meinung der Gemeinden, die in dem von der Demonstration betroffenen Gebiet gelegen sind, überhaupt nichts erfährt. "Sind sie", so die naheliegende Frage von Hans Schneider 163, "entgegen § 94 Abs. 3 BVerfGG vielleicht gar nicht gehört worden? Oder haben Sie sich nicht geäußert, obwohl ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme geboten worden war? Oder sollte gar, entgegen sonstiger Übung des Gerichts, weder die Tatsache, daß sie eine Stellungnahme abgegeben haben, noch ihr Vorbringen selbst einer Erwähnung für wert befunden worden sein?" Äußerst ausführlich kommen demgegenüber die dem Gericht offenbar konvenierenden Ansichten des "Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz" (auf eineinhalb Seiten) und der "Gewerkschaft der Polizei" im DGB (auf nahezu drei Seiten) zu Wort 164 , und man fragt sich in diesem Zusammenhang natürlich auch165, warum wohl die mitgliederstarke Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund nicht befragt worden sein mag? Diese Einseitigkeiten bei der Aufbereitung des Tatbestandsteils sind ebenso bemerkenswert wie merkwürdig, lebt unser Rechtsstaat doch in besonderem Maße von der distanzierten Neutralität unserer Gerichte, die eben nun einmal bei der Recherchierung der Fakten, dem Einholen von In-
160
BVerfGE
69, 315/348, 350. Vgl. auch V Götz, DVB1.1985, S. 1348.
161
BVerfGE
69, 315/355.
162
V. Lohse, Der Städtetag 1986, S. 270.
163
D Ö V 1985, S. 785.
164
Für die Wiedergabe der Stellungnahme des Landrats des betroffenen Kreises genügt dem Senat dagegen eine Seite! 165 H. Schneider, D Ö V 1985, S. 785.
Β. Die geistigen Angriffe
83
formationen und der Feststellung des Sachverhalts beginnt. Aber der Senat will gewisse Meinungen und Fakten nicht oder nur widerstrebend zur Kenntnis nehmen. Vor allem daß Demonstrationen auch und gerade in Brokdorf stets mit erheblichen gewalttätigen Exzessen verbunden waren, paßt dem Gericht nicht ins Konzept. Dieser Eindruck bestätigt sich dann bei der Lektüre der Entscheidungsgründe, in denen die Versammlungsfreiheit zu einer Art Über-Grundrecht ausgebaut wird. Der Senat hätte seinen Höhenflug zur Lobpreisung dieses Grundrechts von vornherein tiefer ansetzen müssen, wenn er die zahlreichen verletzten Polizisten und das Ausmaß der Sachschäden in seine Überlegungen mit einbezogen hätte. Es ist zwar im Prinzip richtig, daß der mögliche Mißbrauch eines (Grund-)Rechts nicht maßgeblich sein kann für seine grundsätzliche Einschätzung166. Auf der anderen Seite kann aber die Tatsache, daß die Versammlungsfreiheit so häufig mißbraucht wird und dabei durchwegs hohe Personen- und Sachschäden entstehen, bei seiner grundsätzlichen Bewertung und vor allem im Hinblick auf die Art und Intensität der Begrenzungsmöglichkeiten nicht unberücksichtigt bleiben. bb) Der konkrete Fall wird augenscheinlich falsch entschieden167. Darauf ist hier nicht einzugehen. Die eigentliche Bedeutung des lehrbuchhaft konzipierten Beschlusses168 liegt in der Beantwortung jener Fragen, die durch den konkreten Sachverhalt nicht gestellt waren. "Die Ausführlichkeit und die belehrende, fast erzieherische Eindringlichkeit" 169, mit welcher der Senat die allgemein-grundsätzliche Bedeutung der Versammlungsfreiheit würdigt, läßt erkennen, wie groß das Anliegen der Richter ist, die Gelegenheit beim Schöpfe zu packen und ein für allemal die Weichen für die Zukunft "richtig" zu stellen. Sieht man dabei von einigen Selbstverständlichkeiten ab170, die mit der Feststellung enden, daß das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der politischen Willensbildung sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen äußere, sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen
166
BVerfGE
167
E. Fröhler,
69, 315/345. U P R 1986, S. 27 f.; H. Schneider, D Ö V 1985, S. 784 f.; S. Broß, Jura 1986, S.
194; V Lohse, Der Städtetag 1986, S. 272; W.-R Schenke, JZ 1986, S. 37. 168
CK Gusy, JuS 1986, S. 608 ff. Vgl. auch V. Götz, DVB1.1985, S. 1347.
169
V. Götz, DVB1.1985, S. 1347.
170
BVerfGE
69, 315/344 - 346.
84
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Meinungsbildung, die sich in einem demokratischen Staatswesen frei, offen, unreglementiert und grundsätzlich "staatsfrei" vollziehen müsse, so fällt vor allem auf, daß sich der Senat bemüßigt fühlt, die Bedeutung der Versammlungsfreiheit vornehmlich mit gesellschaftskritischen Erwägungen zu untermauern: "An diesem Prozeß" (der politischen Meinungsbildung), so kann man lesen, "sind die Bürger in unterschiedlichem Maße beteiligt. Große Verbände, finanzstarke Geldgeber oder Massenmedien können beträchtliche Einflüsse ausüben, während sich der Staatsbürger eher als ohnmächtig erlebt. In einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, verbleibt dem Einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflußnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen. Die ungehinderte Ausübung des Freiheitsrechts wirkt nicht nur dem Bewußtsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegen. Sie liegt letztlich auch deshalb im wohlverstandenen Gemeinwohlinteresse, weil sich im Kräfteparallelogramm der politischen Willensbildung im allgemeinen erst dann eine relativ richtige Resultante herausbilden kann, wenn alle Vektoren einigermaßen kräftig entwickelt sind"171. Natürlich hat unsere heutige demokratische Ordnung Probleme, zumal was die demokratische Freiheit des Bürgers zur grundrechtlichen Mitwirkung in politicis angeht172. Die Art und Weise aber, wie sich das Gericht dieser äußerst schwierigen Fragen annimmt, ist doch zu einfach und zu einseitig 173 . In der Tat kann es, wie Volkmar Götz 174 zutreffend ausführt, nicht überzeugen, "angebliche Krisenpunkte unseres politischen Systems in düsteren Farben zu beschwören ..., nur um die Notwendigkeit des Heilmittels Versammlungsfreiheit in um so helleres Licht zu rücken... Der politische Standpunkt der Umweltschutzorganisationen, die die Brokdorf-Demonstration initiiert hatten, wird in zahlreichen Medien in Permanenz verbreitet. Daß 'in einer Gesellschaft, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chance, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist', letzt171
BVerfGE
69, 315/346.
172
Prägnant dazu IC Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNrn. 162 ff m.z.N. Vgl. auch W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, RdNrn. 38 ff. 173 V. Götz, DVB1. 1985, S. 1347: "Der rein subjektive Charakter dieser Bewertung ist offensichtlich.174
DVB1.1985, S. 1347 f.
Β. Die geistigen Angriffe
85
lieh nur die Demonstration bleibe, ist entweder unzutreffend, wenn das Argument bedeuten sollte, daß Meinungsmonopole die Verbreitung der Standpunkte der potentiellen Demonstranten in den Medien verhinderten, oder aber eine technisch bedingte, auf jede Gesellschaft zutreffende Banalität, wenn es bedeuten sollte, daß nicht jedermann zu jeder Zeit im Rundfunk und in der Presse zu Wort kommen kann... Aber es ist irritierend, daß das Bundesverfassungsgericht zu seinem Diktum macht, was sich als gesellschaftspolitische Kritik dazu nicht eignet, sondern der Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Gegenauffassungen bedarf. Sicher gibt es Staatsbürger (wenn auch nicht 'den' Staatsbürger, wie das Bundesverfassungsgericht meint), die sich als ohnmächtig empfinden. Aber es müßte auf dieser Ebene der Auseinandersetzung dann hinzugefügt werden, daß große Bevölkerungsteile, ohne politisch apathisch zu sein, nicht demonstrieren und eher geneigt sind, die durch Demonstrationen erreichte politische Einflußnahme oftmals als Prämie auf die Lautstärke von Demonstrationen kritisch zu sehen"175. Die subjektivistische Verzeichnung der Situation wird noch dadurch verstärkt, daß das Gericht zentrale Probleme völlig ausklammert, z.B. die Frage, inwieweit dem Bürger unter den Gegebenheiten des technokratischen Massenstaates überhaupt noch Mitmihingsqualifikation zukommt176. Die Zahl der Fragen, so betont Konrad Hesse 177, auf die sich die bürgerschaftliche Beteiligung an der politischen Willensbildung bezieht, ist "wesentlich gewachsen, und die Fragen sind vielfach so kompliziert geworden, daß nur wenige sie kompetent beurteilen können; aus beiden Gründen kann es über die Wahlen hinaus nur eine partielle Beteiligung der politisch aktiven Bürger geben. Und selbst diese begrenzten Möglichkeiten sind durch die modernen Techniken der merklichen und unmerklichen Beeinflussung gefährdet, die rationale Meinungsbildung, Entscheidung und Kontrolle durch Manipulation zu unterlaufen drohen". Hätte der Senat auch diese Perspektive der bürgerschaftlichen Mitwirkungsqualifikation und -möglichkeit in seine Überlegungen mit einbezogen, dann hätte er die Bedeutung gerade der Versammlungsfreiheit für den Volkswillensbildungsprozeß tiefer hängen, jedenfalls differenzierter sehen müssen. Aber dies war wohl von Anfang an nicht beabsichtigt gewesen. 175
Vgl. noch zum Argument der "Staatsverdrossenheit" E. Fröhler, UPR1986, S. 2.
176
W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, RdNr. 39.
177
Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 164.
86
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
cc) Die Gesellschaftskritik ist das eine, die Rechtsfolgen, die daraus hergeleitet werden, sind das andere und das eigentlich Entscheidende. Die vom Senat propagierten Konsequenzen sind einschneidend: Zustimmend wird zunächst Konrad Hesse 178 zitiert, wonach Versammlungen "ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie" enthalten, "das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren". Namentlich in Demokratien mit parlamentarischem Repräsentativsystem und geringem plebiszitären Mitwirkungsrechten habe, so fährt der Senat fort, "die Versammlungsfreiheit die Bedeutung eines grundlegenden und unentbehrlichen Funktionselementes"179. Was das Gericht mit diesem Passus besagen will, ist nicht ohne weiteres auszumachen. Man kann schwerlich annehmen, daß es für "ursprünglich-ungebändigte" Versammlungen eintritt oder gar diese Eigenschaft dem Recht auf Versammlungsfreiheit oder der Demokratie selbst zugesteht, weil es solche Handlungsweisen im Rechtssinne in einer staatlichen Gemeinschaft ebensowenig geben kann wie "ungebändigte" Rechte. Nicht weniger problematisch erschiene es, dem Senat ohne weiteres zu unterstellen, er hätte in souveräner Verfassungsergänzung Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG dahin erweitert, daß das Volk Staatsgewalt nicht nur in Wahlen und Abstimmungen, sondern auch in Versammlungen ausübe. Jene Idee vom "Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie" kann daher wohl nur im übertragenen, indirekten Sinne gemeint sein, in dem die Versammlungsfreiheit als "Möglichkeit zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung gesehen und die öffentliche Meinung als tägliche (quasi-)plebiszitäre Rechtfertigung demokratischer Herrschaft gewertet wird" 180. So betrachtet scheint dieser allseits Anstoß erregende Passus der Entscheidung181 zunächst nichts Ungewöhnliches zu bedeuten. Gravierend Neues enthalten aber die Aussagen im Anschluß an die Charakterisierung der Versammlungsfreiheit als "grundlegendes und unentbehrliches Funktionselement"182. Hier werden die konkreten Folgerungen aus der gerichtlichen 178 179
Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 404. BVerfGE 69, 315/347
180
Vgl. M Kloepfer,
181
Vgl. etwa V Götz, DVB1. 1985, S. 1348; H. Schneider, D Ö V 1985, S. 783; S. Broß, Jura
in: Handbuch des Staatsrechts V I , § 143, RdNr. 10.
1986, S. 195; ders., RiA 1985, S. 233; E. Fröhler, 138; V Lohse, Der Städtetag 1986, S. 271. 1
BVerfGE
69, 3 1 5 / 3 4 .
U P R 1986, S. 1; R. Honigl, BayVBl. 1987, S.
Β. Die geistigen Angriffe
87
Gesellschaftskritik gezogen. Der Senat beginnt mit der Feststellung, im parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem gelte selbst bei Entscheidungen mit schwerwiegenden, nach einem Machtwechsel nicht einfach umkehrbaren Folgen für jedermann - grundsätzlich das Mehrheitsprinzip", und fährt sodann fort: "Andererseits ist hier der Einfluß selbst der Wählermehrheit zwischen den Wahlen recht begrenzt; die Staatsgewalt wird durch besondere Organe ausgeübt und durch einen überlegenen bürokratischen Apparat verwaltet." Bei aller vorsichtigen Lückenhaftigkeit der Formulierung läßt sich in diesem Passus des Beschlusses die Skepsis des Gerichts gegenüber dem Mehrheitsprinzip bei irreversiblen Entscheidungen, ja sogar gegenüber der Legitimation der besonderen Organe insgesamt (mit ihrem "überlegenem bürokratischen Apparat"!) nicht verkennen. Offenkundig geht es um die Frage, ob - wie es etwa Jürgen Habermas, auf eine konkrete Situation bezogen, formuliert 183 - "sicherheitspolitische Grundsatzentscheidungen, die mit eminenten Risiken verbunden sind und tief in das Leben jedes einzelnen, sogar in die Überlebenschancen ganzer Völker eingreifen, von der dünnen Legitimationsdecke einer einfachen Bundestagsmehrheit getragen werden dürfen". Und noch prononcierter ist die Aussage des am Brokdorf-Beschluß beteiligten Bundesverfassungsrichters Helmut Simon auf dem evangelischen Kirchentag in Hannover 184: "Darf denn stationiert werden (gemeint ist die Stationierung der Pershing II-Raketen in der Bundesrepublik aufgrund des Nato-Doppelbeschlusses), ohne daß darüber der Bundestag nach einem öffentlichen Willensbildungsprozeß durch förmliches Gesetz beschließt? Darf der Bund unter Beschränkung seiner Souveränität in die äußerst gefährliche Stationierung von Waffen einwilligen, über deren Einsatz allein der Präsident der USA entscheidet? ... Reicht das Prinzip der einfachen Mehrheit (außerhalb des unabstimmbaren Bereichs) wirklich stets aus? Genügt es auch für folgenschwere Entscheidungen irreversibler Natur, d.h. für solche, die bei einem Mehrheitswechsel nicht mehr einfach rückgängig zu machen sind und die tödliche Folgen für jedermann haben können, wenn sie falsch sind?" Die Fragen münden in die Folgerung, daß über die technische Entwicklung und die strategische Einsatzplanung von Massenvernichtungsmitteln nicht nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden dürfe, daß vielmehr "der Gebrauch von Massenvernichtungsmitteln - ebenso wie
1 J»
Ziviler Ungehorsam, S. 47. Siehe im übrigen oben 2. Kap., Β, 1,1, F N 88.
184
Zitiert nach /. Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 47 f.
88
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
früher einmal die Sklaverei - zum Gegenstand des Unabstimmbaren" gemacht werden sollte. Diesen Schluß zieht der Senat zwar nicht, er könnte es nach geltender Verfassungslage auch nicht; aber er benutzt die von ihm aufgeworfenen Zweifel am demokratischen Mehrheitsprinzip zu einer entsprechenden Aufwertung der Minderheiten: Schon generell gewönnen die von den besonderen Organen auf der Grundlage des Mehrheitsprinzips getroffenen Entscheidungen "an Legitimation, je effektiver Minderheitenschutz gewährleistet ist"; die Akzeptanz dieser Entscheidungen werde "davon beeinflußt, ob zuvor die Minderheit auf die Meinungs- und Willensbildung hinreichend Einfluß nehmen konnte". Und speziell zur Versammlungsfreiheit meint das Gericht: "Demonstrativer Protest kann insbesondere notwendig werden, wenn die Repräsentativorgane mögliche Mißstände und Fehlentwicklungen nicht oder nicht rechtzeitig erkennen oder aus Rücksichtnahme auf andere Interessen hinnehmen." Vor allem dieser letzte Satz ist fatal. Demonstranten wird damit zumindest moralisch, vielleicht sogar "demokratietheoretisch", ein faktisches Mitwirkungsrecht bei "Mißständen und Fehlentwicklungen" eingeräumt, und es entsteht der vage, manchem sehr erwünschte Eindruck, als sei das Ziel des Volkswillensbildungsprozesses doch eher die Wahrheit, der die Mehrheit ferner steht als die Minderheit oder deren Erkennen die Minderheit sogar gepachtet hat. Die Feststellungskompetenz für "Mißstände und Fehlentwicklungen" wird jedenfalls der Minderheit zugeteilt. Unabweisbar sind damit Assoziationen zu jenen in der Literatur apostrophierten "Einsichtigen", die aus Gewissensnot oder aus allgemein-demokratischem Verantwortungsbewußtsein handeln müssen, um einer renitenten Mehrheit die Augen zu öffnen und das drohende - möglicherweise irreversible - Unheil abzuwenden185. Aus dieser Perspektive gewinnt nunmehr auch die gerichtliche Charakterisierung der Versammlungen als "ein Stück urprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie" einen anderen Stellenwert, und es könnte fraglich erscheinen, ob diese Aussage wirklich nur in einem übertragenen, indirekten Sinne gemeint ist. Sind vielleicht die Demonstranten doch im Habermassehen Sinne in "letzter Instanz" die "Hüter der Legitimation", die in die origi-
185
Vgl. dazu oben 2. Kap., Β, 1,1.
Β. Die geistigen Angriffe
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nären Rechte des Souveräns eintreten, wenn die Repräsentatiwerfassung vor Herausforderungen versagt, die die Interessen aller berühren 186? Diese Erwägungen sollen hier nicht weiter vertieft werden. Festzustellen ist aber, daß sich derartige Assoziationen aufdrängen und die Ausführungen des Senats in eine Richtung weisen, die ganz entschieden von den Grundprinzipien unserer Verfassung wegführt. Aber selbst bei einer sehr restriktiven Würdigung der einschlägigen Passagen des Beschlusses bleiben noch genügend prinzipielle Bedenken: Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird vom Senat zu dem Funktionselement der Demokratie schlechthin ernannt, zur Allzweckwaffe gegen Mißstände und Fehlentwicklungen, gegen Ohnmachtsgefühle, Staatsverdrossenheit und Integrationsdefizite, zum zentralen Instrument öffentlicher Einflußnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest, für effektiven Minderheitenschutz, erhöhte Akzeptanz staatlicher Entscheidung usw. usw. Der Senat wertet die Versammlungsfreiheit als ein "kompensierendes Korrektiv zum Repräsentativ-, Parteien- und Verbändesystem"187 und ordnet sie unter Verwischung der prinzipiellen Trennung von Staatswillensbildungs- und Volkswillensbildungsprozeß188 mehr dem ersteren zu als dem Volkswillensbildungsprozeß, wohin allein sie als demokratisches Teilhaberecht gehört 189. Die unmittelbare Beteiligung des Volkes bzw. der Aktivbürgerschaft an der Staatsgewalt und der Staatswillensbildung ist auf Wahlen und Abstimmungen beschränkt (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG). Darüber hinaus kann der Bürger den Staatswillensbildungsprozeß nur mittelbar, nämlich über den Volkswillensbildungsprozeß beeinflussen. Hier und nur hier, bei der Mitgestaltung des Volkswillensbildungsprozesses sind die Grundrechte in ihrer demokratischen Dimension als Mitwirkungsrechte anzusiedeln. Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist dabei lediglich ein Instrument unter anderen und keinesfalls das bedeutendste und wirkungsvollste. Es steht nicht nur neben der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) und der Religions- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG), sondern
186 1R7
/. Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 41. Vgl. dazu schon oben 2. Kap., Β, I, 3. M Kloepfer,
in: Handbuch des Staatsrechts V I , § 143, RdNr. 10.
188
Deutlich für eine klare Entscheidung gegen eine solche Verwischung insbes. BVerfGE
8,
104/113 ff. und dazu W. Schmitt Glaeser, A ö R 97 (1972), S. 108 ff. m.N. Vgl. außerdem oben 1. Kap. sowie W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, RdNrn. 28 ff. und M Kloepfer, ebenda, § 35, RdNrn. 20 ff. 1 OQ W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, RdNrn. 7 f.
90
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
auch neben der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) und der Freiheit der Parteien, die nach der ausdrücklichen Bestimmung des Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Es ist völlig richtig, wenn der Senat betont, daß alle diese "Vektoren einigermaßen kräftig entwickelt" sein müssen190. Aber das gilt eben nicht nur für den "Vektor" Versammlungsfreiheit, sondern ebenso für die anderen Instrumente, und es kann vor allem nicht heißen, daß alle diese "Vektoren" gleich kräftig entwikkelt sein müßten. Die eindeutige Dominanz der Massenmedien und der Organisationen, insbesondere der politischen Parteien und der mächtigen (Interessen-) Verbände, bei der Beeinflussung des Volkswillensbildungsprozesses ist nicht auf die Machenschaften dunkler Mächte zurückzuführen, sondern liegt in der Natur der Sache, und es kann nicht angenommen werden, daß der Verfassunggeber dies nicht gewußt hätte. Mit der grundgesetzlichen Gewährleistung der verschiedenen Mitwirkungsmöglichkeiten erkennt daher die Verfassung zugleich auch die faktischen Wirkungsunterschiede dieser Meinungsbildungsfaktoren an191. Man mag das für richtig halten oder nicht192. Jedenfalls ist es unzulässig, diese eindeutige Verfassungslage dadurch zu konterkarieren, daß man die gegenüber den Medien, den großen Verbänden und insbesondere den politischen Parteien vergleichsweise geringe rechtliche Bedeutung von Versammlungen und Demonstrationen bei der Mitbestimmung der öffentlichen Meinungsbildung durch Interpretation zum Angelpunkt des Volkswillensbildungsprozesses erhebt. Auch die vom Gericht behauptete Tatsache, ihre Richtigkeit einmal unterstellt, daß wir in einer Gesellschaft leben, in welcher der direkte Zugang zu den Medien und die Chancen, sich durch sie zu äußern, auf wenige beschränkt ist, so daß dem einzelnen neben seiner organisierten Mitwirkung in Parteien und Verbänden im allgemeinen nur eine kollektive Einflußnahme durch Inanspruchnahme der Versammlungsfreiheit für Demonstrationen verbleibt 193, rechtfertigt eine so verzerrende Interpretation nicht. Im übrigen ist nicht auszumachen, was man mit dieser "kritischen" Situationsbeschreibung des Senats anfangen soll. Immerhin beklagt er noch in dem Satz zuvor den beträchtlichen Einfluß großer Verbände, während sich dann bei der Situationsbe-
190
BVerfGE
191
Vgl. auch M. Kloepfer,
192
69, 315/346.
m.w.N. 193
in: Handbuch des Staatsrechts V I , § 143, RdNr. 11.
Vgl. W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, insbes. RdNrn. 38 ff. BVerfGE
69, 315/346.
Β. Die geistigen Angriffe
91
Schreibung der Eindruck aufdrängt, daß die organisierte Mitwirkung in politischen Parteien und Verbänden eine doch nur recht periphere Einflußmöglichkeit bietet, die eigentlich der Rede nicht wert ist. Auch hätte man in diesem Zusammenhang erwarten können, daß das Gericht die zusätzliche Wirkung der Versammlungsfreiheit gerade über die Medien wenigstens erwähnt. Bekanntlich führt die Ausnutzung des Sensationsbedürfnisses vor allem des Fernsehens durch geschickte und profihaft arbeitende Versammlungs- und Demonstrationsstrategen dazu, daß Demonstrationen und die in diesem Rahmen erhobenen politischen Forderungen meist einen quasi-unmittelbaren Zugang zu den Medien haben und auf diese Weise übermäßige Beachtung finden, zumal wenn der demonstrative Protest mit Rechtsverletzungen und Gewalttätigkeiten verbunden wird 194 . Aber auch dazu kein Wort in der Entscheidung! Des weiteren drängt sich die Frage auf, was eigentlich der Senat unter "Minderheit" versteht, die offenbar bevorzugter Träger des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit sein soll. Handelt es sich z.B. bei einer Großdemonstration noch um eine Minderheit? An der Brokdorf-Demonstration, die Gegenstand des Beschlusses ist, haben immerhin 50.000 Personen teilgenommen195. Wie ist es mit Demonstrationen, zu denen, wie es nicht selten vorkommt, der DGB, die SPD, Die Grünen, Friedens- und Umweltvereinigungen und evtl. noch die DKP aufrufen? Kann man auch hier von Minderheit sprechen, geht es auch bei diesen Versammlungen um den Abbau von Ohnmachtsgefühlen und Staatsverdrossenheit? Wie ist die Versammlungsfreiheit im Gesamtgefüge der politischen Mitwirkungsrechte zu werten, wenn sie von so "großen Verbänden", wie dem DGB oder den Bauernverbänden, oder von einer so großen Volkspartei, wie der SPD, in Anspruch genommen wird? Fragen über Fragen, die der Senat nicht einmal stellt, geschweige denn beantwortet. Für das Gericht scheint die Versammlungsfreiheit einzelnen Staatsbürgern und Minderheiten vorbehalten zu sein, den Schwachen dieser Gesellschaft, denen es gilt, vor allem durch das öffentlichkeitswirksame Mittel der Demonstration gegenüber den Mächtigen Gehör zu verschaffen. Hält man diese "Schwachen" dann auch noch für die "Einsichtigeren", deren Aufgabe es ist, auf Mißstände und Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen - eine Einschätzung im übrigen, die modischem Zeitgeist (wieder) entspricht196 -, dann liegt es natürlich nicht mehr fern, die 194 195
Vgl. statt vieler M Kloepfer, BVerfGE 69, 315/326.
196
in: Handbuch des Staatsrechts V I , § 143, RdNr. 12 m.w.N.
Vgl. /. Isensee, in: Festschrift für Eichenberger, S. 35 ff.
92
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Versammlungsfreiheit zu einem besonderen, eben zu einem Über-Grundrecht herauszuputzen. dd) Der verfehlte Ansatz im Grundsätzlichen wird bei der Erörterung der Einzelfragen 197 konsequent fortgeführt. Auswirkungen zeitigt dies in erster Linie bei der Gewichtung der Gefahren, die mit Versammlungen unter freiem Himmel, insbesondere mit Großdemonstrationen verbunden sind. Die übermäßig hohe Einschätzung der Versammlungsfreiheit hat zwangsläufig eine Unterbewertung dieser Gefahren und dementsprechend eine nicht mehr vertretbare Minimierung der Begrenzungsmöglichkeiten zur Folge. Die grundsätzliche Notwendigkeit der Einschränkung der Versammlungsfreiheit wird selbstverständlich nicht bestritten. Hervorzuheben ist vor allem, daß der Senat das Friedlichkeitsgebot des Art. 8 Abs. 1 GG (zunächst) sehr entschieden betont und als immanente Grenze des Grundrechts qualifiziert 198. Weil der Ausgangsfall, bei dem es zu Gewalttätigkeiten gekommen ist, keinen Anlaß für genauere Grenzziehungen zwischen "hinnehmbaren Einwirkungen und unfriedlichem Verhalten" gibt, begnügt er sich mit der Feststellung, ein Teilnehmer verhalte sich "jedenfalls dann unfriedlich, wenn er Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen begeht"199. Eine eingehendere Betrachtung des Beschlusses zeigt freilich, daß die augenscheinlich so dezidierte Betonung des Friedlichkeitsgebotes doch mehr den Charakter eines Lippenbekenntnisses besitzt. Der Begriff der Friedlichkeit wird nämlich so restriktiv interpretiert, daß er kaum Relevanz gewinnen kann. Dies erweist sich bei der Behandlung des praktisch besonders bedeutsamen Falles, in dem Ausschreitungen nur von einzelnen "Demonstranten" oder einer Minderheit begangen werden. Dem Gericht ist zwar zuzugeben, daß eine Unfriedlichkeit im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG nur angenommen werden kann, wenn die Demonstration im ganzen einen entsprechenden Verlauf nimmt; die Versammlungsfreiheit für die friedlichen Teilnehmer muß als grundrechtliche Gewährleistung dem Grundsatz nach auch dann erhalten bleiben, wenn eine Minderheit Ausschreitungen begeht200. Entscheidend kommt es aber darauf an, was man unter "Minderheit" verstehen will 201 197
BVerfGE
69, 315/348 ff.
198 199
Vgl. auch /. Isensee, in: Festschrift für Sendler, S. 39 ff. BVerfGE 69, 315/360.
200
BVerfGE
201
Vgl. schon oben 2. Kap., Β, II, 2, a, bb.
69, 315/361 m.z.N.
Β. Die geistigen Angriffe
93
und unter welchen Umständen eine Demonstration als (noch) im ganzen friedlich angesehen werden kann. Der Senat will den Begriff der Minderheit offenbar quantitativ bestimmen ("einzelne andere Demonstranten"; "unfriedliches Verhalten Einzelner") und im Zweifel das Verdikt der Unfriedlichkeit vermeiden, so daß der Schutz der öffentlichen Sicherheit in der Regel über den Gesetzesvorbehalt in Art. 8 Abs. 2 GG zu erfolgen hat. Das bedeutet in der Tat, "daß für die Beurteilung der Versammlung ein Stück des absoluten Friedlichkeitsgebotes ... zu Gunsten eines relativen, durch die Verhältnismäßigkeitsgrenze begrenzten Gebotes (Art. 8 Abs. 2 GG) aufgegeben wird" 202. Diese Konzeption ist nicht vertretbar. Bei den allgemeinen Ausführungen zum Friedlichkeitsgebot hat der Senat noch zutreffend betont, daß eine Rechtsordnung, "die nach Überwindung des mittelalterlichen Faustrechts die Ausübung von Gewalt nicht zuletzt im Interesse schwächerer Minderheiten beim Staat monopolisiert hat", auf der Vermeidung privater Gewalttätigkeiten "strikt bestehen" müsse. Das sei, so lesen wir weiter, "Vorbedingung für die Gewährleistung der Versammlungsfreiheit als Mittel zur aktiven Teilnahme am politischen Prozeß ,.."203. Gerade dieses strikte Bestehen auf Vermeidung von privaten Gewalttätigkeiten ist wichtig und verträgt sich nicht mit einer restriktiven Interpretation der Friedlichkeitsschranke in Art. 8 Abs. 1 GG, die im Zweifel stets dazu führt, der Versammlung Friedlichkeit zu bescheinigen, auch wenn sie im wesentlichen durch die gewalttätigen Ausschreitungen einer "Minderheit" geprägt war. Der Begriff der Minderheit muß nach richtiger Auffassung in der Literatur vor allem qualitativ definiert werden; entscheidend ist das Maß der Einflußmöglichkeit der Gewalttäter auf die Demonstration, wobei z.B. auch die praktisch bedeutsame Frage der Solidarisierung der Mehrheit mit den Gewalttätern eine wichtige Rolle spielt204. Selbst wenn der Schutz der öffentlichen Sicherheit über den Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG ebenso gewährleistet werden könnte wie über das absolute Friedlichkeitsgebot in Art. 8 Abs. 1 GG, würde dies eine restriktive Auslegung des Gebots nicht rechtfertigen. Denn die Bewahrung der Rechtsordnung als Friedensordnung ist keine bloße Frage technischer Begrenzungssystematik, sondern eine Frage staatlichen Selbstverständnisses 202
V. Götz, DVB1.1985, S. 1352.
203
BVerfGE
204
Vgl. V Götz, DVB1.1985, S. 1352 und M Kloepfer,
69, 315/360.
143, RdNr. 41, jeweils m.w.N.
in: Handbuch des Staatsrechts V I , §
94
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
und Bedingung staatlicher Existenz. Unfriedliche Versammlungen müssen daher als solche bezeichnet und behandelt werden; insbesondere darf kein Zweifel darüber bestehen, daß mit jeglicher Art von Gewaltanwendung auch der Grundrechtsschutz entfällt. Außerdem ist tatsächlich die Garantie der öffentlichen Sicherheit über den Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG nicht in gleichem Maße gewährleistet. Allerdings stellt dieser Vorbehalt eine ausreichende Basis dar, um auf der Grundlage des § 15 VersG gegen die gesamte Demonstration behördliche Maßnahmen bis hin zu einem Verbot anzuordnen205. Aber derartige Maßnahmen haben das Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu beachten, können nur in seinem "Lichte" getroffen werden und sind entsprechend, d.h. bezogen auf die spezifische Gewährleistung des Art. 8 GG und insbesondere an den Grundsatz des Übermaßverbotes, gebunden. So verfährt auch das Gericht und es schraubt dabei zudem die Anforderungen noch höher, als es verfassungsrechtlich zulässig ist: Obgleich das Maß der Begrenzung im einzelnen nur aus der jeweiligen Situation des zu entscheidenden konkreten Falles bestimmt werden kann und darf, läßt es sich der Senat nicht nehmen, ein Bündel von äußerst detaillierten allgemeinen Anweisungen für die diesbezügliche Verwirklichung des Übermaßverbotes zu geben206, die ausschließlich darauf gerichtet sind, die Schwelle für behördliche Maßnahmen der Gefahrenabwehr möglichst hoch zu setzen: Bevorzugt ist danach eine "nachträgliche Auflösung" zu erwägen; ein "vorbeugendes Verbot der gesamten Versammlung" ist "nur unter strengen Voraussetzungen und unter verfassungskonformer Anwendung des § 15 VersG statthaft"; nötig ist insofern eine "hohe Wahrscheinlichkeit in der Gefahrenprognose", die "vorherige Ausschöpfung aller sinnvoll anwendbaren Mittel, die eine Grundrechtsverwirklichung der friedlichen Demonstranten ... ermöglichen"; insbesondere setzt das Verbot der gesamten Demonstration als ultima ratio voraus, "daß das mildere Mittel, durch Kooperation mit den friedlichen Demonstrationen eine Gefährdung zu verhindern, gescheitert ist oder daß eine solche Kooperation aus Gründen, welche die Demonstranten zu vertreten haben, unmöglich war"; in aller Regel ist es geboten, daß ein vorbeugendes Demonstrationsverbot "zuvor unter Fristsetzung angekündigt wird, wobei innerhalb der Frist Gelegenheit zur Erörterung der befürchteten Gefahren und geeigneter Gegenmaßnahmen besteht"207. 205
So richtig BVerfGE
206
Kritisch auch V Götz, DVB1.1985, S. 1352.
207
BVerfGE
69, 315/362.
69, 315/362.
Β. Die geistigen Angriffe
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Die Vorausetzungen für das vorbeugende Verbot einer Versammlung sind sowohl der Zahl als auch der Art nach so übermäßig hoch angesetzt, daß ein derartiges Verbot für die Zukunft praktisch so gut wie ausgeschlossen sein dürfte. Es wird schon kaum eine Behörde geben, die solche Voraussetzungen mit einiger Chance auf gerichtliche oder gar bundesverfassungsgerichtliche Anerkennung zu würdigen vermag. Dazu bedürfte es geradezu wundersamer Fähigkeiten. Eine nachträgliche Auflösung aber, die das Gericht "bevorzugt" empfiehlt, ist aus tatsächlichen Gründen, zumal wenn es sich um Großdemonstrationen handelt, bei denen die Gefahren besonders hoch veranschlagt werden müssen, kaum realisierbar 208. Der gangbare Weg des vorbeugenden Verbotes also wird vom Senat rechtlich weitgehend blokkiert, und der rechtlich mögliche Weg des nachträglichen Verbotes ist kaum gangbar: auf diesen kurzen Nenner läßt sich das Ergebnis bringen. Diese jede effektive Gefahrenabwehr weithin ausschließende Prägung des Übermaßverbots hat seinen Grund auch in der Tatsache, daß das Gericht die Schranken der Versammlungsfreiheit schon vom Ansatz her falsch entwickelt, indem es die Begrenzungsmöglichkeiten dieses Grundrechts mit denen der Meinungsfreiheit gleichstellt209. Dem Grundsatz nach richtig ist zwar, daß (auch) die Reichweite der Versammlungsfreiheit nicht beliebig durch einfache Gesetze relativiert werden darf, daß bei allen begrenzenden Regelungen der Gesetzgeber die Grundentscheidung in Art. 8 GG zu beachten hat und daß die Ausübung der Versammlungsfreiheit nur zum Schutz (im konkreten Fall) gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Übermaßverbots beschränkt werden darf. Diese "Rahmenaussagen" gelten ohnehin für jedes Grundrecht. Das ändert aber nichts daran, daß das Gefährdungspotential bei Versammlungen und Demonstrationen sehr viel höher hegt als bei der Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit daher einer sehr viel strikteren Bindung und Begrenzung bedarf. Dem hat das Grundgesetz auch Rechnung getragen und - wie Volkmar Götz 210 zutreffend ausführt - die Aufgabe der Gefahrenabwehr im Versammlungswesen dreifach zum Gegenstand des Verfassungsrechts gemacht: 1. durch die Grundrechtsgrenze der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit, 2.
208
Insofern ist die Kritik einhellig: V Götz, DVB1. 1985, S. 1352; V Lohse, Der Städtetag
1986, S. 272; A. Dietel/AT. Kniesel, Die Polizei 1985, S. 344. 209
BVerfGE
210
DVB1.1985, S. 1348.
69, 315/348 f.
96
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
durch den nach seinem Wortlaut "offenen", aber nach seiner Entstehungsgeschichte auf die versammlungsspezifische Gefahrenabwehr eindeutig ausgerichteten Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG, und 3. durch die als Polizeirechtsmaterie vorgeprägte Gesetzgebungsmaterie "Vereins- und Versammlungsrecht" nach Art. 74 Nr. 3 GG. Die Besonderheit des Lebenssachverhalts "Versammlung und Demonstration" und die darauf eingestellten gezielten Begrenzungen bestimmen ebenso den näheren Inhalt der Rahmenaussagen. Das gilt für die (selbstverständlich nur konkret vorzunehmende) Rechtsgüterabwägung nach dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs (Peter Lerche) ebenso wie z.B. für die polizeispezifische Prägung des Übermaßverbots211. Aber gerade diesen versammlungsspezifischen Gefahrenabwehrcharakter der in Art. 8 GG angelegten Begrenzungsmöglichkeiten will der Senat den notwendigen Tribut nicht zollen. Die Verweigerungshaltung durchzieht die gesamte Entscheidung wie ein roter Faden und sie findet ihre konsequente Abrundung und Überhöhung in dem vom Gericht besonders liebevoll ausgestalteten Gebot demonstrationsfreundlicher Kooperation zwischen Behörden und (friedlichen) Demonstranten212. Hergeleitet wird es aus der verfassungsrechtlichen Pflicht zu einer grundrechtseffektuierenden Organisationsund Verfahrensgestaltung. Neben der rechtzeitigen Klarstellung der Rechtslage gehöre dazu, "daß beiderseits Provokationen und Aggressionsanreize unterbleiben, daß die Veranstalter auf die Teilnehmer mit dem Ziel friedlichen Verhaltens und der Isolierung von Gewalttätern einwirken, daß sich die Staatsmacht - gegebenenfalls unter Bildung polizeifreier Räume - besonnen zurückhält und übermäßige Reaktionen vermeidet und daß insbesondere eine rechtzeitige Kontaktaufnahme erfolgt, bei der beide Seiten sich kennenlernen, Informationen austauschen und möglicherweise zu einer vertrauensvollen Kooperation finden, welche die Bewältigung auch unvorhergesehener Konfliktsituationen erleichtert" 213. Selbstverständlich kann nichts dagegen eingewendet werden, daß sich beide Seiten um eine friedliche und insgesamt ordnungsgemäße Demonstration bemühen und in diesem Sinne kooperieren. Auch wenn ein Erfolg fraglich
211
Dazu auch V. Götz, DVB1.1985, S. 1348 f.
212
BVerfGE
69, 315/355 ff.
213
BVerfGE
69, 315/355.
Β. Die geistigen Angriffe
97
erscheint214, sollte man es versuchen, und man kann einen solchen Versuch möglicherweise auch als verfassungsrechtliche Pflicht qualifizieren. Zugleich muß dann aber klar erkannt werden, daß es nicht die Aufgabe eines Gerichts, auch nicht des Bundesverfassungsgerichts ist, diese Pflicht zu detaillieren - bis hin zu der Anweisung, gegebenenfalls polizeifreie Räume zu bilden215. Das ist Aufgabe des Gesetzgebers216, und er hat diese Aufgabe durch Erlaß des Versammlungsgesetzes auch erfüllt, dessen Ordnungsmodell "modernen" Kooperationsvorstellungen durchaus entspricht 217. Die Entscheidung im Einzelfall, insbesondere die Frage, ob und inwieweit Kooperation aussichtsreich und zweckmäßig ist, muß dem pflichtgemäßen Ermessen der zuständigen Behörde überlassen werden218. Das Bundesverfassungsgericht kann nur dann eingreifen, wenn es an Hand eines konkreten Entscheidungsfalls feststellt, daß das Gesetz oder ein Einzelakt den Anforderungen der Verfassung nicht genügt. Gerade für eine solche Feststellung sieht das Gericht im Brokdorf-Beschluß keinen Anlaß. Sehr viel schwerer als die gerichtliche Kompetenzüberschreitimg aber wiegt die Tatsache, daß der Senat ein völlig falsches Bild vom Wesen der Kooperation zeichnet. Zutreffend betont Volkmar Götz 219: "Da es sich um eine Kooperation zur Gefahrenabwehr handelt, beruhen die Beiträge der Demonstration (Veranstalter, Leitung, Demonstranten) zum gemeinsamen Kooperationsziel auf der Verantwortlichkeit im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechtes, die Beiträge der Polizei auf ihrer gesetzlichen öffentlichen Aufgabe. Es trägt nicht zur Erhellung der rechtlichen Unterscheidungen, auf denen die Beiträge beider Seiten beruhen, bei, wenn das Bundesverfassungsgericht davon spricht, daß 'beiderseits Provokationen und Aggressionsanreize unterbleiben' und 'die Staatsmacht' (!) sich - gegebenenfalls unter Bildung polizeifreier Räume - besonnen zurückhält'. Dieses Bild scheint die Kooperation zwischen Polizei und Demonstranten auf dem Gebiet der Ge214
Grundsätzlich skeptisch etwa H. Schneider, D Ö V 1985, S. 784; V. Lohse, Der Städtetag
1986, S. 272; S. Broß, Jura 1986, S. 195. 215
Im übrigen ist der Ausdruck "polizeifreier Raum" denkbar ungeschickt, weil er nur allzuleicht mit "rechtsfreiem Raum" verwechselt werden kann und damit gefährliche Assoziationen weckt. Ist - so könnte man z.B. fragen - die Hafenstraße in Hamburg ein rechtsfreier oder nur ein polizeifreier Raum? 216 Vgl. etwa W. Brohm, JZ 1985, S. 501 ff., insbes. S. 502 f. 217
Κ Götz, DVB1.1985, S. 1350.
218
V. Götz, DVB1.1985, S. 1349.
219
DVB1.1985, S. 1349.
7 Schmitt Glaeser
98
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
fahrenabwehr mit einem Reglement von Spielregeln zwischen Kampfpartnern zu verwechseln." Der Senat will zwar die verfassungsrechtlichen Anforderungen im Rahmen der Kooperation ausdrücklich nicht so weit gespannt sehen, "daß sie den Charakter der polizeilichen Aufgaben als Gefahrenabwehr grundsätzlich verändern oder etwa die Anwendung flexibler Einsatzstrategien unmöglich machen"220; tatsächlich führen aber die von ihm aufgestellten Anforderungen akkurat in diese Richtung, weil das Kooperationsverhältnis wie ein gegenseitiges Vertragsverhältnis zwischen (gleichberechtigte Zivilpersonen behandelt wird. Die "Einzigkeit" der Staatsgewalt221 wird damit im Ansatz entschieden relativiert. So sollen Verbote und Auflösungen von Versammlungen einer verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung um so eher standhalten, je ernsthafter sich die staatlichen Behörden durch Kooperationsbemühungen für die friedliche Durchführung von Großdemonstrationen einsetzen222; und das gleiche gilt nach Auffassung des Senats für die Veranstalterseite: "Je mehr die Veranstalter anläßlich der Anmeldung einer Großdemonstration zu einseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen oder sogar zu einer demonstrationsfreundlichen Kooperation bereit sind, desto höher rückt die Schwelle für behördliches Eingreifen wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung."223 Richtig ist an diesen Erwägungen nur, daß entsprechende Kooperationsbemühungen eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung verringern oder vielleicht sogar verhindern können. Aber die Entscheidung darüber, ob eine Versammlung verboten oder aufgelöst wird, kann sich ausschließlich danach richten, ob eine unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung tatsächlich vorliegt oder nicht und ob bestimmte versammlungsspezifische Ordnungsgebote eingehalten sind (vgl. auch § 15 VersG). Auf die persönliche Einstellung zur Demonstration, auf subjektive Bereitschaften oder noch so begrüßenswerte Kooperationsbemühungen kann es gerade nicht ankommen, weil es um einen polizeilichen Gefährdungstatbestand und nicht um ein Vertragsverhältnis geht, aus dem gegenseitige Rechte und Pflichten entspringen, deren Durchsetzbarkeit und deren Erfüllung in erster Linie nach subjektivem Vermögen und Verschulden gemessen werden. Konkret: Pflastersteine, die gewalttätige Demonstrationsteilnehmer auf Polizisten schleudern, verlie-
220
BVerfGE
69, 315/356.
221 222 223
Dazu Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 847 ff. Vgl. auch unten 3. Kap., A, II, 1. BVerfGE 69, 315/356. BVerfGE
69, 315/357.
Β. Die geistigen Angriffe
99
ren nicht dadurch an Härte und Gefährlichkeit für Leib und Leben, daß sich der Demonstrationsveranstalter und die zuständige staatliche Behörde im Vorfeld der Demonstration dialog- und kooperationsbereit verhalten haben. Die Mißachtung der versammlungsspezifischen Gefährdungssituation muß natürlich die Sicht und damit die Interpretation des gerade auf die Verhinderung dieser Gefährdungen bezogenen Versammlungsgesetzes entscheidend verändern. So erklärt etwa der Senat "wegen der Vielschichtigkeit der Trägerorganisation bei Großveranstaltungen" eine verfassungskonforme Interpretation des § 14 i.V.m. § 15 Abs. 2 VersG dann für angezeigt, "wenn sich einzelne Gruppen oder Personen außerstande sehen, eine Gesamtanmeldung oder -leitung vorzunehmen". Schon ein nur "beschränkt erteiltes Mandat und eine nur begrenzt vorhandene Bereitschaft, sich dialogfähig zu zeigen und Verantwortlichkeit zu übernehmen", dürfe bei der Prüfung "etwaiger Sanktionen wegen unterbliebener Anmeldung nicht außer acht bleiben". Das Fehlen eines gesamtverantwortlichen Anmelders habe "lediglich zur Folge, daß die Eingriffsschwelle der zuständigen Behörde bei Störungen ... absinken kann, sofern die Behörde ihrerseits alles getan hat, um in Erfüllung ihrer Verfahrenspflichten ... die Durchführung einer friedlich konzipierten Demonstration zu ermöglichen"224. Nach dem bereits Gesagten bedürfen diese Darlegungen eines Kommentars nicht mehr. Gründlicher läßt sich das Ziel des Gesetzesvorbehalts in Art. 8 Abs. 2 GG und des Versammlungsgesetzes nicht verfehlen.
b) Die Sitzblockaden-Entscheidung Gegenstand dieser Entscheidung des Ersten Senats vom 11. November 1986225 ist der Nötigungstatbestand des § 240 StGB. Konkret geht es darum, ob gezielte Behinderungen des Straßenverkehrs durch Sitzblockaden als Nötigung bestraft werden können. Das Urteil ist in mehrfacher Hinsicht bedenklich.
224
BVerfGE
69, 315/359.
225
BVerfGE
73, 206 ff.; vgl. auch E 76, 211 ff. - Kritisch dazu insbesondere H. Tröndle,
in:
Festschrift für Rebmann, S. 481 ff. und aus strafrechtlicher Sicht etwa H. Otto, NStZ 1987, S. 212 f.; zur einschlägigen Rechtsprechung vor diesem Urteil: W. Schmitt Glaeser, BayVBl. 1988, S. 454 ff., insbes. S. 455 f.
100
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
aa) Das Grundübel der Entscheidung liegt schon in der Tatsache, daß das Gericht bei den zentralen Fragen privater Gewaltausübung und ihrer rechtlichen Erträglichkeit keine Einigung erzielt und nicht einmal mit klarer Mehrheit votiert. Ob die fachgerichtliche Qualifizierung des Täterverhaltens als Gewalt i.S.d. § 240 Abs. 1 StGB verfassungsrechtlich akzeptabel ist 226 und ob "edle Fernziele" der Blockierer nötigende Gewalt rechtfertigen können227, wird vier : vier entschieden - mit der sicher notwendigen, aber doch wenig befriedigenden und gerade in Fällen der vorliegenden Art eher willkürlich anmutenden Folge des § 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG 228. Zutreffend stellt der Bundesgerichtshof 229 hinsichtlich der rechtlichen Relevanz der Fernziele von Straßenblockierern fest, das Urteil sei wegen der "darin zum Ausdruck kommenden unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten nicht geeignet, diesen Streit zu schlichten". Anders formuliert: Das Bundesverfassungsgericht hat essentielle Verfassungsfragen nur "formell", nicht aber inhaltlich entschieden und damit in Wahrheit offengelassen. Diese Tatsache darf nicht verschleiert oder beschönigt werden, etwa mit der allzuschlauen Behauptung, die Uneinigkeit im Senat würde nur die Uneinigkeit in der Gesellschaft, ihren "Pluralismus der Meinungen", widerspiegeln. Vielmehr muß erkannt und mit aller Deutlichkeit festgestellt werden, daß das Urteil eineOrientierungslosigkeit in Grundsatzfragen, nämlich in Fragen des staatlichen Gewaltmonopols und der bürgerlichen Friedenspflicht, offenkundig werden läßt, die nicht ohne Wirkung für das allgemeine Rechtsbewußtsein bleiben kann. Wenn nicht einmal mehr das Bundesverfassungsgericht in derart fundamentalen Fragen unserer Rechtsordnimg prinzipielle Einigkeit zu erzielen vermag, so muß dies als ein deutliches Warnsignal für den Rechtsstaat und darüber hinaus für unsere freiheitliche Ordnung schlechthin verstanden werden230. 226
BVerfGE
73, 206/242 ff. - Vgl. dazu Chr. Starch, JZ 1987, S. 145 ff.; Κ Kühl, Strafvertei-
diger 1987, S. 124 ff.; C. Prittwitz, 227
BVerfGE
JA 1987, S. 27 f.; H. Otto, NStZ 1987, S. 212 f. u.a.
73, 206/257 ff.
228
Das ändert aber nichts daran, daß - wie H. Tröndle, in: Festschrift für Rebmann, S. 486 ff. zutreffend hervorhebt - die zur Entscheidung stehende Frage, ob § 240 StGB gegen das Grundgesetz verstößt, vom Gericht verneint wird, was der wenig später ergehende BastianBeschluß (BVerfGE 76, 211/216, 217) zu verschleiern sucht. 229 BGHSt 35, 270/274. 230
Ohne "materielle" Entscheidung einer ähnlichen Grundsatzfrage ist auch der "Startbahn West"-Beschluß des BVerfG
( E 82, 236 f.), wo es darum ging, ob der Aufruf zur Blockade des
Frankfurter Flughafens im November 1981 noch von der grundgesetzlichen Meinungs- und Versammlungsfreiheit gedeckt war oder ob dieser im Hinblick auf die zuvor angeheizte Stim-
Β. Die geistigen Angriffe
101
bb) Weil die das Urteil tragenden vier Richter (vgl. § 15 Abs. 3 Satz 3 BVerfGG) gegen die fachgerichtliche Qualifizierung von Sitzblockaden als Gewalt i.S.d. § 240 StGB verfassungsrechtlich nichts einzuwenden haben231, spitzt sich alles auf die Frage zu, ob die Gewaltanwendung als rechtswidrig bzw. verwerflich i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB angesehen werden kann. Die unterlegenen vier Richter sind der Auffassung, eine nötigende Gewaltausübung sei in der Regel rechtmäßig, wenn der Täter nicht "eigennützig", sondern "gemeinwohlorientiert" handle. Die Begründung entspricht dabei der Argumentationsweise der oben232 dargestellten Entscheidungen der Strafgerichte 233: Die Nötigungsfolgen, nämlich die durch die Sitzblockaden verursachten Behinderungen, dürften nicht isoliert betrachtet werden, weil sie für sich allein gesehen überhaupt nicht stattgefunden hätten, sondern nur als unselbständige Zwischenschritte zur Erreichung der eigentlichen Demonstrationsziele dienten, nämlich des unmittelbaren Nötigungsziels (Erzwingung erhöhter Aufmerksamkeit für Meinungsäußerungen) und des Fernziels (Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung). Die Notwendigkeit der Berücksichtigung der Nötigungsziele wird mit der Rechtsprechung des Senats zur Meinungsfreiheit und der dort entwickelten Vermutungsformel 234 begründet und sodann festgestellt, daß die Strafgerichte Handlungen der vorliegenden (sc.: gemeinwohlorientierten) Art in der Regel nicht als verwerfliche Nötigung qualifizieren dürften, sofern nicht erschwerende Umstände (z.B. Behinderung von Krankentransporten, Einkesseln Dritter oder andere besonders intensive Behinderungen) hinzuträten. Das müsse jedenfalls dann gelten, "wenn und soweit die erwähnten strengen Voraussetzungen für zivilen Ungehorsam eingehalten werden und wenn die Verwerflichkeitsklausel im Licht der grundlegenden Bedeutung des Art. 8 GG ausgelegt und angewendet wird". Darüber hinaus muß nach Auffassung der vier unterlegenen Richter auch beachtet werden, daß die Gewaltanwenmung trotz verbaler Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit gerade als "augenzwinkernde" Anregung zur Gewalttätigkeit, zu der es dann erwartungsgemäß kam, verstanden und daher strafrechtlich als Landfriedensbruch qualifiziert werden mußte: so zu Recht die vier die Entscheidung "formar tragenden Richter.
ΎΚ 1 BVerfGE 4942ff. 32 233
73, 206/242 ff.; überzeugend dazu H. Tröndle,
in: Festschrift für Rebmann, S.
2. Kap., Β, II, 1, b. BVerfGE
ΎΧΛ
73, 206/257 ff.
Dazu näher W. Schmitt Glaeser, A ö R 113 (1988), S. 91 ff. sowie unten 2. Kap., Β, II, 2, b, ee.
102
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
dung bei den fraglichen Sitzblockaden "an der untersten Grenze" bleibt; teils werde "die Fähigkeit zur Oewaltfreiheit' eigens in Bezugsgruppen trainiert". Kennzeichnend sei ferner, "daß die Teilnehmer im Prozeß der öffentlichen Meinungsbildung durch symbolische Handlungen im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung beziehen wollen und nicht... eine effektive Zwangswirkung auf einen Entscheidungsträger anstreben und daß sie ein polizeiliches Eingreifen widerstandslos über sich ergehen lassen". Werden - so die Schlußfolgerung - "diese Anforderungen eingehalten und bleibt die Verkehrsbehinderung nach Dauer und Intensität in erträglichen Grenzen, dann kann der bloße Umstand, daß die Behinderung als Mittel zum aufklärenden Protest beabsichtigt und nicht als bloße unvermeidbare Nebenfolge in Kauf genommen wird, nicht ausreichen, um eine Sitzblockade ... als verwerfliche Nötigung zu mißbilligen". Die das Urteil tragende Hälfte des Senats hat dem verfassungsrechtlich nichts Substantielles entgegenzuhalten. Sie beschränkt sich auf die Feststellung, daß die mit der Anwendung der Verwerflichkeitsklausel verbundene Berücksichtigung aller Umstände grundsätzlich Sache der Fachgerichte sei und der Strafrichter "von Verfassungs wegen nicht gehalten (ist), die Fernziele der Demonstranten zu berücksichtigen. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Gebot schuldangemessenen Strafens wird vielmehr auch durch eine Einbeziehung der Fernziele und Tatmotive in die Strafzumessung Genüge getan"235. Diesen, den Fachgerichten zugestandenen Spielraum hat der Erste Senat des Bundesgerichtshof in seinem Sitzblockaden-Beschluß vom 5. Mai 1988 genutzt und mit der sich aus § 121 Abs. 2 GVG ergebenden Bindungswirkung entschieden: "Die Fernziele von Straßenblockierern sind nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen."236 Dadurch wurde das Schlimmste aktuell und bis auf weiteres verhindert. Das Sitzblockaden-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist damit aber nicht 235
BVerfGE 73, 206/260 f. - Zur Notwendigkeit einer Abwägung durch die Fachgerichte: ßeschluß der 3. Kammer des Ersten Senats des BVerfG vom 26.7.1990, JR 1991, S. 13 ff. mit kritischer Anm. von W. Schmitt Glaeser, ebenda, S. 16 f. 236
BGHSt 35, 270 ff. Dazu W. Schmitt Glaeser, BayVBl. 1988, S. 454 ff. sowie if. MüUer-Ro-
den, Z R P 1988, S. 409 ff.; vgl. auch BGHSt 37, 350 ff. - Anders nunmehr wiederum LG Bad Kreuznach vom 4.7.1988, NJW 1988, S. 2624 sowie im Ergebnis auch OLG Stuttgart 19.9.1990, NStZ 1991, S. 333 f. mit zutreffend kritischer Anm. von H Otto, ebenda.
vom
Β. Die geistigen Angriffe
103
aus der Welt. Insbesondere kann die Bedeutung der Entscheidung nicht damit heruntergespielt werden, daß man auf die Uneinigkeit im Senat verweist. Abgesehen von der rechtspolitischen Wirkung von Sondervoten237, die zusätzüches Gewicht erhält, wenn die abweichende Meinung geschlossen von der Hälfte des Senats vertreten wird, beschränkt sich die Divergenz hier auf die Frage, ob die Berücksichtigung von Fernzielen bei der Beurteilung der Verwerflichkeit einer gewaltsamen Nötigung verfassungsgeboten ist oder nicht. Die tragende Hälfte des Senats lehnt dies ab, scheint aber immerhin der Auffassung zu sein, daß gegen eine solche Berücksichtigung von Fernzielen keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, sie also verfassungsmöglich ist 238 . Die Überlegungen verdienen daher gerade auch aus verfassungsrechtlicher Sicht besondere Beachtung239. Allerdings ist es äußerst schwierig, einen Zugang zur Argumentationsweise der vier unterlegenen Richter zu finden. Schon die Interpretation des § 240 StGB läßt sich dogmatisch kaum nachvollziehen. Zumindest hätte man zunächst die Prüfung der Frage erwartet, ob Wortlaut und Struktur des Nötigungstatbestandes überhaupt eine Berücksichtigung von Fernzielen im Rahmen der Rechtswidrigkeitsprüfung zuläßt240. Aus der Luft gegriffen erscheint des weiteren der Hinweis auf den "zivilen Ungehorsam", dem über die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB offenbar rechtfertigende Wirkung zugesprochen wird, "wenn und soweit die erwähnten strengen Voraussetzungen für zivilen Ungehorsam eingehalten werden" 241. Nach einer Begründung für diese gewiß ungewöhnliche Behauptung sucht man vergebens. Abgesehen davon, daß das Erfordernis der "strengen Voraussetzun-
237
Dazu W. Schmitt Glaeser, A ö R 107 (1985), S. 345 f. m.N.
238
Dies bedeutet freilich keineswegs, daß die Aussagen der vier unterlegenen Richter zum Merkmal der Verwerflichkeit vom ganzen Senat getragen würden. Hier dürften vielmehr sogar die eigentlichen Divergenzen liegen, wie etwa die sehr unterschiedlichen Ausführungen zum Phänomen des zivilen Ungehorsams belegen: dazu sogleich im Text. 239
Die aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen werden eingehend behandelt von H. Tröndle, in: Festschrift für Rebmann, S. 481 ff., knapp von Chr. Starck, JZ 1987, S. 145 ff. und - in wichtigen Teilaspekten - von C. Prittwitz, JA 1987, S. 17 ff. - Aus strafrechtlicher Sicht: Κ Kühl, Strafverteidiger 1987, S. 122 ff.; H. Otto, NStZ 1987, S. 212 f.; J. Baumann, Z R P 1987, S. 265 ff. 240 Mit überzeugenden Argumenten verneinend BGHSt 35, 270/275 ff. Siehe die weiteren Nachweise bei W. Schmitt Glaeser, BayVBl. 1988, S. 457. 241
BVerfGE
73, 206/259. - Allgemein: Hans H. Klein, Ziviler Ungehorsam, S. 177 ff.; / .
Isensee, Ziviler Ungehorsam, S. 57 ff. m.w.N.
104
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
gen"242 äußerst vage und rechtlich kaum faßbar ist 243 , wird vom (gesamten) Senat an anderer Stelle sogar ausdrücklich betont, es bestehe im "vorliegenden Zusammenhang kein Anlaß, auf diese Problematik (sc.: des zivilen Ungehorsams) einzugehen"244. Darüber hinaus läßt die tragende Hälfte des Senats keinen Zweifel daran, daß zivilier Ungehorsam auf keinen Fall gezielte und bezweckte Verkehrsbehinderungen durch Sitzblockaden, die, was regelmäßig vorliegt, in Rechte Dritter eingreifen, als rechtmäßig zu legitimieren vermag245. Aber all dies hindert die vier unterlegenen Richter nicht, "zivilen Ungehorsam" zu einem verfassungsrechtlichen Begriff hochzustilisieren246 und ihm über die "Brücke" der Verwerflichkeitsklausel rechtfertigende Wirkung zuzuschreiben. Eine Reihe von Darlegungen ist rechtlich belanglos, so daß weiter nicht darauf eingegangen werden muß: So etwa der Hinweis darauf, daß die Fähigkeit zur "Gewaltfreiheit" zum Teil eigens in Bezugsgruppen trainiert werde; dadurch, daß die vier unterlegenen Richter das Wort "Gewaltfreiheit" selbst unter Anführungszeichen setzen, ist bereits alles gesagt. Auch die Feststellung, die Blockierer ließen ein polizeiliches Eingreifen "widerstandslos über sich ergehen", ist ohne Aussagewert; Diebstahl wird ja schließlich auch nicht erst dadurch zum Diebstahl, daß der Dieb sich seiner Verhaftung widersetzt. Schließlich soll es zur Verneinung einer Nötigung führen, "wenn die Verwerflichkeitsklausel im Licht der grundlegenden Bedeutung des Art. 8 GG ausgelegt und angewendet wird" 247. Wenn ich die in wesentlichen Punkten nicht begründeten und insgesamt ungeordneten Überlegungen der vier unterlegenen Richter annähernd richtig verstanden habe, so dürfte in dieser Aussage der Obersatz zu sehen sein, der die Einzelbehauptungen auf eine gemeinsame Grundlage stellt und eine wenigstens rahmenmäßige Einordnung ermöglicht. Kernfrage ist die Reichweite des Art. 8 GG, sein Normbereich. Vor einer Beschäftigung mit dem "Licht" seiner grundlegenden Bedeutung steht daher die schlichte Frage, ob die Bestimmung auf gewaltsa-
242
Siehe BVerfGE
243
Vgl. etwa C. Prittwitz,
244
BVerfGE
73, 206/252.
245
BVerfGE
73, 206/252. Vgl. auch C. Prittwitz,
246
Chr. Starch, JZ 1987, S. 148.
247
BVerfGE
73, 206/250 f.
73, 206/259.
JA 1987, S. 24; K. Kühl, Strafverteidiger 1987, S. 134.
JA 1987, S. 24.
Β. Die geistigen Angriffe
105
mes Verhalten überhaupt anwendbar ist. Hier bereits erfolgt die eigentliche Weichenstellung. cc) Die Weiche wird falsch gestellt. Mit einem großen Teil der Lehre ist der gesamte Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts der Auffassung, gewaltsame Nötigung in Form von Sitzblockaden sei als Versammlung bzw. Demonstration i.S.d. Art. 8 GG zu behandeln, sofern sich "die Teilnehmer auf passive Resistenz beschränken und insofern friedlich bleiben"248. Das ist eine konsequente Weiterentwicklung der Brokdorf-Entscheidung, in der das Gericht einerseits das Friedlichkeitsgebot betont, andererseits aber bereits für den Fall beabsichtigter Gewalttätigkeiten so restriktiv interpretiert, daß es kaum mehr rechtliche Bedeutung gewinnen kann und auf diese Weise sichergestellt wird, daß Begrenzungen nur über Art. 8 Abs. 2 GG vorgenommen werden können249. Die Sitzblockaden-Entscheidung geht noch einen bedeutenden Schritt weiter, indem sie das Tatbestandsmerkmal der Friedlichkeit aus der Perspektive der "Waffenlosigkeit" deutet und damit weginterpretiert. Die Verfassung (genauer: Art. 8 Abs. 1 GG), so heißt es, bewerte die Unfriedlichkeit in gleicher Weise wie das Mitführen von Waffen und meine damit ersichtlich äußerliche Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitungen gegen Personen und Sachen und sie mache die Anwendbarkeit des Grundrechts nicht davon abhängig, ob eine Behinderung Dritter gewollt ist oder nur in Kauf genommen wird; außerdem bestehe angesichts der weiten Fassung des Gesetzesvorbehalts in Abs. 2 des Art. 8 GG keine Notwendigkeit, den Begriff der Friedlichkeit eng zu verstehen und damit den Geltungsbereich der Grundrechtsgewährleistung von vornherein derart einzuschränken, daß der Gesetzeswortlaut weitgehend funktionslos werde. Die Interpretation ist schon für sich betrachtet wenig überzeugend250. Ihr eigentlicher Fehler aber liegt darin, daß sie zu eng am Wortlaut der Bestimmung hängt und damit den Hintergrund und die eigentliche Bedeutimg des
248
BVerfGE
249
Vgl. oben 2. Kap., Β, II, 2, a, dd.
73, 206/248 f.
250
Woraus leitet sich z.B. ab, daß die Verfassung die Anwendbarkeit des Grundrechts nicht davon abhängig macht, ob eine Behinderung Dritter gewollt ist oder nur in Kauf genommen wird? Wieso kann der Begriff der Friedlichkeit vom Verständnis der "Waffenlosigkeit" her interpretiert werden, und läßt sich nicht wenigstens ebensogut vertreten, daß Waffenlosigkeit nur eine Unterform der Friedlichkeit ist? Wie läßt es sich begründen, daß der Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 G G eine (immanente) schrankenverengende Funktion besitzt?
106
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Passus "friedlich und ohne Waffen" nicht in den Blick bekommt. Tatsächlich handelt es sich dabei um den punktuellen Hinweis auf ein Wesensmerkmal des modernen Staates251, das aus der Erkenntnis gewonnen wurde, daß sich der Übergang von Gewalt zu Recht nur durch Monopolisierung der Gewalt beim Staat zu vollziehen vermag. Diesem staatlichen Gewaltmonopol korrespondiert notwendig die Friedenspflicht des Bürgers als einer "Grundpflicht", die "jeder anderen Pflicht und jedem Recht der staatlichen Ordnung" vorausliegt, "weil sie diese Ordnung erst hervorbringt" 252. Jede Form privater Gewaltausübung ist grundsätzlich untersagt253. Gewaltmonopol und Friedenspflicht sind die unabdingbaren Voraussetzungen einer Rechtsordnung als innerer Friedensordnung, zu der es nur eine Alternative gibt: Bürgerkrieg, Anarchie und Chaos. In einer rechtlich geordneten Gemeinschaft ist daher private Gewaltausübung nicht "nur" rechtswidrig, sondern bedeutet tendenziell die Zerstörung der Rechtsordnung insgesamt und damit die Rückkehr zum "Naturzustand", zum bellum omnium contra omnes. In diesem Sinne nennt Georg Wilhelm Friedrich Hegel die Bewirkung von Anarchie "das höchste und vielleicht das einzige Verbrechen" 254. Diese Friedenspflicht ist umfassend und gilt selbstverständlich auch für jedwede Grundrechtsausübung255; sie erschöpft sich nicht im Verbot des bewaffneten Kampfes oder "aggressiver Ausschreitungen gegen Personen und Sachen", wie das Bundesverfassungsgericht meint256. Verboten ist jede Art von Gewalt, und dieser Begriff ist um so weiter zu fassen, je sensibler der Mensch der jeweiligen Zivilisationsstufe auf Zwang reagiert, je weiter das aus der Idee der Men-
251
Vgl. etwa H. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 199 ff.; /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 74 m.w.N. 252
253
/. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 82. Die wenigen Aussnahmen, wie etwa Notwehr (§ 227 BGB; § 32 StGB) oder Not- und
Selbsthilfe (§§ 229,561, 859, 860 BGB) sind dadurch gekennzeichnet, daß es sich dabei um exakt beschriebene und eng begrenzte Tatbestände handelt, die Situationen erfassen, in denen der Staat den Angriff auf Rechtsgüter nicht wirksam oder nicht rechtzeitig abzuwehren vermag (D. Merten, Rechtsstaat, S. 55 ff.). Außerdem ist bemerkenswert, daß die Zulassung privater Gewalt durchweg auf Erhaltung und nicht auf Veränderung der Rechtsordnung gerichtet ist. Dies gilt auch für das Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG: Nutzung nur im konservierenden Sinne; vgl. BVerfGE 254
5, 85/376 ff.
Schriften zur Politik und Rechtsphilosophie, S. 113 f.; ähnlich z.B. E. Weil, Philosophie der Politik, S. 169 f. 955 H. Bethge, Z B R 1988, S. 209 (verfassungsimmanente Schranke). 2
BVerfGE
73, 206/28.
Β. Die geistigen Angriffe
107
schenwürde fließende Recht auf Selbstbestimmung angelegt wird 257 . Diese Erkenntnis hat nicht nur Bedeutung für das Verhältnis zwischen Individuum und Staat (z.B. bei der Beurteilung des Übermaßverbots), sondern ebenso für Beziehungen (Pressionen) zwischen Zivilpersonen. Unter diesen Umständen ist nicht einsichtig, wie der unwiderstehliche Zwang, der bei einer Straßenblockade ausgeübt wird 258 und der regelmäßig tief in den Freiheitsraum des Betroffenen eindringt und seine Rechte verletzt 259, noch als "friedlich"260 und in diesem Sinne als gewaltlos bezeichnet werden kann261 mit der Folge, daß ein derart gewaltsames Verhalten, vom Bundesverfassungsgericht mit der Bezeichnung "passive Resistenz"262 maskiert, als Ausübung eines Grundrechts (Art. 8 GG) qualifiziert wird. Gewaltausübung als Grundrechtsbetätigung einzustufen, ist unter keinem denkbaren Gesichtspunkt vertretbar und ein Schulbeispiel für Fehlinterpretation. Gewaltsame Grundrechtsausübung ist ein Widerspruch in sich263. Es tritt hinzu, daß gerade die in Art. 8 GG als Kommunikationsgrundrecht gewährleistete Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit als "kollektive Meinungskundgabe"264 inhaltlich auf das engste mit Art. 5 Abs. 1 GG verbunden ist. Beide Bestimmungen garantieren die gleiche Art von Persönlichkeitsentfaltung und sie sind auf dasselbe Ziel hingerichtet, nämlich auf die Konstituierung und Beeinflussung eines freien, offenen und unreglementierten Volkswillensbildungsprozesses265. Bei der Meinungsfreiheit des Art. 5
257
Vgl. /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 81 m.N. - Dies wird auch von A Kaufmann, NJW 1988, S. 2581 ff. verkannt. Näher unten 3. Kap., C, II, 2. 258 Vgl. etwa BGHSt 23, 46/54. 259
BGHSt 35, 270/278 und dazu W. Schmitt Glaeser, BayVBl. 1988, S. 457. Vgl. etwa auch
BayObLG vom 29.7.1988, NJW 1988, S. 718/719; W. Brohm, JZ 1985, S. 510 f. 260 261
Vgl. BVerfGE
73, 206/249.
Richtig E. Kuli, AfP 1969, S. 863. - Zur Täuschungsformel von der "begrenzten" Ge-
waltanwendung vgl. überzeugend vor allem BGHSt 23,46/56 sowie D. Merten, AfP 1973, S. 355 m.w.N. 262
BVerfGE
263
Im Ergebnis ebenso BGHSt 23, 46/57 f.; D. Merten, AfP 1973, S. 355; H. Bethge, Z B R
73, 206/249.
1988, S. 208; BayObLG, NJW 1969, S. 1127/1128 sowie NJW 1988, S. 718/719; /. Isensee, in: Festschrift für Sendler, S. 56 ff. 2fv4
BVerfGE
69, 315/345; vgl. auch IV. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts I, §
31, RdNr. 7. 265 W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, RdNrn. 21 ff. m.N. Vgl. auch BVerfGE
49, 315/344 ff.
108
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Abs. 1 GG als Gewährleistung grundrechtlicher Mitgestaltungsrechte ist unbestritten, daß der Schutzbereich der Bestimmung nur solche Meinungskundgaben umfaßt, die mit geistigen Argumenten gestützt und geführt werden. Ausgeschlossen dagegen sind alle Mittel, die den Angesprochenen die Möglichkeit nehmen, ihre Entscheidung in voller innerer Freiheit zu treffen 266. In der Blinkfüer-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 267 wird sogar unter gewissen Umständen bloßer wirtschaftlicher Druck als ein dem Art. 5 Abs. 1 GG inadäquates und von ihm nicht mehr gedecktes Mittel eingestuft. Um so mehr muß jede Art von Gewalt, auch der "untersten Stufe", ausgeschlossen sein, selbstverständlich auch dann, wenn sie - wen auch immer - zu erhöhter Aufmerksamkeit für die betreffende Meinungsäußerung zwingen soll. Bei dem engen Zusammenhang zwischen Art. 5 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 GG ist kein Grund ersichtlich, den Schutzbereich der Versammlungs- und speziell der Demonstrationsfreiheit im Blick auf die zulässigen Mittel anders zu beurteilen. Das argumentative Moment tritt zwar bei Art. 8 GG hinter das plakative Sichtbarmachen von Überzeugungen gerade auch durch physische Präsenz bei Demonstrationen zurück 268. Das kann aber nichts daran ändern, daß es auch bei Demonstrationen um einen Beitrag zum Meinungskampf geht, der nur mit geistigen Mitteln geführt werden kann269. In jedem Fall darf nur überzeugt, nicht überwältigt werden. dd) Die Einordnung gewaltsamer Nötigung in Form von Sitzblockaden unter den Schutzbereich des Art. 8 GG führt nach Auffassung des Gerichts allerdings nicht dazu, derartige Verhaltensweisen als rechtmäßig zu qualifizieren. Vielmehr gebe der Art. 8 Abs. 2 GG dem Gesetzgeber die Möglichkeit, sie als Ordnungswidrigkeit oder auch als strafbares Unrecht einzustu-
266
Vgl. etwa BVerfGE
BVerfGE
7, 198/210 und dazu G. Dürig, Gesammelte Schriften, S. 326;
25, 256/264 ff.; E 69, 315/344 f.; /. von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art.
5 RdNrn. 8, 8 a m.w.N. 267
BVerfGE
25, 256/265.
268
Dementsprechend werden Behinderungen und Zwangswirkungen insoweit durch Art. 8 G G gedeckt, als sie als sozial-adäquate Nebenfolge mit rechtmäßigen Demonstrationen notwendig verbunden sind und sich auch durch zumutbare Auflagen nicht vermeiden lassen: BVerfGE 73, 206/250. Vgl. auch /. von Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, Art. 8, RdNrn. 23, 23 a m.w.N sowie etwa Hans H. Klein, Ziviler Ungehorsam, S. 194. In gleicher Richtung offenbar auch (noch) BVerfGE
69, 315/345 und dazu V Götz, DVB1.1985, S. 1347 ff.
Β. Die geistigen Angriffe
109
fen 270. Diese Einschränkung ist zu begrüßen (und auch nur konsequent). Sie ändert aber nichts daran, daß das Gericht Sitzblockaden der vorliegenden Art und damit ein gewaltsames Verhalten unter Grundrechtsschutz, speziell unter den Schutz der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit stellt, und dementsprechend die Frage der Rechtswidrigkeit einer gewaltsamen Nötigung nach § 240 StGB an Art. 8 GG gemessen wird. Dabei muß, um Mißverständnissen vorzubeugen, betont werden, daß selbstverständlich auch für § 240 StGB das Gebot schuldangemessenen Strafens als verfassungsrechtliche Pflicht der staatlichen Organe gilt und die Verwerflichkeitsklausel des Abs. 2 dieser Bestimmung als gesetzgeberische Vorsorge gegen unangemessene Sanktionen im Sinne des Übermaßverbots anzusehen ist 271 . Dieses Übermaßverbot kann hier aber nur aus den allgemeinen Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere aus dem Rechtsstaatsprinzip, hergeleitet werden272, wobei es in der Regel genügt, daß der Gesetzgeber dem Richter die Verhängung schuldangemessener Strafen innerhalb des gegebenen Strafrahmens bei der Strafzumessung ermöglicht 273. Nicht zulässig ist es jedoch, den Prüfungsmaßstab für den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (i.w.S.) aus Art. 8 GG zu entnehmen, weil sein Schutzbereich gewaltsames Verhalten nicht umfaßt. Genau dies tut aber der (gesamte) Erste Senat274. Für die vier unterlegenen Richter eröffnet sich damit die Möglichkeit, gewaltsame Nötigung auf Grundrechtsbasis zu erörtern und den Nötigungstatbestand des § 240 StGB "im Licht der grundlegenden Bedeutung des Art. 8 GG" zu sehen275. Wie schon betont, geht es hierbei um den Obersatz der Argumentation. Diese "grundlegende Bedeutung" wird von den vier Richtern sehr unterschiedlich gewichtet, je nachdem, ob die Grundrechtsausübung "eigennützig" oder "gemeinwohlorientiert" ist. Je gemeinwohlnütziger das 27 0
BVerfGE
73, 208/249 f. - So auch die h.M.: Vgl. etwa R Herzog, in: Maunz / Dürig,
Grundgesetz. Kommentar, Art. 8, RdNr. 76. 27 1
BVerfGE
272
Siehe die Nachweise in BVerfGE
273
Näher dazu BVerfGE
ΎΊΑ
BVerfGE
73, 206/252. 73, 206/253.
73, 206/254 f.
73, 206/253. Auch Art. 2 Abs. 1 G G kann hier - entgegen der Auffassung des
Gerichts - keine Anwendung finden: Einmal schon deswegen nicht, weil Gewaltausübung keine grundrechtliche Persönlichkeitsentfaltung ist; zum andern scheidet er - wie auch H. Bethge, ZBR1988, S. 209 betont - als Auffanggrundrecht aus, wenn "die Herausnahme aus dem speziellen Grundrecht mit einem bewußten und beabsichtigten Unwerturteil des Verfassunggebers über ein bestimmtes Verhalten verbunden ist". 27 5
BVerfGE
73, 206/259.
110
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Handeln eingestuft werden kann, desto größeres Gewicht gewinnt das Grundrecht mit der Folge, daß eine Nötigungshandlung bei eindeutigem Gemeinwohlbezug prinzipiell nicht als verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB) und damit nicht als rechtswidrig qualifiziert werden darf. Im konkreten Fall wird dieser Gemeinwohlbezug den Fernzielen der Straßenblockierer (Protest gegen die als gefährlich beurteilte atomare Aufrüstung) entnommen276. Auf diese Weise erhält die jeder freiheitlichen Rechtsordnung zutiefst widersprechende Formel vom Zweck, der die Mittel heiligt, auch noch grundrechtliche Dignität. Berücksichtigen wir, daß der Begriff "verwerflich" i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB als ein nach objektiven Maßstäben sittlich mißbilligenswertes bzw. sozial unerträgliches Verhalten definiert wird 277 , so ergibt sich als Ergebnis unserer Untersuchung: Vier Richter des Ersten Senats qualifizieren politisch motivierte Gewaltanwendung durch Zivilpersonen als sittlich billigenswertes sozial adäquates Verhalten. Dieses Ergebnis spricht gegen sich selbst und wir könnten es dabei bewenden lassen, wenn es sich um die Fehlbeurteilung eines konkreten Sachverhalts mit isolierter Problematik handelte. Aber so ist es nicht. Die vier unterlegenen Richter berufen sich bei ihrer Berücksichtigung der Fernziele der Straßenblockierer auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Meinungsfreiheit 278 und machen damit deutlich, daß es hier nicht nur um Art. 8 GG (und sein Verhältnis zu § 240 StGB) geht. Aufgeworfen ist vielmehr die prinzipielle grundrechtsdogmatische Frage, ob und inwieweit Grundrechtsausübungen allgemein inhaltlichen Bewertungsmaßstäben unterliegen, in diesem Sinne unterschiedlich gewichtet und dementsprechend unterschiedlich intensiv beschränkt werden können. Die Art der Beantwortung dieser Frage durch das Bundesverfassungsgericht hat schon bei der Beurteilung der Meinungsfreiheit zu erheblichen Fehlentwicklungen geführt; noch tiefgreifender sind die negativen Folgen für das Grundrecht des Art. 8 GG. Die Grundsatzproblematik bedarf daher wenigstens in ihren wesentlichen Umrissen noch einer skizzenhaften Analyse.
27 6
277
BVerfGE
73, 206/258 f.
Vgl. etwa Κ Schäfer,
in: Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, § 240, RdNrn. 70 ff.
m.z.N. 27 8
BVerfGE
73, 206/258 f.
bz
Β. Die geistigen Angriffe
111
ee) Begonnen hat alles mit dem Lüth-Urteil des Jahres 1958, in dem das Gericht erstmals die Auffassung vertritt, der Schutz anderer Rechtsgüter müsse gegenüber der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG um so mehr zurücktreten, je mehr es sich nicht um eine unmittelbar gegen diese Rechtsgüter gerichtete Äußerung im privaten, namentlich im wirtschaftlichen Verkehr, sondern um einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage durch einen dazu Legitimierten handle; hier spreche die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede. Wenn es darum gehe, daß sich in einer für das Gemeinwohl wichtigen Frage eine öffentliche Meinung bilde, müßten Interessen einzelner grundsätzlich zurücktreten 279. Die Gefahren dieser Vermutungsformel wurden nicht sogleich erkannt, zumal das Ergebnis im konkreten Fall einleuchtend und durchaus sympathisch war. In seiner Urteils-Rezension sieht Günter Dürig 280 das Ergebnis der Entscheidung auf dem Kernsatz beruhend, daß das "Geistige" und "Immaterielle" grundsätzlich Vorrang vor dem "Ökonomischen" und "Materiellen" habe. Er billigt zwar diese "gewisse Faustregel", warnt aber zugleich davor, "aus den diesbezüglichen Faustregeln des Bundesverfassungsgerichts Sätze als schlechthin gültige Leitsätze herauszuschneiden". Bei derartigen Wertabwägungen hänge "alles von den Umständen des konkreten Einzelfalles ab", und er betont, daß es stets "auch noch auf das Maß der Rechtsausübung" ankomme. Es mag dahinstehen, ob und inwieweit das Lüth-Urteil diesen von Günter Düng hervorgehobenen Maximen entspricht. Die weitere Rechtsprechung jedenfalls, die dieses Urteil fortführt und ausbaut281, geht in eine ganz andere Richtung. Die "Faustregel" der Wertabwägimg erweist sich letzten Endes als eine dezidierte Gegenüberstellung von "Politischem" und "Privatem", mit eindeutigem Vorrang des Politischen. Die einzelfallbezogene Detailprüfung wird durchweg unter Berufung auf pauschale Vermutungsregeln vorzeitig abgebrochen. Entscheidend für die Zulässigkeit einer Meinungskundgabe ist regelmäßig, ob Gesichtspunkte der öffentlichen Meinungsbildung eine Rolle spielen282 bzw. ob Anlaß ein die Allgemeinheit interessierender, in der Öffentlichkeit ausgetragener Meinungskampf ist 283 , 27 9
BVerfGE
7,198/208 ff.
280 281
Gesammelte Schriften, S. 326. Vgl. vor allem BVerfGE 54,129/139; E 54, 208/219; E 60, 234/241; E 61,1/11.
282
BVerfGE
12,113/125 ff.
283
BVerfGE
24, 278/284 f.
112
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
wobei durchweg auch auf die Motive des sich Äußernden abgehoben wird 284 . Dann sei eine Auslegung der die Meinungsfreiheit beschränkenden Sätze, die an die Zulässigkeit öffentlicher Kritik "überhöhte Anforderungen" stelle, mit Art. 5 GG nicht vereinbar 285. Fehlt dagegen der Öffentlichkeitsbezug, so bei "Gegenständen ohne allgemeines Interesse286, "Angelegenheiten ohne allgemeine Bedeutung"287 oder "Auseinandersetzungen im privaten Bereich" 288, soll eine derartige Grundrechtsbetätigung "von der ratio der besonderen Bedeutung der Freiheiten des Art. 5 Abs. 1 GG nicht umfaßt" sein289. Einen (vorläufigen) Höhepunkt hat diese Rechtsprechung in der Wahlkampf-Entscheidung 290 gefunden, in der das Gericht eine Super-Vermutungsformel konstituiert und dies auf Art. 21 Abs. 1 GG stützt. In einem Wahlkampf sei der politische Meinungskampf auf das höchste intensiviert, so daß die Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede in "besonderem Maße" gelten müsse291. Solche generellen Beurteilungsmaßstäbe führen zwangsläufig zu einer nahezu restlosen Verdrängung entgegenstehender Rechte. Besonders gravierend hat sich dies für den Ehrenschutz ausgewirkt. Im politischen Bereich, zumal wenn es sich um eine Wahlkampfsituation handelt, findet Ehrenschutz nicht mehr statt292. Besonders gilt dies für politische Führungskräfte 293 . Als Ministerpräsident eines deutschen Landes etwa muß man schon erst als ein sich sexuell betätigendes Schwein dargestellt werden, um vom Bundesverfassungsgericht Schutz erwarten zu können294. Diese Rechtspre-
284
Vgl. etwa BVerfGE
7,198/212; E 61,1/11 und ständig. - Anders allerdings BVerfGE
12,
113/128 f. 285
BVerfGE
42,163/170; E 54,129/137; E 60, 234/240; E 66,116/150; E 68, 226/232.
286
BVerfGE
54,129/137; E 66,116/151.
287
BVerfGE
60, 234/240.
288
BVerfGE
54,129/137; E 60, 234/240; ähnlich E 24, 278/285; E 61,1/11; E 66,116/151.
289
BVerfGE
71,206/220.
290
BVerfGE
61,1 ff. und dazu W. Schmitt Glaeser , JZ 1983, S. 95 ff.
291
BVerfGE
61,1/11 f. und dazu kritisch W. Schmitt Glaeser , JZ 1983, S. 98 f.
9Q9
IV Schmitt Glaeser, JZ 1983, S. 95 ff. und jüngst vor allem R Mackeprang, Ehrenschutz im Verfassungsstaat. 293 Eingehend dazu E. Schwinge, Ehrenschutz heute. 294
BVerfGE
75, 369 ff. (zur Begrenzung des Art. 5 I I I GG).
Β. Die geistigen Angriffe
113
chung ist schon häufig und - wie ich meine - überzeugend kritisiert worden, so daß ich mich hier kurz fassen kann295. Hinter der Behauptung, für die Zulässigkeit eines Beitrags im geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage streite eine Vermutung, steckt akkurat jene (vorschnelle) abstrakte Wertabwägung, die ein richtig verstandenes Prinzip der "praktischen Konkordanz" (Konrad Hesse) gerade ausschließen will. Es handelt sich um nichts anderes als um eine Korafr-Höherbewertung einer Grundrechtsausübung in politicis auf Kosten anderer geschützter Rechtsgüter. Derartige Privilegierungen sind verfassungsrechtlich nicht begründbar und grundrechtsinadäquat, weil sie den Freiheitsgebrauch von Staats wegen allgemein-inhaltlich gewichten und damit der grundsätzlichen Beliebigkeit des Individuums entziehen. Speziell die Unterscheidung zwischen (wichtigen) "politischen" und (weniger wichtigen) "privaten" Äußerungen widerspricht zudem in besonderem Maße dem Wesen der Grundrechte als primär privatnützigen Rechten296. Es tritt hinzu, daß eine hinreichend exakte Trennung zwischen politischen und privaten Meinungsäußerungen tatsächlich nicht zu bewerkstelligen ist, weil es an entsprechend brauchbaren Unterscheidungsmerkmalen fehlt. Ob eine Auseinandersetzung objektiv zur Bildung der öffentlichen Meinung beigetragen hat (oder für die Beteiligten "kaum mehr als eine Prestigeangelegenheit" war 297) und ob der sich Äußernde auch subjektiv zur Bildung der öffentlichen Meinung beitragen wollte, dürfte sich in den meisten Fällen nahezu beliebig entscheiden lassen298. Es kann deshalb nur als willkürlich be-
90S
Zum folgenden W. Schmitt Glaeser, A ö R 97 (1972), S. 276 ff. sowie A ö R 113 (1988), S. 89 ff. m.z.N. Vgl. dazu etwa Hans Η Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 43; D. Merten, AfP 1973, S. 355; ders., Rechtsstaat, S. 50 f.; Κ Kröger, Bürgerprotest, S. 47, 57; W Brohm, JZ 1985, S. 509 m.w.N. 297
BVerfGE
42,143/151.
298
So kann etwa - bei allem Respekt vor dem Wächteramt der Presse in unserem Rechtsstaat - ein realistischer Blick in die Wirklichkeit nicht verkennen, daß die Presse ja auch ein privates, auf legitimes (!) Gewinnstreben ausgerichtetes Gewerbe ist, und daß im Einzelfall schwer widerlegt werden kann, daß sie zu mancher Veröffentlichung weniger durch ihr Wächteramt als durch ihr Interesse an einer zugkräftigen Schlagzeile veranlaßt worden ist; vgl. in diesem Sinne schon G. Erdsiek,
NJW 1966, S. 1386. Auch Günter Wallraff
Buch "Der Aufmacher" nicht nur um "öffentliche Kritik" (so aber BVerfGE
dürfte es mit seinem 66, 116/150), son-
dern - zumindest auch - um einen guten Absatz seiner Publikation gegangen sein ( Κ Stern, Ehrenschutz und "allgemeine Gesetze", S. 819). Ebensowenig kann ernsthaft bestritten werden, daß Politiker bei Wahlkampfreden nicht zuletzt auch ihre persönliche politische Karriere 8 Schmitt Glaeser
114
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
zeichnet werden, wenn das Bundesverfassungsgericht in einem Fall ganz einfach behauptet hat, die Verfolgung kommerzieller Interessen habe "gegenüber der Absicht, auf die öffentliche Meinung einzuwirken, nicht im Vordergrund" gestanden299. Mit der Übertragung der "Vermutungsformel" auf Art. 8 GG 300 werden natürlich auch die Probleme dieser abstrakten Wertabwägungsklausel transferiert. Die Unterscheidung zwischen eigen- und gemeinnütziger Grundrechtsausübung läßt sich im Rahmen des Art. 8 GG und im Blick auf die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 StGB keineswegs klarer treffen als bei Art. 5 Abs. 1 GG. Im Sitzblockaden-Beschluß hat sich nunmehr der Bundesgerichtshof 301 dazu unmißverständlich geäußert: Die Heranziehung der Unterscheidung scheitere "an der Unbestimmtheit der Abgrenzung, die einer Überprüfung unter den für das Strafrecht verfassungsrechtlich zu beachtenden Grundsätzen des Art. 103 I I GG nicht standhält". Das Gericht stellt dabei zutreffend nicht auf allgemeine Kategorien ("Frieden", "Menschenrechte", "Umweltschutz" u.ä.), sondern auf die im Rahmen der jeweiligen Demonstration zur Diskussion gestellte konkrete Forderung ab, und betont: "Nicht jeder Weg, der angeblich zu einem allgemein erstrebten Ziel führt, wird die Allgemeinheit in gleicher Weise bewegen." Es sind doch in der Tat - wie schon Jürgen Baumann302 hervorgehoben hat - gerade die Vertreter von Mindermeinungen und nicht die der opinio communis, die zur Durchsetzung ihrer Anliegen auf die Straße gehen, um für die Allgemeinheit "uninteressante" Auffassungen und Ziele dann schließlich, auch via Presse, doch "interessant" zu machen. Eine objektive Abgrenzung zwischen eigennützigem und gemeinwohlorientiertem Handeln ist unter diesen Umständen nicht möglich303. Fehlt es an objektiven Kriterien und wird die Entscheidung trotzdem getroffen, dann wird sie willkürlich, d.h. nach dem persönlichen Gutdünken des Entscheidenden vorgenommen. Damit aber ist offenkundig, was von den Vertretern dieser Unterscheidungslehre stets ge-
im Auge haben (vgl. dazu W. Schmitt Glaeser, JZ 1983, S. 98 und K. Stern, a.a.O, S. 818, jeweils mit Blick auf BVerfGE 299
61,1/11).
BVerfGE
68, 226/233.
300
BVerfGE
73, 206/258 f. - Vgl. auch E 69, 315/345 f., 348 f.
301
BGHSt 35, 270/280 f.
302
NJW 1987, S. 37. Sehr überzeugend W. Brohm, JZ 1985, S. 510 f. und H. Tröndle,
mann, S. 499 ff.
in: Festschrift für Reb-
Β. Die geistigen Angriffe
115
leugnet wird 304 : Die Beurteilung hängt letztlich doch "von der nicht kalkulierbaren politischen Einstellung des zuständigen Richters zu der im Einzelfall erhobenen Forderung ab"305. Dieses Ergebnis ist nicht nur mit § 240 StGB unverträgüch, es widerspricht auch den grundrechtlichen Geboten der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, ist im Blick darauf sogar kontraproduktiv; denn (gerade) auch Ziele, die dem Richter (oder anderen staatlichen Instanzen) nicht "edel" und richtig erscheinen, müssen die Möglichkeit der Artikulation im Rahmen dieser Grundrechte haben306. Es widerspricht dem Wesen dieser Freiheiten und der Freiheit überhaupt, das Maß ihrer Betätigung von der politischen Auffassung des jeweiligen Richters abhängig zu machen. Es kann nicht, um die decouvrierenden Formulierungen einiger Strafgerichte nochmals aufzugreifen, darauf ankommen, ob der Richter glaubt, daß der Täter einen "edlen Endzweck" verfolgt 307, "im echten Bewußtsein staatsbürgerlicher Gesinnung" handelt, sich die Aktion gegen einen Zeitungskonzern richtet, der ein "Musterbeispiel publizistischer Verantwortungslosigkeit" ist und "unbequeme Studenten" diskriminiert 308, ob der Straßenblockade ein "anerkennenswertes Anliegen" zugrunde liegt usw.309 Es gibt grundsätzlich keinen Zweck, der das Mittel der Gewalt heiligen könnte. Selbst der (Bundesverfassungs-)Richter kann solche Zwecke nicht erfinden. Auch wer meint, die allein seligmachende Wahrheit gefunden zu haben, bleibt an das Recht gebunden. Die Gewalt muß beim Staate bleiben, sonst können wir nicht zusammenleben.
304
BVerfGE 73, 206/258; OLG Düsseldorf vom 11.2.1987, M D R 1987, 692 f. und vom 10.3. 1987, NStZ 1987, 368 f.; OLG Zweibrücken vom 28.8.1987, NJW 1988, 716/717 u.a. 305
BGHSt 35, 270/281; vgl. etwa auch OLG Celle vom 21.10.1969, NJW 1970, 206/207; OLG Koblenz vom 31.7.1986, M D R 1987, 162/163; AG Schwäbisch Gmünd vom 12.6.1986, NJW 1986, 2446; OLG Koblenz vom 29.10.1987, NJW 1988, 720/721; /. Isensee, Freiheit Recht - Moral, S. 34 f. 306
Vgl. auch /. Baumann, NJW 1987, S. 36 ff.
307
OLG Köln vom 22.7.1986, NJW 1986, S. 2443/2444.
308
AG Esslingen vom 22.10.1968, JZ 1968, 800/801.
309
AG Bremen vom 22.4.1968, JZ 1969, 79. - Vgl. im übrigen W. Schmitt Glaeser, BayVBl.
1988, S. 455 f. m.w.N.
116
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
I I I . In der Politik
Der Begriff "Politik" kann hier nicht normativ verstanden werden. Erfaßt werden soll der gesamte "öffentliche Raum", unterschiedslos "jede Form von Regierung und Herrschaft, jedes Handeln zur Erreichung öffentlicher Zwecke"310. Es geht um ein Verhalten, das unmittelbar darauf gerichtet ist, öffentlich wirksam zu sein, das staatliche Gemeinwesen zu gestalten, diesbezügliche Meinungen zu formen und die Einstellung der Bürger zu unserem Gemeinwesen zu beeinflussen. So verstanden können geistige Angriffe gegen das staatliche Gewaltmonopol in diesem Bereich sowohl von Amtsträgern und amtlichen Institutionen als auch von gesellschaftlichen Kräften geführt werden. Eine informative Bestandsaufnahme erfordert hier die Unterscheidung in terroristische und andere Gewalttaten, wobei letztere - wie bereits dargestellt311 - im wesentlichen linker Provenienz sind, während der politische Terrorismus auch rechtsextreme Züge besitzt.
1. Die Behandlung politisch motivierter Gewalt unterhalb der Schwelle des Terrorismus
a) Die Massenmedien Innerhalb der gesellschaftlichen Kräfte nehmen die Massenmedien eine besondere Rolle ein, weil sie Faktor und Medium der öffentlichen Meinungsbildung zugleich sind. Zutreffend werden sie als "Hauptinstrument der Bewußtseinsindustrie" (Friedrich Hacker) gekennzeichnet312. Man kann nicht behaupten, daß sie diese bedeutsame Position immer verantwortungsbewußt für eine Stabilisierung des inneren Friedens nutzen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, z.B. die FAZ, die sich stets bemüht, dem Bürger die Verwerflichkeit gerade politisch motivierter Gewalt von rechts ebenso wie von links deutlich zu machen. Viele Printmedien, allen voran die Boulevardblätter, und insbesondere viele Fernsehsender, lassen sich dagegen in ihrer Jagd nach Sensationen zur Erzielung höherer Auflagen und Einschaltquoten und 310
Vgl. Hans Maier, Stichwort "Politik", Staatslexikon, Sp. 431 f.
311
Siehe oben 2. Kap., A, II.
312
Dazu H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 82 ff., RdNrn. 210, 211 ff.
Β. Die geistigen Angriffe
117
nur allzuhäufig auch aus ideologischen Gründen von der Gewalt faszinieren und nicht selten von den Gewalttätern instrumentalisieren, wobei es sich bei dem sogenannten "Gladbecker Geiseldrama" im August 1988 nur um einen besonders augenscheinlichen und spektakulären Fall aus dem Bereich der nicht-politischen Kriminalität handelte313. Zwar werden "normale" Kriminalität und politisch motivierter Terrorismus fast durchweg entschieden abgelehnt. Von da an aber verschwimmen die Konturen. Über sonstige politische Gewalttaten wird zum einen stets zentral berichtet und dabei meist die politische Forderung, die einer möglichst breiten Öffentlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes gewaltsam aufgedrängt werden soll, mit großer Ausführlichkeit geschildert und prononciert in den Vordergrund gerückt. Zum anderen fehlt die Wertung der Mittel als Rechtsverstoß und Gefährdung des inneren Friedens oft ganz oder wird zumindest vernachlässigt. (Um so pointierter und gnadenloser geht man durchweg mit Übergriffen der Polizei ins Gericht, und seien sie auch noch so geringfügig.) Diese Art der Berichterstattung führt nicht nur, im Blick auf die tatsächlichen Geschehnisse und die Gegebenheiten in der öffentlichen Meinung, der wirklichen Meinung des Volkes, zu verzerrten Akzentuierungen in der veröffentlichten Meinung, sondern sie verleitet auch andere dazu, ebenso Gewalt anzuwenden, um die "Reizschwelle" der Medien zu überschreiten und entsprechend bevorzugt auf den Volkswillensbildungsprozeß einwirken zu können. Auch politische Gewalttäter wissen, daß Gewalt im Meinungsbildungsprozeß erst über die Berichterstattung in den Medien wirklich effektiv wird. Die Kombination einer Betonung des gewalttätig verfolgten politischen Anliegens mit einer Minimierung oder gar dem völligen Fehlen einer entsprechenden Abwertung der eingesetzten Mittel muß zu einer Abstumpfung des Rechtsgefühls der Bürger und letztlich dazu führen, daß Gewalt als Mittel der Politik alltäglich-normal erscheint314. Aber damit nicht genug: Ist die politisch motivierte Gewalt auf vermeintlich "richtige" und besonders lobenswerte Ziele gerichtet, kommt es immer häufiger vor, daß Gewalt gar nicht mehr als Gewalt erkannt, verharmlost oder doch jedenfalls als solche nicht mehr anerkannt wird. Die Gabe entsprechender Selbsttäuschung und Verschleierung findet sich bei allzuvielen 313
Vgl. dazu Dieter Stolte , Geiselnahme und Fernsehen, Die politische Meinung Nr. 244/
1989, S. 18 ff.; R. Wassermann, Politisch motivierte Gewalt, S. 11. 314
Vgl. auch H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 85,113, RdNrn. 220, 295 f.
118
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Journalisten in erstaunlich ausgeprägtem Maße. Ein Beispiel ist der Bericht in der SZ vom 14. Juni 1989 über eine Kundgebung der Republikaner. In der Überschrift des Artikels heißt es u.a.: "Friedliche Gegendemonstrationen". Der Text beginnt sodann mit folgendem Satz: "Von Tumulten und Sprechchören, Würfen mit faulen Eiern, Bierflaschen und Knallkörpern wurde die Schlußkundgebung der 'Republikaner' zur Europawahl begleitet ..." Sicher kann man jedenfalls das Werfen mit Bierflaschen nicht als friedlich bezeichnen. Bei der Benutzung einer Bierflasche als Wurfgeschoß ist diese sogar als "Waffe" anzusehen, eine dadurch verursachte Körperverletzung wäre als gefährliche Körperverletzung i.S.d. § 223 a StGB einzustufen. Aber man braucht nicht Jurist zu sein, um zu erkennen, daß es sich bei diesen Gegendemonstrationen nicht um friedliche Aktionen, sondern um gewalttätige Ausschreitungen gehandelt hat. Es kann jedoch vermutet werden, daß die Gegendemonstranten nach Auffassung der berichtenden Journalisten (Eva Meschede / Thomas Münster) die richtige Gesinnung besaßen. Eine solche Gesinnung kann Unfriedliches in Friedliches verwandeln. Eine andere Erklärung für diesen "Neusprech" (im Sinne Orwells) läßt sich nicht finden315. Nur allzuviele Medien scheuen sich auch nicht, politischer Gewalt offene Sympathie entgegenzubringen, die Aktivisten zu unterstützen und zu loben, wenn die damit verfolgten Anliegen ihnen förderungswürdig erscheinen316. Konkrete Handreichungen für erfolgreiche Sabotage und Zerstörung öffentlichen Eigentums, z.B. Anschläge auf Strommasten (als Protest insbes. gegen Atomkraftwerke), wie sie das Alternativblatt "die tageszeitung (TAZ)" im Juli 1986 in Form eines Interviews von "revolutionären Heimwerkern" angeboten hat317, sind zwar nicht sehr häufig, dürfen aber in ihrer nachhaltig zersetzenden Wirkung nicht unterschätzt werden. Häufiger und sehr viel bedenklicher noch ist die libertäre Grundhaltung zahlreicher Journalisten, wenn sie sich mit den politischen Zielen der Gewaltausübenden identifizie315
Dies ist nur ein Beispiel aus neuerer Zeit, überdies ein relativ harmloses. So berichtet
etwa K. Gemmer, Polizeiliche Erfahrungen, S. 98, daß die "El Salvador-Demo" am 31.1.1981 in Frankfurt / Main auf dem Marschweg durch die Stadt Schäden von mehr als 1 Million D M verursachte und dennoch in der Presse als "im großen und ganzen friedlich" beschrieben wurde. Vgl. auch H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 56, RdNr. 102. 317
Vgl. Ernst Otto Maetzke, So kippt der Mast, in: F A Z Nr. 169 vom 25.7.1986, S. 3; Dieter
Wem, Das "tolle Gefühl, wenn der Mast umkippt", in: F A Z Nr. 205 vom 28.10.1986, S. 12.
Β. Die geistigen Angriffe
119
ren und die Intensität der Gewalt nicht sehr hoch ist, wie z.B. und vor allem bei Straßenblockaden. Je ehrenwerter und bedeutsamer dabei das Ziel, das politische Anliegen empfunden wird, desto großzügiger wird mit dem staatlichen Gewaltmonopol und der bürgerlichen Friedenspflicht umgegangen; es gilt das Gesetz der kommunizierenden Röhren. Die Zwecke, die heiligen können, sind uniform: Kampf gegen Atomkraftwerke, nicht oder weniger gegen Kohlekraftwerke, obgleich sie mit Sicherheit dauerhafte Umweltzerstörungen verursachen; Kampf gegen jede Betriebsstillegung, und sei der Betrieb auch noch so unrentabel; Kampf für nahezu jede Lohnerhöhung, und sei der Anspruch auch noch so überzogen; Kampf gegen jegliche Rüstung und für den äußeren Frieden, den inneren Frieden will man dafür gerne opfern. Wer sich für solcherart schizophrene Verantwortungslosigkeit zu erwärmen vermag, kann des Beifalls dieser Journalisten und Medienorgane gewiß sein. Einer Polizei etwa, die sich - auf politische Anweisung hin - bei der Blockade der Rheinbrücke durch Stahlarbeiter am 10. Dezember 1988 zu Handlangern der Blockierer degradierte 318, wird eine "liberal-zurückhaltende Rolle" bescheinigt, ihr oberster Dienstherr bekommt das Lob, ein "wohlwollender Politiker" zu sein319. Die Blockaderichter von Mutlangen320 erscheinen als Retter des - seit dem nationalsozialistischen Reich - angeschlagenen Ansehens unserer Justiz. Sie hätten "eindeutig zum Wohl der Allgemeinheit" gehandelt, ihr (gewaltsames) Verhalten sei "ein Zeichen von innerer Freiheit, von Nachdenklichkeit und auch von Mut". In den Sitzblokkaden ein "Überschreiten der richterlichen Politikfreiheit" zu sehen, sei "formales" Denken321. Empörung ergreift daher auch Journalisten mit "inhaltlichem" Denken, wenn eine 70jährige Frau wegen Teilnahme an einer Sitzblockade in Mutlangen zu 400 DM Bußgeld verurteilt wird und, weil sie diese nicht bezahlen will, 20 Tage Haftstrafe auf sich nehmen muß. Wenn dies alles "im Namen des Volkes" geschehe, so meint Hans Riehl von der Münchner tz (vom 21./22.3.1992), so möchte er eigentlich nicht zu diesem Volk gehören. Am Ende seines Kurzkommentars empfiehlt er dann auch noch, der "alten Dame" (die zur Gewaltausübung in Form der Sitzblockade offenbar nicht zu alt gewesen war) "ein paar Blumen" zu schicken und gibt die Adres-
318
Siehe oben 2. Kap., Α., II, 2.
319
Der Spiegel Nr. 4/1988, S. 96.
320 321
Siehe oben 2. Kap., Α., II, 4. Hanno Kühnen, Umbruch im Denken der Justiz?, Kommentar im Hessischen Rund-
funk, Hörfunk Politik, am 12.2.1987.
120
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
se der Haftanstalt an. Die bayerischen Grünen empfahlen sogar die Verleihung eines Verdienstordens! Rechtsbewußtsein läßt sich hier nicht einmal mehr im Ansatz erkennen, es ist "instinktunsicher" (Josef Isensee) geworden. Selbstverständlich ist diese Art von Journalismus auch gegen jegliches gesetzgeberisches Bemühen, die zunehmende Gewaltbereitschaft durch wirksame Instrumente zu bekämpfen. Dabei wird eine Grundhaltung deutlich, die - wie Rudolf Wassermann 322 zutreffend darlegt - "dem Recht, seinen Apparaturen und den Menschen, die es im Rechtsstaat durchsetzen und damit den verfassungsmäßigen Rahmen friedlicher gesellschaftlicher Veränderung bewahren, skeptisch bis ablehnend" gegenübersteht. Notwendiges Mißtrauen vor staatlicher Macht verbinde sich hier "in eigenartiger Weise mit jener Rechtsferne, die im Recht nur den Zwang und nicht jene freiheitliche Ordnung sehen will, in der sich das Recht des einen mit dem Recht des andern ... vereinbaren läßt". Der "Kampf gegen das Recht" tritt dabei nicht selten an die Stelle eines "Kampfes um das Recht". Exemplarisch zeigte sich dies wieder einmal im Zusammenhang mit dem Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bayerischen Polizeiaufgabengesetzes, der am 6. August 1988 von der Bayerischen Staatsregierung vorgelegt worden war 323. Der Entwurf, der inzwischen in Kraft gesetzt ist, soll den polizeilichen Erfahrungen Rechnung tragen, die bei gewalttätigen Ausschreitungen im Rahmen von Demonstrationen gesammelt wurden. Kaum war der Entwurf bekannt geworden, ging ein Aufschrei der Empörung durch die (bayerische) Presse, von der "Süddeutschen Zeitung" bis zu den "Nürnberger Nachrichten"; der einfache Bürger mußte - und sollte wohl auch - den Eindruck gewinnen, der Freistaat Bayern stünde unmittelbar vor einer neuen "Machtübernahme". Gegeißelt wurde insbesondere die Regelung in Art. 19 Nr. 3 Satz 2 des Gesetzes, der dem Richter (!) die Möglichkeit eröffnet, zur Verhütung einer unmittelbar bevorstehenden strafbaren Handlung oder einer erheblichen Ordnungswidrigkeit einen Unterbindungsgewahrsam bis zu zwei Wochen anzuordnen. Nun kann man natürlich über alles streiten 324. Ohne Zweifel gehört gerade auch die Kritik gegenüber dem Gesetzgeber zu einem vorAbschied von der rosaroten Brille, in: Die Welt Nr. 252 vom 27.10.1990, S. 17. 323
Bayerischer Landtag - Drucksache 11/1078.
324
So ist auch in der Wissenschaft die Beurteilung der Gesetzesänderung durchaus unterschiedlich: Vgl. etwa einerseits M Hirsch, Z R P 1989, S. 81 f.; A. Blankenagel, D Ö V 1989, S. 689 ff.; andererseits W. Schmitt Glaeser, BayVBl. 1989, S. 129 ff.; G. Beckstein, Z R P 1989, S. 287 ff.; F.-L. Knemeyer, N V w Z 1990, S. 138 ff. - Inzwischen hat der BayVerfGH
( E 43, 107 ff.)
die Gesetzesnovelle als verfassungsrechtlich in jeder Hinsicht unbedenklich bezeichnet.
Β. Die geistigen Angriffe
121
nehmlichen Recht der Medien. Aber dieses Recht auf Freiheit der Kritik korrespondiert unabdingbar mit der Pflicht zur Verantwortlichkeit, und diese Verantwortlichkeit umfaßt zunächst einmal als Minimum die Pflicht zur objektiven Information des Bürgers. Diese Pflicht wurde hier - wie oft auch in anderen Fällen - gröblichst verletzt, so z.B. dadurch, daß man in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken versuchte, mit Art. 19 Nr. 3 Satz 2 des Gesetzes werde die Regelzeit für den Unterbindungsgewahrsam festgelegt und nicht seine Höchstdauer (für extreme Ausnahmesituationen) bestimmt: "14 Tage Freiheitsentzug bei einer bloßen Ordnungswidrigkeit", "14tägiger Unterbindungsgewahrsam zur Durchsetzung von Platzverweisen" so oder ähnlich lauteten die irreführenden Schlagzeilen. Ein anderer, wahrhaft schäbiger Trick bestand darin, daß man im Zusammenhang mit der angeblichen Verfassungswidrigkeit der Gesetzesänderung die säuberlich zu trennenden Absätze 2 und 3 von Art. 104 GG so vermischte und miteinander verkoppelte, daß dem juristisch Unkundigen Unterbindungsgewahrsam jeder Art als eindeutig verfassungswidrig erscheinen mußte325. Aber die Medien tragen nicht - wieder einmal - alle Schuld. Die aus diesem Bereich heraus geführten geistigen Angriffe gegen das staatliche Gewaltmonopol und die Friedenspflicht des Bürgers sind gewiß besonders wirksam, wenn es um die Bildung oder besser die Zerstörung des bürgerlichen Rechtsbewußtseins geht. Die veröffentlichte Meinung ist bekanntlich ein besonders dominanter Faktor bei der Bildung der öffentlichen Meinung. Aber die Medien agieren nicht im luftleeren Raum und gerade im Blick auf die Sympathien für gewisse private Gewaltausübungen sind sie keineswegs isoliert. Nur allzuviele relevante Gruppen und "moralische Ordnungsmächte" (Josef Isensee) sind hier von ähnlichem oder gleichem Grundverständnis geprägt.
b) Die Kirchen Moralische Ordnungsmächte in Reinkultur sind sicher die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie wären in besonderem Maße aufgerufen, jeglicher privater Gewaltausübung mit Entschiedenheit entgegenzutreten und 325
So z.B. Abspacher, Haft auf Verdacht?, in: Nürnberger Nachrichten vom 5.8.1988; er beginnt sein Zitat mit Art. 104 Abs. 2 Satz 3 und setzt es (ohne Unterbrechung) mit Absatz 3 Satz 2 fort!
122
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
zur Friedlichkeit zu mahnen. Aber nicht nur einzelne kirchliche Amtsträger verfehlen zuweilen diesen selbstverständlichen Auftrag, so z.B. der (evangelische) Bischof von Berlin-Brandenburg, Gottfried Forck, der sich berufen sah, die vom Ostberliner Magistrat im November 1990 veranlaßte Räumung besetzter Häuser im Bezirk Berlin-Mitte und Friedrichshain 326 zu kritisieren und wohlwollende Stellungnahmen für die Hausbesetzer abzugeben327. Selbst offizielle kirchliche Stellungnahmen zeigen hin und wieder ein gestörtes Verhältnis zum Gebot bürgerlicher Friedlichkeit. Ein Beispiel dafür ist "Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland" aus dem Jahre 1985 mit dem Titel "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe" 328. Auf S. 21 f. der Schrift kann man lesen: "Eine andere Frage ist das Widerstehen des Bürgers gegen einzelne gewichtige Entscheidungen staatlicher Organe, wenn der Bürger die Entscheidung für verhältnisvoll und trotz formaler Legitimität für ethisch illegitim hält. Wer nur eine einzelne politische Sachentscheidung des Parlaments oder der Regierung bekämpft, will damit nicht das ganze System des freiheitlichen Rechtsstaats in Gefahr bringen. Sieht jemand grundlegende Rechte als schwerwiegend verletzt und veranschlagt dies höher als eine begrenzte Verletzung der staatlichen Ordnung, so muß er bereit sein, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen. Es handelt sich dabei nicht um Widerstand, sondern um demonstrative, zeichenhafte Handlungen, die bis zu Rechtsverstößen gehen können. Die Ernsthaftigkeit und Herausforderung, die in solchen Verstößen liegt, kann nicht einfach durch den Hinweis auf die Legalität und Legitimität des parlamentarischen Regierungssystems und seiner Mehrheitsentscheidungen abgetan werden. Zum freiheitlichen Charakter einer Demokratie gehört es, daß die Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger gewürdigt und geachtet werden. Auch wenn sie rechtswidrig sind und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterliegen, müssen sie als Anfrage an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernst genommen werden."
326
Dazu oben 2. Kap., A , II, 3.
327
Vgl. etwa Ralf Georg Reuth, "Gemeinsam sind wir unendlich stark", in: F A Z Nr. 274 vom 24.11.1990, S. 5; Christoph Minhoff,
Beirut an der Spree, in: Bayernkurier vom 24.11.1990,
S. 3.
328
Hrsg. vom Kirchenamt im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloher Verlagshaus Mohn, 1985.
Β. Die geistigen Angriffe
123
Schon die nebulose und z.T. auffallend ambivalente Ausdrucksweise, etwa der Begriff "formale Legitimität", der schon in sich widersprüchlich ist, dürfte manchen zu Deutungen ermuntern, die Rechtsverstöße als kirchlich "abgesegnet" erscheinen lassen329. Aber auch die mehr oder minder eindeutigen Aussagen sind beunruhigend. Das gilt vornehmlich für die Mahnung an die Staatsgewalt in der zweiten Hälfte der zitierten Darlegungen. In der Tat müssen Rechtsverstöße, auch und gerade wenn sie symbolischer Natur sind, sehr ernst genommen werden; als Ausdruck zeichenhaften Rechtsungehorsams sind sie eine gravierende Herausforderung des Rechtsstaates. Auch kann nur zustimmend unterstrichen werden, daß solche Verstöße ernst gemeint sind und herausfordern sollen. Ernsthaftigkeit und Herausforderung werden aber doch nicht "abgetan", wie es in der Denkschrift heißt, indem man auf die Legalität und Legitimität unseres parlamentarischen Regierungssystems verweist. Diese Ausdrucksweise gibt eine prinzipielle Mißachtung der Grundwerte unseres freiheitlichen Gemeinwesens zu erkennen. Auch der Hinweis auf Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürger kann diese abwertende Haltung nicht entschuldigen. Die Kirche müßte wissen, daß unsere Verfassung wie keine andere die Achtung von Gewissensentscheidungen sichert und daß zu diesen Grundbedingungen gerade auch das parlamentarische Regierungssystem gehört. Die Kirche müßte wissen, daß unsere Verfassung wie keine andere die öffentliche Kundgebung von (angeblichen oder tatsächlichen) Gewissensnöten ermöglicht und zahlreiche Wege eröffnet, um Meinungen, auch die extremsten Außenseiterpositionen, zu artikulieren und Gegenpositionen in Rechts- und Gerichtsverfahren überprüfen zu lassen und evtl. durchzusetzen. Die Kirche müßte wissen, daß jene "zeichenhaften Handlungen", von denen sie spricht, sich nicht "nur" als Rechtsverstöße darstellen, sondern allzuoft mit Gewaltsamkeiten einhergehen, die selbst vor Mord und Totschlag nicht haltmachen (vgl. die Polizistenmorde an der Startbahn West in Frankfurt / Main). Die Kirche müßte wissen, daß ein Grundrecht, auch die grundrechtlich gewährleistete Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG, dem einzelnen nicht die Freiheit gibt, sich - wenn auch nur partiell und zeitlich befristet - außerhalb unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates zu stellen, ihm insbesondere auf keinen Fall das Recht einräumt, Gewalt auszuüben. Die Kirche müßte wissen, 329
Tatsächlich mußte sich die Evangelische Kirche auch gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, die Denkschrift würde Verstöße gegen geltende Gesetze gutheißen: siehe F A Z vom 9.11.1985. Zutreffend auch die Kritik von A. Püttmann, ZfP 1989, S. 78 ff.
124
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
daß "Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen" nicht akzeptiert werden dürfen, wenn sie in Gestalt von Rechtsverstößen, mit oder ohne Gewalt, erfolgen. Will der Rechtsstaat sich nicht selbst aufgeben, dann kann er "Anfragen" dieser Art nur in dem Sinne ernst nehmen, daß er sie mit den angemessenen Sanktionen belegt. Die Kirche müßte wissen, daß diese "Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen" gerade deswegen oft mit Gewaltsamkeiten verbunden werden, weil sich diese Gewaltsamkeiten als ein wirksames Mittel erwiesen haben, besondere öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen, und daß sie gerade deswegen keine Beachtung finden dürfen, um Erfolgserlebnisse, die zu weiteren Gewalttaten verleiten, zu vermeiden. - Und weil die Evangelische Kirche dies auch alles weiß, kann man die zitierte Passage in der Denkschrift nur als äußerst verantwortungslos bezeichnen, unwürdig einer Kirche als "moralischer Ordnungsmacht".
c) Die Gewerkschaften Sehr viel aggressiver werden die Angriffe gegen den inneren Frieden unserer Republik von Teilen der Gewerkschaften geführt. Die IG Druck und Papier steht dabei in forderster Front. Dazu nur ein besonders eklatantes Beispiel, das zugleich zeigt, daß die tätlichen Angriffe von Gewerkschaftern im Rahmen von Tarifauseinandersetzungen 330 keine Zufallsereignisse sind, deren Grund im Zusammentreffen unglücklicher Umstände oder im "Eifer des Gefechts" zu suchen wären: Auf den Gewerkschaftstagen der IG Druck und Papier 1986 in Essen erhob der Landesbezirk Hessen unter Antrag Nr. 225 die Forderung, Betriebsbesetzungen offiziell als Mittel des Arbeitskampfes anzuerkennen331. Die Antragskommission empfahl die Annahme, und auch Erwin Ferlemann machte sich für den Antrag stark. Unter tosendem Beifall der Delegierten rief er aus: Wenn Betriebsbesetzungen Rechtsbruch seien, dann "bekenne ich mich schuldig, aber ich werde diesen Rechtsbruch dann auch weiter betreiben"332. Die öffentliche Kritik, und auch Kritik aus den eigenen Reihen, führte zwar dazu, daß die Delegierten auf den Be330
Siehe oben 2. Kap., Α., II, 2.
331
Vgl. zum folgenden H.-D. Gämer / P. Klemm, Der Griff nach der Öffentlichkeit, S. 16 f. sowie F A Z Nr. 243 vom 20.10.1986, S. 2. 332
14. Ordentlicher Gewerkschaftstag der I G Druck und Papier, Tagesprotokoll 4. Tag, Essen 1986, S. 223.
Β. Die geistigen Angriffe
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griff "Betriebsbesetzung" verzichteten und an seiner Stelle die Formel "Verbleiben ausgesperrter Belegschaften im Betrieb" wählten; aber man ließ keinen Zweifel daran, daß es sich hierbei nur um einen "taktisch klügeren" Begriff, nämlich einen Verschleierungsbegriff, handeln sollte und inhaltlich das gleiche gemeint war: "Denn in der Sache geht es ja um dasselbe. Wir bleiben drin." 333 Daß es sich dabei nicht um einen Rechtsbruch handle, begründete der stellvertretende Vorsitzende Detlef Hensche, ein promovierter Jurist (!), folgendermaßen: Der eigentliche Tatbestand der Nötigimg, ja der Erpressung, sei die Aussperrung und nicht die Gegenwehr. Das Im-Betrieb-Bleiben sei gerade Verpflichtung. Wo stehe denn geschrieben "daß wir, wenn der Unternehmer die in unseren Augen rechts- und verfassungswidrige Aussperrung verfügt, geduldig den Betrieb verlassen müssen? Im Gegenteil, wenn wir drin bleiben, stellen wir einmal vorübergehend die innerbetriebliche Herrschaft vom Kopf auf die Füße. Wir entscheiden dann über unseren Arbeitsplatz". Und weiter: "Wir sollten uns auch daran erinnern, daß wir nicht einen Zentimeter weiterkommen werden, wenn wir nicht immer wieder auch gegen herrschende Meinung, auch gegen überwiegende Juristenmeinung unseren eigenen Handlungsspielraum ausdehnen. Rechtsfortschritt in unserem Sinne kriegen wir nur durch die Praxis."334 Im Klartext heißt dies, wie Hans-Dieter Gärtner / Peter Klemm 335 zutreffend anmerken, man müsse nur oft genug das Recht brechen, "bis sich die ersten Richter fänden, die mitspielen"336. Mit solchen Gewerkschaftern läßt sich kein Rechtsstaat machen, das staatliche Gewaltmonopol nicht aufrecht erhalten und die Friedenspflicht des Bürgers nicht sichern. Das zutiefst beunruhigende ist, daß es sich hier nicht um Sprüche von Chaoten oder Psychopathen, von theoretisierenden Literaten oder politisierenden Theologen, sondern um programmatische Aussagen führender Gewerkschaftsfunktionäre als Vertreter von Massenorganisationen handelt. Wenn und soweit es zutrifft, daß der Geltungsanspruch staatlichen Rechts auf die Existenz des ethischen Grundkonsenses 333
So Detlef Hensche, 14. Ordentlicher Gewerkschaftstag der I G Druck und Papier, Tagesprotokoll 6. Tag, Essen 1986, S. 240. 334 Ebenda, S. 424. 335
Der Griff nach der Öffentlichkeit, S. 17.
336
Vgl. auch Bert Brecht, Kalendergeschichten (Geschichten von Herrn Keuner, Uber Rechtsprechung): "Unrecht gewinnt oft Rechtscharakter einfach dadurch, daß es häufig vorkommt."
126
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
angewiesen ist, ohne diesen schaffen oder erhalten zu können, und daß dieser Konsens den gesellschaftlichen Kräften und Gruppen als moralischen Ordnungsmächten maßgeblich überantwortet ist 337 , so erscheint es unter diesen Umständen nur allzu verständlich, daß der Staat das Gewaltmonopol nicht mehr strikt handhabt, entsprechend unsicher auf private Gewalt reagiert und zuweilen sogar mit Gewalttätern paktiert, zumal wenn es für die Vertreter der Staatsgewalt darum geht, Wählerklientel zu erhalten oder neue Wählerschichten für die Partei zu erschließen.
d) Die politischen Amtsträger Tatsächlich begegnen die politischen Amtsträger gewaltsamen Aktionen um so lascher, je mehr Wähler (der eigenen Partei) hinter den Rechtsbrechern stehen oder vermutet werden 338. Vor allem gewaltausübende Gewerkschafter profitieren davon. So fand z.B. der oben339 geschilderte, von der IG Druck und Papier im Jahre 1984 eingeleitete Arbeitskampf mit seinen zahlreichen Gewalttätigkeiten "Verständnis" bei Abgeordneten der SPD. Im Blick auf die Blockade der Auslieferung von Zeitungen äußerte der . SPDAbgeordnete und Gewerkschaftssekretär Kronawitter vor dem Hessischen Landtag, es sei die Frage zu stellen, ob ein gesellschaftlicher Schaden dadurch entstanden sei, daß einige Druckerzeugnisse die Leser nicht erreicht hätten. Und man könne auch fragen, ob diejenigen, die im Arbeitskampf stünden, nicht das Recht hätten, das Erscheinen bestimmter (!) Produkte zu verhindern, die gegen sie polemisierten. Der CDU und der F.D.P. warf Kronawitter unter Applaus der SPD-Fraktion vor, sie stünden "auf der Seite der Aussperrer, der Unternehmer, die diese Rechtsordnung zerstören wollen, um ihre Rechte durchzusetzen"340. Nicht nur wird Gewalt hier zu Recht, es soll auch noch ein Recht der Gewerkschaften auf Globalzensur bestimmter 337
Dazu näher /. Burmeister, in: Gedächtnisschrift für Geck, S. 104 ff. m.z.N. und unten 3.
Kap., A, III, 3. 338
Zum politischen Verzicht auf die Durchsetzung von (Straf-)Rechtsnormen vgl. auch H.D. Schwind //.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S.
51 f., RdNrn. 83 ff. 339 2. Kap., Α., II, 2. F A Z Nr. 145 vom 5.7.1984, S. 1. Vgl. dazu auch Johann Georg Reißmüller,
Schweigen
über Gewalt, in: F A Z Nr. 146 vom 6.7.1984, S. 3, wo er u.a. zutreffend betont, es gehe hier nicht um "gesellschaftlichen" Schaden, sondern um den Schaden am Recht, den Gewalt verursacht.
Β. Die geistigen Angriffe
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Presseerzeugnisse geben. Zugleich beschlossen SPD und Die Grünen einen im Hessischen Landtag von der SPD eingebrachten Antrag, in dem verurteilt wird, "daß die verantwortlichen Unternehmer der Frankfurter Societäts-Druckerei" zum Ausfliegen von Notausgaben der FAZ aus dem blokkierten Verlagsgebäude "einen Hubschrauber einsetzten, wobei sie in Kauf nahmen, daß Leben und Gesundheit zahlreicher Streikender, Polizeibeamte und Beobachter in Gefahr gerieten". Außerdem wird die Landesregierung aufgefordert zu prüfen, ob im Zusammenhang mit der vom Regierungspräsidium erteilten Landeerlaubnis für den Hubschrauber "politische, rechtliche und gegebenenfalls dienstrechtliche Maßnahmen notwendig sind". Ein von der F.D.P. eingebrachter Antrag, der Landtag möge den Mißbrauch des Streikrechts als Mittel der politischen Zensur sowie die Blockade von Presseunternehmen verurteilen, wurde von SPD und Die Grünen abgelehnt341. Ein ähnliches Bild boten die Vorgänge um die gewaltsamen Ausschreitungen der Krupp-Stahlarbeiter 1987 in Rheinhausen, wo die Polizei auf Anordnung der politischen Führung des Landes Nordrhein-Westfalen sogar eine Art offizielle Komplizenschaft mit den gewaltausübenden Arbeitern einging und die Wirksamkeit der Rechtsbrüche damit optimierte 342. Dabei wurde von der Regierung Rau (SPD) alles akzeptiert, von stundenlangen Sperren zentraler Verbindungswege und Brücken bis hin zu "Mahnwachen" vor privatem Besitztum. Darüber hinaus bekundeten führende SPD-Politiker fortlaufend ihre Solidarität mit den Rechtsbrechern und ermunterten sie zur Fortsetzung des Kampfes. Von einer Ermahnung, auf Gewalt zu verzichten, ist nichts bekannt343. Horst Sendler 344 spricht hier von Gesetzesverstoß als "Verdienst" und meint: "Es ist ein ... schlimmes Zeichen für den Zustand unseres Bewußtseins vom Rechtsstaat, daß ein solch populistisches, sich volksverbunden gebendes Verhalten mancher Politiker nicht nur bei den so umworbenen Betroffenen, sondern auch sonst gut ankommt." Selbst Bayern hat seinen - freilich einmaligen - Sündenfall. Die blockierenden Fernlastfahrer bei Kiefersfelden (Inntal-Autobahn) wurden am 25. Februar 1984 vom damaligen bayerischen Ministerpräsidenten, Franz Josef 341
F A Z Nr. 146 vom 6.7.1984, S. 1. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Walter Hamm, Gegen die Demokratie, in: F A Z Nr. 158 vom 20.7.1984, S. 11. 342 Siehe oben 2. Kap., Α., II, 2. 343
Vgl. dazu etwa Joachim Gelhoff\
Schnüffelstaat von unten, in: Die Welt vom 12.4.1988;
F A Z Nr. 85 vom 12.4.1988, S. 1 sowie Der Spiegel Nr. 4/1988, S. 93, 96. 344 NJW 1989, S. 1765.
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2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
Strauß (CSU), besucht und seiner Unterstützung versichert. Einen Tag vorher hatte der bayerische Wirtschaftsminister, Anton Jaumann, den Blockierern sogar Straffreiheit zugesagt345. Mit gewaltausübenden Minderheiten wird stets dann besonders schonend umgegangen, wenn andernfalls Unruhen zu erwarten sind, sei es etwa in den Universitäten oder auf der Straße, wenn die mit der Gewaltbetätigung verbundenen politischen Forderungen "im Trend" liegen und (daher) die Unterstützung durch Medien voraussehbar ist oder wenn es sich bei der Minderheit um Meinungsmultiplikatoren handelt. Im großen und ganzen bestimmen also auch hier vor allem wahltaktische Überlegungen das Verhalten mancher Politiker. Der Machterhalt oder der Machtgewinn - das sind ihre "Fernziele", um derentwillen sie ihren pflichtgemäßen Einsatz für den inneren Frieden partiell und zeitweise dispensieren, ohne den Dauerschaden, den dieser "permessive Legalismus"346 dem Rechtsstaat und darüber hinaus dem Staat überhaupt zufügen muß, bedenken zu wollen. Zur Illustration mögen zwei Beispiele genügen. Das eine ist die "Hafenstraße" in Hamburg 347. Seit nunmehr über zehn Jahren hält sich dort, gleichsam mitten in unserem Lande, ein "rechtsfreier Raum", in dem laufend handfeste Straftaten begangen werden, vom Diebstahl bis zur schweren Körperverletzung, von dem gewalttätige Aufmärsche ausgehen und den Amtspersonen nur mit dem Risiko betreten können, blutig geschlagen zu werden. Anstatt ohne Zögern von Anfang an mit den gebotenen rechtsstaatlichen Mitteln und konsequent gegen die Besetzung jener acht Häuser vorzugehen, ließ der Hamburger Senat die Rechtsbrecher gewähren und unternahm so gut wie nichts, um den unerträglichen Zustand zu beseitigen. Das ist schlimm genug348. Ihren Höhepunkt erreichte die Misere aber im Jahre 1987, als sich der damalige Senatspräsident, von Dohnanyi (SPD), dazu hergab, den bestehenden, eklatant rechtswidrigen Zustand in einem Vertrag mit den kriminellen Bewohnern der Hafenstraße festzuschreiben und gleichsam von Staats wegen abzusegnen. Der Vertrag wurde von der regierenden SPD als "Friedensvertrag" gefeiert und von Dohnanyi
345
HA
Vgl. Der Spiegel Nr. 4/1988, S. 96; F A Z Nr. 48 vom 25.2.1984, S. 10.
J. Isensee, Freiheit - Recht - Moral, S. 32 f.
347
Vgl. auch oben 2. Kap., Α., II, 3.
348
Vgl. auch H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 137 f., RdNrn. 385 ff.
Β. Die geistigen Angriffe
129
bekam wenig später dafür - unter dem Beifall namhafter Repräsentanten der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit - sogar den Theodor-HeußPreis 349. Natürlich brachte der Vertrag genauso viel Frieden, wie die Hafenstraßenbewohner eben friedlich waren und sind, nämlich überhaupt keinen350. Horst Sendlef 51 stellt dazu fest: "Als Verdienst wird es ... angesehen, wenn man die Hinnahme jahrelanger Rechtsbrüche in einen gleichsam geordneten, rechtswidrigen Dauerzustand überleitet und damit scheinbar Rechtsfrieden herstellt... Es mag sein, daß es - nachdem erst einmal durch zögerndes Taktieren und Tolerieren eindeutig rechtswidriger Verhaltensweisen das Kind in den Brunnen gefallen war - nur mit Hilfe eines von vornherein brüchigen Vertragswerkes gelingen konnte, eine scheinbare Beruhigung herzustellen. Aber der Perversion kommt es gleich, wenn man damals meinte, dieses Versagen des Rechtsstaates auch noch als dessen Sieg und als friedliche Lösung feiern zu können." Den letzten Schliff erhielt das Projekt Hafenstraße durch die Hamburger SPD-Landesvorsitzende, Traute Müller, die eine Räumung der Hafenstraße als einen "Schlag gegen die politische Kultur" bewertete352. Diese Art "politischer Kultur" (à la Hamburg) hat dann auch ihre Pflege durch Nachfolger gefunden. So wurde z.B. im Herbst 1990 vom Ostberliner Magistrat mit den kriminellen Hausbesetzern der Bezirke Berlin-Mitte und Friedrichshain (Mainzer Straße)353 bzw. mit deren "Besetzerrat" eine Rahmenvereinbarung ausgearbeitet, in der der "Stadtrat für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr" (Dr. Thurmann, SPD) den Hausbesetzern zusichert, daß "alles im Rahmen seiner Möglichkeiten geschieht, damit zwischen den Hausbesetzern und den Verfügungsberechtigten von besetzten Wohngebäuden vertragliche Beziehungen hergestellt werden, die zunächst auf Sicherung der Objekte und nach Eintritt der hierfür erforderlichen Voraussetzungen auf die Wiederherstellung der Nutzungsfähigkeit der Objekte gerichtet sind. In diesem Zusammenhang unterstützt der Stadtrat Bemühungen der Hausbesetzer, nach Abschluß der Baumaßnahmen langfristige Nutzungsrechte zwischen den Besetzern und den Verfügungsberechtigten (Eigentümern) für das Wohnobjekt zu günstigen Konditionen auf ver349 350 351
Dazu auch R Wassermann, Politisch motivierte Gewalt, S. 10. Vgl. etwa F A Z und Die Welt vom 26.7.1989. NJW 1989, S. 1765.
352
F A Z Nr. 5 vom 6.1.1990, S. 1. Vgl. Eckhan Kauntz, Neue Mitte und alter Ärger, in: F A Z Nr. 8 vom 10.1.1990, S. 10. 353
Vgl. oben 2. Kap., A, II, 3.
9 Schmitt Glaeser
130
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
traglicher Grundlage zu erhalten". Der Abschluß des Vertrags scheiterte allein daran, daß die Besetzer ihren Namen nicht preisgeben und mit "Paula und Plinius" unterzeichnen wollten354. Das andere Beispiel ist die Resonanz, die jene oben355 geschilderte Richter-Blockade von Mutlangen bei Politikern der SPD und der Grünen fand. Der niedersächsische SPD-Rechtsexperte und Landtagsabgeordnete, Werner Holtfort, gab der Blockade seine "volle Zustimmung" und meinte: "Wenn jemand bei 20 Grad Kälte seinen Körper einsetzt", könne sein Verhalten gewiß nicht "verwerflich" sein356. Der damalige Vorsitzende der Niedersächsischen Landtagsfraktion der SPD, Gerhard Schröder, glaubte erkannt zu haben, daß eine Landesregierung, die wegen solcher Meinungsäußerungen Disziplinarverfahren einleite oder einleiten wolle, ein am Kaiserreich orientiertes Beamten- und Richterbild pflege; sie beweise damit wieder einmal mehr, daß ihre Politik von obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen geprägt sei357. Im Baden-Württembergischen Landtag gab es heftige Kritik von Seiten der SPD und der Grünen an der CDU und dem Justizminister, Heinz Eyrich, nachdem dieser angekündigt hatte, er werde gegen die drei Richter aus Baden-Württemberg, die an der Blockade beteiligt waren, disziplinarische Vorermittlungen einleiten lassen. Der stellvertretende Vorsitzende der SPDFraktion, Ulrich Mauerer, warf der CDU vor, sie habe sich nicht mit den Motiven und Zielen der Richter auseinandergesetzt und statt dessen einen "verbalen Vernichtungsfeldzug" gegen diese geführt. Rezzo Schlauch von den Grünen nannte die Blockade einen "mutigen Schritt des zivilen Ungehorsams"358. Bei dieser Grundeinstellung konnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis man versuchen würde, diese Art von Gewaltausübung formal zu legalisieren. 1992 war es dann soweit: Die Fraktion der SPD brachte am 26. Februar einen Gesetzesentwurf im Deutschen Bundestag (Drucksache 12/2166) ein, der eine Änderung bzw. Ergänzung des § 240 StGB zum Gegenstand hat. Der Bestimmung soll folgender Absatz 3 angefügt werden: "Eine Blockie354 355
Christoph Minhoff\ 2. Kap., Α., II, 4.
356
357
Bürgerkrieg in Kleinformat, in: Bayernkurier vom 29.9.1990, S. 8.
Hannoversche Neue Presse vom 16.1.1987. Pressedienst der SPD im Niedersächsischen Landtag vom 30.3.1987. SZ vom 12.3.1987. - Dazu Georg Paul Hefty , Wer Gewalt sät, in: F A Z Nr. 142 vom
24.6.1986, S. 1: "Wer Gewalt sät, wird Gewalt ernten - wer Gewalt duldet oder sie rechtfertigt, sät sie schon."
Β. Die geistigen Angriffe
131
rung des Verkehrs oder die Störung einer Veranstaltung im Rahmen friedlicher Demonstrationen ist nur strafbar, wenn die Blockierung oder die Störung zu dem angestrebten Zweck unter Berücksichtigung der Folgen für die Rechte anderer und der Beweggründe des Täters in erheblichem Maße als verwerflich anzusehen sind." Die Beweggründe des Täters, z.B. "die Öffentlichkeit auf die Gefahren einer weiteren militärischen Rüstung durch die Stationierung atomarer Raketen hinzuweisen"359, werden damit zum objektiven Tatbestandsmerkmal. Das nennt man "Gesinnungs-Strafrecht". Wir kennen es aus totalitären Staaten360. Nicht nur einen Schritt weiter, sondern einen Schritt ins Absurde unternimmt schließlich der am 13. April 1992 veröffentlichte Gesetzentwurf der Gruppe Bündnis 90 / Die Grünen 361: Gefordert wird die Streichung des § 240 StGB überhaupt. Nicht nur die politisch motivierte, sondern jegliche Nötigungshandlung soll also straflos gestellt und von Rechts wegen freigegeben werden. Begründet wird dies damit, daß die Anwendung des Nötigungsparagraphen vor allem im Zusammenhang mit Sitzblockaden umstritten sei; daher könne die Notwendigkeit eines eigenen Straftatbestandes der Nötigung nicht mehr gerechtfertigt werden.
2. D i e Behandlung politisch motivierter terroristischer Aktionen
Die Ablehnung des politisch motivierten Terrorismus steht auf der soliden Basis einer breiten Übereinstimmung. Sieht man von spärlichen Randmeinungen ab, gilt dies für den Terrorismus von links und rechts gleichermaßen. Hinsichtlich des Umgangs mit Terroristen und terroristischen Organisationen und der Strategie ihrer Bekämpfung bestehen allerdings nicht unwesentlich voneinander abweichende Ansichten. Die gleichen gesellschaftlichen Kräfte und politischen Kreise, die linke politische Gewalt unterhalb der Schwelle des Terrorismus verständnisvoll bis rechtfertigend und zum Teil sogar unterstützend behandeln362, sind auch 359
So die Begründung des Gesetzesentwurfs der SPD (Deutscher Bundestag - Drucksache 12/2166, A, S. 5). 360 H. Otto, Urteils-Anm., NStZ 1991, S. 335: "Es besteht wenig Anlaß, mit Hochmut auf jene Richter herabzublicken, die in der ehemaligen D D R 40 Jahre lang nach der Gesinnung bestimmter Täter urteilten, allerdings unter staatlichem Zwang." 361
Deutscher Bundestag - Drucksache 12/2366; vgl. auch wib 7/92 - 1/115 vom 6.5.1992,
S. 5. 362
Siehe 2. Kap., B, III, 1.
132
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
dem linken Terrorismus gegenüber "gelassen", mahnen "Sensibilität" und "differenzierte Sichtweise" an. Nach jeder neuen "Hinrichtung" werden zwar Abscheu und Bestürzung geäußert, die Angst vor einem "zu starken Staat", vor "noch mehr Fahndung" und "noch mehr Repression", vor "Überreaktionen" und "Hysterie" scheint aber größer zu sein als vor weiteren Terroranschlägen. Man zeigt mildherziges Verständnis für einsitzende RAF-Terroristen, ist für ihre Zusammenlegung, für vorzeitige Begnadigungen und tritt für Versöhnung ein363. Von alledem ist dagegen nichts mehr zu hören, wenn es um rechten Terrorismus geht. Ohne Wenn und Aber wird hier von denselben gesellschaftlichen Kräften und politischen Kreisen mit Vehemenz die rechtsstaatliche Flagge gehißt; die Verurteilung ist eindeutig bis zur Gnadenlosigkeit. Die Front der Massenmedien ist ebenso geschlossen wie die der Kirchen, der Gewerkschaften und der politischen Amtsträger. Die Scham und das Gefühl der Schande ist allgemein364, die Bezeichnung der Täter als "Pöbel", "Verbrecher", "Absud des Nationalsozialismus"365 kann nicht eindeutiger ausfallen. Im Gegensatz zur terroristischen Vereinigung Baader-Meinhof, bei der man lange und mit viel "Sensibilität" erwogen hatte, ob von "Baader-Meinhof-Bande" oder nicht doch besser von "-Gruppe" die Rede sein sollte366, gibt es bei den "Skinheads" keine Probleme; sie sind natürlich "Banden"367. Auch den Rechtsstaat sieht man allseits gefordert. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mahnt, selbstausgeübte oder auch stillschweigend geduldete Gewalt fordere den Rechtsstaat heraus und richte sich gegen uns alle368. Man verlangt seine Verteidigung, und es ist auch von einem "rechtsfreien Raum" als "Exerzierfeld für Rechtsradikale" die Rede369. Sogar die Angst vor einem zu starken Staat scheint bei der Bekämpfung des rechten Terrorismus wie weggeblasen. "Überreaktionen" oder gar "Hysterie" werden nicht mehr befürchtet. Verfassungsschutz, Polizei und Justiz müßten eingesetzt werden, die Politik habe offen gegen 363
Näher dazu noch 4. Kap., A, I.
364
So etwa die Äußerung der christlichen Kirchen und des Zentralrats der Juden (SZ vom
27.9.1991; FR vom 30.9.1991) oder der D A G ( F A Z Nr. 233 vom 8.10.1991). 365
Siehe etwa SZ vom 30.9.1991 und Heribert
Franti , Eine deutsche Pubertät, in: SZ vom
10.10.1991. 366
Siehe unten 4. Kap. A, I. 367
Heribert Franti, Eine deutsche Pubertät, in: SZ vom 10.10.1991.
368
F A Z Nr. 238 vom 14.10.1991, S. 7. Vgl. etwa auch der D A G : Hoyerswerda als Niederlage für den Rechtsstaat ( F A Z Nr. 233 vom 8.10.1991). -a ff)
Heribert Franti, Eine deutsche Pubertät, in: SZ vom 10.10.1991.
Β. Die geistigen Angriffe
133
den Extremismus anzutreten, eine "Kampagne aller Staatsgewalt muß beginnen"370. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Penner, setzt sich für eine Erhöhung des Personalbestands der Polizei und für eine bessere technische Ausrüstung der Beamten ein371, und Bundeswirtschaftsminister Möllemann (F.D.P.) fordert gar den Einsatz der Bundeswehr372. Von "Wehret den Anfängen" ist die Rede373, von der Notwendigkeit eines "breiten Bündnisses" aus "Kirchen, Gewerkschaften, politischen Parteien und Demokraten unterschiedlicher Auffassungen" 374, von einem "zunehmenden Mangel an Rechtsbewußtsein in der Bevölkerung"375. Fernsehstationen (z.B. der Hessische Rundfunk) senden Spots "Gegen Gewalt und Fremdenhaß". Unter dem gleichen Motto finden seit Monaten bundesweit Demonstrationen und Protestveranstaltungen statt, an denen sich auch Die Grünen beteiligen, häufig als Initiator 376. Talkshows im Fernsehen, Veranstaltungen in Universitäten und Fachhochschulen, Seminare im Rahmen von Filmfestspielen377 sollen das Problem deutlicher machen und verarbeiten. "Ausländerfeindlichkeit" war selbstverständlich auch ein wichtiger Gegenstand der von der "Friedensbewegung" organisierten Ostermärsche 1992378. Dies alles kann nur unterstützt werden. Gewalt, in Besonderheit terroristische, muß mit allen rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft werden, auch mit den Mitteln der Massenmedien und insbesondere durch eine klare und eindeutige Haltung aller gesellschaftlichen und politischen Kräfte. Gerade diese Eindeutigkeit und Geschlossenheit vermißt man schmerzlich, wenn es um Gewalt von links geht. Der Kampf gegen den rechten Terror kann dagegen als vorbildlich bezeichnet werden. Kurt Tucholsky würde sich vielleicht freuen: Endlich wird nach rechts mehr verteidigt als nach links! Im Interesse un-
310
Heribert Prantl, Eine deutsche Pubertät, in: SZ vom 10.10.1991.
371
F A Z Nr. 228 vom 1.10.1991, S. 2.
372
F A Z Nr. 238 vom 14.10.1991, S. 7.
γη
So z.B. Jochen Vogel (SPD), in: F A Z Nr. 228 vom 1.10.1991, S. 2; Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt (SPD), in: Nordbayerischer Kurier vom 9./10.10.1991. γΐλ
So z.B. Peter Glotz (SPD), in: Augsburger Allgemeine vom 2.10.1991. 375
So Bundestagsvizepräsidentin Renate Schmidt (SPD), in: SZ vom 10.10.1991.
376
Dabei geht es freilich nicht immer ohne Gewalt, Sachbeschädigungen und Körperverletzungen ab: vgl. etwa F A Z Nr. 268 vom 18.11.1991, S. 4; Nr. 70 vom 23.3.1992, S. 4. 377
Z.B. bei den 15. Internationalen Grenzlandfilmtagen in Selb: siehe Nordbayerischer Kurier vom 21.4.1992, S. 4. 378 F A Z Nr. 93 vom 23.4.1992, S. 2.
134
2. Kap.: Die gegenwärtige Situation
serer freiheitlichen Demokratie kann man aber nur wünschen, daß der Kampf gegen den rechten Terror Vorbild wird für den Kampf gegen den linken Terror und darüber hinaus gegen jegliche Art linker Gewalt379. Wäre die Front hier ebenso fest geschlossen, hätte politisch motivierte Gewalt in der BR Deutschland schon bald keine nennenswerte Bedeutung mehr.
379
Krasse Übertretungen oder gar Verleumdungen und Hetzreden sind freilich nicht geeignet, der Gewalt entgegenzuwirken, wie etwa durch den Vergleich der Ausschreitungen gegen Asylbewerberwohnheime mit den Judenpogromen vom 9. November 1938. So aber die bayerischen Landesverbände von SPD, F.D.P. und Grünen sowie D G B , D A G , Caritas und Israelitische
Kultusgemeinde
in
einer
9./10.11.1991. Dazu Stefan Dietrich,
öffentlichen
Erklärung
in:
Main-Echo
vom
Die Guten und die Bösen, in: F A Z Nr. 300/92 D vom
28.12.1991, S. 1: Völlige Sinnesverwirrung".
3. Kapitel
Die Legitimität der Staatsmacht, das staatliche Gewaltmonopol und die Friedenspflicht des Bürgers Die Legitimität staatlicher Macht, das Gewaltmonopol des Staates und die bürgerliche Friedenspflicht sind Eckpfeiler eines freiheitlichen Verfassungsstaates. Keiner läßt sich beseitigen oder auch nur verrücken, ohne nicht das Gebäude insgesamt zu gefährden. Die tätlichen und geistigen Angriffe, wie sie im 2. Kapitel geschildert wurden, gehen an die Substanz unseres staatlichen Gemeinwesens. Die tätlichen Angriffe reichen von terroristischer Brachialgewalt bis zur Gewaltausübung in Form von Blockaden. Nicht weniger breit angelegt sind die geistigen Angriffe. Einhellig abgelehnt wird nur die terroristische Gewalt. Schon für nicht spezifisch terroristische Gewalttaten als unmittelbare körperliche Zwangseinwirkung auf Personen und Sachen gilt dies nicht in gleichem Maße uneingeschränkt, vor allem dann, wenn diese Gewalttätigkeiten im Zusammenhang mit legalen, insbesondere grundrechtlich geschützten Protesten, wie Demonstrationen oder Streiks, stehen. Auch das Bundesverfassungsgericht verfährt hier äußerst großzügig zu Lasten des Friedlichkeitsgebots1. Auflösungserscheinungen müssen aber vor allem im Blick auf Gewaltbetätigungen konstatiert werden, die nicht in einem mehr oder minder brutalen Zuschlagen bestehen, sondern in diffizileren Formen einer Zwangseinwirkung auf Menschen erscheinen, der Täter mit nur geringem Kraftaufwand einen psychisch determinierten Prozeß in Lauf setzt und dadurch einen unwiderstehlichen Zwang auf das Opfer ausübt. Typisch dafür sind Blockaden aller Art. Hier wird gelegentlich sogar der Versuch unternommen, Gewalt im strafrechtlichen Sinne generell zu verneinen2. Bedeutsamer sind die Versuche, Gewaltsamkeiten dieser Art unter bestimmten Umständen als gerechtfertigt oder legitimiert zu qualifi1
2
Siehe 2. Kap., Β, II, 2, a. Siehe oben Einleitung.
136
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
zieren oder sie auch als bloße "Regelverletzungen" zu verharmlosen. Als besonders beunruhigend muß zudem die Tatsache angesehen werden, daß die Rechtfertigungs- und Legitimationsideologien im Kern dogmatisch so angelegt sind, daß sie auf jede Art von Gewalt, auch auf pure Gewalttätigkeiten und sogar auf spezifisch terroristische Brachialgewalt bezogen werden können. Allerdings kann konstatiert werden, daß die Legitimität unseres Staates dem Grundsatz nach von keiner Seite ausdrücklich in Frage gestellt wird. Je länger wir aber in dieser Demokratie leben, die repräsentativ geordnet und deren Kernstück die Mehrheitsentscheidung ist, desto häufiger und desto intensiver wird versucht, das Repräsentativsystem und das Mehrheitsprinzip zu relativieren, partiell zu durchbrechen oder in bestimmten Fällen Minderheiten wenigstens Sperrfunktion zuzubilligen. Von zentraler Bedeutung ist hierbei - wie wir sahen - die "Lehre" von der strukturellen Gewalt3. Ihre Grundidee steht ausgesprochen oder unausgesprochen hinter allen Rechtfertigungs· und Legitimationsideologien, mehr oder minder bewußt auch hinter den tätlichen Angriffen gegen den inneren Frieden. Das von dieser "Lehre" verfolgte Ziel, die Bekämpfung sozialer Ungerechtigkeit, ist natürlich ein wichtiges und gutes Anliegen. Aber schon vom Begriff her wird dieses Anliegen gründlich verfehlt. "Strukturelle Gewalt" ist nicht mehr als ein diffuses Signal, das als spektakuläres Synonym für soziale Ungerechtigkeit4 nicht einmal ein Minimum an notwendigen Konturen vorzugeben in der Lage ist. Gleichwohl erweckt der Begriff sehr dezidiert den Eindruck, soziale Ungerechtigkeit sei ein nur eindimensionales Phänomen. In Wahrheit hat sie zahlreiche unterschiedliche und oft äußerst komplexe Ursachen und kann nur dann gemildert werden, wenn die Gegenstrategien ebenso vielschichtig und differenziert angelegt sind5. Werden dagegen die vielfach verschlungenen und weit verzweigten, oft auch sehr fein gesponnenen Fäden begrifflich gleichsam verknäult bzw. zu "struktureller Gewalt" simplifiziert, kann schon die Analyse der Situation nicht mehr gelingen, so daß jede sinnvolle Lösung bereits im Ansatz verhindert wird. Diese Feststellung wäre nicht weiter bemerkenswert, wenn wir es dabei bewenden lassen könnten. Das Brisante an der "Lehre" ist jedoch, daß der einfältigen Analyse eine 3
4 5
Siehe oben 2. Kap., Β, I, 2. Vgl. /. Galtung, Gewalt, Friede und Friedensforschung, S. 63. Vgl. etwa P. Waldmann, Strategien politischer Gewalt, S. 8 f.; vgl. auch H.-D. Schwind / J.
Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, Bd. I, S. 26.
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
ebenso einfältige Lösungsstrategie folgt und dieser Lösung zudem rechtliche Qualität zugesprochen wird. Der Knoten wird also nicht entwirrt, sondern einfach durchgeschlagen, was in diesem Fall keineswegs genial ist, sondern zu dem Ergebnis führt, daß der "strukturellen Gewalt" schlicht wieder Gewalt entgegengesetzt wird und die Therapie der Gewalt im Wege normativer Umsetzung unter der Bezeichnung "Gegen-Gewalt" Legitimität zuspricht. Daß diese eindimensionale Antwort von vornherein in der "Lehre" angelegt ist, zeigt sich an dem Begriff "strukturelle Gewalt" auch insofern, als mit der damit angesprochenen Lage offensichtlich ein Zwangssystem gemeint ist, das Freiheit und Lebensbedürfnisse unterdrückt, so daß man korrekterweise von "strukturellem Zwang" hätte sprechen müssen6; damit aber wäre allenfalls ein Gegenzwang, nicht aber eine Gegengewalt begründbar. Gegenzwang jedoch ist nicht nur weniger brachial, der Begriff müßte per se auch zu differenzierteren Überlegungen und dementsprechend vielschichtigeren Gegenstrategien führen, was offenbar gerade vermieden werden soll. "Gewalt ist einfach, Alternativen zur Gewalt sind komplex" (Friedrich Hacker 1). Die "Lehre" setzt soziale Ungerechtigkeit mit Unfriedlichkeit und mit Gewaltbetätigung gleich. "Strukturelle Gewalt" bildet die "semantische Provokation von physischer Gegengewalt" und ist darauf gerichtet, das Gewaltmonopol des Staates zu entlegitimieren. Dieser Gewaltbegriff negiert nämlich "die staatsethische Unterscheidung, von der das staatliche Gewaltmonopol ausgeht: zwischen der Gerechtigkeit, über die grundsätzlich politisch gestritten werden kann, und dem Frieden, über den nicht gestritten werden darf, weil er die Grundlage des legitimen politischen Streites bildet"8. Die Strategie einer Legitimierung der Gegengewalt knüpft zunächst an herkömmliche Denkkategorien an, wenn sie von höherem Recht hergeleitet und ihre Grundlage in Würde, Moral, Gewissen, Verantwortungsbewußtsein und der politischen Kultur eines entwickelten demokratischen Gemeinwesens gesehen wird. Macht ist nur als ethisch gebundene Macht legitim, so daß staatliche Macht an überstaatliches Recht gebunden bleibt. Aber abgesehen davon, daß es hier um Legitimität nicht staatlicher, sondern privater Gewalt geht, ist gerade der Verfassungsstaat und damit auch der Staat der BR Deutschland darauf angelegt, die Grundlagen der Legitimität verfas6
U. Matz, Stichwort "Gewalt", Staatslexikon, Sp. 1018 f.
7
Aggression, S. 14.
8
/. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 75 F N 107; vgl. auch H. Oberreuter,
Gewalt und Politik, S. 182 ff.
138
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
sungsgesetzlich zu positivieren und mögliche Legitimitätskonflikte verfassungsrechtlich zu bewältigen9. Auf diesem Hintergrund erscheint es abwegig, Legitimität für private Gewalt dadurch gewinnen zu wollen, daß Verfassungsprinzipien interpretatorisch "veredelt" und zu ihrem angeblich "wahren", von der Verfassung offensichtlich nicht gemeinten Gehalt geführt werden. Die in einer langen Entwicklung durch den Verfassungsstaat gewonnene weitreichende - wenn auch keineswegs vollkommene - Legitimitätssicherheit wird damit wieder aufgelöst. An ihre Stelle tritt die unbegrenzte Beliebigkeit einer an nebulösen höheren Werten orientierten Interpretation. Die "Veredelung" des grundgesetzlichen Demokratieprinzips zur "wahren Demokratie" führt auf diese Weise in eine gewichtige Relativierung des Mehrheitsprinzips. Mehrheitsentscheidungen sollen danach in bestimmten Fällen nur dann akzeptiert werden, wenn sie inhaltlich richtig sind. Wann ein solcher Fall anzunehmen und ob eine Entscheidung richtig ist, haben "Einsichtige" zu bestimmen, die im Gegensatz zur Mehrheit und zu den staatlichen Organen die Wahrheit erkennen. Souverän ist danach, wer die höhere Einsicht besitzt. Den Status eines Einsichtigen gewinnt man durch Selbsternennung. Irrlehren wird es immer geben. Viele von ihnen können vernachlässigt werden, weil ihre Anhängerschaft klein und die Resonanz in der Öffentlichkeit gering ist. Die "Lehre" von der "strukturellen Gewalt" aber gewinnt mehr und mehr an Boden. Befürwortet wird sie nicht nur von einigen theoretisierenden wissenschaftlichen Schöngeistern, die das Staatsrecht zum Tummelplatz ebenso naiver wie gefährlicher Phantasiespiele erkoren haben. Auch in Rechtsprechung und Politik sowie bei mancher sozialrelevanten Gruppe finden sich, kräftig flankiert von zahlreichen Medien, Vertreter und Sympathisanten dieser "Lehre". Daß die Vertreter zu einem gewichtigen Teil hohe soziale Positionen bekleiden und nicht selten sogar Amtspersonen sind, muß besonders beunruhigen. Wie sehr auch die Diktion dieser "Lehre" sogar in die Alltagssprache der Politik eingedrungen ist, zeigt jüngst wieder die vom damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper (SPD), in Reaktion auf den Herrhausen-Mord geäußerte These, es gebe eine "Spirale von Gewalt und Gegengewalt"10.
9 10
Vgl. J. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 105. F A Z Nr. 280 vom 2.12.1989, S. 1.
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
Eine Umkehr dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Immerhin geht es bei der "Lehre" von der "strukturellen Gewalt" um das Phänomen der sozialen Gerechtigkeit, und soziale Gerechtigkeit hat in unserem Gemeinwesen einen dominanten Stellenwert, gelegentlich scheint sie sogar den Charakter des Absoluten anzunehmen. Der inzwischen erreichte, außerordentlich hohe Lebensstandard hat die Ansprüche der Bundesbürger keineswegs geringer werden lassen, sondern nur die Erwartungen weiter erhöht, so daß der soziale Friede labil und immer schwerer zu erhalten ist. Es muß befürchtet werden, daß die Bereitschaft, die eigenen Interessen mit allen Mitteln, notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen, weiter zunimmt. Die "Lehre" von der "strukturellen Gewalt" hat bei dieser Lage eine gute Chance zu gedeihen, liefert sie doch ein theoretisches Konzept und die Scheinlegitimation für rücksichtslosen Egoismus und elitäre Besserwisserei, nicht selten auch für den blanken Opportunismus von Politikern, die Wählerstimmen mit Kratzfußstrategien zu gewinnen suchen. Wir befinden uns im Kampf um den inneren Frieden. Diese Feststellung ist keineswegs theatralische Überspitzung, sie entspricht der Realität. Die Darlegungen im 2. Kapitel sind der Beleg. Der Kampf kann nicht allein, auch nicht vornehmlich mit polizei- und strafrechtlichen Mitteln geführt werden. Ausschlaggebend ist das Wort, das Argument, das Überzeugen. Fast ist man, angesichts der "Stimmung" im politischen Bereich, der irritierenden Ansätze in der Rechtsprechung und einem umfangreichen, zersetzenden Schrifttum, geneigt, zu resignieren und sich mit der "Faktizität" abzufinden. Doch die Hoffnung, daß diese Gegebenheiten nicht auch noch "normative Kraft" entfalten mögen, rechtfertigt jede weitere Anstrengung, grundlegende Erkenntnisse über das Funktionieren eines staatlichen Gemeinwesens im allgemeinen und einer freiheitlichen demokratischen Staatsordnung im besonderen in Erinnerung zu rufen und ihre Beachtung einzufordern. Im Mittelpunkt der Überlegungen muß die Frage der Legitimität staatlicher Macht stehen. Im Rahmen ihrer Beantwortung wird dem Mehrheitsprinzip als dem zentralen Angriffspunkt der Befürworter politisch motivierter Privatgewalt im politischen Meinungskampf besondere Aufmerksamkeit zu schenken sein.
140
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
A. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens Die Staatsordnung der BR Deutschland, wie sie im Grundgesetz konstituiert ist, verkörpert den "Typus Verfassungsstaat". Seine Faszinationskraft als Ergebnis europäisch-angloamerikanischer Geschichte ist weltweit nach wie vor groß 11. Das Scheitern nahezu aller kommunistischer Diktaturen und das dezidierte Bemühen der Staaten der ehemaligen UdSSR und der anderen östlichen Staaten, Demokratien nach westlichem Vorbild aufzubauen, nicht zuletzt gerade auch der Zusammenbruch der DDR und die Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und Freiheit 12 belegen die ungebrochene Attraktivität des Verfassungsstaats. Die Theorie von der gewaltrechtfertigenden Illegitimität des Verfassungsstaates westlicher Prägung und seiner Politik nimmt sich daher um so unverständlicher aus, je lauter die Rufe nach Rechtsstaat und Demokratie in der ganzen Welt werden und je weiter sich der Blick in die realpolitischen Zustände der ehemaligen kommunistischen Staaten öffnet. Die "friedlichen Revolutionäre" von (Ost-)Berlin, Leipzig und Dresden scheinen in Sachen bürgerliches Gewaltverbot als dem Ersten Kapitel der Allgemeinen Staatslehre manchem intellektuellen Hochseilakrobaten hierzulande einiges voraus zu haben. Hätten nicht, so muß man fragen, eher sie, die - aus der Perspektive westlicher Verfassungsstaaten überfällige - neue Vorstellungen über die Legitimität ihrer Staatsordnung proklamierten, Anlaß zur Gewaltanwendung gehabt? Die Verwurzelung des Staates in einer legitimen Machtbasis ist Identitätsmerkmal und Selbstverständlichkeit des modernen Staates als des "präkonstitutionellen Grundtypus'"13. Wenn Kurt Tucholsky 14 das im Staatsapparat der jungen Weimarer Republik verbreitete absolutistische Gedankengut in der ihm eigenen ebenso pointiert-provokativen wie resignativ-ironischen Manier beklagt mit der Festeilung: "Der Staat ist mächtig, allmächtig, heilig,
11
Vgl. dazu P. Häberle, 1789 als Teil der Geschichte, S. 64, 65 ff.
12
A n diese doppelte Perspektive des grundgesetzlichen Wiedervereinigungsgebots hat jüngst wieder der Präsident der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Dieter Haak, erinnert und zu Recht ihre Vernachlässigung in der Bonner Deutschlandpolitik der 70er und 80er Jahre kritisiert. Vgl. F A Z Nr. 86 vom 10.4.1992, S. 14. 13 J. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 41. 14
"Die Tabelle", in: Tucholsky,
Gesammelte Werke, hrsg. von Fritz J. Raddatz und Mary
Gerold-Tucholsky, Bd. 3: 1921 - 1924, 5. Aufl. 1981, S. 137 ff., 138.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
141
verehrenswert, Ziel und Zweck der Erdumdrehung - der Staat ist überhaupt alles. Und vor allem: er trägt vor niemand Verantwortung", so wiegt dieser Vorwurf gerade deswegen so schwer, weil er in einem konträren Gegensatz zu der bedeutenden zivilisatorischen und kulturellen Leistung vielhundertjährigen Denkens über das Wesen des Staates, über Hoheitsgewalt und Staatsmacht steht. Für die moderne Staatlichkeit ist es eine grundlegende Erkenntnis, daß "Sein und Tätigkeit des Staates nicht anders denn als wertbestimmte und wertverwirklichende gedacht werden können"15, folglich der Staat gerade nicht Selbstzweck oder Selbstwert ist, sondern "vom Menschen und seiner Bestimmung her verstanden werden"16 muß, nämlich als "eine notwendige und daher anzuerkennende Institution"17. Bei allem Wandel, dem diese Werte und die ihnen zugeordneten Maßstäbe unterliegen, verlangt die geradezu staatsfeindliche Haltung der Gewaltbefürworter, die historisch gewachsenen und bewährten Merkmale der Existenz und Essenz legitimer Mächtigkeit moderner Staatswesen zu betonen und wieder einem allgemeinen Bewußtsein zuzuführen.
I. Der (Grund-)TVP US "moderner Staat"
Der "moderne Staat" bezeichnet und beschreibt das Modell politischer Ordnung, wie es sich in der europäischen Geschichte aus den Herrschaftsgebilden des Mittelalters herausgebildet und seitdem die zivilisierte Welt erobert hat. Als geschichtswissenschaftlicher Kunstbegriff, entstanden aus der Retrospektive auf die Entwicklung der Staatlichkeit seit dem 16. Jahrhundert, markiert namentlich das Adjektiv "modern" die Grenze zu vergangenen Formen politischer Herrschaft. Im modernen Staat sind die Impulse und Leistungen wirksam, die historisch nicht mehr dem Mittelalter, sondern der sogenannten (europäischen) Moderne zugesprochen werden18. Dem Begriff wächst demnach - trotz seiner etymologischen Unschärfe - eine historische Dimension zu. "L'état-est-mort"-Diagnosen19 revolutionärer Kräfte können 15
Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 675.
16
U. Scheuner, Das Wesen des Staates, S. 73.
17
G. Jellineky Allgemeine Staatslehre, S. 185.
18
Vgl. zum Begriff des modernen Staates Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 1 ff., Th. Fleiner-Gerster,
Allgemeine Staatslehre, S. 120 ff., und die Nachweise bei J. Isensee, in:
Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNrn. 41 ff. 19
Siehe zu diesen den Uberblick bei H Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, S. 11 ff.
142
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
daher in der Tat mit dem Anbrechen der "Postmoderne" begründet werden. Dies gilt vor allem dann, wenn - wie in der Staatslehre zum Teil vertreten nur dem modernen Staat Staatlichkeit schlechthin zuerkannt, der Staat an sich also allein in seiner epochalen Gebundenheit begriffen wird 20. Hier bewegt sich allerdings der (wissenschaftliche?) Streit häufig nur um Worte, nicht um die Sache21. Ob nun "Moderne" oder "Postmoderne", die Wirklichkeit des Staatslebens unterliegt dem zeitlichen Wandel, ist selbstverständlich insoweit geschichtlich und bedarf daher, losgelöst von seiner Etikettierung, immer wieder der Prüfung, ob und inwieweit die werthaften Prämissen und konstituierenden Bedingungen, unter denen und zu deren Erhaltung der Staat (als moderner Verfassungsstaat) angetreten ist, noch gelten (sollen) und daher der kompromißlosen Verteidigung bedürfen.
I I . D i e S t r u k t u r p r i n z i p i e n des m o d e r n e n S t a a t e s : Einheit und Legitimität
Der Typus "moderner Staat" erhielt seine erste, rohe Form in der absolutistischen Monarchie; sie war sein "Prototyp"22. Unter ihr und durch sie entwickelten sich letztlich die Grundstrukturen, die das Wesen und den Charakter des modernen Staates kennzeichnen. Der Verfassungsstaat baut auf ihnen auf und hat sie fortentwickelt 23. Soziologisch-phänomenologische Fakten sind dabei ebenso bedeutsam wie ethisch-normative Geltungen; sie bilden eine "dialektische Einheit"24 und fügen so den Staat zu einem lebendigen "System" (Herbert Krüger). Analytisch betrachtet sind es zwei Prinzipien, die der Staatlichkeit schlechthin zugrunde liegen und die das moderne Staatswesen dirigieren: das Prinzip der Einheit und das Prinzip der Legitimität. Ohne deren Wirklichkeit ist auch der Staat nicht wirklich. Sie sind der "Schlüssel"25, das Eingangstor für fast jedes, den Staat und seine Verfassung betreffende Problem. Dies wird sich auch hier erweisen. Denn sowohl die tatsäch20 So insbesondere die These von Carl Schmitt, Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, S. 375 ff. Vgl. auch H. Heller, Staatslehre, S. 142 ff. Weitere Nachweise bei H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, S. 32 ff. 21 22
So auch /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 42.
/.
Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 44.
23
Vgl. auch /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 62
24
G.-Chr. von Unruh, Der Staat, S. 17.
25
M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 19.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
143
liehe Gewaltsamkeit als auch der theoretisch, etwa von Jürgen Habermas vorgetragene Anspruch der Minderheit auf umfassende oder partielle Souveränität fordern gerade die Wirklichkeit dieser Strukturprinzipien heraus. Die beiden Prinzipien liefern folglich den Rahmen, in dem sich die Diskussion über die Rechtfertigung privater Gewaltanwendung in bestimmten politischen Lagen bewegt.
1. Das Prinzip der Einheit
Der Staat der Neuzeit steht im Gegensatz zu der weiten Zersplitterung der Herrschaftsformen und den vorstaatlichen Agglomeraten verschiedener Herrschaftselemente, wie sie im Mittelalter und - wegen der "Ungleichzeitigkeit"26 der Entwicklung - auch noch später zu finden waren27. Der moderne Staat ist und organisiert Einheit. Damit ist sein Wesensmerkmal der Einheitlichkeit in zweifacher Hinsicht von Bedeutung: es umfaßt zum einen den Aspekt der "Einheit des Staates" und zum anderen den der (organisierten) "staatlichen Einheit". Der Staat ist "Ein-heit" im Sinne der Gesamtheit der faktisch-normativen Elemente, die im Begriff der (inneren) Souveränität aufgehen und den Weg des modernen (und demokratischen Verfassungs-)Staates bis heute begleiten28. Der Gedanke der Souveränität des Staates findet seinen Ursprung in der Staatslehre Jean Bodins 79. In der historischen Situation des ausgehenden Mittelalters, in der der monistische Garant von Sicherheit und Frieden, die Einheit von Kaiser und Papst, endgültig auseinanderbrach, ordnete er im Begriff der Souveränität seinen Trägern, den Fürsten, die absolute und unteilbare Staatsgewalt (potestas) zu. Von da an war der Souveränitätsgedanke aus der Staatstheorie und dem Staatsrecht nicht mehr zu verdrängen. Dabei war wegen ihrer politisch-praktischen Dimension seit jeher die Frage nach 26
/.
Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 44.
27
Etwa in der preußischen Monarchie: vgl. Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 88; H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, S. 44 f. 28 Stellvertretend aus der jüngeren Literatur: W Hennis , Das Problem der Souveränität; W. von Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart; Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 847 ff.; H Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I; L. Wildhaber,
Ent-
stehung und Aktualität der Souveränität, S. 131 ff. 29
Wenngleich unterschiedliche Auffassungen zum Beginn des Souveränitätsdenkens vertreten werden: vgl. dazu H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, S. 37 ff.
144
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
dem Träger oder Subjekt der Souveränität das zentrale Problem. Während noch Thomas Hobbes die Souveränität und Autorität der Staatsgewalt in Händen eines Herrschers an den von den Menschen geschlossenen Gesellschaftsvertrag knüpfte, vollzog sich schließlich mit den Staatslehren John Loches, Jean-Jacques Rousseaus und auch Immanuel Kants auf der Grundlage des Vertragsgedankens der Übergang von der absolutistischen Fürstensouveränität zur natur- und vernunftrechtsgebundenen Volkssouveränität. Zu ihr bekennt sich der Verfassungsstaat (vgl. Art. 20 Abs. 2 GG). Ungeachtet der feinen und feinsten Verästelungen der staatstheoretischen Diskussion30 um Begriff und Inhalt bedeutet Souveränität Machtvollkommenheit 31. In der Einheit des Staates ist seine vollkommene Macht ausgedrückt. In staatsrechtlicher Hinsicht ist dabei die Souveränität nicht die Staatsgewalt selbst. Vielmehr ist die Staatsmacht die notwendige, die entscheidende, die "hervorstechendste" Eigenschaft der Staatsgewalt32. Denn die Staatsgewalt ist die Emanation der Einheit des Staates, in ihr kulminieren "Sein und Tätigwerden des (souveränen) Staates" (Herbert Krüger). Daraus ergeben sich als logische Notwendigkeiten mehrere Merkmale im Sinne staatsrechtlicher Axiome, die der Souveränität des Staates und folglich auch der Staatsgewalt immanent sind. Hierzu gehört zunächst, in Abgrenzung zu Ansätzen einer pluralistischen Staatstheorie, seine "Einzigkeit" (Herbert Krügerseine Unteilbarkeit, Unveräußerlichkeit und Unwiderstehlichkeit. Um wahrhaft wirklich sein zu können, muß der Staat einzigartig sein. Die Staatsgewalt muß als höchste Gewalt allein stehen. Sie verträgt sich nicht mit einer gleichen anderen Gewalt33. Andernfalls wäre sie nicht souverän, nicht wirksam, und der Staat löste sich auf 34. Eine plurale, auf mehrere Machteinheiten verteilte Souveränität ist eine contradictio in adjecto, führt zur latenten Situation der Konfrontation und bedeutet letztlich Souveränitätsaufgabe. Mit der Einzigkeit der Staatsgewalt ist demnach das Schicksal des Staates untrennbar verbunden. Die Frage der Erhaltung dieser Eigen30
Zu dieser siehe stellvertretend P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, S. 364 ff. 31 Siehe auch /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 88: Souveränität als "eine Kategorie der Macht". 32 Vgl. H: Heller, Staatslehre, S. 268; Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 852 f., 855; H Quaritsch, Staat und Souveränität, Bd. I, S. 39. Zum Verhältnis von Macht und Gewalt siehe noch unten 3. Kap., A, I V , 2. 33
Vgl. etwa auch A. Randelzhofer,
34
Vgl. etwa auch P. Dagtoglou, Stichwort "Souveränität", EvStL, Sp. 3160.
in: Handbuch des Staatsrechts I, § 15, RdNr. 35.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
145
schaft ist die Frage der Staatlichkeit des Gemeinwesens überhaupt35. Schon die ersten Anfänge einer Staatstheorie mühten sich daher um die Verhinderung eines Gewaltdualismus oder -pluralismus36. Jede Enklave nichtstaatlicher oder nicht staatlich gerechtfertigter Gewaltentfaltung mit dem Anspruch ungeteilter Autorität ist nicht nur gleichzusetzen einem parasitär, von innen heraus operierenden, das Ganze allmählich zersetzenden Virus. Mit ihrem Entstehen, ihrer Duldung oder gar Förderung wird vielmehr in der gegebenen Raum-Zeit-Koordinate, hic et nunc die Souveränität des Staates, seine Machtvollkommenheit an sich verabschiedet. Es gibt kein Nebeneinander von staatlicher und privater Souveränität. Anders ausgedrückt: Staatliche Souveränität kann per se nicht zur Disposition nichtstaatlicher Kräfte stehen. Sie ist niemals relativ, sondern immer absolut. Das gilt auch für die Staatsform der Demokratie: "In der Sache ist Demokratie genauso absolut wie die absoluteste Monarchie."37 Das Prinzip der Gewaltenteilung zum Zwecke der Machtkontrolle und Verhinderung des Machtmißbrauchs steht dem ebensowenig entgegen wie eine beschränkte, mit staatlicher Aufsicht verbundene Übertragung staatlicher Kompetenzen38. Staatliche Einzigkeit wird aber z.B. nachhaltig tangiert, wenn das Bundesverfassungsgericht in der Brokdorf-Entscheidung 39 Art und Umfang polizeilichen Einschreitens bei (Groß-)Demonstrationen - entgegen eindeutigen gesetzlichen Regelungen nicht mehr im wesentlichen davon abhängig macht, ob ein polizeilicher Gefahrentatbestand vorhegt, sondern maßgeblich darauf abstellt, wie intensiv "die Veranstalter anläßlich der Anmeldung einer Großdemonstration zu einseitigen vertrauensbildenden Maßnahmen oder sogar zu einer demonstrationsfreundlichen Kooperation bereit sind"40. Staatliche Macht wird damit teilweise zur Disposition Privater gestellt, wobei zudem die Voraussetzungen der Disposition ebenso subjektiviert wie vage sind. Auch nur partielles Außerkraftsetzen von Staatsgewalt widerspricht dem Souveränitätsgedanken. "Neue" Legitimitätskonzepte oder eine angebliche 35 36
So Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 857. Etwa Marsilius von Padua, Thomas von Aquin, Jean Bodin; dazu mit Nachweisen Herbert
Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 849 f. 37 Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 72. 38
Ebenso P. Dagtoglou, Stichwort "Souveränität", EvStL, Sp. 3161. Vgl. auch F. Ossen-
bühl/H.-U;
Gallwas, W D S t R L 29 (1971), S. 137 ff., S. 211 ff.
39
BVerfGE
69, 315/355 ff. Ausführlich dazu oben 2. Kap., Β, II, 2, a, dd.
40
BVerfGE
6% 315/357.
10 Schmitt Glaeser
146
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
"Über-Legitimation", wie sie von den Befürwortern politisch motivierter Privatgewalt immer wieder in Anspruch genommen wird, ändern daran nichts. Die Geltung überstaatlicher, etwa naturrechtlich begründeter Werte im staatlichen Gemeinwesen wird damit keineswegs verneint. Im Gegenteil: Der Staat ist in seiner Machtvollkommenheit auf die Wirklichkeit eines Wertegrundkonsenses in der Gesellschaft angewiesen41. Mit der Erkenntnis des Zusammenhangs von Souveränität, Legitimität und Gemeinwohl im Zuge der Überwindung monarchisch-nationalstaatlich eingefärbter Übersteigerungen des Souveränitätsbegriffs ist dieser vielmehr vor allem in bezug auf den Verfassungsstaat geschichtlich, normativ, inhaltsbestimmt zu verstehen, wie dies etwa von Georg Jellinek, Hermann Heller, Rudolf Smend, Konrad Hesse, Richard Bäumlin und Otto von Gierke entwickelt worden ist42. Ausgeschlossen ist und bleibt aber der Anspruch nichtstaatlicher Verbände und Organe oder privater einzelner, (neue) überstaatliche (Wert-)Maßstäbe für den Staat verbindlich festzulegen, ihn in dieser Richtung zu verpflichten 43. Es hegt auf der Hand, daß ein solches Vorbringen zu den wesentlichen Bausteinen im Konzept der Gewaltbefürworter gehört, öffnet doch die Vorstellung von der allgemeinen Gültigkeit selbstgestrickter politischer Moralität der Illegitimitätspropaganda Tür und Tor. Die Gewährung dieses Anspruchs hieße indes, die Staatsgewalt in ihrer Souveränität außerstaatlichen Mechanismen preiszugeben, sie zum Spielball gesellschaftlicher, weitenteils emotional-irrational gesteuerter Auseinandersetzungen zu machen, sie folglich ihrer inneren Unabhängigkeit zu berauben. Ebenso gebührt die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit in Anlehnung an das Prinzip der "Einseitigkeit" (Herbert Krüger) trotz aller koordinationsrechtlicher Züge in der Verfassung des Pluralismus allein dem Staat bzw. den nach seiner Ordnung dazu berufenen Organen. Damit rückt ein weiterer Wesenszug des modernen Staates ins Blickfeld: seine Allgemeinheit44. Nicht die opportunismusanfällige, exklusive Einzelfallorientierung, sondern die das Ganze er- und umfassende Allgemeinheit ist die Maxime staatlichen Handelns. Nur das für alle geltende Gesetz, das durch seine Allgemeinheit in einem letzten, normativen Sinne Vernünftigkeit (im Sinne der Kantschen 41
Dazu noch unten 3. Kap., A, III, 2, 3.
42
Vgl. dazu mit Nachweisen P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem
der Souveränität, S. 369 f., 375. 43
Vgl. P. Dagtoglou, Stichwort "Souveränität", EvStL, Sp. 3160.
44
Zu dieser vgl. Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 92 ff.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
147
Ethik) besitzt, kann für alle Geltung beanspruchen und Akzeptanz begründen. Aus alldem ergibt sich die eminent staatliche Vorstellung von der Über- / Unterordnung. Sie ist heute indes genauso eminent unpopulär. Ihre Erwähnung in der politischen Diskussion disqualifiziert den Redner in der öffentlichen bzw. veröffentlichten Meinung unweigerlich zum Reaktionär und schürt infolge eines verbreiteten asozialen Autonomiedenkens aggressives Abwehrverhalten. Gewiß wird mit dem Festhalten am Modell der Subordination neueren Tendenzen in der Politikwissenschaft, die im Begriff des "government" das Nebeneinander von Staat und pluralistisch strukturierter Gesellschaft aufzulösen suchen, eine Absage erteilt. Bei der hier vertretenen Position handelt es sich jedoch nicht um ein Relikt etatistisch überzogenen, demokratiefeindlich gestimmten Souveränitätsdenkens, nicht um den ersten Schritt auf dem Weg zurück zur Souveränität als Kampfbegriff obrigkeitsstaatlicher Provenienz. Denn Einzigkeit und Einseitigkeit der Staatsgewalt bedeutet nicht Unbeschränktheit. Grenzen der Staatsgewalt ergeben sich vielmehr gerade aus ihrer hier beschriebenen Eigenschaft. Danach ist sie an die hinter ihr stehende, durch sie aktualisierte Macht des Staates gebunden. Staatsgewalt ist nur die notwendig dem Staat vorbehaltene machtbildende45, machtbestätigende und machtsichernde Gewalt. Souveränität bedeutet dabei "nicht nur tatsächliche Macht, sondern zugleich rechtliche Macht"46. Souveränität als Rechtsinstitut meint auch die Macht, "Rechtsnormen und Rechtsverhältnisse im Höchstmaß richtig und wirksam begründen zu können"47, denen wegen ihres Zuhöchstseins, ihrer Vollkommenheit dann auch die Staatsgewalt unterliegt. Souveränität ist folglich "keine Freiheit zur Beliebigkeit und Willkür und keine Freiheit im luft- und rechtsleeren Raum"48. Sie ist auch nicht etwas bloß Faktisches, nicht nur von der tatsächlichen Möglichkeit her, die letztlich auch über jede rechtliche Gebundenheit erhaben ist49, zu beurteilen - etwa im Sinne Carl Schmitts 50: "Souverän ist, wer über
45
Vgl. Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 855.
46
H. Quaritsch,
Staat und Souveränität, Bd. I, S. 43. Bei /. Isensee, in: Handbuch des
Staatsrechts I, § 13, RdNr. 69, geht dieser Aspekt in der Rechtseinheit als Facette staatlicher Einheit auf. 47
48 49
Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 857. P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, S. 375. So aber H. Heller, Staatslehre, S. 276. Zum Ganzen Herbert Krüger, Allgemeine Staatsleh-
re, S. 851 ff.
148
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
den Ausnahmezustand entscheidet", oder Ernst Rudolf Hubers 51 : "Souverän ist, wer über die Wehrmacht gebietet". Vielmehr ist auch die Staatsgewalt strikt an das Recht gebunden, unter der Verfassung des Grundgesetzes selbst in der Eigenschaft als (verfassungsändernder) Gesetzgeber, gemäß und im Umfang des Art. 79 GG. Insoweit läßt sich von einem Primat der rechtlichen Verfassung 52, von der Souveränität der Verfassung sprechen53. Damit wird auch ein weiteres deutlich, nämlich die Loslösung des Souveränitätsbegriffs von seiner Fixierung auf den Ausnahme- und Konfliktfall. Souveränität ist primär gekennzeichnet durch Normalität 54. Sie verwirklicht sich vor allem im alltäglichen Verlauf des Staats- und Verfassungslebens, und zwar - wegen des positiven Verhältnisses korrelativer Zuordnung von Normalität und Normativität (Hermann Hellet 5) und des in der Legitimität verwurzelten Gemeinwohlbezugs der Macht - durch ihre Ausrichtung am Gemeinwohl. Die Staatsgewalt wird bestimmt durch das Gemeinwohl56. Und: Nur gegenüber den Notwendigkeiten des Gemeinwohls ist auch Bürgergehorsam zumutbar und mit der sittlichen Persönlichkeit des Bürgers vereinbar 57. Gegenüber nicht (auch) dem Gemeinwohl dienenden (rechtswidrigen) Privat(wohl)interessen ist (gewaltsam erzwungener) Gehorsam von Staats wegen unduldbar und unerträglich. Sinn und Ziel der Souveränitätsidee ist die Idee von der Vollkommenheit und Einheit der Macht zur Organisation und Herstellung einer politischen
so 51
Politische Theologie, S. 11. Heer und Staat, S. 245.
52
Vgl. P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, S. 368, unter Bezugnahme auf Κ Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, S. 20. 53 So P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, S. 368, 395. 54
Vgl. P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, S. 367, 376, 377; P. Dagtoglou, Stichwort "Souveränität", EvStL, Sp. 3163; J. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 88. 55 Staatslehre, S. 211, 284 ff. 56
Vgl. Herben Krüger,
Allgemeine Staatslehre, S. 879 ff.; P. Häberle, Zur gegenwärtigen
Diskussion um das Problem der Souveränität, S. 376. 57
Siehe Herben Krüger,
Allgemeine Staatslehre, S. 879. - Hier wird auch die Gemein-
schaftsbezogenheit des Bürgers als der einen Komponente des vom Verfassungsstaat vorausgesetzten Menschenbildes virulent. Vgl. dazu BVerfGE
4, 7/15 f.; E 25, 269/285; E 45,187/227
f. m.w.N.; aus dem Schrifttum neuerdings P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
149
Entscheidungs- und Wirkungseinheit (Hermann Hellet). Ihr normales Erscheinungsbild besteht darin, durch die Bewältigung der im Normalzustand gestellten sachlichen Aufgaben einheitsstiftend zu wirken 59, um damit die Herstellung eines zu einem harmonischen Ganzen organisierten Gefüges zu erreichen, in dem zwar auch die Gegner der Macht ihren Platz haben, allerdings hinter dem Übergewicht der machtvollen, konventionell-integrativen Kräfte zurücktreten 60. So wie die staatliche Einheit zum Prinzip der Einheit des Staates nötigt, benötigt umgekehrt die Einheit des Staates die staatliche Einheit. Sie ist die notwendige Konsequenz, ohne die die Einheit des Staates in der Wirklichkeit keinen Niederschlag finden würde. Die reale Wirkungseinheit als der (soziologisch-deskriptive) Inbegriff allen staatlichen Seins und Tätigwerdens ist aber auch ihrerseits nicht begreifbar ohne die Anerkennung der Souveränität des Staates. Sie ist ihr Kern, ihre Funktionsbedingung, ihr Garant. Ohne die Achtung der Einheit des Staates ist einem einheitlichen, harmonischen Staatsleben der Boden entzogen. Bei anhaltendem Rückzug der Staatsgewalt vor den Waffen der (rechtswidrigen) privaten Gewalt gerät dieser Sinn und Zweck in Gefahr. Nicht nur am Ort des Geschehens wird dann das Bild des Staatsgefüges von hochexplosiver Disharmonie beherrscht. Der Verlust des Charakters der Allgemeinheit und die Verselbständigung der Staatsgewalt gegenüber der sie (formal-)rational rechtfertigenden Machtbasis, die etwa aus Gründen politischer Opportunität hingenommen werden, führen wegen ihres "Vorbildeffektes" geradewegs in eine grassierende Respektlosigkeit und ein wachsendes Akzeptanzdefizit gegenüber dem Staat und seinen Entscheidungen61. Die Loyalität des Staatsbürgers kann durch Duldung von Anarchie gleichermaßen verspielt werden wie durch ungerechtfertigten staatlichen Gewalteinsatz und Despotie. Auch ein noch so dezidierter Gegner und Streiter wider einen Absolutheitsanspruch des Staates muß daher private Gewalt (in politicis) ablehnen, will er nicht den Staat an sich als Organisationsmodell verabschieden.
58
Staatslehre, S. 259 ff., 269 ff. Zur politischen Einheit als Aufgabe siehe Κ . Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNrn. 5 ff. 59
Vgl. P. Häberle, Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souveränität, S. 367, 377; auch/. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNrn. 56,58. 60 Zur Struktur der Staatsmacht siehe H. Heller, Staatslehre, S. 271 ff., und unten 3. Kap., A, I V , 3. 61
Dazu oben 2. Kap., B, insbes. III.
150
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
2. Das Prinzip der Legitimität
Die Inhaltsbestimmung der Souveränität des Staates ist nun allerdings der vornehmliche Streitpunkt und die eigentliche Konfliktursache, wenn es um die Rechtfertigung politisch motivierter Privatgewalt geht. Abgestritten wird, zwar nicht grundsätzlich, aber in vielen und beliebig erfindbaren Einzelfällen 62, die Gemeinwohlbestimmtheit der Staatsgewalt und damit die Legitimität der Staatsmacht als der auf das Minimum reduzierten elementaren Gemeinsamkeit, aus der die das Gemeinwohl normativ erfassenden Staatszwecke und Staatsaufgaben deduktiv abgeleitet sind. Die Frage nach den Legitimitätsgrundlagen des Staates ist zugleich eine sehr alte und eine ständig neue Frage. Sie ist fester Bestandteil jeder Staatstheorie überhaupt und gehört zu den Selbstverständlichkeiten jeder politischen Kultur 63 . Sie bedarf insbesondere im Staat der "offenen Gesellschaft", die an Stelle der autoritativen Festsetzung die Konkretisierung der Gemeinwohlinhalte in einem freien, öffentlichen Verfahren leistet64, der Beantwortung. Legitimität ist unabdingbare Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieses Modells65. Nur in einer legitimen Ordnung vermag sich Gemeinwohl zu bilden. Zwischen Souveränität und Legitimität besteht folglich ein unauflöslicher Zusammenhäng. "Die Souveränität des Staates hängt von seiner Legitimität ab, und die Legitimität begründet seine Souveränität."66 Die souveräne, legitime Macht des Staates entsteht so stets neu, ist nicht als Ergebnis, als etwas einmalig und unumstößlich Festgestelltes faßbar, sondern als Prozeß67. Genau in diesen Prozeß brechen die - in der Regel gewaltbereiten - Propagandisten der Illegitimität ein und "verkünden" eine dogmatisierte neue Legitimität, an der alles Staatshandeln auszurichten sei. Die Frage nach der Legitimität des Staates wird für die pluralistische, freiheitliche Gesellschaft um so brisanter als die politische Kultur, wie ge-
62
Siehe oben 2. Kap., B, insbes. I.
63
Vgl. etwa H. Heller, Staatslehre, S. 245 ff.; U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 1; /.
Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 105. 64
Vgl. statt vieler P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, z.B. S. 46, 49
ff., 52, 88,101. 65
Vgl. auch M. Stolleis, Stichwort "Gemeinwohl", EvStL, Sp. 1062 f.
66
M Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 19.
67
Vgl. P. Graf Kielmansegg, PVS 12 (1971), S. 373; siehe auch M. Stolleis, Stichwort "Ge-
meinwohl", EvStL, Sp. 1062, für das Gemeinwohl. Zum Ganzen noch unten 3. Kap., A , I I I , 2.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
151
genwärtig, weniger vom Bestand, sondern mehr vom Zerfall an Selbstverständlichkeiten geprägt ist. So nimmt es nicht Wunder, daß sie seit Jahren einen Spitzenplatz in der soziologischen und politologischen Themenliste, weniger in der juristischen Staatslehre, einnimmt. Zu den Protagonisten zählt Jürgen Habermas^ Mit seinen Überlegungen zu Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus69 oder zur Krise des Wohlfahrtsstaates infolge einer "neuen Unübersichtlichkeit"70 schafft er das theoretische Gerüst, mit Hilfe dessen sich eine Legitimationskrise, ein Auseinanderfallen von Legalität und Legitimität (verfassungs)staatlichen Handelns begründen und damit der Zeitpunkt des Eintretens einer bürgerlichen Pflicht zum Ungehorsam bestimmen läßt71. Als (Bewertungs-)Kategorie ist die Legitimität entstanden aus der geisteswissenschaftlichen Trennung von religiös-ethisch-moralischen Überzeugungen einerseits und irdischem Recht und Gesetz andererseits 72. Sie bildet heute die Brücke zwischen Vernünftigkeit und Verbindlichkeit. Zum Problem wurde sie im Moment der tatsächlichen Loslösung der Politik von einem monistisch-metaphysischen Weltbild im Vorgang der Säkularisation. Die Staatsmacht vermochte sich nicht mehr auf einheitlich akzeptierte, unangefochten geltende religiös-ethische Grundlagen zu berufen und darauf ihren Gehorsamsanspruch zu stützen. Der säkularisierte, weltanschaulichkonfessionell indifferente Staat hat mit seinem Rückzug aus der Verantwortung für die Heilswahrheit in die (allenfalls) vorletzten Dinge der innerweltlichen Nützlichkeit73 die Kraft der Religion als Fundament der staatlichen Einheit verloren 74. Das Gleiche gilt für weite Teile naturrechtlichen Gedan-
68 69 70 71
Vgl. schon 2. Kap., Β, I, insbes. 3 b. J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. /. Habermas, Die Krise des Wohlfahrtsstaates, S. 141 ff. Politischer Aktionismus verbunden mit "Regelverletzungen" und Gewaltsamkeiten aus
Gründen empfundener Illegitimität legalen Staatshandelns ist freilich nicht nur auf der linken Seite des politischen Spektrums zu beobachten. Nicht weniger hinterläßt der Rechtsradikalismus Spuren der Gewalt. Die Theoretiker des bürgerlichen Ungehorsams finden sich indes bemerkenswerterweise allein im Dunstkreis linksideologischer Programmatik. 72
Vgl. Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 9. 73
Vgl. /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 50.
74
Vgl. E.-W. Böckenförde,
Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S.
42 ff.; J. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 46 ff.; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 32 ff.
152
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
kenguts75. An ihre Stelle trat die Pluralität der Anschauungen und Wertsysteme. Das Konzept der Legitimität sucht nun diese Pluralität im Gemeinwesen auf eine gemeinsame, homogenitätsverbürgende Grundlage zurückzuführen und damit aufzuheben 76 mit dem Ziel, die Bildung staatlicher Einheit zu ermöglichen. Dabei akzeptiert der Verfassungsstaat den Pluralismus als legitime Vorfindlichkeit, seine Einheit baut auf der Vielheit auf und paßt sich ihr als komplementäre Gegenordnung an77. Allerdings entartet der Pluralismus zur Anarchie, wenn nicht ein Mindeststandard an ethischer Homogenität, ein gemeinsamer sozialethischer Nenner ebenfalls vorfindlich ist78. Politische Entscheidungen sind in der "offenen Gesellschaft" stets Wertentscheidungen und als solche allenfalls apriorisch "begründbar". Es gibt demnach keine absolut richtige oder falsche Politik. Sie ist stets ein Prozeß von Versuch und Irrtum ("trial and error"). Mit der Frage nach der Legitimität des Staates ist daher die Frage danach gestellt, was den Staat im Laufe dieses Prozesses, also auch in der Phase des Irrtums zusammenhält, auf was er sich stützt, stützen darf und muß79. Zur freiheitlich-pluralistischen Ordnung gehört demnach ebenso ein Bereich des legitimen Dissenses wie ein Bereich des notwendigen Konsenses80. Auch die Inhalte dieses Grundkonsenses geraten freilich auf die Themenliste der öffentlichen Auseinandersetzung, meist im Rahmen der politischen Kontroverse über einen bestimmten Entscheidungssachverhalt, die dann in typisch deutscher Manier zum Grundlagen- und Prinzipienstreit hochstilisiert wird. Je mehr dieser von radikal-egoistischen Zügen geprägt ist, desto eher werden die Legitimitätsinhalte zur Quelle potentieller Gewalt81 und um so weniger wird die schließlich verfügte Entscheidung ihrer Aufgabe zur Kompromißbildung und Befriedung gerecht82 - geht 75
Deshalb spricht sich/. Burmeister, in: Gedächtnisschrift für Geck, S. 117, für dessen Wie-
derbelebung aus. 76
Vgl. Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 9.
77
Vgl. /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 55.
78 79
Vgl. W. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten, S. 128 ff. m.z.N.
Vgl. E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S. 61: "Worauf stützt sich dieser Staat am Tag der Krise?" 80 Vgl. /. Isensee, NJW 1977, S. 545. 81
Vgl. auch U. Matz, Politik und Gewalt, S. 139 f.
82
Zum politischen Kompromiß in der Verfassung des Pluralismus siehe H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 375 ff., bes. S. 404 ff.; ders., JbRSoz. 13 (1988), S. 290 ff.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
153
es doch um etwas Grundlegendes. Hier greift dann das spezifische Instrument ein, mit Hilfe dessen der moderne Staat seine Souveränität sichert und damit Einheit schafft und wahrt: die monopolisierte vis-Gewalt des Staates als ein Sektor seiner potestas-Gewalt83. Sie schützt den Staat, seine Souveränität und Gemeinwohlfähigkeit sowie die Bedingungen des legitimen politischen Prozesses vor der Überwältigung durch partikulare Kräfte 84.
I I I . D i e L e g i t i m a t i o n des S t a a t e s a l s F r a g e s e i n e r A n e r k e n n u n g s w ü r d i g k e i t 1. Legitimität als materiale Rationalität u n d rechtliche Kategorie
Der Begriff der Legitimität hat eine lange Geschichte hinter sich85; er ist dementsprechend kein einheitlicher Begriff 86. Im wesentlichen lassen sich zwei Grundlinien voneinander unterscheiden: das ethisch-normative und das sozialwissenschaftliche Begriffsverständnis 87. Der soziologisch-deskriptive Aspekt der Legitimität erfaßt in einem allgemeinen Sinne die tatsächlich im politischen Bewußtsein der Bevölkerung vorhandenen Mechanismen der Rechtfertigung politischer Herrschaft. Gefragt wird danach, ob und aus welchen Motiven eine staatliche Ordnung tatsächlich akzeptiert, d.h. ihr Gehorsam geleistet wird 88. Die inhaltliche Begründung der Gehorsamsmotivationen, die innere Rechtfertigung der tatsächlich vorgefundenen Akzeptanz einer Ordnung bleibt außerhalb dieser (reinen) Betrachtungs-Weise. Sie geht namentlich auf Max Weber zurück. Zu Beginn der Weimarer Republik sorgte er für eine grundlegende Neuorientierung des Legitimitätsbegriffs, die auch nicht ohne Einfluß auf die Staatslehre blieb. Während die positivistischen Staatsrechtslehren die Legitimität entweder überhaupt aus dem Bereich der Rechtswissenschaft verwiesen oder sie allein an die ("Reine") Rechtsgeltung geknüpft hatten, ging Max
83
Vgl. /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 76.
84
Vgl. auch /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 90.
85 86 87
Zu dieser stellvertretend Th. Würtenberger,
Art. Legitimität, Legalität, S. 677 ff.
So auch Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 63. Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 161; H. Quaritsch, Stichwort "Legalität, Legi-
timität", EvStL, Sp. 1989 ff.; Th. Würtenberger,
Art. Legitimität, Legalität, S. 679; differenzier-
ter ders., Legitimität und Gesetz, S. 534 f. m.w.N. 88 Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 1612; ders., ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 84; Th. Würtenberger,
Art. Legitimität, Legalität, S. 679, 735.
154
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
Weber von empirisch möglichen Legitimitätsvorstellungen aus. Für ihn bedeutete die Geltung einer Ordnung die bloße Chance, daß das Handeln "an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert" 89 wird. Der Gehorsam der Herrschaftsunterworfenen bzw. der Adressaten staatlichen Handelns basiere aller Erfahrung nach auf ihrem Glauben an die rechtfertigende Wirkung der Tradition (traditionale Herrschaft), der Heiligkeit oder Heldenkraft einer Person (charismatische Herrschaft) oder der Legalität gesatzter Ordnung (rationale, legale Herrschaft) 90. Die heute geläufigste Legitimitätsform ist die der rationalen Legitimation. In der geschichtlichen Entwicklung löst sie die Dominanz traditionaler und charismatischer Legitimitätselemente ab. Insbesondere die absolutistische Monarchie hatte insofern den "Zeitgeist" zu spüren bekommen. Das heißt jedoch nicht, daß sich im heutigen Legitimitätskonzept keine traditionalen oder charismatischen Spuren mehr finden lassen. Die Rechtfertigung politischer Macht kann, wie eine historische Analyse des Legitimitätsphänomens zeigt, nicht nur durch einen oder einige wenige Legitimitätsgründe erfolgen 91. Frühere Stufen der Legitimitätstypologie wirken noch (unter anderen Vorzeichen) fort 92. Dennoch sind und bleiben es vor allem die Elemente der rationalen Legitimation, die die sich heute stellenden Fragen nach der Legitimität des Staates beantworten und die nicht zuletzt die Entwicklung des modernen Staates zum demokratischen Verfassungsstaat befördert haben. Allerdings ist nicht die "Legalitätsgläubigkeit", d.h. die "Fügsamkeit gegenüber formal korrekt und in der üblichen Form zustandegekommenen Satzungen"93, die noch in der Legitimationstypologie Max Webers den Begriff der Rationalität ausfüllte 94, das Wesentliche der rationalen Legitimität, son-
89
M Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 16.
90
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft S. 122 ff.: "Die Typen der Herrschaft". 91
Vgl. auch Th. Würtenberger,
92
Insoweit deutlich W. Maihofer,
Stichwort "Legalität, Legitimität", Staatslexikon, Sp. 874. ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 18 f. Siehe auch noch so-
gleich. 93
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 19.
94
Zum Weberschen Konzept der Legitimität kraft Legalität als einer Kategorie der "verstehenden Soziologie", insbes. zu den weitverbreiteten, gleichwohl unzutreffenden Vorwürfen, dabei handele es sich um ein rechtspositivistisches Konzept oder es sei hier Legitimität auf Legalität und Legalität auf Legitimität gegründet, vgl. jüngst W. Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 61 ff., 116 ff.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
155
dem die Begründbarkeit, die Akzeptierungsfähigkeit in einem materialen Sinne95. Das Bedürfnis nach einer materialen Legitimationsgrundlage gelangte in Deutschland namentlich mit dem Ringen des Weimarer Staates um Anerkennung an die politische und staatsrechtliche Oberfläche. Die Legitimität seiner Ordnung wurde schließlich mit naturrechtlichen Kategorien begründet, wie sie in der revolutionären Idee im allgemeinen verankert sind und in dieser Epoche im besonderen wirksam waren96. Im Zuge der damit (wieder)erwachten Legitimitätsdiskussion beendeten legitimistische Staatsrechtslehren die Vorherrschaft des staatsrechtlichen Positivismus und bahnten normativen Legitimitätskonzepten den Weg. Ihnen geht es bei aller Unterschiedlichkeit im einzelnen97 an Stelle (bzw. neben98) der bloßen (sozialwissenschaftlichen) Erklärung, welchem (meßbaren) Legitimitätsglauben die Staatsgewalt tatsächlich den Gehorsam verdankt, um den Nachweis der Berechtigung staatlicher Macht in einem materialen Sinne. Ausgangs- und Endpunkt ist heute ein normatives Begriffsverständnis 99, das die Legitimität als Bewertungskriterium einer politischen Ordnung 100, als Urteil über die "richtige" Staatsform und die "gerechte" Ausübung staatlicher Herrschaft 101, als Rechtfertigung staatlicher Machtentfaltung durch allgemeinverbindliche Prinzipien bezeichnet102. Die Anerkennung einer bestimmten politischen 95
Vgl. M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 36. 96
Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 496 ff.; Th. Würtenberger, Legalität, S. 735 m.w.N.
Art. Legitimität,
97
Einen instruktiven Uberblick gibt Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 28 ff. 98
H. Heller, Staatslehre, S. 254, etwa unterscheidet, wohl beeinflußt von M. Weber, in der Folge seines wirklichkeitswissenschaftlichen Ansatzes die "soziale Legitimierung der rechtsichernden Autorität" von der "ideellen Rechtfertigung des Staates durch sittliche Rechtsgrundsätze". Letztere müsse "für eine wirklichkeitswissenschaftliche Staatslehre als ausgemacht gelten". 99 Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 1611. 100
Vgl. Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 63 f.: Daraus ergebe sich die "wichtigste Aufgabe des Legitimitätskonzepts überhaupt: es begründet die Unterscheidung zwischen legitim und illegitim. Illegitim ist, was seinerseits nicht legitim ist". 101 Vgl. Th. Würtenberger, Art. Legitimität, Legalität, S. 678; H. Quaritsch, Stichwort "Legalität, Legitimität", EvStL, Sp. 1990; Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 64. 102
Siehe Th. Würtenberger,
Art. Legitimität, Legalität, S. 677; ders., Stichwort "Legalität,
Legitimität", Staatslexikon, Sp. 874.
156
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
Ordnung als etwas zu Recht Bestehendes und damit als etwas Verbindliches und Verpflichtendes 103 ist nicht mehr LegitimitätsWirkung, sondern Legitimitätsgn/nd104. Die Legitimität des Staates meint heute die "Anerkennungswürdigkeit"105 bzw. die "Billigungswürdigkeit"106 seiner Ordnung(smacht) und erwirbt damit mehr als nur eine Chance des Gehorsams in Folge eines sich an formale Legalität anschließenden Legitimitätsglaubens. Inhaltlich geht es ihr um die tiefere Verankerung des Staates in höheren Wertsetzungen, um die letzten Verbindlichkeitsgründe staatlicher Herrschaft 107, die namentlich die Frage beantworten, warum die Menschen im Einzelfall auch solche Normen und Entscheidungen als verbindlich annehmen (sollen), die ihnen nicht vernünftig erscheinen. Nicht (mehr) hinreichend ist eine rein formal-rationale Legitimation der staatlichen Herrschaftsordnung durch die tatsächliche Erlangung und Behauptung der Macht bzw. Mehrheit, wie es noch die "absolute" Demokratie des nachrevolutionären Frankreich genügen ließ. Die "konstitutionelle" Demokratie sucht die Mehrheitsherrschaft zu einer auch material legitimierten Herrschaftsordnung zu machen108, indem sie sich auf tiefere, ihr dauerhafte Anerkennung einbringende Grundlagen stützt. Diese finden sich in "ethischen Imperativen, utilitarischen Regeln und politischen Maximen", d.h. in Elementen einer materialen Rationalität, wie sie Max Weber schließlich in seiner "Rechtssoziologie" herausgearbeitet hat109. "Die materiale Rationalität ist der Motor, ... ist das schlagende Herz des modernen Staates", wie Martin Kriele 110 treffend formuliert 111. Das ihr innewohnende 103
Vgl. W. Maihofer, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 17.
104
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 155 f., spricht hier von "demokratischer Legitimität" - als Folge einer antiautoritären Umdeutung des primär autoritär gedeuteten charismatischen Legitimitätsprinzips. 105 H. Quaritsch, Stichwort "Legalität, Legitimität", EvStL, Sp. 1992, unter Bezugnahme auf /. Habermas. 106
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 114.
107
Vgl. Th. Wünenberger, Art. Legitimität, Legalität, S. 677, sowie Κ Stern, Staatsrecht I, §
5,1, 2, d. 108
Siehe dazu W. Maihofer, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 19 ff.
109
Siehe M. Weber, Rechtssoziologie, S. 261 ff. Sein im Vergleich engerer Rationalitätsbegriff in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122 ff., erklärt sich wohl aus dem zeitgeschichtlichen Kontext. So M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 35 f. 110 Einführung in die Staatslehre, S. 37. 111 Erst aus diesem, heute allgemein vertretenen Verständnis des Legitimitätsproblems als eines Problems der material-rationalen Begründbarkeit des Staates folgt der Vorwurfscharakter der Habermasschcn These vom "autoritären Legalismus".
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
157
Prinzip ist das "Prinzip des politischen Realismus", was bedeutet, daß das 'fundamentalere Interesse" vorgeht, d.h. das Interesse, dessen Befriedigimg Voraussetzimg dafür ist, daß die weiteren höheren Interessen befriedigt werden können112. Die fundamentaleren Interessen ausfindig zu machen, ist der Inhalt politisch-praktischer Vernunft und der Kern der materialen Rationalität. Dies kennzeichnet und bestimmt die Geschichte des demokratischen Verfassungsstaates. Das in diesem Sinne "fundamentalste" Interesse aber ist der innere Friede. Er ist die notwendige Bedingung für die Entwicklung einer "guten" Staatsordnung im übrigen 113. Auch jede Legalität muß sich folglich am Maßstab dieser material-rationalen Legitimität messen lassen, und das meint auch und insbesondere an den Ideen und Vorstellungen der Gerechtigkeit. Die Legitimität des Staates ist daher vor allem eine rechtliche Kategorie 114. Zu ihr zählt wesentlich die Übereinstimmung des staatlicherseits gesetzten Rechts mit den Forderungen einer gerechten (Rechts-)Ordnung in einem höheren (nicht mehr naturrechtlichen) Sinne115. "Legitimität setzt stets eine Anerkennung im Recht voraus."116 Die Rechtmäßigkeit der Ordnung im Sinne einer tatsächlich im Staate existierenden Gerechtigkeit bzw. des Strebens nach ihr ist zwar nicht das alleinige, aber ein gewichtiges Element dessen, was den Staat in seinem Innersten zusammenhält. Sie bildet die Grundlage für den dauerhaften Bestand der Ordnung und ermöglicht Vertrauensbildung "in" den Staat117. Die Rationalität solcher Legitimation ist daher auch "juridische Rationalität" im Sinne Helmut Schelskys 118. Damit verbietet sich jede rigorose Moralisierung und Ideologisierung von Legitimität. Die Rechtfertigung der staatlichen Ordnung in den höheren, überstaatlichen Grundsätzen der Gerechtigkeit und tranzendenten Geltun112
M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 40 ff., 46. Siehe dazu näher unten 3. Kap., Β, I.
113 114
So U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 8; vgl. auch H. Quaritsch, Stichwort "Lega-
lität, Legitimität", EvStL, Sp. 1990. 115 Vgl. auch Th. Würtenberger, Art. Legitimität, Legalität, S. 677: "Der Legitimitätsbegriff transzendiert das bloß gesatzte Recht." 116
U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 9.
117
Durchaus im Sinne eines "System-Vertrauens" nach N. Luhmann, Vertrauen, S. 57 ff.; zitiert 11C auch bei Th. Würtenberger,
Art. Legitimität, Legalität, S. 678 F N 3.
H. Schelsky, Die Soziologen und das Recht, S. 34 ff. Vgl. auch W. Maihofer, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 20.
158
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
gen unterscheidet sich von jeglichen "stets in einer Vielzahl vorhandenen sozialen Legitimierungsideologien deutlich durch ihre Allgemeingültigkeit, die sie für alle Angehörigen dieses Staates" beansprucht119. Die Maßstäblichkeit politisch-ideologischer Prämissen und unüberprüfter, theoretischer Modelle für die Legitimität führt nur zu einer Manipulation der Legitimation und zu einer Entstaatlichung des Legitimitätsbegriffs 120. Ein ideologisch-funktionalistisches Legitimitätsverständnis, wie es sich etwa durch die Habermasschen Theorien wie ein roter Faden zieht121 und das mit dem elitären Anspruch auf unumstößliche "Wahrheit" auftritt, ist daher nichts anderes als eine autoritäre Instrumentalisierung der Legitimitätsidee und das auch noch im Zeichen mittlerweile endgültig verabschiedeter Heilslehren. Hierin liegt auch die Gefahr, wenn in der Soziologie und Politologie allgemein vom Wahrheitsbezug von Legitimationen gesprochen wird. Ist die Suche nach der Legitimität heute also vor allem die nach den allgemeingültigen ethisch-rechtlichen Prinzipien, so bleiben dennoch Tradition, historische Kontinuität und kulturelle Verwurzelung nach wie vor gewichtige Legitimationsquellen politischer Herrschaft 122. Sie tragen eine gewisse Vermutung der Vernünftigkeit und Richtigkeit in sich123, insofern sie Alt-Bewährtes überliefern. Ein in diesem Sinne konservatives Legitimitätskonzept ist zwar noch kein hinreichendes, schon gar nicht für den gegenüber der Zeit "offenen" Verfassungsstaat. Indes läßt sich durchaus schon heute von einer legitimitätserzeugenden, "bewährten Tradition des demokratischen Verfassungsstaates und seiner Rechtskultur"124 sprechen, wie sie die politische Geschichte vor allem Englands, der USA und Frankreichs, aber auch - trotz der vielfältigen Traditionsbrüche 125 - die Entwicklung in
119
H. Heller, Staatslehre, S. 254.
120
So auch Th. Wünenberger, Art. Legitimität, Legalität, S. 739.
121
Erkennbar vor allem in /. Habermas, Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus. Zur Kritik siehe U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 1 ff. 122
Das betont auch Th. Würtenberger,
Stichwort "Legalität, Legitimität", Staatslexikon, Sp.
875; ders., Legitimität und Gesetz, S. 540 f. 123
Weil sich dies nur wieder nach den Kriterien der materialen Rationalität bemessen lasse, meint M. Kriele,
Einführung in die Staatslehre, S. 37, daß sich die traditionale gegenüber
der material-rationalen Legitimation nicht mehr behaupten könne. 124 Th. Wünenberger, Art. Legitimität, Legalität, S. 738 f., mit Hinweis auf H. Hofmann , Legitimität und Rechtsgeltung, S. 72 f. 125
Dazu E. Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
159
Deutschland hervorgebracht hat126. Das charismatische Legitimitätselement hat demgegenüber einen Bedeutungswandel erfahren. Die Legitimität moderner, demokratischer Staatswesen ist nicht mehr, wie noch im autokratischen Staat, auf die "Heldenhaftigkeit" einer Herrscherpersönlichkeit gegründet. An ihre Stelle ist die politische Autorität des Staatsorgans bzw. des Amtes getreten. In Verfassungsstaaten westlicher Prägung genießen etwa die Verfassungsgerichtsbarkeit und - in abgeschwächtem Maße auch - das Parlament, in der BR Deutschland ebenso das Amt des Bundespräsidenten, hohes Ansehen und Autorität und vermögen dadurch zur Legitimität der Staatsgewalt beizutragen127 - freilich um so mehr, als diese staatstragenden Institutionen auch von Persönlichkeiten mit "staatsmännischem" Charisma ausgefüllt werden (sollten)128. Auch hier wird der Zusammenhang von politischer Kultur und politischer Klasse129 gegenwärtig130.
2. Die Grundlegung des Staates in ethischen Wertsetzungen
Fragt die moderne Legitimitätstheorie also nach der Gesamtheit der Mechanismen, Ideen und Vorstellungen, die eine Ordnung als anerkennungswürdig erscheinen lassen131, so ergibt sich daraus, daß die wirkliche Zustimmung, der tatsächliche Konsens, also die faktische Macht einer Herrschaftsordnung allein für den Legitimationsbedarf moderner Staatlichkeit als nicht hinreichend angesehen wird. Verlangt wird vielmehr, daß sich in der Macht des Staates und seinem Handeln die überstaatlichen Wertekonzepte und 126
Das BVerfG
( E 5,85/379) spricht allerdings von "ungebrochener Tradition". Vgl. in die-
sem Zusammenhang auch A. Blankenagel, Tradition und Verfassung. - Zu Einfluß und Fortwirkung der französischen Revolution vgl. P. Häberle, 1789 als Teil der Geschichte, S. 61 ff. 127 128
Vgl. auch Th. Würtenberger,
Stichwort "Legalität, Legitimität", Staatslexikon, Sp. 875.
Dies gilt insbesondere dort, wo - wie etwa in Staaten mit einer Präsidialverfassung (z.B. Frankreich) - die politische Ordnung stark auf eine zentrale Figur zugeschnitten ist. 129
Siehe dazu den Beitrag von Ralf Dahrendorf,
Die Quadratur des Zirkels. Wie entsteht
politische Kultur?, in: F A Z Nr. 58 vom 9.3.1990, S. 33. 130 Die Akzeptanz und Legitimität der "konkreten Politik" (R Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 17 I V 3) freilich ist in größerem Maße vom Charisma des Politikers und seiner Integrationskraft abhängig. Dabei gewinnt die Person des Politikers an (nicht ungefährlicher) Bedeutung, je mehr der demokratische Wettbewerb der Sachargumente von den (Manipulationen Vorschub leistenden) Regeln der "Stimmungs-Demokratie" bestimmt wird. Hierin, in seiner Funktion auch als Legitimations-Vehikel liegt die besondere Verantwortung des Politikers gegenüber dem Gemeinwesen und seinen Bürgern. 131 Vgl. Th. Wünenberger, Legitimität und Gesetz, S. 535.
160
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
fundamentalen Überzeugungen seiner Bürger in ihrer großen Mehrheit wiederfinden. Das Postulat material-rationaler Legitimität erfordert, daß der den Staat tragende Konsens auch tatsächlich Ausdruck der herrschenden politisch-praktischen Vernünftigkeit ist. Die Legitimität des Staates bemißt sich mithin nach der Wirklichkeit der überstaatlichen, ethisch-rechtlichen Wertsetzungen, die den epochal fundamentalen, im großen und ganzen von der Bevölkerung anerkannten oder wenigstens hingenommenen Wertvorstellungen entspricht 132. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts 133: Einer Ordnung, wie der der Bundesrepublik, kommt Legitimität zu, "weil sie - nicht notwendig in allen Einzelheiten, aber dem Grundsatze nach - Ausdruck der sozialen und politischen Gedankenwelt ist, die dem gegenwärtig erreichten kulturellen Zustand des (deutschen) Volkes entspricht". Die legitime Ordnung ist demnach von der Macht getragen, die die allgemein gültigen, sozial-ethischen Maxime und Imperative, die "Orientierungswerte" 134 des Alltagslebens in sich trägt und im Sinne des Wohls des einzelnen wie der Allgemeinheit verwirklicht und fördert. Sie bildet den Mindeststandard, das "Ordnungssubstrat" 135 des Staates. Darauf ist der souveräne und einheitsstiftende Staat angewiesen1?6. Sie gilt es zu sichern und zu bewahren137. Das bedeutet aber nicht das Verlangen nach einem System allgemeiner Zustimmung. Eine in diesem Sinne vollständige Legitimität, die alle Verbindlichkeit einer chimärischen Vernünftigkeit opferte, liefe auf das Modell der Anarchie und die Verneinung bzw. Überflüssigkeit der Staatsgewalt hinaus138. Eine solche Vorstellung ist und bleibt eine unerfüllbare Utopie, weil das Moment der Unsicherheit und Ungewißheit139, daß der andere sich entsprechend dieser allgemeinen Überzeugungen vernunftgeleitet verhält, nicht ausgeräumt werden kann. Im übrigen erscheint dies um so "utopischer", als das heutige Problem ja keineswegs in
132
So etwa U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 9; M Kriele,
Einführung in die
Staatslehre, S. 37; Hans H. Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 649. 133
BVerfGE
5, 85/379.
134
Zu Inhalt und Funktion von Orientierungswerten siehe P. Häberle, Erziehungsziele, S. 40 ff., 87 ff. 135 Vgl. /. Isensee, NJW 1977, S. 549 und öfter. 136
Oben 3. Kap., A, II.
137 138 139
Zu den "Hütern der Legitimität" und ihren Aufgaben siehe sogleich 3. Kap., A , III, 3. Vgl. auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 37 f. In ihm liegt letztlich die Entstehung des Staates begründet. Siehe unten 3. Kap., Β, I, 2.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
161
einem Zuviel, sondern eher in einem Zuwenig an inhaltlicher Übereinkunft besteht. Die eigentliche Schwierigkeit material-rationaler Legitimation staatlicher Macht hegt in der komplexen und pluralistischen Struktur des Gemeinwesens der Gegenwart, die zu einer fortschreitenden Ausdünnung des notwendigen Grundkonsenses infolge der Verluste an allgemeinen Geltungen und einheitsbildenden Selbstverständlichkeiten führt. Diese Erkenntnis gibt allerdings im Blick auf den Einfluß vor allem des Wertrelativismus und des kritischen Rationalismus Anlaß, an der letzten Begründungs- und Anerkennungsfähigkeit politischer Ordnung zu zweifeln und Legitimität daher nur (noch) auf vorletzte Gründe zu stützen, weil im pluralistischen Staat letzte Gründe politischer Macht nicht mehr plausibel gemacht werden können140. Diese Einschätzung nötigt jedoch nicht zur Aufgabe des Konzepts der Legitimität, verstanden als materiale Rationalität. Insbesondere dürfen diese berechtigten Zweifel nicht zu einem gleichsam buchhalterischen Verständnis von Legitimität führen, die ihre Kraft aus der bloßen Erledigung der sich wandelnden sozialen und ökonomischen Herausforderungen 141 oder aus der Effizienz zieht, mit der der Staat eine theoretisch gesetzte Aufgabe zu erfüllen vermag142. Auch ist - bei aller Gemeinwohlverpflichtung, die der legitime Staat sich auferlegt - Zurückhaltung in einem leistungsstaatlichen Verständnis der Legitimität geboten. Der kritische Rationalismus mahnt lediglich einmal mehr die Legitimitätstheorie, sich von der Postulierung absoluter Wahrheiten fern- und selbst die grundlegenden, normativen Wertekonzepte offenzuhalten für eine kritische Überprüfung ihrer anhaltenden Gültigkeit. Auch noch so prinzipielle Orientierungswerte menschlichen und staatlichen Handelns müssen immer wieder neu durchdacht und möglicherweise fortgeschrieben werden, weil nur "wir selbst der politischen Geschichte einen Sinn geben und ein Ziel setzen können"143. Insoweit sind Orientierungswerte nicht mehr und nicht weniger als "individuelle und kollektive Stationen der Sinngebung in einer als offen gedachten Geschichte"144. Materiale Rationalität ist daher immer und zugleich kritische Rationalität: insofern sie nämlich von dem Prinzip des ständigen (Neu-)Erkennens des fundamentale140
Vgl. dazu die Nachweise (insbes. W. Hennis, J. Habermas, N. Lühmann, C. Offe, Β. Guggenberger) bei Th. Würtenberger, Art. Legitimität, Legalität, S. 736 F N 298. 141 So aber W. Hennis , PVS Sonderheft 7 (1976), S. 22. 142
Insoweit zur Kritik an /. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, siehe U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 2 f. 143 144
K. R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 157. P. Häberle, Erziehungsziele, S. 95.
11 Schmitt Glaeser
162
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
ren Interesses145 beherrscht ist. Demnach wohnt der Legitimität moderner, pluralistischer Staatswesen eine gewisse Dynamik inne. Legitimität kann als ein sich ununterbrochen vollziehender Prozeß verstanden werden 146. Sie erwächst aus der laufenden, konsensualen Bestätigung der normativen, ethisch-rechtlichen Geltungen und Haltungen und begründet damit einen "Investitionswert" der bestehenden Ordnung im Sinne von Heinrich Popitz 147. Damit gewinnen freilich die formalen Bedingungen der Legitimation an Bedeutung, sie erhalten selbst - wie Jürgen Habermas 148 hier zu Recht meint - legitimierende Kraft. Wenn daraus aber die Notwendigkeit permanenter nichtorganisierter, herrschaftsfreier Kommunikation über die Inhalte der Legitimationen gefolgert wird 149 , so verkennt dies, daß formale Regeln im Prozeß der Legitimation keine "Scheinlegitimität" erzeugen, sondern im Dienste gerade materialer Rationalität stehen und vor dieser gerechtfertigt sein müssen150. Im modernen Staat ist eine Legitimation durch konsensbildende Verfahren die wichtigste formale Bedingung der Anerkennungsfähigkeit politischer Macht151. Das meint nicht eine "Legitimation durch Verfahren" im Sinne der Luhmann sehen "Institutionalisierung von Legitimität", nach der Legitimität "auf einem sozialen Klima (beruht), das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen als Selbstverständlichkeit institutionalisiert und ... als Folge der Geltung der amtlichen Entscheidung ansieht"152. Abgesehen davon, daß diese Deutung Assoziationen an die (soziologische) Theorie Max Webers von der Legitimität durch bloße Legalitätsgläubigkeit weckt, reduziert sie den Legitimitätsbegriff auf eine empirische Kategorie, macht ihn zum bloßen Gradmesser politischer Akzeptanz153. Die entscheidende Frage, warum (bestimmte) Verfahrensregeln legitimierende Kraft 145
Siehe dazu oben 3. Kap., A, III, 1.
146
So P. Graf Kielmansegg, PVS 12 (1971), S. 373.
147
Prozesse der Machtbildung, S. 36 ff. PVS Sonderheft 7 (1976), S. 43.
148
149
So /. Habermas, in: ders. / Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 257 ff., 259. Auf diesen Zusammenhang weist auch Th. Würtenberger,
Art. Legitimität, Lega-
lität, S. 736, hin. 150
So auch deutlich M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 36; R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 16 II. 151 Vgl. Th. Würtenberger,
Stichwort "Legalität, Legitimität", Staatslexikon, Sp. 875.
152 153
N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 34. Das ist allerdings auch das Ergebnis der Untersuchung von Chr. Gusy, Legitimität im
demokratischen Pluralismus.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
163
entfalten, bleibt außer Betracht 154. Diese Wirkung setzt den anhaltenden Grundkonsens über die "Richtigkeit" des Verfahrens voraus 155. "Faute de mieux"156 bietet aber anerkanntermaßen in der pluralistischen Gesellschaft das Mehrheitsprinzip die beste, größte und "gerechteste" Chance, daß sich materiale Rationalität durch die Verwirklichung der von den meisten anerkannten Werte einstellt. Es gewährleistet die größtmögliche rationale Annäherung an das, was für möglichst viele konsensfähig ist, und gibt der Macht damit ihre materiale Grundlage. Der demokratische Verfassungsstaat hat dieses Organisationsprinzip daher im Bewußtsein der dauerhaften Zustimmung der ganz überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung unabdingbar festgeschrieben. Es bedarf freilich der Vorkehrungen und Sicherungen, und das heißt insbesondere der Gewährleistung eines friedlichen, freien und offenen Meinungsbildungsprozesses157.
3. Die Hüter der Legitimität
Nur in einem solchen Meinungsbildungsprozeß ist es möglich, die bunte Vielfalt von Meinungen, Wertvorstellungen und Interessen zum Gegenstand allgemeiner Diskussion und Abstimmung zu machen, an deren Ende sich ein Kern gemeinsamer Wertvorstellungen zu bilden vermag, der zugleich die Basis einer Werte-Einheit konstituiert. Fehlt es an der Freiheit, der Offenheit, der Friedlichkeit des Prozesses, dann läßt sich auch die Basis nicht herstellen, der "Weg" zur Legitimität wird verschüttet und es besteht von vornherein keine Chance, jenes Fundament zu errichten und zu bewahren, das die Anerkennungswürdigkeit eines Staates begründet. Die Frage nach der Verhinderung privater Gewalt im politischen Meinungskampf stellt sich damit in dem erweiterten Rahmen der prinzipiellen Frage nach der "Wertebewahrungskompetenz", danach also, wer die Aufgabe und die Befugnis besitzt, über das Fundament zu wachen und es zu hüten, auf das der Zusammenhalt des staatlichen Gemeinwesen - nicht zuletzt
154
Zur Kritik vgl. M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 37 f.; R Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 16 II; auch W. Lübbe, Legitimität kraft Legalität, S. 124 ff. 155 Vgl. Th. Würtenberger, Stichwort "Legalität, Legitimität", Staatslexikon, Sp. 875. 156
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 16 I 3. Zur Funktion des Volkswillensbildungsprozesses siehe schon oben 1. Kap. Zur Funkti-
157
on und Legitimität des Mehrheitsprinzips siehe noch unten 3. Kap., C.
164
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
am "Tag der Krise", im Moment des Irrtums - angewiesen ist. Die sogenannte "Grundwerte-Diskussion" zwischen Politik, Kirche und Wissenschaft, die im Verlauf des Streites um den § 218 StGB ("Fristenlösung" bei Schwangerschaften) Mitte der 70er Jahre geführt wurde, hat sich ausführlich mit diesem Problem beschäftigt 158, das nicht nur auf verfassungsstaatlicher Ebene zeitlose Aktualität besitzt159. Es ist für die Legitimitätsgrundlage des Staates schlechthin von wiederkehrender Relevanz, nämlich zum Beispiel und gerade dann, wenn die Propagandisten der Illegitimität von Staat und Politik ihre (private) Gewaltanwendung mit einer "besserwisserischen" Werteverfügungskompetenz in den Händen weniger "Einsichtiger" rechtfertigen. Sowohl das Mittel (Anwendung von Gewalt) als auch das Ziel (Erreichung einer neuen politischen Legitimität) bekämpft die Legitimitätsbasis, wenn nicht gar die "Basislegitimität"160 des modernen Staates im allgemeinen und des rechtsstaatlich-demokratisch verfaßten Staates BR Deutschland im besonderen. Der Theorie (besser Ideologie) nach dürfen - wie schon dargestellt161 - selbst einzelne Bürger "in besonderen Fällen" in die originären Rechte des Souveräns eintreten und die Funktion nicht bloß des Wächters, sondern die des letztinstanzlichen Hüters der Legitimität des Staates übernehmen. Damit werden der Staat und seine Anordnungen unter einen laufenden Akzeptanzvorbehalt einzelner Moral- und Wahrheitsapostel gestellt sowie der permanenten Androhung von Gewalt für den Fall der an ihren Maßstäben gemessenen Illegitimität ausgesetzt. Dieser Konflikt, der hier mit dem Instrument der Gewalt (herbei)geführt wird, ist also nicht nur eine Kontroverse über die Inhalte der legitimitätsbegründenden Werte. Er verdichtet sich vielmehr zu dem Streit darüber, ob und inwieweit der (Verfassungs)Staat mittels seines "Apparates" Hüter dieser Grundwerte ist. Es geht um den Antagonismus der beiden Positionen162, ob dem Staat ein eigener Ethos innewohnt, der ihm die originäre Verantwortung für den Schutz der 158 159
Zu deren Verlauf und Inhalt vgl. stellvertretend P. Häberle, Erziehungsziele, S. 19 ff. Die Kontroverse entstand aus der Unterscheidung (des damaligen Bundeskanzlers Hel-
mut Schmidt) zwischen den Grundwerte«, verstanden als die ethischen Grundüberzeugungen der Bürger, und den in der Verfassung des Grundgesetzes niedergelegten Grundrechten. 160 Ihre Bedrohung weckt selbst bei Unterprivilegierten die unbedingte Bereitschaft zur Verteidigung: dazu H. Popitz, Prozesse der Machtbildung, S. 38 ff. 161
Siehe oben 2. Kap., Β, I, 3.
162
Vgl. auch die unterschiedlichen Akzentuierungen einerseits der Mehrheitsmeinung im
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, BVerfGE andererseits im dazu ergangenen Sondervotum Rupp-von Brünneck/Simon.
39, 1 ff., und
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
165
Wertebasis überträgt, oder ob einzig die "Gesellschaft" dafür Sorge trägt, der Staat also allein als Notar der jeweils herrschenden Auffassung in der Gesellschaft eingesetzt ist und allein dieser entsprechend zu (re)agieren hat163. Und genau diese (vermeintlich) herrschende Auffassung glauben die selbsternannten Sachwalter der Legitimität "von Wahrheits Gnaden" trotz ihrer zahlenmäßigen Minderheit legitimerweise erkennen und mit Gewalt durchsetzen zu dürfen, zu können, ja zu müssen. Namentlich die letztere, die "gesellschaftliche" 164 These öffnet mit ihrer Tendenz zur Verschmelzung von Staat und pluralistisch strukturierter Gesellschaft bzw. mit ihrer Neigung, den Staat in (neo)marxistischer Manier als Instrument der Gesellschaft anzusehen, allzuleicht der Möglichkeit Tür und Tor, die (Legitimität der) Macht des Staates partiell zur Disposition zu stellen. Allerdings läßt sich der staatstragende ethische Grundkonsens auch nicht, gleichsam an der Gesellschaft vorbei, durch staatlichen Zwang substituieren: so, grob vereinfacht, die "staatliche These". Die Zustimmung der Gesellschaft zu und ihr Zusammenfinden in bestimmten ethischen Überzeugungen ist per se freiwilliger Natur. Deren grundsätzliche Verwirklichung in der (alltags)politischen Realität gibt dem Staat seine Mächtigkeit, seine legitime Macht, seine Machtvollkommenheit. Die Macht des Staates hängt von seiner Legitimität ab, und die Legitimität^ begründet (material-rational) seine Macht165. Sie ist im Unterschied zur Legalität unmittelbar mit dem Ursprung der Ordnungsmacht verknüpft und bildet die Grenze des Staates. Die Legitimitätsgrundlagen binden daher die Macht des Staates mit all seinen Organen, sie unterliegen ihr nicht. Und das heißt auch: Legitime Macht kann nicht durch Gewalt erzeugt oder aufrechterhalten werden; staatliche Gewalt bewirkt auf Dauer allenfalls vordergründigen Gehorsam, nicht aber den inneren Zusammenhalt und die Homogenität des Gemeinwesens166. Wegen dieses Zusammenhangs leidet der moderne Staat unter dem Dilemma, von Voraussetzungen leben zu müssen, deren Beständigkeit er nicht
163
Vgl. dazu die Beiträge im Rahmen der Grundwerte-Diskussion, abgedruckt in: G. Gor-
schenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, sowie aus dem begleitenden und nachfolgenden Schrifttum stellvertretend und jeweils m.z.N. J. Isensee, NJW 1977, S. 545 ff.; /. Burmeister, in: Gedächtnisschrift für Geck, S. 97 ff. 164
/. Isensee, NJW 1977, S. 546.
165
Vgl. M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 19, und schon oben 3. Kap., A , II, 2.
166
Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 44 ff., und noch unten 3. Kap., A, I V , 2.
166
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
garantieren kann167. Sein Machtanspruch ist auf die Existenz eines ethischen Grundkonsenses angewiesen. Dies gilt in besonderem Maße unter der freiheitlichen "Verfassung des Pluralismus" (Peter Häberle), will sie nicht selbst ihre konsensverbürgenden Freiheitsgewährleistungen in Frage stellen168. Die gegenteilige Vorstellung, daß Staat und Verfassung aus eigener Kraft ihre Existenz und Essenz wahren können, ist eine Art "normativistisches perpetuimi mobile"169. Für den rechtsstaatlich-demokratisch verfaßten Staat gilt: "Die Hoffnung, daß Gesetze und nicht Menschen herrschen, ist ... unerfüllbar. Es bleibt die Realität, daß Gesetze nur durch Menschen herrschen können. Die reale Geltung einer Norm hängt von der Loyalität wie vom Verständnis ihrer Adressaten ab."170 "Autoritärer Legalismus", gleichsam als Ordnungsprogramm, ist für den modernen Staat undenkbar. Der staatliche Dienst am ethischen Grundkonsens muß also unvollkommen bleiben. Gleiches gilt indes für die pluralistische Gesellschaft. Sie ist der Träger der ethischen Sinngebung, aber außerstande, die Identität des einheitlichen Staates im Wechsel der Stimmungen und Moden zu behaupten, seiner geschichtlichen Erosion zu trotzen. Über die Legitimität des Staates exklusiv zu wachen, sie in eigener Vollkommenheit zu hüten, vermögen damit weder der Staat noch die Gesellschaft. Die Pflege der Legitimitätsbasis des Staates ist vielmehr die arbeitsteilige Aufgabe des Staates und seiner Gesellschaft 171; beide ziehen insoweit gemeinsam an einem Strang, ohne zur Deckung zu gelangen. "Offener Staat und verfaßte Gesellschaft tragen hier republikanische Verantwortung zur gesamten Hand" 112 Beide sind in wechselbezüglichem Angewiesensein aufeinander die Hüter der Le-
167
So deutlich E.-W. Böckenförde,
Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisa-
tion, S. 60; ders., Der Staat als sittlicher Staat, S. 36 f. 168
Insoweit ist der (Verfassungs-)Staat immer ein wertegebundener Staat, und findet der Grundwertestreit daher immer nur innerhalb des Staates und auch seiner Verfassung statt, insofern er diese ethischen Ziele verrechtlicht hat. Vgl. Hans Maier, in: Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte in Staat und Gesellschaft, S. 180 f.; /. Isensee, in: Essener Gespräche Bd. 11, S. 93 f.; ders., NJW 1977, S. 547,548; siehe auch P. Häberle, Erziehungsziele, S. 25. 169 /. Isensee, NJW 1977, S. 548. 170
J. Isensee, NJW 1977, S. 548. Auch J. Isensee, NJW 1977, S. 548, rät dem Verfassungsstaat zu planvoller Arbeitstei-
lung mit den gesellschaftlichen Ordnungsfaktoren. 172
P. Häberle, Erziehungsziele, S. 15, für das Wechselverhältnis von (staatlichen) Erziehungszielen und (gesellschaftlichen) Orientierungswerten.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
167
gitimität173. Dabei handelt es sich um eine Erkenntnis, die nicht auf theoretischer, "metajuristischer" Ebene verharrt 174, sondern konkrete staats- und verfassungsrechtliche Konsequenzen aufweist: denn auf ihr basiert auch die Äquivalenz von staatlichem Gewaltmonopol und bürgerlicher Friedenspflicht. Aus Struktur und Wesen der (Staats-)Macht ergibt sich schließlich deren unbedingter Anspruch und zugleich deren ebenso unbedingte Pflicht, die Wirklichkeit ihrer Legitimitätsgrundlagen - notfalls unter Einsetzung von physischer Gewalt - zu bewahren und zu erhalten, solange diese eben eine mehrheitlich getragene, solidarische Macht auf sich vereinigen können.
4. Gesichtspunkte der Legitimität
a) "Jedes Geschlecht tritt mit psychologischer Notwendigkeit dem Staate entgegen mit der Frage: Warum überhaupt der Staat mit seiner Zwangsgewalt? Warum muß sich das Individuum die Beugung seines Willens durch einen anderen gefallen lassen, warum und in welchen Umfang muß es der Gesamtheit Opfer bringen?" Für den Staat der Neuzeit beantwortet sich diese Frage Georg Jellineks 175 aus den Gründen und Grundsätzen der materialen Rationalität, die sich in der abendländischen Kulturgeschichte durchgesetzt haben und von denen die europäisch-angloamerikanische Geisteshaltung auf den "Schultern" ihrer Klassiker durchdrungen und bestimmt ist. Sie begnügt sich nicht mit der Faktizität des Faktischen und trotzt jedem Versuch, das Normative im Faktischen aufgehen zu lassen176; sie sucht vielmehr in a-historizistischer Haltung das Faktische normativ zu "verstehen", um es dann - im Wege der "Stückwerk"-Reformpolitik - zu lenken, mit anderen Worten: stets nach dem "warum", nach der Sinngebung zu fragen und den Antworten und Erkenntnissen entsprechend zu handeln. Alle materiale Rationalität, alle praktische Vernunft verfolgt dabei stets die Aufgabe, "der Sache auf den Grund zu gehen", d.h. nach ihren letzten bzw. "vorletzten" Ursachen, Beweggründen, Prämissen zu fragen, sie zu erkennen, schließlich zu
173
Und nicht, wie J. Habermas, Ziviler Ungehorsam, S. 38 ff., 41, unter Leugnung dieses
Verhältnisses meint: "Der Hüter der Legitimität" ist "das Volk in Gestalt seiner Bürger, auch einzelner Bürger" (Hervorhebung durch Verfasser). 174 Dies meint allerdings/. Isensee, NJW 1977, S. 551. 175
Allgemeine Staatslehre, S. 184.
176
Vgl. die treffende Kritik von M. Kriele,
mann.
Einführung in die Staatslehre, S. 39, an Luh-
168
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
erklären und endlich zu verwerfen oder zu akzeptieren. Die Einsicht in die materiale Rationalität, die uns die Suche nach dem Fundamentaleren aufgibt und dessen Vorrang lehrt, beherrscht auch und gerade die Frage nach der Legitimität des Staates. Diese bezieht sich nämlich notwendig zunächst auf den Staat als Gebilde und Institution überhaupt, ehe sie sich vernünftigerweise an spezifische Ausprägungen einzelner Staatsordnungen richten läßt. Die Legitimität der Staatsform, des einzelnen politischen Systems sowie der konkreten Politik kann erst dann ins Bückfeld gelangen, wenn auf einer vorausliegenden, tieferen Stufe die Legitimität des Staates an sich anerkannt ist177. Damit sind allerdings nur zwei Gesichtspunkte einer Legitimität angesprochen. Anders als man es dem Jellinek-Zitat von soeben entnehmen könnte, behält die Legitimität ihren ganzheitlichen Bezug. Dem doppelten Ansatzpunkt folgt keine Aufspaltung, etwa in eine Legitimität erster und eine zweiter Klasse. Dies würde den Begriff der Legitimität sprengen, ihrer Funktion als Homogenitäts-Fundament integrativer Kräfte zuwiderlaufen und dem hohen Anspruch des neuzeitlichen Geistes an die Sinngebung individueller und kollektiver Existenz widersprechen. Vielmehr geht es im Einklang mit den Gesellschafts- und Vertragstheorien um zwei Aspekte im Rahmen einer einheitlichen Theorie. Legitimität erfährt insofern allenfalls eine Zwei-Dimensionalität, die ihren Anspruch im Sinne eines "sowohl-als-auch" bzw. eines "und-zugleich" an einen und denselben Staat richtet. Die Frage nach der Legitimität eines Staates ist nicht einmal generell-abstrakt und einmal individuell-konkret, sondern immer aktuell an einen ganz bestimmten Staat und sein politisches System gestellt: eben zum einen unter dem Gesichtspunkt seiner Existenz überhaupt und zum anderen bezogen auf seine identitätsbegründende und -ausfüllende Wesenheit, seine Essenz 178. Die Legitimitätsfrage ist demnach strukturell(-konzeptionell) ausgewiesen durch einen Stufen-
177
Vgl. auch U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 4; R. Zippelius, Allgemeine Staats-
lehre, § 16 I 1. - Soweit in der Literatur statt von der Legitimität des Staates überhaupt nur von der Notwendigkeit und Begründung der Einrichtung, dem Errichtungsgrund des Staates gesprochen wird, handelt es sich um eine mehr technologisch-instrumentelle Sichtweise, dergegenüber die hier vertretene Auffassung auch für die Errichtung und Existenz staatlicher Herrschaft als solcher die tiefere Rechtfertigungsfähigkeit in fundamentalen, moralphilosophisch-vernunftgegründeten Maßstäben (der Zivilisation, siehe dazu unten 3. Kap., Β, I) sucht. 178
Auch /. Isensee, NJW 1977, S. 548, spricht von Existenz und Essenz von Staat und Verfassung.
. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
169
bau, durch eine Abfolge von der existentiellen zur essentiellen Legitimität. Unter ersterem Gesichtspunkt vereinigen sich die Sinnvorstellungen der Menschen, die mit der Staatlichkeit des Zusammenlebens schlechthin fundamental verknüpft sind. Gemeinsam mit den weiteren, das Wesen des Staates im übrigen betreffenden, unabdingbaren Ideen und Maximen bilden sie das Konzept der Legitimität (als Ganzes). Das Zusammenwirken, die Gesamtheit aller Legitimitätselemente in der Wirklichkeit konstituiert den legitimen Staat und seine Macht. b) Nach der existentiellen Legitimität des Staates gefragt, sind namentlich gegenüber den Utopien marxistisch-anarchischer Heilslehren eindeutige Bekenntnisse gefordert und möglich. Mit dem Versuch einer näheren Betrachtung der ethisch-rechtlichen (Mindest-) Inhalte einer legitimen Staatsmacht sieht man sich allerdings einem Dilemma ausgesetzt. Die Wirklichkeit der anerkannten, fundamentalen Wertsetzungen ist in der staatlichen Einheit die Grundlage des Anspruchs der Macht gegenüber ihren Gegnern auf die Befolgung ihrer Entscheidungen179. Je qualifizierter die - überdies wandelbaren und empirisch nur schwer erfaßbaren - Maßstäbe der Legitimität bestimmt werden, desto störanfälliger wird die staatüche Einheit. In umgekehrter Richtung wird die ethische An- und Rückbindung des Staates allzuleicht zu einem inhaltsleeren Postulat. Eine Legitimation der Staatsmacht, hier verstanden als Akt der Rechtfertigung 180, hat sich daher auf die Gesamtheit der Wertvorstellungen und Imperative zu konzentrieren, deren Wirklichkeit der legitime Machtanspruch so notwendig wie hinreichend bedarf. Für den Typus "Verfassungsstaat" hilft hier die sowohl historische als auch kontemporäre Verfassungs-Textstufen-Analyse 181; der Verfassungsstaat hat sich insofern "typischerweise" auch textlich gebunden.
179 180
Dazu noch näher unten 3. Kap., A, I V , 3.
Gegenüber der Legitimität als dem Effekt solcher Rechtfertigung: diese Unterscheidung trifft ausdrücklich W. Maihofer, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 15. 181 Grundlegend dazu jetzt P. Häberle, in: Festschrift für Partsch, S. 555 ff.
170
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
IV. Die Legitimität der Staatsmacht und staatliche Gewalt 1. Das Übel der Gewalt und ihrer Rechtfertigung
a) Die Überlegungen zur Legitimität unserer Staats- und Verfassungsordnung werden provoziert durch eine "Allianz der Gewalt", die aus der Gemeinschaft unmittelbarer Aktions- und mittelbarer Sanktions-Täter besteht. Ihr Wirken äußert sich in den plötzlichen Explosionen der "heißen Gewalt" und den geplanten "Schreibtisch"-Aktionen der "kalten Gewalt". Beide Formen der Gewalt verhalten sich zueinander wie das Symptom zur Strategie: die Strategie führt die Symptome herbei und benützt sie182. Die Strategie ist hier die Umkehrung von Angreifer und Verteidiger 183 mittels der Friedensforscher-These von der "strukturellen Gewalt": Dem Staat wird - als das soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit etablierende Instrument in "kapitalistischer" Hand - der Stempel der "strukturellen" Unfriedlichkeit, der "organisierten Friedlosigkeit" aufgedrückt. Suggeriert wird damit die Situation der Notwehr; das Symptom, die gerechtfertigte Gegen-Gewalt, wird provoziert und vor den Karren der Ideologie gespannt. Diese Schablone, dieser Etikettenschwindel ist maßgeblich verantwortlich dafür, daß in der BR Deutschland ein soziales Klima und eine geistige Atmosphäre herrscht, in der die Gewalt als Mittel der Politik - allenfalls mit Ausnahme der terroristischen Brachialgewalt - jegliche kompromißlose Brandmarkung als sozial schädlich verloren hat, in der sie im Gegenteil - in (unbewußter oder bewußter) Reminiszenz an das Clausewitz-W ort, Krieg sei die Fortsetzung der Politik mit veränderten Mitteln - die Stellung eines "anerkannten und hingenommenen", weil besonders wirksamen und die Dinge bewegenden Instruments der Politikgestaltung errungen zu haben scheint. Zuweilen gewinnt man sogar den deprimierenden Eindruck, Gewalt bestimme die Politik, sei Bedingung und Voraussetzung für das politisch Machbare und Durchsetzbare. Gewalt, nicht materiale Rationalität, erscheint so als "Motor des modernen Staates". Dabei sollten doch die Segnungen der Zivilisation zumindest die "Einsicht" des Menschen bewirkt haben, daß Gewalt ein Übel ist, "mehr noch: eines der schwersten Übel, das zur Disposition menschlichen Handelns steht"184. Es ist dies ungeachtet der 182 183 184
So trefflich F. Hacker, Aggression, S. 14. Vgl. auch /. Isensee, in: Festschrift für Eichenberger, S. 32. U. Matz, Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung, S. 338; vgl. auch G. Schröder,
Bewahrung des Friedens durch Anwendung von Gewalt?, S. 88 ff.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
171
politischen und wissenschaftlichen Bemühungen um eine feingliedrige Konturierung des Gewaltbegriffs eine ebenso schlichte wie vernünftigerweise nicht zu bestreitende Feststellung. Zum Beeindruckendsten und Nachhaltigsten, was zum Phänomen und Unglück der Gewalt geschrieben wurde, gehört immer noch Friedrich Hackers "Aggression". Nur zwei Passagen seien hier herausgestellt:185 "Gewalt ist verwerfenswert aus moralischen Gründen. Sie bedroht, schädigt und zerstört den Mitmenschen, der grundsätzlich dieselben Merkmale aufweist wie wir selbst und daher prinzipiell dieselben Rechte besitzt. Wir begeben uns des eigenen Anspruchs auf menschliche Solidarität, wenn wir ihn im Mitmenschen verletzen. Gewalt reduziert den Mitmenschen zum Objekt und Mittel, beleidigt und erniedrigt ihn und bewirkt über die verschiedenen Formen der Dehumanisierung schließlich seine irreversible Verdinglichung und Vernichtung. Gewalt macht ihn schließlich zum Ding des Leichnams. Gewaltanwendung ist auf lange Sicht eine elende Strategie, da sie durch ihre Anfangserfolge der aufrüttelnden Aufmerksamkeitserregung und der Schaffung von Öffentlichkeit zur Wiederholung verführt, abstumpft und Gegengewalt, Gewalteskalation sowie allgemeine Brutalisierung hervorruft." "Gewalt ist die Regression und der Rückfall auf die primitivste aggressive Ausdrucksform, die alle Alternativen verschmäht hat und keine Alternativen mehr duldet. Sie kommt auf Grund von Polarisierung mit Idealisierung und Verteufelung und durch ähnliche vereinfachende, reduzierende, niveauvermindernde Mechanismen und Manöver zustande. Daher schaltet sie zusammen mit den Alternativen alle höheren, interessanten und originellen Möglichkeiten des Menschen und der Wirklichkeit aus oder benützt sie höchstens zu ihrer Rechtfertigung. Gewalt wiederholt sich im immer gleichen Zerstörungszwang, ist eindimensional, eintönig und fad. Gewalt ist Störungssymptom oder Lieblingsstrategie dessen, der nicht anders kann, dem nichts anderes einfällt und der weder zu fühlen noch mitzufühlen imstande ist. Gewalt ist Produkt von Denkfaulheit, Gefühlsarmut und Phantasielosigkeit." Unter den Bedingungen der Demokratie, die optimale Mitwirkungsmöglichkeiten für jedermann am politischen Prozeß und die relativ höchste Gewähr für die Rückrufbarkeit bzw. Korrektur einer einmal gefällten Entschei-
185
F. Hacker, Aggression, S. 124 f.
172
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
dung bietet , ist Gewalt in der Tat nur allzuhäufig ein Produkt von Denkfaulheit, Gefühlsarmut und Phantasielosigkeit. So entsteht auch gewalttätiger politischer Protest oft dann, wenn zu dem Eindruck einer Fehlentscheidung der politischen Verantwortungsträger nicht nur die individuell empfundene Unfähigkeit, sondern wegen der damit verbundenen Anstrengungen in einer Vielzahl von Fällen die blanke Unlust hinzutritt, sich für die Änderung des politischen Zustands im Rahmen des Volkswillensbildungsprozesses, seiner Mittel und Wege einzusetzen. Dazu trägt auch nicht selten eine (als Folge unserer wohlfahrtsstaatlichen Übersättigung mit garantierten Freiheitsräumen und sozialen Sicherungen?) ausgeprägte, asoziale Egozentrizität bei, die die Prinzipien der Rücksichtnahme und Bescheidenheit, die Tugenden der Selbstkritik und Selbstbeherrschung kaum, die Mittel der aggressiven Interessendurchsetzung dafür um so besser kennt187. Was bleibt, ist ein "gutes Gewissen", das die private Gewalt umhegt und das in der Innenpolitik um so "besser" zu werden scheint, je mehr im außenpolitischen Bereich die Gewaltanwendung der Ächtung ausgesetzt wird. Allerdings und das scheint von der Zivilisation des Menschen "wenigstens" übrig geblieben zu sein188 - erlangt die Gewaltausübung dieses gute Gewissen nicht aus sich selbst heraus, nicht als Selbstzweck. Grundsätzlich ist ihr Übel-Charakter allgemein anerkannt. Gemessen an naturrechtlichen Kategorien fallen Gewalt und Unrecht zusammen; Gewalt ist also zunächst potentielles Unrecht. Verherrlichung erfährt die private Gewalt jedoch regelmäßig als "gerechte" Gewalt, als Mittel zum (höheren) Zweck, als Werkzeug 189 im Lichte einer neuen Heilserwartung. Unter dem Gesichtspunkt ihres Einsatzzieles verliert die Gewalt ihre Verabscheuungswürdigkeit; ihre Einschätzung wird abhängig vom Wert ihrer Zielrichtung. Die Gewalt besitzt in der modernen Welt eine Affinität zur Rechtfertigung. Entsprechend den zahllos möglichen Weltverbesserer-Ideen gab es und gibt es daher in der Literatur auch eine ungezählte Schar von linken, rechten, kommunistischen, faschistischen, revolutionären, gegenrevolutionären 186 187
Darauf weist auch Hans H. Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 651, deutlich hin. Offenbar", so fürchtet auch Κ Wassermann, Politisch motivierte Gewalt heute, S. 115,
"wird auch die Chance, Gewalt ausüben zu können, zum bürgerlichen Freiheitsanspruch gerechnet". 188
Zur Bewältigung der natürlichen Aggression und Gewalt als Vorgang und Ausdruck der Zivilisation vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 263 ff., Bd. 2, S. 369 ff. 189
Vgl. auch H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 47: Kennzeichnung der Gewalt durch ihren "instrumentalen Charakter".
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
173
Gewaltapologeten, freilich immer nur die eigene höhere Sache betreffend 190. Im Zeitalter der Freiheit und Gleichheit beginnen solche intellektuellen "Feldzüge" der Gewaltrechtfertigung in der Regel mit der Umdeutung einer angeblich bestehenden Unfreiheit und Ungleichheit, für die natürlich "andere", im Zweifel der Staat, verantwortlich sind, in die latente Situation der Gewaltherrschaft. Die eigene (Gegen-)Gewalt wird dann vom verbotenen Delikt zur gebotenen Sanktion und als "Rettung in letzter Not" legitimiert 191. Der unheilige Egoismus der Ideologien heiligt die Gewalt als Gegengewalt gegen Gewalt und feiert die Zerstörung als Triumph 192. Nach der Machart populistischen Sozialdarwinismus' wird das Recht des Stärkeren (in der Politik) propagiert und zudem mittels des in der intellektuell-(system)theoretisierenden Schreibzunft vorherrschenden Stils "der großen, dunklen, eindrucksvollen und unverständlichen Worte" 193 das Ganze mit dem Nimbus hoher Intellektualität und scheinbar ausgeprägter kultureller Reife geschmückt194. Das Ergebnis ist eine Ideologisierung und Pervertierung der Vernunftidee, die sich nicht einmal mehr der Maxime, "was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg' auch keinem anderen zu", zu erinnern vermag. So entsteht die paradoxe Situation, daß die Gegner der "Gewalt" die Gewalt radikal praktizieren. Ihr Einsatz erfolgt zum Zwecke der Problemlösung. Gewalt aber ist das Problem, als dessen Lösung sie sich ausgibt. Sie ist "anstekkend wie Cholera". Ihre Virulenz verdankt sie dem "Schein der Rechtfertigung, der sie epidemisch macht"; denn: "Gerechtfertigte Gewalt verführt zur Nachahmung sowohl der Rechtfertigung wie der Gewalt."195 190
Vgl. F. Hacker, Aggression, S. 95. R. Wassermann, Politisch motivierte Gewalt heute, S. 116, spricht hiervon einer "eigentümlichen Faszination", die die Gewalt auf Intellektuelle auszuüben pflegt. 191
Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich nach diesem Schema (wie es der Ideologie der "strukturellen Gewalt" zugrunde liegt) jede Gewalt rechtfertigen läßt (siehe oben 2. Kap., Β, I). Zu allem Unglück wird sie früher oder später auch tatsächlich auf diese Weise gerechtfertigt. Das System der Problemsimplifizierung durch Gewaltmaskierung kennt keine Grenzen. 192 193
Vgl. F. Hacker, Aggression, S. 97. Κ R. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 216. Popper greift diesen Stil
immer wieder an, bezeichnet ihn, der nur den gesunden Menschenverstand, die Vernunft zerstöre, als intellektuell unverantwortlich. 194
Engagiert wendet sich auch M. Kriele, Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands, S. 18 ff., gegen das eigentümliche, übersteigerte Elitedenken in den sogenannten intellektuellen Kreisen. 195 F. Hacker, Aggression, S. 14.
174
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
b) Allerdings kann man mit den Erkenntnissen der Psychologie und Verhaltensforschung davon ausgehen, daß eine gewisse Aggression zur biologischen Grundausstattung des Menschen gehört 196. Mit ihr muß man leben und rechnen. Sie kann weder ganz eliminiert noch umfassend unterbunden werden. Jeder aufgeklärten Vernunft im Menschen geht es daher darum, die Gewalt im Zusammenleben der Menschen so weit wie möglich zu vermeiden bzw. die aus ihrer Möglichkeit folgende Ungewißheit, Unsicherheit und Gefahr so weit wie möglich einzuengen, zu kontrollieren. Diese Forderung ist in der abendländischen Zivilisation anerkannt197. Das "Kontrollsystem"198, das sie hervorgebracht hat, ist das des modernen Staates, ausgewiesen durch eine von der Staatsmacht getragene allgemeinverbindliche und einheitliche Rechtsordnung und Staatsgewalt. Es ist die grundlegende Erkenntnis moderner Staatlichkeit und als solche die herausragende politisch-kulturelle Leistung der Neuzeit, alle Gewalt in der Hand des Staates monopolisiert, ihm allein die Befugnis zur Gewaltanwendung übertragen zu haben. Nur wenn die Gewalt beim Staat ist, kann Gerechtigkeit zu Recht werden und Recht bleiben. Der moderne, zivilisierte Staat stempelt die nichtstaatliche (und im Rahmen der Gesetze nicht gerechtfertigte) Gewalt zur Krankheit 199. Die Charakterisierung der Gewalt als Übel ist unabhängig davon, wer sie ausübt. Daher ist auch staatliche Gewalt ein Übel, allerdings: ein notwendiges200. Seine Notwendigkeit ergibt sich aus zwei Überlegungen. Die erste ist bereits mehrfach formuliert: Gewalt und die aus ihrer Möglichkeit resultierende Bedrohung läßt sich aus dieser - realen, nicht utopischen - Welt nicht eliminieren. Es geht - zweitens - immer nur um ihre möglichst weitgehende Reduzierung, um ihre effektivste Kontrolle, mit anderen Worten: um die Wahl des kleineren Übels - als einer Ableitung aus dem Prinzip der politischpraktischen Vernunft, von dem das Denken des material-rationalen, weder idealisierten noch idealisierenden Geistes durchdrungen ist 201 . Moderne 196
Vgl. auch H.-D. Schwind / J. Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von197 Gewalt, Bd. I, S. 25. Dazu noch näher unten 3. Kap., Β, 1,2.
198
R Wassermann, Politisch motivierte Gewalt heute, S. 114.
199 ··
Ahnlich N. Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, S. 265. 200 201
So KR
Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 169.
Ähnlich Κ R Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 169 f. und S. 250, bezogen auf die Staatsform der Demokratie und unter Anführung des berühmten ChurchillWortes sowie des Ausspruchs Karl Kraus\ alle Politik bestehe in der Wahl des kleineren Übels.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
175
Staatlichkeit, d.h. einheitliche Staatsgewalt und staatliches Gewaltmonopol, ist hinsichtlich der Beherrschung des Phänomens Gewalt das seit Beginn der Neuzeit denkbar kleinste Übel 202 , insofern es das effektivste Kontrollsystem bietet. Sie entspricht am besten der Forderung nach möglichster Gewaltvermeidung und verwirklicht damit die Befriedungsaufgabe des Staates. Einheitlichkeit und Friedlichkeit sind insoweit tatsächlich auf ein Stück Gewalt gebaut. Der moderne Staat vermag allerdings seine Macht nicht allein auf die bei ihm monopolisierte Gewalt zu stützen. Er kann aber auch kein gänzlich gewaltfreier Staat sein. Dieser Zusammenhang ist im folgenden noch einer grundsätzlicheren Betrachtung zuzuführen.
2. Z u m Verhältnis von M a c h t u n d Gewalt
Gewalt, auch staatliche Gewalt, wird also stets als Übel empfunden werden. Als Übel läßt sie sich nicht legitimieren, andernfalls wäre das Übel eben kein Übel mehr. Folglich ist Gewalt, einschließlich der staatlichen Gewalt, niemals legitim 203. Sie kann wegen ihres regelmäßig instrumentalen Charakters aber gerechtfertigt sein. Die Rechtfertigung ergibt sich aus der Notwendigkeit möglichst effektiver Gewaltvermeidung. Staatliche vis-Gewalt ist als Teil der potestas-Gewalt des Staates gerechtfertigt, insoweit sie die legitime Staatsmacht durchsetzt und damit verwirklicht. In diesem Sinne ist die legitime Staatsmacht die notwendige Eigenschaft einer gerechten (Staats-)Gewalt204. Bei der Frage nach der Legitimität des Staates geht es also immer nur um die Legitimität seiner Macht, nicht um die Legitimität von Gewalt. Von vornherein verfehlt ist daher jegliche Propaganda einer prinzipiellen Illegitimität staatlicher Gewaltausübung. Dahinter verbirgt sich die (neo)marxistisch geprägte Vorstellung, der Staat stütze seine Mächtigkeit allein auf sein Gewaltinstrumentarium und bestünde somit ausschließlich als Zwangsapparat. Von dieser Fehlvorstellung ist auch die Lehre von der "strukturellen Gewalt" durchdrungen. Denn nach ihr schlägt eine systembe202
Alle (kriegerischen) Auseinandersetzungen seit der Einrichtung des modernen Staates
zielten daher auch nicht auf Abschaffung des Gewaltmonopols, sondern auf dessen Übernahme. Vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, S. 143, und noch unten 3. Kap., B, 1,1. 203
Vgl. auch H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 53.
204
Vgl. etwa Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 852 f., 855, und schon oben 3. Kap., A, II, 1 m.w.N.
176
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
dingte Unterprivilegierung in dem Moment in "rohe" Gewalt oder die Drohung mit ihr um, in dem die Unterdrückten (aus welchen Gründen auch immer vergeblich) versuchen, ihre Stellung zu verbessern. Dann erweise sich, daß das System eben doch auf der "Macht der Bajonette" {Charles Maurice Talleyrand) beruhe 205. Ein solches "Staatsmodell" wäre indes wegen des Verhältnisses von "Macht und Gewalt", wie es Hannah Arendt in ihrer gleichlautenden Schrift von 1970 eindrücklich dargelegt hat, zum Scheitern verurteilt. Macht und Gewalt sind nicht nur nicht dasselbe, sondern bilden dem Grundsatz nach sogar ein Gegensatzpaar: "wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden"206. Nicht nur im linken Spektrum der staatsrechtlichen, sozialwissenschaftlichen oder politischen Literatur findet sich die Gleichsetzung von politischer Macht und organisierter staatlicher Gewalt. Auch bei anderen Autoren, die weit davon entfernt sind, den Staat als Instrument der Unterdrückung, als "Überbau" anzusehen, ist die Auffassung von der Gewalt als der eklatantesten Manifestation von Macht und damit die Rückführung der Staatsmacht auf das Gewaltmonopol anzutreffen 207. Einen erheblichen Beitrag dazu leistete ohne Zweifel Max Weber, dessen bekannte Definitionen von Staat und Macht nach wie vor große Wirkung entfalten. Für ihn bedeutete Macht die Fähigkeit bzw. die Chance, "innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen", gleichviel, worauf diese Fähigkeit beruhe 208. Für den Staat sei das "Monopol physischer Gewaltsamkeit" in einem spezifischen Sinne kennzeichnend; der Staat sei daher "ein auf das Mittel der legitimen (das heißt: als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen"209. Gewiß ist unbestreitbar, daß Macht und Gewalt, insbesondere die Drohung mit Gewalt, gewöhnlich und so auch im modernen und demokratisch verfaßten Rechtsstaat kombiniert auftreten 210. Dies besagt aber keineswegs, daß Macht und Gewalt identisch wären; es besagt nicht einmal, daß Gewalt
205
R. Herzog, Stichwort "Macht", EvStL, Sp. 2060, und R. Zippelius, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 84. 206
H Arendt, Macht und Gewalt, S. 57.
207
Vgl. die Nachweise bei H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 36 ff.
208
Vgl. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28.
209
M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 822.
210
Siehe dazu sogleich unter 3. Kap., A , I V , 3.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
177
die eklatanteste Manifestation von Macht darstellt. Macht entspringt vielmehr, wie Hannah Arendt überzeugend darlegt, "der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemand sagen, er 'habe die Macht', heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln. In dem Augenblick, in dem die Gruppe, die den Machthaber ermächtigte und ihm ihre Macht verlieh ... auseinandergeht, vergeht auch 'seine Macht'"211. Macht bildet sich demnach nur uno actu mit der solidarischen Verbindung von Menschen bzw. ihrer Überzeugungen. Macht ist Solidarität. "Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat... Alle politischen Institutionen sind Manifestationen und Materialisationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt."212 Dieser Mechanismus ist kaum eindrücklicher als im jüngsten Zerfall der sozialistischen Staatssysteme erkennbar und im Ruf "Wir sind das Volk" aus Büchners "Dantons Tod" zu Bewußtsein gebracht. Sowohl Sein als auch Tätigwerden des macht- und verantwortungsvollen Staates ist gebunden an und letztlich existentiell abhängig von der machtbildenden Solidargemeinschaft, die sich über die das Staatswesen grundlegend prägenden Wertvorstellungen gebildet hat. Macht hat also eine quantitative Dimension. Gewalt ist demgegenüber weniger auf Zahlen als auf die Wirksamkeit ihrer Mittel angewiesen. "Der Extremfall der Macht ist gegeben in der Konstellation: Alle gegen Einen, der Extremfall der Gewalt in der Konstellation: Einer gegen Alle." 213 Dies läßt deutlich werden: Gewalt erzeugt mit ihrer Zwangswirkung zwar vordergründigen Gehorsam und kann ihr entgegentretende Macht in Schach halten, schließlich zerstören und vernichten. Gewalt erzeugt und verleiht aber keine Macht. Politische Macht kommt, entgegen Mao Tse-tung, niemals aus den Gewehrläufen. Diese Einsicht ist auch im Satz Jean-Jacques Rous211
H.
Arendt, Macht und Gewalt, S. 45.
212
H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 42.
213
H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 43.
12 Schmitt Glaeser
178
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
seaus214 ausgedrückt: "Der Stärkere ist nie stark genug, immer Herr zu sein, wenn er nicht seine Stärke in Recht und den Gehorsam in Pflicht überführt." 215 Demgemäß hat es zu keiner Zeit einen Staat gegeben, der sich ausschließlich auf die Mittel der Gewalt hätte stützen können. Selbst die totalitäre Diktatur stützt sich auf eine Machtbasis, die in diesem Fall von befehlsgehorsamer Geheimpolizei und einem Netz von Spitzeln gestellt wird, und auch die sogenannte Besatzungsmacht sucht alsbald ihre Gewaltherrschaft durch eine auf der Machtbasis der einheimischen Bevölkerung beruhende Herrschaft zu ersetzen216. Das was hier für die staatliche Gewalt in bezug auf ihr grundsätzliches Verhältnis zur Macht skizziert wurde, gilt entsprechend für die private, politische Macht anstrebende Gewaltanwendung. Auch diese Gewalt ist untauglich, Macht zu gewinnen. Auch die Illusion, sich doch irgendwann einmal mit Gewalt gegen den Staatsapparat durchsetzen zu können, sollte privaten Gewalttätern genommen werden: "Wo Gewalt der Gewalt gegenübersteht, hat sich noch immer die Staatsgewalt als Sieger erwiesen."217 Diese Überlegenheit währt freilich nur solange, wie die Machtbasis des Staates besteht und ihre Struktur intakt ist. Ist das nicht mehr der Fall, beginnt die Macht des Staates zu bröckeln, dann kann sich die Situation jählings ändern: die Rebellen werden zu Vertretern der Macht, die Revolution ist plötzlich da und zugleich so gut wie vollzogen. So weit ist der gegenwärtige Kampf um den inneren Frieden im demokratischen Verfassungsstaat der BR Deutschland gewiß noch nicht gediehen. Aber erste Ansätze sind deutlich sichtbar, wie die Darlegungen im 2. Kapitel gezeigt haben. Das eigentliche Alarmierende ist dabei nicht die Gewalt als solche, nicht die Tatsache, daß es allzuviele Menschen in dieser Republik gibt, die Gewalt ausüben. Das eigentlich Alarmierende ist der Umgang mit der politisch motivierten Gewalt, das gewiß in den wenigsten Fällen dolose, aber nichtsdestoweniger - wirkungsvolle "Zusammenspiel" zwischen gewaltausübenden Zivilpersonen und opportunistischen Amtsträgern, gestützt und intensiviert durch Medien und andere gesellschaftliche Ordnungskräfte sowie einem Teil der Wissenschaft. Die Einschätzung etwa, daß allzuhäufig nur der "Druck der Straße" Bewegung in die Politik bringt, ist traurige Realität und zeitigt verheerende Fol214
Vom Gesellschaftsvertrag, Erstes Buch, 3. Kap., S. 9. Vgl. auch FL Zippelius, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 84 f.
215
216
Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 51,53 f.
217
H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 49; vgl. auch BVerfGE
69, 315/360.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
179
gen für die Grundstimmung politischer Auseinandersetzung. Zeitweiliges Nachgeben des Staates gegenüber gewalttätigen Angriffen, die vorübergehende Duldung rechtswidriger, mit den Mitteln der Gewalt verteidigter Zustände wird aus politischen Gründen (!) für opportun gehalten. Das ist jedoch auch und gerade ein politischer Trugschluß. Das Gegenteil ist der Fall: Jede Zulassung und Duldung von Gewalt als politisches Druckmittel fördert die Neigung zur Usurpation, ebnet derartigen Bestrebungen den Weg, verleitet zur Nachahmung und trägt den Effekt der Fortpflanzung in sich. Die Machtgebundenheit der Staatsgewalt verbietet es, privater Gewalt nachzugeben, sie zu dulden. Staatliche Macht darf nicht zu privater Disposition und erst recht nicht zur Disposition privater Gewalt gestellt werden. Staatliches Vorgehen gegen private Gewalt muß konsequent und kompromißlos sein. Überläßt man die Gewalt sich selbst und ihrer zersetzenden Gesetzlichkeit, so ist "das Endziel, ihr Ziel und Ende"218 der Sturz der Macht und der Ruin des Staates. Ihrem Treiben muß daher immer und überall Einhalt geboten werden, notfalls mit Hilfe staatlicher vis-Gewalt. Die Weigerung von Amtsträgern, gegen Gewaltausübende vorzugehen, sie erforderlichenfalls zu überwältigen und sodann ihrer Bestrafung zuzuführen, ist ein Bruch des Vertrauens gegenüber denen, die die staatliche Macht in ihre Hände gelegt haben, es ist ein Verrat am Volk, von dem die Staatsgewalt, die staatliche Macht und Souveränität ausgeht219.
3. Die Struktur der Machteinheit und das staatliche Gewaltmonopol
Obwohl Macht und Gewalt ganz verschiedenartige Phänomene sind, treten sie in der politischen Wirklichkeit des Staates meist kombiniert auf 220. Nur in extremen Ausnahmefällen erscheinen sie voneinander getrennt, also in "reiner Gestalt": Machtlose Gewalt ist das Modell der Terrorherrschaft, gewaltlose Macht das der Anarchie. Unter der Herrschaft, die auf Terror beruht, kann Macht nicht existieren. Der Terror hält nicht nur seine Gegner und Feinde in Schach und betreibt ihre Vernichtung; er wendet sich mit Hilfe der Allgegenwart des Denunzianten auch gegen seine Sympathisanten und Anhänger. "Säuberung" oder "Reinigung" innerhalb der eigenen Reihen
218
21Q
H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 57.
Vgl. auch R. von Jhering, Der Kampf ums Recht, S. 26 f. Vgl. auch Η; Arendt, Macht und Gewalt, S. 48,53.
220
180
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
sind die hier einschlägigen Begriffe. Das Grauen der Folter, der Hinrichtungen, der Morde und der Konzentrationslager, das Klima permanenter Angst, der Lüge und Überwachung erreichen ihren Höhepunkt, wenn der Terror beginnt, seine eigenen Kinder zu verschlingen, und den Henker von gestern heute das Schicksal des Opfers ereilt 221. Der Terror konserviert und intensiviert die durch die vorangegangene Gewaltherrschaft bewirkte Entmachtung der Gesellschaft durch deren Atomisierung 222. Das extreme Gegenmodell ist die Anarchie. Sie hat das utopische Bild der allumfassenden Solidarität vor Augen, das jegliche staatliche Ordnung und Herrschaft obsolet sein läßt. Ihre Vorstellung der Freiheit von staatlichem Zwang beruht auf der Idee, das Funktionieren des menschlichen Zusammenlebens sei durch den Einfluß ethischer Faktoren gewährleistet. Die idealistischen Ziele der Theorien des Anarchismus scheitern an der Realität praktischer Politik. Die Rechnung ist hier ohne den Egoismus des Menschen und seine Fehlbarkeit gemacht. Der realistische Blick auf das Wesen der politischen Macht als der Basis des Typus "moderner Staat" zeigt, daß ihr notwendigerweise Elemente der Gewalt innewohnen, daß sie in gewisser Weise dieser bedarf; denn Macht ist kein theoretisches Gedankengebäude, sondern konkrete Wirklichkeit. Diese aktualisiert sich im Gehorsam der Mitglieder der staatlichen Gemeinschaft gegenüber den hoheitlichen Anordnungen, in denen sich der Grundkonsens, der dem Staat seine legitime Machtbasis gibt, fortsetzt und seine alltägliche Wirkung entfaltet. Die Annahme, daß sich dieser Gehorsam stets bei allen und stets freiwillig einstellt, hätte utopischen Charakter. Die Machteinheit des Staates ist zwar eine einheitlich wirkende, aber eine vielheitlich bewirkte Macht223. Sie ist als eine objektive Wirkungseinheit zu begreifen, die sich als Resultante des kumulativen Zusammenwirkens aller Beteiligten, der Leistungen der Machthaber wie der der Machtunterworfenen, ergibt. Die vielheitlichen Leistungen der Machtunterworfenen werden von dem Machthaber einheitlich aktualisiert; daß dieser aber überhaupt Macht hat, erklärt sich maßgeblich aus den Leistungen der Machtunterworfenen 224. Die Wirklichkeit der Staatsmacht, die damit immer nur ist, indem sie wird, kann we221
Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 57, und auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 47. Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 56. 223
Vgl. zum folgenden H Heller, Staatslehre, S. 269 ff.
224
Vgl. schon oben 3. Kap., A, I V , 2.
Α. Die legitime Macht als die Basis des modernen Staatswesens
181
der den Machtunterworfenen allein noch irgendeinem Machthaber zugerechnet werden. Ihr Entstehen und Bestehen verdankt sie stets dem Zusammenwirken beider. In diesem Kräftepool der Macht lassen sich mit Hermann Heller 225 drei dynamisch wechselnde Größen unterscheiden: der die Staatsgewalt positiv bewirkende Machtkern, die ihn unterstützenden Mitläufer und die negativ beteiligten Widerstrebenden. In der politischen Realität kommt der politischen Solidarität des Machtkerns die entscheidende Rolle zu. Denn die Staatsmacht als objektiv-existente Wirkungseinheit entsteht erst durch das Übergewicht und die Durchsetzung der den Machtkern bildenden Werteund Willensgemeinschaft gegenüber ihren Widersachern 226. Erst ihre Manifestation gibt der Staatsgewalt im Organisations- und Leistungszusammenhang aller gesellschaftswirksamen Handlungen die Form und Gestalt, die sodann als Wirkungseinheit dem gesellschaftlichen Leben objektiv-wirklich entgegentritt. Aus diesem Verständnis der Struktur der Staatsmacht heraus entspringt im Grunde erst das Bedürfnis nach ihrer Legitimität. Sie betrifft die Gesamtheit der Wertdirektiven, über die sich die machtbildende Solidargemeinschaft verständigt und entwickelt (hat). Im Fiktionenkonstrukt Hegelschen Staatsidealismus ist dieser Weg versperrt, die Chance der material-rationalen Legitimität staatlicher Herrschaft verschlossen. Denn mit der Gleichschaltung von einheitlich aktualisierter Staatsgewalt und einem allgemeinen, gemeinsamen Staatswillen wird der Legitimationsbedarf verschüttet, neutralisiert. Der die souveräne Staatsgewalt positiv erzeugende Machtkern ist keine statische Gruppe. Macht ist ihrem Wesen nach eine dynamische, sich ständig neu bildende Kraft. In besonderem Maße gilt dies für die "offene Gesellschaft" im Sinne Karl R. Poppers. Andererseits ist Macht keine konturenlose, unfaßbare, atomisierte Größe. Bei aller Offenheit und Wandelbarkeit strebt sie nach Manifestation und Bestand, d.h. nach der Durchsetzung gegenüber ihren nichtmächtigen Widersachern, andernfalls die Macht nicht wirklich werden könnte. Sie bedient sich dazu des staatlichen Zwangs als unmittelbarstem Ausdruck der Staatsgewalt. Die Zwangswirkungen des staatlichen Gewaltmonopols dienen der Behauptung einer existierenden Macht gegenüber denen, die diese Macht zu stürzen trachten. Die monopolisierte vis-Ge-
225
Staatslehre, S. 272.
226
Vgl. H Heller, Staatslehre, S. 272.
182
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
wait des Staates aktualisiert sich freilich nicht erst im Augenblick der tatsächlichen Anwendung von Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung der politischen Macht und ihrer Entscheidungen. Ihre Wirkkraft erwächst bereits aus der bloßen Möglichkeit ihres Einsatzes. Staatliche (Polizei-)Gewalt gründet sich mehr und muß sich mehr gründen auf das aus der alleinigen Zuständigkeit zur Gewaltanwendung resultierende Drohpotential. Denn ein allzuhäufiger tatsächlicher Einsatz staatlicher Gewaltmittel ist wegen des Verhältnisses von Macht und Gewalt Symptom einer Macht- und damit einer Staatskrise227. Hier zeigen sich zugleich die Gefahren der Macht. Auch Gewalt, die legitimer Macht zur Verfügung steht, entfaltet ihre eigene Dynamik. Der Gewaltapparat strahlt eine nur schwer zu widerstehende Verführungskraft auf den Machthaber aus228, und zwar vor allem im Moment des Machtverlustes229, in dem das Bestreben naheliegt, Macht durch Gewalt zu ersetzen. Die Staatsmacht und das ihr innewohnende Gewaltpotential bedarf daher der Kontrolle, um zu verhindern, daß es zu einer Umkehrung des ZweckMittel-Verhältnisses kommt, d.h. daß es die Mittel der Gewalt sind, die die Zwecke der Macht bestimmen mit der Folge des Untergangs der Macht230. Für Montesquieu 231 ist diese Erkenntnis der Ausgangspunkt seiner Lehre von der Gewaltenteilung, deren moderne Ausprägung heute konstituierendes Merkmal der Verfassungsstaatlichkeit westlicher Prägung ist. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die monopolisierte vis-Gewalt des Staates als Bestandteil seiner potestas-Gewalt gehört in der politischen Realität zur Existenz des machtvollkommenen, souveränen Staates. Sie vermag niemals (verloren gegangene) Macht zu erzeugen, sondern dient allein der Verwirklichung der den Machtkern bildenden Werte- und Willensgemeinschaft. Die Macht setzt der Gewalt Ziele und Grenzen. Staatsgewalt ist gebundene und nur insoweit gerechtfertigte Gewalt. Die politische Solidarität des die Staatsmacht positiv bewirkenden Machtkerns bedarf allerdings der material-rationalen Legitimität. Deren Inhalte stammen aus dem Machtur-
227
Siehe auch U. Matz, Stichwort "Gewalt", Staatslexikon, Sp. 1018.
22«
Vgl. etwa B. Russell, Macht. Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 55.
229 230
731
Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 56.
Vom Geist der Gesetze, X I . Buch, 4. Kap., S. 211.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates
183
sprung, der mit der Gründung und dem Bestehen des Staates zusammenfällt. Dazu gehört auch die Kontrolle der Machtausübung. Staatliche Gewalt existiert daher zugleich im Rahmen und zum Zwecke (rechtlich) kontrollierter staatlicher Macht. Durch diese Rück-, An- und Einbindung der Gewalt des Staates wird ihr verletzender Charakter auf ein Minimum des Notwendigen reduziert. Insbesondere verliert sie ein das Übel der Gewalt wesentlich begründendes Merkmal: die aus der Möglichkeit ihres Einsatzes folgende Ungewißheit, Unsicherheit und Angst232. Die Monopolgewalt des Staates ist machtgebundene und damit kontrollierte Gewalt und daher anders als die undisziplinierte, rohe Gewalt Privater berechenbar, voraussehbar und kalkulierbar. Im Rechtsstaat ist sie zudem an den Verfassungsgrundsatz des Übermaßverbots gebunden.
B. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates In formal-rationaler Hinsicht ist das Modell des modernen Staates also legitimiert durch seine Machtbasis, durch die Solidarität, auf die er trifft, die mit seiner Entstehung und seinem Bestehen zusammenfällt. Der fortdauernde Geltungsanspruch, den der moderne (Verfassungs-)Staat und seine Institutionen verkörpern, gründet jedoch - wie schon angesprochen233 - in einem profunderen Maße auf den Inhalten der ethisch-rechtlichen Wertvorstellungen, über die solidarisches Einvernehmen besteht. Aus der Entsprechung zu diesen Maßstäben, seinem Sein-Sollen, nicht aus der Zwangswirkung seines Gewaltpotentials, bezieht der Staat seine Macht in einem materiellen Sinne und daraus erlangt er seine bleibende Anerkennung. Diese betrifft seine Existenz wie seine Essenz gleichermaßen. Somit ergibt sich für den modernen Staat ein Legitimationszusammenhang, der geprägt ist von einem gestuften System aufeinander aufbauender wertrationaler Direktiven, denen er (zweckrational) zu genügen hat.
232
Ähnlich Η Heller, Staatslehre, S. 219.
233
Oben 3. Kap., A, III, 2.
184
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
I. Der Ursprung staatlicher Macht: Frieden und Sicherheit als Dokumente der Zivilisation
Auf einer ersten Stufe ergibt sich die Macht des Staates aus dem Machtursprung 234. Aus diesem bezieht er seine Existenz überhaupt, seine Existentialität. Die Bewahrung seiner Ursprungsbedingungen und -prämissen ist daher conditio sine qua non für seinen Fortbestand. Sie erschließen sich aus einer mehrdimensionalen Betrachtung235, in der sich tatsächliche Aspekte seiner Entwicklungsgeschichte und ideelle Erkenntnisse seines Errichtungsgrundes verbinden und ergänzen.
1. Die Entwicklungslinien des modernen Staates
Ein kurzer Blick auf die Genese des modernen Staates seit seinen definierten Ursprüngen zu Beginn des abendländischen, namentlich europäischen 16. Jahrhunderts vermag zunächst Aufschluß zu geben über das "Wie" seines tatsächlichen Gewordenseins236. Der Übergang vom mittelalterlichen, stark hierarchisch strukturierten Reich oder Land in die Epoche der Staatlichkeit vollzog sich mit voller Kraft als Reaktion auf die Konfessionskriege des Hochmittelalters. Vor dem Hintergrund der durch die Machtkämpfe zwischen Kaiser und Papst und die Erstarkung der Territorialfürsten bereits zur Jahrtausendwende eingeleiteten Erosion der zentralen Reichsgewalt237 führten die Religionskriege, später begleitet von sozial begründeten Auseinandersetzungen (Bauernkriege), zur Auflösung der alten, auf persönliche Abhängigkeiten gestützten Feudalmächte. An ihre Stelle traten zunächst die mit Territorialhoheit ausgestatteten Stände, bis schließlich das Zeitalter des Absolutismus zur Gänze hereinbrach. Die Herrschaft der Fürsten und Monarchen konnte sich endlich vol-
234
Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, S. 53.
73c
Vgl. auch Th. Fleiner-Gerster,
Allgemeine Staatslehre, S. 2, 9.
236
Richtungsweisend hierzu O. Brunner, Land und Herrschaft; F. A. Freiherr
v.d.Heydte,
Die Geburtsstunde des souveränen Staates; siehe auch H. Heller, Staatslehre, S. 141 ff.; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 15 ff. 237
Als Auslöser ist wohl der Suprematieanspruch des Papstes anzusehen; vgl. E.-W. Bökkenförde,
Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S. 46 ff. - Freilich voll-
zog sich in anderen Kulturen der Prozeß der Staatlichkeit, worauf Th. Fleiner-Gerster, meine Staatslehre, S. 24, hinweist, gerade über die Religion.
Allge-
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates
185
lends auf das stützen, was der Sache nach das Blut und den Schweiß der vergangenen Konflikte gekostet und auch im folgenden das Machtstreben der neuen Landesherren bewegt hat: die Souveränität, nach außen gegen Kaiser und Papst, nach innen gegen die noch verbliebenen Feudalmächte. Es entstanden territorial abgegrenzte, zentrale, einheitliche, nach außen souveräne und nach innen höchste, virtuell allzuständige Staatsgewalten. Diese langwierige und schmerzhafte Geburt souveräner Staatlichkeit ist mit einem weiteren geschichtlichen Vorgang verbunden, ohne ihn nicht denkbar und nicht erklärbar: die Säkularisierung der politischen Ordnung. Es ist die Loslösung politischer Herrschaft von jegücher geistlich-religiösen Ableitung und Bestimmung, die zunächst an der Befriedung des im 16. Jahrhundert von den Religionskriegen erschütterten Europas und schließlich an der Entstehung einheitlicher, ungeteilter Staatsgefüge maßgeblich Anteil hat238. Bereits in der mittelalterlichen Polarität von Staat und Kirche als Folge des Investiturstreits angelegt, konnte sie trotz zahlreicher Toleranzedikte erst in dem Moment Wirklichkeit werden, als die absolute Eigenmacht, die Souveränität des Königs der Forderung der französischen "Politiques" nach konfessioneller Toleranz zum Durchbruch verhalf. Diese setzten sich in der Situation des unentwegten Fortgangs des blutigen Gemetzels religiöser Fanatiker weder für die katholische noch die protestantische Sache, sondern allein für die Sache des Gemeinwesens ein - und das hieß für den Frieden 239. Denn, so meinte Michel de l'Hôpital , der Kanzler Frankreichs 1562, seiner Zeit vorauseilend, nicht darauf komme es an, welches die wahre Religion sei, sondern wie man beisammen leben könne240. Die Souveränität begründete somit den (konfessionellen) Frieden; Friede durch (weltanschaulich-konfessionell neutrale) Souveränität ist auch das Modell des demokratischen Verfassungsstaats 241. Die Verobjektivierung der politischen Herrschaft erklärt den modernen Staat als eine spezifische Schöpfung des okzidentalen Rationalismus (Max Weber 242) und führt zu dem 238
Dazu stellvertretend E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S. 42 ff.; Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 32 ff. 239
Vgl. M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 48 ff.; R. Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. 240
Zitiert bei M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 51; E.-W. Böckenförde,
Die Ent-
stehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S. 43 f.; J. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 50. 241 So auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 48. 242
Wirtschaft und Gesellschaft, S. 815 ff.
186
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
der modernen Staatlichkeit eigenen, institutionell-mechanistischen243 Staatsverständnis, das den Staat als staatsform- und weltanschaulich-konfessionell indifferentes, nicht vorgegebenes, sondern mach- und verfügbares 244 Organisationsmodell politischer Ordnung begreift 245. Die Profanisierung des Staates mündet schließlich im liberalistischen Zeitalter in die Trennung von Staat und Gesellschaft, deren Sprengkraft für das Gemeinwesen der Typus "Verfassungsstaat" des 20. Jahrhunderts durch Integration (Rudolf Smend) und Kulturstaatlichkeit (Hermann Heller; Ernst-Rudolf Huber, Peter Häberle) aufzufangen sucht. Mit der Ausweitung seiner Macht setzte der Staat auch gegenüber den überkommenen ständischen, auf "privatrechtlichen" Abhängigkeiten beruhenden Zwischengewalten seine absolute, hoheitliche Gewalt durch; es entstand die unmittelbare, unvermittelte, öffentlich-rechtliche Herrschaftsbeziehung zwischen (übergeordnetem) Staat und (untergeordnetem) Bürger 246. Ferner konkretisierte sich mit der Ausschaltung jeder Eigenmächtigkeit, der Selbstjustiz und des Fehderechts zum Zwecke der sozialen Befriedung die in ihrer Zuständigkeit potentiell allumfassende Staatsgewalt in der Monopoüsierung der Gewaltausübung beim Staat. Mit ihr entwickelte sich die (säkularisierte) Legalität als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft. Über diese hatte der Landesherr mit Hilfe seines "Apparates" zu wachen. Damit war der Typus "moderner Staat" entstanden. Im Zuge des Aufkommens der bürgerlichen Gesellschaft geriet zwar die tatsächliche Organisation des Staates, die konkrete Ausübung der Staatsgewalt im wahrsten Sinne des Wortes und in der Zeitachse auch von allen Seiten unter "Beschüß". Kriege und Krisen, Revolutionen und Evolutionen unter der Fahne der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, der Menschenrechte und der Volkssouveränität, des Nationalismus, des Konstitutionalismus, des Liberalismus, Sozialismus oder Totalitarismus berührten, abgesehen von bloß imperialistischem Expansionsdrang, stets die konkrete Ordnung in einem Staat, stellten sich also stets als (Folgen einer) Störung im Staat, nicht des
244
Vgl. /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 58. Zur Idee der Machbarkeit und Verfügbarkeit siehe /. Isensee, in: Handbuch des Staats-
rechts I, § 13, RdNr. 57. 245
246
Grundlegend H. Heller, Staatslehre, S. 259 ff. Siehe schon oben 3. Kap., A, II. Vgl. dazu Th. Fleiner-Gerster,
des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 52.
Allgemeine Staatslehre, S. 121; J. Isensee, in: Handbuch
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates
187
Staates an sich dar 247. Mag auch die neue Aktivität im Staat wie des Staates248 zahlreiche Kleinstaaten größeren Verbänden zugeschlagen, den Rechtsbewahrungs- zum Gesetzgebungsstaat gewandelt und etwa im westlichen Europa zu freiheitlich-demokratisch, rechts- und sozialstaatlich verfaßten, gewaltengeteilten Staatsgebilden geführt haben, das Strukturmodell des modernen Staates blieb dadurch stets unberührt und überdauerte jede Veränderung und Verbesserung der konkreten Staatsordnung.
2. D i e Idee des Entstehungsgrundes
Schon der kurze Blick auf sein geschichtliches Werden läßt erkennen, welchen grundlegenden Sinnes und Zweckes der moderne Staat ist. Erst die eingehende Forschung nach der Idee, nach dem "Warum" seines tatsächlichen Gewordenseins jedoch vermag jenes tiefere Verständnis für den Typus "moderner Staat" hervorzubringen, das Gegenwarts- und Zukunftsprobleme des konkreten (Verfassungs-)Staatslebens zu erfassen, zu beurteilen und damit auch - sachgerechter - zu lösen weiß. Spätestens mit der französischen Revolution, die insoweit auf die Staatstheorien eines Thomas Hobbes und eines John Locke zurückgreifen sowie auf den Leistungen der "Politiques" aufbauen konnte, rückte der Mensch in das Zentrum des politischen und philosophischen Denkens über den Staat. Der Entstehungsgrund des Staates wurde nicht mehr als etwas geschichtlich Zwangsläufiges und natürlich Vorgegebenes gesehen, weder als das Ergebnis göttlicher Stiftung betrachtet noch in der Verantwortung für die Heilswahrheit gesucht, sondern in der Bezogenheit auf den Menschen als Menschen konzentriert 249. Der neuzeitliche Geist stellt den Staat in den Dienst des Menschen, der Staat ist "um des Menschen willen da", nicht (mehr) umgekehrt. Die (vorstaatlichen) Bedürfnisse jedes einzelnen werden über diejenigen eines einzelnen wie des Ganzen gestellt; das "Kollektiv ist sekundär"250. Maßstab der Legitimität des Staates war und ist nicht mehr seine Tradition,
247
432.
So auch deutlich für die nationalsozialistische Gewaltherrschaft A. Arndt, NJW 1962, S.
248 249
Siehe dazu Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 62 ff. Vgl. E.-W. Böckenförde,
Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S.
56; J. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 57. 250 P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 81.
188
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
seine Gottgefälligkeit (Augustinus, Thomas von Aquin) oder/und seine Machttauglichkeit ( Machiavelli sondern seine Entsprechung zu den vom Menschen gesetzten (irdischen) Imperativen. Der Staat wurde und ist etwas spezifisch Politisches, er erschöpft sich in seiner Diesseits-Orientierung 251. Die Frage nach dem Ursprung des Staates führt demnach zurück zu der Frage nach dem Bild des Menschen, von dem das Organisationsmodell "Staat" ausgeht. Es gibt Auskunft über das, was der Staat primär organisieren will und soll, über die Ursehnsüchte des Menschen, die ihn aus einem status naturalis heraus zur Errichtung eines staatlichen Gemeinwesens veranlassen bzw. veranlaßt haben. Zum Teil ist dies bereits vorgezeichnet: Der Mensch wird begriffen als individuelles, selbstbestimmtes, d.h. vor allem profanes, von religiöser Bestimmtheit emanzipiertes Wesen252. Unbeschadet dessen sind die Menschenbilder in der klassischen europäischen Staatsphilosophie durchweg unverkennbar von christlichem Gedankengut geprägt 253. Je nachdem, ob ein paradiesischer oder ein durch die Erbsünde verdorbener Adam im Mittelpunkt der Überlegungen steht, entwickeln sie jedoch recht unterschiedliche Vorstellungen vom Wesen des Menschen. Dementsprechend läßt sich in den Jahrhunderten des Denkens über Mensch und Staat immer wieder eine "eher pessimistische und eine eher optimistische Variante" 254 des Menschenbildes ausmachen255. 251
Mit dieser Orientierung vertragen sich nicht Staatsauffassungen, die dem Staat einen höheren, im Sinne von über den Menschen stehenden und von diesem wesensgemäß losgelösten Wert beimessen. Der Staat verkörpert nicht ein höheres Sein etwa im tege/ianischen Sinne, das zwar der sittlichen Idee und dem sittlichen Geist entstamme, beide aber in ihrer höchsten und göttlichen Form vollende und damit objektiviere mit der Folge der Verabsolutierung des Staates an sich, in dem der subjektive Wille des einzelnen aufgehe und verschwinde (zu Hegels "Bild vom Staat" vgl. Th. Fleiner-Gerster,
Allgemeine Staatslehre, S. 44 ff.). - Auch eine
weitgehende Verselbständigung des Allgemeinwillens, der Volonté générale", gegenüber der Summe aller Einzelinteressen, der "volonté de tous", wie sie Rousseau, als Wesensmerkmal des Staates vorschwebte, enthält noch Spuren der aristotelischen Staatstheorie, nach der der Mensch im Dienste des Staates stehe und nicht umgekehrt. 252
S. 56.
Vgl. E.-W. Böckenförde,
Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation,
Vgl. G. Jellinek, Adam in der Staatslehre, S. 23 ff. 254
P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 36.
255
Gemeinsam ist ihnen jedoch die Uberwindung zweier Auffassungen, wie sie noch von der klassischen politischen Philosophie im Anschluß an Aristoteles vertreten wurden: zum einen derjenigen von der naturgegebenen ungleichen Bestimmung der Menschen (entweder zum Sklaven oder zum Herrn) und zum anderen deijenigen, daß der Mensch "ursprünglich gesellig", Polis oder Staat also Folge der in der sittlichen Natur des humanen Menschen begründeten Ein- und Unterordnung sei. Die neuzeitliche Philosophie betrachtet die Menschen
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates
189
Die pessimistische Richtung, für die Thomas Hobbes, Martin Luther und Arthur Schopenhauer stellvertretend genannt sein mögen, begründet die Unentbehrlichkeit des Staates gegenüber den Utopien der Anarchie mit dem Argument: "Der Mensch ist böse"256 bzw. sündhaft. Er befinde sich entsprechend seiner "grenzenlos egoistischen, ungerechten, unbilligen, unredlichen, neidischen, boshaften und dabei sehr beschränkten und querköpfigen" 257 Natur in einem Zustand, "der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden"258. Es sei "homo homini lupus"259. Dieser kriegerische, von Konkurrenz und Machthunger durchtriebene "Normalzustand" äußere sich nicht nur in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern zeige sich auch in der ständigen Bereitschaft dazu während kampfloser Zeiten. Wegen der hieraus folgenden beständigen Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes260 bedürfe es auf irgendeine Weise der Sicherung der Erhaltungsbedingungen des Lebens, d.h. der Wahrung des Friedens, so daß sich die Menschen in Ruhe um die Gestaltung eines angenehmen Lebens bemühen könnten. Aus der den Gesetzen der Natur entnommenen und in den Dienst der Befriedigung dieser Bedürfnisse gestellten Vernunft folge die Übertragung souveräner Macht auf einen oder mehrere Menschen und die Unterwerfung aller unter diese Obrigkeit aufgrund eines (fiktiven) Vertrages 261. Das Bild des aggressiven und machthungrigen Menschen, der nur mit Zwang und Gewalt "gezähmt" werden könne, begründe und rechtfertige demnach eine unumschränkte, absolutistische Staatsgewalt262. als solche als im wesentlichen gleich, und die Vergesellschaftung wird nicht mehr als Zweck, sondern lediglich als Mittel angesehen. Vgl. etwa /. Fetscher, in: Th. Hobbes, Leviathan, S. X X . 256
Vgl. M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 133 ff.
257
A. Schopenhauer, Uber die Universitätsphilosophie, S. 22 f.; vgl. auch ders., Die Welt als Wille und Vorstellung, Viertes Buch, § 62 passim. 258 Th. Hobbes, Leviathan, Teil 1,13. Kap., S. 96. 259
Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, ein wildes Tier. Vgl. Th. Hobbes, Vom Bürger,
S. 57,59. Weshalb das menschliche Leben "einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz" sei, Th. Hobbes, Leviathan, Teil 1,13. Kap., S. 96. 261
Und zwar so, "daß jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese
Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird". Denn "die natürlichen Gesetze ... kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt": Th. Hobbes, Leviathan, Teil II, 17. Kap., S. 134,131. Th. Hobbes spricht sich zwar nicht nur für eine monarchische Staatsform aus, gibt dieser aber doch eindeutig den Vorrang vor einer "Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwil-
190
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
In krassen Gegensatz zu dieser pessimistischen Auffassung vom aggressiven Verhalten der Menschen stellt sich die marxistisch-leninistische Staatslehre. Sie greift für ihre Theorie auf einen paradiesischen Zustand vor dem (ökonomisch-materialistischen) "Sûndenfall" zurück, der für die Klassengegensätzlichkeit der Gesellschaft und ihr jeweiliges geschichtliches Bild verantwortlich sei. Dieses sei mit dem Aufkommen des Privateigentums geprägt von der politischen Herrschaft der Kapitalisten- über die Arbeiterklasse (Bourgeoisie und Proletariat) 263. Nach der ursprünglichen Theorie wie auch nach der neomarxistischen "Frankfurter" Schule ist daher die Schaffung der "klassenlosen Gesellschaft", also die Ent-"Entfremdung" des Menschen durch die Rückkehr in einen ursprünglichen paradiesischen Zustand das Ziel; der Staat müsse als Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument dann durch die Diktatur des Proletariats oder (heute) den "Staat des ganzen Volkes"264 abgelöst werden. Bis dahin sei dem Sowjetstaat mit seiner das Proletariat vertretenden Einheitspartei bedenkenlos Macht und Gewalt anzuvertrauen, weil er diese ja nur zur "Befreiung" des entfremdeten Menschen und zur Befriedigung seiner Bedürfnisse einsetze. - Wie gründlich (und mit welchen verheerenden Folgen) sich der Marxismus-Leninismus darin und in der Beschaffenheit der menschlichen Natur geirrt hat, beweist der Blick auf die Geschichte der östlichen Hemisphäre der letzten siebzig Jahre, die spätestens seit der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 und dem Ende der UdSSR im Dezember 1991 zur Epoche geworden ist - eine Erkenntnis, die allmählich doch auf breitere Einsicht zu stoßen scheint. Ein gedämpft optimistisches Bild vom vorstaatlichen Naturzustand der Menschen schließlich ist kennzeichnend für die naturrechtliche Staatstheorie der Aufklärung, für dessen Inhalte vor allem das Denken von John Locke len durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können" (Leviathan, Teil II, 17. Kap., S. 134). Vgl. auch Th. Fleiner-Gerster,
Allgemeine Staatslehre, S. 34. - Daß (auch) auf den
Stellvertreter dieses Staates das genannte Menschenbild zutreffen kann, müsse, so Hobbes, in Kauf genommen werden, denn dem so legitimierten Souverän kann seine Gewalt nicht genommen werden, andernfalls der Sitz der Souveränität selbst den Gesetzen des Krieges unterstellt und damit der Zweck der Friedenssicherung nicht erreicht würde. M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 133 ff., 134, 136, spricht daher von einer reinen "Legende, daß Hobbes' politische Theorie von einem anthropologischen Pessimismus ausging". Vielmehr basiere seine Staatsphilosophie auf einem "naiven anthropologischen Optimismus". 263
Darauf aufbauend entwickelt J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus,
seine "Krisentheoreme" zur Begründung der Illegitimität der gegenwärtigen, "spätkapitalistischen" Gesellschaft. 264
Vgl. Präambel der Verfassung der UdSSR von 1977; gemeint sind alle "Werktätigen".
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates
191
und Immanuel Kant stehen. Für Locke ist der Zustand, in welchem sich die Menschen von Natur aus befinden, ein solcher "vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein"265. Aber obgleich dies ein Zustand der Freiheit sei, so sei es doch kein Zustand der Zügellosigkeit. Im Naturzustand herrsche ein natürliches Gesetz, das jeden vernünftigerweise verpflichte, niemandem Schaden zuzufügen 266. Nur auf den ersten Blick allerdings ist damit das von Locke entworfene Menschenbild ein erheblich weniger radikales als jenes von Thomas Hobbes. Denn dieser Friedenszustand herrsche nur - und das wird bei der Betrachtung der politischen Theorie Lockes häufig vernachlässigt - in einer ersten Phase des Naturzustandes. Dieses Bild ändere sich aber schlagartig mit der Einführung der Geldwirtschaft, dem Beginn der zweiten Phase des Naturzustandes267. Damit seien die Menschen übereingekommen, daß ungleicher Besitz möglich und redlich sei mit der Folge, daß der gute und gottgewollte Egoismus zum "Verlangen, mehr zu haben, als der Mensch benötigte", oder gar zum "amor sceleratus habendi"268 (verbrecherischer Besitztrieb) entarte. "Das goldene Zeitalter" 269 des friedlichen, sich im Einklang mit dem natürlichen Gesetz befindlichen Naturzustands, münde in einen Zustand "voll von Furcht und ständiger Gefahr", der die "Freude an seinem Eigentum, das der Mensch in diesem Zustand besitzt, sehr ungewiß und unsicher" werden läßt270. Denn die Mehrzahl der Menschen halte sich nicht mehr an jenes natürliche Gesetz, ja kenne es kaum, sondern kümmere sich um ihre eigenen Interessen271. Dieser Zustand der völligen Unsicherheit treibe den Menschen dazu, seinen freien, aber gefährlichen Naturzustand zu verlassen, um "sich mit anderen zu einer Gesellschaft zu verbinden, die bereits vereint sind oder die Absicht hegen, sich zu vereinigen, zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheiten und ih-
265
Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 4, S. 201.
266
/. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 6, S. 203.
267
J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 37 ff., S. 222 ff.
/.
268 269 270 271
J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 111, S. 270. J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 111, S. 270. /. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 123, S. 278. Hier liegen die Wurzeln der marxistisch-materialistischen Gesellschaftstheorie: vgl.
auch W. Euchner, in: J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, S. 35.
192
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
res Vermögens". Dies sei, eben auf der Grundlage eines Sozialvertrages, der Zweck des Staates, denn im Naturzustand fehle es an einem feststehenden, geordneten und bekannten Gesetz, an einem anerkannten und unparteiischen Richter mit Entscheidungsautorität und an einer Gewalt, dem gerechten Urteil die ihm gebührende Vollstreckung zu sichern272. Immanuel Kant ist demgegenüber hinsichtlich einer Festlegung auf Fakten des vorstaatlichen Zustandes zurückhaltender. Entscheidend sei, daß sich die Menschen, bevor sie sich einem "öffentlich gesetzlichen Zwang" unterwerfen, in einem "Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus)", der von dem der Ungerechtigkeit unterschieden wird, befänden. Denn es liege "a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht-rechtlichen) Zustandes, daß, bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewalttätigkeit gegen einander sicher sein können, und zwar aus jedes seinem eigenen Recht, zu tun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des anderen nicht abzuhängen"273. Wegen dieser steten Konfliktgefahr hätten sich die Menschen vertraglich zu einem Staat als "einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen"274 vereinigt, dem die Gesetze der Natur als "Richtschnur" dienten. An anderer Stelle betont Kant 275 den naturgegebenen Antagonismus der menschlichen Gesellschaft deutlicher: "Der Friedenszustand unter den Menschen, die nebeneinander leben, ist kein Naturzustand (status naturalis), der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d.i. wenngleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, doch immerwährende Bedrohung mit denselben. Er muß also gestiftet werden." Ursächlich und verantwortlich dafür ist die "ungesellige Geselligkeit der Menschen, d.i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft beständig zu trennen droht, verbunden ist. Hiezu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur". Allein deshalb aber entwickele sich die Gesellschaft: "Dank sei also der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstig wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben und auch zum Herrschen! Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen in der Menschheit ewig unentwickelt schlum-
272
Siehe J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung, II, § 124 ff., S. 278 f. 273
I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 44, S. 430.
774
/. Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 45, S. 431. 275
Zum ewigen Frieden, S. 10.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates193
mern. Der Mensch will Eintracht; aber die Natur weiß es besser, was für seine Gattung gut ist: sie will Zwietracht." 276 Der moderne, säkularisierte Staat und der Verfassungsstaat als seine Fortentwicklung leben in Sachen Menschenbild in Xû/ifscher Tradition 277. Die "Notwendigkeit" des Staates begründet sich danach allein aus der wertfreien Vorstellung des natürlichen Antagonismus - jenseits einer Festlegung auf das Gute oder das Böse im Menschen278. Einer solchen bedarf es im übrigen auch gar nicht. Die Notwendigkeit des Staates besteht nicht nur dann, wenn wir die Ansicht homo homine lupus annehmen, sondern, worauf Karl R. Poppet 19 zu Recht hinweist, selbst dann, wenn wir von homo homine felis oder gar homo homine angelus ausgingen. Denn Starke und Schwache wird es immer geben, aber das Recht, der unbedingte Anspruch des Schwächeren, vom Stärkeren auch tatsächlich geduldet zu werden, kann selbst das "optimistischste" Menschenbild nicht gewährleisten. Es bleibt daher die Unsicherheit, die Ungewißheit, ob sich "der andere" wirklich dementsprechend engelhaft gütig verhält. Der moderne Staat rechnet mit allem und hat sich daher auf alles eingerichtet280. Die Vorstellung vom antagonistischen Treiben in der vorstaatlichen menschlichen Gesellschaft beruht auf der "anthropologischen Prämisse"281 der Individualität und der Einzigartigkeit des Menschen, seiner Identität und Diffusität. Ihr "Kern" 282 ist die Würde des Menschen. Hierin, in der Subjektstellung des Menschen liegt "die spezifische Kulturleistung Europas"283. Um ihretwillen, genauer: um ihrer Bewahrung in der antagonistischen Gesellschaft willen existiert der Staat. Für den Typus "moderner Staat" ist das Individuum erster und letzter Grund, für den Typus "Verfassungsstaat" zudem erster und letzter (Grund-)Wert 284. Es geht um das "immer neue Sich27 6
1. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, S. 25 ff.
277
Und die "Menschenwürde" verbietet es, hinter 'Χα/ti" zurückzugehen! Darauf weist insbesondere P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 86, hin. 278 279 280 281
Vgl. auch Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 210. Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 169 f. So auch Herben Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 210. P. Häberle, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 20, RdNr. 56; ders., Das Menschenbild im
Verfassungsstaat, S. 35. 282
2trx
Vgl. P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 86 mit F N 239. P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 81 F N 225.
284
Vgl. für den Verfassungsstaat P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 81. 13 Schmitt Glaeser
194
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
Vertragen und -Ertragen" 7* 5 aller Bürger im Zusammen- und Miteinander-Leben. Der (individuelle) Mensch aber erzeugt (allgemeine) Unsicherheit. In der Einzigartigkeit des Individuums Hegt die unendliche Vielheit und Vielzahl menschlicher Verhaltensweisen begründet. Das ursprüngliche Spektrum individuellen Verhaltens ist schillernd, diffus und in den Grenzen der Naturgesetze beliebig. Die verschiedenen Motive und Bedürfnisse, Maßstäbe und Orientierungsdimensionen, Glaubens- und Weltbilder, die das soziale Handeln im gegebenen Handlungsraum auslösen und lenken, sind genau so vielfältig und damit chaotisch wie es an ordnenden, konventionell-normativen Faktoren fehlt. Die natürlich-diffuse Individualität eines jeden hat damit für jeden die Unberechenbarkeit des Ob" und des "Wie" seines Auftretens in der sozialen Wirklichkeit zur Folge. Die ursprüngliche Unbeschränktheit und Grenzenlosigkeit individuellen Handelns führt in der Unordnung zu einem Zustand latenter Unsicherheit und gegenseitiger Gefährdung und Bedrohung des Daseins und Soseins286. Das "Primär-Bedürfnis" des Menschen in der Gesellschaft, das ihn aus einem Gefühl der Angst heraus daher stets und überall begleitet, ist dasjenige nach der Gewißheit über die Erhaltung seiner Individualität und Identität. Die Sehnsüchte, die seine Geselligkeit existentiell begleiten sind erstens: Vertrauen haben zu können in die eigenen Verhaltenserwartungen an das Gegenüber, und zweitens: von ungewollten, zwanghaften Übergriffen in die eigene Integrität verschont zu bleiben. Sicherheit und Frieden, und zwar absolute Sicherheit und absoluter Frieden, sind die Ursehnsüchte eines jeden Menschen und die (Grundbedingungen für die Entfaltung seiner Individualität und Identität auch in politicis, und zwar - im Sinne des kategorischen Imperativs Immanuel Kants 287 immer und überall, zu jeder Zeit und an jedem Ort! Ihre Befriedigung ist conditio sine qua non für seine Gemeinschaft mit Gleichen in Freiheit und Gerechtigkeit. Dies muß zur Ablehnung eines bloß formellen Begriffsverständnisses von Frieden und Sicherheit führen, wie es noch in den Theorien 285
Zu dieser Theorie von der Verfassung vgl. P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, S. 438 ff. 286
Selbst bei Annahme eines allen Individuen innewohnenden Selbsterhaltungstriebs, der der Beliebigkeit naturrechtlich begründete normative Grenzen zu setzen und Übergriffe folglich mit einem Unwerturteil zu belegen vermag, bleibt immerhin die an diesem Maßstab zu messende Fehlerhaftigkeit des Menschen, die die Gefährlichkeit menschlichen Zusammenlebens ausmacht. 287
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Zweiter Abschnitt, S. 68: "Handle nur nach deijenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." Vgl. auch ders., Die Metaphysik der Sitten, Einleitung I V , S. 331.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates
195
der französischen "Politiques" aus der Gegenüberstellung zum Bürgerkrieg um die Vorherrschaft des wahren Glaubens gewonnen wurde 288. Der Frieden ist nicht eine bloß formale Kategorie und damit vermeintlich minderoder gar-nicht-wertig. Vielmehr sind innerer Frieden und innere Sicherheit in sich und in der Idee der Freiheit gerechtfertigte Werte. Im konsentierten Streben aller nach Zwang- und Gewaltlosigkeit, nach Berechenbarkeit des Alltagslebens dokumentiert sich die Zivilisation an sich289. Ihr Zustand, ihr Prozeß zeigt sich dann anhand der rechtsethisch-kulturellen Höhe der normativen Konventionen, die diese Zivilisation tragen, d.h. gegenüber dem vorgegebenen Chaos zur konkreten Wirklichkeit verhelfen. Denn das SeinSollen der allgemeinen Friedlichkeit und Sicherheit erfordert wiederum den gesellschaftlichen Konsens über Maßstäbe, auf die sich ein solcher Zustand gründen kann, also über die (Mindest-)Inhalte und Ausmaße individueller Integrität und über die Regeln, die die gegenseitige Vertrauensbildung ermöglichen. Frieden und Sicherheit sind daher immer /tectofrieden und Rechtssicherheit 290. Die Vernunft hat die (Primär-)Konvention des Friedens als einer "vorstaatlichen Einheit"291 von der Ebene der Gesellschaft zum Thema des (souveränen) Staates erhoben. In der Tradition von Hobbes und Locke bis Rousseau und Kant kulminiert dieser Akt - staatstheoretisch betrachtet - im Abschluß eines sich ständig erneuernden Staats- und Verfassungsvertrages, in dem als Ausdruck der Selbstbestimmung die sachlichen Grundlagen des Staates von allen gemeinsam angenommen werden 292. Er entsteht und besteht somit als Projekt der Vernunft, als "Zweckschöpfung politischer Vernunft" 293 und ist insoweit immer nur dienender Staat. So wie demnach das Individuum in letzter Konsequenz die Bewahrung seiner Existenz in der Koexistenz und im Kontext mit anderen der ordnenden Gewalt des Staates verdankt, so bezieht der Staat letztlich seine Existen288
S. 51.
Siehe E.-W. Böckenförde,
Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation,
289 290 291 292
Im Sinne N. Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation. Dazu noch unten 3. Kap., Β, II, 2. Siehe /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNrn. 109 ff. Vgl. U. Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem, S. 61. -
Zu weiteren Vertretern in der neueren Staatsrechtslehre vgl. H. Schulze-Fielitz, Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, S. 213 ff. 293 /. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNrn. 56.
Theorie und
196
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
tialität aus der Erfüllung dieser Aufgabe. Die Schaffung des inneren Friedens und die Herstellung eines Gesamtzustands der Sicherheit ist wegen der Subje stellung seiner Bürger der erste und der letzte Zweck des Staates. Die Entsche dung für den Frieden muß sich dabei geradezu automatisch im Verhalten der den Staat bildenden Menschen manifestieren. Zusammenleben verlangt Solidarität. Dem Staat obliegt zwar die Zuständigkeit und Verantwortung für die (Wieder-)Herstellung der im Bürger-Bürger- oder auch im BürgerStaat-Verhältnis (gestörten) Friedlichkeit, letztlich aber kann er diesem Anspruch nur mit Hilfe seiner Bürger genügen294. Auch und gerade in der Sache des Friedens bedarf die staatliche Einheit der tatsächlich gelebten bürgerlichen Einheit. Der Staat und seine Bürger leben von der Friedlichkeit des Staates und seiner Bürger. Nur unter diesen Bedingungen kann sich ein freiheitliches Staatswesen entwickeln. Ein Mindestmaß an normativer Zumutung295 ist daher im Sinne einer Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums - um seiner selbst willen! - unverzichtbar. Friedenspflicht und Rechtsgehorsam sind unabdingbare Sollforderungen und ungeschriebene Grundpflichten jedermanns in der "zivilen" Ordnung 296. Sie liegen jeder anderen Pflicht und jedem Recht der staatlichen Ordnung voraus, weil sie eben diese Ordnung erst hervorbringen 297. Der Verfassungsstaat hält an diesem Menschenbild fest bzw. baut auf ihm auf. Trotz der ihm innewohnenden Spannung "zwischen dem schöpferischen Prinzip agonaler Freiheit und dem ordnenden Prinzip des allgemeinen Gesetzes"298, deren ständigen Ausgleich er organisieren muß, ist er die einzige Ordnungseinheit, die Frieden und Freiheit effektiv zu garantieren vermag, weil er die entsprechenden Elemente "seines" Menschenbildes voraussetzt und als Bedingungen für menschliche und menschenwürdige Individualität und Identität aller rechtlich festlegt 299. Die Friedlichkeit ist gesetzter "Orientierungswert" eines insoweit normativen und einheitlichen Bildes vom Menschen im Verfassungsstaat. Erst ab hier beginnt der Pluralismus an Glaubens· und Weltbildern, an weltanschaulichen Bekenntnissen, politischen 294
Vgl. schon oben 3. Kap., A, III, 3.
295
Vgl. P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 87. In diesem Sinne ist "ziviler Ungehorsam" gerade nicht "zivil"!
296
207
So zu Recht/. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 82.
298 299
/. Isensee, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 13, RdNr. 48. So auch das eindringliche Votum P. Häberles, Das Menschenbild im Verfassungsstaat,
S. 83 f.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates197
Überzeugungen und Ideologien, denen gegenüber freilich der Staat wiederum die Gewährleistung der politischen Einheit zur Aufgabe hat 300 ; erst jenseits dieser Grenze kann die Offenheit" des verfassungsstaatlichen Menschenbildes - "in weltbürgerlicher Absicht"301 - einsetzen. Denn das Friedens- und Sicherheitsbedürfnis des Menschen als tief verwurzelte anthropologische Konstante verlangt auch vom Verfassungsstaat, um dem/seinem Anspruch auf legitime Staatlichkeit zu genügen, mit Nachdruck für den inneren Frieden zu sorgen. Die ursprüngliche Aufgabe des Staates zur Ordnungs- und Friedenssicherung verliert seine fundamentale, existentielle Bedeutung weder dadurch, daß sie immer nur dann zum Vorschein kommt, wenn es in Krisensituationen zur (Lebens-)Gefährdung seiner Bürger kommt, noch dadurch, daß der freiheitlich-demokratische Verfassungsstaat höhere Ansprüche an seine Legitimitätsbedingungen stellt. Friedenssicherung ist dem Verfassungsstaat und seinen Bürgern nicht alles, aber sie ist Voraussetzung für mehr.
II. Echter Friede und echte Sicherheit als Essenz legitimer Staatsmacht
Mit der Wahrung des inneren Friedens steht und fällt das staatliche Gemeinwesen in einem ersten und letzten Sinne. Damit aber begnügt sich der politische, die Legitimität staatlicher Herrschaft einfordernde Geist nicht. Für ihn ist Friedlichkeit die unbedingte, nicht aber die hinreichende Bedingung für legitime Staatlichkeit. Niemals geht es ihm um eine Friedenssicherung um jeden Preis. "Friede durch Terror" 302 ist für ihn keine "Friedens"Konzeption303. Sie würde allenfalls Grabesstille schaffen. Ruhe und Ordnung bedeutet mehr. Die politische Kultur aufgeklärter, pluralistischer und verfaßter Gemeinwesen verlangt neben der Abwesenheit von Chaos, Bürgerkrieg und Terror eine gewisse rechtsethisch-kulturelle Höhe des Staatslebens und seiner Organisation. Gefordert ist allgemeine Friedlichkeit und Sicherheit in Verbindung mit der Wirklichkeit weiterer Haltungen und Geltungen, die die innere Rechts- und Friedensordnung wesentlich bestimmen 300 301
Dazu Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNrn. 5 ff.
Zu diesem Zusammenhang siehe auch P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 83, 88. 302 303
Dazu M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 48. Zum nur "technischen Frieden" als "unvollkommenem Frieden" siehe auch U. Matz, Po-
litik und Gewalt, S. 138.
198
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
(sollen). Nur in diesem Sinne echter Friede und echte Sicherheit geben dem Staatswesen seine Legitimität.
1. Das Recht zum Widerstand als Äquivalent
Mit dem Ansatz weiterer Legitimitätsmaßstäbe wird vollends die "offene Flanke" moderner Staatlichkeit deutlich. Einbruchstelle ist das Recht auf Widerstand. Es richtet sich gegen eine Staatsgewalt, die nicht (mehr) tatsächlicher Ausdruck der legitimen Machtvollkommenheit des Staates ist. Seine Entstehimg und Begründung ist untrennbar mit der Entwicklung des Konzepts der Legitimität verbunden304. Das Widerstandsrecht ist das aktivistische Moment in diesem Konzept, ist die Absicherung des Legitimitätserfordernisses staatlicher Herrschaft, die "naturrechtliche Mitgift" 305 des in die staatliche Gemeinschaft eintretenden Bürgers. Es erhält überdies christliche Weihen durch die Clausula Petri der Apostelgeschichte: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 5, 29). Das heißt: Die Legitimität ist die durch das Widerstandsrecht institutionell gezogene Grenze des Staates, und die Widerstandsidee ist die Kehrseite der Legitimitätsidee. Die Illegitimität der Herrschaft begründet die Legitimität des Widerstands; gegen legitime Herrschaft dagegen ist Widerstand stets illegitim306. Die (negativen) Voraussetzungen des Widerstandsrechts decken sich also mit den (positiven) Voraussetzungen der Legitimität. Widerstand, d.h. Bruch bestehender Legalität, kann so nur in einem konservierenden Sinne ausgeübt werden 307, nämlich - als ultima ratio - zur Wahrung der Legitimität308. Der klassische Fall, an dem in der Geschichte der Staatsphilosophie das Recht zum Widerstand erörtert wurde, ist der der zutiefst unfriedlichen Herrschaft, der Tyrannis, der Despotie. Unter diesen und nur unter diesen Bedingungen ist "Gegen"-Gewalt gerechtfertigt. Unzweifelhaft ist eine solche Situation in der politischen Realität der BR Deutschland und anderer Verfassungsstaaten nicht gegeben und wird selbst 304 305
S. 57.
Vgl. auch Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 9. /. Isensee, Widerstand und demokratische Normalität, S. 41; ders., Ziviler Ungehorsam,
306
Vgl. auch Chr. Gusy, Legitimität im demokratischen Pluralismus, S. 10. 307
308
So ausdrücklich auch BVerfGE
5,85/377.
Vgl. auch /. Isensee, Ziviler Ungehorsam, S. 57.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates199
von denjenigen, die von der "strukturellen Gewalt" des (kapitalistischen) Staates sprechen, nicht vertreten. Doch nicht erst wenn die auf Frieden gegründete Existenz des Staates an sich Opfer despotischer Gewaltherrschaft wird, kommt Widerstand in Betracht, sondern bereits dann, wenn die Essenz legitimer Staatlichkeit, die Grundlagen echter Friedlichkeit in ihrer Gesamtheit Ziel und Gegenstand von nicht anders abzuwehrenden Anschlägen werden. Hier allerdings beginnen die Irritationen. Der politische Protest in der BR Deutschland kleidet sich heute gern mit dem Begriff des "Widerstands", schmückt sich insoweit jedoch mit der falschen Trophäe 309. Im Rechts- und Verfassungsstaat, in dem alle staatliche Gewalt an die in der Verfassung ausgedrückten Legitimitätsgrundlagen gebunden ist, ist Widerstand undenkbar. Widerstand ist nur außerhalb der Verfassungsordnung möglich, nämlich als Instrument gegen Kräfte, die diese Verfassungsordnung zerstören wollen. Wenn dennoch der Widerstandsgedanke in Deutschland nach wie vor Attraktivität besitzt und gleichsam zum Repertoir gewisser politisch Oppositioneller zählt, so mag dies neben der spezifischen historischen Erfahrung auch an dem Wort Gustav Radbruchs von der Möglichkeit "gesetzlichen Unrechts" hegen, das er 1946 als Konsequenz aus der Abkehr vom positivistischen Rechts- und Staatsdenken formulierte, das die nationalsozialistische Machtergreifung und -festigung begünstigt hatte310. Der Typus "Verfassungsstaat", wie er unter dem Grundgesetz (von 1949) verwirklicht ist, hat jedoch diese Spannung aufgelöst. Er hat die rechtsprechende und die vollziehende Gewalt an Gesetz und Recht und die Gesetzgebung an die Inhalte der verfassungsmäßigen Ordnung gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). Wenn der Verfassungsstaat selbst ein Recht zum Widerstand inkorporiert, so verdeutlicht er damit nur seine insoweit gezogenen Grenzen, definiert sozusagen auch von der anderen Seite - gleichsam negativ - seine Legitimitätsgrundlagen. Das Mehrfachbekenntnis des Grundgesetzes als einer Wertordnung hat seinen guten Grund. Denn so gefestigt auch einzelne Wertvorgaben sein mögen, die Frage nach der Legitimität führt im säkula-
309
So auch /. Isensee, Widerstand und demokratische Normalität, S. 43. Vgl. G. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, S. 349 ff. Zu dem
310
angeblichen Bedürfnis, das Versäumnis hinreichenden Widerstandes gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat durch "Widerstand" gegen unseren freiheitlichen Rechtsstaat nachträglich auszugleichen, bemerkt Andreas Püttmann (Widersprechen, damit es nicht zum Widerstand kommt, in: Rheinischer Merkur Nr. 29 vom 20.7.1990, S. 7): "Wenn ... heute überhaupt etwas 'nachgeholt' werden kann, dann nicht der Widerstand gegen die Diktatur, sondern jene Bürgerloyalität, die der Weimarer Demokratie verweigert wurde".
200
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
ren Zeitalter stets in "vorrechtliches Dunkel"311. Der moderne (Verfassungs-)Staat geht von der antagonistischen, pluralistischen Gesellschaft aus und rechnet mit ihr. In ihr aber gibt es keine allgemeinverbindliche, naturrechtlich oder in anderer Weise überstaatlich begründete Doktrin, keine allseits akzeptierte Autorität. Der Verfassungsstaat überführt die vorstaatliche Einheit, derer er im Ursprung seiner Macht bedarf, in das innerstaatliche Geschehen, in dem er die Grundsätze und Bedingungen anerkennungswürdiger Herrschaft positiv ausweist. Das Problem der Legitimität wird so verrechtlicht und verstaatlicht; entstehende Legitimitätskonflikte sowie die Spannung zwischen Legalität und Legitimität werden innerhalb der staatlichen Ordnung einer Lösung zugeführt, allerdings nur, soweit die Legitimationskraft der Verfassung reicht. Darüber hinaus behält das Widerstandsrecht seinen unstaatlichen Charakter, seine prinzipiell überstaatliche Größe312, auch wenn der Verfassungsstaat, wie in Art. 20 Abs. 4 GG geschehen, ein Widerstandsrecht ausdrücklich formuliert 313. Nun ist gegen die Einfügung des Widerstandsrechts in das Grundgesetz unter politischen wie juristischen Gesichtspunkten vieles und manches zu Recht eingewandt worden 314. Eine Wirkung ist der Verfassungsvorschrift jedoch nie abgesprochen worden: ihre dauerhafte Erinnerung an die Begrenztheit staatlicher Machtausübung und die beständige Mahnung an jeden, der auch nur mit dem Gedanken an die Beseitigung dieser Grenzen spielt315. Ein weiteres tritt hinzu: Insoweit das Grundgesetz dem urwüchsigen Widerstandsrecht "juristische Fesseln"316 anlegt, bindet sich der Staat des Grundgesetzes selbst. Er kennzeichnet weithin sichtbar die Schwelle, jenseits der er selbst eine legitime Staatsordnung als nicht mehr gegeben ansieht. Diese Schwelle ist aber ohne Zweifel diesseits der Maßstäbe angesiedelt, die aus naturrechtlicher Sicht an legitime Staatlichkeit anzulegen wären. Mit seinem Bekenntnis zur verfassungsmäßigen Ordnung in Art. 20 Abs. 4 GG, d.h. zum freiheitlichen demokratischen Rechts- und Sozialstaat, hat die BR Deutschland die essentiellen und unverletzlichen Merkmale sei311
J.
Isensee, Ziviler Ungehorsam, S. 57.
312 313
Wobei ein überbleibender "Rest" kaum vorstellbar ist. Vgl. sogleich.
314
Zum Ganzen eindringlich J. Isensee, Ziviler Ungehorsam, S. 57 f. Zum Widerstandsrecht des Grundgesetzes vgl. statt vieler /. Isensee, Das legalisierte
Widerstandsrecht. 315 316
/.
Vgl. /. Schmude, Stichwort "Widerstandsrecht", EvStL, Sp. 3985. Isensee, Widerstand und demokratische Normalität, S. 43.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates
201
ner Legitimität weit höher angesetzt als sie die klassischen Kriterien des Widerstandsrechts beinhalten. Das Bonner Grundgesetz hat das Widerstandsrecht erheblich aufgewertet; der (natur)rechtlich-ethisch begründete Eintritt des Widerstandsfalls, ohne daß zugleich die Voraussetungen des Art. 20 Abs. 4 GG vorliegen, erscheint nicht denkbar. In den politischen Protestaktionen, die ob ihrer Gesetzeswidrigkeit und Gewalttätigkeit im begrifflichen Gewände des "Widerstands" daherkamen und -kommen, ist daher auch eine Berufung auf Art. 20 Abs. 4 GG allenfalls vereinzelt gebheben. Auf Art. 20 Abs. 4 GG kann sich niemand berufen, der ohne das Vorliegen der dort normierten Voraussetzungen "mildere" (Unteroder Ersatz-)Formen des Widerstands gerechtfertigt sehen will 317 . Selbst Systemgegner haben sich letztlich von dieser Vorschrift ferngehalten. Dennoch wurde sogar die "Pflicht" zum "Widerstand" immer wieder unter Verkennung des prinzipiellen und nicht nur graduell bestehenden Unterschieds zwischen Despotie und Demokratie 318 proklamiert und für die Alltagswelt der Demokratie mit den Beigaben der sogenannten "Gewaltfreiheit", der "begrenzten Regelverletzung" und dem "zivilen Ungehorsam" schmackhaft und konsensfähig gemacht319 - wohl deshalb, weil die Wortführer erkannten, daß sich innerhalb der Rechts- und Friedensordnung am bequemsten und risikolosesten "Widerstand" betreiben läßt. Der so "normalisierte" 320 "Widerstand" denaturiert im System der verfassungs(rechts)gebundenen und verfassungs(rechts)begrenzten Staatsgewalt zur bloßen "Gaudi"321, vermag sich allenfalls als "staatsrechtliches Indianerspiel", als deutscher Prominenten- und Intellektuellensport und unterhaltsames Medienspektakel zu entfalten 322. Die essentiellen Legitimitätsgrundlagen des modernen (Verfassungs-)Staates der BR Deutschland waren indes bislang zu keinem Zeitpunkt auch nur annähernd in Frage gestellt.
317
So zu Recht/. Schmude, Stichwort "Widerstandsrecht", EvStL, Sp. 3984.
318
Dazu M. Kriele, Ein Recht auf Widerstand?, S. 104,108.
319
Vgl. J. Isensee, Widerstand und demokratische Normalität, S. 43. Vgl. /. Isensee, Widerstand und demokratische Normalität, S. 45.
320
321 322
So M. Kriele, Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands, S. 23. So treffend J. Isensee, Ziviler Ungehorsam, S. 61.
202
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
2. Essentielle Legitimität im modernen und rechtsstaatlich-demokratisch verfaßten Staat
Der Legitimitätsstandard des Typus "Verfassungsstaat" ist das vorläufige Ergebnis einer langen Legitimationsgeschichte moderner Staatlichkeit. Sie beginnt mit der Erstarkung der Souveränitätsidee im Vorgang der Säkularisation. In der weltanschaulich-konfessionell indifferenten Gewährleistung des allgemeinen inneren Friedens und des Gesamtzustands der Sicherheit fand und findet der moderne Staat seine existentielle Legitimitätsbasis. Medium und Faktor dieses Zustands ist das Recht. Insofern es nämlich um die konventionelle Bestimmung ihrer Inhalte und Grenzen geht, sind die ethisch-normativen Postulate der Friedlichkeit und Sicherheit in die Formen des Rechts gekleidet. Der Konsens über das Sein-Sollen, d.h. über die Mindestinhalte und Ausmaße individueller Integrität und über die Maßstäbe, anhand derer sich gegenseitiges Vertrauen bilden kann, entsteht und besteht als regelnder, als rechtlicher Konsens. Für das menschliche Leben in Gemeinschaft und Gesellschaft, zur Ab- und Ausgrenzung von Unfrieden und Unsicherheit, sind der Begriff und das Verständnis von Frieden und Sicherheit in dem allgemeinen (Rechts-)Sinne entscheidend. Frieden und Sicherheit sind daher immer Rechtsfrieden und Rechtssicherheit323. Das heißt, und das soll hier noch einmal klar herausgestellt werden: Erstens, die innere Friedensordnung ist gekennzeichnet als eine Rechtsordnung; zweitens, der Rechtsfrieden schafft sozialen Frieden, soziale Gerechtigkeit und gleiche Freiheit, nicht umgekehrt 324; schließlich drittens, die legitime Staatsmacht ist vor allem Rechtsmacht. Der letzteren Vorstellung von der Staatsmacht als Rechtsmacht wohnt die unlösbare "Dialektik"325 von Recht und Macht bzw. ihre "Synthese"326 inne327. Die in der Staatsgewalt aktive Staatsmacht schafft Vgl. dazu H. Heller, Staatslehre, S. 245 ff., 253: "Die Staatsinstitution ist... sanktioniert als Rechtssicherungsorganisation und nur als solche." - Daher ist die Legitimität vor allem auch eine rechtliche Kategorie; vgl. U. Scheuner, ARSP Beih. Nr. 15 (1981), S. 8, und schon oben 3. Kap., A, III, 1.
Ύ>Α 325
Vgl. auch FL Scholz, NJW 1983, S. 708; /. Isensee, in: Festschrift für Eichenberger, S. 33.
326
So M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 112. So D. Merten, Rechtsstaat, S. 6.
327
Klassisch R. von Jhering, Der Kampf ums Recht, S. 5: "Das Recht ist nicht bloßer Gedanke, sondern lebendige Kraft. Darum führt die Gerechtigkeit, die in der einen Hand die Waagschale hält, mit welcher sie das Recht abwägt, in der andern das Schwert, mit dem sie es behauptet. Das Schwert ohne die Waage ist die nackte Gewalt, die Waage ohne das Schwert die Ohnmacht des Rechts. Beide gehören zusammen, und ein vollkommener Rechtszustand
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates203
das Recht, verwirklicht es und setzt es durch. Insoweit erweist sich das Recht als (der) Faktor der Legitimität. Das Recht aber begründet, legitimiert und begrenzt die Staatgewalt und ist insoweit (das) Medium der legitimen Staatsmacht. Macht ohne Recht kann es nur in der Form der rechtlosen Gewaltherrschaft geben; Recht ohne Macht ist rechtlicher Nihilismus oder rechtliche Anarchie und führt in der Realität irgendwann zur Kapitulation gegenüber dem mit roher Gewalt auftretenden Unrecht 328. Macht und Recht im und des legitimen Staat(es) befinden sich demnach in gegenseitiger Abhängigkeit, sind einander immanent. Stellt sich somit die Frage nach der Alleinherrschaft einer der beiden Kategorien für den modernen, Legitimität beanspruchenden Staat nicht, so bleibt jedoch die nach einer etwaigen Vorherrschaft zu stellen und zu beantworten. Prinzipiell finden hier Rechtsphilosophie und Staatstheorie ein schier unerschöpfliches Aufgaben- und Betätigungsfeld. Der "Verfassungsstaat" hat insofern bereits weitreichende "Vor"- bzw. "Nach"-Arbeit geleistet: er hat den Staat in seiner Machtvollkommenheit mit dem Recht weitestgehend verschmolzen. Innerhalb des Staates besteht jede, auch die verfassungsändernde Staatsgewalt ausschließlich in den Formen und Grenzen des (Verfassungs-)Rechts (Art. 1 Abs. 1, 3, Art. 20 Abs. 3, Art. 79 Abs. 2, 3 GG). Rechtswidriges Staatshandeln unterliegt vielfältigen Korrekturmöglichkeiten und ist daher stets vorübergehender Natur. Der pouvoir constituant (des Volkes) ist von der Verfassung zwar anerkannt (vgl. Präambel, Art. 146 GG), aber in der Verfassung "aufgehoben" 329, "d.h. nur noch als pouvoir constitué existent"330. Eine rechtlich nicht gebundene Souveränität ist für den Verfassungsstaat nur latent als politisches Faktum vorhanden. Ihr Auftreten fällt zusammen mit seinem Untergang. Unter dem Defizit, diese Dialektik zwischen Macht und Recht im Verfassungsstaat in seiner ganzen Tragweite zu erfassen und zu verstehen, leiden die meisten Thesen von der Legitimitätskrise des Verfassungsstaates 331. Denn auf ihr beruht jener
herrscht nur da, wo die Kraft, mit welcher die Gerechtigkeit das Schwert führt, der Geschicklichkeit gleichkommt, mit der sie die Waage handhabt." Siehe dazu auch schon oben 3. Kap., A, II, 1. 328 ··
Ahnlich D. Merten, Rechtsstaat, S. 6 f. m.z.N. 329
M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 225; ders., W D S t R L 29 (1971), S. 58 f.
330
Hans H. Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 658; zum Ganzen ausführlich M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 111 ff., 224 ff. 331 So auch M. Kriele, Einführung in die Staatslehre, S. 112.
204
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
"rechtsstaatlich-demokratische Zusammenhang"332 von Legitimität und Legalität, den die Vertreter dieser Krisentheoreme so vehement in Abrede zu stellen suchen. Bevor hierauf näher eingegangen wird, soll indes noch einmal an den Ausgangspunkt moderner Staatlichkeit zurückgekehrt werden. Mit dem Verständnis von Frieden und Sicherheit als Rechtsinstitute wird die "eigentliche" Frage aufgeworfen: Welches Recht schafft dauerhaften Frieden und verläßliche Sicherheit? Oder anders: Wie ist der allgemein "anerkannte", legitimitätsbildende Frieden beschaffen? Wann wird der Gesamtzustand der Sicherheit als erreicht angesehen? Besonders deutlich wird dies am Begriff der Sicherheit. Er ist lediglich ein "Verweisungsbegriff' (Josef Isensee): Er bezieht sich auf einen bestimmten, bestehenden Rechtszustand und muß sich, da dieser nicht starr, sondern veränderlich ist, auch auf das Verfahren seiner Änderung erstrecken 333. Genau um diese Fragen rankt sich die Legitimitätsgeschichte neuzeitlicher Staatlichkeit, und spätestens hier wird deutlich, daß und wie die existentiellen Legitimitätselemente mit weiteren Bausteinen essentieller Legitimität im Sinne eines echten Friedens und echter Sicherheit verwoben sind. Hier haben auch jene Legitimitätskonflikte manche Wurzeln, die sich bisweilen als Quellen der Gewalt334 erweisen und damit bereits errungene Legitimitätsstandards leichtfertig aufs Spiel setzen. Und dazu scheinen sich zu allem Unglück manche selbsternannten Gurus politischer Weisheit und Kultur von der Verfassung des Pluralismus, die jenseits gewisser Unveräußerlichkeiten die Ausformung eines "gerechten" Friedens dem politischen Diskurs überläßt, sogar eingeladen zu fühlen. Der Sensibilität und Lebendigkeit politischer Kultur als dem Inbegriff aller in einer Gesellschaft wirksamen politischen Leistungen und Ideen ist freilich der Werdegang und "Fortschritt" staatlicher Legitimität zu verdanken. In der Rückschau bezog der moderne Staat seine Legitimität zunächst allein aus der Sicherung des Lebens und der körperlichen Integrität des einzelnen, bevor er schließlich den Schutz der individuellen Freiheit in einem weitergehenden Sinne zum Thema seiner Aufgabenerfüllung machte. In diesem Legitimitätszusammenhang wirkt das material-rationale Prinzip des Vorrangs der fundamentaleren Interessen: die profunderen, primären Inter332
Vgl. IC Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 197. 333
Vgl. /. Isensee, in: Festschrift für Eichenberger, S. 34.
334
Siehe dazu auch U. Matz, Politik und Gewalt, S. 131 ff., insbes. S. 139 f.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des ( V e r f a s s u n g s - ) S t a a t e s 2 0 5
essen des Individual- und Gemeinwohls müssen vor den höheren, (insoweit) sekundären Bedürfnissen befriedigt sein. Ohne den Schutz des Lebens kann es kein Leben in Freiheit geben335. Georg Jellinek 336 beschreibt ebenso prägnant wie überzeugend die aufeinander aufbauenden, ihn legitimierenden Ziele des modernen Verfassungsstaates: Errichtung des souveränen Zentralstaates als Reaktion auf die Religionskriege, danach Absicherung der Freiheit der Menschen vom Staat, schließlich die Erfüllung der Forderungen nach demokratischer Selbstbestimmung und endlich die Schaffung sozialstaatlicher Ausgleiche im Sinne sozialer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit. "Die älteren Elemente wirken ... vereint mit den neuen fort, um den ganzen Reichtum des heutigen Staates darzutun. Das monarchische Element, das liberale, das demokratische, das nationale und das soziale haben sich zusammengefügt, um den Staat der Gegenwart zu gestalten. Aufgabe der Politik ist es, das richtige Verhältnis dieser Elemente zu finden ..."337, und das heißt, gerade diese Stufung der Wichtigkeit der Staatsziele zu beachten, damit das Legitimitätsgebäude nicht ins Wanken gerät. Objektive Anhaltspunkte für die wesentlichen Legitimitätsgrundlagen staatlicher Herrschaftsordnung, die heute weltweit anerkannt und gefordert sind, liefern die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 sowie die Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte und über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von 1966. Zu der Legitimitätsbasis moderner Staatswesen können daher gezählt werden die Achtung der Würde des Menschen und eines gewissen Menschenrechtsstandards, die Ableitung der Macht vom Volk als Ergebnis seiner Selbstbestimmung, eine institutionalisierte Kontrolle der Macht, die Gemeinwohlorientierung hoheitlichen Handelns, die Aufstellung von im Dienste der friedlichen Konfliktlösung stehenden Institutionen und verfahrenskonstituierenden Prinzipien, die prinzipielle Beachtung des Grundsatzes der Nichtidentifikation. Unterhalb dieser Ebene können sich die Herrschaftsordnungen unterscheiden, insofern in ihnen die überwiegend anerkannten Rechtsvorstellungen der Kulturgemeinschaft zum Ausdruck gelangen, welcher der Staat nach seiner Geschichte und dem Willen seines Volkes ange-
335
Vgl. eindringlich auch K. Eichenberger, Die Sorge für den inneren Frieden als primäre Staatsaufgabe, S. 93 f. 336 Die Entstehung der modernen Staatsidee, S. 45 ff. 3
G. Jellinek, Die Entstehung der modernen Staatsidee, S. 61 f.
206
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
hört 338 . Der Verfassungsstaat (westlicher Prägung) hat diesen normativen Rahmen mundialer Legitimität in sich aufgenommen und fortentwickelt, indem er den traditionalen Elementen verfassungsstaatlicher Legitimität, wie sie sich in Europa insbesondere im 19. Jahrhundert herausgebildet haben, durch deren verfassungstextliche Erfassung und Erhebung zu positiven Rechts- und Schutzgütern rechtliche Verbindlichkeit verliehen hat. Die Verfassung vereinigt in sich die politischen Ideen, die sich bewährt und daher durchgesetzt haben; sie bildet den normativen Rahmen der poütischen Kultur, der die sie hervorbringende Gemeinschaft angehört, und schafft dadurch die "politische Einheit des Staates"339. So knüpft auch die Verfassung des Grundgesetzes in einer Vielzahl von Regelungen an Bedingungen an, die in der Vergangenheit von legitimer staatlicher Herrschaft gefordert und schließlich realisiert wurden. Sie befindet sich insoweit in historischer Kontinuität; ihre Legitimität ist auch eine historische und kulturstaatliche Legitimität 340 . Die rechtsstaatlich-demokratisch verfaßte Ordnung des Bonner Grundgesetzes übererfüllt das mundiale Legitimitätssoll. Sie befindet sich gleichsam an der Spitze des Zuges legitimer Staatlichkeit durch die Zeit und repräsentiert die moderne Form des modernen Staates. Allerdings scheint sich, wie auch die jüngsten Demokratisierungen in Osteuropa wieder zeigen, die Geltung des Topos von der Demokratie als der organisatorischen Konsequenz aus der Menschenwürde als der anthropologischen Prämisse341 legitimer Staatlichkeit von der Ebene des Typus "Verfassungsstaat" auf die des Typus "moderner Staat" auszuweiten. Zu den Essentialia der grundgesetzlichen Legitimität gehören - neben Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Sozialstaat - der "Primat des Rechts" und die demokratische Begründung des Rechts342. Deren Anerkennung in der Verfassung vereint die Legalität mit der Legitimität. Legalität läßt sich nicht nur als ein formales, in den Dienst eines jeden beliebigen Zweckes zu stellendes Prinzip begreifen und
338 339 340 341 342
Vgl. auch H. Quaritsch, Stichwort "Legalität, Legitimität", EvStL, Sp. 1990 f. K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNrn. 5 ff. Eingehender Th. Würtenberger,
Legitimität und Gesetz, S. 540 f. m.N.
Vgl. dazu P. Häberle, in: Handbuch des Staatsrechts I, § 20, RdNrn. 61 ff.
Vgl. auch die grundlegende Kennzeichnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in BVerfGE 2,1/12 f.
Β. Die existentielle und essentielle Legitimität des (Verfassungs-)Staates207
einer übergeordneten materialen Legitimität entgegensetzen. Vielmehr begründet sie ihrerseits jene Legitimität, derer jegliches staatliche Handeln bedarf 43 . Der rechtsstaatlich-demokratische Zusammenhang läßt die Legitimität in der Legalität aufgehen, insofern verfassungsstaatliche Gesetze die zeitadäquate Konkretisierung jener politischen und rechtlich-ethischen Maxime und Postulate darstellen344, die als Ausdruck ihrer verbindlichen Anerkennung in der Verfassung Aufnahme gefunden haben. Nur deshalb läßt sich die "Prämie auf den legalen Besitz der legalen Macht" (Carl Schmitt 345) hinnehmen346. Die Behauptung neuer Legitimitätsmaßstäbe, neuer politischer Moralität richtet sich daher nicht gegen bloß formale Legalität und "autoritären Legalismus", sondern gegen die Legitimität der bestehenden Ordnung, ist folglich nichts anders als (der Versuch der) Revolution347. Wer sie betreibt und sich dabei etwa auf das Recht oder gar auf die moralische Pflicht zum Widerstand aus Art. 20 Abs. 4 GG stützen will, dokumentiert die Perversion des Denkens: Das Widerstandsrecht zur Verteidigung der verfassungsmäßigen Ordnung wird zu einem Widerstandsrecht gegen die verfassungsmäßige Ordnung umfunktioniert 348. Er hat daher nicht nur damit zu rechnen, daß ihm die Staatsgewalt mit allen ihr rechtlich zur Verfügung stehenden Mitteln entgegentritt - insoweit verdichtet sich die Ermächtigung zur Verpflichtung -, sondern auch zu gewahren, daß ihn in letzter Konsequenz selbst die Folgen aus Art. 20 Abs. 4 GG treffen können349. Gewaltsame Aktion und Rechtsbruch sind und bleiben im Verfassungsstaat illegal und illegitim. Es gibt in der rechtsstaatlichen Demokratie keine höhere Legitimität als die Legalität350. Verfassungsmäßige Legalität bedeutet zugleich demokratische Legitimität351. Ein Auseinanderfallen beider mit der Nichtbefolgung der Legalität als Konsequenz ist daher undenkbar, die gegenteilige Behauptung verfassungspolitischer Sprengstoff. Gleiches gilt aber - und das 343 344
345 346 347
Stellvertretend dazu K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 197. Vgl. Th. Würtenberger,
Legitimität und Gesetz, S. 540.
Legalität und Legitimität, S. 35. So auch Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 197. Deutlich auch Hans H. Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 658.
348
Siehe M. Kriele,
Ein Recht auf Widerstand?, in: F A Z Nr. 50 vom 1.3.1983, S. 8; ders.,
Ein Recht auf Widerstand?, S. 106, in der Auseinandersetzung mit Thesen Günter Grass 1. 349
Vgl. Hans H. Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 659. Vgl. M. Kriele, Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands, S. 23.
351
Vgl BVerfGE
62,1/43.
208
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
muß all denen gesagt werden, die hier einen "Ausweg" zu suchen scheinen für das Verhältnis von Recht und Moral oder Ethik. Im demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat gibt es kein "un- oder amoralisches" Recht, kein Auseinanderfallen von rechtlich und moralisch, etwa bei der Bewertung sogenannter gewaltfreier Ungehorsamsformen! Demokratisch legitimiertes Recht, das jedem gleiches Recht gibt und gegenüber jedem gleich verbindlich ist, ist gegenüber dem Durchsetzungsanspruch andersdenkender moralischer Subjektivität immer im Recht352. Die Spannung zwischen positivem Recht und Gerechtigkeit soll damit nicht geleugnet werden. Die Möglichkeit des Auseinandertretens verfassungsstaatlich begründeter Legitimität des Gesetzes und der Vorstellung in der Gesellschaft von der Richtigkeit im Einzelfall besteht auch im Verfassungsstaat, wie Art. 20 Abs. 3 GG ("Gesetz und Recht") erkennen läßt 353 . Er hat jedoch Verfahren und mit ihnen Mindestinhalte entwickelt und bereitgestellt, die an der Legitimität des Ganzen teilnehmen und damit die Spannung "erträglich" 354 machen. Hierher gehören sämtliche Modelle der Partizipation des Bürgers an hoheitlichen Entscheidungen355, die als Ausfluß der demokratischen und der Menschenwürde-Idee jeden einzelnen ernst nehmen, ihm das Angebot der Mitwirkung und Integration unterbreiten und damit die Gerechtigkeit auch in die Hände, d.h. aber auch in die Verantwortung (!) des einzelnen legen. In politicis bleibt der Bürger im Rahmen der für alle geltenden (Grund-)Rechte zur politischen Mitwirkung aufgefordert 356 sowie an der Formung des Volkswillens beteiligt: nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips.
352 So auch M. Kriele, Ein Recht auf Widerstand?, in: F A Z Nr. 50 vom 1.3.1983, S. 8; ders., Ein353 Recht auf Widerstand?, S. 110. Vgl. Th. Würtenberger,
Legitimität und Gesetz, S. 541; P. Häberle, Das Menschenbild im
Verfassungsstaat, S. 30. 354
355
P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 30. Vgl. dazu W. Schmitt Glaeser, Die Position der Bürger als Beteiligte im Entscheidungs-
verfahren gestaltender Verwaltung, S. 35 ff. m.w.N. Für die Grundrechte siehe P. Häberle, W D S t R L 30 (1972), S. 86 ff, 121 ff. 356 Zu den bürgerschaftlichen Mitwirkungsrechten im System demokratischer Willensbildung vgl. W. Schmitt Glaeser, in: Handbuch des Staatsrechts II, § 31, RdNrn. 1 ff.
C. Insbesondere: Das demokratische Mehrheitsprinzip
209
C. Insbesondere: Das demokratische Mehrheitsprinzip Die von der latent gewaltbereiten politischen Fundamentalopposition entfachte Kontroverse über die Legitimität unserer Herrschaftsordnung oder einzelner aus ihr hervorgegangener politischer Entscheidungen wird allzuoft auf dem Rücken der die Demokratie konstituierenden Mehrheitsregel ausgetragen. Das demokratische Mehrheitsprinzip ist immer miterfaßt vom Kreuzfeuer der Illegitimitätspropaganda. Dies mag nicht zuletzt auch daran hegen, daß Kritik am Verfahren schon immer leichter zu formulieren und einfacher zu begründen war als die profunde, kritisch-konstruktive Stellungnahme in der Sache selbst, mit der dann eventuell auch die Mehrheit zu gewinnen wäre. In Wahrheit geht es stets um die Sache selbst, um den Inhalt von Entscheidungen, also um die Installierung neuer Maßstäbe für die Legitimität der "konkreten Politik"357 im staatlichen Gemeinwesen358. Es kommt daher nicht von ungefähr, daß dieselben, die gegen das Verfahren opponieren, wenn ihnen sein Produkt, die Entscheidung, nicht ins Konzept paßt, keinerlei Einwände gegen demokratische Entscheidungsfindungen erheben, wenn das Ergebnis ihren Vorstellungen entspricht. Im übrigen scheint es kaum verständlich, daß einem Auseinanderklaffen zwischen positiver Ordnung und ethischen Maximen nach Auffassung der politischen Fundamentalopposition allein eine Änderung des Verfahrens soll wirksam begegnen können359. Dies um so weniger, als gerade das Mehrheitsprinzip die größtmögliche Annäherung zwischen gesatzter Ordnung und gesetzten Werten zu erreichen vermag und in dieser Funktion Legitimität zugleich gewinnt und schafft.
I. Funktion und Legitimität 1. Das Mehrheitsprinzip als Instrument zur Entdeckung des wirklichen Volkswillens
Die demokratische Idee ist das Leitprinzip der Ordnung des politischen Prozesses unter dem Grundgesetz, in dem staatliche Macht geschaffen und
τ,κη
R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 1 7 I V 3. 358
Vgl. auch Hans H. Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 656.
359
So zu Recht Hans Η Klein, in: Festschrift für Carstens, S. 648. 14 Schmitt Glaeser
210
3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
in dem staatliche Macht wirksam wird 360 . Dieser Prozeß ist als ein im Verfassungsstaat offener und freier Prozeß "Sache des ganzen Volkes"361. Die demokratische Ordnung geht ebenso wie die Begründung des Staates selbst wirklichkeitsgerecht nicht von einem einheitlichen, "richtigen" Volkswillen im Sinne eines höheren Seins aus. Vielmehr gründet sie sich auf den in seiner Vielheit und Vielfalt "realen" Volkswillen362. Sie muß daher - das Ziel politischer Einheit vor Augen - die Frage beantworten, auf welche Weise ein für alle anerkanntermaßen verbindlicher Wille gefunden werden soll. In den sogenannten "Volksdemokratien" und anderen sozialistischen Staaten, die den Begriff der "Demokratie" immerhin im Staatsnamen glauben führen zu müssen, tritt hier die Nomenklatura in Aktion, indem sie kurzerhand selbst "bestimmt", was der Willen des Volkes ist. In einer freiheitlichen, pluralistischen Demokratie westlicher Prägung geht es indes um die Erkenntnis, um die "Entdeckung" des "wirklichen" Volksinteresses. Rein formal "unterstellt" 363 hier das Grundgesetz die "Geltung" des Mehrheitsprinzips, das damit als "Schlichter" zwischen Konsens und Dissens, politischer Einheit und Pluralismus Stellung bezieht364. Ihre Geltungskraft und Gültigkeit erlangt die Mehrheitsregel jedoch nicht allein aus der formalen Installation. Als "Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" 365 ist sie zugleich sachlich-materiales Gestaltungs-, Organisations- und Entscheidungsprinzip und wird so zum "genialen Mechanismus unblutiger Stärkeermittlung" 366. Darin besteht der Unterschied zur Despotie: in einer Demokratie kann man "seine Regierung ohne Blutvergießen loswerden ..., nicht aber in der Despotie"367. Offensichtlich nur wenig beeindruckt von der Leistungsfähigkeit der Mehrheitsregel hält sich demgegenüber beharrlich eine quantitativ nicht unbedeutende Phalanx, die, wenn sie nicht das Prinzip als solches in Frage 360 361
Vgl. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 130. Κ Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, RdNr. 133.
362 363
Hierzu prägend E. Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, S. 272 ff. W. von Simson, W D S t R L 29 (1971), S. 8 f.
364
Diesen Standpunkt weist P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement, S. 575, dem Mehrheitsprinzip zu. 365 P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement, S. 575. 366 Wie sogar B. Guggenberger, A n den Grenzen der Verfassung, in: F A Z Nr. 281 vom 3.12.1983 (Bilder und Zeiten), einräumt.
367
Κ R Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt, S. 170.
C. Insbesondere: Das demokratische Mehrheitsprinzip
211
stellt, so doch "die schleichende Erosion der diesem Prinzip immanenten Geltungsbedingungen"368 behauptet. Im Ergebnis läuft das natürlich, wie auch beabsichtigt, auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Zersetzung der unumschränkten Gültigkeit der Regel selbst, und zwar im Wege ihrer opportunistischen Bindung an den Einzelfall. Vom grundsätzlichen Bekenntnis zum Mehrheitsprinzip bleibt nur übrig, was es von vornherein als rhetorisch-taktisches Kampfmittel sein sollte: ein bloßes Lippenbekenntnis. Das heißt keineswegs, daß nicht manche Kritik an der politischen Wirklichkeit der Demokratie und ihres Willensbildungsprozesses berechtigt ist und ernst genommen werden muß. Im Gegenteil: Um so mehr die Wirklichkeit des politischen Prozesses für empfundene Legitimitätsdefizite in sozialpsychologischer Hinsicht verantwortlich ist, desto größere Anstrengungen sind geboten, um den aufgedeckten Widrigkeiten entgegenzuwirken. Wir haben aber kein besseres Entscheidungsverfahren als das Mehrheitsprinzip. Ohne dieses Strukturelement kann Demokratie und gleiche Freiheit der Bürger nicht gedeihen. Das ist eine Binsenweisheit. Daher muß es uns jede Anstrengung wert sein, diesen zentralen Mechanismus demokratischer Entscheidungsfindung funktionstüchtig zu halten und notfalls mit allen Kräften zu verteidigen.
2. D i e Gegenposition: W a h r h e i t statt M e h r h e i t
a) Der aktuelle Hauptangriff gegen das Mehrheitsprinzip ist keineswegs originell, aber nach wie vor durchaus wirksam 369: es ist die sattsam bekannte Parole "Wahrheit statt Mehrheit" 370. Es ist das elitäre Gerede von den "Einsichtigen"371, die alles besser wissen als alle anderen, vor allem klüger sind als die Mehrheit. Allerdings wird - wie soeben erwähnt 372 - das (Lippenbekenntnis zum Mehrheitsprinzip in aller Regel nicht schlechthin verweigert.
368
B. Guggenberger, A n den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, S. 189. Siehe auch C. Offe , Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung?, S. 158 ff. 369
H. Oberreuter, Bewährung und Herausforderung, S. 213. Dazu etwa H. Oberreuter (Hrsg.), Wahrheit statt Mehrheit? An den Grenzen der parla-
370
mentarischen Demokratie, sowie /. Isensee, Widerstand und demokratische Normalität, S. 48 ff. 371 372
Dazu schon oben 2. Kap., Β, I. 3. Kap., C, 1,1.
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3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
Jedoch soll dem Prinzip eine "soziologische Grenze"373 gezogen sein, jenseits derer es sich angeblich nicht mehr auf das erforderliche Mindestmaß an fundamentaler, sozialer Homogenität der Bürger und Bürgergruppen im staatlichen Gemeinwesen zu stützen vermag. Dies wird bei solchen politischen Entscheidungen angenommen, die Weichenstellungen von besonderem Gewicht enthalten, insbesondere wenn sie irreversible Fakten schaffen, z.B. im Bereich der militärischen Rüstung, der friedlichen Nutzung der Atomenergie oder bei Maßnahmen, die Umweltschädigungen herbeiführen oder in Kauf nehmen. Allenfalls in den "subjektiv zweit- und drittwichtigen Fragen" will man sich überstimmen lassen374, nicht dagegen in Fragen, die die Lebenschancen künftiger Generationen betreffen, weil hier die Kompetenz der Quantität nicht mehr ausreiche. Nun weisen freilich diese Sachverhalte nicht selten die Besonderheit auf, daß das Unterlassen einer Entscheidung nicht weniger schwerwiegende Belastungen für die Nachwelt mit sich bringt 375. Zudem erfordert gerade das Offenhalten von Zukunftsoptionen politisches Handeln. Schließlich bedeutet die Verneinung einer Kompetenz der Quantität wegen Unabstimmbarkeit des Sachverhalts in der Demokratie nichts anderes als Politikverbot 376. Das eigentliche Problem besteht aber in der Frage, wer nach welchen Kriterien und in welchem Verfahren entscheidet, welche Lebenssachverhalte jenen Wichtigkeitsgrad erreicht haben, daß sie der Mehrheitsentscheidung entzogen werden müssen. Schon die Fragestellung ist äußerst brisant, geht es doch um die Disposition über die Mehrheit des Volkes, ohne deren zentrale Bedeutung bei der Entscheidungsfindung Demokratie nicht denkbar ist. Von daher liegt der Vorschlag nicht allzufern, die Gegenstände, Modalitäten und Grenzen der Anwendung des Mehrheitsprinzips selbst der mehrheitlichen Entscheidung zu unterwerfen, also gleichsam im Wege der "reflexiven Schleife" das Mehrheitsprinzip auf sich selbst anzuwenden377. Nun gibt es natürlich Grenzen des Mehrheitsprinzips, wie nicht nur Art. 79 Abs. 3 GG, sondern vor allem auch die Grundrechtsgewährleistungen zeigen. Aber abgesehen davon, daß die Grundrechtsgarantien in ihrem Kern 373
So die prägnante Kennzeichnung durch P. Häberle, Das Mehrheitsprinzip als Strukturelement, S. 575. 374
375
Vgl. B. Guggenberger, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, S. 194. Vgl. auch/. Schmude, Stichwort "Widerstandsrecht", EvStL, Sp. 3989.
376
So zu Recht H. Obeneuter, Bewährung und Herausforderung, S. 209.
377
So etwa C. Offe , Legitimation durch Mehrheitsentscheidung?, S. 179 ff.
C Insbesondere: Das demokratische Mehrheitsprinzip
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tatsächlich auf politisch Unabstimmbares, weil persönlich Intimes zielen, und im übrigen gesetzlicher Begrenzung und damit Mehrheitsentscheidungen zugänglich sind, geht es bei jener "reflexiven Schleife" nicht um die Begrenzung des Mehrheitsprinzips durch verfassungsrechtliche Grundentscheidung, sondern um die Handhabung des verfassungsrechtlich konstituierten Mehrheitsprinzips im und für den Einzelfall durch die sich dann jeweils ergebenden Mehrheiten. Dies würde nicht nur das Mehrheitsprinzip, sondern die demokratische Verfassung insgesamt auflösen, an die Stelle des Prinzips verfaßter Mehrheitsherrschaft die unberechenbaren Entscheidungen von Einzelfallmehrheiten setzen, wobei zudem immer noch offenbleibt, wer zu entscheiden hätte, wenn sich die Mehrheit für inkompetent erklärt. In Wahrheit zielt die Konzeption auf die Konstituierung einer Art unmittelbaren Demokratie als "Hyper-Demokratie" (Josef Isensee), die die Repräsentativdemokratie des Grundgesetzes überlagert und letzten Endes ablösen soll. Neben oder über der grundgesetzlichen Demokratie kann es aber keine wie auch immer anders geartete - Demokratie geben. Zutreffend betont Josef Isensee 378, die Verfassung begründe nicht nur, sondern begrenze auch die demokratische Kompetenz: "Das gilt sogar für die Änderung des Verfassungsgesetzes selbst, hinsichtlich des Verfahrens wie hinsichtlich der möglichen Reichweite. Der Volksouverän hat sich selbst gebunden. Er vermag nicht mehr, über diese Bindung zu disponieren, außer im Falle der Revolution." Die Bindungskraft gilt nicht nur für den Normalfall, sondern auch und insbesondere für die Ausnahme- und Krisensituation. Gerade in der Krise bürgt die gemeinsame, mehrheitlich getragene Entscheidung sehr viel eher für Rationalität als die einsame Entscheidung einzelner. Die Last der Verantwortung verteilt sich und der politische Irrtum wird erträglich. Wer das Mehrheitsprinzip zur "Schönwetterregel" denaturiert und sogleich (und für jeden Einzelfall) nach dem pouvoir constituant ruft, wenn sich erste Wolken am Horizont zeigen379, will die grundlegende Systemänderung, er will die Revolution und sollte dies auch deutlich sagen und nicht versuchen, sein Ziel mit verfassungstheoretischen Purzelbäumen zu vernebeln. Um nicht mißverstanden zu werden: Die in Protestaktionen der verschiedensten Art zum Ausdruck gelangenden ethischen Zweifel an der Bewältigung neuer Dimensionen politischer Herausforderung sollen damit nicht diskreditiert werden. Es ist indes kein Verfahren erkennbar, das ähnlich gute Chancen für 378
39
Freiheit - Recht - Moral, S. 28. So etwa Β. Guggenberger, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, S. 193.
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3. Kap.: Die Legitimität der Staatsmacht
verantwortliches politisches Handeln eröffnet wie das Mehrheitsprinzip 380, zumal es gerade für den Fall des Irrtums die relativ höchste Gewähr für die Rückrufbarkeit und Korrektur der einmal gefällten Entscheidung bietet381. Aus der Perspektive subjektivistischer Qualitätsbegründung lassen sich Entscheidungsverfahren nicht konstruieren. Wer dies theoretisch nicht einsehen will, sollte wenigstens aus den praktischen Erfahrungen der Weimarer Zeit seine Lehre ziehen, an deren Ende schließlich die Diktatur des Nationalsozialismus stand382. Auch damals meinten allzuviele, man solle die Stimmen wägen und nicht zählen: "Nicht was eine zufällige oder dauernde Mehrheit will, sondern was als das Beste, Wahrhafte erkannt wird, soll herrschen." 383 Wenn aber nicht nach der Mehrheit, sondern allein nach dem Grundsatz von "Wert und Wahrheit" geherrscht werden soll, und sich der Wert, "das Gute schlechthin", aus dem ergibt, was lebendig ist, dann wird in der Tat Herrschaft "zu einem Problem der Identifikation: Sie fällt demjenigen zu, der die Werte erkennt - das heißt wohl, wenn es keine verbindlichen Maßstäbe gibt, dem, der sie autonom definiert" 384. Auch das Denken von der Ausnahme und vom Ernstfall her ist uns aus der Weimarer Zeit bekannt. Carl Schmitt hatte damals definiert: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet."385 Heute sei "souverän, wer den Weltuntergang definiert" 386. b) Nun wäre es gewiß töricht, behaupten zu wollen, die Mehrheit ihrerseits stünde der Wahrheit näher oder würde auch nur relativ "richtiger" entscheiden als die Minderheit oder einzelne. Überdies ist sogar durchaus fraglich, ob Mehrheitsentscheidungen auch nur in nennenswert vielen Fällen auf der Grundlage eines umfassend informierten, vernunftgeleiteten, nicht Sekundärmotiven gehorchenden oder gar manipulierten Rechtsgewissens getroffen werden. Aber die Frage nach der "Wahrheitskompetenz" ist kein Problem