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German Pages 258 Year 2018
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 481
Vertragsrechtliche Zulässigkeit negativer Verzinsung im Einlagenbereich Zugleich ein Beitrag zur Identität des Schuldverhältnisses
Von
Simon Behr
Duncker & Humblot · Berlin
SIMON BEHR
Vertragsrechtliche Zulässigkeit negativer Verzinsung im Einlagenbereich
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 481
Vertragsrechtliche Zulässigkeit negativer Verzinsung im Einlagenbereich Zugleich ein Beitrag zur Identität des Schuldverhältnisses
Von
Simon Behr
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Augsburg hat diese Arbeit im Jahre 2017 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D384 Alle Rechte vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7387 ISBN 978-3-428-15443-2 (Print) ISBN 978-3-428-55443-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-85443-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Der Kroatiengruppe
Vorwort Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2017 / 2018 von der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten für die vorliegende Fassung bis zum 15. Januar 2018 berücksichtigt werden. Ein solch lang angelegtes Projekt wie eine Dissertation entsteht nicht nur im Mikrokosmos des Bearbeiters, sondern bedarf einer Vielzahl äußerer Einflüsse. So gebührt auch im Rahmen meines Forschungsprojekts einer Vielzahl von Personen Dank, ohne die diese Arbeit nicht zustande gekommen wäre. Vor allen danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Raphael Koch, LL.M. (Cambridge), EMBA, der das Forschungsvorhaben von Beginn an aufgeschlossen betreut und mit einem großen Vertrauen in mich begleitet, es dabei aber nie versäumt hat, mir die nötigen Freiräume zu belassen. Für die Erstellung des Zweitgutachtens danke ich Herrn Prof. Dr. Thomas M. J. Möllers. Die Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Unternehmensrecht, Europäisches Privat- und Internationales Verfahrensrecht an der Universität Augsburg und so bin ich auch dem gesamten Lehrstuhlteam für die angenehme Atmosphäre und die stete Hilfsbereitschaft zu großem Dank verpflichtet, allen voran unserer Sekretärin, Frau Andrea Erdle, für die gute Zusammenarbeit und das stets offene Ohr. Für die Übernahme der Mühsal des Korrekturlesens sowie die vielfältigen wichtigen Anmerkungen und Denkanstöße danke ich ganz herzlich Frau Dr. Renate Bens, Frau Judith Henle und Herrn Dr. Knut Reuter. Für das Teil habenlassen an seiner wirtschaftlichen Expertise danke ich Herrn HannsPeter Kollmann, für wertvolle Anregungen aus der Praxis Herrn Dr. Andreas Früh. Sie alle haben mich vor manchem Fehler bewahrt, sind aber nicht für die verbliebenen Mängel verantwortlich. Zu Dank bin ich auch dem Max-Weber-Programm der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie der Hanns-Seidel-Stiftung verpflichtet. In zahlreichen interdisziplinären Seminaren konnte ich während der Studien- und Promotionsförderung meinen Blickwinkel weiten und zumindest ein stückweit das Idealbild des Studiums als ein studium universale verwirklichen.
8
Vorwort
Das Entstehen dieser Arbeit wurde durch ein Begabtenstipendium der HannsSeidel-Stiftung aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Während der vergangenen Monate war ich nicht nur um fachliche Reflexion und Expertise froh, sondern vor allem auch um jede wohltuende Ablenkung und Ermutigung gleich welcher Art. Aus der großen Schar derer, die in diesem Rahmen hervorzuheben wären, danke ich vor allem der Kroatiengruppe sowie Jonas, Rupi und Sebastian, die, neben unzähligen anderen, das Leben außerhalb der Forschungstätigkeit bereichert und mir damit auch die nötige Kraft für die Anfertigung der Dissertation verliehen haben. Ersterer ist diese Arbeit daher in Dankbarkeit gewidmet. Abschließend und vor allem danke ich meinen Eltern, Frau Elisabeth und Herrn Robert Behr, für ihre bereitwillige und aufgeschlossene Unterstützung meines Ausbildungsweges. Ohne ihren steten Glauben an und ihr Vertrauen in mich wären meine Ausbildung und das Entstehen dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Marktoberdorf, im Februar 2018
Simon Behr
Inhaltsübersicht § 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Historische Präliminarien: Der Zins in seiner ambivalenten historischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wirtschaftliche Hinführung und Kernfrage der Arbeit . . . . . . . . . . . . . C. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Der Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 19 24 25 26
Allgemeiner Teil
Einseitige Leistungsbestimmung und Identität des Schuldverhältnisses
29
§ 2 Dogmatische Einordnung und Abgrenzung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Entstehungsgeschichte: Einseitige Leistungsbestimmung im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht . . . . . . 33 C. Vertragsrechtliche Einordnung der §§ 315 ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 § 3 Grenzen einseitiger Leistungsbestimmung und Identität des Schuldverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Grundsatz: Änderung des Vertragsinhalts durch Änderungsvertrag . . . . B. Änderung durch einseitige Leistungsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Grenzen der Änderung durch spezialgesetzliche Bestimmungen . . . . . . D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB . . . . . E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60 60 60 61 61 99
Besonderer Teil
Vertragsrechtliche Fragen negativer Verzinsung im Einlagenbereich
103
§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . 105 A. Nominalzins und Realzins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 B. Das Kreditmarktmodell und der Gleichgewichtszins . . . . . . . . . . . . . . . 106 C. Die Zeitpräferenztheorie und der negative natürliche Zins . . . . . . . . . . . 107 D. Natürlicher Negativzins und gehemmter Markt – Die Rolle der EZB . 110
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Inhaltsübersicht E. Konsequenzen für den Zinsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Formen und Definition des Zinses im BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Vereinbarkeit mit der Zinsdefinition des BGB als Ausgangspunkt . . . . C. Erweiterung der Definition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten – Begriffliches Argument . . . . . . . E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument . . . . . . . . . . . . F. Bankpraktisches Argument: Aufrechterhaltung des Synallagmas durch Erhaltung der Marge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Die synallagmatische Konnotation des vertragsrechtlichen Zinsbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 119 120 120 121 123 140 144 146
§ 6 Das Einlagengeschäft der Banken und die Interessenlage im Niedrigund Negativzinsumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Das Einlagengeschäft der Banken im System der Bankgeschäfte . . . . . B. Die Einlagenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Interessenlage im Niedrig- und Negativzinsumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
148 148 149 155 157
§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung in bestehenden Einlagengeschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zu Methodik und Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Anpassung bei Termineinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Anpassung bei Sichteinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159 159 159 211 216
§ 8 Vertragsgestaltung bei Negativzinsen in Neuverträgen . . . . . . . . . . . . . . 221 A. Individualvertragliche Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 B. Vereinbarung in AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Schluss
225
§ 9 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 A. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 B. Die drei Kernthesen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 § 10 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Anhang 1: EZB-Zinssätze seit 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Inhaltsverzeichnis § 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Historische Präliminarien: Der Zins in seiner ambivalenten historischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Wirtschaftliche Hinführung und Kernfrage der Arbeit . . . . . . . . . . . . . C. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Der Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19 19 24 25 26
Allgemeiner Teil
Einseitige Leistungsbestimmung und Identität des Schuldverhältnisses
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§ 2 Dogmatische Einordnung und Abgrenzung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 A. Entstehungsgeschichte: Einseitige Leistungsbestimmung im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht . . . . . . 33 I. Historische Definition des Gestaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Dogmatische Einordnung und subjektiv-rechtlicher Charakter . . . . . 35 1. Gestaltungsrechte als subjektive Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 III. Entstehung des Gestaltungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 1. Einräumung der Rechtsmacht als Abweichung vom Vertragsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 a) Gestaltungsrechte ohne Auswirkungen auf Dritte . . . . . . . . . . 38 b) Gestaltungsrechte mit Auswirkungen auf Dritte . . . . . . . . . . . 38 aa) Differenzierung in positive und negative Gestaltungsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 bb) Sonderfall: Ausfüllende Gestaltungsrechte . . . . . . . . . . . . 40 2. Unterworfensein bzw. Gebundenheit des Erklärungsgegners . . . 42 3. Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 a) Einräumung durch Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 b) Einräumung durch Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Ausübung des Gestaltungsrechts: Die Gestaltungserklärung . . . . . . 46 1. Abgrenzung zum Anspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Rechtsnatur der Gestaltungserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3. Grenzen der Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
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Inhaltsverzeichnis a) Unwiderruflichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bedingung und Befristung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Auswirkungen der Gestaltungserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eintritt der Rechtswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Besonderheiten bei ausfüllenden Gestaltungsrechten . . . . . . . . . . C. Vertragsrechtliche Einordnung der §§ 315 ff. BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Lockerung des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Vertragsrechts . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausnahmen vom Bestimmtheitsgrundsatz und Abgrenzung . . . . 3. Grenzen der Möglichkeit der Lockerung des Bestimmtheitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) AGB-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Formvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schutznormcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 3 Grenzen einseitiger Leistungsbestimmung und Identität des Schuldverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Grundsatz: Änderung des Vertragsinhalts durch Änderungsvertrag . . . . B. Änderung durch einseitige Leistungsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Grenzen der Änderung durch spezialgesetzliche Bestimmungen . . . . . . D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB . . . . . I. Die Rechtsnatur des § 311 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtsgeschichtliches Argument: Von der Novation zur identitätswahrenden Änderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vertragsänderung im römischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragsänderung zwischen Novation und Vertragsidentität . . b) Pomp. D. 18, 5, 2: Änderung des Kaufpreises . . . . . . . . . . . . c) Ulp. D. 2, 14, 7, 6: Rücktritt und Teilaufhebung . . . . . . . . . . d) Ulp. D. 18, 2, 6, 1: Befristeter Vorbehalt eines besseren Gebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Novation als Regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsänderung im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertragsänderung im ius commune und in der Pandektistik . . . . 4. Regelung im BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grenzen der Kontinuität – Die Identität des Schuldverhältnisses . . 1. Existenz von Grenzen – Der Begriff der Identität . . . . . . . . . . . . 2. Auslegung des § 311 BGB anhand der klassischen canones . . . . a) Auslegung des Wortlauts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtshistorische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis13 3. Objektive Parameter des Schuldverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . . 72 a) Änderung auf Subjektebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 aa) Zession . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 bb) Schuldübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 cc) Vertragsübernahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Änderung auf Objektebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 aa) Ersetzung des Vertragsgegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . 73 bb) Rückgewährschuldverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 cc) Kauf mit Umtauschvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 c) Änderung des Vertragstypus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 aa) Der Begriff des Typus in der Wissenschaftsterminologie 78 bb) Juristische Abgrenzung des Typus vom Begriff . . . . . . . . 79 cc) Der Typusbegriff im Vertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 dd) Das Verhältnis von Vertragstypologie und Typenfreiheit vor Inkrafttreten des BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 ee) Vertragstypologie und Vertragsfreiheit in den Entwürfen zum BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 ff) Vertragstypologie und Vertragsfreiheit in der heutigen Zivilrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 gg) Der Vertragstypus als identitätskonstituierendes Krite rium? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 d) Die Änderung der rechtlichen Grundstrukturen . . . . . . . . . . . 92 aa) Kausale und abstrakte Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . 92 bb) Verpflichtungsgrade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (1) Terminologie und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . 92 (2) Stellungnahmen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . 93 (3) Stellungnahme: Die Eigenart des Verpflichtungsgrades . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 4. Subjektive Parameter des Schuldverhältnisses . . . . . . . . . . . . . . . 95 a) Grundsätzliches zum Parteiwillen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 b) Methodik: Stellungnahmen in Literatur und Rechtsprechung . 96 c) Kriterien zur Konkretisierung des Parteiwillens . . . . . . . . . . . 97 aa) Die wirtschaftliche Bedeutung und der wirtschaftliche Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 bb) Verkehrsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 cc) Verpflichtungsgrad / Synallagma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 dd) Vermutung zu identitätswahrender Änderung . . . . . . . . . 99 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
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Inhaltsverzeichnis Besonderer Teil
Vertragsrechtliche Fragen negativer Verzinsung im Einlagenbereich
103
§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . 105 A. Nominalzins und Realzins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 B. Das Kreditmarktmodell und der Gleichgewichtszins . . . . . . . . . . . . . . . 106 C. Die Zeitpräferenztheorie und der negative natürliche Zins . . . . . . . . . . . 107 I. Zeitpräferenz bei Ludwig von Mises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II. Zeitpräferenz bei Eugen von Böhm-Bawerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 D. Natürlicher Negativzins und gehemmter Markt – Die Rolle der EZB . 110 I. Recht und Verpflichtung zur Geldpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Geldpolitisches Instrumentarium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 III. Der geldpolitische Transmissionsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 IV. Änderungen durch die Wirtschaftskrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 1. Inanspruchnahme der Fazilitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Niedrig- und Negativzinsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 E. Konsequenzen für den Zinsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 § 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Formen und Definition des Zinses im BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Vereinbarkeit mit der Zinsdefinition des BGB als Ausgangspunkt . . . . C. Erweiterung der Definition? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten – Begriffliches Argument . . . . . . . E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument . . . . . . . . . . . . I. „Negative Zinsen“ im europäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Leitlinie der EZB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aussagen der Leitlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsnatur und Rechtsverbindlichkeit der Leitlinie . . . . . . . . . 3. Auswirkungen auf das deutsche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Erhebung negativer Leitzinssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsnatur der Leitzinsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auswirkungen auf das deutsche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der negative Basiszinssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzgebungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erwartungen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Abstand zum HRG-Satz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Basiszinssatz als kalkulatorische Größe . . . . . . . . . . . . . . . . F. Bankpraktisches Argument: Aufrechterhaltung des Synallagmas durch Erhaltung der Marge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Die synallagmatische Konnotation des vertragsrechtlichen Zinsbegriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . H. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 119 120 120 121 123 124 125 125 127 128 130 130 131 132 134 136 137 138 140 144 146
Inhaltsverzeichnis
§ 6 Das Einlagengeschäft der Banken und die Interessenlage im Niedrigund Negativzinsumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Das Einlagengeschäft der Banken im System der Bankgeschäfte . . . . . B. Die Einlagenarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Termineinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Spareinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Sichteinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtliche Qualifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Interessenlage im Niedrig- und Negativzinsumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . I. Interessen auf Einlegerseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Interessen auf Bankenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Interessenausgleich durch negativen Zinssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung in bestehenden Einlagengeschäften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zu Methodik und Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Anpassung bei Termineinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertragstypologische Änderungen durch Null- und Negativzins . . . II. Nullverzinsung: Abdingbarkeit des § 488 Abs. 1 S. 2 BGB . . . . . . . III. Vertragstypenwechsel bei Negativzins? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemstellung und These: Änderung der Interessenlage und des Synallagmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gegenargument I: Verschiebung des Synallagmas . . . . . . . . . . . . 3. Gegenargument II: Dispositionsbefugnis über Entgeltlichkeitscharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Gegenargument III: Erhaltung des Synallagmas durch Erhaltung der Marge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Gegenargument IV: Urteil des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Alternative Lösungsmöglichkeit I: Der Vertrag sui generis . . . . . 7. Alternative Lösungsmöglichkeit II: Der regelmäßige Verwahrungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Alternative Lösungsmöglichkeit III: Der unregelmäßige Verwahrungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Dogmatische Eigenart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Abgrenzung zum Darlehensvertrag – Meinungsstand . . . . . .
15 148 148 149 150 150 150 151 151 151 153 153 153 153 154 154 155 155 156 157 157 159 159 159 160 160 160 160 161 163 164 164 166 166 167 167 167
16
Inhaltsverzeichnis c) Abgrenzung zum Darlehensvertrag – Stellungnahme . . . . . . . 168 d) Der Stellenwert der jederzeitigen Verfügungsmöglichkeit – § 695 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 aa) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 bb) Abdingbarkeit im Rahmen der regelmäßigen Verwahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 cc) Übertragung auf den unregelmäßigen Verwahrungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 e) Die Einordnung des Negativzinses als Entgelt . . . . . . . . . . . . 173 9. Ergebnis: Ein zwischen Vertragstypen oszillierender Typenmischvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 IV. Anpassung durch Zinsanpassungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 1. Variable Vergütungsmechanismen im Bankengeschäft . . . . . . . . . 175 2. Zinsanpassungsklauseln im Einlagengeschäft der Banken . . . . . . 175 a) Formen variabler Verzinsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Rechtliche Einordnung der Zinsanpassungsklausel . . . . . . . . 177 3. Inhaltliche Grenzen der Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Grenzen bei der Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 aa) Grundsätzliche Unüberprüfbarkeit der Preisabreden . . . . 178 bb) Gegenstand und Maßstab der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 cc) Grundsätzliche Interessenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 dd) Maßstäbe der Inhaltskontrolle anhand der Judikatur des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (1) Anforderungen an den Referenzzins . . . . . . . . . . . . . 180 (2) Anpassungsmechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 (3) Äquivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (4) Ergebnis der Inhaltskontrolle bei Vereinbarung . . . . 181 b) Grenzen bei Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 aa) Inhaltskontrolle der Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 bb) Vereinbarkeit mit §§ 308 Nr. 4 und 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 cc) Systematische Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 dd) Verstoß gegen das Transparenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (1) Verträge mit Vertragsschluss vor dem 11. Juni 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (2) Verträge mit Vertragsschluss nach dem 11. Juni 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 ee) Grenzen aus § 315 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (1) Schaffung vs. Konkretisierung einer Leistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (2) Grenzen aus der Identität des Schuldverhältnisses . 188 (3) Ausübung billigen Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
Inhaltsverzeichnis17 c) Rechtsfolge: Ergänzende Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Auslegung der unwirksamen Klausel . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vereinbarkeit mit dem Äquivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . (1) Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exkurs: Interessenlage bei Zinsgleitklauseln im Aktivgeschäft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Auswirkungen auf das Äquivalenzverhältnis im Einlagenbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Anpassung durch Zinsgleitklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zinsgleitklauseln im Einlagengeschäft der Banken . . . . . . . . . . . 2. Inhaltliche Grenzen der Anpassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätzliche Unüberprüfbarkeit der Preisabreden . . . . . . . b) Vereinbarkeit mit dem Transparenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Alternative Anpassungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Störung der Geschäftsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kündigung und Neuabschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Vertragliches Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ordentliches gesetzliches Kündigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . aa) Kündigungsrecht aus § 488 Abs. 3 BGB . . . . . . . . . . . . . bb) Kündigungsrecht aus § 489 Abs. 1 Nr. 2 BGB . . . . . . . . (1) Judikatur des BGH zu Bausparverträgen . . . . . . . . . . (2) Übertragbarkeit auf Verträge ohne gebundenen Sollzinssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Übertragbarkeit auf Verträge mit Zinsanpassungsund periodisierten Zinsgleitklauseln . . . . . . . . . . . . . cc) Kündigungsrecht aus § 489 Abs. 1 Nr. 1 Hs. 2 BGB . . . dd) Kündigungsrecht aus § 489 Abs. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . c) Außerordentliches gesetzliches Kündigungsrecht . . . . . . . . . . aa) Kündigungsrecht aus §§ 490 Abs. 3, 314 BGB . . . . . . . . bb) Kündigungsrecht aus §§ 490 Abs. 3, 313 Abs. 1, 3 S. 2 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Änderungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Anpassung bei Sichteinlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vertragstypologische Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Anpassung durch Zinsanpassungsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grenzen bei der Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grenzen bei der Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Inhaltskontrolle der Ausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) §§ 308 Nr. 4, 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Transparenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192 193 193 194 194 194 196 197 197 197 197 198 199 199 200 200 201 201 201 201 204 205 206 208 209 209 210 211 211 211 212 212 212 212 213 213 213 213
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Inhaltsverzeichnis dd) Grenzen aus § 315 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grenzen aus der Identität des Schuldverhältnisses . (2) Ausübung billigen Ermessens . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsfolge: Ergänzende Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . III. Änderung durch Zinsgleitklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Alternative Anpassungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214 214 215 215 215 216 216
§ 8 Vertragsgestaltung bei Negativzinsen in Neuverträgen . . . . . . . . . . . . . . 221 A. Individualvertragliche Vereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 B. Vereinbarung in AGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Schluss § 9 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeiner Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Besonderer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die drei Kernthesen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
225 227 227 227 228 232
§ 10 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Anhang 1: EZB-Zinssätze seit 1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
§ 1 Einführung „Now it is clear that negative interest is impossible. Any possessor of $100 of gold (or its equivalent in goods which can be sold for gold) would hoard the gold rather than lend it a loss.“1 Irving Fisher, 1896
A. Historische Präliminarien: Der Zins in seiner ambivalenten historischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung Betrachtet man den Titel dieser Arbeit und das Zitat Irving Fishers aus dem Jahr 1896, so beginnen die vorliegenden Ausführungen mit einem Paradoxon. Werden im Titel der Arbeit „negative Zinsen“ als der Hauptgegenstandsbereich der Untersuchung ausgewiesen, so ist damit ein Phänomen gemeint, das es nach Meinung eines der bedeutendsten amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler der Moderne eigentlich gar nicht geben kann. Abstrahiert man diesen (scheinbaren) Widerspruch und begreift den Zins in seiner historischen Dimension, so ist man der Feststellung zugeneigt, dass dieses Paradoxon nur ein weiterer Beleg dafür ist, dass Widersprüche, Konflikte und Verbote dem Phänomen des Zinses immanent zu sein scheinen. Aus diesem Grund stehen dieser Arbeit kurze historische Vorbemerkungen voran, die zeigen sollen, dass der Zins einerseits einer der ältesten und grundlegendsten Bestandteile des Wirtschaftslebens ist, dass er aber andererseits seit seiner Einführung bis zum heutigen Tag immer wieder zum Stein des Anstoßes wurde und wird. Der Zins zählt zu den ältesten und umstrittensten Phänomenen der Menschheitsgeschichte. Bereits im Codex Hammurapi,2 einer der ältesten überlieferten Rechtssammlungen, die während der Herrschaft des Königs Hammurapi, dem 6. König der 1. Dynastie von Babylon, also um das Jahr 1750 v. Chr.
1 Fisher,
Appreciation and Interest, 331 (372). Begriff Codex wird in der Forschung im Regelfall zur Betitelung einer Rechtssammlung verwendet. Es handelt sich hierbei aber nicht um einen Codex, wie er in den großen Zivilrechtskodifikationen der Moderne vorliegt. 2 Der
20
§ 1 Einführung
entstanden ist,3 lassen sich Vorschriften zur Verzinsung finden.4 Die sozialökonomischen Bedingungen, die sich zuvor vor allem in Babylon deutlich verändert hatten, hatten zu einer Individualisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse geführt.5 Die unzähligen bäuerlichen Klein- und Hauswirtschaften hatten jedoch nur geringe Eigenmittel zur Verfügung, weshalb die Kreditnachfrage stieg, welche finanzkräftige Kreditgeber wie das Königshaus, Kaufleute oder reiche Großgrundbesitzer gegen Zahlung eines Zinses, der den Verzicht auf ihre Eigenmittel kompensieren sollte, zu stillen bereit waren. Die existentielle Angewiesenheit auf Fremdmittel schuf jedoch ein wirtschaftliches Ungleichgewicht, weshalb schon früh das Bedürfnis entstand, die deutliche wirtschaftliche Überlegenheit der Kreditgeber durch die gesetzliche Einführung von Höchstzinssätzen zumindest partiell zu begrenzen. So finden sich im Codex Hammurapi Vorschriften, die einen Höchstzinssatz von 20 % (p. a.) bei Silber und von 33 % (p. a.) bei Gerste vorsahen.6 Auch in der griechischen und römischen Antike war das Einfordern eines Zinses bei Darlehensverträgen im wirtschaftlichen Alltag fest verankert.7 Doch trotz oder vielleicht gerade wegen dieser festen Verankerung des Zinses im Alltag der Menschen regten sich schon bald prominente Stimmen, denen der Zins entweder aus philosophischen oder moralischen Gründen suspekt war. So verbot Platon, der Handel und Geldwesen ohnehin kritisch gegenüberstand, in seinen Nomoi, auf ein Darlehen Zinsen zu erheben.8 Noch negativer bewertete er in der Politeia das Zinsnehmen durch die pejorative Charakterisierung der „Geldmacher“ als mitleidslose Menschen, die jedem Bedürftigen bei Bedarf zwar Geld leihen, hierbei aber ein Vielfaches des ausgeliehenen Betrages an Zinsen nähmen und damit die Anzahl der Armen im Staat groß machen würden.9 Der durch Zinsen gewonnene Reichtum war für Platon 3 Zu dieser zeitlichen Einordnung siehe Roth, Law Collections from Mesopotamia and Asia Minor, S. 8. 4 Vermutlich enthielt auch schon die älteste erhaltene Rechtssammlung Codex UrNamma, die unter der Herrschaft des Königs Ur-Namma während der Dritten Dynastie von Ur und damit um das Jahr 2100 v. Chr. entstand, Regelungen über Darlehen und Zins. Dies wird in der Forschung teilweise auch für den überlieferten Text behauptet, vgl. Seyed-Ashraf, Metropolen des alten Orients, S. 101. Bei der Durchsicht des nur teilweise überlieferten Textes konnten allerdings keine solchen Vorschriften gefunden werden. 5 Vgl. hierzu ausführlich Klengel, König Hammurapi und der Alltag Babylons, S. 91. 6 Vgl. beispielsweise § 65 u in der Rekonstruktion von Roth, Law Collections from Mesopotamia and Asia Minor, S. 97 f. 7 Vgl. auch Baloglou, JWG 138, 177 (186). 8 So Platon vor allem im fünften Buch der Nomoi Nr. 742 a; ferner in diesem Werk auch 8,842 c. 9 Platon, Politeia, 8,555 e.
A. Historische Präliminarien21
damit kein – im moralischen Sinne – als „gut“ anzusehender Wohlstand. Dieses moralische Kriterium dachte sein Schüler Aristoteles noch weiter und sah in seiner Politika den Zins als widernatürlich an. Der Geldverleih gegen Zinsen sei berechtigterweise allzu verhasst, denn dieser Gewinn stamme aus dem Münzgeld selber, nicht aus der Verwendung, für die es geschaffen wurde, nämlich dem Warenumschlag. Bei Geldgeschäften aber vermehre der Zins das Geld, womit das Erzeugte dem Erzeuger gleiche.10 Der Zins sei damit Geld erzeugt von Geld, weshalb diese Erwerbsform wider die Natur sei.11 Somit gab es bereits in der Antike aus philosophischer Perspektive ethische Bedenken gegen das Zinsnehmen, was jedoch nicht dazu führte, dass der Zins als integraler Bestandteil der Wirtschaft aufgehoben wurde oder gar ein Zinsverbot bestanden hätte. Die einzigen Normen, die in der Antike ein ausdrückliches und generelles Verbot des Zinsnehmens bestimmten, finden sich in den jüdischen Gesetzessammlungen Torah und Mischnah.12 Dieses Verbot bestand jedoch nur unter Israeliten, Fremden gegenüber war die Erhebung eines Darlehenszinses erlaubt. Das sich nach der Zeitenwende schnell ausbreitende Christentum griff bei der moralischen Einordnung des Zinsnehmens auf die gleichen Stellen der Torah zurück, welche in Form der Fünf Bücher Mose auch Bestandteil des biblischen Kanons geworden war. Hinzugekommen waren jedoch noch einige Äußerungen Jesu aus dem Neuen Testament, die sich so auslegen ließen, dass das Zinsnehmen auch gegenüber Fremden verboten sei,13 sodass sich bald die Stimmen durchsetzten, die ein allgemeines Zinsverbot forderten. Begrifflich und materiell wurde in der Patristik der ersten Jahrhunderte nach Christus kaum zwischen Zinsnehmen und Wucher unterschieden,14 und Wucher galt schon deshalb als besonders verwerflich, weil durch ihn gleichzeitig drei der sieben Hauptsünden verwirklicht werden konnten, nämlich die avaritia (Habsucht), die cupiditas (Begierlichkeit) und die inertia (Trägheit 10 So
bedeutet auch das griechische Wort für Zins (Τόκος) auch „Geborenes“. Politik, I, 10 (=1258b). 12 Werner, Das israelitische Zinsverbot, S. 11, 18. Die hier maßgeblichen Stellen finden sich in Ex 22, 24; Lev 25, 35–38 sowie Dtn 23, 20–21. 13 Zu nennen ist hier v. a. Lk 6, 34 ff.: „Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr es zurückzubekommen hofft, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen. Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Text der Einheitsübersetzung). 14 Kloft, Das christliche Zinsverbot in der Entwicklung von der Alten Kirche zum Barock, S. 21. 11 Aristoteles,
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§ 1 Einführung
im Sinne eines Gewinns ohne Arbeit). So überrascht es nicht, dass das 1. Ökumenische Konzil von Nicäa im Jahr 325 das Zinsnehmen für Kleriker bei der Strafe der Entziehung des Priesteramtes und der Exkommunikation verbot.15 Bereits Papst Leo der Große hob in einem Brief aus dem Jahr 443 die Beschränkung des Zinsverbots auf Kleriker auf, sodass fortan allen Christen das Zinsnehmen verboten war.16 Auch der für die Scholastik so bedeutende Thomas von Aquin lehnte, die dargestellte Argumentation Aristoteles’ rezipierend, das Zinsnehmen als widernatürlich ab. Dieses christliche Zinsverbot bestand bis in die Neuzeit hinein und wurde im Jahr 1515 durch die Bulle Inter multiplices des 5. Laterankonzils noch einmal bekräftigt.17 Dies führte dazu, dass im Mittelalter das Zinsnehmen für Christen verboten, für jüdische Geldhändler dagegen erlaubt war. Den Stereotyp des habgierigen jüdischen Geldverleihers Shylock, der dem in Not geratenen Christen Antonio die Bedingungen der Darlehensaufnahme einseitig aufzwingen kann und sogar ein Pfund Fleisch aus dessen Körper verlangt, hat William Shakespeare 1600 in seinem berühmt gewordenen Drama The Merchant of Venice geprägt. So sagt der habgierige Shylock über Antonio: „Ich hass ihn, weil er von den Christen ist, doch mehr noch, weil er aus gemeiner Einfalt umsonst Geld ausleiht und hier in Venedig den Preis der Zinsen uns herunterbringt“.18 Zwar konnte mittlerweile nachgewiesen werden, dass die Ausführungen Shakespeares unter historischen Gesichtspunkten in Frage zu stellen sind,19 doch der Stereotyp des habgierigen Juden wurde bis ins 20. Jahrhundert immer wieder im Rahmen antisemitischer Ideologien relevant. Der sich mit dem Aufkommen chauvinistischer Ideologien vor allem seit Ende des 19. Jahrhunderts immer weiter ausbreitende Antisemitismus wurde von der nationalsozialistischen Propaganda in eine neue Dimension gehoben. Im nationalsozialistischen Wirtschaftsverständnis galt die Maxime „Gemeinnutz vor Eigennutz“ und in diesem Sinne entwarf der Chef-Wirtschaftstheoretiker der NSDAP, Gottfried Feder, ein Modell, in dem der Staat 15 Siehe can. 17 dieses Konzils, abgedruckt in: Wohlmuth, Dekrete der ökumenischen Konzilien, S. 14. 16 Siehe auch Kloft, Das christliche Zinsverbot in der Entwicklung von der Alten Kirche zum Barock, S. 26. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die grundlegende Admonitio generalis Karls des Großen aus dem Jahr 789, in der das Zinsnehmen ebenso für alle Christen verboten wird. 17 Siehe den Text in Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Rn. 1442 ff. 18 Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, 4. Akt 3. Szene. 19 Vor allem Steinbach, Jüdische Bankiers im Venedig der Renaissance, S. 81 ff., hat plausibel dargelegt, dass eher das Gegenteil der von Shakespeare beschriebenen wirtschaftlichen und sozialen Lage der Juden der historischen Realität am nächsten kommt.
A. Historische Präliminarien23
und die Finanzwirtschaft auf Zinsen verzichten sollten.20 So waren die „Brechung der Zinsknechtschaft“ und das Befreien von der „jüdischen Weltherrschaft“, die Adolf Hitler auch in sein Manifest Mein Kampf aufgenommen hatte, zentrale Schlagworte der nationalsozialistischen Propaganda. Zu dieser Zeit hatte sich allerdings das christliche Zinsverbot schon seit Jahrhunderten immer weiter relativiert. Gegen Ende des Mittelalters, als sich in Italien zunehmend ein Bankensystem entwickelte und Fremdkaufleute aus Italien sich auch in Nordeuropa niederließen, verbreitete sich auch das Zinsnehmen immer mehr und verlangte damit einhergehend einen veränderten rechtlichen und moralischen Umgang mit dem Zins,21 sodass mehr und mehr Ausnahmen gemacht und immer mehr zinsabhängige Geschäfte als zulässig erachtet wurden. Auch unter dem Einfluss der Reformation, deren Protagonist Calvin das Zinsverbot in seiner absoluten Form erstmals ablehnte,22 fand zunehmend ein Umdenken statt. Oft wurde hierbei auch zwischen einem erlaubten Zins (fenus) und einem wucherartigen, sündhaften Zins (usura) unterschieden.23 Das christliche Zinsverbot, im kanonischen Recht in can. 1543 CIC festgeschrieben, galt indes noch bis zur Neufassung des CIC im Jahr 1983 formell fort, also bis hinein in eine Zeit, in der der Zins aus dem Wirtschaftsleben rund um die Welt nicht mehr wegzudenken war. War die christliche Religion über Jahrhunderte treibende Kraft zur Realisierung eines allgemeinen Zinsverbotes, ist die Zinsproblematik in der heutigen Moraltheologie nur noch ein absolutes Randthema.24 Auch im Koran findet sich ein entsprechendes Zinsverbot. Demnach ist es allen Muslimen verboten, Zins (arab. Ribā) zu nehmen.25 Wie im Christentum des ausgehenden Mittelalters haben auch muslimische Wirtschaftswissenschaftler im Rahmen des Islamic Banking versucht, Ausnahmen und Umgehungsmöglichkeiten zu entwickeln, um Scharia-konforme Finanzgeschäfte betreiben zu können.26 Im Unterschied zum Christentum besteht das grundsätzliche Zinsverbot im Islam aber bis heute fort. Meyer zu Uptrup, Weltwirtschaft und Weltherrschaft, S. 227. Das christliche Zinsverbot in der Entwicklung von der Alten Kirche zum Barock, S. 31. 22 Hanke-Wehrle, Zins und Wucher – kein Thema für die theologische Ethik und Sozialethik der Gegenwart?, S. 287. 23 Dieser Deutung trat Papst Benedikt XIV. in seiner Bulle Vix pervenit im Jahr 1745 aber noch entschieden entgegen. 24 So auch die Einschätzung von Hanke-Wehrle, Zins und Wucher – kein Thema für die theologische Ethik und Sozialethik der Gegenwart?, S. 281. 25 Vgl. v. a. die Verse 275 f. der 2. Sure. 26 Siehe hierzu näher Nienhaus, Das islamische Zinsverbot und die Entwicklung Scharia-konformer Finanztechniken, S. 125 ff. sowie Wackerbeck, Islamic Finance – Entwicklungen und Marktpotential, S. 155 ff. 20 Vgl.
21 Kloft,
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§ 1 Einführung
Somit bestätigt sich der Eindruck, dass der Zins in seiner historischen Dimension höchst ambivalent zu beurteilen ist. Als nicht mehr wegzudenkender, elementarer Bestandteil einer jeden Volkswirtschaft war und ist er ein Stein des Anstoßes für Philosophen und Theologen und ist damit Zeuge des höchst seltsamen Phänomens der Übertragung aus der Theologie gefolgerter ethischer Prinzipien auf ein aus ökonomischer Logik stammenden Produkts. Der Zins konnte und kann Mittel der Ausbeutung sein, ist aber ebenso Grundlage der Fremdkapitalaufnahme und damit Voraussetzung eigenen Wirtschaftens.
B. Wirtschaftliche Hinführung und Kernfrage der Arbeit Nachdem der Zins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vergleichsweise selten Gegenstand von Kontroversen war, spielte er vor allem in den letzten Jahren in den Medien, aber auch in der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion wieder verstärkt eine Rolle. Diesen Stein ins Rollen brachten die Entwicklungen, die in den historischen Ereignissen des 15. September 2008 gipfelten. Die amerikanische Investmentbank Lehmann Brothers musste unter anderem in Folge ihrer Verluste nach der Subprimekrise 2007 Insolvenz anmelden und erschütterte damit den Glauben an den bis dahin als unumstößlich geltenden too big to fail-Grundsatz. Die Insolvenz führte zu einem Vertrauensverlust am Interbankenmarkt mit der Folge der Austrocknung der Märkte. Die Zentralbanken wurden zum sicheren Hafen und die Möglichkeit der Kapitaleinlage bei ihnen wurde trotz der verhältnismäßig ungünstigen Konditionen verstärkt in Anspruch genommen. Die folgende Wirtschaftskrise und der damit einhergehende konjunkturelle Einbruch beeinflusste die Wirtschaft vieler europäischer Länder nachhaltig. Die einsetzende Rezession zeigte sich in der Realwirtschaft dieser Länder vor allem an hoher Arbeitslosigkeit, niedriger Kapazitätsauslastung, fehlenden Investitionen und einem Rückgang der Güternachfrage, wodurch letztlich die Preisniveaustabilität gefährdet war, weil die Gefahr einer Deflation bestand. Die Europäische Zentralbank ergriff zum Erhalt der Preisniveaustabilität, zu deren Gewährleistung sie aufgrund des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verpflichtet ist, eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen. Eine dieser Maßnahmen war die Senkung der Leitzinsen, durch die auch das Zinsniveau im europäischen Raum weiter sank. Von der Senkung des allgemeinen Zinsniveaus versprach sich die Zentralbank letztlich einen Anstieg der Kreditnachfrage und damit auch einen Anstieg der Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern in den einzelnen Ländern. Mit Wirkung zum 11. Juni 2014 erreichte der Satz der Einlagefazilität erstmals den negativen Bereich und wurde seitdem kontinuierlich bis auf einen Stand von –0,40 % abgesenkt (Stand: 15.01.2018). Das andauernde Niedrig- und
C. Stand der Forschung
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Negativzinsumfeld hat dazu geführt, dass die im Rahmen des Aktivgeschäfts der Banken zur Verfügung gestellte Liquidität nicht mehr in gleichem Maße nachgefragt wird wie zuvor. Dies hat die Konsequenz, dass die Kreditinstitute in ihrer Eigenschaft als fristen- und liquiditätstransformierende Finanz intermediäre in viel geringerem Maße gefragt sind als vor der Wirtschaftskrise. Da das Einlagengeschäft prinzipiell der Kapitalansammlung für das gewinnbringende Wirtschaften im Rahmen des Aktivgeschäfts dient, bedeutet die zurückgehende Nachfrage auf der Aktivseite zugleich, dass die im Rahmen des Einlagengeschäfts zur Verfügung gestellten Mittel in viel geringerem Maße einer renditeträchtigen Nachfrage zugeführt werden können als vor der Finanzkrise. Diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass einige Banken den negativen Einlagensatz, den sie selbst bei der jeweiligen Notenbank entrichten müssen, an ihre Kunden „durchreichen“. Der Versuch einiger Banken, den negativen Zins zumindest an Geschäftskunden weiterzugeben, fand in den Medien ein großes Echo, pointiert wurde von einem „Angriff auf die Sparer“ berichtet.27 Man sah ebenso die Ersparnisse des durchschnittlichen Kleinsparers wie auch die Volkswirtschaft in Gefahr, da die Ersparnisse, die unter anderem den Kapitalstock einer Volkswirtschaft bilden, die Grundlage für das mittel- bis langfristige Wirtschaftswachstum darstellen.28 Dennoch führte das anhaltende Niedrigzinsumfeld dazu, dass die Banken durch die Einlagen wirtschaftlich betrachtet in immer größerem Ausmaß belastet wurden. Es stellt sich deshalb die Frage, ob das Durchreichen des Negativzinses an die Bankkunden im Rahmen bestehender Geschäftsbeziehungen rechtlich zulässig ist. Einige Banken haben einen solchen negativen Zins bereits für Geschäftskunden eingeführt. Da immer mehr Banken ein solches Vorgehen, auch gegenüber Privatkunden, in Betracht ziehen, erscheint eine fundierte Beantwortung dieser Frage nicht nur theoretisch sondern auch praktisch als lohnenswert.
C. Stand der Forschung Die Frage der Zulässigkeit negativer Verzinsung ist bislang weder für den Aktiv- noch für den Passivbereich der Banken Gegenstand der Rechtsprechung gewesen. Für den Fall der negativen Verzinsung im Einlagenbereich wird derzeit (Stand 15.01.2018) ein Rechtsstreit vor dem LG Tübingen aus27 Siedenbiedel, Angriff auf die Sparer, o. S. (FAZ online vom 23.11.2014; „Die Banken geben die Strafzinsen der Europäischen Zentralbank an ihre Kunden weiter. Wer gedacht hat, als kleiner Sparer ungeschoren davonzukommen, hat sich gehörig getäuscht“). 28 Zu diesem Zusammenhang zwischen den Ersparnissen und dem Kapitalstock einer Volkswirtschaft siehe Belke / Verheyen, Vierteljahreshefte für Wirtschaftsforschung 82 (2013), 2, 97 (108).
26
§ 1 Einführung
getragen (Az. 4 O 187 / 17), bei dem allerdings noch kein Urteil ergangen ist. Mit der Zulässigkeit einer negativen Verzinsung im Aktivbereich beschäftigten sich in den letzten Jahren einige fachwissenschaftliche Beiträge29 sowie zuletzt die Monographie von Lesch30, ebenso existiert eine Stellungnahme zu negativen Zinsen bei Inhaberschuldverschreibungen.31 Zudem beschäftigten sich einige Beiträge samt der Monographie von Kollmann32 mit den recht lichen Fragen, welche sich aus dem seit 2013 negativen Basiszinssatz ergeben.33 Außer einigen kürzeren Stellungnahmen, wie der von Tröger34 oder Langner / Müller35, existiert bisher dagegen – soweit ersichtlich – keine vertiefte Auseinandersetzung mit den vertragsrechtlichen Fragen, die sich bei einem Negativzins im Einlagenbereich der Banken ergeben. Diese Lücke will die vorliegende Arbeit schließen.
D. Der Gang der Darstellung Die spezifisch bankenrechtliche Kernfrage der Arbeit ist damit, ob und inwieweit in bestehenden Rechtsverhältnissen, die den Termin-, Sicht- und Spareinlagen zugrunde liegen, der Übergang von einem positiven zu einem negativen Zinssatz rechtlich zulässig ist. Eine Anpassung des vertraglichen Zinssatzes an das sich ändernde Zinsniveau geschieht entweder mit Hilfe einer Zinsgleit- oder eines Zinsanpassungsklausel. Während die Anpassung des Zinssatzes bei einer Zinsgleitklausel automatisch und ohne ein Ermessen der Banken eintritt, erfolgt die Änderung bei einer Zinsanpassungsklausel durch eine Gestaltungserklärung der Bank im Rahmen eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts. Aufgrund dieses Ermessensspielraumes im Rahmen des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts sind die Rechtsmäßigkeitsanforderungen sowohl bei der Vereinbarung als auch bei der Ausübung einer Zinsanpassungsklausel deutlich vielschichtiger als bei einer Zinsgleitklausel. Diese Begrenzungen, die aus dem § 315 BGB folgen, sollen daher im Allgemeinen Teil der Arbeit zunächst abstrakt herausgearbeitet werden.
29 Binder / Ettensberger, WM 2015, 2069, Grunwald / Walter / Zipse, BKR 2016, 450; Hingst / Neumann, BKR 2016, 95; Söbbing / von Bodungen, ZBB 2016, 39; Storck / Reul, DB 2015, 115; Zellweger-Gutknecht, ZfPW 2015, 350. 30 Lesch, Negative Zinsen und das Kreditgeschäft, passim. 31 Becker, WM 2013, 1736, der alle im Rahmen von negativ verzinsten Inhaberschuldverschreibungen relevant werdenden Probleme überzeugend behandelt. 32 Kollmann, Negative Zinsen, passim. 33 Coen, NJW 2012, 3329; Ernst, ZfPW 2015, 250. 34 Tröger, NJW 2015, 657. 35 Langner / Müller, WM 2015, 1979.
D. Der Gang der Darstellung27
Eine vertiefte dogmatische Auseinandersetzung mit den Regelungen des § 315 BGB muss notwendigerweise bei der Frage ansetzen, wie derartige einseitige Leistungsbestimmungsrechte dogmatisch einzuordnen und welche Rechtmäßigkeitsanforderungen hieraus zu ziehen sind (§ 2). Im Rahmen des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts – wie es bei der Zinsanpassungsklausel ausgestaltet ist – kommt jedoch noch eine weitere Besonderheit hinzu: Durch eine Änderung des Zinssatzes erfolgt immer auch eine (einseitige) Änderung des Vertrages. Dieses Zusammentreffen von einseitiger Leistungsbestimmung und Änderungsvertrag hat Auswirkungen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Änderung. Denn eine Vertragsänderung wird einseitig nur dann zuzulassen sein, wenn diese identitätswahrend geschieht und die Änderungen nicht so gewichtig sind, dass eine diskontinuierliche Vertragsänderung mit der Folge einer Novation herbeigeführt wird. Aus diesem Grund steht in § 3 unter Zugrundelegung der in § 2 gewonnen Erkenntnisse die ganz allgemeine und in der Forschung bis jetzt nur unzureichend beantwortete Frage im Mittelpunkt, welche Parameter eines Schuldverhältnisses für dieses identitätskonstituierend sind. Eine der Kernfragen des sich anschließenden Besonderen Teils ist die Frage, ob ein Zins im Rechtssinne auch negativ sein kann. Da der Zins ein primär wirtschaftliches Phänomen ist, muss zunächst die Frage geklärt werden, ob ein Zins im ökonomischen Sinne negativ werden kann (§ 4). In diesem Rahmen ist es unverzichtbar, die oben bereits angedeutete wirtschaft liche Lage der Banken seit den Wirtschaftskrisen des letzten Jahrzehnts näher auszudifferenzieren, da nur so rechtlich beurteilt werden kann, ob und inwieweit die Interessen der Banken an einem eventuellen negativen Zinssatz im Einlagenbereich schützenswert sind oder nicht. Ebenso erfordert die Frage, ob aus einem ökonomischen Zins Implikationen für den rechtlichen Zinsbegriff abzuleiten sind, zumindest eine kurze volkwirtschaftliche Untersuchung. Auf dieser Grundlage soll, bevor auf die vertragsrechtlichen Fragen eingegangen wird, zunächst abstrakt beurteilt werden, welche Formen des Zinses es im Rechtssinne gibt und inwiefern diese Zinssätze auch als negative Sätze denkbar sind (§ 5). In diesem Rahmen erfolgt im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Argumenten, die in der Literatur bereits für die Möglichkeit der Existenz eines negativen Zinses im Rechtssinne vorgebracht wurden. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf eine Untersuchung von negativen Zinsen im Einlagenbereich der Banken. Die drei Grundformen des Einlagengeschäfts, die Termin-, Spar- und Sichteinlagen werden deshalb zunächst abstrakt erläutert, wobei jeweils die für die Kernfrage der Arbeit relevanten Aspekte geklärt werden, welche Rechtsbeziehung jeweils zugrunde
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§ 1 Einführung
liegt und welche Interessen, sowohl im Positiv-, als auch im Niedrig- und Negativzinsumfeld eine Rolle spielen (§ 6). Vor diesem Hintergrund wird zur Beurteilung der Kernfrage der Arbeit, also der Frage der Zulässigkeit des Übergangs von einem positiven zu einem negativen Zins in bestehenden Vertragsverhältnissen (§ 7), zwischen Terminund Spareinlagen einerseits sowie Sichteinlagen andererseits differenziert, da hierbei jeweils unterschiedliche Vertragstypen zugrunde liegen und die Interessenslage, wie in § 6 herausgearbeitet wird, wesentlich anders ist. Bei der Betrachtung der Termin- und Spareinlagen stellt sich sodann zunächst die Frage, welcher Vertragstypus im Falle eines negativen Zinses verwirklicht wird. Auf dieser Grundlage kann die Frage beantwortet werden, ob eine solche Anpassung in bestehenden Vertragsverhältnissen rechtlich zulässig ist, wobei hier wiederum zwischen Zinsanpassungs- und Zinsgleitklauseln differenziert wird und insbesondere die in § 3 gewonnen Erkenntnisse zu den identitätskonstituierenden Merkmalen eines Schuldverhältnisses Anwendung finden können. Bei allen Einlageformen stellt sich abschließend die Frage, welche – im Falle der Unzulässigkeit einer Anpassung über die Zinsgleitbzw. Zinsanpassungsklauseln – alternativen Anpassungsmechanismen der Bank zur Verfügung stehen. Abschließend soll noch ein kurzer Blick auf die zukünftige Vertragsgestaltung für variable Zinssätze, die die Möglichkeit eines negativen Zinses mit in den Vertragstext aufnehmen sollen, geworfen werden (§ 8). Die gewonnenen Ergebnisse werden in § 9 gesondert aufgeführt und schließlich in drei Kernthesen zusammengefasst, wonach ein kleiner Ausblick den Abschluss der Untersuchung bildet (§ 10).
Allgemeiner Teil
Einseitige Leistungsbestimmung und Identität des Schuldverhältnisses
§ 2 Dogmatische Einordnung und Abgrenzung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte Die einseitigen Leistungsbestimmungsrechte (§ 315 BGB) spielen bei der variablen Verzinsung im Einlagenbereich der Banken eine zentrale Rolle. Um die vertragliche Ausgestaltung und die Grenzen einseitiger Leistungsbestimmung beurteilen zu können, bedarf es zunächst einer abstrakten dogmatischen Ausdifferenzierung dieser Rechte. Eine solche vertiefte dogmatische Auseinandersetzung mit den Regelungen des § 315 BGB muss notwendigerweise bei der Frage ansetzen, wie derartige einseitige Leistungsbestimmungsrechte dogmatisch einzuordnen und welche Rechtmäßigkeitsanforderungen hieraus zu ziehen sind.
A. Entstehungsgeschichte: Einseitige Leistungsbestimmung im römischen Recht Die Möglichkeit, die Bestimmung einer Leistung einer der beiden Vertragsparteien oder einem Dritten zu überlassen, ist seit dem römischen Recht in verschiedenen Rechtsordnungen verwurzelt. Vielleicht liegt dies, wie es das Reichsoberhandelsgericht 1875 formulierte, an einem „Verkehrsbedürfnis […], dass […] eine nachträgliche Feststellung solcher vielleicht sehr wesentlicher Punkte, über welche die Paciscenten1 absichtlich ausreichende Festsetzung unterlassen haben, durch gute Männer, gleichsam in die Seele der Contrahenten hinein, erfolgte“.2 Betrachtet man die hier in Frage stehenden Zinsanpassungsklauseln, scheint aufgrund der sich ständig ändernden kapital- und geldmarktbedingten Rahmenbedingungen das dort beschriebene „Verkehrsbedürfnis“ auch heute noch sehr aktuell zu sein. Schloss man einen Kaufvertrag nach römischem Recht (emptio venditio), so musste auch der Kaufpreis festgesetzt werden (pretium certum).3 Hierbei genügte es jedoch, dass die Leistung bestimmbar war. Ob dieser Bestimmt1 Als „Paciscenten“ bezeichnete man im 19. Jahrhundert die Personen, die miteinander einen Vertrag schlossen. 2 ROHGe 16, 427 = SeuffArch 30 (1875), Nr. 237, 340 f. 3 Zu dem Grundsatz des pretium certum vgl. Gai. Inst. 3, 140; vgl. auch Kaser / Knütel / Lohsse, Römisches Privatrecht, § 41 Rn. 13.
32 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
heit genüge getan war, war aber in einigen Situationen zweifelhaft, vor allem dann, wenn der Kaufpreis zwar feststand, er den Parteien aber nicht bekannt war, weil die Bestimmung des Kaufpreises durch einen Dritten erfolgen sollte, oder wenn die nachträgliche Preisbestimmung einer der beiden Parteien oblag.4 Umstritten war insbesondere die erste Konstellation, also die Frage, ob eine solche Leistungsbestimmung durch Dritte möglich sein sollte. Vor allem die Rechtsgelehrten der Rechtsschule der Sabinianer erachteten einen solchen Kaufvertrag als unwirksam, bei dem die Bestimmung des Preises einem Dritten überlassen wurde.5 Sie ordneten eine solche Vereinbarung als formlose Nebenabrede (pactum adiectum) ein. Der Hauptvertrag, dessen Wirksamkeit aber unabhängig vom pactum adiectum beurteilt werden musste, war aufgrund der in ihm gänzlich fehlenden Preisbestimmung selbst ebenfalls unwirksam.6 Rechtsgelehrte der Rechtsschule der Prokulianer dagegen hielten eine Leistungsbestimmung durch Dritte prinzipiell für möglich.7 In einem exemplarischen Fall hatten zwei Gesellschafter eine societas gegründet und bestimmt, dass ein gemeinsamer Freund die Gesellschafteranteile bestimmen sollte.8 Hatte der gemeinsame Freund die Anteile unbillig bestimmt, blieb der Vertrag wirksam, lediglich die Anteile bestimmten sich nach billigem Ermessen (arbitrium boni viri).9 Die Vereinbarung der Leistungsbestimmung durch einen Dritten war nach dieser Ansicht eine (aufschiebende) Bedingung, sodass der Vertrag insgesamt wirksam wurde, wenn der Dritte die Bestimmung vorgenommen hatte.10 Dieser Rechtsauffassung folgte schließlich auch Justinian.11 Wenn der Kaufpreis durch Bezugnahme auf eine wie auch immer bereits feststehende, aber den Parteien zu diesem Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht bekannte Quantität bestimmt wurde, so galt er als bestimmbar und der Kaufvertrag war damit unumstritten gültig.12 4 Bei der Feststellung und Systematisierung der drei Ausnahmen vom Erfordernis des pretium certum folgt die Arbeit der Differenzierung von Nelson / Manthe, Gai Institutiones III 88–181, S. 258. 5 „Quanti Titius aestimauerit“, vgl. Gai. Inst. 3, 140. 6 In Gai. Inst. 3, 140 wird diese Argumentation nicht explizit aufgeführt, sie lässt sich jedoch bei systematischer Betrachtung herleiten, vgl. Nelson / Manthe, Gai Institutiones III 88–181, S. 260 f. 7 Vgl. Gai. Inst. 3, 140. 8 Proc. Dig. 17, 2, 76; vgl. Nelson / Manthe, Gai Institutiones III 88–181, S. 260. 9 Vgl. Proc. Dig. 17, 2, 78. 10 Vgl. Nelson / Manthe, Gai Institutiones III 88–181, S. 260; Schindler, Justinians Haltung zur Klassik, S. 148. 11 Siehe Cod. Iust. 4, 38, 15; Inst. 3, 23, 1. 12 Bestimmbarkeit lag demnach beispielsweise auch bei einem Kaufpreis vor, „quanti tu eum emisti“ (für wieviel Geld du bezahlen musstest), „quantum pretii in arca habeo“ (für so viel Geld, wie ich in der Kasse habe) und „centum et quanto
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht33
Schlossen zwei Parteien dagegen einen (Kauf-)Vertrag und oblag die Preisbestimmung einer dieser beiden Parteien, so wurde dieser Vertrag als imperfectum angesehen,13 was bedeutete, dass der Vertrag mit Durchführung der Preisbestimmung als Bedingungseintritt wirksam wurde.14 Diese Leistungsbestimmung durfte indes nicht nach Belieben getroffen werden, sondern musste sich in den Grenzen billigen Ermessens halten.15 Es bleibt damit festzuhalten, dass eine vom Vertragsschluss in zeitlicher Hinsicht losgelöste spätere Bestimmung einer Leistung bereits nach römischem Recht prinzipiell möglich war. Darüber hinaus wurden bereits erste materielle Grenzen gezogen, indem die Leistungsbestimmung nicht willkürhaft erfolgen durfte, sondern nach billigem Ermessen getroffen werden musste,16 wie es auch heute Bestandteil der Regelung über das einseitige Leistungsbestimmungsrecht im BGB ist (§ 315 Abs. 1 BGB). Auch die Bezugnahme auf außerhalb der Vertragsbeziehungen liegender fester Größen, wie es heute beispielsweise im Rahmen der Zinsanpassungsklauseln durch Bezugnahme auf einen Referenzzinssatz geschieht, war dem römischen Recht nicht fremd.
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht Zwar gab es eine Form einseitiger Leistungsbestimmungsrechte schon im römischen Recht, indes wurde dort noch nicht über die dogmatischen Grundlagen und die Rechtsnatur eines solchen Rechts reflektiert. Nahezu unumstritten ist heute, dass das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als ein Gestaltungsrecht einzuordnen ist.17 Das Rekurrieren auf die dogmatische Eigenpluris eum vendidero“ (für hundert und so viel mehr, wie ich es teurer verkaufen werde), vgl. Ulp. D. 18, 1, 7. 13 So Gai. Dig. 18, 1, 35, 1. 14 Dies ist nicht ganz unumstritten, zum Stand der Diskussion siehe Nelson / Manthe, Gai Institutiones III 88–181, S. 261 f. Im Übrigen war nach römischem Recht auch ein Werkvertrag wirksam, bei dem der Lohn erst nach Vollendung des Werkes festgesetzt wurde, vgl. Gai. Dig. 19, 5, 22. 15 Kaser, Römisches Privatrecht I, § 115 II 3 m. w. N. 16 Eine Untersuchung der weiteren Geschichte der Gestaltungsrechte von der römischen Zeit bis zur Entstehung des BGB findet sich bei Hattenhauer, Einseitige private Rechtsgestaltung, S. 48 ff.; v. a. zum 19. und 20. Jahrhundert auch bei Steiner, Das Gestaltungsrecht, S. 80 ff. 17 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 17; Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 311 Rn. 21; Larenz, Schuldrecht I, § 6 II; Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 13 Rn. 88; Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 81; Seckel, FG R. Koch, 205 (214); Wolf / Neuner, Allgemeiner
34 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
art ist jedoch keine rein theoretische Fragestellung, da sich unmittelbar aus der dogmatischen Ausgestaltung auch Rückschlüsse auf den Prüfungsumfang seiner Ausübung ziehen lassen.
I. Historische Definition des Gestaltungsrechts Ein erstes Bemühen um eine Systematisierung der Rechte, die heute als Gestaltungsrechte eingeordnet werden, ist in dem berühmt gewordenen Beitrag von Seckel, den dieser im Jahr 1903 vor der Berliner Juristischen Gesellschaft als Vortrag hielt, zu erkennen.18 Er schlägt vor, solche Rechte, deren Inhalt „die Macht zur Gestaltung konkreter Rechtsbeziehung[en] durch einseitiges Rechtsgeschäft“ gewähren, als Gestaltungsrechte zu bezeichnen.19 Seckel teilt vor dem Hintergrund der Frage, ob jeweils nur die eigene Rechtssphäre des Gestaltungsberechtigten betroffen ist, oder ob die Gestaltungsrechte im Ausübungsfall auf eine fremde Rechtssphäre übergreifen, die Masse der existierenden Gestaltungsrechte, die durch Rechtsgeschäft oder Gesetz entstehen können,20 in zwei große Gruppen ein, nämlich die Zugriffsund die Eingriffsrechte.21 Die Eingriffsrechte gliedert Seckel wiederum nach der Eigenart ihrer Auswirkung auf den Gestaltungsberechtigten und den Gestaltungsgegner in lediglich vorteilhafte, nachteilige, vor- und nachteilbringende und neutrale Eingriffsrechte.22
Teil des Bürgerlichen Rechts, § 20 Rn. 30; a. A. ist wohl lediglich Kornblum, AcP168 (1968), passim: Er sieht in der Leistungsbestimmung nach §§ 315 ff. BGB keinen Akt der Rechtsgestaltung, sondern lediglich eine Rechtsfeststellung, da der Bestimmende nur das feststellen könne, was zuvor bereits als gerade für diesen Fall allein billig feststand. Gestaltungswirkung habe die Erklärung nur dann, wenn der Bestimmende eine zuvor lückenlos vorhandene Regelung später veränderten Umständen anpassen soll. Diese Meinung hat jedoch in der Literatur keine Gefolgschaft gefunden. 18 Dölle bezeichnet diese Abhandlung sogar als eine „der glänzendsten Studien, die unsere deutsche Zivilrechtsdogmatik aufzuweisen hat“, in: Dölle, Juristische Entdeckungen, S. B11. 19 Seckel, FG R. Koch, 205 (210). 20 Seckel, FG R. Koch, 205 (218). 21 Seckel, FG R. Koch, 205 (213). 22 Seckel, FG R. Koch, 205 (214).
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht
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II. Dogmatische Einordnung und subjektiv-rechtlicher Charakter 1. Gestaltungsrechte als subjektive Rechte Können durch Gestaltungsrechte – nach der Seckelschen Definition23 – konkrete Rechtsbeziehungen durch einseitiges Rechtsgeschäft gestaltet werden, so lohnt sich zunächst ein Blick darauf, wie sich das Gestaltungsrecht und das einseitige Rechtsgeschäft zueinander verhalten, da hierbei verschiedene Phasen der Einräumung bzw. Ausübung des Rechts ausdifferenziert werden können, für die auch unterschiedliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eine Rolle spielen. Gewöhnlich entstehen aus einem Rechtsgeschäft subjektive Rechte, wie beispielsweise ein Anspruch aus einem Vertrag, oder ein Mitwirkungsrecht bei dem Beitritt zu einer Gesellschaft oder einem Verein.24 Beim Gestaltungsrecht ist dieses Verhältnis insoweit anders, als das Gestaltungsrecht durch ein einseitiges Rechtsgeschäft ausgeübt werden kann. Bötticher spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich das Verhältnis, dass aus Rechtsgeschäften subjektive Rechte erwachsen, hier gerade umkehre.25 Dies erfasst die Eigenart des Gestaltungsrechts aber nicht vollkommen. Abstrahiert man den Vorgang bei der Ausübung eines Gestaltungsrechts chronologisch, sind drei Schritte festzustellen: In einem ersten Schritt wird das Gestaltungsrecht als subjektives Recht durch Rechtsgeschäft eingeräumt oder entsteht durch Gesetz.26 Das Gestaltungsrecht wird dann, in einem zweiten Schritt durch einseitiges Rechtsgeschäft, meist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung, ausgeübt. Diese Ausübung hat dann, in einem dritten Schritt, unmittelbare Auswirkungen in der Rechtswirklichkeit.
23 Die Definition von Seckel entspricht, wenn auch mit jeweils verschiedener Nuancierung aber letztlich doch nur unwesentlichen Abweichungen, den heutigen Definitionen. Ein Überblick über die verschiedene Definitionsversuche findet sich bei Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 35 f. 24 Dies bedeutet nicht, dass subjektive Rechte nur durch Rechtsgeschäft entstehen können. Gegenbeispiele wären durch Gesetz entstehende Persönlichkeits-, Herrschafts- oder Aneignungsrechte. 25 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 2; Er spricht in diesem Zusammenhang sehr plastisch vom Rechtsgeschäft als „Speerspitze des subjektiven Rechts“. 26 Wie beispielsweise ein vertraglich eingeräumtes Rücktrittsrecht oder ein gesetzlich normiertes Anfechtungsrecht.
36 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
2. Kritik Die Klassifikation der Gestaltungsrechte als subjektive Rechte ist aber nicht unumstritten. Das „subjektive Recht“ hat eine lange Begriffsgeschichte hinter sich.27 Sucht man heute nach einer Kurzdefinition des subjektiven Rechts, findet man die Formel, wonach ein subjektives Recht die von der Rechtsordnung verliehene Willensmacht einer Person zur Befriedigung bestimmter Interessen sei.28 Dass diese Definition mehr Kritik als Zustimmung erfahren hat, ist für den folgenden Gedankengang unerheblich.29 Gemeinsam ist nämlich allen Definitionsversuchen die Vorstellung einer gewissen Eigenständigkeit eines subjektiven Rechts. Man könnte den subjektiv-rechtlichen Charakter eines Gestaltungsrechts aber schon dann bestreiten, wenn man die Möglichkeit zur Gestaltung eines Rechtsverhältnisses als Bestandteil dieses Rechtsverhältnisses ansähe und damit den Gestaltungsrechten eben jene Eigenständigkeit abspräche.30 Dass dieser Ansicht aber nicht zuzustimmen ist, lässt sich am Beispiel des vertraglich vereinbarten Rücktrittsrechts veranschaulichen. Tritt der Rücktrittsfall ein und begreift man das Rücktrittsrecht nicht als selbstständiges Gestaltungsrecht, so muss man sich mit der Konstruktion einer aufschiebenden Bedingung behelfen. In der vertraglichen Vereinbarung des Rücktrittsrechts ist dann ein zweiter Vertragsschluss zu sehen, nämlich die aufschiebend bedingte Vereinbarung eines Rückgewährschuldverhältnisses. Die Erklärung des Rücktritts muss dabei die Bedingung sein. Dem Parteiwillen eine solche Konstruktion zu unterstellen, erscheint wenig überzeugend.31 Außerdem werden mit der Bedingung zwei Aspekte vermischt, die auseinanderzuhalten sind, nämlich die Rechtsmacht zur Gestaltung und die Ausübung dieses Rechts. Eine solche „Isolierung der Legitimationsgrundlage vom Ausübungsakt“32 ist vor allem deshalb besonders wich27 Zur Begriffsgeschichte vgl. Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 29 ff.; Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 20 Rn. 1 ff. m. w. N. 28 Brox / Walker, Allgemeiner Teil des BGB, § 28 Rn. 617; Köhler, BGB, Allgemeiner Teil, § 17 Rn. 5. 29 Zur Kritik dieser Definition vgl. Auer, AcP 208 (2008), 584 (599 f.); Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 10 Rn. 70; Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 20 Rn. 6 ff. Es gibt auch Stimmen, die die Möglichkeit, das subjektive Recht definieren zu können, prinzipiell verneinen, vgl. Kasper, Das subjektive Recht, S. 157, 177 f., siehe dazu auch Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 20 Rn. 9. 30 Vgl. zu dieser, vor allem im älteren Schrifttum verbreiteten Ansicht beispielsweise Sohm, Der Gegenstand, S. 30 („Nur Begleiterscheinungen eines anderen Rechtes oder einer Rechtslage“). 31 Dies ebenso kritisierend Bötticher, in: FS Dölle, 41 (47); Schellhase, Gesetz liche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 38. 32 Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 37.
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht37
tig, da innerhalb dieser Schritte unterschiedliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eine Rolle spielen können. Vergleicht man Gestaltungsrechte mit den gewöhnlichen subjektiven Rechten wie Herrschaftsrechte an Sachen oder Forderungsrechte, fällt auf, dass jene nur eine mittelbare tatsächliche Wirkung insoweit haben, als durch ihre Ausübung zunächst nur Änderungen auf der rechtlichen Ebene eintreten.33 Ihren materiellen Wertgehalt beziehen die Gestaltungsrechte, anders als Herrschaftsrechte, „nicht aus sich selbst, sondern aus der von der Gestaltung betroffenen Rechtsposition“.34 Allerdings gleichen die Gestaltungsrechte den anderen subjektiven Rechten in ihrem wesentlichen Punkt, nämlich in der Maßgeblichkeit des Willens des Berechtigten. Begreift man das subjektive Recht wie von Savigny und Windscheid als Möglichkeit des Einzelnen, seinen freien Willen (als die aus einem Rechtsverhältnis entspringende bzw. von der Rechtsordnung verliehene Macht) frei zu entfalten, also als Ausdruck einer gewissen Willensmacht, so ist dies auch bei den Gestaltungsrechten zu erkennen.35 Die Gestaltungswirkung ist also nicht bloßer Reflex bei der Erfüllung eines Tatbestands, sondern Konsequenz der willentlichen Ausübung der einer Einzelperson zugewiesenen Rechtsmacht. Damit ist das Gestaltungsrecht als subjektives Recht einzuordnen. Mit der Einräumung, der Ausübung und der Wirkung sind aber verschiedene, deutlich voneinander abzugrenzende Phasen festzustellen, die jeweils unterschiedliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen haben können und je einen anderen Rechtsgrund in sich tragen. Diese drei Schritte sollen im Folgenden näher betrachtet werden.
III. Entstehung des Gestaltungsrechts 1. Einräumung der Rechtsmacht als Abweichung vom Vertragsprinzip Wenn eine Veränderung innerhalb einer vertraglichen Beziehung durch eine Partei alleine herbeigeführt werden kann, bedeutet dies grundsätzlich 33 Diese Eigenart hat einige Stimmen in der Literatur veranlasst, die subjektiven Rechte in primäre und sekundäre Rechte zu qualifizieren, vgl. Raiser, JZ 1961, 465 (466); Steiner, Gestaltungsrecht, S. 3 ff. 34 Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 42. 35 Zu dieser Definition siehe Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, § 4, S. 7; Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts I, § 37, S. 92; diese Grunddefinition des subjektiven Rechts erfuhr, was allerdings für die vorliegende Untersuchung irrelevant ist und deshalb außer Betracht bleiben soll, im Laufe der Jahrzehnte viel Kritik und wurde in viele Richtungen weiterzuentwickeln versucht, vgl. Füller, Eigenständiges Sachenrecht?, S. 27 ff. mit umfassenden Nachweisen; ferner Larenz, FG Sontis, passim und Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 10 Rn. 70 ff.
38 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
einen Widerspruch zu dem in § 311 Abs. 1 BGB normierten Vertragsprinzip, wonach zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich ist, sofern nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. Es bedarf also einer Rechtfertigung durch Gesetz oder Vertrag, um die Einräumung einer Rechtsmacht zu legitimieren, die nach dem Entstehen des Gestaltungsrechts dem Gestaltungsberechtigten insoweit zusteht, als er nun auf das Schuldverhältnis einseitig Einfluss nehmen kann. Bei erstem Hinsehen erscheint dieses Erfordernis gerechtfertigt, da in den Rechtskreis eines Dritten zu dessen Nachteil eingegriffen werden kann. Muss dies aber auch dann gelten, wenn sich das Schuldverhältnis nur zum Vorteil des Gestaltungsgegners ändert? Es erscheint also lohnenswert, die Gestaltungsrechte zunächst danach zu differenzieren, ob, und wenn ja, auf welche Weise durch ihre Ausübung der Rechtskreis anderer Personen tangiert werden kann. a) Gestaltungsrechte ohne Auswirkungen auf Dritte Zunächst kommen Gestaltungsrechte in Betracht, die keine weitere Person betreffen. Seckel bezeichnet solche Gestaltungsrechte als „Zugriffsrechte“.36 Als Musterbeispiel für ein solches Gestaltungsrecht wird die Aneignung einer herrenlosen Sache angeführt (§ 958 Abs. 1 BGB).37 Allerdings geht die herrschende Meinung in der Literatur davon aus, dass die Aneignungsrechte nicht als Gestaltungsrechte zu qualifizieren sind.38 Immerhin gleichen sie den Gestaltungsrechten insoweit, als auch durch sie eine Rechtsänderung in Form einer einseitigen Handlung herbeigeführt werden kann.39 b) Gestaltungsrechte mit Auswirkungen auf Dritte Eine größere praktische Bedeutung haben demgegenüber diejenigen Gestaltungsrechte, deren Ausübung den Rechtskreis Dritter betreffen kann. Von Seckel wurde diese Gruppe in Abgrenzung zu den Zugriffsrechten als „Eingriffsrechte“ bezeichnet.40 36 Seckel,
FG R. Koch, 205 (213). Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 80; Seckel, FG R. Koch, 205 (213). 38 Baur / Stürner, Sachenrecht, § 53 Rn. 72; Gursky / Wiegand, in: Staudinger, BGB, § 958 Rn. 13; Henssler, in: Soergel, BGB, § 958 Rn. 5; a. A. Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 48 f. 39 Keine Gefolgschaft gefunden hat auch die Meinung Adomeits, der die allgemeine Vertragsfreiheit als Gestaltungsrecht einordnete, vgl. Adomeit, Gestaltungsrecht, S. 10 ff. 40 Seckel, FG R. Koch, 205 (213). 37 Medicus / Petersen,
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht39
aa) Differenzierung in positive und negative Gestaltungsrechte Bötticher differenziert bei den Gestaltungsrechten danach, ob die Auswirkungen auf den Rechtskreis des Dritten für diesen positiv oder negativ sind.41 Er spricht von positiven Gestaltungsrechten, wenn durch die Ausübung des Gestaltungsrechts der Gestaltungsgegner keine Rechtspositionen verliert, sondern neue Rechte oder Rechtsverhältnisse begründet werden.42 Als Beispiel führt er das Vorkaufsrecht an.43 Wenn auch der Gestaltungsgegner keine Rechtsposition verliere, könne ihm durch die Ausübung des Vorkaufsrechts aber doch ein solcher Kaufvertrag aufgedrängt werden, den dieser als Belastung empfinden könne und der sich damit ebenso negativ für ihn auswirken könne wie die Wegnahme von Rechtspositionen. Demgegenüber stünden die sog. negativen Gestaltungsrechte, also die rechtsvernichtenden und rechtsaufhebenden Gestaltungsrechte, die dem Gestaltungsgegner stets den Nachteil brächten, Rechtspositionen zu verlieren.44 Sowohl negative als auch positive
41 In der Literatur sind weitere Kategorien zur Einteilung vorgeschlagen worden. So könnte man die in Betracht kommenden Rechte auch hinsichtlich ihres Selbstständigkeitscharakters differenzieren. Ein selbstständiges Gestaltungsrecht läge demnach vor, wenn das Gestaltungsrecht, wie etwa das Vorkaufs- oder Wiederkaufsrecht, auf keine andere Rechtsposition des Gestaltungsberechtigten bezogen ist. Ein unselbstständiges Gestaltungsrecht würde demgegenüber sozusagen als Hilfsrecht der Durchsetzung einer Forderung dienen (z. B. das Wahlrecht bei einer Wahlschuld oder das Leistungsbestimmungsrecht, sog. „forderungsbezogene Gestaltungsrechte“) oder könnte durch seine Ausübung das ganze Schuldverhältnis beenden oder grundlegend umgestalten (z. B. Anfechtung oder Rücktritt, sog. „vertragsbezogene Gestaltungsrechte“). Eine solche Differenzierung ist vor allem sinnvoll, wenn es um die Frage der Übertragbarkeit der Gestaltungsrechte geht und wird deshalb von der herrschenden Meinung in diesem Zusammenhang auch so vorgenommen, vgl. Busche, in: Staudinger, BGB, § 413 Rn. 10 ff.; Roth / Kieninger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 413 Rn. 11 f.; Schürnbrand, AcP 204 (2004), 177 (180 ff.); Westermann, in: Erman, BGB, § 413 Rn. 2 ff. Für die folgende Untersuchung erscheint allerdings eine Differenzierung nach der Art der Auswirkung gewinnbringender. 42 Bötticher, in: FS Dölle, 41 (45); eine Differenzierung in positive und negative Gestaltungsrechte nehmen auch Medicus / Petersen vor, vgl. Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 87. 43 Die Einordnung des schuldrechtlichen Vorkaufsrechts als Gestaltungsrecht ist aber umstritten; für eine solche Einordnung Berger, in: Jauernig, BGB, § 463 Rn. 13; Larenz, Schuldrecht II / 1, § 44 III, Medicus / Lorenz, Schuldrecht II, § 85 Rn. 322; Weidenkaff, in: Palandt, Vorb v § 463 Rn. 1.; für eine Einordnung als doppelt bedingtem Kauf dagegen BGHZ 32, 375 (377 f.); vermittelnd Mader, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 463 ff.; Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 463 Rn. 7; zur geschichtlichen Entwicklung dieser Diskussion Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 38 ff. 44 Bötticher, in: FS Dölle, 41 (45), vgl. auch Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 87.
40 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
Gestaltungsrechte (in der Definition von Bötticher) können sich für den Gestaltungsgegner negativ auswirken. Bötticher weist zudem auf einen weiteren wichtigen Punkt hin: Man würde der Bewertung der Gestaltungsrechte nicht gerecht werden, wenn man in ihnen nur die Macht erblicken würde, durch einseitige Erklärung Rechtsverhältnisse zu lösen oder zu begründen. Vielmehr würden stets ganze Rechtsverhältnisse betroffen sein, die vor und nach der Gestaltungserklärung einer divergierenden Beurteilung beider Vertragspartner unterlägen, weil sich für jeden stets ein unterschiedlicher Saldo ergebe. Das Gestaltungsrecht habe demnach den Sinn, „dem Berechtigten zu einem günstigeren Saldo selbst dann zu verhelfen, wenn für den Gegner dabei ein ungünstigerer Saldo herauskommt“.45 Bei der Differenzierung der – von Seckel so bezeichneten – „Eingriffsrechte“ in positive und negative Gestaltungsrechte ist eines besonders augenfällig: Unabhängig davon, wie sich die Gestaltungsrechte nach ihrer Ausübung im Einzelnen faktisch auf den jeweiligen Vertragspartner auswirken mögen, stets bedeutet die Möglichkeit, Rechtsverhältnisse einseitig gestalten zu können, einen – wie es Bötticher bezeichnet – „Einbruch in das materielle Vertrags- bzw. Mitwirkungsprinzip“46. Die Unterscheidung zwischen sich positiv oder negativ auswirkenden Gestaltungsrechten hat demnach keine Auswirkung auf die Tatsache, dass ein Eingriff in das materielle Vertragsprinzip vorliegt, der besonderer Rechtfertigung bedarf. bb) Sonderfall: Ausfüllende Gestaltungsrechte Eine gesonderte Betrachtung verdienen in diesem Zusammenhang aber diejenigen Gestaltungsrechte, bei denen nicht nur über das Ob der Gestaltung entschieden werden kann, also beispielsweise die Erklärung der Anfechtung, des Rücktritts oder der Kündigung, sondern auch über das Wie der Gestaltung. Zu denken ist hier vor allem an die einseitigen Leistungsbestimmungsrechte, die dem Gestaltungsberechtigten das Recht geben, ein Rechtsverhältnis einseitig auszuformen. Im Gegensatz zu den oben ausgeführten Gestaltungsrechten hat der Gestaltungsberechtigte hier, um in verwaltungsrechtlicher Terminologie zu sprechen, nicht nur eine Art von Entschließungsermessen, sondern auch eine Form von Auswahlermessen. Wenngleich Seckel in seiner 45 Bötticher, in: FS Dölle, 41 (48 f.); dies scheint ferner auch schon Seckel in seiner Differenzierung der „Eingriffsrechte“ zu berücksichtigen, wenn er danach differenziert, welche Auswirkungen die Gestaltungserklärung jeweils auf Seiten des Erklärenden wie auch auf Seiten des Erklärungsgegners hat, vgl. FG R. Koch, 205 (214). 46 Bötticher, in: FS Dölle, 41 (45).
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht41
bereits erwähnten Untersuchung diese Kategorie bereits herausgearbeitet hat und im Rahmen des Leistungsbestimmungsrecht des Dritten (§ 317 BGB) von einem „neutralen“ Gestaltungsrecht spricht,47 so erfolgte eine erste genauere dogmatische Untersuchung dieser Art von Gestaltungsrechten erst mehr als ein halbes Jahrhundert später durch Bötticher, der diese Rechte „ausfüllende Gestaltungsrechte“48 oder auch „Regelungsrechte“49 nannte. Das Charakteristische ist für ihn ein „schöpferisches Element“50, da der Wille des Erklärenden, anders als bei den – in der Terminologie Böttichers – „einbrechenden Gestaltungsrechten“ nicht darauf gerichtet sei, einen Vertrag aufzuheben oder zu beseitigen, sondern etwas neu zu schaffen oder zu konkretisieren, also auf der Rechtsebene gestaltend tätig zu werden. Die Verwendung des Terminus „Gestaltung“ ist in diesem Kontext nicht ganz unpro blematisch. Versteht man diesen Begriff nämlich wie im natürlichen (nichtjuristischen) Sprachgebrauch, wie beispielsweise bei der „Gestaltung eines Wohnhauses“, dann ist der Begriff „Gestaltungs-Recht“ eigentlich nur im Rahmen von ausfüllenden Gestaltungsrechten angebracht. Orientiert man sich demgegenüber, wie schon Seckel,51 am Begriff der „Gestaltungs-Urteile“ des Zivilprozessrechts, genügt eine konstitutive, einseitige Rechtsänderung, um unter den Begriff der Gestaltung subsumiert werden zu können. Hierauf wies schon Bötticher hin, der von einem engeren und einem weiteren Begriffsfeld sprach.52 Versteht man Gestaltung allerdings im letzteren Sinne, hat der Terminus „einseitige Gestaltung“ tautologischen Charakter.53 Diese Unterscheidung ist jedoch nicht etwa eine reine linguistische Haarspalterei, sondern weist auf einen für die weiteren Untersuchungen wichtigen Punkt hin: Nimmt man als Beispiel eines ausfüllenden Gestaltungsrechts das Recht zur einseitigen Leistungsbestimmung, so ist die Ausübung der Rechtsmacht zur Vertragsgestaltung nicht nur „einseitige Gestaltung“ im prozeduralen Sinne, sondern zudem auch „einseitige Gestaltung“ im Sinne einer Ausformung des Vertrages, letztlich also Ausdruck einer materiellen Gestaltungsfreiheit und des Rechts zur schöpferischen Begründung, Änderung oder Konkretisierung des Vertragsinhalts. Dies ist deshalb so wichtig, weil der 47 Seckel,
FG R. Koch, 205 (214). in: FS Dölle, 41 (51 f.). 49 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 7 ff.; dieser Terminus findet sich auch bei Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 88. 50 Bötticher, in: FS Dölle, 41 (51); Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 17. 51 Seckel, FG R. Koch, 205 (210). 52 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 16. 53 Vgl. auch Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 76. 48 Bötticher,
42 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
Gestaltungsgegner noch stärker mit Unsicherheiten konfrontiert ist als bei den übrigen Gestaltungsrechten und deshalb zusätzliche Schutzinstrumente zur Verfügung stehen müssen, die ein gewisses Maß an inhaltlicher Kontrolle der Regelungstätigkeit des Gestaltungsberechtigten gewährleisten.54 Meesmann dagegen leugnet bei ausfüllenden Gestaltungsrechten einen Einbruch in das materielle Vertragsprinzip, weil diese bereits mit Vertragsschluss entstünden und damit dem Willen der beteiligten Parteien entsprächen. Durch ihre Ausübung werde der Zweck des Rechtsverhältnisses nur weiterverfolgt, womit letztlich eine Verlängerung der Begründungsphase des Rechtsverhältnisses vorläge.55 Dies kann jedoch nicht überzeugen, denn es wird unterstellt, dass die Ausübung ausfüllender Gestaltungsrechte stets beiden Seiten gleichermaßen diene.56 Man führe sich nur das Beispiel von Zinsanpassungsklauseln im Aktivgeschäft der Banken vor Augen: Eine Anhebung des Zinssatzes im Rahmen eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts eines Darlehensvertrages aufgrund steigender kapitalmarktbedingter Refinanzierungskosten mag im Interesse der Banken liegen, im Interesse des Kunden als Darlehensnehmer ist dies sicherlich nicht. Hier ist der Kunde dem ausgestaltenden Willen der Bank – in einem gewissen Rahmen – ebenso unterworfen wie bei den oben erwähnten positiven oder negativen Gestaltungsrechten. Zudem ist der Bereich des Vertrages, auf den durch die einseitige Leistungsbestimmung Einfluss genommen werden kann, der Verhandlung der beiden Parteien entzogen. Nach dem Vertragsprinzip obliegt die Ausformung des Rechtsverhältnisses im Regelfall beiden Parteien. Damit liegt also auch bei den ausfüllenden Gestaltungsrechten ein Einbruch in das materielle Vertragsprinzip vor, der besonderer Rechtfertigung bedarf. 2. Unterworfensein bzw. Gebundenheit des Erklärungsgegners Das Pendant zur Rechtsmacht des Gestaltungsberechtigten ist die Gebundenheit57 des Gestaltungsgegners. Diese Gebundenheit führt dazu, dass der 54 In diese Richtung auch Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 76 f. 55 So Meesmann, Regelungsvorbehalt und Rechtsbehelf, S. 81 f., 100 f. 56 Dies auch kritisierend Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 80. 57 Die ältere Literatur sprach in diesem Zusammenhang meist von Unterwerfung (Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 7 ff. („Zustand des Abhängigseins, ja des Unterworfenseins“), Bötticher, in: FS Dölle, 41 (46) („psychologische Situation des Unterworfenseins“), ihm folgend, vor allem im Hinblick auf Gestaltungsrechte in Form von einseitiger Leistungsbestimmung im Arbeitsrecht, Söllner, Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis, S. 40 f.). Dieser Begriff hat
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht43
Gestaltungsgegner die Gestaltung und den damit verbundenen Eingriff in seine Rechtssphäre hinnehmen und gegen sich gelten lassen muss.58 Wie Becker hervorhebt, ist dieses Verhältnis jedoch nicht rein passiver Natur – der Gegner sei vielmehr aktiv dazu gehalten, „die durch die Ausübung des Gestaltungsrechts bewirkte Umgestaltung der Rechtslage anzuerkennen und sein weiteres Verhalten gegenüber dem Gestaltungsberechtigten darauf auszurichten“.59 Dem Gestaltungsberechtigten wird also insoweit eine überaus starke Rechtsmacht eingeräumt. 3. Rechtfertigung Diese starke Rechtsmacht zur einseitigen Gestaltung von Rechtsverhältnissen, die, wie oben gezeigt, eine Abweichung vom Vertragsprinzip darstellt, bedarf einer besonderen Legitimation. Der Wortlaut des § 311 Abs. 1 BGB nennt als mögliche Rechtfertigungsgründe die privatautonome vertragliche und die gesetzliche Einräumung einer solchen Rechtsmacht. Damit ist zugleich gesagt, dass auch die Gebundenheit im soeben dargestellten Sinn entweder auf Gesetz oder auf Rechtsgeschäft zurückgehen kann. Für das Wesen des Gestaltungsrechts hat dies freilich keine Auswirkung,60 doch aber für die Prüfung der Rechtmäßigkeit seiner Einräumung. jedoch vor allem deshalb Kritik erfahren, weil bei Gestaltungsrechten nicht per se ein soziales Abhängigkeitsverhältnis vorliegt, sondern vor allem bei ausfüllenden Gestaltungsrechten, wie der Leistungsbestimmungsrechte der §§ 315 ff. BGB nur ein normatives Unterworfensein in dem Sinne anzunehmen ist, wie die Vertragsparteien bei jedem anderen Vertragsschluss auch Recht und Gesetz unterworfen sind (Vgl. hierzu v. a. Bruns, ZZP 78 (1965), 264 (267 f.). Um die normative Bindung zu betonen und nicht den Schein einer soziologischen Dimension des Begriffs hervorzurufen, erscheint der Begriff Gebundenheit in diesem Kontext geeigneter als Unterworfensein (so auch Becker, AcP 188 (1988), 24 (28); Bruns, ZZP 78 (1965), 264 (267 f.); Larenz, FG Sontis, 129 (143); Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 29; unklar Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 81 f.; a. A. wohl Bötticher, der meint, dass sich die Gestaltungserklärung dem öffentlich-rechtlichen Akt annähere, der ein Subjektionsverhältnis realisiere, vgl. Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 8. Gemeinsamkeiten zwischen den Begriffen Unterwerfung und Gebundenheit bestehen aber wohl augenfällig im Rahmen der arbeitsrechtlichen Kündigung. Ähnlich wie auch der Ablauf der Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 1 VwGO dazu führt, dass der Verwaltungsakt in formelle und materielle Bestandskraft erwächst (vgl. BVerfG 60, 253 (266 ff.), so führt auch das Verstreichenlassen der materiellen Präklusionsfrist der §§ 7 Hs. 1, 4 S. 1 KSchG dazu, dass es dem Arbeitnehmer verwehrt ist, sich auf die Unwirksamkeit aufgrund gewisser Unwirksamkeitsgründe zu berufen und damit letztlich dazu, dass gewisse Mängel rückwirkend geheilt werden können.). 58 Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 29; vgl. auch Becker, AcP 188 (1988), 24 (25) („Pflicht zur Duldung“). 59 Becker, AcP 188 (1988), Fn. 16. 60 Vgl. Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 9.
44 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
a) Einräumung durch Gesetz Der Grund, weshalb das Gesetz die mit einem Gestaltungsrecht verbundene Rechtsmacht gewährt, ist vom jeweiligen Gestaltungsrecht abhängig. Beispielhaft sei dies an den Rechtsinstituten der Anfechtung und des Rücktritts dargestellt: Im Fall der Anfechtung eines anfechtbaren Rechtsgeschäfts (§ 142 Abs. 1 BGB)61 ist die Rechtsmacht dadurch zu erklären, dass es bei einem wesentlichen Irrtum am tragenden Grund für die Rechtsgeltung der Willenserklärung fehlt, weil die Selbstbestimmung, die das Wesen der Privatautonomie ausmacht, an einem Mangel leidet,62 bzw. bei der arglistigen Täuschung oder widerrechtlichen Drohung die rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit fehlt.63 Der Mangel der Willenserklärung führt also nicht zur starren Rechtsfolge der Nichtigkeit, wie es beispielsweise bei der Sittenwidrigkeit der Fall wäre, sondern das mildere Instrument des Anfechtungsrechts findet Anwendung. Es lässt der Privatautonomie des Erklärenden insoweit noch Freiraum, als es von seinem Willen abhängt, die Willenserklärung gelten zu lassen oder nicht. Beim Rücktrittsrecht (§ 346 Abs. 1 BGB)64 ist das einseitige Einwirkungsrecht des Gestaltungsberechtigten dadurch zu rechtfertigen, dass der Schuldner, der die Leistung nicht oder nicht vertragsgemäß erbracht hat, jedoch weiterhin erbringen kann, dies allerdings nicht innerhalb einer gewissen Frist nachholt. Hierbei ist die Fristsetzung entbehrlich, wenn sie aufgrund besonderer Umstände kein zweckmäßiges Instrument mehr ist (§ 323 Abs. 2 BGB). Festzustellen bleibt damit, dass im Falle eines gesetzlich eingeräumten Gestaltungsrechts die Schutzwürdigkeit des Gestaltungsberechtigten in der jeweiligen Konstellation es als gerechtfertigt erscheinen lässt, ihm unabhängig vom Willen des Gestaltungsgegners eine Rechtsmacht einzuräumen, die ihn dazu befähigt, Änderungen auf der Rechtsebene einseitig, notfalls also auch gegen den Willen des Anderen, vornehmen zu können. Das Gestaltungsrecht steht dem Berechtigten in einer solchen Konstellation ipso iure zu, die tatsächliche Ausübung steht freilich zu seiner Disposition. 61 Zur Rechtsnatur der Anfechtungserklärung als Gestaltungserklärung vgl. Roth, in: Staudinger, BGB, § 142 Rn. 9, § 143 Rn. 1, 8. 62 Hierzu und m. w. N. Singer, in: Staudinger, § 119 Rn. 1. 63 Hefermehl, in: Soergel, BGB, § 123 Rn. 1; ferner Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 123 Rn. 1 m. w. N. („freie Selbstbestimmung auf rechtsgeschäftlichem Gebiete“). 64 Zur Rechtsnatur der Rücktrittserklärung als Gestaltungsrecht siehe BGH NJW 1999, 352 (353); Gaier, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 349 Rn. 1; Kaiser, in: Staudinger, BGB, § 349 Rn. 1; Lobinger, in: Soergel, BGB, § 349 Rn. 1.
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht
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b) Einräumung durch Vertrag Resultiert die Gebundenheit aus einer vertraglichen Vereinbarung,65 erscheint besonders beachtlich, dass durch den „rechtsgeschäftlichen Unterwerfungsakt“66 dem Gestaltungsberechtigten die gleiche bedeutende Rechtsmacht eingeräumt wird, wie sie im Fall einer gesetzlichen Gewährung nur durch ein besonders großes Schutzbedürfnis gerechtfertigt ist. Damit wird verständlich, dass auch diese rechtsgeschäftliche Vereinbarung, durch die einem anderen ein Gestaltungsrecht eingeräumt wird, einer Rechtmäßigkeitskontrolle bedarf. In Betracht kommen hier, je nach Fallgestaltung, die allgemeinen Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe.67
65 So beispielsweise bei einem vertraglich eingeräumten Rücktritts- oder Kündigungsrecht oder einem einseitigen Leistungsbestimmungsrecht. 66 Zu diesem Begriff Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 9. 67 Man könnte vor diesem Hintergrund auch daran denken, die Vollmachterteilung ebenfalls als einen solchen rechtsgeschäftlichen Unterwerfungsakt anzusehen. Dagegen spricht aber vor allem dreierlei: Erstens sind Vertreter und Vertretener insoweit austauschbar, als die vom Vertreter erledigten Geschäfte auch vom Vertretenen selbst vorgenommen werden könnten, während eine Gestaltungserklärung hingegen nur vom Gestaltungsberechtigten, nicht aber auch vom Gestaltungsgegner abgegeben werden kann (Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 12. Der Gedanke der Austauschbarkeit soll nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Vertretene selbst eine Willenserklärung „durch den Vertretenen“ abgeben würde. Trotz des Handelns „für und gegen den Vertretenen“ (§ 164 Abs. 1 S. 1 BGB) gibt der Vertreter nach der herrschenden „Repräsentationstheorie“ eine eigene Willenserklärung ab, die aber für den Vertretenen wirkt, vgl. hierzu Schilken, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 164 Rn. 32 ff.). Einen zweiten wesentlichen dogmatischen Unterschied macht das der Vollmacht zugrundeliegende Trennungs- und Abstraktionsprinzip aus (Zur Begründung dieser beiden, von der herrschenden Meinung so proklamierten Prinzipien der Vollmacht vgl. Leptien, in: Soergel, BGB, Vor § 164 Rn. 39 f.; Maier-Reimer, in: Erman, BGB, § Vor § 164 Rn. 6; auch zur Kritik, die gegenüber diesen beide Prinzipien vorgebracht wird siehe Schilken, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 164 ff. Rn. 33 f. m. w. N.), das dazu führen kann, dass das rechtliche Können des Vertreters über das rechtliche Dürfen hinausgeht (Vgl. v. a. Schubert, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 164 Rn. 21). Beim Gestaltungsrecht sind das rechtliche Können und das rechtliche Dürfen immer deckungsgleich, „das ‚Kannrecht‘ ist immer auch ein ‚Darfrecht‘ “ (Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 12). So kann der Gestaltungsberechtigte einen Kaufvertrag nur dann anfechten, wenn ihm auch ein entsprechendes Anfechtungsrecht zusteht (und umgekehrt). Drittens zeichnet sich ein Gestaltungsrecht gerade durch die besondere Rechtsmacht aus, Rechtsverhältnisse gestalten zu können. Zur Erteilung einer Vollmacht ist aber jeder Geschäftsfähige befugt, es fehlt also gerade an einer solchen darüber hinausgehenden Rechtsmacht (Seckel formuliert dieses Erfordernis sehr plastisch: „Was jeder kann, ist nicht konkrete Macht; jedes subjektive Recht ist ein VorRecht, ein mehreres gegenüber dem, was alle oder viele können; eine Macht die den
46 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
Hinsichtlich der Entstehung eines Gestaltungsrechts bleibt damit festzuhalten, dass jede Form des Gestaltungsrechts im Falle seiner Ausübung einen Einbruch in das materielle Vertragsprinzip darstellt. Bereits die Einräumung dieses Gestaltungsrechts bedarf daher besonderer Voraussetzungen, um als rechtmäßig angesehen werden zu können. Neben den, je nach Fallgestaltung relevant werdenden, unterschiedlichen speziellgesetzlichen Anforderungen sind hier insbesondere auch die allgemeinen Nichtigkeits- und Anfechtungsgründe zu prüfen.
IV. Ausübung des Gestaltungsrechts: Die Gestaltungserklärung 1. Abgrenzung zum Anspruch Betrachtet man die Eigenart der Gestaltungsrechte, so fällt zunächst auf, dass – ganz untechnisch gesprochen – durch einen Akt des Gestaltungsberechtigten, und zwar nur durch diesen alleine und unabhängig vom Willen des Gestaltungsgegners, eine Veränderung in der Rechtswelt herbeigeführt werden kann. Zu einer solchen Überwindung des Gestaltungsgegners ist im Regelfall nur der Richter befugt.68 Deshalb wird in der Literatur bisweilen auch vom „Selbsthilfecharakter“ des Gestaltungsrechts gesprochen.69 Kann zur Durchsetzung eines gewöhnlichen Anspruchs die Anrufung eines Gerichts und sogar die Zwangsvollstreckung nötig sein, ist zur Durchsetzung eines Gestaltungsrechts demgegenüber nichts dergleichen notwendig.70 Die Zulassung dieser „Selbsthilfe“ ist unter dem Aspekt des staatlichen Gewaltmonopols dennoch unproblematisch, da die Ausübung des Gestaltungsrechts nur Auswirkungen auf der rechtlichen, nicht jedoch auf der tatsächlichen
anderen nicht zusteht.“, vgl. auch Seckel, FG R. Koch, 206 (211), wenngleich Seckel selbst die Vollmachtserteilung als Gestaltungsrecht einordnet). 68 Bötticher, in: FS Dölle, 41 (42). 69 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 2 f.; ders., in: FS Dölle, 41 (43). 70 Eine Ausnahme gilt hierbei für die Gestaltungsklagerechte, die nur gerichtlich durchgesetzt werden können, beispielsweise die Ehescheidung (§§ 1564 ff. BGB), die Anfechtung der Vaterschaft (§ 1599 Abs. 1 BGB), die Auflösung einer OHG (§ 133 Abs. 1 HGB). Dass solche Gestaltungsklagerechte vor allem im Familien- und Gesellschaftsrecht anzutreffen sind, liegt daran, dass vor allem in diesen Bereichen eine Ungewissheit über die Wirksamkeit der Gestaltung vermieden werden soll, vgl. Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 84 f. Insoweit steht das Gestaltungsklagerecht hinsichtlich seiner Durchsetzbarkeit zwischen Anspruch und Gestaltungsrecht. Zur dogmatischen Einordnung dieser Gestaltungsklagerechte sehr differenziert Bötticher, in: FS Dölle, S. 41 (54 ff.).
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht47
Ebene hat.71 Die sich aus der Rechtsänderung ergebenden Ansprüche bedürfen freilich wieder der Zwangsvollstreckung, wenn sie anderweitig nicht durchgesetzt werden können.72 Vom schuldrechtlichen Anspruch, wie ihn § 194 Abs. 1 BGB definiert, unterscheidet sich das Gestaltungsrecht also vor allem dadurch, dass der Berechtigte den Rechtserfolg (auf der rechtlichen Ebene) allein durch eine eigene Handlung herbeiführen kann.73 Während also der schuldrechtliche Anspruch bei einer Leistungsverweigerung des Anspruchsgegners zu seiner Befriedigung der staatlichen Zwangsvollstreckung bedarf, trägt das Gestaltungsrecht hinsichtlich der rechtlichen Ebene „die Vollstreckung in sich“.74 Becker spricht hier insoweit von „privater Zwangs vollstreckung“.75 2. Rechtsnatur der Gestaltungserklärung Die Ausübung eines Gestaltungsrechts erfolgt nach herrschender Meinung durch eine einseitige, meist empfangsbedürftige Willenserklärung,76 in der der Gestaltungsberechtigte die intendierte Rechtsänderung klar zum Ausdruck bringen muss.77 Die Benennung des konkreten Gestaltungsgrundes ist nur dann erforderlich, wenn das Gesetz dies vorschreibt,78 ansonsten bemisst sich das Begründungserfordernis nach der Schutzwürdigkeit des Gestaltungsgegners.79 71 Vgl. Bötticher, in: FS Dölle, 41 (43); Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 83. 72 So beispielsweise der Anspruch auf Rückgewähr der empfangenen Leistungen nach erklärtem Rücktritt (§ 346 Abs. 1 BGB) oder den Räumungsanspruch des Vermieters nach erklärter Kündigung (§ 546 Abs. 1 BGB), der im Wege der Zwangsvollstreckung gem. §§ 883 ff. ZPO durchgesetzt werden müsste. 73 Grothe, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 194 Rn. 4; vgl. auch Peters / Jakoby, in: Staudinger, BGB, § 194 Rn. 18. 74 Becker, AcP 188 (1988), 24 (28). 75 Becker, AcP 188 (1988), 24 (28). 76 Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 83; Seckel, FG R. Koch, 205 (236 ff.); Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 33; a. A. wohl Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 58. 77 Leverenz, Jura 1996, 1 (7); Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 33. 78 Sowohl bei ordentlichen als auch bei außerordentlichen Kündigungen im Bereich des Mietrechts kann die Angabe eines Grundes vorgeschrieben sein (§§ 569 Abs. 4, 573 Abs. 3 S. 1 BGB). Beim verbraucherschützenden Widerruf ist eine Begründung nach dem Wortlaut des Gesetzes gerade nicht erforderlich (§ 355 Abs. 1 S. 4 BGB). 79 Vgl. hierzu sehr differenzierend Büdenbender, AcP 210 (2010), 611 (632 ff.): Eine Begründungspflicht ist wohl abzulehnen, wenn der Adressat der Erklärung über die maßgeblichen Aspekte bereits informiert ist oder der Grund für die Gestaltungs-
48 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
3. Grenzen der Ausübung Wie bereits herausgearbeitet, werden die Interessen des Gestaltungsgegners bei der Ausübung eines Gestaltungsrechts in besonderer Weise tangiert, weshalb er als besonders schutzbedürftig erscheint. Normen wie § 315 Abs. 3 BGB im Rahmen der einseitigen Leistungsbestimmung oder die §§ 138, 242 BGB tragen dieser Schutzwürdigkeit insoweit Rechnung, als sie die Rechtsmacht des Gestaltungsberechtigten begrenzen. Allerdings zielen all diese Regelungen nur auf den materiellen Gehalt des Gestaltungsrechts ab. Darüber hinaus gibt es auch formelle Grenzen, die die Rechtsmacht des Gestaltungsberechtigten einschränken, denn die Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit, ob und wann der Berechtigte sein Gestaltungsrecht ausübt, kann für den Gestaltungsgegner sehr belastend sein. Weiß beispielsweise ein Verkäufer, dass der Käufer eines wertvollen Gegenstandes aufgrund eines wesentlichen Motivirrtums (§ 119 Abs. 2 BGB) zur Anfechtung berechtigt ist, kann für ihn die Unvorhersehbarkeit darüber, ob er über das durch den Verkauf erlangte Geld disponieren kann oder es nicht besser bei sich belässt, weil er ohnehin bald zur Rückgewähr verpflichtet sein wird, mit großen Nachteilen verbunden sein. Die Ausübung eines Gestaltungsrechts muss damit vor allem auch in formeller Sicht Grenzen haben.80 Folgende formelle Grenzen sind hierbei zu ziehen: a) Unwiderruflichkeit Die allgemeine Meinung in der Literatur nimmt an, dass eine Gestaltungserklärung nicht widerruflich sei und die durch die Ausübung des Gestaltungsrechts eingetretene Änderung des Rechtsverhältnisses nur durch rechtsgeschäftliches Zusammenwirken der beiden Vertragspartner wieder beseitigt werden könne.81 Bötticher drückt das sehr plastisch aus, wenn er davon spricht, dass den Gestaltungsrechten ein „ne bis in idem“-Prinzip „schon materiellrechtlich eingeboren“ sei und Unwiederholbarkeit und Unwiderruflichkeit der Preis seien, „den man dafür zahlt, dass man auf so einfache Weise, nämlich durch bloße Willenserklärung, sein Recht verwirklichen kann“.82 befugnis, wie bei einer arglistigen Täuschung, in seiner Verantwortungssphäre liegt. Ansonsten wird ein Begründungserfordernis im Regelfall aufgrund der einschneidenden Wirkung der Gestaltungsrechte eher zu bejahen sein. 80 So auch Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 62. 81 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 6; ders., in: FS Dölle, 41 (71 f.); Köhler, BGB, Allgemeiner Teil, § 17 Rn. 12; Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 90; Seckel, FG R. Koch, 205 (238); Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 39. 82 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 6.
B. Das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht49
Zur Begründung werden im Wesentlichen zwei Argumente angeführt, die sich wiederum aus den oben genannten Schutzaspekten rechtfertigen lassen. Erstens sprechen Argumente der Rechtssicherheit, vor allem schützenswerte Interessen eventuell betroffener Dritter dagegen, dem Gestaltungsberechtigten die Möglichkeit zu geben, die vorangegangene Rechtslage einseitig wiederherstellen zu können.83 Zweitens ist auch die Konstellation vorstellbar, dass schutzwürdige Interessen des Gestaltungsgegners an der Aufrechterhaltung der neuen Rechtslage bestehen.84 Beides liegt jedoch nicht vor, solange der Gestaltungsgegner die Wirksamkeit der Gestaltung bestreitet, sodass in einem solchen Fall, beispielsweise im Rahmen der fristlosen Kündigung eines Dienstverhältnisses, Ausnahmen gelten müssen.85 b) Bedingung und Befristung Weiterhin sind Gestaltungsrechte grundsätzlich bedingungs- und befristungsfeindlich.86 Dies ist beispielsweise für die Aufrechnung sogar gesetzlich normiert (§ 388 S. 2 BGB). Aufgrund der einschneidenden Wirkung der Gestaltungsrechte kann dem Erklärungsgegner darüber hinaus nicht auch noch der Schwebezustand zugemutet werden, der im Rahmen einer Bedingung entstehen würde.87 Deshalb gilt die Bedingungsfeindlichkeit auch für die Gestaltungsrechte, bei denen dies gesetzlich nicht normiert ist, es sei denn, es handelt sich um eine Potestativbedingung oder eine Befristung mit einer eindeutigen Zeitbestimmung.88 Bei der Potestativbedingung ist der Eintritt der Bedingung allein vom Willen des Gestaltungsgegners abhängig, womit er nicht mehr schutzwürdig ist. Eine kalendermäßige Befristung, aus 83 Vgl. Bötticher, in: FS Dölle, 41 (73 f.), der dieses Argument v. a. mit Blick auf die Interessenlage bei arbeitsrechtlichen Kündigungen kritisiert. 84 Vgl. Bötticher, in: FS Dölle, 41 (73 ff.), der dieses Argument aber v. a. im Hinblick auf die Konstellationen zu Recht auch kritisch bewertet, in denen der Gestaltungsgegner ein Interesse in die Rücknahme der Gestaltungserklärung hat und dem Gestaltungsberechtigten dann die Möglichkeit genommen ist, den Gegner durch die Zurücknahme der Erklärung streitlos zu stellen. 85 Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 90, vgl. auch Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 39. Anders ist dies freilich bei arbeitsrechtlichen Konstellationen, da dort ein schutzwürdiges Interesse des Arbeitsnehmers beispielsweise an seinen Rechten gem. § 9 KSchG bestehen kann, vgl. BAG NJW 1983, 1628. 86 Köhler, BGB, Allgemeiner Teil, § 17 Rn. 12; Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 12 Rn. 90; Seckel, FG R. Koch, 205 (238); Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 37. 87 BGHZ 156, 328 (333). 88 BGHZ 156, 328 (332 ff.); Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 67; Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 37.
50 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
der für den Gestaltungsgegner eindeutig ersichtlich ist, wann die Gestaltungswirkung eintritt, ist ebenso zulässig, da für ihn dann kein Zustand der Ungewissheit besteht und er damit nicht besonders schutzwürdig erscheint.
V. Auswirkungen der Gestaltungserklärung 1. Eintritt der Rechtswirkung Die Rechtswirkung der Gestaltungserklärung tritt mit ihrer Ausübung ein. Die Wirkung kann ex tunc89 oder ex nunc90 sein. 2. Konsumtion Grundsätzlich entspricht es der allgemeinen Meinung in der Literatur, dass das Gestaltungsrecht nur einmal ausgeübt werden kann und eine ordnungsgemäße Gestaltungserklärung das dahinterstehende Gestaltungsrecht konsumiert.91 Dieser Grundsatz muss jedoch bei ausfüllenden Gestaltungsrechten eine Ausnahme finden. 3. Besonderheiten bei ausfüllenden Gestaltungsrechten Betrachtet man nämlich beispielsweise das einseitige Leistungsbestimmungsrecht, so fällt auf, dass das Gestaltungsrecht hier mehrfach ausgeübt wird, indem beispielsweise der Preis oder Zinssatz während der Vertragslaufzeit mehrmals angepasst wird. Auch hier sind die einzelnen Gestaltungserklärungen für sich genommen unwiderruflich, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht durch eine spätere Erklärung abgelöst werden können. Bötticher spricht hier von einem „ ‚Mutter‘-Gestaltungsrecht“, das sukzessive ausgeübt werde, bzw. von Rechten „zur fortlaufenden Regelung“.92 Schellhase nimmt demgegenüber an, dass Gestaltungsrechte in Dauerschuldverhältnissen aufgrund der zeitlichen Dimension notwendigerweise immer neu entstehen und die alten Regelungen jeweils ablösen, weshalb die Kon struktion eines Muttergestaltungsrechts entbehrlich sei.93 Welcher dogmati89 So
beispielsweise bei der Anfechtung (vgl. § 142 Abs. 1 BGB). beispielsweise beim Rücktritt (vgl. § 346 Abs. 1 BGB) oder der Kündigung eines Dienstverhältnisses (vgl. § 626 Abs. 1 BGB). 91 Seckel, FG R. Koch, 205 (229); Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 20 Rn. 40. 92 Bötticher, Gestaltungsrecht und Unterwerfung im Privatrecht, S. 6 f.; zustimmend Söllner, Einseitige Leistungsbestimmung im Arbeitsverhältnis, S. 29 f. 93 Schellhase, Gesetzliche Rechte zur einseitigen Vertragsgestaltung, S. 73 f. 90 So
C. Vertragsrechtliche Einordnung der §§ 315 ff. BGB
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schen Konstruktion man folgt, ist im Ergebnis irrelevant, wichtig ist lediglich, dass der Grundsatz der Konsumtion des Gestaltungsrechts in Dauerschuldverhältnissen eine Ausnahme erfährt und die fortwährende Anpassung einer vertraglichen Modalität durch ein Leistungsbestimmungsrecht möglich ist.
C. Vertragsrechtliche Einordnung der §§ 315 ff. BGB Der Bestimmtheitsgrundsatz des Vertragsrechts erfordert, dass die essentialia negotii des Vertrages bei Vertragsschluss bestimmt werden. Mit der einseitigen Leistungsbestimmung liegt aber gerade ein Rechtinstitut vor, das dem Verkehrsbedürfnis94 Rechnung trägt, dass in gewissen Konstellationen die Bestimmung einer Leistung erst später möglich oder zweckmäßig ist. Daher muss untersucht werden, inwieweit sich die §§ 315 ff. BGB mit diesen Grundkonzeptionen des Vertragsrechts des BGB vereinbar sind und welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind.
I. Lockerung des Bestimmtheitsgrundsatzes Vor allem muss betrachtet werden, welche Auswirkungen die Lockerung des Bestimmtheitsgrundsatzes durch die (spätere) einseitige Leistungsbestimmung hat. 1. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Vertragsrechts Ein Vertragsschluss setzt zwei „übereinstimmende, auf dieselben Rechtsfolgen gerichtete Willenserklärungen“ voraus.95 Jede dieser rechtsgeschäft lichen Erklärungen muss, wenn sie die beabsichtigte Wirkung haben soll, hinreichend bestimmt oder zumindest mittelbar bestimmbar sein.96 Die Annahme eines solchen schuldrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes in dem Sinne, dass zumindest die essentialia negotii im Vertrag bestimmt werden müssen, entspricht der allgemeinen Meinung.97 Im ersten Entwurf des BGB 94 Zu
diesem Verkehrsbedürfnis s. o. § 2 A. in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 145–156 Rn. 2. 96 Vgl. Mot S. 191 = Mugdan, Bd. II, S. 105. 97 BGH NJW 1997, 2671 (2672); NJW 2006, 2843 (2844); NJW 2013, 598 (600); Bork, in: Staudinger, BGB, § 154 Rn. 3; Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 154 Rn. 3; § 145 Rn. 6; Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts II, § 34 Nr. 6 b; Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, § 29 Rn. 431; Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 4 ff.; Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 37 Rn. 4; rechtsvergleichend Kötz, Europäisches Vertragsrecht, S. 26. 95 Bork,
52 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
war eine entsprechende Rechtsvorschrift noch vorgesehen: „Solange die Vertragsschließenden über die nach dem Gesetz zum Wesen des zu schließenden Vertrags gehörenden Theile [sic!] sich nicht geeinigt haben, ist der Vertrag nicht geschlossen“.98 Wenngleich diese Regelung letztlich in die endgültige Fassung des BGB keinen Eingang gefunden hat, wird dieses Postulat doch in der Literatur für so selbstverständlich erachtet, dass sich nur selten ein dogmatischer Begründungansatz findet. Diederichsen meint, es folge schon aus dem Begriff des Vertrages, „der als Regelung materieller Interessen stets einen bestimmten Mindestinhalt haben muss“, dass beim Fehlen einer Regelung über die essentialia negotii der Vertrag mangels Konsens scheitere und damit „ein Vertragsschluss aus logischen Gründen und nicht etwa erst im Wege einer entsprechenden Auslegung“ abzulehnen sei.99 Diese Argumentation erscheint jedoch nicht zwingend, insbesondere ist nicht einzusehen, weshalb bereits aus dem Vertragsbegriff abzuleiten sei, dass im Falle der fehlenden Einigung über die essentialia negotii bereits der Konsens der beiden Parteien scheitere. Zu einem einsichtigeren Ergebnis gelangt man, wenn man die sehr differenzierte Terminologie von Leenen zugrunde legt:100 Er unterscheidet zwischen Abschluss, Zustandekommen und Wirksamkeit des Vertrages. Als Abschluss sieht er den Akt des In-Gang-Setzens einer bestimmten Regelung durch die Parteien an. Der Vertrag sei zustande gekommen, wenn durch rechtsgeschäftliches Handeln der Kontrahenten etwas geschaffen worden sei, das als Vertrag im Rechtssinne qualifiziert werden kann.101 Erzielen die Parteien, wie beim Dissens,102 keine Übereinstimmung im Rechtssinne und be98 § 78 Abs. 1 des Ersten Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, 1888. 99 Diederichsen, Der logische Dissens, 81 (89). Er spricht deshalb auch von einem „logischen Dissens“. 100 Zum Folgenden vgl. Leenen, AcP 188 (1988), 381 (386 ff.). 101 Nur am Rande sei vermerkt, dass dies auch als Zirkelschluss interpretiert werden könnte, denn ob ein Vertrag im Rechtssinne vorliegt, ist ja hier gerade die Frage. 102 Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass mit Dissens im obengenannten Kontext nicht die Regelungen der §§ 154 f. BGB gemeint sind. Nach der sehr überzeugenden, wenngleich der herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung widersprechenden Begründung von Leenen, AcP 188 (1988), 381 ff. enthalten die §§ 154 f. BGB keine Regelung zum Dissens. Der Abschluss eines Vertrages (in der eben ausgeführten Terminologie) könne nicht nur in Form von Antrag und Annahme erfolgen, sondern auch durch die gemeinsame Zustimmung der verhandelnden Parteien zu einem Vertragstext. Jeder dieser beiden Abschlusstechniken sei ein Teil der §§ 145–155 BGB zugeordnet – §§ 145–153 BGB der Antrags- / Annahme-Konstellation und die §§ 154 f. BGB der Verhandlungskonstellation. Dies überzeugt m. E. vor allem aus zwei Gründen. Erstens erscheint es im Falle einer Verhandlungssituation unbillig, jeweils Angebote und ablehnende, als neue Angebote anzusehende Annahmen (vgl. § 150 Abs. 2 BGB) anzunehmen. Weiterhin weisen die beiden Willenserklärungen
C. Vertragsrechtliche Einordnung der §§ 315 ff. BGB
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zieht sich dieses auch im Wege der Auslegung der Erklärung nicht auszuräumende Missverständnis auf die essentialia negotii, sei der Vertrag nicht zustande gekommen, da es an der notwendigen Mindestregelung fehle. Sei ein Vertrag zustande gekommen, könne trotzdem seine Wirksamkeit zu verneinen sein, beispielsweise weil ein Vertreter ohne die entsprechende Vertretungsmacht handelte. Für den hier interessierenden Fall, dass die Bestimmung eines essentialie negotium fehlt, bleibe keine Rest-Regelung übrig, die für sich allein aufrechterhalten werden könne, womit ein Vertrag zwar abgeschlossen, aber nicht zustande gekommen sei. Diese Konsequenz und im Umkehrschluss das Erfordernis der Bestimmung aller essentialia negotii bei Vertragsschluss rechtfertigt sich auch mit Blick auf praktische Erwägungen. Der Anspruch, der aus einem wirksamen Vertrag folgt, muss so genau bestimmt sein, dass ein bestimmter Klageantrag gestellt und notfalls auch vollstreckt werden kann.103 2. Ausnahmen vom Bestimmtheitsgrundsatz und Abgrenzung Das Bestimmtheitserfordernis gilt jedoch nicht unbeschränkt. Vollständige Einigung und Dissens markieren nur zwei entgegengesetzte Pole des möglichen „Übereinstimmungsgrades“ zweier korrespondierender Willenserklärungen, innerhalb derer noch weitere Rechtsinstitute existieren, die es den Parteien ermöglichen, im Zeitpunkt des Vertragsschlusses von der Bestimmung der Leistung abzusehen, sofern eine Übereinstimmung über den Weg erzielt wird, der eine „spätere exakte Bestimmung“104 ermöglicht. Die Wahlschuld, die Gattungsschuld und die einseitige Leistungsbestimmung gleichen sich darin, dass die noch zu konkretisierende Leistung zunächst unbestimmt ist. Das Institut der Wahlschuld ermöglicht dem Schuldner, von mehreren mög lichen geschuldeten Leistungen eine beliebige auszuwählen (§ 262 BGB). nach gemeinsamer Verhandlung qualitativ keinen Unterschied auf. Anders ist dies beim Antrags- / Annahmeprinzip, denn hier muss die Willenserklärung des Anbietenden bereits so hinreichend bestimmt und damit festgelegt sein, dass der Vertragspartner nur noch durch ein schlichtes „Ja“ den Vertrag abschließen kann (h. M., vgl. Busche, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 145 Rn. 6). § 154 Abs. 1 BGB ist in dieser Argumentation nur ein Ausfluss der negativen Vertragsfreiheit und erlaubt das Aufstellen von Abschlusssperren sozusagen als Garantien, solange die Interessen der Kontrahenten nicht insgesamt zu einem für beide Parteien zufriedenstellenden Ausgleich gebracht sind und dem Vertrag nichts mehr im Wege steht. Leenen folgert die Rechtsfolgen des Dissens, nämlich das Nicht-Zustandekommen des entsprechenden Vertrages aus einer Gesamtanalogie zu den „im Gesetz enthaltenen Vorschriften über den Abschluss des Vertrages einerseits, die Auswirkungen einer Teilnichtigkeit des Vertrages andererseits“ [in: AcP 188 (1988), 381 (418)]. 103 Vgl. auch Senf, JR 1932, 234 f. 104 Kornblum, AcP 168 (1968), 450 (451).
54 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
Während die Parteien bei der Wahlschuld eine Menge individuell verschiedener Gegenstände oder gesonderter Gattungen im Blick haben,105 verstehen sie bei der Gattungsschuld die Menge, aus der der Leistungsgegenstand ausgewählt werden soll, als eine Menge gleichartiger Gegenstände, aus der der Schuldner einen Gegenstand mittlerer Art und Güte auszuwählen berechtigt ist (§ 243 Abs. 1 BGB). Damit ist auch die Verwandtschaft dieser beiden Institute zur einseitigen Leistungsbestimmung unterschiedlich stark. Da bei der Gattungsschuld durch die Konkretisierung, die sich in einem sehr engen Rahmen hält, die Interessen des Gläubigers nicht tangiert werden, genügt für die Konkretisierung ein Realakt.106 Bei der Wahlschuld dagegen und ebenso bei der einseitigen Leistungsbestimmung bedarf es eines Gestaltungsaktes,107 der den Schuldinhalt zu konkretisieren geeignet ist. Formell kann man die Wahlschuld von der Leistungsbestimmung insoweit abgrenzen, als bei der Leistungsbestimmung nur ein einziger Schuldinhalt unbestimmt ist, während dagegen bei der Wahlschuld „mehrere und bestimmte Schuldinhalte betroffen“ sind.108 Materiell besteht der Unterschied darin, dass eine gerichtliche Ermessenskontrolle, wie sie § 315 Abs. 3 S. 1 Hs. 1 BGB vorsieht, bei der Wahlschuld nicht existiert, da sich die Parteien dort schon zuvor auf eine bestimmte Bandbreite möglicher Schuldinhalte geeinigt hatten. Die Vereinbarung über eine Leistungsbestimmung nach den §§ 315 ff. BGB ist also die dritte Möglichkeit, wie die Parteien vermeiden, dass schon der Vertragsschluss aufgrund fehlender Einigung scheitert. Von der ergänzenden Vertragsauslegung unterscheidet sich die Leistungsbestimmung vor allem dadurch, dass die Unterwerfung bei jener bewusst geschieht, während von einer bewussten Unterwerfung unter eine ergänzende Vertragsauslegung wohl keine Rede sein kann.109 Die notwendige Bestimmung der essentialia negotii kann zeitlich aufgeschoben werden, ein aufgrund seiner Unbestimmtheit unvollkommener Vertrag wird damit zunächst als vollkommen fingiert, bis die Leistungsbestimmung vorgenommen wird.
105 Bittner,
in: Staudinger, BGB, § 262 Rn. 4. in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 174. 107 Für die Wahlschuld: Bittner, in: Staudinger, BGB, § 263 Rn. 2; Forster, in: Soergel, BGB, § 263 Rn. 2; Krüger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 263 Rn. 2. Für die einseitige Leistungsbestimmung: Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 81; Würdinger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 315 Rn. 34. 108 Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 171; vgl. auch Wolf, in: Soergel, BGB, § 315 Rn. 62. 109 Rieble meint deshalb, dass die „ ‚Unterwerfung‘ unter die ergänzende (richterliche) Vertragsauslegung […] dem Rechtsgeschäft immanent [ist]“, in: Rieble, Staudinger, BGB, § 315 Rn. 157. 106 Rieble,
C. Vertragsrechtliche Einordnung der §§ 315 ff. BGB
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3. Grenzen der Möglichkeit der Lockerung des Bestimmtheitsgrundsatzes Die Feststellung, dass durch das Verfahren der §§ 315 ff. BGB der Bestimmtheitsgrundsatz gelockert wird, hat nicht nur dogmatisch-theoretische Bedeutung. Es sind nämlich Fälle denkbar, in denen aufgrund der Schutzwürdigkeit einer Partei eine Lockerung des Bestimmtheitsgrundsatzes nicht in Betracht kommen darf. a) AGB-Recht Weil vorformulierte Klauseln in Verträgen oftmals den Verwender begünstigen und dies für die andere Vertragspartei bisweilen nur schwer ersichtlich ist, existiert in den §§ 305 ff. BGB ein Kanon an Vorschriften, der Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) einer Inhaltskontrolle unterwirft. Solche Bedingungen werden nur dann Bestandteil des Vertrages, wenn der Verwender bei Vertragsschluss die andere Vertragspartei ausdrücklich hierauf hinweist, ihr dadurch die Möglichkeit verschafft, in zumutbarer Weise von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen und die andere Vertragspartei mit deren Geltung einverstanden ist (§ 305 Abs. 2 BGB). Eine Vereinbarung der AGB wird also im Zeitpunkt des Vertragsschlusses verlangt. Dieses „Vertragsprinzip“110 könnte einer späteren Vereinbarung oder Änderung einer Leistung durch ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht aber dann entgegenstehen, wenn beispielsweise Klauseln vereinbart werden, durch die sich der Verwender das Recht vorbehält, seine AGB vorbehaltlos auch für bestehende Verträge einseitig ändern zu können.111 Prinzipiell könnten auch Zinsanpassungsklauseln von Banken, die im Regelfall auch in AGB vereinbart werden und der Bank als Verwenderin ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht einräumen, nach diesen Grundsätzen unwirksam sein. Von dem oben herausgearbeiteten Grundsatz hat die Rechtsprechung jedoch bestimmte Ausnahmen für Dauerschuldverhältnisse entwickelt. So besteht beispielsweise bei Zinsanpassungsklauseln im Aktivgeschäft der Banken ein berechtigtes Interesse der Banken daran, den Zinssatz den sich ständig ändernden kapitalmarktbedingten Refinanzierungskosten anpassen zu können.112 So wird es heute als zulässig angesehen, dass dem Kunden unter Einhaltung der Erfordernisse des § 305 Abs. 2 BGB die Änderung mitgeteilt wird, und die Änderung dann Vertragsbezeichnet es Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 10. hierzu auch BGH NJW 1999, 1865; zustimmend Schlosser, in: Staudinger, BGB, § 305 Rn. 173; Ulmer, in: Ulmer / Brandner / Hensen, § 305 Rn. 165 m. w. N. 112 Dieses Interesse der Banken hat der BGH mehrfach anerkannt, vgl. BGH NJW 1986, 1803 (1804); NJW 2000, 2580 (2582); NJW 2009, 2051 (2053). 110 So
111 Vgl.
56 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
bestandteil wird, wenn der Kunde der Änderung nicht innerhalb einer angemessenen Frist widerspricht, sondern das Vertragsverhältnis widerspruchslos fortsetzt (sog. Widerspruchslösung).113 Hierdurch wird allerdings die zustimmende Erklärung des Vertragspartners fingiert, weshalb bei der Prüfung solcher Klauseln und ihrer Änderung besonders § 308 Nr. 5 BGB zu beachten ist, wonach sich der Verwender verpflichtet, den Vertragspartner bei Beginn der Frist auf die vorgesehene Bedeutung seines Verhaltens besonders hinzuweisen (§ 308 Nr. 5 lit. b BGB). Auch eine Prüfung des § 308 Nr. 4 BGB kann bei einseitigen Leistungsbestimmungsrechten in Zinsanpassungsklauseln relevant werden. b) Formvorschriften Weiterhin kann es vorkommen, dass Formvorschriften eine Bestimmtheit der Leistung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses erfordern und damit eine spätere Leistungsbestimmung ausschließen. Zu denken ist etwa an eine Bürgschaftserklärung, in der die Bestimmung der gesicherten Forderung später einseitig durch eine Vertragspartei oder einen Dritten festgesetzt werden kann.114 Beim formbedürftigen Grundstückskauf dagegen ist die Vereinbarung eines Bestimmungsrechts zwar seinerseits ebenfalls formbedürftig, aber nach gefestigter Rechtsprechung möglich.115 Die Rechtsprechung nimmt an, dass durch die formbedürftige Vereinbarung der Warn- und Schutzfunktion genüge getan werde.116 113 Basedow, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 305 Rn. 82; Schlosser, in: Staudinger, BGB, § 305 Rn. 173; Ulmer, in: Ulmer / Brandner / Hensen, § 305 Rn. 165. In diesem Sinne ist wohl auch BGH NJW 1999, 1865 (1866) zu verstehen. 114 Dies kann auch aus der Entscheidung BGH NJW 1996, 1467 ff. gefolgert werden. Ein Bürge hatte im Rahmen einer formbedürftigen Bürgschaft eine Blankounterschrift auf dem Formular geleistet und einen anderen mündlich ermächtigt, die Urkunde zu ergänzen. Die Formvorschrift des § 766 BGB solle den Bürgen vor der mit seiner Erklärung verbundenen Haftung warnen. Deshalb sei der Formvorschrift nicht genüge getan, wenn der Bürge irgendein Schriftstück unterzeichne, aus dem sich ein Verbürgungswille ergibt. Vielmehr solle sie das zugleich übernommene Risiko eingrenzen und es dem Bürgen gleichzeitig vor Augen führen, was nur dann sichergestellt ist, wenn die Urkunde außer dem Willen, für fremde Schuld einzustehen auch die Bezeichnung von Gläubiger, Hauptschuldner und der verbürgten Forderung enthalte. 115 Für die Zulässigkeit der Bestimmung des Grundstücks RGZ 165, 161 (163 f.); BGH BB 1967, 139; DNotZ 1973, 609; für die Zulässigkeit der Bestimmung des Kaufpreises BGH NJW 1978, 1371 (1372); ferner auch BGH NJW 1975, 536 (537); grundlegend zudem BGH NJW 1986, 845. 116 Sehr kritisch demgegenüber und deshalb a. A. Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 137 ff. Darüber hinausgehende Schutzzwecke sollen im Rahmen dieser Ar-
C. Vertragsrechtliche Einordnung der §§ 315 ff. BGB
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II. Schutznormcharakter Grundsätzlich ist § 315 BGB bloße Auslegungshilfe insoweit, als vermutet wird, dass sich die an die Leistungsbestimmung bindende Vertragspartei nur einer Leistungsbestimmung, die nach billigem Ermessen getroffen wird, unterwerfen wollte.117 Inwieweit sich die bindende Vertragspartei dem Bestimmungsberechtigten ausliefert, ist prinzipiell ihr überlassen. § 315 BGB dient primär dazu, den Vertragswillen der Parteien konkretisierend von innen he raus fortzuschreiben.118 Versuche, über § 315 BGB (analog) eine Vertragskontrolle zu durchzuführen,119 sind abzulehnen.120 Dies bedeutet, dass nur die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts durch § 315 BGB eine gewisse inhaltliche Begrenzung erfahren kann. Die die Rechtsmacht begründende Gebundenheitsvereinbarung kann dagegen nicht an § 315 BGB gemessen werden, sondern nur an den „übrigen Schutzinstrumenten des Zivilrechts“121, also an den Generalklauseln der §§ 134, 138 und 242 BGB beit außer Acht gelassen werden. Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich auch im Kündigungsschutzrecht aufgrund der Schutzwürdigkeit spezielle Konstellationen bei der Anwendung des § 315 BGB ergeben können. Grundsätzlich ist die einseitige Leistungsbestimmung, wie sie im arbeitsrechtlichen Direktionsrecht ihren Ausdruck findet (§ 106 GewO), allgemein anerkannt und arbeitsrechtlich auch von großer Bedeutung. Das Verhältnis von § 315 BGB zu § 106 GewO ist demgegenüber ungeklärt. Vor Einführung des § 106 GewO im Jahr 2003 folgerte man ein Direktionsrecht des Arbeitgebers aus § 315 BGB und unterzog es auch dessen Billigkeitsmaßstab, was vor allem der wegweisenden Arbeit von Söllner aus dem Jahr 1966 zu verdanken ist, vgl. Söllner, Einseitige Leistungsbestimmungsrechte im Arbeitsverhältnis, passim. Seit der gesetzlichen Normierung des Direktionsrechts stellt sich ein gewisses (wenn auch nur dogmatisches) Konkurrenzproblem. Einige Stimmen meinen, § 106 GewO sei gegenüber § 315 BGB vorrangige Spezialnorm, vgl. Hromadka, in: FS v. Hoyningen-Huene, 145 (150 ff.); zustimmend Preis, NZA 2015, 1 (5); andere Stimmen meinen, dass die GewO gerade kein gesetzliches Leistungsbestimmungsrecht schaffe, sondern ein vertragliches voraussetze, weshalb § 315 BGB auf § 106 GewO anwendbar sei, vgl. Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 186 m. w. N. Wäre demgegenüber der Arbeitsvertrag in seiner Gänze der Leistungsbestimmung des Arbeitgebers unterworfen, wäre der von § 2 KSchG gewährte Kündigungsschutz als Vertragsinhaltsschutz ausgehebelt, da der Vertrag keinen feststehenden Inhalt mehr hätte. Das BAG hat deshalb als Mittelweg festgelegt, dass einseitige Leistungsbestimmungsrechte des Arbeitgebers dort ihre Grenze finden müssen, wo der „Kernbereich des Arbeitsverhältnisses“ tangiert wird (BAG NJW 2005, 1820 (1821); zustimmend Würdinger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 315 Rn. 65). 117 Vgl. schon Mot S. 191 = Mugdan, Bd. II, S. 105 f. („Interpretationsregel“). 118 Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 45. 119 Vgl. die frühere Rechtsprechung des BGH, beispielsweise in NJW 1963, 99 (100). 120 So auch Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, S. 14 ff.; Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 46 ff. 121 Rieble, in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 57.
58 § 2 Dogmatische Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte
sowie an der Inhaltskontrolle im Rahmen von AGB, hier vor allem an § 308 Nr. 4 BGB und der Generalklausel des § 307 BGB.
D. Zusammenfassung Die Leistungsbestimmungsrechte der §§ 315 ff. BGB sind als Gestaltungsrechte zu qualifizieren und haben subjektiv-rechtlichen Charakter. Die rechtsdogmatische Klassifikation des Leistungsbestimmungsrechts als Gestaltungsrecht hat nicht nur eine formale Funktion, sondern impliziert auch unterschiedliche Voraussetzungen bei der Rechtmäßigkeitskontrolle seiner Ausübung. Nach der hier vertretenen Auffassung sind in chronologischer Sichtweise drei Schritte zu differenzieren, die jeweils einen unterschiedlichen Rechtsgrund in sich tragen und dementsprechend unterschiedlichen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen unterworfen sind – die Entstehung, die Ausübung und die Auswirkung des Gestaltungsrechts. Auch wenn man die Vielzahl der Gestaltungsrechte nach der Art ihrer Auswirkung untergliedert, liegt stets – und damit auch bei lediglich ausfüllenden Gestaltungsrechten – ein Einbruch in das materielle Vertragsprinzip vor, der besonderer Rechtfertigung bedarf. Die einbrechenden Gestaltungsrechte sind im Regelfall durch Gesetz eingeräumt und finden ihre Rechtfertigung in der aufgrund der speziellen Situation gesteigerten Schutzwürdigkeit des Gestaltungsberechtigten. Die Rechtsmacht, die dem Gestaltungsberechtigten bei ausfüllenden Gestaltungsrechten eingeräumt ist, rechtfertigt sich durch die vertragliche Einräumung und damit aufgrund einer privatautonomen Entscheidung. Die Ausübung des Gestaltungsrechts erfolgt durch die Gestaltungserklärung, einer einseitigen und meist empfangsbedürftigen Willenserklärung. Aufgrund der Ungewissheit, die für den Vertragspartner hinsichtlich der Ausübung des Gestaltungsrechts besteht, sind gewisse formelle Grenzen zu ziehen. So ist die Gestaltungserklärung grundsätzlich unwiderruflich sowie bedingungs- und befristungsfeindlich. Ausnahmen können sich jedoch dann ergeben, wenn der Gestaltungsgegner ausnahmsweise nicht schutzbedürftig erscheint, weil für ihn keine Konstellation der Ungewissheit vorliegt. Die Gestaltungserklärung ist auch materiellen Grenzen unterworfen, so den bürgerlich-rechtlichen Generalklauseln und – im Falle einseitiger Leistungsbestimmung – zudem der Ermessenkontrolle des § 315 Abs. 3 BGB. Ist das Gestaltungsrecht ausgeübt, hat es zunächst nur Auswirkungen auf der rechtlichen und damit nur mittelbar auf der tatsächlichen Ebene. Ein einmal ausgeübtes Gestaltungsrecht wird grundsätzlich konsumiert. Eine Ausnahme ist jedoch bei Leistungsbestimmungsrechten in Dauerschuldverhältnissen zu machen, bei denen ein eingeräumtes Gestaltungsrecht immer
D. Zusammenfassung
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wieder ausgeübt werden und der Vertrag damit den sich ändernden Gegebenheiten angepasst werden kann. Die Leistungsbestimmungsrechte sind in der Mitte zwischen den beiden Außenpunkten vollständige Einigung und Dissens zu verorten. Durch jene wird ermöglicht, dass ein Vertrag zustande kommt, obwohl es an einer Regelung über eines der essentialia negotii fehlt und der Vertrag damit an sich am Bestimmtheitserfordernis scheitern würde. Eine solche Regelungsprokrastination kann zweckmäßig sein, wenn die Bestimmung zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht möglich ist, eine vertragliche Bindung aber bereits gewollt ist. Die Leistungsbestimmungsrechte markieren damit eine Ausnahme vom schuldrechtlichen Bestimmtheitserfordernis. Damit darf eine Leistungsbestimmung nicht möglich sein, wenn eine Lockerung des Bestimmtheitsgrundsatzes aufgrund der Schutzwürdigkeit einer der Parteien nicht zuzulassen ist. Wichtigster Anwendungsfall ist hierbei die Vereinbarung von AGB. Die Einräumung eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts in AGB kann dem „Vertragsprinzip“ des § 305 Abs. 2 BGB widersprechen und damit unzulässig sein. Vor allem aber die im Rahmen dieser Untersuchung relevanten Zinsanpassungsklauseln der AGB der Banken, die auch einseitige Leistungsbestimmungsrechte einräumen, sind im Ergebnis aufgrund der sog. „Widerspruchslösung“ prinzipiell zulässig. Zwar hat Schweigen grundsätzlich keine Erklärungswirkung, in der widerspruchslosen Fortsetzung des Vertragsverhältnisses durch den Bankkunden ist jedoch seine konkludent zum Ausdruck gebrachte Zustimmung zu erblicken. Für die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Zinsanpassungsklauseln als ausfüllende Gestaltungsrechte in Form der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte, die im Besonderen Teil der Arbeit im Mittelpunkt stehen sollen (§ 7), folgt damit, dass die Einräumung, die Ausübung und die Wirkung dieser Rechte bei der Frage ihrer Rechtmäßigkeit strikt voneinander zu trennen sind. Hierbei sind speziellgesetzliche Anforderungen, wie insbesondere Grenzen aus dem Recht der AGB, zu beachten. Welche allgemeinen Grenzen aber bereits aus der Rechtsnatur des § 315 BGB und seiner vertragsrecht lichen Eigenart zu ziehen sind, soll Gegenstand des folgenden Abschnittes sein.
§ 3 Grenzen einseitiger Leistungsbestimmung und Identität des Schuldverhältnisses A. Grundsatz: Änderung des Vertragsinhalts durch Änderungsvertrag Aus der dogmatischen Einordnung der einseitigen Leistungsbestimmungsrechte folgt nicht nur, dass Einräumung, Ausübung und Wirkung voneinander abzugrenzen sind. Vielmehr ergeben sich aus § 315 BGB, wenn man ihn im Zusammenhang mit § 311 BGB begreift, bereits Grenzen aus dem Recht der Vertragsänderung. § 311 BGB normiert, wie oben bereits herausgestellt,1 nicht nur, dass zur Begründung eines Schuldverhältnisses eine beidseitige vertragliche Verpflichtung notwendig ist, sondern auch, dass eine Änderung dieses Schuldverhältnisses ebenso grundsätzlich einer beidseitigen Vereinbarung, im Regelfall eines Änderungsvertrages, bedarf.
B. Änderung durch einseitige Leistungsbestimmung Dieser Grundsatz gilt jedoch nicht unbeschränkt, denn eine Änderung durch einseitiges Rechtsgeschäft ist nach dem Wortlaut der Norm auch dann möglich, wenn das Gesetz dies zulässt. Beispiele einer solchen gesetzlichen Legitimation einer einseitigen Änderung sind das Weisungsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO), die Anfechtungs-, Rücktritts-, und Widerrufsrechte oder auch das hier im Fokus stehende einseitige Leistungsbestimmungsrecht (§ 315 BGB), letztlich also alle Gestaltungsrechte, die dem Gestaltungsberechtigten eine Rechtsmacht einräumen. Dies ist für die sog. „Eingriffsrechte“2 einsichtig, denn Anfechtung, Rücktritt oder Widerruf führen ganz offenkundig zu einer Änderung des Schuldverhältnisses, indem sie zur Nichtigkeit des Schuldverhältnisses oder zur Umwandlung desselben in ein Rückgewährschuldverhältnis führen. Fraglich erscheint aber, ob auch die ausfüllenden Gestaltungsrechte wie das einseitige Leistungsbestimmungsrecht stets zu einer Änderung des Schuldverhältnisses oder zu einer bloßen Konkretisierung 1 s. o. 2 Zu
§ 2 B. III. 1. diesem Terminus s. o. § 2 B. III. 1. b).
D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB61
führen. Nach der oben gewonnenen Erkenntnis, dass auch ein ausfüllendes Gestaltungsrecht stets einen Einbruch in das materielle Vertragsprinzip darstellt3, ist auch jede Ausübung des einseitigen Leistungsbestimmungsrecht als Änderung des Schuldverhältnisses i. S. d. § 311 BGB zu bewerten.4
C. Grenzen der Änderung durch spezialgesetzliche Bestimmungen Ist die Änderung des Vertragsinhalts durch einseitiges Rechtsgeschäft zuzulassen, sind selbstverständlich die durch das entsprechende Gesetz normierten formellen und materiellen Grenzen einzuhalten, wie beispielsweise die Grenzen billigen Ermessens (§ 315 Abs. 1, 3 BGB) oder Rechtmäßigkeitsanforderungen aus einer Inhaltskontrolle, wenn das einseitige Leistungsbestimmungsrecht in AGB normiert ist. Beides ist freilich eine Frage des jeweiligen Einzelfalls.
D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB I. Die Rechtsnatur des § 311 BGB Eine viel grundlegendere Einschränkung für die Ausübung des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts ergibt sich aber, wenn man die Rechtsnatur des § 311 BGB näher betrachtet. Die Existenz der Vorschrift des § 311 BGB scheint zunächst insoweit verwunderlich, als sie im sehr dichten und spar samen Regelungsregime des BGB eine scheinbare Selbstverständlichkeit normiert. Selbstverständlichkeiten oder allgemeine programmatische Ausführungen erschienen den Verfassern des BGB grundsätzlich nicht erwähnenswert.5 Keinesfalls gewährt § 311 BGB Vertragsfreiheit im Sinne einer kompetenzzuweisenden Norm, denn die Vertragsfreiheit folgt bereits aus den Art. 2 Abs. 1, Art. 12 und Art. 14 GG.6 So deuten auch die Motive des Gesetzgebers auf den ersten Blick darauf hin, dass die Norm des § 311 BGB 3 s. o.
§ 2 B. III. 1. b) bb). Ergebnis ebenso Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 59; wohl auch Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 311 Rn. 12, 21. 5 Dass dies im Vergleich zu anderen Rechtsordnungen als durchaus unüblich bezeichnet werden kann, zeigen die umfassenden Nachweise bei Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, § 24 I. 6 Aus welchen Grundrechten die Vertragsfreiheit abzuleiten ist und wie ihr Verhältnis zur Privatautonomie zu beurteilen ist, ist in der Literatur höchst umstritten, vgl. Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 10 Rn. 27 ff. 4 Im
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§ 3 Grenzen einseitiger Leistungsbestimmung
nur deklaratorischen Charakter hat.7 Ein selbstständiger Regelungsgehalt lässt sich also weder aus dem Wortlaut, noch aus dem Telos oder der systematischen Stellung ableiten. Dass der Vorschrift des § 311 BGB allerdings durchaus ein eigenständiger Regelungsgehalt innewohnt, erschließt sich erst im Rahmen einer historischen Auslegung, wenn man einen Blick auf den Modus der Vertragsänderung vor Inkrafttreten des BGB wirft.8
II. Rechtsgeschichtliches Argument: Von der Novation zur identitätswahrenden Änderung Einer rechtshistorischen Untersuchung bedarf es nämlich vor allem deshalb, weil die dogmatische Einordnung der Vertragsänderung im römischen Recht gänzlich anders vorgenommen wurde als im BGB. Das sich hierbei ändernde Verständnis von der diskontinuierlichen Änderung hin zum identitätswahrenden Änderungsvertrag war, wie gezeigt werden soll, am Ende des 19. Jahrhunderts so weit fortgeschritten, dass es dem Gesetzgeber als überflüssig erschien, eine Regelung, die den identitätswahrenden Änderungsvertrag expressis verbis normierte, in das BGB aufzunehmen. Der originäre Regelungsgehalt des § 311 BGB hinsichtlich einer Vertragsänderung ist damit nur zu erschließen, wenn man die Gesetzgebungsgeschichte des Änderungsvertrages nachvollzieht. 1. Vertragsänderung im römischen Recht Im Rahmen dieser historischen Auslegung soll zunächst ein Blick auf die Vertragsänderung im römischen Recht geworfen werden. a) Vertragsänderung zwischen Novation und Vertragsidentität Ändert man die Modalitäten eines bereits abgeschlossenen Vertrages, so gibt es rechtsdogmatisch prinzipiell zwei Lösungen, wie diese Änderung begriffen werden kann. Man könnte zum einen annehmen, dass durch die Änderung ein neues Schuldverhältnis entsteht und dass die alte Verbindlichkeit zugleich erlischt. Im römischen Recht bezeichnete man dies als Novation, die Ulpian in den Digesten auch definierte: 7 Vgl. Mugdan II, S. 613. Es sollte ähnlich wie bei einigen der dinglichen Rechte auch für die schuldrechtlichen Verträge „klargestellt“ werden, wie diese begründet werden könnten. 8 Dieses Vorgehen wählt auch Hau, Vertragsanpassung und Vertragsänderung, S. 22 ff.
D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB63 „Novatio est prioris debiti in aliam obligationem vel civilem vel naturalem transfusio atque translatio, hoc est cum ex praecedenti causa ita nova constituatur, ut prior perematur. novatio enim a novo nomen accepit et a nova obligatione.“9
Die andere Möglichkeit ist die Annahme einer Veränderung des Vertrages unter der gleichzeitigen Wahrung seiner Identität. Welcher Auffassung man sich hier anschließt, ist keinesfalls eine bloß dogmatische Frage. Befürwortet man nämlich die Entstehung eines neuen Schuldverhältnisses und damit das Erlöschen des früheren Schuldverhältnisses (ut prior perematur), bedeutet dies zugleich, dass dadurch unter anderem alle akzessorischen Sicherheiten und die Einwendungen des Erstvertrages entfallen.10 Welcher diese beiden möglichen Wege zur Vertragsänderung beschritten wurde, soll anhand einiger Ausführungen in den Digesten herausgearbeitet werden, um herauskristallisieren zu können, welches Rechtsinstitut der Regelfall im römischen Recht war. b) Pomp. D. 18, 5, 2: Änderung des Kaufpreises Zunächst stellte sich die Frage der Identität des alten und neuen Vertrages dann, wenn die Parteien nach Vertragsschluss, aber noch vor dem Austausch von Leistungen übereinkamen, dass der Kaufpreis erhöht werden sollte. „Si quam rem a te emi, eandem rursus a te pluris minorisve emero, discessimus a priore emptione (potest enim, dum res integra est, conventione nostra infecta fieri emptio) atque ita consistit posterior emptio, quasi nulla praecesserit. sed non poterimus eadem ratione uti post pretium solutum emptione repetita, cum post pretium solutum infectam emptionem facere non possumus.“11
Der erste Vertrag wurde also durch die neuerliche Absprache vollständig aufgehoben (quasi nulla praecesserit), sodass alle akzessorischen Sicherhei9 Ulp. D. 46, 2, 1 pr.: „Novation ist die Umwandlung und Übertragung einer be stehenden Schuld in eine andere Verbindlichkeit, sei es eine zivilrechtliche oder eine natürliche, d. h. wenn aus einem bestehenden Schuldverhältnis ein neues geschaffen wird, dass das frühere erlischt. Die Novation hat ihren Namen nämlich von dem Neuen (a novo) und von der neuen Verbindlichkeit (a novo obligatione)“ (Übersetzung von Kaser / Knütel). 10 Vgl. dazu beispielsweise Paul. D. 46, 2, 18. 11 Pomp. D. 2, 18, 5, 2: „Wenn ich irgendeine Sache von dir kaufe und dieselbe Sache dann erneut von dir teurer oder billiger kaufe, dann sind wir vom ersten Kauf abgegangen (solange noch keine Leistung erbracht ist, kann nämlich durch unsere formlose Übereinkunft der Kauf ungeschehen gemacht werden) und auf diese Weise kommt der zweite Kaufvertrag so zustande, als sei kein Kaufvertrag voraufgegangen [sic!]. Wir können aber diese Regel nicht anwenden, wenn der Kauf nach Zahlung des Kaufpreises erneut vorgenommen worden ist, da wir den Kauf nach Zahlung des Kaufpreises nicht ungeschehen machen können“ (Übersetzung von Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler).
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ten neu bestellt werden mussten. Dies galt unabhängig davon, ob die Parteien explizit einen neuen Vertrag schließen wollten oder nur eine neue Preisabrede trafen.12 c) Ulp. D. 2, 14, 7, 6: Rücktritt und Teilaufhebung Beachtung verdient hier auch eine Erörterung Ulpians aus den Digesten: „Adeo autem bonae fidei iudiciis exceptiones postea factae, quae ex eodem sunt contractu, insunt, ut constet in emptione ceterisque bonae fidei iudiciis re nondum secuta posse abiri ab emptione. si igitur in totum potest, cur non et pars eius pactione mutari potest? et haec ita pomponius libro sexto ad edictum scribit. quod cum est, etiam ex parte agentis pactio locum habet, ut et ad actionem proficiat nondum re secuta, eadem ratione. nam si potest tota res tolli, cur non et reformari? ut quodammodo quasi renovatus contractus videatur.“13
Ulpian begründet unter Rückgriff auf Pomponius, dass es aufgrund der Möglichkeit des Rücktritts vom Vertrag, solange noch keine Leistungen erbracht worden sind (re nondum secuta), möglich sein müsse, auch nur Teile eines Vertrages zu ändern (mutari). Nun kann eine Änderung des Vertrages in zweierlei Hinsicht aufgefasst werden.14 Zunächst könnte man an eine Teilaufhebung des Vertrages und an eine neue Vereinbarung denken, die den alten Passus ersetzt. In diesem Sinne wird auch mutari bei Ulpian aufzufassen sein. Eine zweite Deutungsmöglichkeit der Vertragsänderung könnte jedoch auch die bloße Ersetzung einer Regelung unter Beibehaltung der vertraglichen Identität sein. Ob reformari in diesem zweiten Sinne zu deuten ist, erscheint zweifelhaft. Auf den ersten Blick scheint der partizipiale Zusatz dafür zu sprechen, denn ein so geänderter Vertrag wäre dann lediglich als renovatus contractus einzuordnen. Allerdings ist in einer systematischen 12 Vgl.
ferner D. 18, 1, 72 pr. D. 2, 14, 7, 6: „So weitgehend sind aber die später begründeten Einreden, die aus demselben Vertrag stammen, in den Klagen nach Treu und Glauben enthalten, dass beim Kauf wie bei den übrigen Klagen nach Treu und Glauben feststeht, dass man vom Kauf abgehen kann, solange noch keine Leistung erbracht ist. Wenn man dies also hinsichtlich des gesamten Vertrages kann, warum kann dann nicht auch ein Teil davon durch Vereinbarung geändert werden? Und so schreibt dies Pomponius im 6. Buch zum Edikt. Weil das so ist, gilt die Vereinbarung auch auf seiten [sic!] des Klägers, so dass sie auch zu seinen Gunsten auf den Klaginhalt [sic!] einwirken kann, solange noch keine Leistung erbracht ist, und zwar aus demselben Grunde. Denn wenn das ganze Geschäft aufgehoben werden kann, warum kann es dann nicht auch abgeändert werden, so dass der Vertrag gewissermaßen als erneuert erscheint?“ (Übersetzung von Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler). 14 So auch Knütel, Contrarius consensus, § 15 I 3. 13 Ulp.
D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB
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Zusammenschau der unterschiedlichen Verwendung des Begriffes renovatus in den Digesten eine solche eindeutige Schlussfolgerung nicht möglich.15 d) Ulp. D. 18, 2, 6, 1: Befristeter Vorbehalt eines besseren Gebots Im römischen Recht war bei einem Kaufvertrag die Zulässigkeit einer Nebenabrede anerkannt, die bestimmte, dass ein Rücktrittsrecht für den Fall bestehe, dass der Verkäufer innerhalb einer von den Parteien bestimmten Frist einen Käufer mit einem besseren Gebot fand.16 Wenn nun also A an B einen Gegenstand mit entsprechender Bessergebotsklausel verkauft hatte, worauf sich bald C mit einem besseren Gebot einfand und entschied sich dann B, C zu überbieten, um den Gegenstand behalten zu können, stellte sich die Frage, ob A und B einen neuen Vertrag geschlossen haben, oder der Vertrag erhalten blieb, als ob es nie einen Bieter C mit zunächst höherem Gebot gegeben hatte. Dies war deshalb wichtig, weil in erster Alternative die Früchte aus der Nutzung des Gegenstandes im Zeitraum zwischen dem Gebot des C und dem Gebot des B dem Verkäufer A zustünden, in zweiter Alternative aufgrund der Erhaltung des Vertrages dem Käufer B. Ulpian schreibt hierzu: Si quis extiterit, qui meliorem condicionem adferat, deinde prior emptor adversus eum licitatus sit et penes eum emptum remanserit, dubitari poterit, utrum fructus ipse habeat, quasi nulla meliore condicione allata, an vero venditoris sint, licet eadem sit persona, quae meliorem condicionem attulit. quod ratio facere videtur: intererit tamen quid acti sit […].17
Wenn es auch, worauf Ulpian hinweist, letztlich auf die genaue vertrag liche Vereinbarung ankäme (quid acti sit), so sei als Grundsatz doch die Annahme folgerichtiger, dass – wenn auch zur gleichen Person – ein gänzlich neues Schuldverhältnis entstehe, mit der Konsequenz, dass die Früchte aus dem in Frage stehenden Zeitraum dem Verkäufer gebühren würden.18 15 Paulus bezeichnet in D. 18.5.1 mit re-novatus den erneut geschlossenen und damit neuen Vertrag; in D. 2, 14, 27, 5 bezeichnet er mit renovare dagegen die Wiederherstellung des ursprünglichen Vertrages, vgl. auch Knütel, Contrarius consensus § 15 Fn. 12. 16 Sog. in diem addictio, vgl. Paul. D. 18, 2, 1. 17 Ulp. D. 18, 2, 6, 1: „Wenn jemand auftritt, der zwar ein besseres Gebot macht, darauf aber vom ersten Käufer mit der Folge überboten wird, dass der Kaufvertrag mit ihm [dem ersten Käufer] geschlossen bleibt, dann kann man zweifeln, ob der Käufer die Früchte behalten kann, so als sei gar kein besseres Gebot gemacht worden, oder ob sie nicht auch in diesem Fall dem Verkäufer zustehen, obwohl es dieselbe Person [der erste Käufer] ist, die das bessere Gebot gemacht hat. Das entspricht ersichtlich der rechtlichen Konsequenz. Dennoch wird es darauf ankommen, was vereinbart worden ist […]“ (Übersetzung von Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler). 18 In D. 18, 1, 7, 2 neigt Ulpian dagegen eher dazu, dass der bereits abgeschlossene Kaufvertrag bestehen bleibt, selbst wenn sich im Nachhinein ein Käufer finden
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§ 3 Grenzen einseitiger Leistungsbestimmung
e) Novation als Regel Die vorangehenden Beispiele19 zeigen, dass die Novation bei einer wesentlichen Vertragsänderung der Regelfall im römischen Recht war.20 Die Änderung des Vertragsinhalts wurde, auch wenn sie zwischen den Parteien einvernehmlich erfolgte, grundsätzlich nicht als Konsensualvertrag angesehen. Dies ist deshalb hervorzuheben, weil trotz des bei beiden Vertragspartnern gleichen Willens zur bloßen Änderung des Vertrages (animus novandi), in dogmatischer Hinsicht der Weg der Novation beschritten werden musste. Insoweit erscheint die Bewertung gerechtfertigt, dass hier „wirtschaftlicher Zweck und juristische Konstruktion“ auseinander fallen.21 2. Vertragsänderung im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten Vielleicht deshalb setzte das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 hier einen anderen Akzent. In diesem wurde klar bestimmt, dass Rechte und Verbindlichkeiten auch nach ihrem Entstehen mit Einwilligung der Parteien umgeändert werden konnten.22 Ebenso wurde der Grundsatz aufgestellt, dass eine schon vorhandene Verbindlichkeit bei Hinzutreten weiterer „Verabredungen“ so wenig als möglich geändert werde.23 Eine die vertragliche Identität unterbrechende Novation24 sollte demnach nur die Ausnahme sein.25 ließe, der dem Weiterverkauf zu einem höheren Kaufpreis zustimmen werde, vgl. auch Knütel, Actus contrarius, § 16 II. 19 Weitere Beispiele, auch aus dem Bereich der Änderung der Nebenbestimmungen oder der Entlassung eines der Beteiligten aus dem Vertrag finden sich bei Knütel, Actus contrarius, § 17 f. 20 Zwar konnte eine Abrede über Nebenpunkte (adminicula) durch ein pactum adiectum erfolgen, sie wurde jedoch nur Bestandteil des Hauptvertrages, wenn sie in unmittelbarem Anschluss an den Hauptvertrag geschlossen wurde (in continenti). Sie konnte bei späterer Vereinbarung ferner nur zur Minderung, nicht zur Verschärfung einer Nebenpflicht führen und nur als Einrede geltend gemacht werden, vgl. hierzu eingehend Knütel, Actus contrarius, § 14. 21 Zu diesem Schluss gelangt Hau, Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag, S. 24. 22 ALR I, 16, § 450. 23 ALR I, 16, § 451. 24 Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten verwendet hier den Begriff der Schuldumschaffung synonym zur Novation. In der Literatur hat sich dennoch der Begriff der Novation durchgesetzt, da er am klarsten die diskontinuierliche Vertragsidentität zum Ausdruck bringt, vgl. zur Begriffsgeschichte auch Hau, Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag, S. 24 Fn. 66.
D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB67
3. Vertragsänderung im ius commune und in der Pandektistik Veränderungen zeigten sich nicht nur in Partikularrechten wie dem Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten, sondern vor allem auch im ius commune, in dem sich langsam die Einsicht durchsetzte, dass man vom Regelfall der Novation zugunsten der Möglichkeit abweichen müsse, den Vertrag identitätswahrend zu ändern.26 4. Regelung im BGB Auf dieser Grundlage formulierten die Motive zum BGB, dass eine Inhaltsänderung des Vertrages identitätswahrend möglich sei.27 Dieser „kontinuitätswahrende […], auf Modifikation objektiver Art gerichtete […] Änderungsvertrag“28 war nun also in gleichem Maße möglich wie eine Novation. Der Änderungsvertrag erfuhr in den folgenden Jahrzehnten eine umfassende dogmatische Aufarbeitung. So widmeten sich eine Reihe von Dissertationen29 dem „neuen“ Änderungsvertrag und auch in den großen Lehrbüchern der damaligen Zeit, wie denen von Ludwig Enneccerus,30 Rudolf Henle,31 Hugo Kress32 oder Franz Leonhard,33 fanden sich alsbald Kapitel über diesen.
25 Dies kann darauf abgeleitet werden, dass eine neue Verbindlichkeit „ausdrücklich“ an die Stelle der vorherigen gesetzt werden muss, damit diese durch Novation erlischt, vgl. ALR I, 16, § 454. 26 Vgl. beispielsweise Puchta, Pandekten, § 263; Sintenis, Das Obligationenrecht, §§ 101, 105. 27 Mot. II, S. 78 = Mugdan, Band II, S. 43: „[…] so kann auch die Wirksamkeit und Gültigkeit eines derartigen Vertrages, wodurch die bisherige Verbindlichkeit durch eine andere zwischen denselben Personen ersetzt würde, gemäß den Prinzipien der Vertragsfreiheit und der Formfreiheit der Verträge […] nicht bezweifelt werden“. Vor allem in der älteren Literatur erfuhr dies Zustimmung, vgl. Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht, § 23 I; Enneccerus / Lehmann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, § 42 I; Welsch, Die Novation, S. 40 ff. 28 Hau, Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag, S. 25. 29 Erwähnenswert sind hier vor allem (in chronologischer Reihenfolge) Klein, Vertragliche Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses, Wien 1907; Cramer, Der Abänderungsvertrag, Oelde i. Westf. 1915; Gerke, Schuldabänderungsverträge und ihre Grenzen nach dem BGB, Kiel 1932. 30 Siehe Enneccerus / Lehmann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, § 42. 31 Siehe Henle, Schuldrecht, § 111. 32 Siehe Kress, Schuldrecht, § 9 1. 33 Siehe Leonhard, Schuldrecht, § 22.
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§ 3 Grenzen einseitiger Leistungsbestimmung
III. Grenzen der Kontinuität – Die Identität des Schuldverhältnisses Wenn also die identitätswahrende Änderung eines Schuldverhältnisses möglich ist, so ist weiter zu fragen, ob es überhaupt Grenzen dieser identitätswahrenden Änderung gibt und falls ja, wo diese zu ziehen sind. Diese Fragen verdichten sich zu der grundlegenden und dem ersten Anschein fast philosophisch anmutenden Frage nach der Identität des Schuldverhältnisses. Was sind die identitätskonstituierenden Merkmale eines Schuldverhältnisses? Hat man diese festgestellt, bedeutet dies zugleich eine Antwort auf die Frage nach den Grenzen der identitätswahrenden Änderung dieses Schuldverhältnisses und damit auch nach den Grenzen der Ausübung eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts, durch das gewisse Aspekte des Vertrages einseitig geändert werden. 1. Existenz von Grenzen – Der Begriff der Identität Die Verwendung des Begriffs der Identität muss eine kurze Erklärung im Sinne einer Präzisierung erfahren, da der Begriff gleichermaßen von Soziologie, Psychologie, Pädagogik und vielen anderen Wissenschaften in Anspruch genommen wird. Vor allem ist der Begriff der Identität, wie er hier verwendet wird, abzugrenzen vom Identitätsbegriff in der Mathematik, wo eine allgemeingültige Mengengleichheit wie A = A1 die vollständige Übereinstimmung der beiden Bereiche bezeichnet.34 Nimmt man noch den umgekehrten Fall der Übereinstimmung in keinem einzigen Punkt, wird man zu dem Ergebnis kommen, dass alle hier in Betracht kommenden Rechtsfälle dazwischenliegen werden, da stets irgendwelche Veränderungen stattgefunden haben.35 Mit anderen Worten ist also die zu beantwortende Frage, ob die nach der Änderung noch vorhandenen Merkmale der zuvor bestehenden Regelung ausreichen, um von einer Identität des Schuldverhältnisses vor und nach der Änderung zu sprechen, oder ob trotz einiger Merkmale, die vor und nach der Änderung dieselben sind, keine Identität mehr angenommen werden kann, weil die Parameter, die sich verändert haben, als zu gewichtig einzuschätzen sind, sodass im Ergebnis eine diskontinuierliche Novation angenommen werden müsste.
hierzu Merz / Wüthrich, Mathematik für Wirtschaftswissenschaftler, S. 71. auch Fischer, Breslauer FS Jhering, S. 6.
34 Vgl. 35 So
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2. Auslegung des § 311 BGB anhand der klassischen canones Die juristische Forschung hat sich vor allem in den ersten drei Jahrzehnten nach Inkrafttreten des BGB mit der Frage nach den Kontinuitätsgrenzen beschäftigt. Allerdings fehlt hier eine systematische und dogmatisch überzeugende Aufarbeitung. Besonders bei einer so grundlegenden Frage, wie der nach den identitätskonstituierenden Merkmalen eines Schuldverhältnisses, die im Gesetz nicht expressis verbis geregelt ist, stellt sich die Frage nach einer stringenten Methodik. Hier sollen zunächst die vier canones herangezogen werden, die erstmals von Friedrich Carl von Savigny im 19. Jahrhundert aufgestellt wurden,36 und bis heute – in leicht modifizierter Form – in der Jurisprudenz als die gängigen Auslegungsmethoden angesehen werden,37 nämlich Wortlaut, das systematische, das historische und das teleologische Argument, wobei historisches und systematisches Argument nachfolgend in der Reihenfolge vertauscht werden. a) Auslegung des Wortlauts Zunächst einmal ist festzuhalten, dass dem Wortlaut des § 311 BGB und auch anderen Vorschriften keine allgemeinen Bestimmungen darüber zu entnehmen sind, bis zu welchen Grenzen eine identitätswahrende Änderung eines Schuldverhältnisses möglich ist. Weiterhin existiert im Vertragsrecht keine Vorschrift, die festlegt, welche Parameter eines bestimmten Schuldverhältnisses identitätskonstituierend sind und welche nicht. b) Rechtshistorische Auslegung Wenngleich aus den Motiven des Gesetzgebers nichts über den genauen Verlauf der Kontinuitätsgrenzen herausgelesen werden kann, so kann doch die obige Nachzeichnung der rechtshistorischen Entwicklung seit der Novation des römischen Rechts bis zum § 305 BGB a. F. (heute § 311 BGB) hier noch einmal fruchtbar gemacht werden, weil hieraus ein Grundsatz abgeleitet werden kann, der für die folgende Untersuchung als Auslegungshilfe geeignet ist: Als Ergebnis wurde oben38 bereits festgehalten, dass eine Inhalts änderung des Vertrages nach der Vorstellung des Gesetzgebers grundsätzlich identitätswahrend möglich ist. Hau nimmt darüber hinaus an, dass der Gesetzgeber in § 305 BGB a. F. „den kontinuitätswahrenden, auf Modifikation dazu u. a. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, § 32 f. anstatt vieler Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 305 ff. 38 s. o. § 2 II. 4. 36 Vgl. 37 Vgl.
70
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objektiver Art gerichteten Änderungsvertrag als Regelfall vorsah“39. Als Grundlage dieser These führt er die entsprechenden Materialien zur Entstehung des BGB an, aus denen sich ein derartiger Wille des Gesetzgebers ableiten lasse. In den Materialien ist indes lediglich davon die Rede, dass aufgrund der Vertrags- und Formfreiheit sowohl eine Novation als auch ein identitätswahrender Änderungsvertrag möglich sein müssen.40 Durch Auslegung müsse ermittelt werden, welches der beiden Rechtsinstitute von den Parteien gewählt wird, wenngleich der Gesetzgeber schon davon ausgeht, dass der Weg über einen identitätswahrenden Änderungsvertrag in der Praxis häufiger vorkommen wird.41 Eine Vorrangstellung dieses Rechtsinstituts gegenüber der Novation ist vom Gesetzgeber damit expressis verbis aber noch nicht aufgestellt. Vor diesem Hintergrund vermag die Annahme von Hau mit der von ihm gefundenen Begründung nicht zu überzeugen. Der in Frage stehende Grundsatz lässt sich jedoch durch eine Auslegung der Gesetzesmaterialen herleiten. Der Gesetzgeber spricht davon, dass durch Auslegung zu ermitteln sei, welches der beiden Rechtsinstitute von den Parteien zur Änderung gewollt war. Fragt man aber nach der typischen Interessenlage der Parteien bei einer Vertragsänderung, so drängt sich hier eine gewisse Tendenz auf. Die Novation impliziert nämlich ein Wegfallen aller Einwendungen und der für die Leistungen der Parteien bestellten Sicherheiten. Diese Konsequenz erscheint so schwerwiegend, dass sie von den Parteien ausdrücklich erwähnt oder abgesprochen werden muss und nicht einfach unterstellt werden darf, ansonsten wären entsprechende Sicherheiten nicht explizit vereinbart worden. Die Vermutung bei der Auslegung des Parteiwillens, im Zweifel eine identitätswahrende Änderung zu erstreben, erscheint also von der Konzeption des BGB her im Ergebnis gedeckt. Die juristische Lehrbuchliteratur in den ersten Jahrzehnten nach Entstehung des BGB hat ebenfalls diese Deutung vertreten.42 Nachdem sich auch einige Gerichtsentscheidungen dem angeschlossen haben,43 entspricht die Vermutung einer identitätswahrenden Änderung heute der herrschenden Meinung.44 39 Hau,
Vertragsanpassung und Anpassungsvertrag, S. 25. II, S. 77 ff. = Mugdan, Band II, S. 43 f. 41 Mot. II, S. 78 = Mugdan, Band II, S. 43: „[…] kommen Verträge der zuletzt bezeichneten Art [gemeint sind identitätswahrende Änderungsverträge; S.B.] sehr häufig vor“. 42 Enneccerus / Lehmann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, § 42 I 1. 43 RG JW 1938, 1391; BGH NJW 1979, 426 (427); NJW 1986, 1490; NJW 1993, 2043 f.; NJW 1994, 1866 (1867); NJW 1999, 3708 (3709); NJW 2000, 2580 (2581); WM 2014, 989 Rn. 19. 44 Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 305 Rn. 16; Gröschler, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 48; Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 78 mit jeweils weiteren Nachweisen. 40 Mot.
D. Grenzen der Änderung aus dem Rechtsgedanken des § 311 BGB71
Diese Vermutung soll als Auslegungshilfe die nachfolgende Untersuchung flankieren. c) Systematische Auslegung Wenngleich dem Wortlaut einzelner Normen keine Aussagen über identitätsrelevante Parameter eines Schuldverhältnisses zu entnehmen sind, existieren doch einige Regelungen, die für bestimmte Fälle Aussagen darüber treffen, ob ein Schuldverhältnis „das gleiche“ bleibt, beispielsweise im Rahmen der Zession, des Schuldbeitritts oder der Schuldübernahme. Es gibt also bereits in einem gewissen Rahmen eine Kasuistik des positiven Rechts, die Vorgaben hierzu enthält. Diese gesetzlichen Vorgaben müssen freilich oberste Richtschnur der Betrachtung sein. Steht allerdings keine positivgesetzliche Regelung zur Verfügung, stellt sich das Problem, auf welchem Wege die Frage nach dem identitätskonstituierenden Charakter des jeweiligen Merkmals beantwortet werden kann. Hier soll auf die Methodik des typisierenden Fallvergleichs zurückgegriffen werden, wie sie beispielsweise von Zippelius herausgearbeitet wurde.45 In diesem Rahmen werden zunächst die zu vergleichenden Fälle genauer untersucht und einerseits übereinstimmende Merkmale und andererseits Merkmalsunterschiede herausgearbeitet. Anschließend erfolgt ein „abwägender Vergleich mit dem Ziel einer Gleichbehandlung wesentlich gleicher und einer Ungleichbehandlung wesentlich ungleicher Fälle“.46 Nun könnte zunächst der Weg beschritten werden, verschiedene Einzelfälle exemplarisch zu betrachten, um dann in einer Art von induktivem Schlusses zu einer allgemeinen Aussage über Identitätsgrenzen zu gelangen. Dies erscheint jedoch für die vorliegende Arbeit wenig sinnvoll, da das Herausarbeiten von Einzelfällen aus verschiedenen Rechtsbereichen für die Kernfrage der Arbeit wenig gewinnbringend wäre. Viel naheliegender erscheint es demgegenüber, die verschiedenen in Betracht kommenden Parameter eines Schuldverhältnisses jeweils einzeln zu untersuchen und herauszuarbeiten, ob ihnen ein identitätskonstituierender Charakter innewohnt, um schließlich für die Parameter, bei denen es einer gesetzlich Regelung ermangelt, im Wege des typisierenden Fallvergleichs Rückschlüsse aus den anderen Parametern zu ziehen. Als die grundlegenden Kategorien der nachfolgenden Untersuchung sollen die Hauptparameter eines Schuldverhältnisses dienen. Sie werden eingeteilt in objektive Parameter (Subjekte und Objekte des
45 Vgl.
Zippelius, Juristische Methodenlehre, § 12. Juristische Methodenlehre, § 12 I a.
46 Zippelius,
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Schuldverhältnisses, Vertragstypus sowie rechtliche Grundstrukturen) und subjektive Parameter (v. a. Parteiwille). 3. Objektive Parameter des Schuldverhältnisses Im Rahmen der folgenden Untersuchung sollen die objektiven Parameter vor den subjektiven Parametern geprüft werden, da bei jenen noch gesetzliche Kasuistik zur Verfügung steht, die die Beurteilung der Frage des identitätsstiftenden Charakters erleichtern kann. a) Änderung auf Subjektebene Dabei sollen zunächst die Vertragsparteien, also die Subjekte des Schuldverhältnisses betrachtet werden, um beantworten zu können, ob eine Änderung der Parteien eines Vertrages grundsätzlich eine Diskontinuität des Schuldverhältnisses bedeutet. Hierzu lassen sich verschiedene gesetzliche Regelung als Argumente fruchtbar machen. aa) Zession Den Parteien eines Schuldverhältnisses ist es grundsätzlich möglich, durch einen Abtretungsvertrag die Forderung vom Zedenten auf den Zessionar übergehen zu lassen (§ 398 S. 1 BGB), wobei der neue Gläubiger an die Stelle des bisherigen tritt (§ 398 S. 2 BGB), ohne dass Einwendungen des Schuldners hierbei verloren gehen (§ 404 BGB). Es handelt sich hier also lediglich um eine „Änderung der Rechtszuständigkeit ohne Änderung des Rechtsinhalts“47, sodass nur eine Vertragspartei geändert, hiervon aber die Identität der Forderung und damit die Identität des Schuldverhältnisses nicht tangiert wird.48 Gleiches muss natürlich für den gesetzlichen Forderungsübergang gelten (beispielsweise § 426 Abs. 2 BGB). bb) Schuldübernahme Auch bei der Schuldübernahme gibt es einen Wechsel innerhalb der Subjekte des Schuldverhältnisses, sei es durch Vertrag zwischen Gläubiger und Übernehmer (§ 414 BGB) oder durch Vertrag zwischen Schuldner und Übernehmer (§ 415 BGB). Während im römischen Recht der Schuldner noch eine 47 Larenz, 48 BGH
Rn. 4.
Schuldrecht I, § 33 III. BB 2004, 1411 (1413); Busche, in: Staudinger, BGB, Einl zu §§ 398 ff.
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neue, eigenständige Schuld einging und die alte Schuld vollständig aufgehoben wurde,49 ist nach der jetzigen Konzeption des BGB, wie es schon aus den Motiven des Gesetzgebers ersichtlich ist, eine Übernahme unter Wahrung der Identität der Schuld und damit auch des Schuldverhältnisses möglich.50 cc) Vertragsübernahme Selbst bei einer Vertragsübernahme51, bei der nicht nur einzelne Rechte oder Pflichten übertragen werden, sondern gleichsam die gesamte Rechtsstellung, besteht nach der Übertragung der ursprüngliche Vertrag weiter und muss nicht neu abgeschlossen werden. Der Vertrag besteht damit unter Beibehaltung seiner Identität zwischen den neuen Vertragspartnern unverändert fort.52 Nach Betrachtung der verschiedenen Beispiele aus der gesetzlichen Kasuistik erscheint der Schluss als gerechtfertigt, dass die Subjekte eines Schuldverhältnisses keinesfalls ein identitätskonstituierendes Merkmal desselben sind. Dies scheint in der Literatur selbstverständlich zu sein, denn explizite Stellungnahmen hierzu finden sich nur selten.53 b) Änderung auf Objektebene Nachdem nun festgestellt wurde, dass eine Änderung auf der Subjektebene des Schuldverhältnisses identitätswahrend möglich ist, soll nun die Möglichkeit identitätswahrender Änderungen auf der Objektebene untersucht werden. aa) Ersetzung des Vertragsgegenstandes Nach römischem Recht wäre die Änderung des Kaufgegenstandes nur durch Neuabschluss eines Kaufvertrages unter Aufhebung des ersten Vertrahierzu Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts II, § 327 ff. S. 142 = Mugdan, Bd. II, S. 78; Enneccerus / Lehmann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, § 85 II; Rieble, in: Staudinger, BGB, § 414 Rn. 1; Schreiber, in: Soergel, BGB, Vor § 414 Rn. 2. 51 Dies gilt unabhängig davon, ob man die Übernahme der gesamten Rechtsstellung als Kombination aus einer Abtretung aller Rechte und einer Übernahme aller Verbindlichkeiten deutet [so beispielsweise BGH NJW 1961, 453 (454)] oder als Nachfolge in die gesamte Rechtsstellung i. S. e. Vertragsübernahme begreift. 52 BGH NJW 1961, 453 (454); 1985, 2528; Bydlinski, in: Münchener Kommentar zum BGB, Vorbem § 414 Rn. 7. 53 Stellungnahmen hierzu finden sich vereinzelt im älteren Schrifttum, beispielsweise bei Gernhuber, Das Schuldverhältnis, § 2 II 3; Leonhard, Schuldrecht, § 22. 49 Vgl. 50 Mot
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ges möglich gewesen.54 Nach Inkrafttreten des BGB ging man zunächst davon aus, dass eine identitätswahrende Änderung nur möglich sei, wenn die neue Leistung gleicher Art ist,55 also umgekehrt eine Schuldersetzung dann vorliege, wenn ein Gegenstand anderer Art an Stelle des alten trete. Eine Ausnahme machten Enneccerus / Lehmann für den Bereich der Gegenleistung, wenn also eine Sachgegenleistung von einer Geldgegenleistung abgelöst wurde oder umgekehrt.56 Diese Ausnahme ist nicht ganz einsichtig. Es ließe sich zwar argumentieren, dass – im Falle des Kaufes – der Kaufgegenstand das eigentlich zentrale Objekt ist und das „Zahlungsmittel“ insoweit unerheblich ist, solange der Wert identisch bleibt. Dies widerspricht allerdings dem synallagmatischen Charakter der kaufvertraglichen Pflichten, die in keinem Stufenverhältnis, sondern gleichwertig nebeneinander stehen. Deshalb ist nicht einzusehen, weshalb die Interessen des Verkäufers an der Gegenleistung geringer einzuschätzen sein sollten als die des Käufers an der Leistung. In diesem Sinne ging man bald dazu über, bei der Ersetzung des Gegenstandes Änderungen aller Art zuzulassen.57 In einem vom BGH im Jahr 1992 entschiedenen Fall hatten sich Vermieter und Mieter darauf geeinigt, dass anstatt der bisher angemieteten Räumlichkeiten innerhalb einer Ladenzeile andere, ebenfalls im Eigentum des Vermieters stehende, Räumlichkeiten angemietet werden sollten.58 Im Rahmen der ändernden Vereinbarung wurde auch der Mietpreis erhöht sowie die Laufzeit verändert. Obwohl also sowohl die Leistung als auch die Gegenleistung auf der Objektebene des Schuldverhältnisses verändert wurden, nahm der BGH an, dass kein neuer Mietvertrag unter Auflösung des alten geschlossen wurde, sondern lediglich der bereits bestehende Vertrag geändert wurde, da maßgebliche Kriterien nur der Wille der Parteien, die wirtschaftliche Bedeutung der Abänderung sowie die Verkehrsauffassung seien.59 Ob die letztgenannten Kriterien wirklich allein für die Beurteilung ausschlaggebend sein können, ob eine identitätswahrende Änderung des Schuldverhältnisses vorliegt, ist für diesen Fall irrelevant und soll daher weiter unten diskutiert werden.60 An dieser Stelle genügt die Feststellung, dass sich auch die höchstrichterliche Rechtsprechung der herrschenauch Bechmann, Der Kauf nach gemeinem Recht II, § 247 insb. III. Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, § 42 I 1; Leonhard, Schuldrecht, § 22 (sofern nicht „der Charakter der alten Schuld wesentlich umgestoßen wird“). 56 Enneccerus / Lehmann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, § 42 I 1. 57 Vgl. beispielsweise Kress, Schuldrecht, § 9 1 d (Allerdings nur, soweit die Gegenleistung dieselbe bleibt). 58 BGH NJW 1992, 2283. 59 BGH NJW 1992, 2283 (2284 f.). 60 s. u. § 3 D. III. 54 Vgl.
55 Enneccerus / Lehmann,
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den Meinung in der Literatur61 insoweit anschließt, als die identitätswahrende Änderung des Schuldverhältnisses bei einem Austausch des Objekts möglich ist, zumindest wenn ein Objekt gleicher Art eingesetzt wird. Die Konstellation, dass die Ersetzung des Gegenstandes dazu führt, dass ein neuer Vertragstypus entsteht, soll erst weiter unten diskutiert werden.62 bb) Rückgewährschuldverhältnis Ein Fall der Änderung des Schuldverhältnisses auf der Objektebene ist auch beim Rücktritt gegeben. Steht einer Partei ein Rücktrittsrecht zu, so sind nach Erklärung des Rücktritts die empfangenen Leistungen zurückzugewähren und die gezogenen Nutzungen herauszugeben (§ 346 Abs. 1 BGB). Es stellt sich nun die Frage, ob hierdurch auch das ursprüngliche Schuldverhältnis aufgehoben und durch ein neues ersetzt oder nur abgeändert wird. Der Gesetzgeber ging ursprünglich davon aus, dass im Falle eines Rücktritts das ursprüngliche Schuldverhältnis ex nunc beendigt würde und die empfangenen Leistungen wegen Wegfalls der causa zurückgegeben werden müssten.63 Die hieraus resultierenden Rückgewähransprüche waren dogmatisch also letztlich kondiktionsrechtlicher Natur. In den folgenden Jahrzehnten setzte sich jedoch zunächst in Literatur und Rechtsprechung die Auffassung durch, dass durch den Rücktritt der gesamte Vertrag ex tunc aufgehoben werde und nur noch „kondiktionsähnliche Ansprüche auf Wiederherstellung des Zustandes, wie er vor Abschluss des Vertrages gewesen [ist], in Frage kommen“64, weil auch die Rückgewähransprüche auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses ausgedehnt würden.65 Gegen die Rechtsnatur der Rückgewähransprüche als Bereicherungsansprüche wandte sich erstmals Stoll. Aus dem ursprünglichen Schuldverhältnis würden durch den Rücktritt alle Erfüllungstendenzen ausgeschlossen, andererseits erwüchsen aber neue Ansprüche auf Rückgewähr, da auch durch die Erfüllung nur einzelne Ansprüche erlöschen würden, das Schuldverhältnis als „Organismus“ aber weiterlebe und nicht einzusehen sei, weshalb das Schuldverhältnis insoweit zerstückelt 61 Der Grundsatz ist in der Literatur unumstritten, allerdings unterscheiden sich die Stimmen insoweit, als sie diesen Grundsatz mit unterschiedlichen Akzentuierungen zu beschränken versuchen, vgl. beispielsweise Larenz, Schuldrecht I, § 7 II (solange Gleichartigkeit vorliegt, der Zweck der Parteien derselbe bleibe und „im Übrigen die gleichen Bedingungen gelten sollen“) oder Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 75 (wenn Gleichartigkeit vorliegt und der Vertragszweck derselbe bleibt). 62 s. u. § 3 D. III. 3. c). 63 Prot., S. 8418 f. = Mugdan, Band II, S. 727. 64 So RGZ 50, 255 (266 f.); bestätigend RGZ 136, 33. 65 Oertmann, SeuffBl 69 (1904), 65 (74).
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werden müsse.66 Diese Betrachtung erscheint lebensnah. Erst entstehen im Rahmen eines Schuldverhältnisses Sorgfaltspflichten (vgl. auch § 241 Abs. 2 BGB), sodann vertragliche Pflichten und im Falle eines Rücktritts, der das Schuldverhältnis nur umgestaltet, auch Rückgewährpflichten. Der Rücktritt betrifft also „nicht den Bestand, sondern den Inhalt des Schuldverhältnisses“.67 Die Auffassung Stolls beeinflusste die weitere Entwicklung der Lehre maßgeblich.68 Die heute herrschende Lehre nimmt in diesem Sinne zu Recht an, dass die primären Leistungspflichten lediglich ex nunc erlöschen und das Schuldverhältnis hinsichtlich bereits erbrachter Leistungen in ein Rückgewährschuldverhältnis nur umgewandelt wird.69 Damit bleibt die Identität des ursprünglichen Schuldverhältnisses trotz Umwandlung in ein Rückgewährschuldverhältnis und der damit einhergehenden Änderungen auf der Objektebene erhalten. cc) Kauf mit Umtauschvorbehalt Auch beim Kauf mit Umtauschvorbehalt, der vom Kauf auf Probe (§ 454 BGB) abzugrenzen ist,70 wird das Objekt des Schuldverhältnisses ausgetauscht, wenn der Berechtigte vom Umtauschrecht Gebrauch macht. Dieses Recht auf Lieferung einer anderen Sache (meist derselben Gattung) darf der Käufer nicht nur bei einem Sachmangel ausüben, sondern auf freien Entschluss hin. Relevant geworden ist diese Konstruktion in der Geschäftspraxis des Einzelhandels, wenn beispielsweise Textilien einem Dritten schenkweise überlassen werden sollen, dieser aber erst nach Anprobe entscheiden kann, ob er das entsprechende Kleidungsstück behalten möchte oder eine andere Größe oder Farbe vorzieht.71 Wird ein solches Recht vom Käufer oder einem Dritten ausgeübt, stellt sich die Frage, wie diese Vorgänge in eine juristische Konstruktion gefasst werden können. Lenel sah hierin zwei voneinan66 Stoll,
AcP 131 (1929), 141 (183 ff.). Die Wirkungen des vertragsgemäßen Rücktritts, zit. nach Wolf, AcP 153 (1954), 97 (103) (auch dort ohne Seitenangaben). 68 Vgl. hierzu die zustimmenden ausführlichen Beiträge von Leser, Der Rücktritt vom Vertrag, S. 150 ff.; Wolf, AcP 153 (1954), 97 (102 ff.). 69 Vgl. aus der Rechtsprechung BGHZ 88, 46 (48); 174, 290 (293); NJW 1990, 2068 (2069); 1994, 1161 (1162) und aus der Literatur Gaier, in: Münchener Kommentar zum BGB, vor § 346 Rn. 35; Kaiser, in: Staudinger, BGB, § 346 Rn. 69; a. A. im neueren Schrifttum ist wohl lediglich Lobinger, in: Soergel, BGB, Vor § 346 Rn. 13 ff. 70 Zur Abgrenzung siehe Mader / Schermaier, in: Staudinger, BGB, § 454 Rn. 10; Westermann, in: Münchener Kommentar zum BGB, vor § 454 Rn. 4. 71 Freilich gehen im Falle des Versandhandels regelmäßig die §§ 355 ff. BGB als lex specialis vor. 67 Stoll,
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der zu trennende Vorgänge, nämlich einerseits einen „Kauf des ursprünglichen Gegenstandes unter Vorbehalt des Rücktritts bei unversehrter Rückgabe, zweitens Kauf des Ersatzgegenstandes für den Fall des Rücktritts“72. Die Umtauschklausel ist für ihn also „ein Vorbehalt des Rücktritts unter der Doppelbedingung unversehrter Rückgabe der empfangenen Ware und des Kaufs einer anderen ungefähr gleichwertigen Ware“73. Allerdings sprechen gewichtige Argumente gegen die Annahme zweier voneinander getrennter Kaufverträge: Zunächst ist es nicht Intention der Parteien, eventuell neue Verhandlungen hinsichtlich eines Vertragsschlusses zu führen, weiterhin wird durch die Annahme eines einzigen Vertrages die Rechtsmacht des Gestaltungsberechtigten besser erfasst.74 Die herrschende Meinung nimmt deshalb beim Kauf mit Umtauschvorbehalt eine Ersetzungsbefugnis an,75 womit zugleich ausgesagt ist, dass der Austausch des Objekts unter Wahrung der Identität des Schuldverhältnisses durch diese Konstruktion möglich ist. Anhand dieser beiden Beispiele einer Änderung des Schuldverhältnisses auf Objektebene kann gesagt werden, dass auch die Objekte per se keinen identitätskonstituierenden Charakter hinsichtlich des Schuldverhältnisses haben.76 c) Änderung des Vertragstypus Bei der Untersuchung von Änderungen auf der Objektebene des Schuldverhältnisses ist deutlich geworden, dass diese Fragen bisweilen auch eng mit der Eigenart des Vertragstypus zusammenhängen können. Ändert sich das Objekt nämlich beispielsweise derart, dass statt eines Kaufgegenstandes nun die mietweise Überlassung einer Wohnung Objekt des Schuldverhältnisses ist, kann sich möglicherweise auch der Vertragstypus ändern. Und auch für die im Rahmen dieser Arbeit zentrale Frage der negativen Verzinsung spielt der Vertragstypus bzw. seine Änderung eine maßgebliche Rolle, da durch die Umkehr des Zahlungsstroms bei dem Übergang von positiver zu negativer Verzinsung unter Umständen ein anderer Vertragstypus realisiert sein könnte, um die neue Verteilung der Leistungspflichten juristisch adäquat zu erfassen. 72 Lenel,
JW 1926, 1791. JW 1926, 1791. 74 Mader / Schermaier, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 454 Rn. 5. 75 Mader / Schermaier, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 454 Rn. 5; Oertmann, SeuffBl 71 (1906), 685 ff.; Wertenbruch, in: Soergel, BGB, § 456 Rn. 20. 76 Im Ergebnis zustimmend Gernhuber, Das Schuldverhältnis, § 2 II 4; Gierke, Deutsches Privatrecht III, § 178 I; Hau, Vertragsanpassung und Vertragsänderung, S. 28; vermutlich auch Henle, Schuldrecht, § 111. 73 Lenel,
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aa) Der Begriff des Typus in der Wissenschaftsterminologie Nahezu jede Wissenschaftsdisziplin hat sich im Laufe der Zeit den Typusbegriff zu Eigen gemacht. Da gibt es den Datentyp in der Informatik, den Zykeltyp in der mathematischen Kombinatorik, den Prototyp in den Ingenieurswissenschaften, aber auch den Typus zur Charakterisierung spezifischer Merkmale, Eigenschaften, Verhaltensweisen oder einer speziellen Herkunft in den Sozialwissenschaften oder den Begriff des Archetypus in der analy tischen Psychologie eines C.G. Jung. Der Duden beschreibt den Typus mit den Synonymen „Urgestalt, Grundform, Urbild“ näher.77 Verwendet man den Begriff des Typus als wissenschaftlichen Terminus, ist also eine Präzisierung und Abgrenzung angesichts dieser Bedeutungsvielfalt unabdingbar. Wegweisende Forschungen zum Typusbegriff als Bestandteil wissenschaftlicher Methodik stammen von dem Soziologen und Juristen Max Weber78, der im juristischen Bereich eher durch seine rechtshistorischen und rechtssoziologischen Arbeiten Bekanntheit erlangt hat. Wenngleich seine Ausarbeitungen zum Typusbegriff eher soziologischer oder zumindest allgemein-wissenschaftstheoretischer Natur sind, können diese auch zur Erhellung des juristischen Typusbegriffs fruchtbar gemacht werden. Für Weber ist die Soziologie eine Wissenschaft, welche „soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“79. Doch die wissenschaftliche Betrachtung der komplexen sozialen Realität erfordert eine Methodik, die dieser Komplexität gerecht werden kann, ohne sie zu vereinfachen oder auszublenden. Dies ist – wie noch zu zeigen sein wird – auch für die Erfassung der „juristischen Realität“ wichtig. Weber stellt zunächst eine Hypothese auf, wie das Handeln der an einem gewissen Geschehen beteiligten Personen ausgesehen hätte, wenn diese rein zweckrational gehandelt hätten. Alle anderen Faktoren – Weber nennt hier irrationale und affektuell bedingte Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen und bezeichnet diese als „Ablenkungen“80 – werden also zunächst ausgeklammert. Das so abstrakt gebildete hypothetische Konstrukt ist für Weber der Idealtypus. Dieser Idealtypus ist also als Gedankengebilde zu begreifen, mit dessen Hilfe man der Fülle und Vielgestaltigkeit der (sozialen) Realität gerecht werden kann, indem man die unterschiedlichen Gegebenheiten leichter zu erkennen, zu analysieren, zu ordnen – und damit auch – zu verstehen imstande ist. 77 Vgl.
Duden, Stichwort „Typus“. bahnbrechenden Forschungen im Bereich der Soziologie lassen manchmal vergessen, dass Max Weber zunächst juristisch forschte und auch einen entsprechenden Lehrstuhl in Berlin innehatte. 79 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1. 80 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 2. 78 Seine
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Auch die Rechtswissenschaft hat sich den Begriff des Typus, auf Max Webers Vorstellungen eines Idealtypus fußend, zu Eigen gemacht. In seinem bekannten Beitrag aus dem Jahr 1952 hat Wolff mindestens vier unterschiedliche Verwendungsarten von Typen in der Rechtswissenschaft ausgemacht:81 – Die Typen der allgemeinen Staatslehre, der historischen und vergleichenden Rechtswissenschaft,82 – die allgemein-rechtlichen, in engerem Sinne juristischen Typen, – die strafrechtlichen Typen und die – steuerrechtlichen Typen. Für die vorliegende Untersuchung ist lediglich die zweite Kategorie maßgeblich. Auch im Zivilrecht, mithin im Schuldrecht, wird der Begriff des Typus verwendet, um die einzelnen Vertragsformen zu charakterisieren, die das BGB im achten Abschnitt seines zweiten Buches nennt. bb) Juristische Abgrenzung des Typus vom Begriff Den Begriff des „Typus“ als juristischen Terminus positiv zu bestimmen, erscheint zunächst wenig gewinnbringend. Viel einsichtiger wird die Definition, wenn sie ex negativo in Abgrenzung zum juristischen Terminus des „Begriffs“ erfolgt.83 So ging auch Engisch vor, der in seinem berühmt gewordenen Beitrag zur Konkretisierung im Recht davon sprach, dass allen denkbaren Auffassungen von Typen, so unterschiedlich sie für sich genommen auch sein mögen, die Auffassung zugrunde liege, dass „der Typus auf die eine oder andere Weise, aber auch: auf die eine und die andere Weise, ‚konkreter‘ ist als der Begriff“.84 Was ist aber dann mit dem Terminus des Begriffs gemeint? Am einsichtigsten lässt sich dies in diesem Rahmen für die 81 Wolff, 82 Vgl.
Studium Generale V (1952), 195 ff. hierzu vor allem die Ausführungen von Jellinek, Allgemeine Staatslehre,
S. 30 ff. 83 Der Streit um eine eher begrifflich-kategoriale oder eine typengeprägte Methodik ist nicht nur auf die juristische Disziplin beschränkt, sondern spielte in vielen Wissenschaftsdisziplinen zeitweise eine große Rolle, was freilich in der folgenden Untersuchung, die sich nur auf die Untersuchung typenlogischen Denkens im Vertragsrecht beschränken möchte, außer Acht bleiben muss; zur wissenschaftstheoretischen Fundierung des Typusbegriffs vgl. beispielsweise Hempel / Oppenheim, Typusbegriff im Lichte der neuen Logik, passim; grundlegend auch aus juristischer Per spektive: Kuhlen, Typuskonzeption in der Rechtstheorie, passim; Strache, Das Denken in Standards, passim. 84 Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, S. 262 (Hervorhebungen im Original).
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Einordnung einer Parteivereinbarung im Sinne eines schuldrechtlichen Vertrages beantworten. Ein begrifflich-kategorialer Ansatz strebt zu einer Qualifizierung der Vereinbarung nach einer „klaren klassifikatorischen Einordnung […] in das vorhandene Begriffsschema“85. Die hierbei dominierende Methodik ist die als Syllogismus praktizierte Subsumtion unter eine gesetzliche Norm mit einem fest vorgegebenen und als Legaldefinition des entsprechenden Vertrages verstandenen Wortlauts. Diese Legaldefinition wiederum umfasst verschiedene Merkmale, die alle erfüllt sein müssen, damit ein Vertrag als solcher gelten kann. Das Erkenntnisinteresse ist also auf ein „EntwederOder“ beschränkt.86 Kritik hat diese Auffassung vor allem deshalb erfahren, weil sie Phänomene wie einen gemischten oder einen dem Gesetz vollkommen fremden Vertrag nicht einzuordnen wusste.87 cc) Der Typusbegriff im Vertragsrecht Aufgrund dieser Defizite eines rein begrifflich-kategorialen Ansatzes zur Bestimmung einer Parteivereinbarung stellten andere Stimmen in der Literatur diesem Ansatz ein typologisches Verständnis des besonderen Vertragsrechts gegenüber.88 In den den entsprechenden Abschnitten des besonderen Vertragsrechts voranstehenden Normen sah man also nicht primär additiv verknüpfte Merkmale, die es sämtlich zu erfüllen galt, sondern „verkürzte Typenbeschreibungen“89 dergestalt, dass diese insoweit ein „elastisches Merkmalsgefüge“90 sein sollen, als einzelne Merkmale zwar vorliegen müssen, damit der vorliegende Vertrag unter die entsprechende Norm subsumiert werden kann, aber diese Merkmale, denen für sich genommen nur indizielle Bedeutung zukommt, in unterschiedlicher Intensität vorliegen und sich auch – freilich nur in bedingtem Maß „wechselseitig vertreten“91 können. 85 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 21 f. Diese Vorgehensweise hat vor allem durch die dominierende juristische Methodik im 19. Jahrhundert Eingang in unser Recht gefunden. Stoffels nimmt im Rahmen dieser Epoche den Begriff der „Begriffsjurisprudenz“ wieder auf. Wegen seiner pejorativen Konnotation soll er allerdings im Folgenden vermieden werden. 86 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 22. 87 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 448, Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 133. 88 Vgl. hierzu vor allem die Beiträge von Larenz, ARSP XXXIV [1940 / 41], 20 ff.; Leenen, Typus und Rechtsfindung, v. a. S. 118 ff. m. w. N. 89 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 23, vgl. auch Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 448 f. 90 Leenen, Typus und Rechtsfindung, 34 in Rückgriff auf Hempel / Oppenheim, Typusbegriff im Lichte der neuen Logik; sowie Larenz, ARSP XXXIV [1940 / 41], 20 ff. 91 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 23.
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Diese Ansicht korrespondiert mit der oben herausgearbeiteten Vorstellung der möglichen „Ablenkungen“ vom Idealtypus im Sinne Max Webers. Zu demselben Ergebnis kommt auch Larenz, wenn er sagt, dass der Typus das in sich aufnehme, was der abstrakt-allgemeine Begriff nicht aufzufassen imstande sei, nämlich „den Sinn, d. h. die funktionale Bedeutung des Einzelnen im Ganzen und die übergreifende Idee einer Lebenserscheinung oder Gestalt“92. Entscheidend ist also das Gesamtbild des Vertrages. Einzelne Merkmale können durch verschiedene Ausprägungen unterschiedliche Akzentuierungen hervorrufen. dd) Das Verhältnis von Vertragstypologie und Typenfreiheit vor Inkrafttreten des BGB Ist damit in groben Zügen herausgearbeitet, was mit dem Begriff des Vertragstypus gemeint ist, steht nun noch eine Klärung des Verhältnisses von Vertragstypologie und Vertragsfreiheit aus. Das BGB enthält hierzu keine klare Regelung. § 311 Abs. 1 BGB besagt lediglich, dass zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich ist, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. Da auch die systematische und teleologische Betrachtung zu einer Klärung dieser Frage nicht beitragen kann, soll erneut der Fokus auf die historische Entwicklung gelegt werden, um im Rahmen einer historischen Auslegung zu erhellen, auf welche Grundlagen bzw. auf welches Grundverständnis der Gesetzgeber bei Entstehung des BGB zurückgegriffen hat. Im römischen Obligationenrecht gab es aufgrund der Vorgefasstheit der für die actiones notwendigen formulae keine allgemeine Vertragsklage, vielmehr herrschte das „Prinzip der Typengebundenheit“.93 Dies führte in der Praxis zu unbefriedigenden Ergebnissen: Wer innerhalb eines nicht anerkannten Vertragstypus zwar seine Leistung erbracht hatte, jedoch die Gegenleistung von seinem Vertragspartner abredewidrig nicht erhielt, konnte nicht auf Erfüllung klagen, sondern lediglich seine eigene Leistung zurückfordern (condictio ob causam datorum).94
92 Larenz,
ARSP XXXIV [1940 / 41], 20. hierzu Kaser, Das römische Privatrecht I, S. 484; Kaser / Knütel / Lohsse, Römisches Privatrecht, § 33 Rn. 2 f. 94 Honsell / Mayer-Maly / Selb, Römisches Recht, S. 340, 354; Kaser, Das römische Privatrecht I, S. 580. 93 Näher
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Bereits Ulpian stellte im 3. Jhd. n. Chr. fest, dass es in der Natur der Sache liege, „dass es in der Wirklichkeit mehr vertragliche Rechtsgeschäfte als Worte dafür“95 gebe. Die mit dem wirtschaftlichen Aufschwung des römischen Reiches verbundene Zunahme an Rechtsgeschäften hatte offenbar zu der Erkenntnis geführt, dass die bestehenden Vertragstypen nicht ausreichten, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden.96 War nun für einen Kläger nicht eindeutig, welche Art von Klage er erheben sollte, weil der Vertragstypus entweder nicht klar oder nicht anerkannt war, ergab sich das Risiko, mit der Klage abgewiesen zu werden. Für solche Fälle des Subsumtionsrisikos entstanden nach und nach eigene Klageformen.97 In nachklassischer Zeit98 hat die römische Jurisprudenz all diejenigen Verträge, die sich unter keinen der anerkannten Vertragstypen subsumieren ließen, als „namenlose Verträge“, sog. Innominatkontrakte, zusammengefasst.99 Anders als in der klassischen Zeit stand nun auch für diese Vertragsformen, wenn bereits ein Vertragspartner geleistet hatte, eine Erfüllungsklage zur Verfügung, die sog. actio praescriptis verbis.100 Das prosperierende und sich immer weiter ausdifferenzierende römische Wirtschaftsleben führte also dazu, dass sich das zunächst herrschende starre 95 Ulp.
D. 19, 5, 4 (Übersetzung von Behrends / Knütel / Kupisch / Seiler). gab es beispielsweise die locatio conductio, deren einzelne Formen nicht klar unter einen Vertragstypus subsumiert werden konnten oder auch schon Formen gemischter Verträge, vgl. hier zu anstatt vieler Honsell / Mayer-Maly / Selb, Römisches Recht, S. 341 m. w. N. 97 Beispielsweise die acio aestimatoria beim sog. Trödlervertrag, bei dem zuvor nicht klar gewesen war, ob eine actio venditi oder eine actio locati einschlägig ist, vgl. Ulp. D. 19, 3, 1. 98 Eine Korrektivfunktion hatte prozessrechtlich auch insoweit zuvor schon bestanden, als dem Richter die Möglichkeit einer Korrektur im Rahmen der bona fides möglich war. Hierdurch konnte der Richter sachlich angemessen entscheiden, indem er nicht an dem Wortlaut der Verträge und Gesetze zu haften verpflichtet war, sondern sie „gemäß ihrer wahren Bedeutung […] auszudehnen […] [oder] einzuschränken“ imstande war (Leonhard, Schuldrecht, S. 68; siehe auch Leenen, Typus und Rechtsfindung, S. 125; Schwarz, AcP 152 (1952), 193 (199, 206). 99 Schon dieser frühe Befund bestätigt – das sei nur nebenbei festgestellt – die These Karl Larenz, der konstatierte, dass alle Schuldvertragstypen nicht Produkte der Rechtswissenschaft seien, sondern ihre Entstehung dem Rechtsverkehr verdanken würden, dass der Gesetzgeber diese also „nicht ‚erfunden‘, sondern ‚gefunden‘ [hat], sofern er sie nicht einfach aus der rechtlichen Überlieferung übernommen hat“ (Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 448). 100 Die Innominatkontrakte gehören zu den umstrittensten Fragen der römischen Rechtsgeschichte. Im Einzelnen ist hier in der Forschung vieles unklar. In dieser Arbeit wurden einzelne Streitstände bewusst außer Acht gelassen. Die Darstellung folgt der heute wohl herrschenden Meinung, die u. a. zusammengefasst wird von Honsell / Mayer-Maly / Selb, Römisches Recht, S. 340 ff. 96 Hierzu
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Prinzip der Typengebundenheit im römischen Kontraktsystem in klassischer und nachklassischer Zeit immer weiter flexibilisierte, sodass man mit Blick auf die Innominatverträge und die hierauf beruhende Klagemöglichkeit fast schon von einem Prinzip der Vertragstypenfreiheit sprechen kann. Dieses spätrömische Verständnis der Vertragstypen, das schon fast „bis an die Grenze der Vertragsfreiheit“101 reichte, erfuhr in der zur Zeit der Aufklärung wiederaufblühenden Naturrechtslehre eine entscheidende Weiterent wicklung:102 Bereits Hugo Grotius, für den der Vertrag die natürlichste Ausdrucksform menschlicher Verpflichtung war,103 erachtete „alle Verträge, ohne Unterschied zwischen benannten und unbenannten, für vollkommen rechts verbindlich“104. Waren diese Ausführungen Grotius’ noch Bestandteil eines eher völkerrechtlichen Werkes, so leistete erst Samuel Pufendorf die dogmatische Einbettung dieses Gedankens in das Vertragsrecht. In seinem Werk De iure naturae et gentium systematisierte er zwar die üblicherweise in Betracht kommenden Vertragsarten nach ihrer Interessenstruktur und ihrem wirtschaftlichen Leistungsinhalt,105 betonte aber zugleich, dass es „jedes freien Willen [sei], welcherlei Bündnisse jedweder eingehen“ wolle,106 ganz unabhängig davon, ob die Verpflichtung nützlich sei. Auch Christian Thomasius systematisierte die Vertragsarten, vertrat jedoch ebenfalls die Auffassung, dass alle pacta einklagbar, die Vertragsparteien deshalb an keinen Vertragstypus ge-
101 Honsell / Mayer-Maly / Selb, Römisches Recht, S. 344; Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 54. 102 Nicht zu vernachlässigen ist der Einfluss der mittelalterlichen Kanonisten, die in dieser Arbeit allerdings ausgeklammert bleiben sollen. Zu nennen wären hier die Kanonisten Teutonicus und Gofredus, die beide das formlose pactum nudum als verbindlich ansahen, vgl. hierzu Dilcher, ZRG Rom. Abt. 77 (1960), 270 ff. m. w. N. Ausgangspunkt war wohl, dass aufgrund des biblischen Eidesverbots (v. a. Jak 5, 12; Mt 5, 33 ff.) ein Bedürfnis danach bestand, dass auch nicht-beeidete Versprechen für verbindlich und einklagbar anzusehen sind (zu diesem Zusammenhang s. a. MayerMaly, ZRG Rom. Abt. 108 (1991), 213 f.). Hierin ist auch – historisch gesehen – der Anbeginn der modernen Vertragsfreiheit zu erblicken, vgl. Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, Rn. 151; Landau, Einfluss des kanonischen Rechts auf die europäi sche Rechtskultur, 39 (55). 103 Grotius, De iure belli ac pacis, Praefatio, 15. 104 Grotius, De iure belli ac pacis, Zweites Buch, 12. Kapitel, III 3 (Übersetzung von Schätzel). Dies ist hier nur sehr reduzierend dargestellt, zum allgemeinen Vertragsbegriff bei Grotius siehe vor allem Lipp, Die Bedeutung des Naturrechts für die Ausbildung der Allgemeinen Lehre des deutschen Privatrechts, S. 133 ff.; Tosch, Entwicklung und Auflösung der Lehre vom Vertrag, S. 15 ff. 105 Wieacker, in: FS Welzel, S. 14 f.; zustimmend Tosch, Entwicklung und Auflösung der Lehre vom Vertrag, S. 28 ff., der zugleich in Pufendorfs Werk ein erstes Vorbild für spätere schuldrechtliche Kodifikationen erblickt. 106 Pufendorf, 3. Buch. IV § 1 (Übersetzung von Hert).
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bunden und folglich bei der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Verträge vollkommen frei seien.107 Diese Neuorientierung spiegelte sich auch in den Naturrechtskodifikationen des 18. und 19. Jahrhunderts wieder. So war es im vom Grundsatz des Konsensprinzips geprägten Codex Maximilianeus Bavaricus von 1756 möglich, durch besondere Abreden unbenannte Verträge zu schließen,108 wobei jede Art von Vereinbarung verbindlich und einklagbar war,109 weshalb davon ausgegangen werden kann, dass bereits im Codex Maximilianeus Bavaricus (1756) das Prinzip der Typenfreiheit herrschte.110 Im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) wurde die Vertragsfreiheit bereits vorausgesetzt.111 Aus den Materialien kann man hinsichtlich der Bedeutung der Vertragstypen entnehmen, dass „Rechte und Verbindlichkeiten bei Kaufverträgen [darauf] beruhen, so wie bei allen anderen Verträgen […], was die Contrahenten, der Käufer und der Verkäufer […] festgesetzt haben“112 und „die gesetzlichen Bestimmungen, soweit solche kein Verbotsgesetz enthalten, durch Verabredung der Parteien abgeändert werden können“113. Der französische Code Civil (1804) brachte diesen Gedanken inhaltlich noch pointierter zum Ausdruck, wenn er davon sprach, dass die im Einklang mit dem Gesetz stehenden Verträge diesbezüglich die Gesetze er107 Luig, in: FS Coing, S. 196 m. w. N. aus dem Werk des Thomasius, zustimmend Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 60. Diesem Verständnis des Vertrages und der Vertragsfreiheit folgt im Wesentlichen auch Christian Wolff in seinem Werk Ius naturae methodo scientifica pertractorum, mit dem dogmatischen Unterschied, dass für Wolff die Inhaltsfreiheit bereits im Vertragsbegriff enthalten ist, vgl. Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert, S. 169; Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 61. 108 Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum civilem IV, 2. Kapitel, § 1 Nr. 2 a. E. (S. 99). 109 Seuffert, Geschichte der obligatorischen Verträge, S. 165 f.; Stoffels, Gesetz liche nicht geregelte Schuldverträge, S. 63. 110 Nanz, Die Entstehung des allgemeinen Vertragsbegriffs im 16. bis 18. Jahrhundert, S. 174; zustimmend Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 63. 111 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 332 f.; dies war vor allem deshalb so wichtig, da das ALR nach dem Willen seiner Verfasser ein – in den verschiedensten Bereichen – „Grundgesetz der Freiheit“ sein sollte, vgl. Hattenhauer, Einleitung zum Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, S. 17 f. 112 Dies ist eine Stellungnahme des Rechtsgelehrten Tevenars, die deshalb so von Bedeutung ist, weil sich wegen des Kommentierungsverbotes (§ 6 Einl. ALR) wenige wissenschaftliche Stellungnahmen finden lassen. Die Stellungnahme Tevenars findet sich in Materialien, XXIX, Fol. 77; zitiert nach Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 65. 113 So eine entsprechende Norm des Ersten Entwurfs, siehe § 231, Materialien XXVIII, Fol. 252; zitiert nach Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, S. 65.
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setzen würden.114 Als Orientierungshilfe wegen des oftmals nur schwer festzustellenden Willens der Parteien würden jedoch bestimmte legaldefinierte Vertragstypen als „Musterbilder der häufigsten Verträge“ zur Verfügung stehen.115 Im deutschen Sprachraum ging auch das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie (1811) so weit und erklärte in § 878 ABGB, dass „über Alles, was im Verkehre steht, […] Verträge geschlossen werden“ können. Franz von Zeiller, der als Schöpfer des ABGB von 1811 gilt, hielt es für die Aufgabe des Gesetzgebers, dass er einerseits die „bekannteren“ Arten von Verträgen legaldefiniere und die „wesentlichen Rechte und Verbindlichkeiten zu Jedermanns Kenntnis ableiten“ müsse und dass er andererseits aufgrund der Unklarheit mancher vertraglicher Begrifflichkeiten gewisse „gesetzliche Vermutungen“ aufstellen müsse, damit für den Fall, dass sich die Parteien hierüber nicht geeinigt haben, den Gerichten „zur Beseitigung der Willkühr und widerstreitenden Urtheile [sic!]“ eine Entscheidungshilfe zur Verfügung stehe, was zwar letztlich eine willkürliche Entscheidung bzw. Wertung des Gesetzgebers sei, diese aber deshalb hinzunehmen sei, „weil es doch immer den Partheien [sic!], welchen die gesetzliche Vermutung bekannt gemacht wird, überlassen bleibt, es auf andere Weise zu bestimmen“.116 Die Regelungen über die einzelnen Vertragstypen sind hiernach also nur Entscheidungshilfen bei unklarer Regelung der Vertragspartner und dienen damit letztlich nur der Rechtssicherheit.117 In allen großen Privatrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts lässt sich also die vollständige Überwindung des römischen Typenzwangs beobachten. Im Einklang mit dem Freiheitsideal der Aufklärung wurden die Vertragsfreiheit und damit auch die Vertragstypenfreiheit zu Eckpfeilern der Schuldvertragsordnung. Dadurch entstand ein Spannungsverhältnis zwischen der Vertragstypenfreiheit und der gesetzlich geregelten Vertragstypenordnung, da diese „formal fortgeführt“118 wurde. In allen Kodifikationen lässt sich indes der Primat der Vertragstypenfreiheit erkennen. Charmatz spricht von „bloße[n] Musterbilder[n] des typischen Parteiwillens“.119 Noch prägnanter 114 C.
civ. Art. 1134. Zur Geschichte und Konstruktion der Vertragstypen im Schuldrecht,
115 Charmatz,
S. 152 f. 116 Abgedruckt in Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches II, S. 2 f. 117 Charmatz spricht davon, dass Vertragstypen für von Zeiller nur „Auslegungsregeln“ seien, vgl. Charmatz, Zur Geschichte und Konstruktion der Vertragstypen im Schuldrecht, S. 202. 118 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 68. 119 Charmatz, Zur Geschichte und Konstruktion der Vertragstypen im Schuldrecht, S. 347.
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bringt Stoffels die Entwicklung zum Ausdruck: „Die gesetzlichen Vertragstypen sind Angebote und keine Gebote“.120 Diese Gedanken führte die Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts noch weiter. Friedrich Carl von Savigny sah im Gesetzesrecht prinzipiell nur die „Ergänzung einer mangelhaften Willensbestimmung“.121 Das Prinzip der Typengebundenheit des römischen Rechts wurde also bis ins 19. Jahrhundert hinein immer mehr durch das Prinzip der Typenfreiheit verdrängt. ee) Vertragstypologie und Vertragsfreiheit in den Entwürfen zum BGB Einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwürfe des BGB übte das 1865 in Kraft getretene Bürgerliche Gesetzbuch für das Königreich Sachsen als „letzte geschlossene territoriale Privatrechtsordnung“122 vor dem Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch aus. Der im zweiten Buch über „Das Recht der Forderungen“ enthaltene § 782 konstituierte das schon in den früheren Rechtsordnungen herausgearbeitete Konsensprinzip und bestimmte: „Durch Vertrag entstehen Forderungen, wenn der übereinstimmende und gegenseitig erklärte Wille Mehrerer auf Begründung einer Forderung gerichtet ist“. In deutlicher Abkehr von der römischen stipulatio war allein der übereinstimmende Wille der Beteiligten Entstehungsvoraussetzung gleich welcher Obligation.123 Da ein einheitliches Obligationenrecht, wie es das Sächsische Bürgerliche Gesetzbuch zeigte, offensichtlich möglich war, beschloss auch der Deutsche Bund eine solche Ausarbeitung. Die 1862 eingesetzte Kommission nahm 1863 ihre Arbeit auf und präsentierte 1866 der Bundesversammlung den „Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse“, den sog. Dresdner Entwurf.124 Wenngleich dieser Entwurf aufgrund des 1866 stattfindenden Deutschen Krieges und der mit dem Prager Frieden einherge120 Stoffels,
Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 69. System des heutigen Römischen Rechts I, S. 59; die Pandektistik nach Savigny folgte dieser Eischätzung, vgl. Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 70 ff. m. w. N. Puchta schreibt dazu, dass „die Zahl der einzelnen Obligationsfälle […] so unbeschränkt und unbeschlossen [ist] als die Bedürfnisse und Gestaltungen des Verkehrs selbst, aus denen ihre Mehrheit und Verschiedenheit sich herschreibt […]“ (Puchta, Pandekten, § 218), was sehr an Ulpian erinnert (s. o. § 3 Fn. 95). 122 Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, § 7 II 1. 123 Vgl. hierzu die Materialien des Sächsischen Bürgerlichen Gesetzbuches, in: Siebenhaar / Pöschmann, Commentar zu dem bürgerlichen Gesetzbuche für das Königreich Sachsen II, S. 83 f. 124 Vgl. hierzu auch Hedemann, Der Dresdner Entwurf von 1866, S. 30 ff. 121 Savigny,
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henden Auflösung des Deutschen Bundes nicht mehr kodifiziert wurde, war er doch Grundlage des Ersten Entwurfs des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1887. Inhaltlich ist für den hier interessierenden Themenbereich besonders ein Punkt hervorzuheben: Zwar wurde „allein […] die freie Bewegung des Willens“ als „Grundprinzip des heutigen Obligationenrechts“ anerkannt,125 dennoch fehlte eine dem § 782 des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Sachsen entsprechende Vorschrift. Aus den Protokollen geht jedoch hervor, dass deshalb keinesfalls das Konsensprinzip aufgegeben oder das formale Vertragstypensystem aufgewertet werden sollte, sondern dass das Konsensprinzip und die Vertragstypenfreiheit bereits so im Denken der Beratenden manifestiert waren, dass eine Erwähnung dieser allgemeinen Grundsätze „lediglich nicht mehr als besonders hervorhebenswert betrachtet wurde“126. Dies zu erwähnen ist deshalb wichtig, weil man auch in der heutigen Zivilrechtsordnung und deren Materialien vergeblich nach einer Bestimmung sucht, die eine Aussage zum Verhältnis zwischen Vertragstypenfreiheit und dem gesetzlich manifestierten Typenkatalog trifft. Wie eben gezeigt, lässt sich hieraus allerdings kein Rückschluss insoweit ziehen, als die Vertragstypenfreiheit nicht mehr als wichtig angesehen worden wäre. Vielmehr war sie so im Denken des Gesetzgebers vorhanden, dass er sie zu regeln als überflüssig ansah. In den Motiven zum Ersten Entwurf des BGB aus dem Jahr 1887 findet sich hinsichtlich der Bedeutung der Vertragsfreiheit dann vor allem folgende Aussage: „Auch in dem mit einzelnen Rechtsgeschäften sich befassenden Theile [sic!] des Entwurfs sind selbstverständlich nicht alle denkbaren Verträge normirt [sic!]. Dies wäre bei der Vielgestaltigkeit der Verkehrsbeziehungen an sich unmöglich. Vermöge des Prinzips der Vertragsfreiheit […] können die Parteien ihre Rechts- und Verkehrsbeziehungen nach ihrem Ermessen mit obligatorischer Wirkung unter sich bestimmen, soweit nicht allgemeine oder bestimmte einzelne absolute Gesetzesvorschriften entgegenstehen […]“.127
Auch hier wird also eindeutig anerkannt, dass aufgrund der Vielgestaltigkeit des Wirtschaftslebens eine Normierung aller in Betracht kommenden Vertragstypen nicht möglich ist. Der Erste Entwurf ging von einem eindeutigen Vorrang des Konsensprinzips aus und stellte die schuldrechtliche Vereinbarung in das Ermessen der Parteien, ohne dass durch diese Parteivereinba125 Protocolle der Commission zur Ausarbeitung eines Allgemeinen Deutschen Obligationenrechtes VI, 315. Sitzung, S. 4572 f. 126 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, § 3 Fn. 193, der dies zu Recht aus den Aufzeichnungen in den Protokollen folgert (vgl. beispielsweise Protocolle der Commission zur Ausarbeitung eines Allgemeinen Deutschen Obligationenrechtes I, 18. Sitzung, S. 165 f.). 127 Motive zu dem Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches, II, S. 2.
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rung ein bestimmter Vertragstypus erfüllt sein musste. Da erscheint es auf den ersten Blick umso merkwürdiger, dass der Erste Entwurf dennoch eine gewisse Vertragstypenordnung vorgab. Über das Verhältnis der aus dem Konsensprinzip resultierenden Vertrags(typen)freiheit und der gesetzlichen Vertragstypenordnung schweigen allerdings Normtext, Motive und Protokolle.128 Mit Blick auf die eben dargestellte historische Entwicklung folgert Stoffels daraus zu Recht, dass die Entwurfsverfasser diese Verhältnisfrage für geklärt hielten, „und zwar im Sinne der pandektistischen Doktrin vom Vorrang des Parteiwillens und der bloß ergänzenden Reservefunktion des gesetzlichen Vertragsrechts“.129 Die sehr weitgehende Typenfreiheit wurde vor allem wegen des Fehlens sozialer Schutzvorschriften in der Literatur bisweilen kritisiert.130 Diese Bedenken fanden auch Eingang in den Zweiten Entwurf von 1895, in dem zwingende Schutzvorschriften bei einzelnen Vertragstypen eingeführt wurden. Wie diese Neuerung zu bewerten ist, wurde und wird in der Literatur kontrovers beurteilt: Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Vertragsfreiheit denknotwendig insoweit eingeschränkt wird, als durch eine Parteivereinbarung nicht ein Vertrag gleichen Inhalts, nur ohne die entsprechende Schutzvorschrift, abgeschlossen werden kann. Für Charmatz liegt deshalb hier ein „engerer Zusammenhang zwischen ‚Begriff‘ und Rechtsfolge“ vor.131 In den Gesammelten Materialien findet sich eine Rede des Generalreferenten Planck, in der dieser betont, dass das gesamte Obligationenrecht in „jeder Zeile“ versuche, „soweit es mit Gerechtigkeit und Billigkeit vereinbar ist, den sozial Schwachen, den wirtschaftlich Schwachen zur Hülfe [sic!] zu kommen“.132 Charmatz sieht in dieser neuen Schutzdimension einen Bedeutungswandel,133 Stoffels und Sigulla lediglich einen „Funktionszuwachs“.134 Die beiden Begriffe 128 Siehe auch Charmatz, Zur Geschichte und Konstruktion der Vertragstypen im Schuldrecht, S. 229, der feststellt, dass dieses Problem auch in den zeitgenössischen Kritiken nicht erwähnt wird. Ein Indiz für eine fehlende dogmatische Auseinandersetzung mit diesem Aspekt mag auch der Befund sein, dass die Regelungsgruppen der einzelnen Vertragstypen ohne jede erkennbare Systematik aneinandergereiht sind, so auch Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, S. 223 („in ziemlich bunter Reihenfolge behandelt“). 129 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 82. 130 Hervorzuheben sind hier beispielsweise Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, S. 150 ff.; Weber, Rechtssoziologie, S. 203 ff. 131 Charmatz, Zur Geschichte und Konstruktion der Vertragstypen im Schuldrecht, S. 349. 132 Mugdan, Bd. I, S. 884 f. 133 Charmatz, Zur Geschichte und Konstruktion der Vertragstypen im Schuldrecht, S. 349 f. 134 Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 85, der sich im Wesentlichen auf Sigulla, Vertragstypologie und Gesetzleitbilder, S. 97 ff., bezieht.
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sind m. E. nicht trennscharf verwendet, denn ein Funktionszuwachs bedeutet immer auch einen Bedeutungswandel. Viel wichtiger erscheint der Aspekt, dass die Vertragsfreiheit und auch die Vertragstypenfreiheit an der Stelle ihre Grenze finden müssen, an der der Gesetzgeber aus Verkehrsschutzgründen eine zwingende Entscheidung zugunsten oder zulasten einer der Parteien getroffen hat. Das im 19. Jahrhundert schon herrschende Prinzip der Typenfreiheit wurde also in den Entwürfen des BGB insoweit berücksichtigt, als das Konsensprinzip zu einem wesentlichen Eckpfeiler des Vertragsrechts wurde, wenngleich eine gewisse Vertragstypenordnung dennoch in das BGB ausgenommen werden sollte. Aus dem Fehlen einer Vorschrift zum Verhältnis zwischen Vertragstypenordnung einerseits und Vertragstypenfreiheit andererseits kann gefolgert werden, dass die Entwurfsverfasser diese Frage für geklärt hielten und von einem Vorrang des Parteiwillens ausgingen. ff) Vertragstypologie und Vertragsfreiheit in der heutigen Zivilrechtsordnung Die gegenüber dem Zweiten Entwurf mit nur unwesentlichen Änderungen und am 1. Januar 1900 in Kraft getretene Fassung des BGB von 1896 hält daran fest, die Inhaltsfreiheit nicht positivgesetzlich zu normieren. Einziger Anknüpfungspunkt ist § 305 BGB a. F. (heute § 311 BGB), wonach eine zur Begründung eines Schuldverhältnisses durch Rechtsgeschäft sowie zur Änderung des Inhalts eines Schuldverhältnisses ein Vertrag zwischen den Beteiligten erforderlich ist, soweit nicht das Gesetz ein anderes vorschreibt. In dieser Vorschrift sieht die allgemeine Meinung die Vertragsfreiheit kodifiziert.135 Die schuldrechtliche Vertragsfreiheit umfasst – chronologisch betrachtet – die Abschlussfreiheit, die Freiheit inhaltlicher Gestaltung und die Beendigungsfreiheit.136 Die für die vorliegende Arbeit maßgebliche Vertragstypenfreiheit unterfällt der Freiheit inhaltlicher Gestaltung. An die im besonderen Teil des Schuldrechts normierten Vertragstypen sind die Parteien nicht gebunden, sie können die vom Gesetz vorgeschlagenen Arten ändern, mischen oder sich ganz von ihnen lösen und sich über einen im Gesetz nicht 135 Dilcher, NJW 1960, 1040; Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 311 Rn. 1; Larenz, Schuldrecht I, § 4; Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 4; Martinek, Moderne Vertragstypen I, § 2 I 2; Siber, Schuldrecht, S. 177 mit jeweils weiteren Nachweisen. 136 Begrifflich ist die Literatur hier sehr uneinig, manche fassen die Formfreiheit als Bestandteil der Inhaltsfreiheit auf, andere fassen die Beendigungsfreiheit als Bestandteil der negativen Abschlussfreiheit auf, vgl. beispielsweise die unter § 3 Fn. 135 genannten. Die genauen begrifflichen Differenzierungen sind für die vorliegende Untersuchung unerheblich.
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geregelten und insoweit „neuen“ Typus einigen (auch Vertragserfindungsrecht137 genannt).138 Hatte also angesichts einer so umfassenden Vertragstypenfreiheit von Zeiller Recht, wenn er schon vor Entstehen des BGB mit dem Gedanken spielte, dass die Kodifikation eines Typenkataloges eigentlich unnötig sei?139 Auf den ersten Blick mag ihm Recht gegeben werden, allerdings sprechen bedeutende praktische Gründe für die Unverzichtbarkeit zumindest einer gewissen Kategorisierung und Normierung der im Wirtschaftsleben häufig anzutreffenden Vertragsarten als Typen. Nach der hier vertretenen Auffassung sind dies vor allem vier Gründe: Nur bei wirtschaftlich eminent wichtigen Rechtsgeschäften im Unternehmensverkehr ist es vorstellbar, dass die Parteien alle Fragen, zu denen das Besondere Schuldrecht Stellung nimmt, im Einzelnen auszuhandeln und auszuformulieren gewillt sind. Der Großteil der vertraglichen Regelungen wird unvollständig sein, sodass es aus Gründen der Rechtssicherheit140 im Zweifelsfalle einer gesetzlichen Regelung als Entscheidungshilfe bedarf. Zum Zweiten dient es der Rechtssicherheit im Sinne der materiellen Gerechtigkeit, wenn wesentlich Gleiches auch gleich behandelt wird. Hierzu benötigt insbesondere die Justiz gesetzlich normierte Vertragstypen, um die in der Praxis vorkommenden Parteivereinbarungen zuverlässig und in einem gewissen Maße gleich einordnen zu können. Zum dritten kann auch das Recht der AGB nur dann seine Schutzwirkung entfalten, wenn eine unangemessene Benachteiligung bei einer Bestimmung vorliegt, die mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Die zuverlässige Feststellung solcher wesentlicher Grundgedanken einer gesetzlichen Regelung erscheint nur dann als möglich, wenn das Gesetz auch einen gewissen Idealtypus vorgibt. Viertens kann davon ausgegangen werden, dass die Parteivereinbarung bisweilen nicht nur unvollständig, sondern auch bruchstückhaft und hinsichtlich ihrer juristischen Terminologie unzureichend sein wird, Terminus verwendet beispielsweise Roth, AcP 190 (1990), 292 (309). diese drei Ausprägungen der Vertragsytypenfreiheit vgl. Larenz, Schuldrecht I, § 4 II, Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 30 f.; Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 86 f. 139 Freilich im Rahmen seiner Überlegungen zur Entstehung des ABGB; abgedruckt in Ofner, Der Ur-Entwurf und die Berathungs-Protokolle des Österreichischen Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches II, S. 2 f.; in diese Richtung geht prinzipiell auch Larenz, Schuldrecht I, § 7 IV 4. 140 Hier wird etwas reduzierend der Zweck der dispositiven gesetzlichen Regelungen im Verkehrsschutzbedürfnis gesehen. V.a. Ehrlich hat weitere Funktionen dispositiven Rechts herausgearbeitet, insbesondere die Beschränkung richterlicher Willkür und die Schaffung von Vorhersehbarkeit innerhalb des Rechtssystems durch Vergleichbarkeit, siehe hierzu Ehrlich, Das zwingende und nichtzwingende Recht im Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, S. 42 ff. 137 Diesen 138 Über
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weshalb es einer Vertragstypenordnung bedarf, die Ergänzungshilfe ist, indem sie Musterbilder eines Vertrages vorgibt. Die oben gestellte Frage nach dem Konkurrenzverhältnis zwischen Vertragsfreiheit und der gesetzlichen Vertragstypenordnung ist nach alledem aus dem rechtshistorischen Argument eindeutig zu beantworten: Die von den Parteien privatautonom getroffene Vereinbarung ist vorrangig. Nur falls diese an Defiziten141 – gleich welcher Art – leiden sollte, ist eine der (dispositiven!) gesetzlichen Regelungen heranzuziehen.142 gg) Der Vertragstypus als identitätskonstituierendes Kriterium? Auf dieser Grundlage kann die Ausgangsfrage, ob der Vertragstypus identitätskonstituierendes Merkmal eines Schuldverhältnisses ist, eindeutig beantwortet werden: Das BGB geht in seiner Konzeption von dem Vorrang der Parteivereinbarung und von einer Subsidiarität des Vertragstypus aus. Somit würde es die Privatautonomie der Vertragspartner zu stark einschränken, wenn man den Vertragstypus als identitätskonstituierendes Kriterium eines Schuldverhältnisses begreifen würde. Entscheiden sich die Parteien zu einer identitätswahrenden Änderung und ändert sich dabei (zufällig) auch der Vertragstyp, ist dies grundsätzlich unerheblich. Aus der Konzeption der Vertragstypologie im BGB folgt aber eine Einschränkung dieses Grundsatzes, die besonders in der Diskussion um die sozialschützende Funktion zwischen dem Ersten und Zweiten Entwurf deutlich wurde. Die Vertragstypenfreiheit muss dann eine Grenze finden, wenn durch das Schaffen eines neuen Typus oder durch die Änderung des Typus gesetzliche Normen umgangen werden, die vom Gesetzgeber zum Schutz der (wie auch immer) schwächeren Partei aufgestellt wurden, wozu nicht nur die Schutzvorschriften des Besonderen Teils des Schuldrechts, sondern auch die des Allgemeinen Teils des BGB zu zählen sind (insb. §§ 134, 138, 242 BGB). Dies ist aber eine Frage des Einzelfalls. Weiterhin wurde herausgearbeitet, dass die Typenkonzeption im Buch der Schuldverhältnisse nicht begrifflich-kategorial aufzufassen ist in dem Sinne, dass immer alle Merkmale einer Legaldefinition vorliegen müssten, um den Vertrag unter die entsprechende Norm subsumieren zu können. Entscheidend 141 Der Begriff des Defizits ist m. E. hier am treffendsten, denn er umfasst gleichsam unzureichende privatautonome Vereinbarungen i. S. (bewusst oder unbewusst) nicht geregelter Aspekte, aber gleichsam auch Ungleichheiten hinsichtlich der Schutzwürdigkeit einer der Parteien von solcher Maßgeblichkeit, dass sich der Gesetzgeber für eine zwingende Schutzvorschrift entschieden hat. 142 Dilcher, NJW 1960, 1040; Stoffels, Gesetzliche nicht geregelte Schuldverträge, S. 87.
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ist, dass das in diesen Normen skizzierte Gesamtbild des Vertrages erfüllt wird, was aber wiederum immer eine Entscheidung des Einzelfalles ist. Der Vertragstypus ist damit ein viel zu unbestimmter Parameter, um generell als identitätskonstituierendes Merkmal dienen zu können. d) Die Änderung der rechtlichen Grundstrukturen Als letzter objektiver Parameter eines Schuldverhältnisses kommt dessen rechtliche Grundstruktur in Betracht. Als rechtliche Grundstrukturen sollen im Folgenden die Einteilung von Verbindlichkeiten bzw. Verträgen in kausale oder abstrakte Verbindlichkeiten bzw. einseitig, unvollkommen zweiseitig und vollkommen zweiseitig verpflichtende Verträge verstanden werden. aa) Kausale und abstrakte Verbindlichkeiten Aufgrund des Trennungsprinzips143 ist es prinzipiell unmöglich, eine kausale und eine abstrakte Verbindlichkeit zu vermengen, also beispielsweise eine Kaufpreisforderung durch ein abstraktes Schuldversprechen zu ersetzen.144 Allerdings scheint diese Frage für die Praxis irrelevant. bb) Verpflichtungsgrade (1) Terminologie und Problemstellung Bereits der Aspekt des Vertragstypus tangierte schon die Frage nach der Art der sich durch die Ausübung eines einseitigen Leistungsbestimmungsrecht ändernden Verpflichtung. Im Schuldrecht des BGB werden hinsichtlich der Art und Weise der gegenseitigen Verpflichtungen (im Folgenden „Verpflichtungsgrad“ genannt) der beteiligten Parteien drei Gruppen gebildet: Zunächst die einseitig verpflichtenden Verträge, bei denen nur eine Vertragspartei zu einer Leistung verpflichtet ist (z. B. Schenkung), zweitens die unvollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträge, bei denen für beide Parteien Verpflichtungen entstehen, es jedoch möglich ist, dass eine der Pflichten keine Leistungspflicht ist (z. B. Leihe, Auftrag, Verwahrung) und schließlich die vollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträge (auch „gegenseitige Verträge“ genannt), bei denen beide Parteien Leistungspflichten zu erfüllen ha-
143 Hierzu näher Baur / Stürner, Sachenrecht, Rn. 40; Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 29 Rn. 23 ff. mit jeweils umfassenden weiteren Nachweisen. 144 Gröschler, in: Soergel, BGB, § 311 Rn. 49.
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ben (z. B. Kauf).145 Nach der oben vertretenen Auffassung ist dies hinsichtlich des Vertragstypus unproblematisch möglich, beispielsweise wenn sich die Parteien dazu entscheiden, einen Werkvertrag in einen Werklieferungsvertrag umzuändern.146 Hier bleibt der Verpflichtungsgrad der jeweiligen Vertragstypen gleich, denn der vollkommen zweiseitig verpflichtende Werkvertrag wird in einen ebenfalls vollkommen zweiseitig verpflichtenden Werklieferungsvertrag umgewandelt. Anders liegt der Fall jedoch, wenn für die Leihe eines Gegenstandes (unvollkommen zweiseitig verpflichtender Vertrag) von nun an ein Entgelt entrichtet werden muss, also ein Mietvertrag als vollkommen zweiseitig verpflichtender Vertrag Grundlage der Parteivereinbarung sein soll.147 Eine gleiche Konstellation läge vor, wenn sich die Parteien entscheiden würden, die bisher unentgeltlich ausgeübte Tätigkeit des Schuldners von nun an zu vergüten, also von einem Auftrags- zu einem Dienstverhältnis zu wechseln. (2) Stellungnahmen in der Literatur In der Literatur finden sich zu diesen Fallgruppen nur wenige Stellungnahmen. Larenz behauptet, dass der Wechsel von einem Leih- zu einem Mietvertrag und von einem Auftrags- zu einem Dienstvertrag unter Beibehaltung des ursprünglichen Schuldverhältnisses möglich sein müsse. Er abstrahiert jedoch nicht weiter und trifft keine Aussagen darüber, ob für ihn deshalb der identitätswahrende Wechsel von einem unvollkommen zu einem vollkommen zweiseitig verpflichtenden Vertrag immer möglich ist. Larenz begründet die
145 Dies ist im Grundsatz in der Literatur allgemeine Meinung, allerdings unterscheidet sich bisweilen die Terminologie, vgl. auch Emmerich, in: Münchener Kommentar zum BGB, Vorbemerkung zu § 320 Rn. 1 ff. § 320 BGB bezeichnet die vollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträge als „gegenseitige Verträge“. Eine Reihe von Autoren schließen sich dem an, vgl. Larenz, Schuldrecht I, § 15 I; Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 29 Rn. 29. Diese Terminologie ist aber m. E. nicht trennscharf, weil auch unvollkommen zweiseitig verpflichtende Verträge letztlich gegenseitige Verträge sind. Der Übersichtlichkeit halber soll daher im Folgenden die Bezeichnung „vollkommen zweiseitig verpflichtender Vertrag“ gewählt werden. 146 Im Ergebnis zustimmend auch Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 75. 147 Beispiele ließen sich für solch einen Fall viele finden: So ist es gut denkbar, dass ein Bauherr für den Neubau seines Hauses zunächst ein Spezialgerät von einem Freund einmalig entliehen hat. Nachdem sich die Bauarbeiten verzögern und der Bauherr mit der Funktionsweise des entliehenen Gerätes sehr zufrieden ist, entschließen sich die Parteien dazu, dass bis zum Abschluss der Bauarbeiten ein Entgelt entrichtet werden soll.
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von ihm aufgestellte Behauptung damit, dass zumindest die Leistung einer Partei dieselbe bleibe.148 Gernhuber proklamiert, dass Identitätsverlust eintrete, wenn ein gegenseitig verpflichtendes Schuldverhältnis (in der hier verwendeten Terminologie also ein vollkommen zweiseitig verpflichtendes Schuldverhältnis) in ein einseitig verpflichtendes Schuldverhältnis umgewandelt werde, „während unvollkommen zweiseitig verpflichtende Schuldverhältnisse in beiden Richtungen [gemeint ist wohl sowohl in ein vollkommen zweiseitig verpflichtendes als auch in ein einseitig verpflichtendes Schuldverhältnis; S.B.] änderbar sind“.149 Gernhuber abstrahiert aber ebenfalls nicht weiter, sodass auch er keine Antwort auf die Frage gibt, ob der Wechsel von einem einseitig verpflichtenden Schuldverhältnis zu einem vollkommen zweiseitig verpflichtenden Schuldverhältnis möglich sein soll. Insgesamt fehlt auch hier letztlich ein dogmatischer Begründungsansatz. Anders als Gernhuber geht Bork davon aus, dass der Übergang von einem Kaufvertrag zu einer Schenkung möglich sei, also letztlich der Übergang von einem vollkommen zweiseitig verpflichtenden Vertrag zu einem einseitig verpflichtenden Vertrag.150 Auch der BGH schien im Falle der nachträglichen Vereinbarung einer Vergütung bei einem ursprünglich provisionsfreien Maklervertrag zu einer Identität zu tendieren, wobei in der Entscheidung offenblieb, ob durch die Vereinbarung ein deklaratorisches Schuldanerkenntnis oder eine Abänderung des ursprünglichen Maklervertrags begründet wurde.151 (3) Stellungnahme: Die Eigenart des Verpflichtungsgrades Die dargestellten Ansichten in der Literatur sind also wenig systematisch und dogmatisch ohne nähere Begründung. Für eine solche Begründung erscheint es lohnenswert, die Eigenart des „Verpflichtungsgrades“ eines Schuldverhältnisses näher zu untersuchen. Die oben genannten Differenzierungen entsprechen – abgesehen von terminologischen Details – der allgemeinen Meinung in der Literatur. Das Gesetz nennt, wie oben bereits erwähnt, in § 320 BGB nur die gegenseitigen, also vollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträge. Die §§ 320–326 BGB regeln die Art und Weise der 148 Siehe Larenz, Schuldrecht I, § 7 II. Diesen Ausführungen schließen sich ohne weitere Begründung auch Fischer (Die Unentgeltlichkeit im Zivilrecht, S. 132 f.), Gröschler (in: Soergel, BGB, § 311 Rn. 49) und Löwisch / Feldmann (in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 75) an. 149 Gernhuber, Das Schuldverhältnis, § 2 II 5 b. 150 Bork, Der Vergleich, S. 83 f. 151 BGH NJW-RR 2001, 710 (711).
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(synallagmatischen) Verknüpfung der Leistungspflichten bei den vollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträgen. Geregelt ist dort jedoch lediglich, dass falls ein Vertrag gegenseitiger Vertrag i. S. d. BGB ist, er dann den Vorschriften der §§ 320 ff. BGB unterworfen ist. Auch wenn gewisse Vertragstypen des BGB den gegenseitigen Verträgen unterfallen, können sich die Parteien trotzdem darauf einigen, eine im Gesetz nicht benannte Vertragsart als gegenseitigen Vertrag zu kreieren.152 „Art und Umfang der gegenseitigen Vertragsleistungen“ bestimmen sich also allein nach der Parteivereinbarung153, diese allein ist „Ausgangspunkt“154 für die Frage nach der Gegenseitigkeit der Leistungspflichten. Daraus ergibt sich – abstrahiert betrachtet – eine ähnliche Grundkonstellation wie bei der Vertragstypenordnung. Primär ist der Wille der Parteien. Die Dreiteilung der in Betracht kommenden Vereinbarungen nach dem Verpflichtungsgrad ist eine Form der Systematisierung, die gleichzeitig auch der Durchsetzung verschiedener, die Parteien schützender, Vorschriften, wie der Einrede des nichterfüllten Vertrages bei vollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträgen (§ 320 BGB) zu dienen geeignet ist. Die Einteilung nach dem Verpflichtungsgrad kann damit kein identitätskonstituierendes Kriterium eines Schuldverhältnisses sein. Sie kann und muss aber ein Indiz im Rahmen der Berücksichtigung des Parteiwillens sein. 4. Subjektive Parameter des Schuldverhältnisses Bei dem eben Gesagten klang bereits an, dass jedenfalls der Parteiwille eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der identitätskonstituierenden Merkmale eines Schuldverhältnisses spielen muss. a) Grundsätzliches zum Parteiwillen Aufgrund der Knappheit der Güter bedient sich der Mensch als homo oeconomicus bzw. rationaler Agent,155 der nach der Maximierung seines eigenen Nutzens strebt, in den verschiedensten Lebensbereichen zu eben jener Nutzenmaximierung im Rahmen von Arbeitsteilung und individueller Professionalisierung der Möglichkeit von Vertragsschlüssen mit anderen Menschen. Er ist also zunächst einmal bestrebt, seine eigenen Interessen zu verwirk 152 Gsell,
in: Soergel, BGB, Vor § 320 Rn. 32. NJW 1991, 2135 (2136). 154 Schwarze, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 320–326 Rn. 31. 155 Zum Begriff des rationalen Konsumenten siehe Stiglitz / Walsh, Mikroökonomie I, S. 30 f. 153 BGH
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lichen. Doch ihm tritt ein Vertragspartner gegenüber, der ebenso seine eigenen Interessen durchzusetzen versucht. Dieser Ausgangslage sind sich beide Parteien im Regelfall bewusst, weshalb sie sich um einen Interessenausgleich bemühen.156 Der Parteiwille muss also als „gemeinsamer Wille rechtlich denkender Partner, als ‚vernünftiger Wille‘ “ gedacht werden, der sich „von sich aus schon auf eine Regelung [richtet], die beide als einen ‚gerechten‘ Interessenausgleich anzusehen vermögen“.157 Dies ist freilich der Idealfall – der Gesetzgeber ist natürlich einzuschreiten verpflichtet, wenn die Ausgangslage der beiden Parteien im Ungleichgewicht und eine der Parteien deshalb besonders schützenswert ist. Diese Präzisierung ist ein erstes Richtmaß, doch freilich bleibt der Begriff des Parteiwillens noch zu unbestimmt. b) Methodik: Stellungnahmen in Literatur und Rechtsprechung Bislang wurde nur festgestellt, dass der Parteiwille im Rahmen der identitätswahrenden Änderung eine wichtige Rolle spielen muss. Welche Rolle dies genau ist und auf welchem Wege eine Präzisierung erreicht werden kann, soll im Folgenden untersucht werden. In der Literatur lässt sich in namhaften Stellungnahmen zur Frage der identitätsstiftenden Kriterien häufig das Trikolon „der Parteiwille, der von den Parteien verfolgte wirtschaftliche Zweck bzw. die wirtschaftliche Bedeutung und die Verkehrsauffassung“ finden.158 Doch diese Gleichstellung erscheint ungenau, da die wirtschaftliche Bedeutung und die Verkehrsauffassung angesichts der Privatautonomie nicht die gleiche Stellung wie der Parteiwille haben können. Überzeugender ist demgegenüber die Auffassung der Rechtsprechung, die hier differenziert und bestimmt, dass in erster Linie der Parteiwille entscheidend sei, „bei dessen Ermittlung auch die wirtschaftliche Bedeutung der Abänderung und die Verkehrsauffassung zu berücksichtigen sind“.159 Diese Unterscheidung weist den Weg für die folgende Untersuchung.
156 Zu diesem „Interessenausgleich“ als Grundprinzip des gegenseitigen Vertrages siehe auch Larenz, Schuldrecht I, § 6 I. 157 Larenz, Schuldrecht I, § 6 I. 158 So beispielsweise bei Gehrlein, in: Bamberger / Roth, BGB, § 311 Rn. 33; Gröschler, in: Soergel, BGB, § 311 Rn. 48; Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 75. 159 NJW-RR 1993, 118 (119) (Hervorhebungen S.B.), in ähnlicher Formulierung auch BGH MDR 1970, 311 ff.; NJW 1992, 2283 (2284 f.); NJW 1999, 575 (576). Diese Differenzierung findet sich auch in der Literatur, vgl. Kindl, in: Erman, BGB, § 311 Rn. 4; Grüneberg, in: Palandt, BGB, § 311 Rn. 3.
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c) Kriterien zur Konkretisierung des Parteiwillens Allein mit der Feststellung der Maßgeblichkeit des Parteiwillens als identitätskonstituierendes Kriterium wäre freilich aufgrund der Unbestimmtheit des Begriffs wenig gewonnen. Es gilt also, Kriterien zu entwickeln, die bei der Ermittlung bzw. Konkretisierung des Parteiwillens im Falle der Vertragsänderung zu berücksichtigen sind. aa) Die wirtschaftliche Bedeutung und der wirtschaftliche Zweck In den eben erwähnten Stellungnahmen zum Parteiwillen wird bisweilen auf die wirtschaftliche Bedeutung des Rechtsgeschäfts rekurriert. Der Begriff der Bedeutung ist dabei mehrdeutig. Versteht man Bedeutung im Sinne von subjektiver Tragweite, würde daraus resultieren, dass die wirtschaftliche Tragweite des Rechtsgeschäfts für den Einzelnen Auslegungskriterium seines ausgedrückten Willens wäre. Dies überzeugt aber aus dogmatischer Perspektive nicht. Überspitzt formuliert: Muss eine Vereinbarung zwischen den Parteien beispielsweise eines Kaufvertrages nur deshalb anders ausgelegt werden, weil der Kaufpreis im Verhältnis zum Nettoeinkommen einer der Parteien besonders hoch ist? In Einzelfällen160 und vor allem im UnternehmerVerbraucher-Verhältnis muss die wirtschaftliche Unterlegenheit freilich mitberücksichtigt werden, sie taugt jedoch nicht als generelles Auslegungsoder Abgrenzungskriterium. Viel überzeugender ist das Heranziehen der wirtschaftlichen Bedeutung, wenn mit Bedeutung der Sinngehalt des Rechtsgeschäfts, also letztlich der wirtschaftliche Zweck gemeint ist.161 Zweck soll verstanden werden als dasjenige, was die Parteien durch das Rechtsgeschäft subjektiv zu erreichen versuchen. Wendet man dies auf den Änderungsvertrag an, könnte bei dem Wechsel von einer Leihe zu einer Miete der Zweck der einen Partei sein, einen anfangs nur kurz geliehenen Gegenstand doch so lange wie möglich behalten zu dürfen, notfalls auch gegen die Entrichtung eines Entgelts. Dies wäre ein Indiz dafür, dass dieser Zweck für die Partei wichtiger ist, als der dann einerseits eintretende Typenwechsel und andererseits die damit verbundene Änderung des Verpflichtungsgrades von einem unvollkommen zweiseitig verpflichtenden Vertrag zu einem vollkommen zweiseitig verpflichtenden. Dieses Beispiel führt zu dem nächsten wichtigen Aspekt im Rahmen des wirtschaftlichen Zwecks. Denn im Laufe der Zeit der Leihe und angesichts 160 Solche Einzelfälle, bei denen die Höhe des Vermögens des Einzelnen eine hervorgehobene Rolle spielt, sind beispielsweise in §§ 311b, 1365 BGB normiert. 161 „Sinn“ einerseits und „Gewicht, Tragweite“ andererseits sind laut Duden auch die beiden großen Bedeutungsrichtungen des Begriffs „Bedeutung“.
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dessen, dass der Gegenstand dem Verleiher nun doch länger als erwartet nicht zur Verfügung steht, kommt für ihn nun der wirtschaftliche Zweck hinzu, dass er einen Ausgleich für die längere Zeit haben möchte, in der er nicht nach Belieben über den Gegenstand disponieren kann. Dieser Aspekt wird noch deutlicher für den Fall, dass eine ursprüngliche Kaufpreisschuld nach dem Wille der Parteien von nun als Darlehensschuld bestehen und damit auch verzinst werden soll. Möglich ist, dass hierin eine kausale oder abstrakte Schuldumschaffung (mit einer Novation als Konsequenz) zu sehen ist, allerdings wird der Parteiwille aufgrund des Bestehenbleibens der Sicherungen als ein einfacher Änderungsvertrag auszulegen sein.162 Damit kommt ein neuer, im ursprünglichen Schuldverhältnis nicht enthaltener wirtschaftlicher Zweck hinzu, dennoch bleibt der Leistungsgegenstand der gleiche.163 In der Literatur findet sich deshalb die Auffassung, dass Identität immer dann anzunehmen sei, wenn entweder der Leistungsgegenstand der gleiche bleibe oder wenn trotz einer Änderung des Leistungsgegenstandes der wirtschaft liche Zweck der gleiche bleibe.164 Dies mag in vielen Einzelfällen zu einer überzeugenden Lösung führen, ist aber als generelle Regel zu starr. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass der wirtschaftliche Zweck der Parteien zum einen ein wichtiges Indiz bei der Auslegung des Parteiwillens ist und zum anderen auch ohne weiteres Änderungen und Erweiterungen erfahren kann. bb) Verkehrsauffassung Die Verkehrsauffassung ist ein Kriterium der Auslegung, das nicht primär von den Subjekten des Schuldverhältnisses ausgeht, sondern umgekehrt objektivierend vom jeweils in Betracht kommenden wirtschaftlichen Umfeld und dessen Ansichten auf das Individuelle schließt. Inwieweit verkehrsüb liche Auffassungen, Begrifflichkeiten oder Verhaltensweisen den Parteiwillen auszulegen geeignet sind, ist letztlich eine Frage des Einzelfalles. cc) Verpflichtungsgrad / Synallagma Weiterhin kann den Parteien besonders daran gelegen sein, dass der Verpflichtungsgrad erhalten wird, also beispielsweise ein vollkommen zweiseitig 162 Dies ist sehr reduzierend dargestellt, die genaue rechtliche Einordnung dieses sog. „Vereinbarungsdarlehens“ ist freilich komplexer, siehe hierzu beispielsweise Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 20 ff. m. w. N. Für die hier vorliegende Untersuchung genügt allerdings der dargestellte Grundsatz. 163 Larenz, Schuldrecht I, § 7 II. 164 Larenz, Schuldrecht I, § 7 II; Löwisch / Feldmann, in: Staudinger, BGB, § 311 Rn. 76; Gröschler, in: Soergel, BGB, § 311 Rn. 48.
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verpflichtender Vertrag in seiner synallagmatischen Struktur erhalten bleibt und nicht die primäre Leistungspflicht einer der Parteien entfällt oder umgekehrt. Hier kann sich eine Überschneidung zwischen Vertragstypus, Verpflichtungsgrad und Parteiwillen ergeben. Im Rahmen der Überlegungen zum Vertragstypus wurde erläutert, dass der Typus dann nicht geändert werden kann, wenn durch den Typenwechsel Schutzvorschriften beseitigt werden.165 Nun könnte man auf die Idee kommen, bei vollkommen zweiseitig verpflichtenden Verträgen die synallagmatische Eigenart als Schutzdimension zu begreifen, mit der Folge, dass ein Wechsel nicht möglich wäre. Vor dem Hintergrund des zur Änderung des Verpflichtungsgrades Gesagten166 erscheint es jedoch überzeugender und aufgrund der Privatautonomie auch praktisch flexibler, den Parteiwillen als subjektives Kriterium als primär zu begreifen und den Verpflichtungsgrad nur als ein Auslegungskriterium heranzuziehen. Die Struktur der Leistungspflichten, die sich meist im Vertragstypus konkretisiert, kann allerdings ein mögliches Kriterium zur Auslegung des Parteiwillens sein. dd) Vermutung zu identitätswahrender Änderung Wie bereits herausgearbeitet wurde,167 kann die Vermutung aufgestellt werden, dass es aufgrund des Wegfalls der Einwendungen und der akzessorischen Sicherheiten im Falle einer Novation eher im Interesse der Parteien liegen wird, eine identitätswahrende Änderung als eine Schuldersetzung zu vereinbaren. Diese Vermutung ist aber freilich widerleglich.
E. Zusammenfassung Da das einseitige Leistungsbestimmungsrecht als Gestaltungsrecht immer auch in die Rechte der anderen Partei eingreift, ist nach den Grenzen seiner Ausübung zu fragen. Neben den Grenzen des § 315 Abs. 1 und 3 BGB sowie einer etwaigen AGB-Kontrolle folgt eine weitere Grenze aus § 311 Abs. 1 BGB, der auch den Änderungsvertrag normiert. Im Falle des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts treffen nämlich einseitiges Rechtsgeschäft und Änderungsvertrag zusammen. Aus einer historischen Auslegung des § 311 BGB ergibt sich, dass die identitätswahrende Änderung der Regelfall sein soll, woraus die Frage nach den identitätskonstituierenden Merkmalen eines Schuldverhältnisses resultiert. 165 s. o.
§ 3 D. III. 3. c) gg). § 3 D. III. 3. d). 167 s. o. § 3 D. III. 2. b). 166 s. o.
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Die Rechtsinstitute der Zession, der Schuld- und der Vertragsübernahme sprechen dafür, dass Änderungen auf der Subjektebene des Schuldverhältnisses identitätswahrend möglich sein müssen. Auch die Objekte sind keine identitätsstiftenden Merkmale eines Schuldverhältnisses, was aus einem Blick auf die Ersetzung des Gegenstandes, auf das Rückgewährschuldverhältnis und auf den Kauf mit Umtauschvorbehalt folgt. Der Vertragstypus ist ebenfalls kein identitätskonstituierendes Kriterium. In der Konzeption des BGB ist der Vertragstypus nicht begrifflich-kategorial im Sinne eines Entweder-Oder aufzufassen, sondern als Idealtypus, als elastisches Merkmalsgefüge, das ein ungefähres Gesamtbild des Vertrages umschreiben will. Auch wenn im Normtext und in den Materialien des BGB keine Aussage über das Verhältnis von Vertragstypenkatalog und der aus der Privatautonomie folgenden Vertragstypenfreiheit getroffen ist, lässt sich diese Frage mit Hilfe einer historischen Auslegung eindeutig beantworten. Das klassisch-römische Prinzip des Typenzwangs wurde nämlich nach und nach, spätestens im Zuge der Naturrechtslehre, den großen Privatrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts und der Pandektenwissenschaft so vollständig zugunsten der Vertragstypenfreiheit und des damit korrespondierenden Konsensprinzips aufgegeben, dass es dem Gesetzgeber des BGB, anders noch als in den Entwürfen, als überflüssig erschien, eine Aussage darüber zu treffen, dass die Regelung der Parteien primär ist. Dennoch ist aus praktischer Sicht der Katalog der Vertragstypen im BGB aus vier Gründen unverzichtbar: Zum einen fungiert er für Parteien, die nicht sämtliche Punkte selbst regeln wollen, als Entscheidungshilfe und schafft durch die angekündigten Rechtsfolgen Rechtssicherheit. Zweitens wird Rechtssicherheit auch insoweit erzielt, als der Vertragstypenkatalog es vor allem für die Justiz erleichtert, wesentlich Gleiches auch gleich zu behandeln. Drittens sind die Grundgedanken der gesetzlichen Regelung Anknüpfungspunkt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB) und viertens können durch das Bereitstellen von Musterbildern an Verträgen Defizite des erklärten Parteiwillens ausgeglichen werden. Wegen des eindeutigen Vorrangs der Vertragstypenfreiheit und der Eigenart der kodifizierten Vertragstypen als bloße Idealbilder gilt aber, dass der Vertragstypus für sich genommen nicht identitätskonstituierendes Kriterium eines Schuldverhältnisses ist. Bei einem etwaigen Vertragstypenwechsel ist jedoch darauf Rücksicht zu nehmen, dass etwaige Schutzvorschriften gerade durch den Typenwechsel nicht umgangen werden. Abgesehen davon, dass ein Wechsel zwischen kausalen und abstrakten Verbindlichkeiten nicht möglich, aber auch nicht praktisch relevant ist, sind auch die rechtlichen Grundstrukturen nicht zwangsläufig mit der Identität des Schuldverhältnisses verknüpft. Vor allem ist es denkbar, dass sich der Ver-
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pflichtungsgrad eines Schuldverhältnisses identitätswahrend ändert, also zwischen einseitig, unvollkommen zweiseitig und vollkommen zweiseitig verpflichtenden Rechtsgeschäften gewechselt wird. Die §§ 320 ff. BGB sind in einem gewissen Sinne nur Systematisierungs- und Schutzvorschriften, Ausgangspunkt ist immer der Parteiwille. Das einzige identitätskonstituierende Merkmal eines Schuldverhältnisses ist somit ein subjektives, nämlich der Wille der am Schuldverhältnis beteiligten Parteien. Aufgrund des beidseitigen Strebens nach Nutzenmaximierung wird im Regelfall schon bei Vertragsschluss von den Parteien ein Interessenausgleich intendiert. Der Parteiwille ist jedoch als Parameter unbestimmt und bedarf deshalb der Konkretisierung. Hierzu können im Wesentlichen drei Kriterien herangezogen werden: Die wirtschaftliche Bedeutung i. S. d. wirtschaftlichen Tragweite wird meist nur am Rande eine Rolle spielen. Viel wichtiger ist demgegenüber der wirtschaftliche Zweck, den die Parteien vor, nach und / oder mit der Vertragsänderung verfolgen. Der wirtschaftliche Zweck kann sich aber auch verändern und erweitert werden. Ein weiteres, objektives Kriterium zur Auslegung des Parteiwillens ist je nach Einzelfall die Verkehrsauffassung. Auch der Verpflichtungsgrad bzw. der Wechsel zwischen den verschiedenen Stufen kann ein Kriterium zur Auslegung des Parteiwillens sein. Im Zweifelsfall gilt aufgrund der sonst wegfallenden Einwendungen und akzessorischen Sicherheiten eine widerlegliche Vermutung zu einer identitätswahrenden Änderung.
Besonderer Teil
Vertragsrechtliche Fragen negativer Verzinsung im Einlagenbereich
§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht Eine der Kernfragen des nun folgenden Besonderen Teils ist die Frage, ob ein Zins im Rechtssinne auch negativ sein kann (§ 5). Da der Zins ein primär wirtschaftliches Phänomen ist, muss zunächst die Frage geklärt werden, ob ein Zins im ökonomischen Sinne negativ werden kann. Eine Ausdifferenzierung der verschiedenen wirtschaftlichen Zinsformen ist deshalb wichtig, da hiervon abhängt, inwieweit aus der wirtschaftlichen Lage Implikationen für die Beurteilung der rechtlichen Lage folgen. In diesem Rahmen ist es ebenso unverzichtbar, die in der Einführung bereits angedeutete wirtschaftliche Lage der Banken seit den Wirtschaftskrisen des letzten Jahrzehnts näher zu untersuchen, da nur so rechtlich beurteilt werden kann, ob und inwieweit die Interessen der Banken an einem eventuellen negativen Zinssatz im Einlagenbereich schützenswert sind oder nicht. Die wirtschaftswissenschaftlichen Theorien über Entstehung und Eigenart des Zinses sind mannigfaltig und vielschichtig.1 Eine genaue Untersuchung dieser Modelle, vor allem im Hinblick auf die Möglichkeit der Existenz eines negativen Zinses, kann eine juristische Arbeit nicht leisten. Deshalb soll im Rahmen der vorliegenden Untersuchung der Zinsbegriff wirtschaftswissenschaftlich nur insoweit kurz untersucht werden, als es zur Erhellung des rechtswissenschaftlichen Zinsbegriffes gewinnbringend ist.
A. Nominalzins und Realzins Wichtig ist zunächst, zwischen Nominal- und Realzins zu differenzieren.2 Der Realzins (ir), also der Zins, der tatsächlich gezahlt oder erhalten wird, ergibt sich aus dem Nominalzins (in), also dem Preis des Kredits am Markt und der Berücksichtigung der Kaufkraftentwicklung in Form der vom Nominalzins subtrahierten erwarteten Inflationsrate (P*)3, sodass gilt: 1 Vgl. die zusammenfassenden Darstellungen bei Issing, Einführung in die Geldtheorie, S. 93 ff.; Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 115 ff. 2 Vgl. zum Folgenden Gebauer, Realzins, Inflation und Kapitalzins, S. 162 ff.; Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 121. 3 Im Regelfall kann nur die erwartete Inflationsrate berücksichtigt werden, da die Spar- und Investitionsentscheidungen immer für die Zukunft getroffen werden und
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§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht ir = in – P*
Nach einem Umstellen der Gleichung ergibt sich für den Nominalzins: in = ir + P*
Nach dieser Gleichung ist es also möglich, dass ein geringer, aber positiver Nominalzins vorliegt, die Inflation demgegenüber aber so hoch ist, dass der Realzins negativ wird. Negative Realzinsen waren schon vor den wirtschaftlichen Krisen ab 2007 nicht ungewöhnlich.4 Die für diese Arbeit in Frage stehenden „negativen Zinsen“ betreffen aber vor allem negative Nominalzinsen.
B. Das Kreditmarktmodell und der Gleichgewichtszins Ein grundlegendes Modell zur Entstehung eines nominalen Zinssatzes ist das Kreditmarktmodell. Hat ein Wirtschaftssubjekt Kapital erworben, kann es entscheiden, ob es dieses Kapital sparen oder durch Investition oder Konsum ausgeben möchte. Abbildung 1 verdeutlicht dieses Kreditmarktmodell: Die Höhe von Ersparnissen und Konsumausgaben hängt von der Höhe des Einkommens, vom realen Zins (ir) und von der Zeitpräferenz ab. Legt man zugrunde, dass mit steigendem Realzins mehr Kredite vergeben werden, ergibt sich für die Kreditangebotsfunktion (S) in einem Zins-Mengen-Diagramm eine positive Steigung. Ebenso gibt es in einer Volkswirtschaft die Wirtschaftssubjekte, die aufgrund einer Investition eine Nachfrage nach Krediten schaffen. Unterstellt man, dass die Nachfrage mit steigendem Realzins fällt, ergibt sich für die Kreditnachfragefunktion (D) in einem ZinsMengen-Diagramm eine negative Steigung. Liegt ein Gleichgewicht am Kreditmarkt vor, schneiden sich die beiden Funktionen, wobei der Schnittpunkt (A) den Gleichgewichtszins (i*) und das Gleichgewichtskreditvolumen (q*) darstellt. Durch entsprechende Modifikationen ist es prinzipiell möglich, die beiden Funktionen so zu verschieben, dass sich ein Schnittpunkt im negativen Zins- aber positiven Kreditvolumenbereich ergibt.5
damit eine ex ante-Einschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung nötig ist. 4 So gab es in Deutschland in den 70er, sowie Anfang der 90er und 2000er Jahre häufig negative Realzinsen, vgl. auch Lesch, Negative Zinsen und das Kreditgeschäft, S. 17. 5 Siehe hierzu die Ausführungen bei Kollmann, Negative Zinsen, S. 25 ff.
C. Die Zeitpräferenztheorie und der negative natürliche Zins107
Abbildung 1: Kreditmarktmodell (eigene Darstellung).
C. Die Zeitpräferenztheorie und der negative natürliche Zins I. Zeitpräferenz bei Ludwig von Mises Nimmt man eine Modifikation mit den oben genannten Folgen vor, stellt sich die Frage, ob diese Verschiebungen noch mit den grundsätzlichen Annahmen eines rational handelnden Wirtschaftssubjektes zu vereinbaren sind. Hier gibt die in den Wirtschaftswissenschaften entwickelte sog. Zeitpräferenztheorie weiteren Aufschluss:6 6 Diese Einbeziehung einer zeitlichen Perspektive ist ein wesentliches Novum der modernen Zinstheorien im Vergleich zu dem in der Einleitung dargestellten anti-
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§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht
Weil aus dem gegenwärtig zur Verfügung Stehenden prinzipiell der größte Nutzen gezogen werden kann, bewerten die Wirtschaftssubjekte nach dieser Theorie die gegenwärtig zur Verfügung stehenden Güter höher als diejenigen Güter, die erst zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung stehen werden.7 Nach Ludwig von Mises entsteht allein aus dieser natürlichen Zeitpräferenz der von ihm bezeichnete „Urzins“8, den der Mensch „quasi in sich“9 trage und der auch unabhängig von einer positiven oder negativen Kapital ertragsrate bestehe.10 Bei einer Abnahme der Zeitpräferenz (beispielsweise aus Gründen zukunftsorientierteren Wirtschaftens) steige die Ersparnis und die Konsumleistung sinke, weshalb letztlich auch der Urzins sinke. Steige dagegen die Investitionstätigkeit, steigt damit auch der Urzins. Legt man dieses Modell zugrunde, ist die Annahme eines negativen Zinssatzes schwer vorstellbar, denn sie würde eigentlich aussagen, dass der – von Natur aus eigentlich grundsätzlich zielgerichtet handelnde – Mensch gar nicht mehr handeln würde,11 sondern die Verwirklichung all seiner Ziele immer in die Zukunft verschieben würde, solange bis die Zeitpräferenz wieder einen positiven Wert erreicht.
II. Zeitpräferenz bei Eugen von Böhm-Bawerk Schon vor Ludwig von Mises hatte sich auch der Ökonom Eugen von Böhm-Bawerk mit der Gegenwartspräferenz (und damit auch mit dem positiven natürlichen Zins) beschäftigt. Dass Menschen Zinsen verlangen, wenn sie ihr Geld verleihen und damit auf einen aktuellen Konsum verzichten, hat für ihn drei Gründe. Den ersten Grund bezeichnet er mit der „Verschiedenheit des Verhältnisses von Bedarf und Deckung in den verschiedenen Zeiträumen“,12 wobei er von einer Unterausstattung der Gegenwart ausgeht. Gemeint ist damit – vereinfacht gesagt –, dass das Einkommen eines Wirtschaftssubjekts im Regelfall ken oder mittelalterlichen Zinsverständnis, siehe Lesch, Negative Zinsen und das Kreditgeschäft, S. 5. 7 Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins II 1, S. 327; Holtemöller, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 237; Hyman, Economics, S. 482 ff.; Varian, Intermediate Micro economics, S. 182 ff. 8 Mises, Nationalökonomie, S. 476 ff.; mit „Urzins“ bezeichnet von Mises den Zins, der sich ohne Beeinflussung der Märkte einstellt, also gleichbedeutend mit dem neutralen Zins ist. 9 So Polleit, ifo Schnelldienst 2 / 2015, 18 (19). 10 Hayek, QJE 1936, 199 (222 ff.). 11 So Polleit, ifo Schnelldienst 2 / 2015, 18 (19). 12 Böhm-Bawerk, Kapital und Kapitalzins II 1, S. 328.
C. Die Zeitpräferenztheorie und der negative natürliche Zins109
im Laufe seines Berufslebens ansteigt. Sind für einen Studenten 100 Euro meist noch eine Menge Geld, die durch Nebenjobs mühsam erwirtschaftet werden muss, wird dieser Betrag nach einem gewissen beruflichen Aufstieg – relativ gesehen – in Anbetracht des dann gestiegenen Gesamtverdienstes subjektiv weitaus weniger „wert“ sein. Um den Studenten im Beispielsfall dennoch zum Sparen und damit zur Zurverfügungstellung seines Kapitals zu bewegen, müsste ihm ein Zinsertrag in Aussicht gestellt werden. Weiterhin sei es in den Menschen angelegt, „systematisch unsere künftigen Bedürfnisse und die Mittel, die zu ihrer Befriedigung dienen“, zu unterschätzen.13 Zwar weiß beispielsweise jeder Berufsanfänger, dass die Einkommensverhältnisse als Rentner deutlich geringer sein werden als am Ende des Berufslebens. Dennoch liegt der Eintritt des Rentenalters am Beginn des Berufslebens noch in so weiter Ferne, dass eine Vorsorge prinzipiell nur dann attraktiv wird, wenn der Verzicht auf jetzigen Konsum durch einen entsprechenden Zins belohnt wird. Ist mit diesen beiden Gründen ausgesagt, unter welchen Umständen Wirtschaftssubjekte sparen, ist noch nicht erklärt, weshalb auch eine Nachfrage nach diesen Ersparnissen besteht. Hier erwähnt Böhm-Bawerk die „Mehr ergiebigkeit von Produktionsumwegen“ und meint damit, „dass mit der gleichen Menge von Produktivmitteln eine desto größere Menge von Produkten erzielt werden kann, je langwierigere Produktionsmethoden man dabei einschlägt“.14 Böhm-Bawerk geht davon aus, dass durch Produktionsumwege Mittel produziert werden können, durch die in Zukunft eine ergiebigere Produktion möglich ist. Aus einer produktiven Verwendung von Gegenwartsgütern für Produktionsumwege resultiert also ein Produktivitätsgewinn für die Zukunft. Anstatt also beispielsweise Fische mit der Hand zu fangen, ist es für den Fischfang nützlicher, zunächst ein Fangnetz zu knüpfen. Genauso kann es nützlicher sein, erst eine Fabrikhalle mit entsprechenden Fertigungsanlagen zu bauen, damit schließlich eine Serienproduktion eines Produkts möglich ist. Während der Zeit dieses „Produktionsumweges“ bedarf derjenige, der diesen Weg einschlägt, allerdings Konsumgüter, wie beispielsweise Verpflegung für seine Arbeiter und / oder Maschinen zur Herstellung. Dieser „Subsistenzmittelfonds“ muss durch Kapital aus Ersparnissen finanziert werden und die Wirtschaftssubjekte, die ihre Mittel als Produktionsdarlehen zur Verfügung stellen, wollen wegen der Zeitpräferenz (siehe die beiden ersten Gründe) dafür entschädigt werden. Der Zins ist damit für Böhm-Bawerk nicht der Preis für das Geld, sondern ein „Preis für
13 Böhm-Bawerk, 14 Böhm-Bawerk,
„dritten Grund“).
Kapital und Kapitalzins II 1, S. 332. Kapital und Kapitalzins II 1, S. 339 (er bezeichnet dies als
110
§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht
die Zeit“.15 Auch die Theorie von Böhm-Bawerk scheint der Existenzmöglichkeit von negativen Zinsen prinzipiell zu widersprechen, denn die mit der negativen Verzinsung nach dieser Theorie dann auch negative Zeitpräferenz würde „in letzter Konsequenz bedeuten, dass der Mensch gewillt und in der Lage ist, auf seine gegenwärtige Existenz zu Gunsten seiner zukünftigen Existenz zu verzichten“16. Allerdings gibt es auch Stimmen in der Literatur, die es für möglich halten, dass der Zins auf natürliche Weise negativ werden kann. In einer immer älter werdenden Gesellschaft, in der deshalb aufgrund der niedrigeren Renten mit Altersarmut gerechnet werden muss, wird hinsichtlich des im Laufe des Berufslebens ansteigenden Einkommens vorgebracht, dass zwar ein starker Anreiz zum Sparen bestehe, dem jedoch immer weniger junge Menschen als potentielle Kreditnehmer gegenüberstünden, weshalb die Zinsen angesichts dieser „Ersparnisschwemme“17 immer weiter sinken würden.18
D. Natürlicher Negativzins und gehemmter Markt – Die Rolle der EZB I. Recht und Verpflichtung zur Geldpolitik Wenngleich die Mehrzahl der Ökonomen gegenwärtig der Meinung zu sein scheint, dass ein negativer natürlicher Zins19 in einem freien Markt nicht möglich ist,20 kann dies für die vorliegende Untersuchung offenbleiben. Denn auf dem Wirtschaftsmarkt der Europäischen Union handeln nicht nur freie und rationale Akteure auf gleicher Ebene. Vielmehr existiert auch noch 15 So zusammenfassend Suntum, Die unsichtbare Hand: Ökonomisches Denken gestern und heute, S. 79. 16 Mayer, FvS Makroanalyse 22 / 2015, 3. 17 Der Aspekt der Ersparnisschwemme ist vor allem für Carl Christian von Weizsäcker ein Argument für seine Annahme der Existenz eines negativen natürlichen Zinses, vgl. seine Beiträge in: Wirtschaftsdienst 2010, 720 ff.; in: Wirtschaftsdienst 2013, 7 ff.; in: Ger. Econ. Rev. 2014 [15 (1)], 42 ff. sowie in: PWP 2015 [16 (2)], 189 ff.; kritisch hierzu u. a. Mayer, FvS Makroanalyse 09 / 2014, 5 ff. 18 So Suntum, Wirtschaftswoche 10.11.2014, S. 40 vor allem in Rückgriff auf Paul Samuelson und dessen Modell der überlappenden Generationen, vgl. Samuelson, JPE 66,6, 467 ff.; gleichzeitig diesen Gedankengang aber selbst wieder einschränkend Suntum, FAS vom 30.03.2014, Nr. 13, S. 36. 19 Mit natürlichem Zins ist der Zins gemeint, der sich in einem freien Markt ohne externe Beeinflussung bildet. 20 Kollmann, Negative Zinsen, S. 20 ff.; Mayer, FvS Makroanalyse 09 / 2014, 5 ff.; FvS Makroanalyse 22 / 2015, 3; Polleit, Wirtschaftswoche 10.11.2014, S. 40; ifo Schnelldienst 2 / 2015, S. 18 ff.
D. Natürlicher Negativzins und gehemmter Markt – Die Rolle der EZB111
das Europäische System der Zentralbanken (ESZB), das von den Beschlussorganen der Europäischen Zentralbank (EZB)21 geleitet wird und das hoheitliche geldpolitische Maßnahmen zu treffen befugt ist, um die Preisstabilität zu gewährleisten (Art. 127, 282 Abs. 2 AEUV).22 Volkswirtschaftlich betrachtet ist die Preisniveaustabilität bei einem Wachstum des Harmonised Index of Consumer Prices (HICP) von knapp unter zwei Prozent, also letztlich bei einer geringfügigen Inflation, gewährleistet.23 Der aus den wirtschaftlichen Krisen24 seit 2007 resultierende konjunkturelle Einbruch beeinflusste die Wirtschaft vieler europäischer Länder nachhaltig. Die einsetzende Rezession zeigte sich in der Realwirtschaft dieser Länder vor allem an hoher Arbeitslosigkeit, niedriger Kapazitätsauslastung, fehlenden Investitionen und einem Rückgang der Güternachfrage, sodass der HICP für längere Zeit deutlich unter die gewünschte 2 %-Marke fiel,25 wodurch die Preisniveaustabilität gefährdet war und die Gefahr einer Deflation bestand. Schon deflationäre Tendenzen können leicht außer Kontrolle geraten und zu einer tiefgreifenden Rezession führen, da die aufgrund der flächendeckenden Preisreduktionen zu erwartenden, weiteren Preissenkungen bei den Wirtschaftssubjekten zu einem „Nachfrageattentismus“ führen können und die dadurch ausgelösten Nachfragerückgänge weitere Preissenkungen nach sich ziehen würden.26 Das geldpolitische Endziel der Preisniveaustabilität ist jedoch nicht unmittelbar zu errei21 Die Beschlussorgane der EZB sind der EZB-Rat und das EZB-Direktorium (Art. 129 Abs. 1 AEUV). 22 Zu den Einwirkungen einer Preisstabilität auf eine lebhafte Wirtschaftsaktivität und einen hohen Beschäftigungsgrad vgl. Europäische Zentralbank, Die Geldpolitik der EZB, S. 60. 23 Europäische Zentralbank, Die Geldpolitik der EZB, S. 69; Hardes / Uhly, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, S. 344 ff.; Tolkmitt, Neue Bankbetriebslehre, S. 37; zu den volkswirtschaftlichen Gründen, die für das Anstreben einer positiven Inflationsrate als Zielgröße sprechen siehe Spahn, Geldpolitik, S. 184 f.; Thiele, Das Mandat der EZB und die Krise des Euro, S. 27 ff.; zu dem Begriff der Preiswertstabilität eingehend Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 23 ff. 24 Wenn im Folgenden der Vereinfachung halber der Terminus der „wirtschaft lichen Krisen“ verwendet wird, so sind damit die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen – meist im europäischen Raum – seit der Banken- und Finanzkrise 2007 gemeint. Hierbei handelte es sich doch eigentlich wohl eher um drei unterschiedliche (aber ineinander übergehende) Entwicklungsschritte – nämlich eine Banken- und Finanzkrise, die 2007 in den USA ausbrach und nach Europa übergriff, eine globale Wirtschaftskrise seit Herbst 2008 und eine Staatsschulden- und Bankenkrise einiger europäischer Länder mit gesamteuropäischen Auswirkungen seit dem Frühjahr 2010 (siehe zu dieser Unterscheidung Deutsche Bundesbank, Geld und Geldpolitik, S. 104 f.). 25 Eine – ständig aktualisierte – Übersicht über die Entwicklung des HICP findet sich auf der Website der EZB (https: / / www.ecb.europa.eu / stats / macroeconomic_ and_sectoral / hicp / html / index.en.html). 26 Vgl. u. a. Siebe / Wenke, Makroökonomie, S. 96.
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§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht
chen, sondern kann nur indirekt über sog. Zwischenzielgrößen kontrolliert werden. Hierbei sind die Durchführung von Offenmarktgeschäften und das Anbieten ständiger Fazilitäten die wichtigsten geldpolitischen Instrumente.27
II. Geldpolitisches Instrumentarium Die beiden wichtigsten Formen der auf Initiative der Zentralbanken entweder als Wertpapierpensionsgeschäft oder als Pfandkredit revolvierend mit den Banken abgeschlossenen Offenmarktgeschäfte sind die Hauptrefinanzierungsgeschäfte (HRG)28 und die Längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte (LRG),29 mit denen die Liquidität der Banken gesteuert werden kann.30 Während vor der Finanz- und Wirtschaftskrise die HRG mit einer Laufzeit von einer Woche eine dominierende Rolle einnahmen, haben die LRG (mit einer Laufzeit von 3 bis teilweise 36 Monaten) seitdem deutlich zugenommen.31 Die EZB kann den Zinssatz für die HRG selbst festlegen. Dieser Zins galt (bis zur durch die Lehman Brothers-Insolvenz im Jahr 2008 ausgelösten Wirtschaftskrise) als der Leitzins der EZB für den Tagesgeldsatz am Inter27 Vgl. Europäische Zentralbank, Die einheitliche Geldpolitik im Euro-Währungsgebiet, S. 4. Das Instrument der Mindestreserve, über dessen Änderung ebenfalls die Geldmenge in der Volkswirtschaft gesteuert werden kann, soll im Folgenden außer Acht gelassen werden, da sich hierbei keine anderen Aspekte hinsichtlich der negativen Verzinsung ergeben. 28 Die Begrifflichkeiten Hauptrefinanzierungsgeschäfte und Hauptrefinanzierungsoptionen werden uneinheitlich angewandt. Während eine Richtlinie des Europäi schen Parlaments (Richtlinie 2011 / 7 / EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr Text von Bedeutung für den EWR) von Hauptrefinanzierungsoptionen spricht, spricht eine Leitlinie der EZB [2011 / 817 / EU: Leitlinie der Europäischen Zentralbank vom 20. September 2011 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems (EZB / 2011 / 14)] von Hauptrefinanzierungsgeschäften. Da beide Begriffe jedoch aufgrund ihrer vollständigen inhaltlichen Übereinstimmung (siehe Omlor, in: Staudinger, BGB, § 247 Rn. 28) synonym verwendet werden können, wird im Folgenden der Terminus der Hauptrefinanzierungsgeschäfte verwendet. 29 Auf die Möglichkeit der EZB zu Feinsteuerungsoperationen und Strukturellen Operationen im Rahmen der Offenmarktgeschäfte braucht im vorliegenden Kontext nicht eingegangen zu werden, vgl. hierzu Europäische Zentralbank, Die Geldpolitik der EZB, S. 115 ff. 30 Zu den Offenmarktgeschäften und zum Folgenden siehe Europäische Zentralbank, Die Geldpolitik der EZB, S. 112 ff.; Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 219 ff.; Kollmann, Negative Zinsen, S. 46 ff.; Siebe / Wenke, Makroökonomie, S. 97 f.; Spahn, Geldpolitik, S. 89 ff. 31 Durch die LRG mit einer längeren Laufzeit kann den Banken in unsicheren Krisensituationen ein längerer Liquiditätsplanungshorizont gegeben werden und damit Unsicherheit minimiert werden, vgl. Europäische Zentralbank, Die Geldpolitik der EZB, S. 137.
D. Natürlicher Negativzins und gehemmter Markt – Die Rolle der EZB113
bankenmarkt.32 Der Durchschnittssatz für Tagesgeld im Interbankengeschäft EONIA (Euro OverNight Index Average) orientierte sich bis zu dieser Zeit an dem von der EZB festgelegten HRG-Zinssatz. Geldpolitik kann aber auch über die Variation der Zinssätze für die ständigen Fazilitäten betrieben wurden. Diese Möglichkeit der Abschöpfung (Einlagefazilität) oder der Bereitstellung (Spitzenrefinanzierungsfazilität) von Übernachtliquidität durch die Zentralbank auf Initiative ihrer Geschäftspartner war vor den wirtschaftlichen Turbulenzen ab 2007 eine nur wenig genutzte Möglichkeit der Banken, weil die Zinssätze für Einlage- und Spitzenrefinanzierungsfazilität jeweils Extremwerte bildeten und eine Anlage am Interbankenmarkt gewinnbringender war. Da keine Geschäftsbank im Interbankengeschäft unter normalen Umständen für die Geldaufnahme einen höheren Zinssatz in Kauf nehmen wird, als sie bei der Zentralbank für die Kreditaufnahme bezahlen müsste, ist der Satz für die Spitzenrefinanzierungsfazilität die Obergrenze des Zinsniveaus am Geldmarkt, während der Satz für die Einlagefazilität die Untergrenze des Zinsniveaus bildet, denn keine Bank wird Kredite zu einem geringeren Zinssatz vergeben, wenn sie ihr Geld bei der Zentralbank gewinnbringender anlegen könnte. Somit bildet sich durch diese beiden Zinssätze ein „Korridor“, innerhalb dessen sich das Zinsniveau am Geldmarkt bewegt.33 Durch die Änderung der beiden Zinssätze der ständigen Fazilitäten kann also durch die EZB auch der Zinskorridor am Interbankenmarkt nach oben oder unten „verschoben“ werden.
III. Der geldpolitische Transmissionsmechanismus Durch die geldpolitischen Maßnahmen sollen im Ergebnis reale Größen wie Investitionen oder Beschäftigung beeinflusst werden. Die Wirkungsweise der Veränderung der eben dargestellten Steuerungsgrößen über die Märkte hinweg bis zur Beeinflussung der realen Größen wird als (geldpolitischer) Transmis sionsmechanismus bezeichnet.34 Die Wirkungsweise dieses Transmissions mechanismus wirft im Einzelnen viele Fragen auf, im Rahmen dieser Arbeit genügen jedoch einige wenige Feststellungen hierzu. Im Regelfall ist davon 32 Für den Zustand bis zur Finanzkrise siehe Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 324; Siebe / Wenke, Makroökonomie, S. 98. 33 Zu diesem Zinskorridor siehe Europäische Zentralbank, Die einheitliche Geldpolitik im Euro-Währungsgebiet, S. 22 f.; Glatzl, Geldpolitik und Bankenaufsicht im Konflikt, S. 71 f.; Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 262; Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 340 ff.; Siebe / Wenke, Makroökonomie, S. 98 f. 34 In der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur gibt es eine Vielzahl an Modellen zur Funktionsweise dieses Transmissionsmechanismus, vgl. beispielsweise Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 271 ff.; Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 225 ff.; Spahn, Geldpolitik, S. 100 ff.
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auszugehen, dass Leitzinsänderungen auch die Zinsen am Kapital- und Kreditmarkt entsprechend ändern. Erhöht die Zentralbank nämlich die Sätze der Refinanzierungszinsen, verteuert sich für die nationalen Zentralbanken die Refinanzierung bei der EZB, sie weichen daher auf den Interbankengeldmarkt aus, auf dem allerdings durch die dann gestiegene Nachfrage auch die Geldmarktzinsen steigen, worauf die Geschäftsbanken eher Kredite bei privaten Haushalten nachfragen, weshalb sich auch dort die Zinsen beispielsweise im Einlagenbereich erhöhen.35 Die privaten Haushalte werden daher mehr Geld bei den Banken anstatt am Kapitalmarkt anlegen, wodurch die Kurse am Kapitalmarkt sinken. Das gleiche gilt natürlich prinzipiell in umgekehrter Weise bei einer Absenkung der Zinsen. Durch die Veränderung der Refinanzierungskonditionen der Banken kann die EZB damit unmittelbar auf Geschäftsbanken und dadurch mittelbar auf Unternehmen, private Haushalte sowie Bund, Länder und Gemeinden wirtschaftlichen Einfluss nehmen.36
IV. Änderungen durch die Wirtschaftskrise 1. Inanspruchnahme der Fazilitäten Die Insolvenz der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 führte zu einem Vertrauensverlust am Interbankenmarkt mit der Folge der Austrocknung der Märkte, weil die Banken „weder kurzfristig Geld anlegen wollten, noch Geld aufnehmen konnten“.37 Die Banken wollten so schnell wie möglich ihr Kapital sicher bei den Zentralbanken anlegen, weshalb die Zinsangebote im Rahmen des Zinstenders sprunghaft anstiegen.38 Da die Banken also nicht, wie üblich, das Kapital, das sie nicht zur Befriedigung der Kreditnachfrage ihrer Kunden benötigten, als Geldmarktkredit im Interbankenmarkt zur Verfügung stellten, sondern lieber bei den Zentralbanken risikofrei einlegten,39 stieg auch die Inanspruchnahme der Einlagefazilität auf ein zuvor unbekanntes Ausmaß an.40 Auch noch Jahre 35 So Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 225 f. mit Einschränkungen, die hier allerdings außer Acht gelassen werden können. 36 Zu diesen unmittelbaren und mittelbaren Adressaten der Geldpolitik der EZB siehe auch Deutsche Bundesbank, Geld und Geldpolitik, S. 174. 37 Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 257. 38 Deshalb ist das Eurosystem im Zuge der Finanzkrise (für die HRG im Oktober 2008) von Zins- zu Mengentendern übergegangen, vgl. Deutsche Bundesbank, Geld und Geldpolitik, S. 197 f. 39 Siehe zu diesem Befund auch Lesch, Negative Zinsen und das Kreditgeschäft, S. 1. 40 Zur sprunghaften Inanspruchnahme der ständigen Fazilitäten nach 2008 siehe beispielsweise Abbildung 1.
D. Natürlicher Negativzins und gehemmter Markt – Die Rolle der EZB 115
nach der Lehman Brothers-Insolvenz war der Vertrauensverlust41 zwischen den Banken so groß, dass die Einlagefazilität (sogar trotz eines negativen Satzes, dazu im Einzelnen sogleich) immer noch in großem Maße in Anspruch genommen wurde. In diesem Sinne sind steigende Einlagen bei den Zentralbanken auch ein „gute[r] Gradmesser für die Disintermediation am Geldmarkt“42. 2. Niedrig- und Negativzinsen Es wurde bereits erläutert, dass prinzipiell und sehr vereinfacht davon ausgegangen werden kann, dass durch die Senkung der Leitzinsen seitens der Zentralbank die Refinanzierung der Banken günstiger wird, die Zinsen für die Kunden letztlich sinken, die Kreditnachfrage durch Nichtbanken und damit auch die Nachfrage nach Investitions- und Konsumgütern im Inland steigt, wodurch idealerweise das Preisniveau steigt. Ziel der niedrigen bzw. negativen Zinsen ist es damit nicht, das Sparen zu belohnen, sondern von jenem abzuschrecken, um kreditfinanzierte Investitionen wieder attraktiver zu machen.43 Die EZB hat sich unter anderem deshalb dazu entschieden, mit einer Politik der niedrigen Zinsen auf den konjunkturellen Einbruch der europäischen Volkswirtschaft zu reagieren44 und senkte deshalb seit 2008 kontinuierlich die Leitzinssätze, also den HRG-Zinssatz und die Sätze für die Einlagen- und Spitzenrefinanzierungsfazilität.45 Die Frage, ob vor allem die dauerhafte Niedrigzinspolitik der EZB ein geeignetes geldpolitisches Instrument ist, um den europäischen Wirtschaftsraum nachhaltig aus den wirt41 Zu diesem gegenseitigen Vertrauensverlust der Banken siehe auch die Rede des Zentralbankchefs Mario Draghi am Wirtschaftstag in Berlin am 25. Juni 2013: „In einem bankenbasierten Wirtschaftsraum wie dem Euro-Währungsgebiet erfolgt die Übertragung der Geldpolitik über die Banken, und Banken gewähren einander Kredite auf der Basis gegenseitigen Vertrauens. In der Krise ging dieses Vertrauen verloren, und die Banken gaben einander keine Kredite mehr. Angesichts der Gefahr einer Finanzierungskrise im gesamten Euroraum wandten sie sich an die Zentralbank“. 42 Europäische Zentralbank, Heterogenität der Finanzierungsbedingungen im Euro-Währungsgebiet und deren politische Implikationen, S. 74. 43 Wagner, BKR 2017, 315. 44 Dies ist freilich sehr vereinfacht dargestellt. Die EZB hat, nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit der Staatsschuldenkrise, seit 2010 eine Vielzahl (teils sehr umstrittener) Maßnahmen getroffen; siehe zusammenfassend Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 67 ff. vgl. beispielsweise auch Thiele, Das Mandat der EZB und die Krise des Euro, S. 57 ff.; zu unerwarteten Leitzinsänderungen siehe auch eingehend Kretzschmar, Zentralbank und Bankenstress, S. 53 ff. 45 Eine Übersicht über die aktuellen Leitzinsen und deren Entwicklung seit 1999 findet sich in Anhang 1.
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§ 4 „Negativzinsen“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht
schaftlichen Krisen zu befreien, wird lebhaft diskutiert.46 Hier genügt die Feststellung, dass der Zinssatz für die Einlagefazilität mit Wirkung zum 11. Juni 2014 erstmals den negativen Bereich erreicht hat.47 Abbildung 2 zeigt anschaulich, wie unbedeutend die Einlagefazilität vor der Wirtschaftskrise 2008 war und sie zeigt auch, dass sie trotz ihrer negativen Verzinsung (seit 16. März 2016 von –0,4 %) weiterhin in großem Umfang von den Banken in Anspruch genommen wird. Die Störung der Interbanken-Geldmärkte nach 2008 sorgte ferner dafür, dass sich der Tagesgeldsatz EONIA nicht mehr am HRG-Zinssatz orientierte, sondern am Zinssatz für die Einlagefazilität und damit seit Herbst 2014 ebenfalls im negativen Bereich ist.48
Abbildung 2: Inanspruchnahme der Einlagefazilität von 2006–2016 in Mio. Euro (eigene Darstellung)49
46 Vgl. beispielsweise die allesamt kritischen Beiträge von Bucher / Neyer, Der Einfluss des (negativen) Einlagesatzes der EZB auf die Kreditvergabe im Euroraum, passim; Fahrenschon, ifo Schnelldienst 13 / 2016, 6 ff. („Geldpolitik wirkt nicht mehr“); Schnabl, ifo Schnelldienst 13 / 2016, 3 ff. („mehr als zweifelhaft“); zu den Umverteilungseffekten siehe Demary / Niehues, IW policy paper 15 / 2015 mit jeweils weiteren Nachweisen. 47 Der Satz der Einlagefazilität ist auch noch für andere Konten bei den nationalen Zentralbanken maßgeblich, wenn der dortige Betrag die Mindestreserve überschreitet, vgl. II C 2, II D 2, II G 2 der AGB-Bundesbank. 48 Eine Übersicht über die Entwicklung des EONIA im Verhältnis zu den Leitzinssätzen der EZB vor und nach 2008 findet sich bei Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 261. 49 Die Abbildung wurde mit Hilfe der erhobenen Daten der EZB, die unter http: / / sdw.ecb.europa.eu eingesehen werden können, erstellt.
F. Zusammenfassung117
E. Konsequenzen für den Zinsbegriff Wurde oben offen gelassen, ob in einer freien Marktwirtschaft mit rational handelnden Akteuren ein natürlicher Zins den negativen Bereich erreichen kann, kann nun festgestellt werden, dass – unabhängig von der ökonomischen Sinnhaftigkeit – negative Zinsen auf dem Geldmarkt bereits seit längerer Zeit Realität sind, wenn beispielsweise die Geschäftsbanken überschüssige Liquidität über Nacht bei der Europäischen Zentralbank als Einlage belassen möchten. Dies ist aber nicht die Folge eines Prozesses zwischen gleichberechtigten und rational handelnden Marktakteuren, sondern Folge eines „hoheitlichen“ Eingriffes in den Markt mit dem Ziel, durch geldpolitische Maßnahmen einen konjunkturellen Aufschwung zu erzeugen. Negative Zinsen – wie bei der Einlagenfazilität und dem EONIA50 – sind damit seit mehreren Jahren wirtschaftliche Realität.
F. Zusammenfassung Wirtschaftswissenschaftlich sind verschiedene Formen des Zinses möglich: Zunächst ist bei entsprechender Inflation und einem niedrigen (aber positiven) Nominalzins ein negativer Realzins denkbar. Im Kreditmarktmodell schneiden sich Nachfrage- und Angebotsfunktion und bilden den Gleichgewichtszins ab. Durch mathematische Operationen ist es prinzipiell möglich, die Funktionen (im theoretischen Rahmen) so zu verschieben, dass sich ein negativer Zins bildet. Zur Beantwortung der Frage, ob ein negativer Zins nicht nur mathematisch-theoretisch, sondern auch ökonomisch-rational denkbar ist, wurden zwei bedeutende Zinstheorien überprüft, die jeweils zu einem ablehnenden Ergebnis kommen: Mit der Zeitpräferenztheorie von Ludwig von Mises ist ein negativer Zins kaum vereinbar, denn ein solcher würde bedeuten, dass der von Natur aus eigentlich zielgerichtet handelnde Mensch die Verwirklichung all seiner Ziele in die Zukunft verschieben würde. Auch nach der Zinstheorie von Eugen Böhm-Bawerk ist ein negativer Zins nicht zu vereinbaren, denn dann würde das Wirtschaftssubjekt letztlich auf seine gegenwärtige Existenz zu Gunsten einer zukünftigen Existenz verzichten. Allerdings ist der diesen theoretischen Modellen zugrundeliegende Urzins bzw. natürliche Zins nicht mit dem Zinsumfeld gleichzusetzen, das seit den wirtschaftlichen Krisen des neuen Jahrtausends die europäischen Märkte be50 Auch die verschiedenen Formen der Referenzzinssätze EURIBOR und LIBOR waren zeitweise / sind im negativen Bereich. Eine Übersicht über die jeweilige Zinshöhe findet sich unter www.global-rates.com.
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herrscht. Denn die durch diese Krisen gefährdete Preisniveaustabilität, zu deren Gewährleistung die EZB verpflichtet ist, wird durch jene Zentralbank durch hoheitliche Eingriffe in das natürliche Marktgeschehen künstlich wiederherzustellen versucht. Die EZB macht hierzu von ihrer Kompetenz Gebrauch, die Leitzinsen abzusenken, um so über den geldpolitischen Transmissionsmechanismus das Zinsniveau im Wirtschaftsraum zu senken und damit die Konsum- und Investitionsbereitschaft wieder zu stimulieren. Trotz des mittlerweile negativen Satzes der Einlagefazilität wird diese durch die Geschäftsbanken aber immer noch in einem hohen Maße in Anspruch genommen. Die im europäischen Raum derzeit negativen Zinsen (im Wesentlichen Satz der Einlagefazilität, EONIA und die IBOR-Werte) sind also nicht das Ergebnis eines freien Marktes, sondern spiegeln einen gehemmten Markt wider, der die geldpolitischen Eingriffe der EZB reflektiert. Wenngleich also negative Zinsen mit einigen der zinstheoretischen Modelle kaum zu vereinbaren sind, sind sie dennoch im europäischen Raum aufgrund der hoheitlichen Geldpolitik Realität.
§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht A. Formen und Definition des Zinses im BGB Die wichtigsten Zinssätze des Zivilrechts sind der gesetzliche Zins (§ 246 BGB), der Basiszinssatz (§ 247 BGB) und der Zins im Rahmen des Darlehensrechts (§ 488 ff. BGB). Trotz der Häufigkeit und Wichtigkeit des Zinses im Zivilrecht1 fehlt im BGB eine Legaldefinition. Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur hat jedoch im Laufe der Zeit eine Definition herausgearbeitet,2 nach der ein Zins im Rechtssinne das für die Möglichkeit des Gebrauchs von zeitweilig überlassenem Kapital zu leistende Entgelt sei, das zeit-, gewinn- und umsatzabhängig berechnet wird.3 Entscheidend ist der materielle Gehalt der Vergütung, auf die richtige Bezeichnung als Zins kommt es demgegenüber nicht an.4 Wie im BGB eine Legaldefinition des Zinses fehlt, so fehlt auch eine Stellungnahme dazu, ob ein negativer Zins noch ein „Zins i. S. d. BGB“ sein kann. Auch in den Gesetzesmaterialien findet sich – kaum verwunderlich – keine Stellungnahme des Gesetzgebers zu diesem relativ neuartigen Phänomen. Die Frage muss also auf einem anderen Weg beantwortet werden.
1 Der Zinsbegriff ist Bestandteil vieler Normen des BGB, vgl. u. a. §§ 101 Nr. 2, 212 Abs. 1 Nr. 1, 216 Abs. 3, 256 S. 1, 301, 358 Abs. 4 S. 4, 396 Abs. 2, 675g Abs. 3, 675t Abs. 1 S. 2, 675y Abs. 4, 675z S. 2 BGB. 2 Die erste Definition des Zinsbegriffes durch das Reichsgericht 1915 [RGZ 86, 399 (400 f.)] wurde im Laufe der Zeit mehrfach modifiziert, vgl. zu dieser „Definitionsgeschichte“ überblickshaft Omlor, in: Staudinger, BGB, § 246 Rn. 23 und ausführlich Kollmann, Negative Zinsen, S. 67 ff. 3 Aus der Rechtsprechung BGH NJW 1979, 805 (806); NJW 1979 2089 (2090) (mit geringfügigen Modifikationen hinsichtlich des Entgelts); NJW-RR 1992, 591 (592); NJW 2014, 2420 (2424); aus der Literatur Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 154; Bezzenberger, WM 2002, 1617 f.; Canaris, NJW 1978, 1891 (1892); Omlor, in: Staudinger, BGB, § 246 Rn. 23 mit jeweils weiteren Nachweisen. Umstritten ist vor allem, ob der Zinssatz neben seiner Zeitabhängigkeit per definitionem auch gewinn- und umsatzabhängig ist, vgl. anstatt vieler vor allem die sich diesbezüglich widersprechenden Ausführungen von Omlor, in: Staudinger, BGB, § 246 Rn. 23 ff. und Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 181. 4 Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 162; Omlor, in: Staudinger, BGB, § 246 Rn. 23; Zellweger-Gutknecht, ZfPW 2015, 350 (367).
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§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
B. Vereinbarkeit mit der Zinsdefinition des BGB als Ausgangspunkt Als Ausgangspunkt der Überlegungen soll die oben bereits genannte, in Rechtsprechung und Literatur herrschende Definition des Zinses fungieren und daraufhin untersucht werden, ob ein negativer Zins von ihr umfasst ist. Diese Definition enthält im Wesentlichen drei Elemente: Danach ist Zins die (1) für die Möglichkeit des Gebrauchs von zeitweilig überlassenem Kapital zu leistende, (2) zeit-, (gewinn- und umsatzabhängige) (3) Vergütung. ad 1: Auch bei einer negativen Verzinsung erfolgt seitens des Kapitalgebers eine zeitweilige Überlassung des Kapitals. Der Kapitalnehmer hat dann die Möglichkeit, dieses Kapital zu nutzen. ad 2: Auch eine negative Verzinsung kann (und wird in der Praxis) in Abhängigkeit der Vertragsmodalitäten in ihrer genauen Höhe zeit-, gewinnund umsatzabhängig berechnet und vereinbart werden. ad 3: Fraglich ist allein, ob ein negativer Zins noch als eine „Vergütung für“ die Überlassung von Kapital angesehen werden kann, denn nicht mehr der Kapitalnehmer vergütet die Überlassung des Kapitals durch den Kapitalgeber, sondern der Kapitalgeber vergütet dafür, dass er Kapital überlässt. Der Begriff der Vergütung wird im Duden definiert als „einen finanziellen Ausgleich zahlen“,5 das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm definiert Vergütung als „Ersatz“.6 Diese beiden Begriffsannäherungen zeigen bereits, dass der Gedanke eines negativen Zinses, also einer entgegengesetzten Zahlungspflicht, sich mit dem Kompensationsgedanken, den der Begriff „Ersatz“ impliziert und der auch aus der Definition des Duden herausgelesen werden kann, nur schwerlich vereinbaren lässt. Dem schließt sich auch die überwiegende Zahl der Stimmen in der neueren Literatur, die zum Phänomen der negativen Zinsen Stellung bezogen haben, an.7
C. Erweiterung der Definition? Die Existenz einer zeitabhängigen Vergütung für die Bereitstellung von Kapital ist indes keine notwendige Bedingung für den Anwendungsbereich des Zinsbegriffes. Es erscheint nämlich ebenso möglich, dass die sich im 5 Duden
Stilwörterbuch, S. 941. Deutsches Wörterbuch, 12,1, 501. 7 Becker, WM 2013, 1736 (1737 f.); Coen, NJW 2012, 3329 (3330); Ernst, ZfPW 2015, 250 f.; Kollmann, Negative Zinsen, S. 77 f.; Omlor, in: Staudinger, BGB, § 246 Rn. 42; Tröger, NJW 2015, 657 (659 f.). 6 Grimm / Grimm,
D. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten – Begriffliches Argument121
letzten Jahrhundert herauskristallisierte Zinsdefinition, die in ihrem Kern auf das Jahr 1915 zurückgeht,8 nicht mehr den aus den Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre resultierenden (neuen) ökonomischen Gegebenheiten gerecht zu werden vermag und deshalb erweitert werden muss.9 Es müssen daher weitere Überlegungen angestellt werden, um abwägen und entscheiden zu können, ob die derzeitige Definition des rechtswissenschaftlichen Zinses ausreichend ist (und damit negative Zinsen keine Zinsen in diesem Sinne sein können) oder einer Erweiterung bedarf (damit der negative Zins davon erfasst ist).
D. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten – Begriffliches Argument Für die oben kurz skizzierte Streitfrage zur Möglichkeit der Existenz eines negativen wirtschaftlichen Zinses genügte für diese Untersuchung die Feststellung, dass die Existenz eines negativen natürlichen Zinses zwar umstritten ist, negative Zinsen aber in unserem „gehemmten“ Markt seit mehreren Jahren ökonomische Realität sind. Diese Beobachtung könnte man auch für die juristische Argumentation zur Auslegung des rechtswissenschaftlichen Zinsbegriffes fruchtbar machen. Eine solche Verbindung ziehen Hingst / Neumann, die zwar zugestehen, dass „die ökonomische Perspektive keine Verbindlichkeit für die juristische Begriffsbildung“10 habe, die dann aber doch die Existenz negativer Zinsen in den „Wirtschaftswissenschaften“11 irgendwie als Argument für eine Erweiterung der bisherigen Zinsdefinition zu nehmen scheinen. Diesem – rein begrifflichen – Argument muss aus drei Gründen widersprochen werden. Erstens erfolgt bei Hingst / Neumann letztlich keine Auseinandersetzung mit der Frage, welche Art des (wirtschaftlichen) Zinses gemeint ist und ob 8 s. o.
die Nachweise bei § 5 Fn. 2. weiter gehen Langner / Müller, die angesichts dieser „traditionellen“ Zinsdefinition zu dem Ergebnis kommen: „Sinnvolle Schlüsse bezüglich des neuen Phänomens des Negativzinses können daraus schwerlich gezogen werden“, siehe Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1980). 10 Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (97). 11 Hingst / Neumann sprechen vor diesem Hintergrund davon, dass negative Zinsen in den „Wirtschaftswissenschaften“ eine „geläufige Erscheinung“, siehe Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (97). Vor dem Hintergrund der obigen Untersuchung kann lediglich konstatiert werden, dass es eine lebhafte Diskussion über die negative Verzinsung gibt. Eine geläufige Erscheinung sind sie dagegen bisher weniger in den Wissenschaften als vielmehr in der wirtschaftlichen Realität, nämlich im Rahmen der Leitzinssätze der Zentralbanken. 9 Noch
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§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
deshalb eine Verallgemeinerung, wie sie sie vornehmen, sinnvoll ist. Die von ihnen angesprochenen Phänomene des negativen Zinses betreffen lediglich die Leitzinssätze der Notenbanken.12 Man könnte vor dem Hintergrund des oben Diskutierten aber ebenso gut die Auffassung vertreten, dass aufgrund eines natürlichen Zinssatzes, der (je nach Auffassung) vielleicht gar nicht negativ werden kann, gerade deshalb keine Verallgemeinerung in der wirtschaftlichen Terminologie geboten ist, da diese negativen Leitzinssätze eben nur als Ausnahmeerscheinungen im Interbankenmarkt aufgrund eines hoheitlichen Eingriffes in einer wirtschaftlichen Krisensituation entstanden sind. Zum zweiten muss gefragt werden, ob, wenn die Leitzinssätze nur exotische Ausnahmesituationen sind, eine Übertragung auf den rechtswissenschaftlichen Zinsbegriff überhaupt geboten ist. Diese Frage kann allerdings aus einem dritten Grund, nämlich der Unschädlichkeit der Falschbezeichnung, offen bleiben. Der schon im römischen Recht verankerte falsa demonstratio non nocet-Grundsatz fand nach der bekannten Haakjöringsköd-Entscheidung des RG13 auch Eingang ins deutsche Recht. Dieser Grundsatz besagt für den Fall, dass die Parteien tatsächlich bei den Vertragsverhandlungen einen Konsens erzielt haben, es unschädlich ist, ob diese in ihren Erklärungen auch die objektiv zutreffende Bezeichnung gewählt haben.14 Dieser Grundsatz gilt auch dann, wenn die Bezeichnung zwar für die Parteien übereinstimmend das Richtige ausdrückt, die Bezeichnung aber unter dem Aspekt juristischer Terminologie unzutreffend ist. So wird auch die unrichtige Bezeichnung des Geschäftstyps für unschädlich gehalten, da es „für die rechtliche Qualifizierung des Vertragstyps und die daran anknüpfenden Rechtsfolgen nicht auf die Bezeichnung ankommt, sondern auf die objektiven Verhältnisse“15. Wenn aber sogar die unrichtige Bezeichnung eines Vertragstypus unschädlich ist, dann ist (a maiore ad minus) erst recht die unrichtige Bezeichnung einzelner Vertragsbestandteile unerheb12 Zu den Unterschieden dieser beiden Begriffe siehe zusammenfassend Kollmann, Negative Zinsen, S. 79 ff. Hingst / Neumann berücksichtigen diese Unterschiede wirtschaftlicher Zinsformen zu wenig. Für sie spricht allein die Existenz negativer Leitzinssätze schon dafür, auch die Existenzmöglichkeit eines negativen Bereiches auch bei anderen Zinsformen anzunehmen. Wenngleich die Leitzinssätze der EZB ein großes makroökonomisches Gewicht besitzen, ist dadurch noch nichts über ihre dogmatische Eigenart ausgesagt. 13 Siehe RGZ 99, 147 (148). 14 BGH NJW 1983, 1610; NJW-RR 1988, 265; NJW 1991, 1730 f.; NJW 2008, 1658 (1659); Armbrüster, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 119 Rn. 59; Medicus / Petersen, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 327; Wolf / Neuner, Allgemeiner Teil des BGB, § 35 Rn. 27 f. 15 Singer, in: Staudinger, BGB, § 117 Rn. 13; in diesem Sinne auch: Larenz, Schuldrecht I, § 20 I c; eingehend hierzu auch Mittelstädt, Die Auslegung empfangsbedürftiger Willenserklärungen, S. 80 ff.
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument123
lich. So ist es also denkbar, dass eine wirtschaftswissenschaftliche Bezeichnung (die dort vielleicht auch ihre Richtigkeit haben mag) unter rechtswissenschaftlichen Gesichtspunkten auch falsch sein kann und dann nach dem falsa demonstratio non nocet-Grundsatz nicht das Gesagte, sondern das (rechtswissenschaftlich) damit Gemeinte entscheidend sein soll. Diese Grundsätze sollen nicht dahingehend missverstanden werden, dass die ökonomische Perspektive keine Rolle spielen darf und die Bestimmung rechtswissenschaftlicher Definitionen isoliert von anderen wissenschaftlichen Disziplinen erfolgen soll. Ganz im Gegenteil ist der Gesetzestext so offen formuliert, dass durch die Erweiterung oder Neubestimmung von Definitionen den aktuellen Gegebenheiten – gleich welchen Bereiches – Rechnung getragen werden kann bzw. muss. Hier sollte nur festgestellt werden, dass die Existenz „negativer Zinsen“ in der Wirtschaft auf rein begrifflicher Ebene für sich genommen nicht notwendig Auswirkung auf den rechtswissenschaftlichen Zinsbegriff (bzw. seine Bestimmung) hat.
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument Von dieser begrifflichen Seite muss die Frage getrennt werden, ob auf materieller Ebene die Existenz „negativer Zinsen“ im europäischen Raum Einfluss auf die rechtswissenschaftliche Begriffsbestimmung haben kann oder sogar muss. Da die in diesem Kontext wichtigen Leitzinssätze durch die EZB festgelegt werden, ist die europarechtliche Dimension negativer Verzinsung in die Überlegungen miteinzubeziehen. Hingst / Neumann stellen die These auf, dass es im Widerspruch zum Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung stünde, wenn „von der EZB geforderte Negativzinsen juristisch als Zins gälten, von Geschäftsbanken verlangte Negativzinsen jedoch nicht“.16 Dieser Grundsatz zwinge zwar nicht dazu, „Rechtsbegriffe in jedem Gesetz in gleichem Sinne anzuwenden“,17 eine sinnvolle Rechtsanwendung setze aber „eine harmonisierende Interpretation von Einzelnormen“ voraus.18 In ähnlicher Weise argumentieren auch Langner / Müller, die die These aufstellen, dass aufgrund des „negativen Zinses“ der Einlagefazilität „europarechtlich […] ein Zins folglich auch als Negativzins denkbar“ sei.19
16 Hingst / Neumann,
BKR 2016, 95 (97). BKR 2016, 95 (97), die dies aus BVerfGE 25, 309 folgern. 18 Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (97), die dies aus Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie mit Juristischer Methodenlehre, Rn. 145 ff. folgern. 19 Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1980). 17 Hingst / Neumann,
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§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
I. „Negative Zinsen“ im europäischen Kontext Um die Werthaltigkeit dieses Arguments zu überprüfen, muss zunächst untersucht werden, inwiefern tatsächlich „negative Zinsen“ im europäischen Raum erhoben werden und aufgrund welcher rechtlicher Mechanismen dies erfolgt, um so feststellen zu können, ob tatsächlich eine „harmonisierende Interpretation“ erfolgen muss. Es gibt derzeit im Wesentlichen vier Arten von Zinssätzen, die im europäischen Raum eine Rolle spielen und die negativ sind: Der Satz der Einlagefazilität, der EONIA, sowie die Referenzzinssätze EURIBOR und LIBOR.20 Für die europarechtliche Betrachtung erscheint es sinnvoll, zwischen den Geldmarktsätzen im Interbankenverkehr (im Folgenden Geldmarktsätze i. e. S.) und den Notenbanksätzen zu differenzieren.21 Der EONIA wird zwar täglich von der EZB ermittelt und mitgeteilt,22 die EZB ist hierbei aber insoweit nicht selbstständig handelnder Akteur, sondern übernimmt als neutrale Behörde nur die Berechnung aus den ihr von den EONIA-Panel-Banken zur Verfügung gestellten Daten. Der EONIA wird, wie oben gezeigt,23 nur mittelbar über die von der EZB festgelegten Notenbanksätze beeinflusst, indem er sich im Normalfall am HRG-Satz, seit der Wirtschaftskrise aber am LRG-Satz orientiert. Dennoch ist er kein geldpolitisches Instrument der EZB. Auch EURIBOR und LIBOR dürfen in dieser Betrachtung deshalb keine Rolle spielen, da diese Referenzzinssätze nicht von der EZB erhoben werden24 und deshalb (zwar in einem faktisch europäischen aber) nicht in einem europarechtlichen Kontext stehen. 20 Die Verzinsung von Staatsanleihen soll hier außer Betracht bleiben, da sich hieraus gegenüber den untersuchten Zinssätzen keine anderen Auswirkungen auf den rechtswissenschaftlichen Zinsbegriff ergeben. 21 Für sich genommen sind die Notenbanksätze auch Geldmarktsätze. Um die Begrifflichkeiten klarer zu trennen sollen deshalb im Folgenden die Geldmarktsätze EONIA, LIBOR und EURIBOR als „Geldmarktsätze“ und die Sätze für die ständigen Fazilitäten der Zentralbanken als „Notenbanksätze“ bezeichnet werden, um zu akzentuieren, dass letztere „hoheitlich“ von der EZB erhoben werden. Auch die EZB scheint bisweilen eine Differenzierung in diese Richtung zu treffen, wenn sie davon spricht, dass zu den Referenzzinssätzen in erster Linie „die EZB-Leitzinsen, die Geldmarktsätze und die Renditen von Staatsanleihen“ zählen würden, vgl. Europäische Zentralbank, Beurteilung der Finanzierungsbedingungen des privaten Sektors im Euro-Währungsgebiet während der Staatsschuldenkrise, 83 (84). 22 Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 252 f. 23 s. o. § 4. D. IV. 2. 24 Wenngleich sich EURIBOR und LIBOR an den drei EZB-Zinssätzen (Einlagefazilität, HRG und Spitzenrefinanzierungsfazilität) orientieren werden, erfolgt eine Bestimmung letztlich durch die Geschäftsbanken selbst. Die 24 EURIBOR-PanelBanken melden ihre Angebotssätze für unbesicherte Termingelder im Euro-Interban-
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument
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Bei der Untersuchung des Arguments einer „harmonisierenden Interpretation“ müssen also auf jeden Fall die Geldmarktsätze i. e. S. außer Betracht bleiben, da diese nicht von einem europäischen Organ einseitig festgelegt, sondern lediglich aufgrund der Zinssätze der Geschäftsbanken von der EZB (EONIA) oder Dritten (EURIBOR, LIBOR) berechnet werden. Somit verbleibt der Satz der Einlagefazilität als Notenbanksatz. Dieser wird durch die EZB als geldpolitisches Instrument eingesetzt und einseitig festgelegt. Doch welcher Art von Zins ist dieser Satz? Und kann / muss man aus ihm Rückschlüsse auf den vertragsrechtlichen Zinsbegriff ziehen? Hierzu bietet es sich an, zwei Ebenen auseinanderzuhalten. Einerseits kann die Leitlinie der EZB betrachtet werden, die über die Festsetzung der (auch negativen) Sätze der Einlagefazilität wichtige Ausführungen enthält. Hiervon getrennt werden muss die tatsächliche Festsetzung eines negativen Satzes durch die EZB selbst.
II. Die Leitlinie der EZB 1. Aussagen der Leitlinie Hinsichtlich der Frage, ob ein Zinssatz auch als negativer denkbar ist, ist die Leitlinie der Europäischen Zentralbank über die Umsetzung des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems aus dem Jahr 201425 insoweit eindeutig. Art. 23 Abs. 3 S. 2 dieser Leitlinie bestimmt zur Laufzeit und dem Zinssatz der Einlagefazilität: „Bei negativen Zinssätzen führt die Anwendung des Zinssatzes auf die Einlagefazilität zu einer Zahlungsverpflichtung des Einlegers gegenüber der Heimat-NZB, was kenmarkt an Global Rate Set Systems, die daraus nach einer festgelegten Berechnungsmethode die verschiedenen (laufzeitabhängigen) Varianten der EURIBORZinssätze ermittelt und anschließend veröffentlicht (vgl. auch Görgens / Ruckriegel / Seitz, Europäische Geldpolitik, S. 252 f.). Auch bei dem für kurzfristige Anleihen maßgeblichen LIBOR melden die hierfür bestimmten Panel-Banken täglich ihre Angebotssätze, aus denen die Nachrichtenagentur Thomson Reuters die LIBOR-Werte für die einzelnen Währungen kalkuliert und anschließend veröffentlicht. 25 Leitlinie (EU) 2015 / 510 der Europäischen Zentralbank vom 19. Dezember 2014 über die Umsetzung des geldpolitischen Handlungsrahmens des Eurosystems (Leitlinie allgemeine Dokumentation) (EZB / 2014 / 60) (Neufassung: Titel neu gef. mWv 2.11.2015 durch Leitlinie (EU) 2015 / 1938 (EZB / 2015 / 27) v. 27.8.2015 (ABl. L 282 S. 41), die die bis dahin maßgebliche Leitlinie der EZB vom 20. September 2011 über geldpolitische Instrumente und Verfahren des Eurosystems (Neufassung) (EZB / 2011 / 14) aufhob (vgl. Art. 190). Diese Leitlinie hat der EZB-Rat auf Grundlage des AEUV, insbesondere des aus Art. 127 Abs. 2 AEUV folgenden Mandats veröffentlicht.
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das Recht dieser NZB umfasst, das Konto des Geschäftspartners entsprechend zu belasten.“26
Hier ist also eindeutig von „negativen Zinssätzen“ die Rede.27 Zurückhaltender ist überraschenderweise die Deutsche Bundesbank als nationale Zentralbank. Im Rahmen ihrer AGB findet sich eine Regelung über die Haltung von Mindestreserven und deren Verzinsung mit dem Titel „Haltung von Mindestreserve und Verzinsung, Entgelt („negativer Zinssatz“)“.28 Der Begriff der Verzinsung scheint also nur für einen positiven Betrag angenommen zu werden, während dagegen für den negativen Bereich der Begriff des Entgelts präferiert wird und der Begriff „negativer Zinssatz“ in Klammern und Anführungszeichen gesetzt wird. Innerhalb des Abschnitts zur Einlagefazilität führt die Deutsche Bundesbank dann aus: „Beträgt der Zinssatz des Eurosystems für die geldpolitische Einlagefazilität weniger als 0 %, erhebt die Bank auf die in Satz 3 bezeichneten Guthaben ein Entgelt in Höhe des jeweils aktuellen Satzes der geldpolitischen Einlagefazilität.“29
Die Deutsche Bundesbank scheint also zu akzeptieren, dass die Europäische Zentralbank im Rahmen der Einlagefazilität einen „negativen Zins“ erhebt und diesen auch als solchen bezeichnet, spricht für ihren Bereich aber ausdrücklich nicht von einem „negativen Zins“, sondern von einem Entgelt in Höhe des jeweiligen Satzes der Einlagefazilität. Einer solchen umständlichen Formulierung hätte es nicht bedurft, wenn die Deutsche Bundesbank nicht Zweifel gehabt hätte, ob ein „negativer Zins“ tatsächlich im Rechtssinne (oder auch im Wirtschaftssinne) möglich ist. Insoweit ist – begrifflich – keine Einigkeit im ESZB festzustellen. Während die EZB ohne besondere Rechtfertigung von einem „negative Zins“ spricht, scheint die Deutsche Bundesbank diesen Begriff vermeiden zu wollen. Dieser Widerspruch hat wohl Hingst / Neumann zu der eben erwähnten These veranlasst. Ein möglicher Kollisionsfall ist aber nur dann relevant, wenn der unionsrechtliche Erlass im nationalen Recht Wirkung entfaltet.30 Erst bei einer Kollision zweier jeweils gültiger und anwendbarer unionsrechtlicher und nationaler Normen könnte sich ein Anwendungsvorrang des 26 Vgl. auch Art. 21 Nr. 2 der Leitlinie: „Der Zinssatz für die Einlagefazilität kann: a) positiv, b) auf null Prozent festgesetzt werden, c) negativ sein“. 27 Dies wird in anderen Publikationen der EZB bestätigt, vgl. Europäische Zen tralbank, Die Geldpolitik der EZB, S. 108. 28 Deutsche Bundesbank, AGB der Deutschen Bundesbank, II D 2 (im Folgenden als „AGB-Bundesbank“ abgekürzt). 29 AGB-Bundesbank, V 23 III. Vgl. auch die ähnlich lautenden Formulierungen bei II C 2, II D 2, II G 2. 30 Vgl. hierzu eingehend Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theo rie und Praxis, S. 106 ff.
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument127
Unionsrechts ergeben. Aus diesem Grund müssen zunächst die Rechtsnatur und die Wirkungsweise der währungsrechtlichen Leitlinie untersucht werden. 2. Rechtsnatur und Rechtsverbindlichkeit der Leitlinie Das ESZB wird von den Beschlussorganen der Europäischen Zentralbank geleitet (Art. 282 Abs. 2 S. 1 AEUV, Art. 8 ESZB-Satzung)31 und unterliegt nicht dem allgemeinen Rechtssetzungsregime des Art. 288 AEUV,32 sondern bekommt seine Rechtssetzungsbefugnisse originär über Art. 132 AEUV verliehen. Der Erlass solcher Rechtsakte wie der Leitlinie fällt im Regelfall in den Zuständigkeitsbereich des EZB-Rates.33 Während Verordnungen, Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 132 Abs. 1 AEUV34) als öffentlich-rechtliche Rechtsakte mit Außenwirkung angesehen werden,35 dienen Leitlinien und (ESZB-interne)36 Beschlüsse, zu deren Erlass der EZB-Rat gem. Art. 12.1 Abs. 1 der ESZB-Satzung befugt ist, um die ihm gemäß den Verträgen übertragenen Aufgaben (also auch der Erfüllung der Preisniveaustabilität) zu gewährleisten, sowie die hierauf beruhenden Weisungen, die das EZB-Direktorium gegenüber den nationalen Zentralbanken 31 Die Satzung des ESZB und der EZB, eigentlich Protokoll (Nr. 4) über die Satzung des Europäischen Systems der Zentralbanken und der Europäischen Zentralbank vom 7. Februar 1992 (ABl. C 191 vom 29.7.1992, S. 68), in der Fassung des Vertrags von Lissabon vom 13.12.2007 (ABl. C 306 vom 17.12.2007), konsolidierte Fassung ABl. C 326 vom 26.10.2012 S. 230, soll im Folgenden vereinfachend als ESZB-Satzung bezeichnet werden. 32 Dittrich, Die Bedeutung des Rechts für die Stabilität des Geldes, S. 145. 33 Häde, in: Calliess / Ruffert, EUV / AEUV, § 132 Rn. 7; Schütz, EuR 2001, 291 (294) („Der EZB-Rat ist damit die „Legislative“ des ESZB und insoweit dem Ministerrat vergleichbar“). 34 Vgl. auch gleichlautend Art. 34.1 der ESZB-Satzung. 35 Dittrich, Die Bedeutung des Rechts für die Stabilität des Geldes, S. 145; Ohler / Schmidt-Wenzel, in: Siekmann, EWU, Art. 132 AEUV Rn. 8; Schulte, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 132 AEUV Rn. 2. 36 „Beschlüsse“ werden sowohl in Art. 132 AEUV als auch Art. 12 der ESZBSatzung genannt. Während Beschlüsse i. S. d. Art. 132 AEUV an einen Adressaten gerichtet sein können oder nicht (im Letzteren Fall haben sie eher Normcharakter, vgl. Schulte, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 132 AEUV Rn. 12), haben sie stets Außenwirkung, wohingegen die von Art. 12 der ESZB-Satzung eher ESZB-interne Beschlüsse zu meinen scheint, die keine unmittelbare Rechtswirkung für Dritte hat, vgl. auch die jeweilige Bezeichnung in Schulte, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 132 AEUV Rn. 24 und Zilioli / Urban, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 12 ESZB / EZB-Satzung Rn. 16. Diese (zunächst unbefriedigend wirkende) Unterscheidung soll im Rahmen dieser Arbeit allerdings nicht weiter ausdifferenziert werden, da für den Vollzug der Geldpolitik vor allem die Leitlinien und Weisungen maßgeblich sind, vgl. auch Art. 12.1 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 der ESZB-Satzung.
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§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
erteilt,37 der Schaffung eines systeminternen Binnenrechts,38 sind also interne Rechtsakte ohne unmittelbare Rechtswirkungen gegenüber Dritten.39 Die „währungsrechtlichen Leitlinien“40 werden gegenüber den nationalen Zentralbanken bekanntgegeben, um von diesen umgesetzt werden41 und sind für diese und das EZB-Direktorium verbindlich, wobei die Einhaltung justiziabel ist.42 Aufgrund dieser Umsetzungsbedürftigkeit der Leitlinien entfalten nur die Umsetzungsakte möglicherweise Rechtswirkung gegenüber Dritten, nicht die Leitlinien als solche.43 3. Auswirkungen auf das deutsche Recht Ergeben sich bei der Auslegung der Umsetzungsmaßnahmen Schwierigkeiten, gilt der unionsrechtliche Grundsatz des Anwendungsvorranges der Leitlinien, weshalb also die Umsetzungsmaßnahmen leitlinienkonform ausgelegt werden müssen.44 Zudem haben die nationalen Zentralbanken bzw. 37 ESZB-Satzung, Art. 12.1 Abs. 2; zu dieser Rechtsmacht des Direktoriums siehe auch Zilioli / Selmayr, The Law of the European Central Bank, S. 116 ff. 38 Ohler / Schmidt-Wenzel, in: Siekmann, EWU, Art 132 AEUV Rn. 59; Schulte, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 132 AEUV Rn. 24. 39 Europäische Zentralbank, Die Rechtsinstrumente der Europäischen Zentralbank, 62 (64 f.); Steven, in Siekmann, EWU, Art. 12 ESZB-Satzung, Art. 12 Rn. 15. 40 Die „währungsrechtliche Leitlinie“ ist unionsrechtlich anders ausgestaltet als die Leitlinie außerhalb des Währungsrechts, in dem sie rechtliche Einschätzungen der Kommission an private Rechtsanwender oder die Mitgliedstaaten weitergibt, vgl. Dittrich, Die Bedeutung des Rechts für die Stabilität des Geldes, S. 145, siehe hierzu ausführlich auch Graevenitz, EuZW 2013, 169 ff. 41 Zu diesem (ähnlich wie in Art. 288 Abs. 3 AEUV geregelten) zweistufigen Verfahren siehe auch Ohler / Schmidt-Wenzel, in: Siekmann, EWU, Art 132 AEUV Rn. 59. 42 Vgl. Art. 35.6 der ESZB-Satzung. 43 So auch Ohler / Schmidt-Wenzel, in: Siekmann, EWU, Art. 132 AEUV Rn. 61. Man könnte anführen, dass es bei der Beurteilung der Frage, ob eine Maßnahme unmittelbare Rechtswirkung entfaltet, nicht auf die Bezeichnung dieser Maßnahme, sondern auf die tatsächliche Rechtswirkung ankomme (vgl. Schulte, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 132 AEUV Rn. 35 m. w. N. aus der EuGH-Rechtsprechung). Dies vernachlässigt aber, dass Art. 132 AEUV hinsichtlich der Außenwirkung insoweit abschließenden Charakter zu haben scheint (siehe auch Ohler / Schmidt-Wenzel, in: Siekmann, EWU, Art. 132 AEUV Rn. 61). Gegen eine Außenwirkung spricht sich auch Potacs, EuR 1993, Fn. 58 aus. 44 Schulte, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 132 AEUV Rn. 36, der aber von „Geltungsvorrang“ spricht. Auch von Geltungsvorrang spricht die Europäische Zentralbank in: Die Rechtsinstrumente der Europäischen Zentralbank, 62 (65). Nach der wohl zutreffenden Auffassung von Manger-Nestler spreche die EZB hier zwar von einem Geltungs- meine aber einen Anwendungsvorrang, siehe Manger-Nestler, in: Par(s) inter pares?, S. 169 (Fn. 164). In diese Rich-
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument129
die Mitgliedstaaten ihre Währungskompetenz an die EU bzw. die EZB abgegeben, sodass ihnen prinzipiell auch das Ausfüllen belassener Spielräume der Leitlinien nicht möglich ist. Stellt man die beiden Auszüge aus der Leitlinie der EZB und den AGBBundesbank gegenüber, ist der Widerspruch jedoch geringer als auf den ersten Blick vermutet. Art. 23 Abs. 3 S. 2 der Leitlinie (EU) 2015 / 510
II D 2 der AGB-Bundesbank
„Bei negativen Zinssätzen führt die Anwendung des Zinssatzes auf die Einlagefazilität zu einer Zahlungsverpflichtung des Einlegers gegenüber der Heimat-NZB, was das Recht dieser NZB umfasst, das Konto des Geschäftspartners entsprechend zu belasten.“
„Beträgt der Zinssatz des Eurosystems für die geldpolitische Einlagefazilität weniger als 0 %, erhebt die Bank auf die in Satz 3 bezeichneten Guthaben ein Entgelt in Höhe des jeweils aktuellen Satzes der geldpolitischen Einlagefazilität.“
Auch die EZB spricht im Falle eines negativen Einlagesatzes von einer „Zahlungsverpflichtung“, die Bundesbank von einem Entgelt in Höhe des Satzes. Die Bundesbank hat damit alle Verpflichtungen, die sich aus der Leitlinie ergeben, umgesetzt, wenngleich mit einem anders nuancierten Begriff. Der Umsetzungsakt ist damit europarechtlich nicht zu beanstanden. Dass die Bundesbank in manchen Überschriften (vielleicht mit Blick auf den vertragsrechtlichen Zinsbegriff) den Terminus des „negativen Zinssatzes“ in Anführungsstriche setzt und auch sonst diesen Begriff zu vermeiden scheint, kann ihr nicht verwehrt werden, solange den Verpflichtungen aus der Leitlinie nachgekommen wird. Damit fehlt es an einem Kollisionsfall. Zudem handelt es sich, wie gerade herausgearbeitet, bei der Leitlinie der EZB nur um systeminternes Binnenrecht, das sich ausschließlich an die na tionalen Zentralbanken richtet, nicht jedoch an Kreditinstitute oder andere natürliche oder juristische Personen,45 mithin also keine Außenrechtswirkung besitzt. Auf das deutsche Recht kann also nur, wenn überhaupt, die tung wohl auch Ohler / Schmidt-Wenzel, in: Siekmann, EWU, Art. 132 AEUV Rn. 56, die aber von „Anwendungsvorrang“ sprechen. Dies wird in der Praxis freilich nur selten relevant werden, weil die EZB-Leitlinien inhaltlich meist schon so detailliert ausgestaltet sind, dass im Regelfall nur ein sehr begrenzter Umsetzungsspielraum bleiben wird, vgl. Zilioli / Urban, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 12 ESZB / EZB-Satzung Rn. 16. Für eine vorrangige Wirkung der währungsrechtlichen Leitlinien tritt auch Weber ein, siehe Weber, Die Kompetenzverteilung im Europäischen System der Zentralbanken bei der Festlegung und Durchführung der Geldpolitik, S. 162. 45 Hahn / Häde, ZHR 165 (2001), 30 (39).
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§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
Satzung der Deutschen Bundesbank einwirken. In dieser ist jedoch von der Möglichkeit eines negativen Zinses im vertraglichen Bereich gerade nicht die Rede. Die Ausführungen in der Leitlinie (EU) 2015 / 510 sprechen demnach nicht dafür, dass es aus Gründen des Anwendungsvorranges des Europäischen Rechts geboten sein könnte, negative Zinsen im Sinne des deutschen Rechts möglich sein zu lassen, da es sowohl an einer Außenwirkung der Leitlinie als auch an einer inhaltlichen Kollision mit dem deutschen Recht fehlt.
III. Die Erhebung negativer Leitzinssätze Europarechtliche Implikationen für die Beurteilung der Frage, ob der na tionale Zinsbegriff harmonisierend auszulegen ist, könnten sich aber aus den Leitzinsentscheidungen der EZB ableiten lassen. 1. Die Rechtsnatur der Leitzinsentscheidungen Um beurteilen zu können, welche Auswirkungen negative Leitzinssatzentscheidungen auf das deutsche Rechtssystem haben können oder müssen, muss zunächst untersucht werden, welche Rechtsnatur diese Leitzinssatzentscheidungen haben. Die Leitzinssätze der EZB werden durch den EZB-Rat festgesetzt (Art. 12.1 S. 2 ESZB-Satzung). Vor dem Vertrag von Lissabon sprach Art. 12.1 S. 2 a. F. der ESZB-Satzung von „Entscheidungen“, die der EZB-Rat zu treffen befugt ist. Nach Art. 110 Abs. 1 EGV waren solche Entscheidungen allerdings nur für diejenigen verbindlich, an die diese gerichtet waren. Die Leitzinsentscheidungen waren jedoch nicht nur an einen bestimmten Kreis von natürlichen oder juristischen Personen gerichtet, sondern betrafen alle mindestreservepflichtigen Kredit institute im Euroraum zum Zeitpunkt der Verkündung der aktuellen Sätze, galten aber ebenso für alle neu hinzukommenden Kreditinstitute und richteten sich zudem auch auf in der Zukunft liegende Geschäfte, waren also eher als generell-abstrakte Rechtsakte, nicht aber als Entscheidungen i. S. d. EGV ausgestaltet.46 Nach der im Rahmen des Vertrages von Lissabon erfolgten Anpassung der ESZB-Satzung spricht Art. 12.1 S. 2 n. F. nun von „Beschlüssen“. Wenngleich Beschlüsse ein häufiges Instrument zur Regelung von Einzelfällen sind, müssen sie dies nach Art. 288 Abs. 4 AEUV nicht zwangsläufig sein.47 Sind sie nicht an einen bestimmten Adressaten gerichtet, tritt der Charakter einer Einzelfallregelung zugunsten des Normcharakters zu46 Hahn / Häde, 47 Hahn / Häde,
Währungsrecht, § 17 Rn. 26. Währungsrecht, § 17 Rn. 28.
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument131
rück.48 Es wird in der Literatur die Meinung vertreten, dass aufgrund der Leitzinssätze lediglich die Zentralbanken ihre Zinssätze festlegen, zu denen sie Kredite gewähren oder Einlagen entgegennehmen, weshalb die Leitzinsentscheidungen Beschlüsse ohne Außenwirkungen seien.49 Dem ist jedoch zu widersprechen, da viele Kreditinstitute im Euroraum auch auf das Zentralbankgeld angewiesen sind50 und die Leitzinsfestsetzungen eine über das ESZB hinausgehende Wirkung entfalten, weshalb diese Beschlüsse letztlich als Rechtsnormen zu qualifizieren sind.51 Dies wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Zinssätze nicht im Amtsblatt der Europäischen Union, sondern im Internet mitgeteilt werden, da der EZB hinsichtlich der Veröffentlichung ihrer Beschlüsse durch den AEUV ein Ermächtigungsspielraum zugebilligt wird (Art. 132 Abs. 2 AEUV).52 2. Auswirkungen auf das deutsche Recht Das im Rahmen der vorangegangenen Untersuchung der Rechtsverbindlichkeit der Leitlinie vorgebrachte Argument, es handele sich dabei nur um ein systeminternes Binnenrecht, ist hier aufgrund des Normcharakters des Beschlusses nicht stichhaltig. Die Frage des Anwendungsvorranges, falls sie sich stellen würde, scheitert jedoch bereits am Fehlen eines Kollisionsfalles. Eine direkte Kollision liegt vor, „wenn Unionsrecht und nationales Recht auf demselben Rechtsgebiet Regelungen mit einander widersprechenden Rechtfolgen getroffen haben“.53 Die Festlegung der Notenbanksätze erfolgt als geldpolitische Entscheidung aufgrund unions- und währungsrechtlicher Kompetenzen im Interbankensystem. Von hier können keine Rückschlüsse auf die vertragsrechtliche Zinsvereinbarung gezogen werden, da die Normen schon (völlig) unterschiedlichen Rechtsgebieten angehören. Eine direkte Kollision ist damit klar abzulehnen. Eine indirekte Kollision liegt vor, „wenn eine Norm des Unionsrechts und eine Norm des nationalen Rechts unterschiedliche Sachmaterien regeln, aber auf denselben Sachverhalt Anwendung finden und dort einander widerspre48 Ohler / Schmidt-Wenzel, in: Siekmann, EWU, Art. 132 AEUV Rn. 31; Schroeder, in: Streinz, EUV / AEUV, § 288 Rn. 132 f.; Schulte, in: Groeben / Schwarze / Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 132 AEUV Rn. 12. 49 Endler, Europäische Zentralbank und Preisstabilität, S. 514 f. 50 Hahn / Häde, Währungsrecht, § 17 Rn. 30. 51 Hahn / Häde, Währungsrecht, § 17 Rn. 30; im Ergebnis zustimmend, wenn auch noch zur alten Rechtslage Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank, S. 258 f. Vgl. auch Hahn / Häde, ZHR 165 (2001), 30 (46). 52 So im Ergebnis auch Hahn / Häde, Währungsrecht, § 17 Rn. 31 f. 53 Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, S. 99.
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chende Rechtsfolgen treffen“.54 Nach dieser Definition liegt auch keine indirekte Kollision vor, weil die unionsrechtlichen und privatrechtlichen Zinssätze beide „Zinssätze“ im Allgemeinen sein mögen, die in der Praxis prinzipiell auch Einfluss aufeinander haben mögen; sie finden aber gerade nicht auf denselben Sachverhalt Anwendung. Bei der Festsetzung der Einlagefazilität durch die EZB handelt es sich nämlich um einen Satz, der alle mindestreservepflichtigen Banken im Euroraum betrifft. Dieser Satz der Einlagefazilität ist jedoch ein Notenbanksatz und damit ein währungsrechtlicher Zinssatz, der einseitig von der EZB erhoben wird und lediglich im Interbankengeldmarkt eine Rolle spielt. Er ist damit wesensmäßig verschieden vom vertragsrechtlichen Zins, der zwar (neben vielen anderen Faktoren) von den Notenbanksätzen indirekt beeinflusst werden kann, aber dennoch im deutschen Privatrecht eine eigenständige Definition und Entwicklung erfahren hat. Auch wenn oben offen gelassen wurde, ob die Zinsdefinition angesichts der neuen Entwicklungen in der Gesamtwirtschaft einer Erweiterung bedarf, ist der vertragsrechtliche Zinsbegriff jedoch aufgrund seiner synallagmatischen Eigenart etwas grundsätzlich Anderes.55 Außerdem sind diese Zinssätze wirtschaftlich betrachtet wesensmäßig verschieden, denn durch den Satz im Rahmen der Einlagefazilität wird auch nicht die Kapitalnutzungsmöglichkeit bepreist. Auch wenn damit noch nicht gesagt ist, ob ein negativer Wert prinzipiell ausgeschlossen ist, ist jener doch immer verknüpft mit einem synallagmatischen Verhältnis, mit einem Moment des gegenseitigen Aushandelns und damit rechtsdogmatisch grundlegend anders zu beurteilen als eine einseitige geldpolitische Entscheidung der EZB. Von der Existenz eines negativen Satzes der Einlagefazilität europarecht liche Implikationen auf den privatrechtlichen Zinssatz ableiten zu wollen, ist aus europarechtlicher Sicht nicht geboten und erscheint darüber hinaus methodisch fragwürdig.
IV. Der negative Basiszinssatz Hingst / Neumann stellen ferner die These auf, dass aufgrund des nega tiven Basiszinssatzes des § 247 BGB die „zinsbezogenen Vorschriften des Zivilrechts Negativzinsen in ihrem normativen Gehalt abbilden können“ 54 Kruis, Der Anwendungsvorrang des EU-Rechts in Theorie und Praxis, S. 99 ff., der diese Definition allerdings kritisch betrachtet, was aber für die hier vorliegende Fragestellung unerheblich ist. 55 Ähnlich auch Omlor: „Die Tatsache allein, dass die EZB auch von „negativen Zinsen“ ausgehe, könne nicht dazu führen, dass diese im Zivilrecht i. S. d. Einheit der Rechtsordnung auch anzuerkennen seien; Währungs- und Zivilrecht könnten hier unterschiedlichen Modellen folgen […] [im Rahmen eines Vortrags vor dem Bankrechtstag 2017, zusammengefasst in: Bastian / Werner, WM 2017, 1533 (1536)].
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument133
müssen.56 Weil diese Anknüpfung des (deutschen) zivilrechtlichen Basiszinssatzes an einen (europäischen) Leitzinssatz vom Gesetzgeber bewusst so ausgestaltet wurde,57 seien auch allgemein negative Zinsen im Zivilrecht anzuerkennen, da ansonsten „die Einheit der Rechtsordnung i. S. einer Wider spruchsfreiheit verletzt“ sei,58 was auch zu „Missverständnissen beim unbefangenen Rechtsanwender führen dürfte“.59 Dieses Argument scheint auf den ersten Blick zu überzeugen. Doch angesichts der schon mehrfach hervorgehobenen Erkenntnis, dass es nicht den einen Zins gibt, muss auch für den Basiszinssatz des § 247 BGB untersucht werden, welcher Art dieser ist und ob eine Übertragung auf den vertragsrechtlichen Zinsbegriff geboten ist. Im Zuge des Übergangs der Währungskompetenz von der Bundesrepublik auf die Europäische Union und des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts entschloss man sich mit der Ausgestaltung des § 247 BGB hinsichtlich des Basiszinssatzes zur Schaffung einer zentralen Bezugsnorm innerhalb des BGB, die auf den HRG-Satz der Europäischen Zentralbank Bezug nimmt. Danach liegt der Basiszinssatz stets um 0,88 % unter dem HRG-Satz.60 Seit dem 1.1.2013 ist damit der in § 247 BGB normierte Basiszinssatz negativ, 56 Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (97). Diesem Argument schließen sich Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1980), wenngleich ohne nähere Begründung an. In diese Richtung auch Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25a und Söbbing / van Bodungen, ZBB 2016, 39 (41). 57 Vgl. BT-Drucks. 14 / 6040, S. 126. Die Bedeutung des Basiszinssatzes scheint dieses Argument noch zu untermauern. So ist dieser Referenzzinssatz nicht nur Bezugsgröße zentraler Normen im BGB (vgl. beispielsweise §§ 288 Abs. 1,2; 291 S. 2, 497 Abs. 1 S. 1; 503 Abs. 2 BGB), sondern auch in vielen anderen Rechtsgebieten Ausganspunkt von Berechnungen (vgl. beispielsweise §§ 305 Abs. 3 S. 3, 320b Abs. 1 S. 6, 327b Abs. 2 AktG; § 15 Abs. 2 UmwG; § 49a Abs. 3 S. 1 VwVfG; §§ 44 Abs. 3 S. 2, 64 Abs. 2 S. 3, 99 Abs. 3 S. 1 BBauGB. 58 Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (97), die dies aus Lencker / Sternberg-Lieben, in: Schönke / Schröder, StGB, 29. Aufl., Vorbem. zu §§ 32 ff. Rn. 27 folgern. Im Rahmen dieses zitierten Abschnitts geht es allerdings primär um die Differenzierung bei der Rechtswidrigkeitsbeurteilung. Zudem sprechen auch Lencker / Sternberg-Lieben davon, dass es vor allem um die „gegenseitige Abstimmung der in differenzierten Teilrechtsgebieten enthaltenen Aussagen [geht], die nach ihrer jeweiligen Funktion innerhalb der Gesamtrechtsordnung folgerichtig bleiben müssen“. 59 Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (97), die hierfür als Beleg Petershagen, NJW 2002, 1455 (1456) anführen. Anzumerken ist hier, dass die „Missverständnisse beim unbefangenen Rechtsanwender“, von denen Petershagen spricht, hinsichtlich der Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Ersetzung des Basiszinssatzes nach dem DÜG sowie die Einheitsterminologie in den ersten Monaten nach Einführung der Schuldrechtsmodernisierung gemeint sind. Zu dieser Koexistenz zweier Basiszinsätze in den ersten Monaten des Jahres 2002 siehe ausführlich Kollmann, Negative Zinsen, S. 83 ff.; vgl. auch Grundmann, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 247 Rn. 4 ff. 60 Grundmann, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 247 Rn. 8.
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ein Ermessen etwa der Deutschen Bundesbank bestand und besteht bei dieser Berechnung nicht.61 Inwieweit diese Negativität weitere Auswirkungen auf den Zinsbegriff im vertragsrechtlichen Sinn hat, sollte auch davon abhängen, ob der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 247 BGB diese Entwicklung vorhergesehen und vielleicht sogar in Kauf genommen hat.62 1. Gesetzgebungsgeschichte Bis zum Jahr 1999 hatte der „Diskontsatz der Deutschen Bundesbank“, auf den in zahlreichen deutschen Privatrechtsnormen als Referenzgröße Bezug genommen wurde,63 Bestand gehabt. Mit dem Erreichen der dritten Stufe der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und der Abgabe der währungshoheitlichen Befugnisse der beteiligten Mitgliedsstaaten auf die Währungsgemeinschaft (bzw. von der Deutschen Bundesbank auf die Europäische Zentralbank) zum 1.1.1999 stand die Bundesbank vor der Aufgabe, eine neue Bezugsgröße finden zu müssen, die in Aufgabe, Funktionsweise und Änderungshäufigkeit64 dem nun nicht mehr bestehenden Diskontsatz möglichst ähnlich sein sollte. Dies war aber zu Beginn des Jahres 1999 schwierig, da die Referenzzinssätze der EZB erst seit wenigen Wochen bestanden hatten und deshalb noch keine verlässlichen Aussagen über ein etwaiges Schwankungsverhalten möglich waren.65 Der Diskontsatz der Deutschen Bundesbank hatte sich seit seiner Einführung 1948 bis zu seiner Abschaffung bei einem Mittelwert von knapp 4,44 %66 zwischen 8,75 % und 2,5 % bewegt. Für diesen Vorläufer des Basiszinssatzes ging der Gesetzgeber also von einem Zinskorridor aus, der die 2,5 % noch nie unterschritten hatte. Erst recht scheint es schwer vorstellbar, dass der Gesetzgeber gar von der Möglichkeit eines negativen Diskontsatzes ausgegangen sein könnte. Letztlich wurde als Übergangslösung das Diskont-Überleitungs-Gesetz (DÜG) geschaffen, das bis zum 31. Dezember 2001 befristet werden und zur Beurteilung europäieinen Ermessensspielraum plädiert auch Coen, JW 2012, 3329 (3330). methodisch überzeugend Kollmann, Negative Zinsen, S. 98. 63 BT-Drucks. 13 / 9347, S. 26 (EuroEG) nennt hier eine Anzahl von 59 Vorschriften. 64 Siehe zu diesen Kriterien § 1 Abs. 2 des Diskontsatz-Überleitungs-Gesetz (DÜG). 65 Der Gesetzgeber betonte dies im DÜG-Gesetz ausdrücklich: „Bislang sind diese Instrumente der EZB noch nicht so verlässlich definiert, daß an sie für Zwecke der innerstaatlichen Gesetzgebung im Sinne einer automatisch wirkenden Bezugnahme angeknüpft werden könnte“ (BT-Drucks. 13 / 9347, S. 26). Zu diesem Problem siehe auch Kollmann, Negative Zinsen, S. 87. 66 So Coen, NJW 2012, 332 (3332); Kollmann, Negative Zinsen, S. 98. Die historischen Werte des Diskontzinssatzes ergeben sich aus Deutsche Bundesbank, Zinsstatistik Diskontsatz S. 1. 61 Gegen 62 So
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument
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scher Bezugsgrößen einen „ausreichenden Zeitraum“ verschaffen sollte, „in dem Erfahrungen mit ihrer [gemeint sind die Referenzzinssätze der EZB; S.B.] Funktion und Wirkungsweise gemacht werden können“67. § 1 Abs. 1 DÜG bestimmte, dass an die Stelle des Diskontsatzes der Deutschen Bundesbank als Bezugsgröße für Zinsen und andere Leistungen der jeweilige Basiszinssatz treten sollte, welcher zunächst mit dem Diskontsatz der Bundesbank am 31.12.1998 identisch war, in der Folge jedoch dreimal jährlich in einer in § 1 Abs. 1 DÜG beschriebenen Weise geändert werden konnte. Bezugsgröße dieses Basiszinssatzes wurde der LRG-Satz der Europäischen Zentralbank.68 Aufgrund der unbefriedigenden Funktion fester Verzugszinssätze entschloss sich der Gesetzgeber zum 1. Mai 2000 ferner durch die Neufassung des § 288 BGB und das Anknüpfen an diesen DÜG-Basiszinssatz zu einer variablen Verzugsverzinsung, die sich an den Entwicklungen des Marktzinses orientieren sollte.69 Mit den Zielen der Schaffung einer höheren Transparenz und einer klareren Rechtsanwendung,70 die sich vor allem auch darin ausdrückten, dass eine Norm innerhalb des BGB den Basiszinssatz regeln sollte, fasste der Gesetzgeber im Zuge der Schuldrechtsmodernisierung die Kernanliegen von § 1 DÜG und der BazBV in der neuen Vorschrift des § 247 BGB zusammen, versäumte es jedoch, die Geltung des DÜG-Satzes zeitgleich und vollständig aufzuheben.71 Das nachfolgende Gesetzesvorhaben zur Aufhebung des DÜG72 konnte erst mit Wirkung zum 4.4.2002 umgesetzt werden, sodass vom 1.1.2002 bis zum 3.4.2002 zwei Basiszinssätze nebeneinander bestanden. 67 BT-Drucks.
13 / 9347, S. 27. geschah durch § 1 Basiszinssatz-Bezugsgrößen-Verordnung (BazBV) vom 10. Februar 1999. 69 Dies geschah durch das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen (Gesetz vom 30.3.2000, BGBl. I S. 330). Ausführlich zur Rechtslage vor der Neufassung des § 288 BGB und die hierfür relevanten Motive siehe Kollmann, Negative Zinsen, S. 83 ff.; siehe auch Petershagen, NJW 2002, 1455 ff. Eine variable Verzinsung schafft auch einen größeren Anreiz für den Schuldner zu einer fristgemäßen Leistung, weshalb die starren Verzugszinssätze der §§ 246, 288 a. F. seit Ende der 1970er Jahre vermehrt der rechtspolitischen und verfassungsrechtlichen Kritik ausgesetzt waren, vgl. Omlor, in: Staudinger, BGB, § 247 Rn. 2. 70 BT-Drucks. 14 / 6040, S. 126. 71 Dies war ursprünglich im Gesetzesentwurf vorgesehen gewesen (vgl. BTDrucks. 14 / 6040, S. 35), dann aber im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens wieder verworfen worden (vgl. BT-Drucks. 14 / 7052, S. 207). 72 Art. 4 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften über die Bewertung der Kapitalanlagen von Versicherungsunternehmen und zur Aufhebung des DiskontsatzÜberleitungs-Gesetzes (Versicherungskapitalanlagen-Bewertungsgesetz (VersKapAG) vom 26.3.2002, BGBl I, 1219. 68 Dies
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Anders als der DÜG-Basiszinssatz nimmt der Basiszinssatz des § 247 BGB auf den HRG-Satz der EZB Bezug (§ 247 Abs. 1 S. 3 BGB), also einen Zinssatz, den das ESZB gegenüber den Geschäftsbanken für einwöchige Kredite berechnet. Zwar hatte Art. 3 d) der Zahlungsverzugs-Richtlinie73 nur gefordert, dass sich die Verzugszinsen an dem HRG-Satz der EZB orientieren sollten, der Gesetzgeber wollte allerdings zum Zwecke der Übersichtlichkeit und Anwendungsfreundlichkeit einen einheitlichen Basiszinssatz im BGB implementieren.74 2. Erwartungen des Gesetzgebers In den Gesetzesmaterialien zum DÜG formulierte der Gesetzgeber klar, welches Kriterium zur Auswahl der Bezugsgröße des neuen Basiszinssatzes maßgeblich sein sollte: „Referenzzinssatz soll dasjenige Steuerungsinstrument der EZB sein, das dem Diskontsatz in seiner Funktion und Wirkungsweise am ehesten entspricht.“75
Der später bei der Schaffung des § 247 BGB ausgewählte HRG-Satz der EZB schwankte im Zeitraum seit seiner Entstehung bis zum Inkrafttreten des neuen § 247 BGB als Bestandteil des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts am 1.1.200276 in einem Korridor von 2,50 % bis 4,75 %77 bei einem Mittelwert von mindestens78 3,66 %. Der Gesetzgeber hatte also im Jahr 2001 einen Referenzzinssatz mit einer sehr geringen Schwankungsbreite vor Augen, was Stimmen aus der Literatur dieser Zeit bestätigen.79 Nun 73 Richtlinie 2000 / 35 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. 74 Zu diesen gesetzgeberischen Motiven siehe BT-Drucks. 14 / 6040, S. 126. 75 BT-Drucks. 13 / 9347, S. 26. 76 BGBl. Teil I Nr. 61 / 2001 vom 29.11.2001 S. 3138 ff. 77 Eine Übersicht über die aktuellen Leitzinsen und deren Entwicklung seit 1999 findet sich in Anhang 1. 78 Hier kann nur ein Mindestwert angegeben werden, da zwischen Juni 2000 und Oktober 2008 die Hauptrefinanzierungsgeschäfte nach dem Zinstenderverfahren zugeteilt wurden und von der EZB deshalb nur der Mindestbietungssatz und der marginale Zinssatz veröffentlicht wurden. Im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die EZB zu einem Mengentenderverfahren mit Vollzuteilung übergegangen, bei der die EZB den Zinssatz vorgibt und alle Darlehensangebote annimmt, die die Geschäftsbanken jede Woche ihr gegenüber abgeben; vgl. hierzu auch Coen, NJW 2012, 3329. 79 Vgl. beispielsweise die Stellungnahme von Dötsch, ZGS 2002, 282 (283), der von einem Basiszinssatz spricht, „der sich im Rahmen realistischer Zinsschwankungen auch kaum weit von der 4 %-Marke fortentwickeln dürfte“ oder die Ausführungen bei Schefold, NJW 1998, 3155 (3156): „Es handelt sich um die Spitzenrefinanzierungsfazilität (vergleichbar dem Lombardsatz) und die Einlagefazilität (verzins liche Einlagen außerhalb der Mindestreserve). Diese werden die obere und die untere
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument137
könnte eingewandt werden, dass es dem Gesetzgeber klar gewesen sein musste, dass sich aufgrund wirtschaftlicher Krisen der Referenzzinssatz auch stärker ändern kann als zunächst vermutet. Überzeugend ist hier aber der Einwand von Kollmann, der konstatiert, dass trotz bedeutender konjunktureller Einschnitte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Diskontsatz der Bundesbank nie unter 2,50 % gefallen war.80 Eine solche lang andauernde und extreme Niedrigzinsphase war also aus damaliger Sicht nicht vorhersehbar. Das Entstehen eines negativen Basiszinssatzes war also vom Gesetzgeber so nicht bedacht worden.81 3. Der Abstand zum HRG-Satz Hätte der Gesetzgeber die derzeitige wirtschaftliche Lage antizipieren können, wäre es vielleicht auch nicht zu dem Abstand des Basiszinssatz von –0,88 % zum HRG-Satz gekommen. Als § 247 BGB, in dessen Normtext der am 1.9.2001 geltende DÜG-Basiszinssatz implementiert worden war,82 am 1.1.2002 in Kraft trat, musste aus diesem Grund zeitlich synchron83 schon die erste Änderung vorgenommen werden, denn so wie sich der HRGSatz als Bezugsgröße vom 1.9.2001 (4,50 %) bis zum 1.1.2002 (3,45 %) schon um 1,05 % verringert hatte, musste sich auch der Basiszinssatz im BGB um diese Differenz auf (3,62 % – 1,05 % =) 2,57 % verringern, was am 1.1.2002 einen Abstand vom HRG-Satz (3,45 %) von 0,88 Prozentpunkten bedeutete, weshalb seit diesem Zeitpunkt der Basiszinssatz des § 247 BGB stets 0,88 Prozentpunkte unter dem HRG-Satz der EZB liegt. Nur aufgrund dieses historisch bedingten Abstandes erreichte der Basiszinssatz am 1.1.2013 erstmals den negativen Bereich. Eine Absenkung des HRG-Satzes durch die EZB auf unter 0 % ist dagegen kaum vorstellbar, da die EZB sonst den Kapitalgläubigern ein Entgelt zahlen müsste.84 Begrenzung des Zinskorridors für den Geldmarkt bilden. Es ist zu erwarten, daß es sich bei beiden um stabile Zinssätze handelt“. 80 Kollmann, Negative Zinsen, S. 100. 81 Im Ergebnis ebenso Becker, WM 2015, 1736 (1738). 82 Siehe hierzu den Entwurfstext des Gesetzes in BT-Drucks. 14 / 6040, S. 6. Auch der DÜG-Zinssatz betrug am 1.9.2001 3,62 %. Die Kontinuität zwischen dem neuen Basiszinssatz und dem DÜG-Zinssatz war dem Gesetzgeber äußerst wichtig, weshalb er sich zu diesem Schritt entschlossen hatte, vgl. hierzu auch Coen, NJW 2012, 3329 f. 83 Genau genommen galt der im Normtext aufgeführte Zinssatz von 3,62 % nur für „eine juristische vor Inkrafttreten des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes“ (Omlor, in: Staudinger, BGB, § 247 Rn. 25; Hervorhebungen im Original), wobei am 1.1.2002 um 0.00 Uhr bereits die erste Anpassung erfolgte. 84 Omlor, in: Staudinger, BGB, § 247 Rn. 37; im Ergebnis auch Coen, NJW 2012, 3329 (3330).
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Damit kann festgestellt werden, dass der negative Wert des Basiszinssatzes des § 247 BGB vom Gesetzgeber so nicht vorgesehen war. Hätte er die Entwicklung der Leitzinssätze der EZB vorgesehen, wäre die Regelung des § 247 BGB vermutlich so gefasst worden, dass die Entstehung eines negativen Satzes nicht möglich gewesen wäre. 4. Der Basiszinssatz als kalkulatorische Größe Dass aus der Tatsache eines negativen Basiszinssatzes keine Implikationen für die Auslegung des vertragsrechtlichen Zinsbegriffes folgen dürfen, ergibt sich auch aus der wesensmäßigen Verschiedenheit von Basiszinssatz und vertragsrechtlichem Zins. Es wurde bereits darauf hingewiesen,85 dass es nicht den einen Zins gibt, sondern die Gesamtheit der Zinsarten höchst heterogen ist. Geht man davon aus, dass es einen vertragsrechtlichen „Grundtypus“ des Zinses gibt, bei dem, ähnlich wie im Rahmen des Kreditmarktmodells bereits erläutert, das temporäre Bereitstellen von Liquidität bepreist wird,86 dann fällt der Basiszinssatz aus zwei Gründen aus dieser Definition heraus. Einerseits ist der Basiszins kein Zinssatz, der durch Angebot und Nachfrage entsteht, sondern einseitig aufgrund einer Kalkulation festgestellt wird, wobei die Bezugsgröße dieses Referenzzinssatzes zusätzlich wiederum ein durch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank einseitig und hoheitlich festgelegter Zinssatz ist. Zum zweiten ist § 247 BGB keine Norm, aufgrund derer direkt Zinsen erhoben werden. Vielmehr ist der Basiszinssatz nahezu immer87 Grundlage für weitere Berechnungen der Zinssätze der Normen, die auf ihn als Bezugsgröße verweisen. Damit ist der Basiszinssatz des § 247 BGB eine rein kalkulatorische Größe.88 Hingst / Neumann sehen die Einheit der Rechtsordnung i. S. einer Widerspruchsfreiheit gefährdet, wenn zwar der Basiszinssatz negativ sein kann, 85 s. o.
§ 4. zu dieser Definition auch Moritz, Geldtheorie und Geldpolitik, S. 115. 87 Der Basiszins in seiner „Rohform“ wird im Bundesrecht nur in den allgemeinen Versorgungsbedingungen für Wasser, Strom, Gas und Fernwärme angewandt, zu diesen Ausnahmen siehe Coen, NJW 2012, 3329 (3332 f.) und Omlor, in: Staudinger, BGB, § 247 Rn. 41. Für alle anderen Bezugnahmen gilt stets „Basiszinssatz + x %“, wobei alle diese Vorschriften einen größeren Betrag als 0,88 hinzuaddieren. Ein weiteres Absinken des Basiszinssatzes ist wegen der dargestellten Unmöglichkeit der Negativität des HRG-Satzes nicht denkbar. 88 Zu diesem Ergebnis kommen auch Becker, WM 2015, 1736 (1738); Coen, NJW 2012, 3329 (3330); Ernst, ZfPW 2015, 250 (254); Kollmann, Negative Zinsen, S. 105; Omlor, in: Staudinger, BGB, § 247 Rn. 24, 37 ff. 86 Siehe
E. Die Einheit der Rechtsordnung – Materielles Argument139
dies allerdings für andere Zinsen in der Rechtsordnung nicht möglich ist.89 Widerspruchsfreiheit kann jedoch nicht bedeuten, dass formell identische Rechtsbegriffe in unterschiedlichem Kontext materiell stets das Gleiche meinen müssen. Vielmehr geht es darum, den Rechtsbegriff in seiner spezifischen Funktion zu begreifen, um dann vergleichend feststellen zu können, ob materiell eine Übereinstimmung vorliegt und Grundgedanken übertragen werden dürfen. Auch im deutschen Recht gibt es nicht den einen Zins, weshalb bei einer Betrachtung und einem Vergleich zweier verschiedener Zinssätze immer nach der dogmatischen Eigenart dieser Sätze differenziert werden muss. Für die hier vorliegende Konstellation des negativen Basiszinssatzes im Vergleich zum vertraglich vereinbarten Zins ist eine Vergleichbarkeit dogmatisch vor allem aus folgenden Gründen zu verneinen: Der Basiszinssatz entsteht nicht aufgrund von Angebot und Nachfrage, sondern wird aufgrund eines hoheitlich festgelegten Leitzinses der EZB festgelegt. Er ist insoweit eine rein kalkulatorische Größe und deshalb nicht mit einem vertraglichen Zins vergleichbar. Gegen die Ableitung und Übertragung von allgemeinen Grundsätzen zur Negativität eines Zinses im Rechtssinne kann eingewandt werden, dass ein negativer Wert des Basiszinssatzes durch den Gesetzgeber nicht vorgesehen war, da dieser bei der Prognose des Zinskorridors und des Schwankungsverhaltens des HRG-Satzes von einer sehr geringen Schwankungsbreite ausgegangen ist. Dass sich diese Einschätzung aufgrund der mit den wirtschaft lichen Krisen einhergehenden besonderen Geldpolitik der EZB letztlich nicht bewahrheitet hat, war allerdings nicht vorhersehbar. Es wird unterstellt, dass der Gesetzgeber sonst anderweitige Regelungen getroffen hätte. Da der HRG-Satz nicht negativ werden wird, ist der negative Basiszinssatz nur dem historisch zu erklärenden (unglücklichen) Umstand geschuldet, dass der Basiszins immer 0,88 % unter dem HRG-Satz liegen muss. Der Basiszinssatz ist, wenn auch nur kalkulatorische Größe, dennoch ein Zins im Rechtssinne und er ist seit dem 1.1.2013 negativ.90 Rückschlüsse auf die rechtliche Möglichkeit eines etwaigen vor allem vertraglichen negati89 Hingst / Neumann,
BKR 2016, 95 (97). Gesetzgeber war gesetzlich dazu verpflichtet, den Basiszinssatz als negativ festzulegen. Ob deshalb de lege lata Reformbedarf besteht, ist umstritten. Ein negativer Basiszinssatz ist nämlich vor allem auch deshalb problematisch, weil sich hierauf beziehende Normen dahingehend interpretiert werden können, dass der von diesen Normen erwähnte Betrag des Zinses dem Gläubiger auf jeden Fall zustehen soll, was dann nicht mehr gewährleistet ist, wenn sich der Betrag aufgrund eines negativen Basiszinssatzes verringert; zu diesem – hier nicht zu erörternden – Problem sowie zu Lösungsvorschlägen siehe Coen, NJW 2012, 3329 (3331 ff.), diesbezüglich teilweise anderer Auffassung Omlor, in: Staudinger, BGB, § 247 Rn. 38 ff. 90 Der
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§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
ven Zinses können aber mangels Vergleichbarkeit nicht gezogen werden.91 Die Existenz eines negativen Basiszinssatzes ist damit auch kein Argument für die Erweiterung der (vertragsrechtlichen) Zinsdefinition.
F. Bankpraktisches Argument: Aufrechterhaltung des Synallagmas durch Erhaltung der Marge? Ein weiteres Argument, das für die Möglichkeit der Existenz eines negativen Zinses im Rechtssinne angeführt wird, ist, im Vergleich zu den vorangegangenen Argumenten, eher aus praktischer Sicht gedacht. Verglichen mit der herkömmlichen und herrschenden Definition des Zinsbegriffes stehen der Annahme eines negativen Zinssatzes, wie oben herausgearbeitet, der Kompensationsgedanke und der Entgeltcharakter entgegen.92 Nun gibt es Stimmen in der Literatur, die einen solchen Widerspruch zum Entgeltcharakter bestreiten, indem sie das Kreditgeschäft als Bestandteil des Aktivgeschäfts der Banken betrachten und für dieses postulieren, dass bei der Kreditvergabe, falls diese zwar zu einem negativen Satz erfolgen sollte, diese aber dennoch „idR auch der Gewinnerzielung [dient], da sie [gemeint sind die Geschäftsbanken; S.B.] sich iZw noch günstiger refinanzieren werden“.93 Zwar sind Aktiv- und Passivgeschäft der Banken, auch im Niedrig- und Negativzinsumfeld nicht grundsätzlich vollkommen miteinander vergleichbar,94 dem vorgebrachten Argument ist jedoch auch für die Aktivseite bereits zu widersprechen: Nach dieser Ansicht bestünde also der negative Zinssatz für die kapitalgebende Bank nur auf dem Papier, weil sie letztlich doch aufgrund einer günstigeren Refinanzierung am Interbankenmarkt ihre Marge erhalten könnte. Um dieses Argument überprüfen zu können, bedarf es eines näheren Blicks auf die Zusammensetzung der Zinsstruktur im Kreditwesen. Vereinfacht gesagt gilt dort für die Berechnung des Zinses Folgendes: Zins = Kosten + Gewinn
Die Kosten umfassen dabei folgende Komponenten: 91 A. A. Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (97); Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1980). 92 s. o. § 5 B. 93 So Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 51a; wenn auch in der Begründung ausdifferenzierter, aber im Ergebnis ebenso Söbbing / von Bodungen, ZBB 2016, 39 (41). 94 Binder / Ettensberger, WM 2015, 2069.
F. Bankpraktisches Argument: Aufrechterhaltung des Synallagmas141
– Refinanzierungskosten: Die Kosten der Fremdkapitalbeschaffung im Rahmen des Passivgeschäfts der Banken. – Eigenmittelkosten: Die Kosten, die mit der gesetzlich vorgeschriebenen Bereitstellung (und damit Bindung) von Eigenkapital verbunden sind.95 – Betriebskosten: Die Kosten, die meist im Rahmen der Vorkalkulation durch Personal und Sachmittel entstehen, welche zur Kalkulation und Abwicklung des Geschäftes benötigt werden. – Risikokosten:96 Zu diesem Posten gehören eine Vielzahl von verschiedenen Risikoposten, die im Einzelfall stark divergieren. Wichtigste Beispiele sind das Kredit(ausfall)risiko,97 das Zinsänderungsrisiko98 und das Geldwertrisiko.99 Neben diesen Kosten ist auch noch der Gewinn der Banken ein Bestandteil der Gleichung. Bei der Kreditvergabe liegt es aufgrund der möglichen Veränderungen des Marktes im Regelfall im Interesse der Parteien, einen variablen Zinsbestimmungsmechanismus zu vereinbaren. Am Geldmarkt bedienen sich die Geschäftsbanken hierzu im Regelfall der interbank offered rates (IBOR) wie beispielsweise dem EURIBOR oder dem LIBOR. Eine geläufige Variante der eben ausgeführten Berechnung des Kreditzinssatzes lautet dann: Zinssatz = IBOR + Margenaufschlag100
Welche der oben erwähnten Komponenten die Parteien genau als durch den IBOR erfasst sehen, ist allerdings umstritten. Nach einer Ansicht sind durch den IBOR die Refinanzierungskosten und die Eigenmittelkosten 95 Zu
den Liquiditäts- und Solvabilitätsvorschriften siehe auch unten § 5 C. II. Risikokosten sind wohl der komplexeste Posten innerhalb der Zinsberechnung. Die hierbei im Einzelnen getroffenen Abgrenzungen können allerdings im Rahmen dieser Arbeit offen bleiben, vgl. hierzu ausführlich Hull, Risikomanagement, S. 161 ff. 97 Das Kreditausfallrisiko bezeichnet das Risiko, dass das zur Verfügung gestellte Kapital nicht oder nur zum Teil vom Kapitalnehmer zurückgezahlt werden kann. 98 Das Zinsänderungsrisiko bezeichnet das aufgrund der Fristentransformation (siehe hierzu unten § 6 A) für die Bank als Kapitalgeber entstehende Risiko, das (vor allem bei Festgeldern) bei steigendem Zins und variabler Refinanzierung für die Bank besteht. 99 Das Geldwertrisiko umfasst das Risiko, dass aufgrund der einer Inflation weniger Kaufkraft zurückerhalten wird, als ursprünglich gewährt wurde. 100 Siehe beispielsweise Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 192. Grunwald / Walter / Zipse, BKR 2016, 450 (452); Söbbing / von Bodungen, ZBB 2016, 39 (40); Storck / Reul, DB 2015, 115; Zellweger-Gutknecht, ZfpW 2015, 350 (370). 96 Die
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§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
erfasst,101 andere setzen ihn dagegen mit dem Geldwertrisiko gleich.102 Am überzeugendsten erscheint die Einschätzung, dass die Banken mit dem IBOR im Wesentlichen eine Pauschale für die voraussichtlichen Refinanzierungskosten ansetzen.103 Dieses Annahme scheint der Befund zu untermauern, dass im Rahmen von Unternehmenskrediten oft Zusatzklauseln verwendet werden, wonach, wenn die tatsächlichen effektiven Refinanzierungskosten höher ausgefallen sind, die IBOR-Komponente durch jene ersetzt werden könne.104 Der Margenaufschlag bildet dann im Wesentlichen die übrigen Kosten sowie den Gewinn des Kapitalgebers ab. Es ließe sich nun argumentieren, dass der Margenaufschlag neben dem IBOR als eigenständiger Kalkulationsparameter selbst dann bestehen bleibe, wenn die Gesamtgleichung zu einem insgesamt negativen Ergebnis führe, womit die Bank bei einer kongruenten Refinanzierung im Interbankengeschäft einen Gewinn erwirtschafte, weil der „negative Referenzzins insofern ein bloßer Durchlaufposten“ sei.105 Demnach wäre das Ziel der kapitalgebenden Partei nicht „ein die Marge übersteigender Vertragszins, sondern die Sicherstellung der von der Marge verkörperten Gegenleistung für die Darlehensausreichung“.106 Diesem aus theoretischer Sicht zunächst plausibel anmutenden Argument ist jedoch aus praktischer Sicht zu widersprechen: Eine stets kongruente Refinanzierung im Interbankenmarkt erscheint aus drei Gründen unrealistisch. Einerseits können sich die IBOR-Werte teilweise mit jedem neuen Tag in 101 Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 154, der allerdings begrifflich die aus der Kapitalbindung resultierenden Kosten nicht als eigenständige Eigenmittelkosten, sondern als Bestandteil der Refinanzierungskosten ansieht. 102 Zellweger-Gutknecht, ZfpW 2015, 350 (369 f.); einschränkend zustimmend Grunwald / Walter / Zipse, BKR 2016, 450 (454). 103 Vgl. auch Storck / Reul, DB 2015, 115 („Dabei spiegelt der Referenzzinssatz im Wesentlichen die Refinanzierungskosten des Gläubigers wider“). Unklar ist insoweit Lesch, der zunächst postuliert, die Marge würde „Kosten und Gewinn der Bank“ abdecken (in: Negative Zinsen und das Kreditgeschäft, S. 65); aus S. 66 ff. scheint sich dann aber zu ergeben, dass mit Marge wohl doch alle Kosten (außer den Refinanzierungskosten, die Lesch als „Zinskosten“ bezeichnet) und der geplante Gewinn umfasst sein sollen; unklar in der Begriffsverwendung dann allerdings wieder S. 71. 104 „In the event the percentage rate […] reflecting the Bank’s cost of funds to refinance the [loan] from any source the Bank may reasonably select exceeds the [IBOR] rate, the Bank has the sole and absolute discretion to use its cost of funds rate as variable Rate“, siehe Zellweger-Gutknecht, ZfpW 2015, 350 (374) und Fn. 172, die allerdings betont, dass das Ergebnis durch individuelle Auslegung der jeweiligen Parteivereinbarung ermittelt werden müsse. 105 Söbbing / von Bodungen, ZBB 2016, 39 (41). 106 Söbbing / von Bodungen, ZBB 2016, 39 (43).
F. Bankpraktisches Argument: Aufrechterhaltung des Synallagmas143
ihrer jeweiligen Ausgestaltung ändern.107 Zum zweiten erscheint es auch möglich, dass die Marge bei dem Geschäftspartner, bei dem die Refinanzierung stattfindet, anders ist als die Marge bei dem vorigen Kapitalnehmer, beispielsweise aufgrund eines anderen Kreditausfallrisikos oder anders gestalteter Betriebskosten, weil aufgrund neuer Geschäftsbeziehungen mehr Personal gebunden werden muss. Drittens refinanzieren sich die Geschäftsbanken am Geldmarkt meist mithilfe einer Mischfinanzierung aus verschiedenen Refinanzierungsquellen mit dem Ziel einer möglichst kostengünstigen Refinanzierung, wobei „sich die Konditionen der täglich neu abzuschließenden Refinanzierungsgeschäfte rund um die Uhr in permanenter Bewegung“ befinden.108 Damit soll nicht ausgesagt werden, dass die Refinanzierungsbedingungen stets schlechter sind. Es kann aber nicht in dieser Pauschalität behauptet werden, dass sich die Kreditinstitute „im Zweifel noch günstiger refinanzieren werden“.109 Die Frage der kongruenten oder (sei es im positiven oder negativen) Sinne inkongruenten Finanzierung kann also nicht abstrakt und generell beantwortet werden, sondern hängt von den Umständen und Entscheidungen des Einzelfalls ab. Aus diesem Grund kann es kein Argument für die Existenz negativer Zinsen im privatrechtlichen Sinne sein, ob Geschäftsbanken im Einzelfall eine gewinnbringende Anlageentscheidung treffen und daher ihre Marge und damit auch den synallagmatischen Charakter des Rechtsgeschäftes im Einzelfall „retten“ mögen.110 Denn genauso wie der Referenzzins vielfältigen Unwägbarkeiten ausgesetzt ist, besteht für die Geschäftsbanken bei einer negativen Verzinsung im Rahmen ihrer Kreditvergabe die Möglichkeit, dass sie gerade wegen jenes negativen Zinses trotz der vielfältigen Refinanzierungsmöglichkeiten im Ergebnis trotz der Zurverfügungstellung von Kapital noch ein Entgelt hierfür entrichten müssten.
107 Zur
Funktionsweise s. o. § 5 Fn. 24. in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 78 Rn. 74. Zu der Misch-Refinanzierung siehe ferner auch Lesch, Negative Zinsen und das Kreditgeschäft, S. 44. Zu der Heterogenität der Refinanzierungsbedingungen siehe auch Habersack, WM 2001, 753 (757 f.). 109 So aber Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 51a. 110 Söbbing / von Bodungen, ZBB 2016, 39 (41) sprechen hier von einer „Aufrechterhaltung“. Der Begriff der Aufrechterhaltung impliziert jedoch etwas abstrakt-generelles. Im Rahmen der hier vertretenen Auffassung soll daher eher pointiert von einer „Rettung“ im Einzelfall ausgegangen werden. 108 Krepold,
144
§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
G. Die synallagmatische Konnotation des vertragsrechtlichen Zinsbegriffes Betrachtet man die Vorschriften des BGB, in denen auf den Zinsbegriff Bezug genommen wird,111 so sind auch hier unterschiedliche Formen des Zinses festzustellen. Der Basiszinssatz im Allgemeinen Teil ist, wie oben festgestellt, nur eine kalkulatorische Rechengröße.112 Auch der gesetzliche Zinssatz des § 246 BGB ist insoweit eine bloße numerische Größe, als er keinen Zinsanspruch begründet, sondern nur die Zinshöhe für Konstellationen bestimmt, in denen keine abweichende Norm oder Parteiabrede besteht.113 Demgegenüber steht der vertragsrechtliche Zinsbegriff, der vor allem im Darlehensrecht eine Rolle spielt. Dieser Zinssatz wird, wie oben herausgearbeitet, als zeit-, (gewinn- und umsatzabhängige) Vergütung für die Möglichkeit des Gebrauchs von zeitweilig überlassenem Kapital definiert. Der Zins, der im Vertragsrecht des BGB geregelt ist, ist dort grundsätzlich in einer synallagmatischen Struktur gedacht. Beim Darlehensvertrag beispielsweise ist die Funktion des Zinses die Kapitalnutzungsvergütung und daher mit dem Anspruch auf Gewährung und Belassung der Valuta synallagmatisch verknüpft.114 Allen Definitionsversuchen von Rechtsprechung und Literatur ist ein gewisses pro-Moment des Zinses gemeinsam. Es ist stets ein positiver Betrag als Ausgleich für die Bereitstellung von Kapital. Dieser do ut desCharakter besteht unabhängig von einer genauen Definition, die im Einzelfall variieren und sich auch den Gegebenheiten der jeweiligen Zeit oder der jeweiligen Parteisituation angleichen kann und auch schon angeglichen hat.115 Auch das privatrechtliche Synallagma ist durch die finale wechselseitige Abhängigkeit von Leistungspflichten gekennzeichnet.116 Gerade diese Finalität117 ist in den hier besprochenen Fällen maßgeblich, denn es ist das Ziel 111 s. o.
§ 5 Fn. 1. § 5 E. IV. 4. 113 Vgl. Grundmann, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 246 Rn. 1; Omlor, in: Staudinger, BGB, § 246 Rn. 3; Schaub, in: Erman, BGB, § 246 Rn. 2. 114 Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 156; Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 180a; Mülbert, AcP 192 (1992), 447 (461); Saenger, in: Erman, BGB, § 488 Rn. 49; Seifert, in: Soergel, BGB, § 488 Rn. 117. 115 Siehe zur historischen Entwicklung der Zinsdefinition Kollmann, Negative Zinsen, S. 67 ff. 116 Zu dieser Dimension des gegenseitigen Vertrages siehe Schwarze, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 320–326 Rn. 6. 117 Diese Finalität bzw. Funktion ist auch für Binder / Ettensberger, WM 2015, 2069 (2071) ein wesentliches Argument zur Ablehnung der Möglichkeit eines negativen Zinses („[…] indiziert letztlich schon die Verwendung des Begriffs ‚Zins‘, der 112 s. o.
G. Synallagmatische Konnotation des vertragsrechtlichen Zinsbegriffes
145
(finis) des Kapitalgebers, einen Ausgleich für seine Kapitalhingabe zu erhalten. Diese Überlegungen werden zudem durch die volkswirtschaftlichen Überlegungen, die oben gewonnen wurden, gestützt.118 Auch in der Volkswirtschaft ist der „natürliche Zins“ im Sinne des unbeeinflussten und an einem freien Markt mit rational handelnden Wirtschaftssubjekten entstehenden Zinses immer von einem gegenseitigen Moment geprägt, es besteht ein ökonomischer Zusammenhang zwischen Kapitalschuld und Zinsschuld, der bei einem negativen Zins durchbrochen würde.119 Diese synallagmatische Grunddimension ist dem vertragsrechtlichen Zinsbegriff wesensmäßig immanent. Ein negativer Wert würde dieser Grunddimension unüberwindbar gegenüberstehen. Diese Argumentation darf mit Blick auf die oben aufgeworfene Frage, ob der derzeitige rechtliche Zinsbegriff einer Erweiterung bedarf,120 nicht als Zirkelschluss missverstanden werden. Denn nicht die Definition des Zinses spricht für seinen Entgeltcharakter, sondern die konkrete Ausgestaltung des Zinses im Vertragsrecht des BGB impliziert aufgrund seines Wesens eine synallagmatische Grunddimension der dargestellten Art, weshalb aus dogmatischer Sicht der vertragsrechtliche Zinsbegriff des BGB nur als positiver gedacht werden kann. Dieses dogmatische Ergebnis wird gestützt durch die Befunde, dass keine formellen oder materiellen Argumente für eine Erweiterung des derzeit geltenden Zinsbegriffes gefunden werden konnten.121 Die zivilrechtliche Vertragsdogmatik ist dadurch nicht gelähmt, sie kann den beschriebenen neuartigen Phänomenen, wie sie sich im derzeitigen Niedrig- und Negativzins umfeld ergeben, dogmatisch auch anderweitig gerecht werden, beispielsweise durch die Qualifikation des negativen Satzes als Entgelt. Auch wenn also bei der Änderung eines Zinses in wirtschaftlicher Hinsicht ein Kontinuum vorliegen mag, gilt dieses für die rechtliche Bewertung dieses traditionell eben gerade eine Leistungspflicht des Darlehensnehmers an den Darlehensgeber bezeichnet, ein Funktionsverständnis der Parteien, das ‚Negativzinsen‘ bei Darlehensgeschäften gerade nicht mehr trägt“). 118 s. o. § 4. 119 So auch Patzner / Joch, BB 2015, 221. 120 s. o. § 5 C. 121 Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1980); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25a führen an, dass auch der BGH grundsätzlich angenommen habe, dass sich bei Auslegung der Zinsvereinbarung grundsätzlich ein negativer Zins ergeben könne und folgern dies aus BGH WM 2010, 933 (936). Die dortigen Ausführungen betreffen jedoch die ergänzende Auslegung einer unwirksamen Zinsänderungsklausel, weshalb sie im Rahmen dieser Arbeit unter den vertragsrechtlichen Aspekten (s. u. § 7 B. III.) eine Rolle spielen sollen.
146
§ 5 „Negativzinsen“ aus rechtswissenschaftlicher Sicht
Phänomens nicht.122 Einen „negativen Zins“ kann es damit aus vertragsrechtlicher Perspektive nicht geben.123 Dennoch soll aus praktischen Gründen, auch im vertragsrechtlichen Kontext, der Terminus des „negativen Zinses“ weiterhin verwendet werden, um terminologische Verkomplizierungen zu vermeiden.
H. Zusammenfassung Bei der Frage, ob ein negativer Zins im rechtswissenschaftlichen Sinne denkbar ist, ist die herrschende Definition des Zinsbegriffes zugrunde zu legen, wonach der Zins eine laufzeitabhängige Vergütung für die Möglichkeit des Gebrauchs von zeitweilig überlassenem Kapital ist. Ein negativer Zins ist grundsätzlich mit dem Entgelt- und Kompensationsgedanken des Vergütungsbegriffes unvereinbar. Überzeugende Argumente, die für eine Erweiterung der Zinsdefinition angeführt werden könnten, gibt es im Ergebnis nicht: Aufgrund des falsa demonstratio non nocet-Grundsatzes ist es unerheblich, ob auf begrifflicher Ebene „negative Zinsen“ im europäischen Raum Realität sind. Wenn schon die rechtliche Falschbezeichnung eines Vertrags typus nicht maßgeblich ist, muss erst recht die rechtlich unzutreffende (aber wirtschaftlich vielleicht durchaus vertretbare) Bezeichnung eines einzelnen Vertragsbestandteils wie des Zinses unerheblich sein. Von dieser begrifflichen Ebene ist die materielle Ebene zu trennen. Die Existenz negativer Zinsen im europäischen Raum (vor allem in Form des Satzes der Einlagefazilität, des EONIA und der IBOR-Werte) ist trotz des Grundsatzes der Einheit im Sinne einer Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung kein Argument für die Erweiterung der rechtswissenschaftlichen Definition. Die hier maßgebliche Leitlinie der EZB, die ohnehin nur der Binnenrechtsordnung des ESZB zuzurechnen ist, wurde von der Deutschen Bundesbank korrekt umgesetzt und die Verwendung des Begriffs der „negativen Zinsen“ strahlt insoweit nicht in das deutsche Privatrecht aus, als es sich beim Satz der Einlagefazilität nicht um einen vertragsrechtlichen, sondern um einen Notenbankzinssatz handelt, der wesensmäßig von jenem zu unterscheiden ist. Die Leitzinsentscheidungen der EZB sind zwar abstrakt-genereller Natur, beanspruchen aber hinsichtlich der negativen Zinsen keinen Anwendungsvorrang im deutschen Vertrags-
auch Ernst, ZfPW 2015, 250 (251). Ergebnis ebenso Becker, WM 2013, 1736 (1737 f.); Binder / Ettensberger, WM 2015, 2069 (2071); Coen, NJW 2012, 3329 (3330); Danwerth, WM 2015, 1604 (1610 f.); Ernst, ZfPW 2015, 250 f.; Kollmann, Negative Zinsen, S. 77 f.; Omlor, in: Staudinger, BGB, § 246 Rn. 42; Storck / Reul, DB 2015, 115; Tröger, NJW 2015, 657 (659 f.). 122 Siehe 123 Im
H. Zusammenfassung147
recht, da auch hier aufgrund der wesensmäßigen Verschiedenheit der jeweiligen Zinssätze bereits keine Kollision festzustellen ist. Ebenfalls kein Argument für die Erweiterung der privatrechtlichen Zinsdefinition ist die Existenz eines negativen Basiszinssatzes seit dem 1.1.2013. Der HRG-Satz als Referenzzinssatz, an den der Basiszinssatz direkt anknüpft, kann nach der hier vertretenen Auffassung nicht negativ werden. Nur aufgrund einer besonderen (unglücklichen) historischen Situation liegt der Basiszinssatz grundsätzlich unter dem HRG-Satz und ist damit derzeit negativ. Diese Entwicklung konnte der Gesetzgeber jedoch nicht voraussehen. Ferner ist der Basiszinssatz eine rein kalkulatorische Rechengröße und damit wesensmäßig nicht mit den aufgrund privatautonomer Verhandlung vereinbarten vertragsrechtlichen Zinssätzen vergleichbar. Weiterhin ist auch zu widerlegen, dass das Synallagma im Aktivbereich der Banken auch bei negativen Zinsen erhalten bleibe, weil sich die Marge nicht verändere, denn die Annahme einer stets kongruenten Refinanzierung im Interbankenmarkt geht an der Realität vorbei. Einerseits verändern sich die IBOR-Werte täglich, zum zweiten ist die Marge aufgrund der unterschiedlichen Kostenposten bei jedem Geschäftspartner anders, wobei diese beiden Faktoren durch die in der Bankpraxis vorgenommene Mischfinanzierung, bei der sich die kapitalmarktbedingten Refinanzierungsbedingungen noch stärker als ohnehin ändern, noch verstärkt werden. Der vertragsrechtliche Zinsbegriff ist aufgrund seiner Ausgestaltung im Schuldrecht des BGB stets in einer synallagmatischen Dimension gedacht. Auch der „natürliche“ Zins in der Wirtschaftswissenschaft ist nur als positiver Zins denkbar. Zudem konnten keine überzeugenden Argumente für die Erweiterung des Zinsbegriffes gefunden werden. Deshalb ist der vertragsrechtliche Zinsbegriff nicht als negativer denkbar. .
§ 6 Das Einlagengeschäft der Banken und die Interessenlage im Niedrig- und Negativzinsumfeld A. Das Einlagengeschäft der Banken im System der Bankgeschäfte Bevor darauf eingegangen werden kann, wie ein „Negativzins“ im Einlagengeschäft rechtlich zu bewerten ist, müssen die zugrunde liegenden Rechtsbeziehungen im Einlagengeschäft sowie die Interessen der beteiligten Parteien sowohl im „Normalfall“ als auch im gegenwärtigen Niedrig- und Negativ zinsumfeld näher betrachtet werden. Folgt man der klassischen Einteilung der Bankgeschäfte in Aktiv-, Passiv-, Dienstleistungs- und Eigengeschäft, ist das Einlagengeschäft wesentlicher Bestandteil des Passivgeschäfts.1 Unter Einlagengeschäft versteht der Gesetzgeber „die Annahme fremder Gelder als Einlagen oder anderer unbedingt rückzahlbarer Gelder des Publikums, sofern der Rückzahlungsanspruch nicht in Inhaber- oder Orderschuldverschreibungen verbrieft wird, ohne Rücksicht darauf, ob Zinsen vergütet werden“ (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 KWG). Das Einlagengeschäft dient der Bank zur Ansammlung flüssigen Kapitals, welches Grundlage des Aktivgeschäfts ist2 und dort gewinnbringend weiterverwendet werden soll.3 Dieses Interesse der Banken an der Kapitalaufnahme bezeichnet man auch als Mittelbeschaffungsinteresse. Zweck des Einlagengeschäfts ist aber auch der Schutz des Publikums vor dem Verlust seiner Mittel4 und die Gewährleistung eines funktionsfähigen Geld- und Kreditkreislaufes.5 Unter „Publikum“ wird grundsätzlich jede natürliche oder juristische Person verstanden, ausgenommen sind institutionelle Anleger oder verbundene Unternehmen.6 Für diese „Kunden“ des Einlagengeschäfts geht es, je nach 1 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 69 Rn. 1 m. w. N. 2 Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 15; Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 21; Schäfer, in: Boos / Fischer / Schulte-Mattler, KWG, § 1 Rn. 35. 3 BVerwG 1985, 929; BGH NJW 1995, 1494 (1495). 4 BGH NJW 1995, 1494 (1495), siehe auch Kropf, WM 2017, 1185. 5 Schäfer, in: Boos / Fischer / Schulte-Mattler, KWG, § 1 Rn. 36. 6 Siehe hierzu und zu weiteren Ausnahmen sowie zu einem Begriffsstreit in der Literatur, der allerdings für die vorliegende Fragestellung keine Auswirkungen hat,
B. Die Einlagenarten149
Einlagenform, um die sichere Verwahrung, die jederzeitige Verfügungsmöglichkeit und / oder das Erwirtschaften einer Rendite durch die Verzinsung. Dass überhaupt eine Nachfrage auf der Aktivseite besteht, lässt sich ebenfalls aus den klassischen Modellen erklären. Wie oben herausgearbeitet, besteht (nach Ludwig von Mises) grundsätzlich unter anderem aufgrund der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege7 ein Anreiz zu längerfristigen Investitionen und damit stets Kapitalbedarf. In einer idealen Marktsituation würden die beteiligten Parteien direkt kontrahieren, da sie so die Kosten der Einschaltung Dritter sparen würden und auch die Risiken optimal diversifizieren könnten.8 Im freien, realen Kapitalmarkt begegnen die Marktteilnehmer aber vor allem zwei Formen der Unvollkommenheit. Zum einen verursacht jede geschäftliche Beziehung Transaktionskosten, sodass eine Bündelung der Verträge bei einem Dritten ökonomisch sinnvoll sein kann.9 Zum zweiten ist es für die einzelnen Marktteilnehmer aufgrund fehlender Information schwierig, die Risiken, die mit anderen Marktteilnehmern und / oder Finanzprodukten verbunden sind, einschätzen und eine zuverlässige Prognose hinsichtlich ihrer eigenen zukünftigen Konsum- oder Investitionsbedürfnissen abgeben zu können.10 Auf dem freien Markt kompensieren Finanzintermediäre, also unter anderem Banken,11 durch ihre fristen- und liquditätstransformierenden Geschäfte diese Unvollkommenheiten.
B. Die Einlagenarten Für die Vielzahl der möglichen Einlagenarten kommen unterschiedliche Ordnungsparameter in Frage. So kann nach der Sparform (Einmalanlage, regelmäßige Ansparvorgänge oder variable Einzahlungen), nach der Ursprungslaufzeit bzw. Kündigungsfrist oder beispielsweise hinsichtlich der ausgehandelten Konditionen (Einheitszins, gestaffelter fest vereinbarter Zins oder variable Verzinsung) differenziert werden.12 Die Literatur differenziert grundsätzlich überwiegend, gestützt auf die Terminologie der ZinsVO von Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 69 Rn. 6c. 7 s. o. § 4 C. II. 8 Hellwig, JITE 154 (1998), 328 (330); Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 3; 9 Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 3. 10 Zu diesen Informationsasymmetrien siehe auch näher Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 3. 11 In der Praxis erfüllen aber neben den Zentralbanken und Kreditinstituten auch Versicherungen und andere Finanzdienstleister die Funktion eines Finanzintermediärs. 12 Siehe hierzu und zu weiteren Unterscheidungsmöglichkeiten Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 1.
150
§ 6 Das Einlagengeschäft der Banken
1965,13 nach der Fälligkeit der Einlage und unterscheidet befristete Einlagen (die heute im Regelfall als Termineinlagen bezeichnet werden), Spareinlagen und Sichteinlagen.14
I. Termineinlagen 1. Terminologie Termineinlagen sind befristete Einlagen und kommen vor allem in den beiden Varianten der Festgelder und der Kündigungsgelder vor. Bei den Festgeldern vereinbaren die Vertragsparteien eine Anlagezeit, nach deren Ablauf das eingelegte Kapital von selbst fällig und anschließend dem Girokonto gutgeschrieben wird,15 sofern keine Prolongation vereinbart wurde.16 Demgegenüber wird die Fälligkeit bei Kündigungsgeldern, die zunächst auf unbestimmte Zeit eingelegt werden, durch eine (formlose) Kündigung herbeigeführt, oft unter Einhaltung einer Frist (von beispielsweise einem Monat).17 Ebenso verbreitet ist eine Kombination dieser beiden Modelle durch Einlagen mit Kündigungssperre, die nach Ablauf der Sperrfrist zum Kündigungsgeld werden.18 2. Rechtliche Qualifikation Dem Kapitalgeber steht bei den Termineinlagen, anders als bei den Sichteinlagen, kein jederzeitiges Auszahlungsrecht zu. Aufgrund der Befristung ist 13 Zu dieser Zinsverordnung, die allerdings 1967 schon wieder aufgehoben wurde (BGBl. 1967 I S. 352) siehe BGBl. 1965 I S. 33. 14 So beispielsweise Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 488 Rn. 64; Schäfer, in: Boos / Fischer / Schulte-Mattler, KWG, § 1 Rn. 45 m. w. N. 15 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 8; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 16. 16 Da der Kapitaleinleger häufig an einer hohen Rendite interessiert ist, vereinbaren die Parteien bei Vertragsschluss im Rahmen einer Prolongationsabrede bisweilen, dass sich das Festgeld automatisch entsprechend verlängert, sofern jener nicht rechtzeitig die Auszahlung begehrt. Eine solche Klausel verstößt nicht gegen § 308 Nr. 5 BGB, da die Prolongationsabrede inhaltlich den revolvierenden Abschluss des Darlehensvertrages regelt und damit keine Fiktion im Rahmen der Vertragsdurchführung darstellt, siehe Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, BankrechtsHandbuch, § 70 Rn. 8; vgl. auch Schwintowski, Bankrecht, § 5 Rn. 25; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 16. 17 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 9; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 17. 18 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 9.
B. Die Einlagenarten
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die der Termineinlage zugrunde liegende Rechtsbeziehung als Darlehensvertrag einzuordnen (§§ 488 ff. BGB), weil im Rahmen dieser Vorschrift für die Fälligkeit eine Kündigung oder ein Fristablauf vorausgesetzt wird.19 3. Interessenlage Bei Festgeldern werden die dem Kunden eigentlich zustehenden Kündigungsrechte ausgeschlossen.20 Eine Kompensation für diesen Verzicht des Kapitaleinlegers erfolgt im Regelfall durch höhere Zinsen. Damit steht für den Kunden, anders als bei Sichteinlagen, nicht nur ein Aufbewahrungsinteresse im Vordergrund, sondern ebenso ein Geldanlageinteresse, das durch die Zinszahlungen verwirklicht werden kann. Die Bank wiederum kann durch die längerfristige Anlage besser kalkulieren und das zur Verfügung gestellte Kapital in längerfristigen und renditeträchtigeren Anlageformen investieren. Das Mittelbeschaffungsinteresse ist hier also höher als bei Sichteinlagen. Art. 4 MR-VO differenziert hinsichtlich der Mindestreservepflicht danach, ob die Kündigungsfrist über oder unter der 2-Jahres-Marke liegt.
II. Spareinlagen 1. Terminologie Rechtsgrundlage des Spargeschäfts ist im Wesentlichen § 21 RechKredV,21 der formalisierte Minimalanforderungen zum Sparverkehr normiert,22 ohne den Begriff dabei zu definieren. Da auch das Zivilrecht keinen selbstständigen „Sparvertrag“ kennt, liegt es im Ermessen eines jeden einzelnen Kredit19 OLG Dresden WM 2001, 804 f.; Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 488 Rn. 66; Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1980); Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 16 f.; Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 7; Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 24; Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 7; Schwintowski, Bankrecht, § 5 Rn. 25; Seifert, in: Soergel, BGB, Vor § 488 Rn. 90; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 16; Tröger, NJW 2015, 657 f. 20 Vgl. Nr. 18 Abs. 1 AGB-Banken sowie Nr. 26 Abs. 1 AGB-Sparkassen. 21 Zuvor hatten §§ 21, 22 KWG, die jedoch im Rahmen der 4. KWG-Novelle aufgehoben wurden, das Spargeschäft geregelt. Das dort zuvor normierte Regelungsregime wurde als zu tiefer Eingriff in die Vertragsfreiheit empfunden und daher durch § 21 Abs. 4 RechKredV ersetzt (siehe BR-Drucks. 504 / 92; BT-Drucks. 12 / 4876, S. 6). 22 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 10.
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instituts, unter welchen Bedingungen eine Spareinlage zustande kommen kann,23 sofern keine landesrechtlichen Regelungen entgegenstehen.24 Dass es damit vorkommen kann, dass die Bank „Spareinlagen“ anbietet, diese aber gar nicht von § 21 RechKredV erfasst werden, ist hinzunehmen, da wesentliche Ziele des Gesetzgebers vor allem Wettbewerb und Deregulierung waren.25 Damit eine Spareinlage als eine solche im Sinne der RechKredV gilt, muss sie unbefristet sein (§ 21 Abs. 4 RechKredV), weshalb Spareinlagen immer Kündigungsgelder sein müssen, da ansonsten der Sparwille nicht hinreichend erkennbar ist.26 Ferner ist die Spareinlage durch Ausfertigung einer Urkunde gekennzeichnet, ist nicht für den Zahlungsverkehr bestimmt, darf nur von einem bestimmten Einlegerkreis entgegengenommen werden27 und muss eine Kündigungsfrist von mindestens drei Monaten aufweisen (§ 21 Abs. 4 Nr. 1–4 RechKredV). Auch die in der Praxis häufig anzutreffenden Ratensparverträge, bei denen Sparer über einen vereinbarten Zeitraum hinweg meist monatlich Sparraten einzahlen, die mit einem Grundzins verzinst werden (eventuell mit einem zusätzlichen Bonuszins) sind trotz einer vereinbarten Rateneinzahlungs- bzw. Bonusverzinsungszeit als unbefristete Gelder anzusehen, da der Vertrag nach Ablauf der Einzahlungszeit nicht endet, sondern weiterläuft,28 wenngleich das Guthaben dann wohl meist den Bestimmungen über Spareinlagen mit dreimonatiger Kündigungsfrist unterliegt und mit dem für diese Einlagen geltenden Zinssatz weiter verzinst wird.
23 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 10; Schwintowski, Bankecht, § 5 Rn. 27; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 19. 24 Solche landesrechtlichen Einschränkungen können sich aus dem Sparkassenrecht der Länder ergeben. Teilweise sind Banken dadurch verpflichtet, Spareinlagen von jedermann entgegenzunehmen (vgl. beispielsweise § 5 Abs. 1 SpkO-Bayern). Zweck dieses Kontrahierungszwangs ist vor allem die aus dem öffentlichen Auftrag der Sparkassen folgende Verpflichtung, der regionalen Bevölkerung eine Gelegenheit zu einer sicheren und gewinnbringenden (da verzinslichen) Anlage ihres Kapitals zu geben (Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 10). 25 Siehe BT-Drs. 12 / 4876, 6; Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 10. 26 Vgl. auch BT-Drucks. 12 / 4876, S. 6 f.; BGH NJW 1975, 1507 (1508); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 12. 27 Vgl. hierzu die negative Aufzählung in § 21 Abs. 4 Nr. 3 RechKredV. 28 LG Ulm, Urteil vom 26.01.2015 – 4 O 273 / 13 Rn. 113.
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2. Rechtliche Qualifikation Die der Spareinlage zugrunde liegende Rechtsbeziehung ist, wie die Ter mineinlage, als Darlehensvertrag zu qualifizieren (§§ 488 ff. BGB), da das Eigentum auf die Bank übergeht und die Rückzahlung der Einlage erst nach einer Kündigung durch den Kunden erfolgen kann.29 3. Interessenlage Die Unbefristetheit bedeutet für den Bankkunden einen Verzicht auf die jederzeitige Dispositionsmöglichkeit. Dieser Nachteil wird durch eine höhere Zinszahlung seitens der Bank kompensiert. Auf Seiten des Kunden können wiederum Aufbewahrungs- und Geldanlageinteresse in jeweils unterschied licher Ausprägung eine Rolle spielen. Eine höhere Verzinsung liegt auch im wirtschaftlichen Interesse der Banken, da sie mit dem grundsätzlich auf unbestimmte Dauer zur Verfügung gestelltem Kapital durch längerfristige und damit renditeträchtigere Anlagen einen höheren Gewinn erwirtschaften kann als bei Sichteinlagen. Das Mittelbeschaffungsinteresse ist also höher als bei Termin- oder Sichteinlagen. Privilegierte Spareinlagen werden mit 10 % ihrer Höhe als Zahlungsverpflichtung im Laufzeitband I erfasst (§ 4 I Nr. 3 LiqV) und können damit auch zu einer finanziellen Belastung für die Banken werden.30
III. Sichteinlagen 1. Terminologie Die Sichteinlage zeichnet sich im Unterschied zu den anderen Anlageformen im Wesentlichen dadurch aus, dass hier der Inhaber jederzeit den Zeitpunkt der Fälligkeit und damit die Auszahlung seines Guthabens verlangen kann.31 Die beiden wichtigsten Anwendungsfälle in der Praxis sind das 29 BGH NJW 1975, 1507 (1509); Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 488 Rn. 66 f.; Habersack, in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 808 Rn. 22; Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 35; Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 7; Seifert, in: Soergel, BGB, Vor § 488 Rn. 90; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 18; Tröger, NJW 2015, 657 f. 30 Der übrige Teil der Spareinlagen ist von § 4 Abs. 1 Nr. 3 LiqV nicht erfasst, vgl. Zeranski, in: Boos / Fischer / Schulte-Mattler, KWG, § 4 LiqV Rn. 11. 31 Langner / Müller, WM 2015, 1979; Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 2; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 11; vgl. auch Nr. 16 Satz 1 AGB-Sparkas-
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irokonto und das sich in den letzten Jahren zunehmender Beliebtheit erG freuende Tagesgeldkonto, das im Unterschied zum Girokonto primär Anlagezwecken dient. 2. Rechtliche Qualifikation Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur qualifiziert die der Sichteinlage zugrundeliegende Rechtsbeziehung als unregelmäßige Verwahrung (§ 700 BGB),32 da hierbei § 695 BGB ein Recht zur jederzeitigen Rückforderung garantiere.33 Die Vorschriften zur unregelmäßigen Verwahrung verweisen aber im Wesentlichen auf das Recht des Gelddarlehensvertrages (§§ 488 ff. BGB).34 3. Interessenlage Für den Kunden als Hinterleger steht die jederzeitige Kapitalnutzungsmöglichkeit im Vordergrund, mithin das Aufbewahrungsinteresse.
sen: „Mangels abweichender Vereinbarungen sind Einlagen ohne Kündigung fällig (täglich fällige Gelder)“; vgl. auch die historische Definition in § 13 Abs. 2 ZinsVO: „Sichteinlagen sind Einlagen, für die eine Laufzeit oder Kündigungsfrist nicht vereinbart ist. Als Sichteinlagen gelten auch Einlagen, für die eine Kündigung von weniger als einem Monat oder eine Laufzeit von weniger als dreißig Zinstagen vereinbart ist.“. Diese jederzeitige Möglichkeit der Rückforderung entspricht der Regel des § 271 Abs. 1 BGB. 32 BGH NJW 1982, 2193 (2194); NJW 1994, 318; NJW 1996, 190 (191); NJW 1996, 2031; NJW-RR 2009, 979 (980); Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 488 Rn. 65; Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 16 f.; Kropf, WM 2017, 1185 (1186); Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1984); Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 7; Schwintowski, Bankrecht, § 5 Rn. 22; Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 33; Reuter, in: Staudinger, BGB, § 700 Rn. 2 f.; Seifert, in: Soergel, BGB, Vor § 488 Rn. 89; Spanier / Weller, BB 2004, 2235; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 11; Tröger, NJW 2015, 657 f.; a. A. Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 51. 33 Im Einzelnen ist die Abgrenzung zwischen Darlehens- und unregelmäßigem Verwahrungsvertrag sehr umstritten. Da die absolut herrschende Meinung die der Sichteinlage zugrundeliegende Rechtsbeziehung allerdings als unregelmäßigen Verwahrungsvertrag einordnet, sollen die Abgrenzungsschwierigkeiten erst unter § 6 B. III. 8. näher thematisiert werden. 34 Die Verweisung betrifft im Zweifel nicht den Ort und die Zeit der Rückgabe (§§ 700 Abs. 1 S. 3 BGB). Dies wäre im Fall der Sichteinlagen auch praktisch nicht interessengerecht. Somit kann die Rückgabe des Kapitals jederzeit (§ 695 BGB) in den Geschäftsräumen der Bank (vgl. § 697 BGB) erfolgen, vgl. auch Schwintowski, Bankrecht, § 5 Rn. 23; Thessinga, in: Ebenroth / Boujong / Joost / Strohn, HGB, BankR, Rn. III 12.
C. Interessenlage im Niedrig- und Negativzinsumfeld
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Die Bank muss wiederum täglich damit rechnen, dass der Kunde seine zur Verfügung gestellte Liquidität wieder zurückerhalten möchte, weshalb längerfristige und renditeträchtigere Anlageformen für die Bank nicht in Betracht kommen. Dies schlägt sich in einem, im Vergleich zu längerfristigen Anlageformen niedrigeren Zins nieder, den der Kunde allerdings als Ausgleich für die jederzeitige Fälligkeit in Kauf zu nehmen gewillt ist.35 Sichteinlagen werden als täglich fällige Verbindlichkeiten mit 10 % ihrer Höhe als Zahlungsverpflichtung im Laufzeitband I erfasst (§ 4 I Nr. 2 LiqV) und sind gem. Art. 4 Abs. 2 MR-VO mindestreservepflichtig.
C. Interessenlage im Niedrig- und Negativzinsumfeld I. Interessen auf Einlegerseite Vor allem seit der Finanzkrise 2007 und der Staatsschuldenkrise besteht nicht nur für einige unternehmerische, sondern wohl auch für eine Vielzahl privater Bankkunden aufgrund des als unsicher wahrgenommenen Finanzmarktes das Bedürfnis, das eigene Kapital in einem „sicheren Hafen“ zu wissen. Dieses Bedürfnis wird insbesondere deshalb im Rahmen von Einlagen bei einer Bank befriedigt, weil ihr hier zur Verfügung gestelltes Kapital dann durch das Einlagensicherungssystem mindestens bis zu einer Höhe von 100.000 Euro36 geschützt ist (§ 8 Abs. 1 EinSiG).37 Für Kunden, die in andere Anlageformen kein ausreichendes Vertrauen haben, bestehen außerhalb des Einlagengeschäfts kaum rentable Alternativen. Eine Bargeldbevorratung38 würde sowohl bei privaten als auch bei unauch Kropf, WM 2017, 1185 (1186). Deckungssumme von 100.000 Euro ist nur der Grundfall. Im Einzelfall erkennt das EinSiG eine Vielzahl von Ausnahmefällen an, die bis zu einer Deckungssumme von 500.000 Euro führen können, vgl. § 8 Abs. 2 – Abs. 5 EinSiG. 37 Dieses Einlagensicherungsgesetz vom 28.5.2015 (BGBl. I 786), geändert durch Art. 8 G v. 2.11.2015 (BGBl. I S. 1864), ist die Umsetzung der Richtlinie Nr. 2014 / 49 / EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.4.2014 über Einlagen sicherungssysteme, ABl. L 173 S. 149. Diese Richtlinie ist jedoch nur als Zwischenschritt gedacht, da die Europäische Union in den nächsten Jahren ein europaeinheitliches Einlagensicherungssystem schaffen möchte, vgl. hierzu Rümker / Winterfeld, in: in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 124 Rn. 193. 38 Der Auffassung von Lesch, der behauptet, dass eine Bargeldhaltung einer Verzinsung von Null entspreche (in: Negative Zinsen und das Kreditgeschäft, S. 18), ist damit nur in der Theorie zuzustimmen, denn aus einer Bargeldbevorratung in der Praxis ergibt sich nicht nur kein Gewinn aus einem Zinserlös, sondern es entstehen darüber hinaus (zumindest ab einem gewissen Betrag) Kosten für Transport, Lagerung und Versicherung. 35 Vgl.
36 Diese
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§ 6 Das Einlagengeschäft der Banken
ternehmerischen Kunden, abhängig von der Höhe des Betrages, Kosten für Transport, Lagerung und Versicherung verursachen, von denen zweifelhaft ist, ob sie einen eventuell negativen Zinssatz nicht sogar noch übersteigen würden. Damit steht für einen Kunden, der im Niedrig- oder Negativzinsumfeld sein Geld bei einer Bank einlegt, bei allen Einlagenformen im Regelfall nicht der Gewinn aus dem Kapital, sondern das Verwahrinteresse im Vordergrund.
II. Interessen auf Bankenseite Seit der 2007 beginnenden Finanzkrise lässt sich eine aus Rezessionsängsten resultierende Konsum- und Investitionszurückhaltung privater und unternehmerischer Kunden beobachten.39 Diese Konsum- und Investitionszurückhaltung bedeutet, dass die im Rahmen des Aktivgeschäfts der Banken zur Verfügung gestellte Liquidität nicht mehr in gleichem Maße nachgefragt wird wie zuvor, was dazu führt, dass die Kreditinstitute in ihrer Eigenschaft als fristen- und liquiditätstransformierende Finanzintermediäre40 in viel geringerem Maße gefragt sind als vor der Wirtschaftskrise. Da das Einlagengeschäft prinzipiell der Kapitalansammlung für das gewinnbringende Wirtschaften im Rahmen dieses Aktivgeschäfts dient,41 bedeutet diese zurückgehende Nachfrage auf der Aktivseite zugleich, dass die im Rahmen des Einlagengeschäfts zur Verfügung gestellten Mittel in viel geringerem Maße einer renditeträchtigen Nachfrage zugeführt werden können.42 Das im Normalfall bestehende Mittelbeschaffungsinteresse der Banken geht damit zurück. Weiterhin wird die Bank hinsichtlich der Einlagen durch die Liquiditätsund Solvabilitätsvorschriften belastet. Einerseits können die Liquiditätsanforderungen nur durch eine begrenzte Zahl an Zahlungsmitteln erfüllt werden (§ 3 LiqV). Zum zweiten kann es aufgrund der seit Basel III sehr strengen Solvabilitätsvorschriften für die Bank im Einzelfall rentabler sein, Gelder bei der EZB zu einem negativen Satz einzulegen als bei anderen Geschäftsbanken.43 § 4 D. I.; siehe auch Tröger, NJW 2015, 657. diese Eigenschaft der Kreditinstitute als Finanzintermediäre s. o. § 6 A. 41 s. o. § 6 A. 42 Siehe im Ergebnis auch Tröger, NJW 2015, 657. 43 Zu dieser ökonomischen Wertung kommen (noch stärker verallgemeinernd) Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (96). Zentrale Vorschrift ist hierbei die im Rahmen von Basel III erlassene Verordnung (EU) Nr. 575 / 2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über Aufsichtsanforderungen an Kreditinstitute und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 646 / 2012 (Capital Requirements Regulation; kurz: CRR); vgl. v. a. § 10 Abs. 1 KWG i. V. m. Art. 111 CRR. 39 s. o. 40 Zu
D. Zusammenfassung
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Auch die negativen Werte des EURIBOR zeigen, dass eine gewinnbringende Anlage des Liquiditätsüberschusses im Interbankenmarkt bisweilen wohl nur schwer möglich sein wird.
III. Interessenausgleich durch negativen Zinssatz Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass das Mittelbeschaffungsinteresse, das die Banken typischerweise im Einlagengeschäft verfolgen, um durch das fristen- und liquiditätstransformierende Kreditintermediationsgeschäft Gewinn zu erwirtschaften, im Niedrig- und Negativzinsumfeld stark zurücktritt oder gar entfällt und zudem die Kapitalnachfrage in Rezessionszeiten nachlassen kann, wohingegen das Verwahrinteresse des an der Einlagensicherung interessierten Kundenkreises stark zunimmt oder die Vertragsbeziehung sogar wesentlich prägt. Ein negativer Zinssatz ist prinzipiell ein geeignetes Instrument, um zwischen diesen divergierenden Interessen im Niedrig- und Negativzinsumfeld einen Ausgleich zu erreichen. Durch eine „Durchreichung“ des negativen Satzes können die Banken die ihr aus den Einlagen resultierenden Kosten minimieren. Weiterhin kann es für die Kunden lohnenswert sein, durch die Entrichtung eines (kleinen) Entgelts ihr zur Verfügung gestelltes Kapital in den Einlagensicherungssystemen aufbewahrt zu wissen. Damit kann ein negativer Zinssatz bzw. Entgelt im gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld im Einlagengeschäft sowohl den ökonomischen Interessen der Banken als auch den (ökonomischen) Interessen der Kunden dienen. Auf dieser Grundlage muss nun geklärt werden, ob einer solchen Anpassung rechtliche Hindernisse entgegenstehen.
D. Zusammenfassung Das dem Passivgeschäft der Banken unterfallende Einlagengeschäft dient der Bank zur Ansammlung flüssigen Kapitals, das im Rahmen des Aktivgeschäfts durch die fristen- und liquiditätstransformierende Kreditintermediation gewinnbringend weiterverwendet wird, es dient aber ebenso dem Schutz des Publikums vor Verlust seiner Mittel und garantiert einen funktionsfähigen Geld- und Kreditkreislauf, wobei zwischen Termin-, Spar- und Sichteinlagen zu differenzieren ist. Die als Kündigungs- oder Festgelder verkommenden Termineinlagen sind befristet und deshalb als Darlehensvertrag einzuordnen. Der Verzicht auf jederzeitige Fälligkeit wird für den Kunden durch höhere Verzinsung kompen-
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§ 6 Das Einlagengeschäft der Banken
siert, die Bank kann dieses Kapital wiederum in längerfristige und damit renditeträchtigere Anlageformen kanalisieren. Auch die einer qualifizierten Spareinlage zugrundeliegende Rechtsbeziehung ist als Darlehensvertrag zu qualifizieren. Hinsichtlich der Interessenlage ergeben sich keine wesentlichen Unterschiede zur Termineinlage. Die Sichteinlage, deren wichtigster Anwendungsfall das Girokonto ist, ist jederzeit fällig und damit als unregelmäßiger Verwahrungsvertrag einzuordnen. Für den Kunden steht das Aufbewahrungsinteresse im Vordergrund. Die Bank kann das jederzeit fällige Kapital nur sehr bedingt gewinnbringend weiterverwenden, was sich in niedrigeren Zinsen niederschlägt. Die wirtschaftlichen Krisen haben dazu geführt, dass die Einlagensicherungssysteme für die Bankkunden an Bedeutung hinzugewonnen haben. Die Bank kann aber das im Rahmen des Einlagengeschäfts zur Verfügung gestellte Kapital aufgrund der Liquiditäts- und Solvabilitätsvorschriften sowie wegen der Disintermediation des Kreditmarkts, falls überhaupt eine entsprechende Nachfrage besteht, teilweise nicht mehr renditeträchtig anlegen und muss dann Kosten in Kauf nehmen. Damit erscheint die Durchreichung des negativen Zinssatzes an die Bankkunden bei allen Einlageformen ökonomisch betrachtet als für beide Seiten angemessener Interessenausgleich.
§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung in bestehenden Einlagengeschäften A. Zu Methodik und Terminologie Nachdem gezeigt werden konnte, dass negative Zinsen prinzipiell ein geeignetes Instrument sind, um den Interessen von Banken (und eventuell auch Kunden) im Niedrig- und Negativzinsumfeld gerecht zu werden, ergeben sich daraus zwei Folgefragen. Zum einen kann gefragt werden, inwieweit die Möglichkeit eines negativen Zinses bei Neuabschlüssen von Verträgen Einfluss auf die Vertragsgestaltung haben muss, was im nächsten Abschnitt behandelt wird (§ 8). Viel drängender und problematischer erscheinen allerdings die zunächst in diesem Abschnitt zu behandelnden rechtlichen Fragestellungen, die sich aus der Konstellation ergeben, dass im Rahmen eines bereits bestehen Einlagenvertrages statt eines positiven nun ein negativer Zins erhoben werden soll. Hier ist aufgrund der in § 6 aufgezeigten Einlagenarten und der damit verbundenen unterschiedlichen Vertragstypen zwischen den Einlageformen der Sichteinlage (C.) sowie der Termin- und Spareinlage zu differenzieren. Da Termin- und Spareinlage demselben Vertragstypus angehören, sollen beide unter dem Stichwort „Termineinlage“ untersucht werden (B.). Soweit sich bei der Spareinlage Besonderheiten ergeben, wird jeweils explizit darauf hingewiesen.
B. Anpassung bei Termineinlagen Bevor beurteilt werden kann, ob der Übergang von einem positiven zu einem negativen Zins bei Termineinlagen rechtlich zulässig ist, muss zunächst untersucht werden, welche vertragstypologischen Änderungen sich hierbei ergeben. Zwar ist der Vertragstypus per se kein identitätskonstituierendes Kriterium eines Schuldverhältnisses,1 er kann jedoch ein Auslegungskriterium des subjektiven Parteiwillens sein.2 Zudem ist die Verschiebung der Leistungspflichten im Rahmen des Übergangs von positiver zu negativer Verzinsung ein Aspekt, der besonderer Würdigung bedarf.
1 s. o. 2 s. o.
§ 3 D. III. 3. c). § 3 D. III. 4. c) bb).
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§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
I. Vertragstypologische Änderungen durch Null- und Negativzins Bei der Untersuchung der vertragstypologischen Änderungen müssen zwei Konstellationen voneinander getrennt werden. Zum einen muss die Konstellation betrachtet werden, in der der vertragliche Zinssatz den Nullpunkt erreicht und damit ein zinsloses Darlehen vorliegt. Davon zu trennen ist der negative Zinssatz mit einer Umkehr der Leistungspflichten.
II. Nullverzinsung: Abdingbarkeit des § 488 Abs. 1 S. 2 BGB Aus der Fassung des § 488 BGB geht bereits hervor, dass der Gesetzgeber vom Regelfall der Entgeltlichkeit des Darlehens ausgeht.3 Doch abgesehen von diesem Regelfall ist es nach allgemeiner Meinung auch möglich, dass die Zinspflicht durch Parteivereinbarung oder stillschweigend abbedungen wird, womit im Ergebnis ein zinsloses Darlehen gewährt wird.4 Der Vertragstypus ändert sich dadurch allerdings nicht. Es ändert sich lediglich die rechtliche Grundstruktur5 des Vertrages insoweit, als nun kein vollkommen zweiseitig verpflichtender, sondern ein unvollkommen zweiseitig verpflichtender Vertrag vorliegt.6
III. Vertragstypenwechsel bei Negativzins? Problematischer erscheint demgegenüber die Fragestellung, ob und inwieweit sich die zugrundeliegende Rechtsbeziehung einer Termineinlage ändert, wenn statt dem positiven nun ein negativer Zins erhoben wird. 1. Problemstellung und These: Änderung der Interessenlage und des Synallagmas Das im Regelfall auf Seiten der Banken bestehende Mittelbeschaffungs interesse7 geht in der Niedrig- und Negativzinsphase zurück oder entfällt 3 Bestätigend:
BT-Drucks. 40 / 6040 S. 253. geht auch schon aus § 488 Abs. 3 S. 2 BGB hervor. Zum zinslosen Darlehen ferner Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 55; Saenger, in: Erman, BGB, § 488 Rn. 49; Seifert, in: Soergel, BGB, § 488 Rn. 120; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, § 488 Rn. 14. 5 Hierzu und zu den damit verbundenen Terminologien s. o. § 3 D. III. 3. d) bb). 6 Schwarze, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 320–326 Rn. 34. 7 Zu diesem Mittelbeschaffungsinteresse der Bank bei den verschiedenen Einlageformen siehe ausführlich oben § 6 A.; B. I. 3.; II. 3. 4 Dies
B. Anpassung bei Termineinlagen161
sogar.8 In den Vordergrund rückt das Aufbewahrungsinteresse der Bankkunden, die durch die Einlage (zumindest bis zu einer gewissen Höhe) Zugang zu den Einlagesicherungssystemen bekommen.9 Zwar besteht das Aufbewahrungsinteresse auch in einem normalen volkswirtschaftlichen Umfeld,10 im gegenwärtigen wirtschaftlichen Umfeld prägt es jedoch den Vertrag in besonderem Maße, weil das Mittelbeschaffungsinteresse der Bank (ganz oder teilweise) entfällt. Werden im Rahmen einer Termineinlage, also eines Darlehensvertrages, negative Zinsen erhoben, entfällt die synallagmatische Hauptpflicht11 der Zinszahlung des Darlehensnehmers, sodass der Darlehensnehmer nicht mehr zu einer Gegenleistung verpflichtet ist, sondern eine neue Leistungspflicht des Darlehensgebers begründet wird. Es erscheint überaus zweifelhaft, ob nach dieser Änderung die nun bestehende Konstellation noch unter den Vertragstypus des Darlehensvertrages subsumiert werden kann. Es soll deshalb in einem ersten Schritt die These aufgestellt werden, dass die synallagmatischen Änderungen beim Übergang von einem positiven zu einem negativen Zins so gewichtig sind, dass die Rechtsbeziehung bei einer Termineinlage im Falle eines negativen Zinses nicht mehr als Darlehensvertrag eingeordnet werden kann. Verschiedene Stimmen in der Literatur sind jedoch der Auffassung, dass auch im Falle eines negativen Zinses die der Termineinlage zugrundeliegende Rechtsbeziehung als Darlehensvertrag zu qualifizieren ist. Deshalb bedarf es im Folgenden einer kritischen Auseinandersetzung mit diesen Stellungnahmen. 2. Gegenargument I: Verschiebung des Synallagmas Langner / Müller argumentieren, dass beim Negativzins die synallagmatische Struktur insoweit nicht gestört werde, da die Abnahmeverpflichtung des Darlehensnehmers, die mit der Bereitstellungspflicht des Darlehensgebers korrespondiere, im Regelfall (also in einem normalen wirtschaftlichen Umfeld) lediglich von der Zinszahlungspflicht überdeckt werde, bei einem Negativzins allerdings wieder in den Vordergrund rücke und daher als Verwahr element „bei einem Darlehensvertrag als Synallagma für einen negativen § 6 C. II.; siehe auch Tröger, NJW 2015, 657 (658). § 6 C. I. 10 s. o. § 6 B. I. 3.; II. 3.; III. 3. 11 Zu der Eigenart der Zinszahlungspflicht als synallagmatische Hauptleistungspflicht s. o. § 5 G. 8 s. o. 9 s. o.
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§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
Zins gesehen werden“ könne.12 Grundsätzlich kann das Synallagma verschiedene Verpflichtungen der beiden Parteien erfassen, die in einem Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Bei einem verzinslichen Darlehen sind dies auf Seiten des Kapitalgebers die Zurverfügungstellung, also das Belassen des Kapitals,13 welcher die Zinszahlung des Darlehensnehmers gegenübersteht.14 Im Regelfall besteht bei verzinslichen Darlehen daneben eine Pflicht zur Abnahme der Valuta, die die Parteien allerdings abbedingen können.15 Man könnte auf den ersten Blick also durchaus konstatieren, dass das Synallagma jedenfalls bei Bestehen einer Abnahmepflicht bei einem Negativzins weiterhin erhalten bleibt. Von der Beurteilung der Gegenseitigkeit der Leistungspflichten muss allerdings die Beurteilung der Äquivalenz der Leistungspflichten streng getrennt werden. Während die Gegenseitigkeit eine rein rechtliche Verknüpfung meint, bezeichnet die Äquivalenz eine wirtschaftliche Beziehung im Sinne einer Wertrelation zwischen den Leistungspflichten.16 Insbesondere im Laufe der Zeit eintretende Verschiebungen des von den Parteien intendierten Äquivalenzverhältnisses können bei Dauerschuldverhältnissen beispielsweise über das Institut der Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB) ausgeglichen werden, indem der Vertrag angepasst oder beendet wird. Demgegenüber ist das Synallagma „neutral“17 und lediglich Ausdruck einer rechtlichen Verknüpfung. Selbst wenn die These von Langner / Müller, dass die Abnahmeverpflichtung als Verwahrelement bei einem Darlehensvertrag im Falle eines negativen Zinses wieder in den Vordergrund rücke, zutreffen sollte, ist sie für die rechtliche Beurteilung des Synallagma im Sinne eines Äquivalenzverhältnisses trotzdem ohne Belang. Denn bei einem verzinslichen Darlehen, das bei einer Termineinlage die zugrundeliegende Rechtsbeziehung ist, entfällt die im Synallagma stehende Pflicht zur Zinszahlung und eine neue Verpflichtung, die dann wohl auch im Synallagma stehen müsste, kommt auf Seiten des Darlehensgebers hinzu. Die zunächst bestehende synallagmatische Struktur des verzinslichen Darlehensvertrages wird also so 12 Langner / Müller,
WM 2015, 1979 (1980). in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 55; Seifert, in: Soergel, BGB, § 488 Rn. 120; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, Vorb v § 488 Rn. 2. 14 Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 25. 15 BGH NJW 1990, 981; NJW-RR 1990, 432 (433), NJW 1991, 1817 (1818), NJW 2001, 509 (510); Freitag, in: Staudinger, BGB, § 488 Rn. 217; Seifert, in: Soergel, BGB, § 488 Rn. 150 f. m. w. N. 16 Zu diesen Begriffen siehe Schwarze, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 320– 326 Rn. 7; ausführlich auch Daele, Probleme des gegenseitigen Vertrages, S. 30 ff. 17 Zu diesem Begriff der „Neutralität“ des Synallagma gegenüber den Äquivalenzaspekten der Leistungspflichten siehe Daele, Probleme des gegenseitigen Vertrages, S. 30 ff. 13 Berger,
B. Anpassung bei Termineinlagen163
wesentlich geändert, dass es als dogmatisch schwer vertretbar erscheint, die neue Konstellation noch als Darlehensvertrag zu begreifen, selbst wenn bei rein formaler Betrachtung die Gegenseitigkeit (noch) erhalten bleibt. 3. Gegenargument II: Dispositionsbefugnis über Entgeltlichkeitscharakter Auch Hingst / Neumann vertreten die Auffassung, dass negative Zinsen mit dem Vertragstypus des Darlehensvertrages vereinbar seien. Da im Falle eines zinslosen Darlehens eine Zinspflicht nicht bestehe, sei eine solche „de lege lata für den Darlehensvertrag nicht erforderlich“.18 Typenbildend für den Darlehensvertrag seien die Kapitalüberlassung einerseits und die Rückzahlungspflicht andererseits, wohingegen die Zinszahlungspflicht der privatautonomen Gestaltungsfreiheit der Parteien unterworfen sei und daher im Ergebnis auch die Vereinbarung von Negativzinsen möglich sein müsse.19 Diesem Gedankengang ist aus mehreren Gründen zu widersprechen: Zum einen erscheint der Schluss, dass aufgrund der Möglichkeit der Vereinbarung eines zinslosen Darlehens eine Zinspflicht de lege lata für den Darlehensvertrag nicht erforderlich sei, dogmatisch zweifelhaft. Das zinslose Darlehen als unvollkommen zweiseitig verpflichtender Vertrag und das verzinsliche Darlehen als vollkommen zweiseitig verpflichtender Vertrag sind nämlich insoweit wesensverschieden, als verschiedene rechtliche Grundstrukturen hinsichtlich des Verpflichtungsgrades verwirklicht sind. Auch wenn es möglich ist, ein zinsloses Darlehen zu vereinbaren, steht bei einem verzinslichen Darlehen die Verpflichtung zur Zinszahlung dennoch im Synallagma. Ferner ist die Auffassung, dass lediglich die Kapitalüberlassung und die Rückzahlungspflicht für den Darlehensvertrag „typenbildend“ seien, bedenklich, denn die Rückzahlungspflicht steht nach herrschender Meinung nicht im Synallagma mit der Darlehensgewährungspflicht, sondern stellt einen bloßen Abwicklungsanspruch dar.20 An der eben dargestellten Störung der synallagmatischen Struktur durch die Erhebung negativer Zinsen ändert sich also nichts. Natürlich steht es den Parteien prinzipiell frei, über die Höhe des Zinses frei in beiden Richtungen beliebig zu bestimmen. Dies ändert aber nichts an der rechtlichen Bewertung, dass eine Zahlungspflicht des Kapitalgebers nicht mehr als Zins, sondern als andersartiges Entgelt zu charakterisieren wäre, was die Folge hätte, dass es sich nicht um einen Darlehensvertrag, sondern 18 Hingst / Neumann,
BKR 2016, 95 (98). BKR 2016, 95 (98). 20 Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 42; Saenger, in: Erman, BGB, § 488 Rn. 9; Seifert, in: Soergel, BGB, § 488 Rn. 107; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, Vorb v § 488 Rn. 2. 19 Hingst / Neumann,
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§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
um einen anderen – gegebenenfalls ungeregelten – Vertragstypus handeln würde.21 4. Gegenargument III: Erhaltung des Synallagmas durch Erhaltung der Marge Söbbing / van Bodungen sehen, wie bereits dargestellt,22 (vom Aktivgeschäft der Banken ausgehend) das Synallagma deshalb nicht gestört, weil die Marge der Banken auch im Negativzinsumfeld erhalten bleibe.23 Dieses Argument ist aus den oben genannten Gründen ebenfalls nicht überzeugend.24 5. Gegenargument IV: Urteil des BGH Einige Stimmen in der Literatur interpretieren ein Urteil des BGH aus dem Jahr 201025 als Stellungnahme zur Einordnung des Negativzinses dahingehend, dass der BGH angenommen hätte, dass sich „innerhalb des Darlehensvertrages eine Zahlungspflicht des anderen Teils ergeben könnte“.26 In dem zugrunde liegenden Fall war eine Zinsänderungsklausel wegen eines Verstoßes gegen § 308 Nr. 4 BGB für unwirksam erklärt worden, weil sie nicht das erforderliche Mindestmaß an Kalkulierbarkeit möglicher Zinsänderungen aufwies. Die dadurch im Vertrag entstandene Lücke sollte im Wege ergänzender Vertragsauslegung (§§ 133, 157 BGB) geschlossen werden. Wichtigster Parameter für die Zinsänderung sei die Bestimmung eines geeigneten und dem entsprechenden Finanzprodukt möglichst nahekommenden Referenz zinses. Zudem müsse die Zinsänderung das Äquivalenzprinzip beachten, nach dem die Bank das Grundgefüge des Vertragsverhältnisses durch die Zinsänderung nicht zu ihren Gunsten verändern dürfe, sondern auch für den Kunden günstige Anpassungen vornehmen müsse.27 Der BGH verneinte die Zulässigkeit einer Zinsänderungsklausel, bei der der anfänglich vereinbarte Abstand des vereinbarten Zinssatzes zum Referenzzinssatz in seinem absoluauch Binder / Ettensberger, WM 2015, 2069 (2071). § 5 F. 23 Söbbing / van Bodungen, ZBB 2016, 39 (41). 24 s. o. § 5 F. 25 BGH, Urteil vom 13. April 2010 – XI ZR 197 / 09 = WM 2010, 933. 26 Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1980); zustimmend Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25a; Söbbing / van Bodungen, ZBB 2016, 39 (41). Anders bewerten diese Ausführungen Hingst / Neumann, BKR 2016, Fn. 54 („offengelassen“). 27 Siehe auch BGH WM 1991, 179 (182); WM 1993, 2003 (20004 f.); WM 2009, 1077. 21 So
22 s. o.
B. Anpassung bei Termineinlagen
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ten Wert stets gleich bleiben sollte. Maßgeblich seien vielmehr das Verhältnis des vereinbarten Zinses zum Referenzzinssatz und der hieraus resultierende Wert.28 Falls der Referenzzinssatz nämlich stark sinke, könne es bei einer absoluten Betrachtung „im Extremfall“ vorkommen, „dass der Vertragszins unter Null fällt, also theoretisch eine Zinszahlungspflicht des Kunden an die Bank entstünde. Auch wenn günstige Zinskonditionen grundsätzlich günstig bleiben müssen und ungünstige auch ungünstig bleiben dürfen, so ist eine absolute Margensicherung oder gar das Entfallen eines Zinsanspruchs bzw. die Umkehr eines Zahlungsanspruchs in eine Zahlungspflicht nicht interessengerecht. […] Zum anderen verhindert die Maßgeblichkeit des prozentualen Abstands zwischen Vertrags- und Referenzzins die Verstetigung einer absoluten Gewinnmarge und das Absinken des Vertragszinses auf Null oder ins Negative.“29
Der BGH geht folglich davon aus, dass ein so starkes Abfallen des Referenzzinssatzes insoweit, als dieser zu einem negativen Vertragszins führt, nur „im Extremfall“ möglich sei. Für diesen Fall sei, wenngleich nur für den konkreten zugrundeliegenden Sachverhalt entschieden, eine relative Berechnung interessengerecht, weil anderenfalls ein zu starkes Ungleichgewicht der Vertragskonditionen entstehe und auch der Vertragszins sonst negativ werden könne. Dies spricht aber, wenn man in dieser Entscheidung überhaupt eine Stellungnahme zum Negativzins ablesen will, dafür, dass der BGH hinsichtlich der Annahme eines negativen Vertragszinses, der im Laufe der Vertragsbeziehung entsteht, ablehnend gegenübersteht. Rückschlüsse auf das Phänomen der negativen Verzinsung können auch deshalb nicht gezogen werden, weil der BGH im Jahr 2010 die Abwärtsentwicklung des Zinsniveaus in dieser Dimension noch nicht antizipieren konnte. Anderenfalls wären Feststellungen für den Fall naheliegend gewesen, dass der Referenzzinssatz den negativen Bereich erreicht, denn dann würde auch die vom BGH in diesem Fall favorisierte relative Berechnung zu einem negativen Vertragszins führen. Wegen der Unvorhersehbarkeit der (extremen) Zinsentwicklung noch im Jahr 2010 lassen sich aus dem Urteil des BGH im Ergebnis keine Implikationen zur Beurteilung des aktuellen Phänomens des negativen Einlagesatzes ableiten. Selbst falls man dies anders sehen würde, lässt sich das Urteil hinsichtlich der Frage der Zulässigkeit der Entstehung einer Zinszahlungspflicht doch eher als dies ablehnend interpretieren („[…] Umkehr eines Zahlungsanspruchs in eine Zahlungspflicht nicht interessengerecht“). Die Stimmen in der Literatur, die befürworten, dass sich der einer Termin einlage zugrundeliegende Vertrag auch im Falle eines negativen Zinses als Darlehensvertrag einordnen lässt, überzeugen nach alledem nicht. Dieses 28 Diesen Wert bezeichnet man auch als „Anpassungsmarge“, vgl. hierzu Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 24j. 29 BGH WM 2010, 933 (936).
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Ergebnis deckt sich mit der oben gewonnenen Erkenntnis, dass der vertragsrechtliche Zinsbegriff des BGB nicht als negativer gedacht werden kann.30 6. Alternative Lösungsmöglichkeit I: Der Vertrag sui generis Die oben aufgestellte These, dass der einer negativ verzinsten Termineinlage zugrundeliegende Vertrag nicht (mehr) als Darlehensvertrag zu qualifizieren ist, wird insoweit bestätigt, als keine überzeugenden Argumente für die Annahme eines Darlehensvertrages in dieser Konstellation gefunden werden konnten. Die These kann jedoch erst verifiziert werden, wenn feststeht, dass die sich dann ergebende Rechtslage von einem anderen Vertragstypus zutreffender erfasst wird als von einem Darlehensvertrag. In Betracht käme aufgrund der wirtschaftlichen Ausnahmesituation ein vertragstypologisch im BGB nicht geregelter Vertrag sui generis31. Ein solcher Vertrag sui generis dürfte jedoch nur dann angenommen werden, wenn der Vertrag weder eine (atypische) Abwandlung eines gesetzlich geregelten Vertragstypus noch die Mischung mehrerer Vertragstypen wäre.32 Deshalb soll zunächst untersucht werden, ob sich eine Termineinlage mit negativem Zins möglicherweise unter den Vertragstypus eines regelmäßigen oder unregelmäßigen Verwahrungsvertrages subsumieren lässt. 7. Alternative Lösungsmöglichkeit II: Der regelmäßige Verwahrungsvertrag Tröger sieht aufgrund des überragenden Verwahrungsinteresses des Kunden im derzeitigen Wirtschaftsumfeld die Termineinlage als vom regelmäßigen Verwahrungsvertrag erfasst (§ 688 ff. BGB).33 Problematisch erscheint allerdings, dass der Verwahrer bei der regelmäßigen Verwahrung nur unmittelbarer Besitzer aufgrund eines Besitzmittlungsverhältnisses, nicht jedoch 30 s. o.
§ 5 G., H. Bezeichnung eines Vertrages als „Vertrag sui generis“ ist deshalb problematisch, da – streng genommen – auch Typenkombinations- und Typenverschmelzungsverträge Verträge sui generis sind; siehe zu dieser Kritik Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2, § 63 IV 1. Zur begrifflichen Ausdifferenzierung und Unterscheidung der gemischten, der Typenkombinations-, der Typenverschmelzungs- sowie der typenfremden Verträge siehe ausführlich Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, S. 33 ff. 32 Siehe hierzu Larenz / Canaris, Schuldrecht II / 2, § 63 IV 1. 33 Tröger, NJW 2015, 1979 (1981); zustimmend wohl Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 178. 31 Die
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Eigentümer der verwahrten Sache wird.34 Aus diesem Grund könnte der Kapitalgeber jederzeit die hinterlegte Sache, also genau die Geldscheine, die er in Verwahrung gegeben hat, wieder zurückfordern (§ 695 S. 1 BGB), was an der Realität des Bankgeschäftes vorbeigeht, da die Bank so nicht mit dem hinterlegten Geld arbeiten könnte.35 8. Alternative Lösungsmöglichkeit III: Der unregelmäßige Verwahrungsvertrag a) Dogmatische Eigenart In Betracht kommt jedoch die Annahme einer unregelmäßigen Verwahrung, bei der das Eigentum der Sache(n) auf den Verwahrer übergeht (§ 700 Abs. 1 S. 1 BGB). Der unregelmäßige Verwahrungsvertrag ist ein Typen verschmelzungsvertrag,36 in dem sich Elemente des Darlehens und der regelmäßigen Verwahrung zu einem eigenständigen Vertragstypus verbinden.37 Um die dogmatische Eigenart und die gegenseitigen Verpflichtungen im Rahmen dieses Mischvertrages ausdifferenzieren zu können, bedarf es zunächst einer Abgrenzung der unregelmäßigen Verwahrung zum Darlehen. b) Abgrenzung zum Darlehensvertrag – Meinungsstand Eine Ansicht in der Literatur differenziert zur Abgrenzung zwischen Darlehens- und unregelmäßigem Verwahrungsvertrag danach, von wem die Initiative zum Vertragsschluss ausgegangen ist, wer also m. a. W. das größte Interesse am Eigentumswechsel hat. Während beim Darlehen der Darlehensnehmer ein überwiegendes Interesse an dem Erhalt des Kapitals habe, sei bei der unregelmäßigen Verwahrung der Hinterleger die zentrale Gestalt, da dieser ein Interesse an der sicheren Verwahrung bei jederzeitiger Verfügbarkeit habe.38 Diese Auffassung wirkt allerdings dann schematisch, wenn man einen Blick auf das Einlagengeschäft der Banken wirft und die Konstellation in Betracht zieht, dass unter Umständen, im Fall der Termin- und Sparein34 Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 17; Zetsche, in: Erman, BGB, § 700 Rn. 3; Reuter, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 688 ff. Rn. 8. 35 Im Ergebnis so auch Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1981); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25a. 36 Zu Terminologie und Dogmatik des Typenverschmelzungsvertrages siehe Stoffels, Gesetzlich nicht geregelte Schuldverträge, S. 42 f. m. w. N. 37 Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 2; Schur, in: Soergel, BGB, Vor §§ 688 ff. Rn. 3. 38 Gehrlein, in: Bamberger / Roth, BGB, § 700 Rn. 1 in Rückgriff auf RGZ 1, 204 (207 f.); ähnlich Sprau, in: Palandt, BGB, § 700 Rn. 1.
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lage, das Interesse des Kapitalgebers aufgrund einer renditeträchtigen Anlageform höher sein kann als das Interesse der Bank an der Kapitalaufnahme.39 Diese Auffassung, die auch als „Initiativtheorie“ bezeichnet wurde, ist mit dieser Begründung im neueren Schrifttum bisweilen kritisiert worden.40 Die herrschende Meinung grenzt demgegenüber Darlehen und unregelmäßige Verwahrung nach dem Kriterium der Fälligkeit ab.41 Ein gewichtiger Unterschied sind nämlich die Regelungen der §§ 488 Abs. 3, 608 Abs. 1 BGB einerseits und der §§ 700 Abs. 1 S. 3, 695 BGB andererseits. Nach diesen Vorschriften hängt die Rückerstattung des Kapitals beim Darlehensvertrag von einer Kündigung oder dem Ablauf einer Frist ab, während bei der regelmäßigen (und aufgrund der Verweisung des § 700 Abs. 1 S. 3 BGB auf § 695 BGB auch bei der unregelmäßigen) Verwahrung die Rückforderung jederzeit geschehen kann. Legt man nur den Fälligkeitsgedanken zugrunde, könnten Termin- und Spareinlagen mangels jederzeitiger Rückforderbarkeit des Kapitals auf den ersten Blick nicht unter § 700 BGB subsumiert werden. c) Abgrenzung zum Darlehensvertrag – Stellungnahme Um der hier beschriebenen Konstellation gerecht zu werden, bedarf es jedoch eines noch genaueren Blicks auf die Interessenlage. Denn entscheidend ist, ob die jederzeitige Verfügbarkeit der verwahrten Sache nur ein Abgrenzungsmerkmal zwischen Darlehen und unregelmäßiger Verwahrung ist, oder das entscheidende, den Vertragstypus prägende Merkmal. Ausgangspunkt der Überlegungen sollen die Erläuterungen des Gesetzgebers zur Abgrenzung des Darlehens- vom unregelmäßigen Verwahrungsvertrag42 sein: „[…] dass das depositum irregulare und das Darlehen ihrer wirtschaftlichen Natur nach wesentlich verschiedene Geschäfte seien. Die Veranlassung zum Darlehen liege stets in dem Bedürfnisse des Empfängers (dass der Geber eine Verzinsung seines Kapitales erlange, gehöre nicht zum Wesen des Darlehens und bilde nicht 39 Henssler,
in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 2. in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 3; Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (98 f.); Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 3; Reuter, in: Staudinger, BGB, § 700 Rn. 3. 41 Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 3; Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 3; Reuter, in: Staudinger, BGB, § 700 Rn. 3; Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 5. 42 In den Gesetzesmaterialien wird der unregelmäßige Verwahrungsvertrag noch als depositum irregulare bezeichnet, zu diesem sowie zum (umstrittenen) Begriff des unregelmäßigen Verwahrungsvertrages siehe auch Zetzsche, in: Erman, BGB, § 700 Rn. 1 sowie Reuter, in: Staudinger, BGB, § 700 Rn. 1. 40 Henssler,
B. Anpassung bei Termineinlagen169 den ersten Anlass zu dem Geschäfte); dagegen liege die Veranlassung zum depositum irregulare stets in dem Bedürfnisse des Hinterlegers, der Sorge für die Verwahrung überhoben zu werden, ohne doch die Verfügung über das Kapital auf längere Zeit zu verlieren.“43
Der Gesetzgeber hebt hier die jeweiligen Hauptinteressen hervor, die zugleich Abgrenzungskriterium sein sollen: Beim Darlehen sei stets das Bedürfnis des Empfängers entscheidend, während es bei der unregelmäßigen Verwahrung das entscheidende Bedürfnis des Hinterlegers sei, um eine sichere Verwahrung wissen zu können, ohne die Dispositionsbefugnis auf längere Zeit zu verlieren. Diese Ausführungen sind auch Grundlage der in der Literatur entwickelten, eben dargestellten „Initiativtheorie“. Auf den ersten Blick wirkt diese Einordnung tatsächlich sehr schematisch. Doch es darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, dass der Gesetzgeber hier auf pointierte Art und Weise ein Abgrenzungskriterium schaffen wollte. Ein solches Abgrenzungskriterium bedeutet nicht, dass nicht auch andere Interessen auf beiden Seiten des Vertrages hinzukommen können, wie es im Einlagenbereich zumindest faktisch der Fall ist. Damit ist die gesetzgeberische Leitidee zur Abgrenzung der beiden Verträge einerseits eine Dominanz der Interessen des Darlehensnehmers andererseits die Dominanz der Interessen des Hinterlegers. Dass die wirtschaftlichen Gegebenheiten im Laufe der Zeit differenzierter wurden und heutzutage, vor allem im Bankverkehr, eine Vielzahl höchst unterschiedlicher und ineinander übergehender Interessen auf beiden Seiten eine Rolle spielt,44 ändert nichts an dieser vom Gesetzgeber intendierten dogmatischen Grundkonzeption. Um den einer Termin- und Sichteinlage zugrundeliegenden Vertrag tatsächlich als unregelmäßigen Verwahrungsvertrag einordnen zu können, muss die Frage geklärt werden, ob und wie sich die jederzeitige Verfügungsmöglichkeit, die § 695 BGB normiert, mit der Grundkonzeption der Termin- und Spareinlage vereinbaren lässt.
S. 2375 = Mugdan, Band II, S. 971. wie bei der Sichteinlage, der Verwahrer zusätzlich durch die Weiterverwendung des Kapitals einen Gewinn erwirtschaftet und der Einleger durch den Zins hieran beteiligt wird, wird die Interessenlage noch heterogener. Einerseits besteht ein Mittelbeschaffungsinteresse der Banken, da durch das Einlagengeschäft das Kapital zur Durchführung des Aktivgeschäfts gesammelt wird (s. o. § 6 A.), das allerdings im Vergleich zu Termin- und Spareinlagen geringer ist, weil die jederzeitige Verfügbarkeit den Zugang zu längerfristigen und damit renditeträchtigeren Anlageformen verhindert, was sich in einem niedrigeren Zins niederschlägt (s. o. § 6 B. III. 3.). Aber auch beim Kunden können neben dem sicherlich dominierenden Aufbewahrungsinteresse das Ziel des Erwirtschaftens einer (wenn auch geringeren Rendite) bei der Anlageentscheidung eine Rolle spielen. 43 Protokolle, 44 Sofern,
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d) Der Stellenwert der jederzeitigen Verfügungsmöglichkeit – § 695 BGB aa) Problemstellung Die Vorschrift zum unregelmäßigen Verwahrungsvertrag verweist im Wesentlichen auf das Darlehens- bzw. das Sachdarlehensrecht (§ 700 Abs. 1 S. 1, 2 BGB). Zeit und Ort der Rückgabe richten sich jedoch nach den Vorschriften über den regelmäßigen Verwahrungsvertrag, also den §§ 695, 697 BGB. Dieses jederzeitige Rückforderungsrecht veranlasst einige Stimmen in der Literatur, die Einordnung einer Termineinlage bei einem negativen Zins als unregelmäßigen Verwahrungsvertrag abzulehnen.45 Allerdings richten sich Zeit und Ort der Rückgabe beim unregelmäßigen Verwahrungsvertrag nach dem Wortlaut der Norm nur „im Zweifel“ nach den Vorschriften über den Verwahrungsvertrag (§ 700 Abs. 1 S. 3 BGB).46 Dies bedeutet, dass ein jederzeitiges Rückforderungsrecht zwar im Zweifel vermutet wird, es den Parteien aber ebenso offensteht, ein solches Recht individualvertraglich auszuschließen oder zu begrenzen. Dies spricht auf den ersten Blick dafür, dass die jederzeitige Rückforderungsmöglichkeit des verwahrten Gutes kein den Vertragstypus der unregelmäßigen Verwahrung notwendigerweise prägendes Merkmal ist. Um diese Abdingbarkeit des § 695 BGB47 aber auch dogmatisch zutreffend einordnen zu können, soll indes zunächst ein Blick auf die Abdingbarkeit des § 695 BGB im Rahmen der regelmäßigen Verwahrung geworfen werden, da aus diesem Befund Rückschlüsse auf die prägenden Merkmale des unregelmäßigen Verwahrungsvertrages gezogen werden können, bei dem die Anwendung des § 695 BGB bereits durch den Gesetzgeber relativiert wird („im Zweifel“). bb) Abdingbarkeit im Rahmen der regelmäßigen Verwahrung Ob § 695 BGB allerdings im Rahmen der regelmäßigen Verwahrung abbedungen werden kann, ist in der Literatur seit Langem sehr umstritten. Der Streit betrifft aber letztlich weniger die Frage der Abdingbarkeit des § 695 BGB als vielmehr die Rechtsfolgen einer Abbedingung.
45 Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1981); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25a; im Ergebnis auch Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (98 f.). 46 Jedenfalls Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (98) und Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25a gehen auf diesen Punkt nicht ein. 47 Für eine Abdingbarkeit auch Sprau, in: Palandt, BGB, § 700 Rn. 3.
B. Anpassung bei Termineinlagen171
Lediglich Reuter scheint der Auffassung zu sein, dass § 695 BGB teilweise nicht abdingbar sei. Er differenziert hierbei nach der Entgeltlichkeit der Verwahrung. Bei der unentgeltlichen Verwahrung sei der Verwahrer lediglich der „Inhaber eines Amtes“, das vom Willen des Hinterlegers abhängig sei und im Rahmen dessen er aufgrund der „rein altruistischen Natur des Rechtsverhältnisses“ keine eigenen Interessen habe. Die abbedingende Abrede sei demnach nichtig.48 Liege demgegenüber der Fall einer entgeltlichen Verwahrung vor,49 bestünden auch zu berücksichtigende Interessen des Verwahrers, weshalb § 695 BGB abdingbar sei, ohne dass sich hierbei der Vertragstypus ändere.50 Die übrigen Stimmen in der Literatur sehen § 695 BGB als grundsätzlich abdingbar an, differenzieren jedoch hinsichtlich der Rechtsfolgen: Teilweise wird vertreten, dass § 695 BGB zwar abdingbar sei, aufgrund der Tatsache aber, dass nach den Motiven des Gesetzgebers das jederzeitige Rückforderungsrecht dem „Wesen des Hinterlegungsvertrages“ entspreche,51 in einem solchen Fall nach der Abbedingung kein Verwahrungsvertrag mehr vorliege, ohne dass die Frage konkret beantwortet wird, welcher Vertragstyp dann vorliegt.52 Dem Kontext der Argumentation ist aber zu entnehmen, dass von der Entstehung eines dem regelmäßigen Verwahrungsvertrag angenäherten Vertrages sui generis ausgegangen wird.53 Teilweise wird der entstehende Vertrag aber auch als Verwahrungsvertrag mit atypischer Gestaltung qualifiziert.54 Eine andere Auffassung differenziert nach dem Umfang des Eingriffs in den Regelungsbereich des § 695 BGB. Werde lediglich die Fälligkeit abweichend geregelt, bleibe es bei einem Verwahrungsvertrag, werde aber das Rückforderungsrecht insgesamt ausgeschlossen, liege ein Verwahrungsvertrag mit atypischer Gestaltung vor.55 48 Die hierbei maßgeblichen Ausführungen bei Reuter, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 688 ff. Rn. 7 sind hinsichtlich der Rechtsfolge unklar formuliert, aus den zustimmenden Verweisungen auf Denecke folgt m. E. aber, dass auch Reuter eine solche Abrede für nichtig halten würde. 49 Dass § 695 BGB auch im Rahmen der entgeltlichen Verwahrung gilt, hat das LG Ulm bestätigt (NJW-RR 2004, 854). 50 Reuter, in: Staudinger, BGB, Vorbem zu §§ 688 ff. Rn. 7. 51 Mot. S. 583 = Mugdan, Band II, S. 326. 52 Klingelhöfer, in: Dauner-Lieb / Langen, BGB, § 695 Rn. 1; Schulze, in: Schulze, BGB, § 695 Rn. 1; Sprau, in: Palandt, BGB, § 695 Rn. 1. 53 So interpretiert auch Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 695 Rn. 2 die in § 7 Fn. 51 genannten Quellen. 54 Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 695 Rn. 2. 55 Herrmann, in: Erman, BGB, 14. Aufl., § 695 Rn. 3.
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cc) Übertragung auf den unregelmäßigen Verwahrungsvertrag Wenngleich dieser dogmatische Streit keinerlei Auswirkungen auf die Praxis hat,56 kann hieraus dennoch der Schluss gezogen werden, dass schon für die regelmäßige Verwahrung die wohl überwiegende Meinung in der Lite ratur davon ausgeht, dass auch nach einer Abbedingung des jederzeitigen Rückforderungsrechts immer noch ein Verwahrungsvertrag vorliegen kann. Das bedeutet im Rückschluss, dass das jederzeitige Rückforderungsrecht zwar nach dem Willen des Gesetzgebers dem Wesen des Verwahrungsvertrages entspricht, dies aber nur ein (wenngleich wichtiges) typenbildendes Element des regelmäßigen Verwahrungsvertrages unter mehreren ist. Dieser Befund wird bei der Übertragung auf den unregelmäßigen Verwahrungsvertrag noch verstärkt. Denn im Rahmen des § 700 Abs. 1 S. 3 BGB wird expressis verbis unterstrichen, dass die Vorschrift über die jederzeitige Rückforderungsmöglichkeit durch die Parteien abbedungen werden kann. Einer solchen Formulierung („im Zweifel“) hätte es nicht bedurft, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, dass die jederzeitige Rückforderungsmöglichkeit einziges wesensmäßiges Charakteristikum des unregelmäßigen Verwahrungsvertrages ist und nach dessen Abbedingung kein unregelmäßiger Verwahrungsvertrag mehr vorliegen würde. Vielmehr sind nach dem Willen des Gesetzgebers auch die Interessen des Hinterlegers, der eine sichere Verwahrung erstrebt, ein Charakteristikum des Vertrages. Dieser Befund spricht dafür, auch negativ verzinste Termin- und Spareinlagen als unregelmäßige Verwahrung einzuordnen. Nach Langner / Müller ist es aber nicht überzeugend, „wenn man für Termineinlagen mit negativen Zinsen auf die unregelmäßige Verwahrung als gesetzliches Leitbild zurückgreift, dafür aber die unregelmäßige Verwahrung um die (langfristige) zeit liche Komponente – die gerade für das Darlehensrecht typenprägend ist – ergänzen muss“.57 Diesem Argument ist zuzugestehen, dass die Sichteinlagen heute der maßgebliche Anwendungsfall des § 700 BGB sind,58 und gerade für diese Sichteinlage die jederzeitige Verfügbarkeit eines der wesentlichen Charakteristika ist. Dennoch ist dieses jederzeitige Verfügen-Können nach der gesetzlichen Konzeption nicht zwingend und auch nicht allein typenbestimmend.59 56 Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 695 Rn. 2; Schur, in: Soergel, BGB, § 695 Rn. 1. 57 Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1981). 58 Siehe auch Zetzsche, in: Erman, BGB, § 700 Rn. 1. 59 Vgl. auch Kropf, WM 2017, 1185 (1188): „Dies bedeutet, dass es den Vertragsparteien möglich ist, das grundsätzlich vorgesehene Regelungsregime [gemeint ist das des § 700 BGB; S.B.], insbesondere auch die Verweisung auf die Anwendbarkeit des
B. Anpassung bei Termineinlagen173
Für die Anwendung des unregelmäßigen Verwahrungsvertrages auf die Termineinlagen bei negativem Zins spricht, dass die Verwahrung überwiegend im Interesse des Kapitalgebers steht,60 weil im Negativzinsumfeld, wie dargestellt, das Aufbewahrungsinteresse des Kapitalgebers die Vertragsbeziehung prägt. e) Die Einordnung des Negativzinses als Entgelt Fraglich erscheint weiterhin, wie der negative Zins im System des unregelmäßigen Verwahrungsvertrages dogmatisch einzuordnen wäre. Der Verweis des § 700 BGB auf das Darlehensrecht würde dazu führen, dass der Verwahrer dem Hinterleger einen Zins zahlen müsste, was allerdings systemwidrig wäre.61 Wohl aus diesem Grund ist in den Gesetzesmaterialien zu lesen: „Auch wenn der Verwahrer, zB. die Bank, dem Hinterleger einen – stets niedrigen – Zins gewähre, so diene dieser nicht wie die Darlehenszinsen als Ersatz für die entzogene Kapitalnutzung und etwa als Risikoprämie, sondern nur als Betheiligung [sic!] des Hinterlegers an dem Vortheile [sic!], welchen der Verwahrer durch die Nutzung des Kapitales ziehe.“
Eine solche Beteiligung am Kapitalnutzen würde bei einem negativen Zinssatz natürlich entfallen, da die Bank, wie oben dargestellt, das zur Verfügung gestellte Kapital keiner renditeträchtigen Nachfrage mehr zuführen kann.62 Ein solcher Zins wäre als Vergütung in Form eines Entgelts, das die Parteien im Rahmen des unregelmäßigen Verwahrungsvertrages stets vereinbaren dürfen,63 auszulegen. Dieses Entgelt kann auch als „Kapitalverwahr Darlehensrechts, entsprechend ihrem Parteiwillen im Rahmen der Privatautonomie zu modifizieren.“. 60 Herrmann, in: Erman, BGB, 14. Aufl., § 700 Rn. 1 („überwiegend im Interesse des Gebenden“); Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 33 (für den Fall der Sichteinlage: „Denn als Vertragszweck steht das Hinterlegungsinteresse des Kunden im Vordergrund“); Sprau, in: Palandt, BGB, § 700 Rn. 1 („dass es nicht überwiegend dem Interesse des Empfängers, sondern dem des Hinterlegers […] dient“); in diese Richtung auch Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 4. Zuzugeben ist, dass dieser Vorrang der Interessen des Hinterlegers oft mit dem Zusatz „Interesse an sicherer Verwahrung bei höchster Liquidität“ versehen wird (so oder in ähnlicher Weise Henssler, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 700 Rn. 3; Zetzsche, in: Erman, BGB, § 700 Rn. 1; Reuter, in: Staudinger, BGB, § 700 Rn. 3; Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 5; Sprau, in: Palandt, BGB, § 700 Rn. 1). Dieser Zusatz mag einer Vielzahl der Rechtsgeschäfte in der Praxis entsprechen, rechtlich zwingend ist er demgegenüber nicht. 61 Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 6. 62 s. o. § 6 C. II.; zu diesem Verwahrungsinteresse des Bankkunden im Niedrigzinsumfeld und den sich durch das Entgelt ergebenden umsatzsteuerrechtlichen Problemen siehe auch Philipowski, MwStR 2014, 823 (824). 63 Schur, in: Soergel, BGB, § 700 Rn. 6.
174
§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
entgelt“64 bezeichnet werden. Dies deckt sich mit obiger Auffassung, wonach ein vertragsrechtlicher Zins nicht negativ werden kann. Ein solcher negativer Satz sollte demnach aus rechtlicher Perspektive auch nicht als „Negativzins“, sondern als „Entgelt“ bezeichnet werden. 9. Ergebnis: Ein zwischen Vertragstypen oszillierender Typenmischvertrag Es wurde dargelegt, dass sich eine negativ verzinste Termineinlage dogmatisch am saubersten unter einen unregelmäßigen Verwahrungsvertrag subsumieren lässt.65 Die Annahme eines Vertrages sui generis ist damit nicht nötig. Die hier vertretene Auffassung hat jedoch für die der Termineinlage zugrundeliegende Rechtsbeziehung die auf den ersten Blick befremdlich anmutende Folge eines zwischen einem Darlehensvertrag (bei positiver Verzinsung) und einem unregelmäßigen Verwahrungsvertrag (bei negativer Verzinsung) oszillierenden Typenmischvertrages.66 Gegen diese Lösung wird eingewandt, dass eine solche Konstruktion „unnötig kompliziert und rechtsmethodisch nicht schlüssig“ sei, weil die Parteien einen einheitlichen Darlehensvertrag wollten und keinen sich während der Vertragslaufzeit ergebenden Vertragstypenwechsel mit einem „einhergehenden Wechsel des Kündigungsregimes“.67 Der Einwand des Wechsels der Kündigungsmodalitäten vermag nicht zu überzeugen. Wie oben gezeigt, können die Fälligkeitsvorschriften des unregelmäßigen bzw. regelmäßigen Verwahrungsvertrages durch Parteivereinbarung abbedungen und damit dem Darlehensrecht im Einzelfall angeglichen werden. Die Kompliziertheit einer juristischen Konstruktion darf aber dann kein Gradmesser zu deren Beurteilung sein, wenn sie die dogmatisch einzig saubere Lösung zur rechtlichen Beurteilung eines Sachverhaltes ist. Eine Einordnung als Darlehensvertrag steht den schon aufgezeigten unüberwindbaren rechtlichen Problemen gegenüber, deren Umgehung rechtsmethodisch noch viel fragwürdiger wäre als die Annahme eines zwischen zwei Vertragstypen oszillierenden Innominatkontraktes.
Begrifflichkeit wählt auch Kropf, WM 2017, 1185 (1188). Ergebnis ebenso Ernst, ZfPW 2015, 250 (252 f.). 66 So im Ergebnis ebenso Ernst, ZfPW 2015, 250 (252 f.); Tröger, NJW 2015, 657 (658) und auch Omlor im Rahmen eines Vortrags vor dem Bankenrechtstag 2017, zusammengefasst in: Bastian / Werner, WM 2017, 1533 (1536). 67 Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1981); zustimmend auch Söbbing / van Bodungen, ZBB 2016, 39 (41) („rechtsmethodologisch fragwürdig“); Weigel / MeydingMetzger, IRZ 2015, 185 (190) („merkwürdiges Ergebnis“). 64 Diese 65 Im
B. Anpassung bei Termineinlagen
175
IV. Anpassung durch Zinsanpassungsklausel Nachdem nun herausgearbeitet wurde, welche vertragstypologischen Änderungen sich beim Übergang von positiver zu negativer Verzinsung bei den Termineinlagen ergeben, soll im Folgenden die Frage im Mittelpunkt stehen, ob dieser Übergang auch rechtlich zulässig ist. Hierbei ist zu differenzieren, ob die Vertragsänderung durch eine Zinsanpassungs- oder eine Zinsgleitklausel erfolgt. Die Anpassung des vertraglichen Zinssatzes durch eine Zinsanpassungsklausel soll dabei als erstes untersucht werden. 1. Variable Vergütungsmechanismen im Bankengeschäft Wenngleich eine Verzinsung im Einlagengeschäft der Regelfall sein wird,68 bedarf eine Verzinsung von Einlagen einer Vereinbarung,69 aus der sich im Regelfall auch die Höhe des Zinssatzes ergibt.70 Zur Festlegung des Zinssatzes für ein Einlagenprodukt ergeben sich im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: Entweder entscheiden sich die Parteien, den Zins für einen bestimmten Zeitraum festzulegen (Festzins), oder sie wählen einen variablen Vergütungsmechanismus (variabler Zinssatz). 2. Zinsanpassungsklauseln im Einlagengeschäft der Banken a) Formen variabler Verzinsung Im Vergleich zu Festzinssätzen haben variable Zinssätze in der Bankpraxis eine ungleich höhere Bedeutung. Es liegt meist sowohl im Interesse der Kapitalgeber als auch der Kapitalnehmer, die bestehenden Verträge vor allem hinsichtlich des sich am Geld- und Kapitalmarkt ständig ändernden Zinsumfeldes anzupassen,71 da sich mit diesem Zinsumfeld auch die davon abhän-
68 Dies folgt allein schon aus der Interessenlage der beteiligten Parteien beim Einlagegeschäft, s. o. § 6 B. I. 3.; II. 3.; III. 3. 69 Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 45; Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 20. 70 Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 268; Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 23. Fehlt eine solche Vereinbarung, ergibt sich die Höhe des Zinssatzes über Nr. 12 Ab. 1 AGB-Banken bzw. Nr. 16 f. AGB-Sparkassen aus den Preisaushängen sowie den Preis- und Leistungsverzeichnissen der Kreditinstitute (vgl. Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 45). 71 Habersack, WM 2001, 752 (757); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 24.
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§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
gigen geld- und kapitalmarktbedingten Refinanzierungskosten ändern.72 Der BGH hat in einer Grundsatzentscheidung im Jahr 1986 erstmals dieses Interesse anerkannt, da ein Bedürfnis der Banken anzuerkennen sei, „ihre Darlehensbedingungen, insbesondere den Zinssatz, den wechselnden und bei Vertragsabschluss meist nicht überschaubaren künftigen Refinanzierungsmöglichkeiten anzupassen“.73 Während die Grenzen einer solchen variablen Verzinsung im Aktivbereich in Folge dieser Entscheidung schon früh Gegenstand von Rechtsprechung und Literatur geworden waren, rückten die Grenzen einer variablen Verzinsung im Passivbereich erst vergleichsweise spät in den Fokus der juristischen Diskussion,74 weil die höchstrichterliche Judikatur lange davon ausgegangen war, dass die Rechtsprechung zu den Klauseln im Aktivbereich mangels Vergleichbarkeit nicht spiegelbildlich sondern nur eingeschränkt auf die Klauseln im Passivbereich übertragen werden können.75 Mittlerweile ist die Zulässigkeit der Vereinbarung einer variablen Verzinsung aber auch im Passivbereich ebenso anerkannt wie verbreitet. Variable Zinssätze finden sich sowohl bei langfristigen (Termin- und Spareinlagen) als auch bei kurzfristigen Einlagen (Sichteinlagen). Den Parteien stehen grundsätzlich mit der Zinsanpassungs- und der Zinsgleitklausel zwei unterschiedliche variable Verzinsungsformen zur Verfügung. Im Rahmen von Zinsgleitklauseln einigen sich die Parteien auf einen Referenzzinssatz, an den der Vertragszinssatz fest gekoppelt wird. Ändert sich dieser Referenzzinssatz, ändert sich automatisch und ohne Ermessen der Banken der Vertragszinssatz.76 Auch bei den Zinsanpassungsklauseln wird auf einen Referenzzinssatz Bezug genommen, allerdings erfolgt die Anpassung nicht automatisch, sondern durch eine Festsetzung seitens der Bank, die sich dabei an gewisse zeitliche und inhaltliche Anforderungen halten muss.77
72 Zu
diesen sich ständig und vielfältig ändernden Refinanzierungskosten s. o. § 5 F. NJW 1986, 1803 (1804). Nachfolgend v. a. NJW 1992, 1751; NJW 1993, 3257; siehe insoweit auch die Ausführungen des Senats bei BGH NJW 2009, 2051 (2053 f.), der trotz der Rechtsprechungsänderung diesen Grundsatz nicht aufgibt. 74 Vgl. beispielsweise Habersack, WM 2001, 753 ff.; Metz, BKR 2001, 21 (26 ff.); 75 Vgl. nur BGH NJW 2004, 1588 (1589). 76 Schwarz, Der variable Zins, S. 39 f. Zinsgleitklauseln sind (vor allem, aber nicht nur) im Aktivbereich aufgrund der starren Regelung mit vielen Unwägbarkeiten verbunden, weshalb die Parteien hier häufig auf eine Zinsanpassungsklausel zurückgreifen, die der Bank etwas mehr Handlungsspielraum gewährt; siehe zu diesem Problemkreis Binder / Ettensberger, WM 2015, 2069 (2070). 77 Zu diesen inhaltlichen Anforderungen siehe auch unten § 6 B. IV. 3. a) dd). 73 BGH
B. Anpassung bei Termineinlagen177
b) Rechtliche Einordnung der Zinsanpassungsklausel Zinsanpassungsklauseln sind im täglichen Geschäft der Banken weit verbreitet. Bank und Kunde haben, wie eben herausgearbeitet, gleichermaßen ein Interesse daran, den Vertragszinssatz dem jeweils aktuellen Zinsumfeld immer wieder aufs Neue anzupassen. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass die jeweiligen Anpassungen nicht bei Vertragsschluss im Vorhi nein festgelegt werden können, da die Schwankungen des Geld- und Kapitalmarktes nicht vorhersehbar sind. Gerade für die Fälle, in denen Leistung bei Vertragsschluss nicht bestimmbar ist, und eine Einigung aufgrund des Fehlens eines der essentialia negotii am Bestimmtheitserfordernis scheitern würde, wurde das Institut des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts entwickelt.78 Bei Einlagengeschäften liegt die Besonderheit vor, dass es sich um Dauerschuldverhältnisse handelt, die Leistung also bei Vertragsschluss festgelegt werden kann (anfänglicher Vertragszins), allerdings im Laufe der Vertragszeit immer wieder neu durch eine Gestaltungserklärung dem jeweiligen Marktumfeld angepasst wird. Der Grundsatz, dass das Gestaltungsrecht durch seine Ausübung konsumiert wird,79 findet hier notwendigerweise eine Ausnahme; der Gestaltungsberechtigte hat hier ein Recht zur fortlaufenden Regelung.80 Aufgrund dieser Interessenlage bedienen sich viele der Banken im Rahmen der Zinsanpassungsklausel der rechtlichen Konstruktion des Leistungsbestimmungsrechts i. S. d. § 315 BGB.81 Wie oben bereits dargestellt, stellen auch diese ausfüllenden Gestaltungsrechte einen Einbruch in das materielle Vertragsprinzip des § 311 Abs. 1 BGB dar,82 was jedoch durch den zugrundeliegenden (Einlagen-)Vertrag gerechtfertigt werden kann. Dennoch wird dem Gestaltungsberechtigten, hier der Bank, eine überaus starke Rechtsmacht eingeräumt, der die Gegenpartei prinzipiell ausgeliefert ist. Aus 78 Siehe
hierzu ausführlich oben § 2 C. I. 1. und 2. hierzu oben § 2 B. V. 2. 80 Ob hier ein „Mutter-Gestaltungsrecht“ besteht, das immer wieder neu ausgeübt wird, oder das Gestaltungsrecht immer wieder neu entsteht, ist umstritten. Zum diesem Streit s. o. § 2 B. V. 3. 81 Aus der Bankpraxis siehe beispielsweise: Nr. 3 der Sonderbedingungen für das Skatbank-FlatKonto (Girokonto): „Der Kunde erfährt den aktuellen Zinssatz mittels Kontoauszug (Rechnungsabschluss) und im Internet. Die Bank ist berechtigt, den Zinssatz nach billigem Ermessen (§ 315 des Bürgerlichen Gesetzbuches) anzupassen.“ (siehe https: / / ssl.skatbank.de / sites / default / files / Sonderbedingungen_Flatkonto.pdf, Zugriff am 15.01.2018). Aus der Rechtsprechung siehe BGH NJW 1986, 1803; NJW 2004, 1588; OLG Düsseldorf, BKR 2004, 79 (82). Aus der Literatur siehe: Berger, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 488 Rn. 173; Habersack, WM 2001, 753 (754); Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1983); Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 48; Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 24; Tröger, NJW 2015, 657 (658 f.). 82 s. o. § 2 B. III. 1. b) bb). 79 Siehe
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§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
diesem Grund müssen verschiedene inhaltliche Schranken und Grenzen Anwendung finden, um die Rechte des Gestaltungsgegners ausreichend schützen zu können. Nach der oben vertretenen Auffassung sind dabei drei Schritte voneinander zu abstrahieren, die jeweils einen unterschiedlichen Rechtsgrund in sich tragen, sich unterschiedlich auswirken und die jeweils anderen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen unterworfen sind. Diese drei Schritte sind die (in diesem Fall) vertragliche Einräumung, die Ausübung und die Wirkung des Gestaltungsrechts. Die beiden letzten Schritte können im Rahmen dieser Untersuchung zusammengefasst werden, da sich hierbei im Rahmen der Zinsanpassung keine nennenswerten Unterschiede ergeben. 3. Inhaltliche Grenzen der Anpassung a) Grenzen bei der Vereinbarung Daher stellt sich zunächst die Frage, welche AGB-rechtlichen Grenzen bei der Vereinbarung der Zinsanpassungsklausel zu ziehen sind. aa) Grundsätzliche Unüberprüfbarkeit der Preisabreden Die Vereinbarung eines variablen Zinssatzes in AGB unterliegt prinzipiell nicht der Inhaltskontrolle, weil hierdurch keine von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart wird, sondern lediglich eine Leistungsbeschreibung in Form einer Preisregelung (vgl. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB).83 Auch die Vereinbarung der Höhe des anfänglichen Zinssatzes, aufgrund dessen dann die Anpassungen erfolgen, unterliegt als Preisregelung nicht der Klauselkontrolle.84 bb) Gegenstand und Maßstab der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle Weiterhin wird durch die Parteien im Regelfall hinsichtlich der Zinshöhe zusätzlich ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht nach § 315 BGB vereinbart. Dieses Leistungsbestimmungsrecht unterliegt prinzipiell der Inhaltskontrolle der §§ 307 ff. BGB, denn durch dieses einseitige Recht und die 83 BGH NJW 2004, 1588; NJW 2008, 3422 (3423); NJW 2010, 1742, NJW-RR 2011, 625 (626); Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 48; Schimansky WM 2001, 1169 (1175); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 24b. 84 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 24b.
B. Anpassung bei Termineinlagen179
Begrenzung durch die Ermessenskontrolle zieht die gesetzliche Regelung äußerste Grenzen, die die Parteien bei der Vertragsgestaltung zu beachten verpflichtet sind. Sie lässt den Parteien aber auch einen gewissen Freiraum zur privatautonomen Gestaltung ihrer eigenen Vertragsbeziehungen85 und ist damit eine die Rechtsvorschriften ergänzende Norm i. S. d. § 307 Abs. 3 S. 1 Var. 2 BGB. Zudem liegt in der Vereinbarung des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts der Bank als Gestaltungsberechtigter auch eine Abweichung von einer gesetzlichen Regelung (§ 307 Abs. 3 S. 1 Var. 1 BGB), weil nach der Konzeption des § 316 BGB eigentlich der Bankkunde den Umfang der Zinszahlung als der noch unbestimmten Gegenleistung zu bestimmen berechtigt wäre.86 Im Rahmen dieser Inhaltskontrolle ist die Zinsanpassungsklausel im Unternehmer-Verbraucher-Verhältnis vor allem an § 308 Nr. 4 BGB zu messen, im unternehmerischen Rechtsverkehr sind dessen Wertungen im Rahmen des § 307 Abs. 1 und 2 BGB zu berücksichtigen.87 Ausgangspunkt der Inhaltskontrolle ist also § 308 Nr. 4 BGB, wonach die Vereinbarung eines Rechts des Verwenders, die versprochene Leistung zu ändern oder von ihr abzuweichen, unwirksam ist, sofern nicht die Vereinbarung der Änderung oder Abweichung unter Berücksichtigung der Interessen des Verwenders für den anderen Vertragsteil zumutbar ist. Hierbei wird die Unwirksamkeit der Klausel, weil sie zu Gunsten des Verwenders ein Recht zur Änderung seiner Leistung vorsieht, vermutet,88 was der Verwender zu widerlegen hat, wobei Zweifel bei der Auslegung der Klausel zu seinen Lasten gehen (§ 305c Abs. 2 BGB). cc) Grundsätzliche Interessenlage Zu klären ist im Rahmen der Frage nach der Zumutbarkeit zunächst die Interessenlage. Die Bank hat, wie gezeigt, ein Interesse daran, die Zinssätze an das sich ständig verändernde Zinsumfeld anzugleichen.89 Dieses Interesse ist auch in Rechtsprechung und Literatur anerkannt.90 Doch auch die Kunden haben ein Interesse an den durch die langfristige Anlage resultierenden Ren85 Zu dieser Präzisierung des § 307 Abs. 3 S. 1 Var. 2 BGB siehe Wurmnest, in: Münchener Kommentar zum BGB, § 307 Rn. 11. 86 Vgl. BGH NJW 2004, 1588; Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 48. 87 Siehe § 310 Abs. 1 S. 1 und Abs. 3 Nr. 3 BGB. 88 BGH NJW 2004, 1588. 89 s. o. § 7 B. IV. 1. 90 Explizit für das Passivgeschäft beispielsweise BGH NJW 2004, 1588 (1589); Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 49.
180
§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
diten.91 Damit geht es – wirtschaftlich betrachtet – darum, welche der Parteien inwieweit das Risiko der Fristentransformation zu tragen hat.92 dd) Maßstäbe der Inhaltskontrolle anhand der Judikatur des BGH Zur Konkretisierung der Zumutbarkeit i. S. d. § 308 Nr. 4 BGB hat der BGH seit 2004 in mehreren Entscheidungen die inhaltlichen Anforderungen an Zinsanpassungsklauseln bei längerfristigen Spareinlagen näher bestimmt. (1) Anforderungen an den Referenzzins Der von den Parteien gewählte Referenzzinssatz muss zunächst formalen Anforderungen genügen. Der Referenzzinssatz muss, in Anlehnung an den Rechtgedanken des § 675 g Abs. 3 S. 2 BGB, aus einer öffentlich zugänglichen und für beide Parteien überprüfbaren Quelle stammen und nach einem genau festgelegten Verfahren ermittelt werden.93 Dies ist beispielsweise bei rein bankinternen Referenzzinssätzen nicht erfüllt ist. Genügt der Referenzzinssatz jenen Kriterien, ist auch dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB hinreichend gedient.94 Materiell gesehen ist unter den vielfältigen Bezugsgrößen des Geld- und Kapitalmarkts diejenige oder eine Kombination derjenigen Bezugsgröße auszuwählen, die dem konkreten Geschäft am nächsten kommt.95 (2) Anpassungsmechanismus In einer Zinsanpassungsklausel können auch Regelungen zu Anpassungsschwelle, Prüfungsintervall und Anpassungsintervall geregelt werden, wobei hier die Parteien in ihrer Regelung weitestgehend frei sind, sofern sie nur 91 s. o.
§ 6 B. I. 3. und II. 3. auch Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 49; zur Interessenlage bzgl. der Fristentransformation siehe näher oben § 6 A. 93 BGH WM 2010, 933 (935); Rösler / Lang, ZIP 2006, 214. 94 In der Praxis dürften wohl die von der Bundesbank statistisch erfassten Zinssätze hinreichend ausdifferenziert sein und der Forderung § 675g Abs. 3 S. 2 BGB am nächsten kommen; für das Aktivgeschäft siehe Danwerth, WM 2015, 1604 (1608). 95 BGH WM 2004, 825; WM 2010, 933 (935); Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 52; Rösler / Lang, ZIP 2006, 214 (215). Im Einzelnen ist hier vieles umstritten, was jedoch im Rahmen dieser Arbeit keine Relevanz hat, vgl. u. a. Renner, in: Canaris / Habersack / Schäfer, Bankvertragsrecht, IV Rn. 52; Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 24h. 92 Vgl.
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beachten, dass für Zinssenkungen und Zinserhöhungen die gleichen Parameter verwendet werden.96 (3) Äquivalenzprinzip Weiterhin sieht der BGH das Äquivalenzprinzip gefährdet, wenn das Grundgefüge des Vertragsverhältnisses bei Vertragsschluss durch nachträg liche Zinsänderungen verschoben wird, weshalb prinzipiell das Verhältnis (und nicht der absolute Abstand) des vereinbarten Zinses zum Referenzzins gewahrt bleiben muss.97 (4) Ergebnis der Inhaltskontrolle bei Vereinbarung Ob eine Zinsanpassungsklausel in Anbetracht der Inhaltskontrolle wirksam vereinbart wurde, ist also eine Frage des Einzelfalls. Für den hier interessierenden Fall, dass eine Zinsanpassungsklausel im positiven Zinsumfeld vereinbart wurde und nachträglich ein negativer Zins einseitig bestimmt werden soll, ergeben sich zum Zeitpunkt der Vereinbarung grundsätzlich keine Komplikationen. Ob ein öffentlich zugänglicher Referenzzinssatz gewählt wird, der nach einem festgelegten Verfahren festgelegt wird und ob dieser eine möglichst nahekommende Bezugsgröße ist, ist ebenso Sache der individuellen Vereinbarung wie die Frage, ob die gleichen Parameter für die Zinserhöhung und die Zinssenkung gelten und das Äquivalenzprinzip gewahrt wird. Falls eine Zinsanpassungsklausel vereinbart wurde, die im Niedrig- und Negativzinsumfeld eine Anpassung des Zinses auf einen Wert unter 0 % legitimieren soll, gibt es, wenn überhaupt, dann nur im Rahmen dieser konkreten Ausübung sich auswirkende rechtliche Beschränkungen. b) Grenzen bei Ausübung Es stellt sich also die Frage, wie diese nachträgliche Festsetzung eines Entgelts („negativer Zins“) aufgrund eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts im Rahmen der Termin- und Spareinlagen rechtlich zu bewerten ist.
96 BGH WM 2010, 933 (935); vgl. auch Metz, BKR 2010, 265 (267); Rösler / Lang, ZIP 2006, 214 (217); Schimansky, WM 2001, 1169 (1173). 97 Siehe BGH NJW 2004, 1588 (1589 f.); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 24j.
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§ 7 Vertragliche Anpassungsprobleme bei negativer Verzinsung
aa) Inhaltskontrolle der Ausübung Zu fragen ist zunächst, ob auch die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts überhaupt der Inhaltskontrolle unterworfen ist, wenn schon die Vereinbarung der Klausel und damit die Begründung des Leistungsbestimmungsrechts im Rahmen der §§ 307 ff. BGB geprüft wurde. Da aber durch die Leistungsbestimmung (einseitig) Vertragsinhalt geschaffen wird, unterliegt auch die Ausübung prinzipiell der AGB-rechtlichen Kontrolle.98 bb) Vereinbarkeit mit §§ 308 Nr. 4 und 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB Es gibt daher Stimmen in der Literatur, die auch hinsichtlich der Ausübung des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts in Form der Anpassung des Zinssatzes eine Inhaltskontrolle in vollem Umfang durchführen. In diesem Rahmen wird Folgendes vorgebracht: Auf den ersten Blick scheine § 308 Nr. 4 BGB im Fall der negativen Verzinsung aufgrund des Begriffs der „Leistung“ gar nicht anwendbar, da durch die Klausel nicht die Höhe des Zinssatzes verändert, sondern eine Leistungspflicht des Kunden geschaffen werde. Allerdings umfasse die Klausel bei einem positiven Zinsumfeld auch das Recht, die Leistungspflicht des Verwenders anzupassen, weshalb sie insgesamt der Kontrolle des § 308 Nr. 4 BGB unterworfen sei.99 Dann stellt sich die Frage, ob die Klausel insgesamt zumutbar ist, wenn durch sie auch ein negativer Zins in Form eines Verwahrungsentgelts erhoben werden kann. Negative Zinsen seien aufgrund eines entsprechend negativen Referenzzinssatzes denkbar, ebenso könne es sein, dass die Bank durch den negativen Zins lediglich in gleichem Maße wie bei Zinserhöhungen auch Zinssenkungen weitergebe, weshalb das Äquivalenzprinzip im Ergebnis nicht eingeschränkt wäre.100 Aufgrund der Wahrung des Äquivalenzprinzips sei die Erhebung eines negativen Zinses aufgrund einer Klausel, die im Positivzinsumfeld vereinbart wurde, für den Kunden auch zumutbar. Ebenso würde kein Verstoß gegen § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB vorliegen, da ein Darlehensvertrag nicht grundsätzlich eine positive Zinszahlungspflicht voraussetzt und ein Negativzins deshalb nicht den wesentlichen Grundgedanken des § 488 BGB widersprechen würde.101 98 Rieble,
in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 316. diese Richtung auch Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1983); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25b. 100 Vgl. Langner / Müller, WM 2015, 1979 (1983); Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25b. 101 So Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25b unter Zugrundelegung der Auffassung, dass auch im Fall der negativen Verzinsung ein Darlehensvertrag vorliegt. 99 In
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cc) Systematische Bedenken Auch wenn den vorstehenden Überlegungen bereits inhaltlich aufgrund der oben vertretenen Auffassung zum Vertragstypenwechsel102 widersprochen werden müsste, kommt es auf diese materiellen Gesichtspunkte hier gar nicht an, denn einer Inhaltskontrolle der Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts stehen systematische Bedenken gegenüber. Zwar unterfällt auch die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts der AGB-Kontrolle, da ansonsten wichtige Schutzinstrumente umgangen werden könnten. Allerdings handelt es sich bei einer Zinsanpassungsklausel um eine leistungsbestimmende Klausel, die als solche einer Inhaltskontrolle über die §§ 307–309 BGB entzogen ist (§ 307 Abs. 3 BGB). Zwischen der Begründung des Leistungsbestimmungsrechts und seiner Ausübung ist auch hier zu differenzieren. Ob das Leistungsbestimmungsrecht wirksam begründet wurde, ist allein nach den §§ 307–309 BGB zu beurteilen.103 Die Ausübung unterliegt als Leistungsbestimmung hinsichtlich ihrer materiellen Angemessenheit lediglich der Billigkeitskontrolle des § 315 BGB sowie dem Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB, der auch bei leistungsbestimmenden Klauseln Anwendung findet (§ 307 Abs. 3 S. 2 BGB), nicht jedoch einer darüber hinausgehenden Inhaltskontrolle nach den §§ 307 ff. BGB. dd) Verstoß gegen das Transparenzgebot (1) Verträge mit Vertragsschluss vor dem 11. Juni 2014 Explizit anwendbar ist auf die Ausübung des Leistungsbestimmungsrechts wegen § 307 Abs. 3 S. 2 BGB damit das Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB. Das Transparenzgebot verpflichtet den Verwender, seine Vertragsklauseln so zu gestalten, dass ein sorgfältiger, juristisch nicht vorgebildeter Leser in der Lage ist, den Inhalt der Klausel zu erfassen.104 Der Vertragspartner kann den Inhalt des Vertrages vor allem dann zutreffend erfassen, wenn die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien möglichst klar und verständlich beschrieben werden. Die Wahrung des Transparenzgebotes hinsichtlich der Zinsanpassungsklausel erscheint vor diesen Überlegungen zweifelhaft, wenn aufgrund einer Zinsanpassungsklausel, die im Positivzinsumfeld vereinbart wurde und die eine Leistungspflicht der Banken (Zinszahlungspflicht) vorsah, nun durch die Änderung des Zinssatzes in den negativen Bereich hinein die Leistungspflicht 102 s. o.
§ 7 B. III. 9. in: Staudinger, BGB, § 307 Rn. 42. 104 Schulte-Nölke, in: Schulze, BGB, § 307 Rn. 21. 103 Coester,
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der Bank aufgehoben und an dieser Stelle eine neue Leistungspflicht des Kunden geschaffen wird, die im ursprünglich konsentierten Pflichtenprogramm nicht vorgesehen war. Eine Klausel, aufgrund derer von einem positiven zu einem negativen Zins übergegangen wird, wäre dann nur transparent, wenn die Möglichkeit dieser Leistungspflichtverschiebung durch sie klar zum Ausdruck gekommen ist. Dies ist entweder dann zu bejahen, wenn die Klausel diese Möglichkeit explizit erwähnt oder wenn sie den Parteien bei Vertragsschluss subjektiv klar gewesen ist. Die Möglichkeit eines negativen Zinses haben die Banken bei Altverträgen, jedenfalls bis vor kurzem,105 nicht explizit aufgeführt. Für den Kunden hätte es damit bei Vertragsschluss subjektiv vorhersehbar sein müssen, dass der Zinssatz einen negativen Wert annehmen kann. Schürmann / Langner argumentieren demgegenüber, dass mit einer solchen Anpassung in den negativen Bereich generell „zu rechnen [sei], ohne dass dies ausdrücklich geregelt ist“, wenn „entsprechend den Anforderungen ein Referenzzins und eine Anpassungsmarge der Bank vereinbart“ worden sind.106 Dies ist jedoch ein Zirkelschluss, denn wenn für den Bankkunden, auf dessen Perspektive es hier wegen §§ 133, 157 BGB ankommt, bei Vertragsschluss ein negativer Zins nicht vorhersehbar war, so war für ihn ebenso nicht vorhersehbar, dass der entsprechende Referenzzins einen negativen Wert annehmen würde. Selbst in den Folgejahren nach der Finanzkrise war ein derartiges Negativzinsumfeld für Privat- und Geschäftskunden undenkbar. Damit scheint eine Klausel, die im Positivzinsumfeld vereinbart wurde und aufgrund derer nun ein negativer Zins erhoben werden soll, durch diese Ausübung des durch sie verbürgten Rechts auf den ersten Blick am Transparenzgebot zu scheitern. Doch dieses Vorgehen erscheint nicht unproblematisch. Es würde im Ergebnis bedeuten, dass eine zunächst den Anforderungen des BGH hinsichtlich der Transparenz genügende Zinsanpassungsklausel im Nachhinein durch die Ausübung der durch sie eingeräumten Rechtsmacht gewissermaßen ex post intransparent würde. Dies ist aber der im Allgemeinen Teil der Arbeit schon dargestellten107 dogmatischen Eigenheit des einseitigen Leistungsbestimmungsrechts geschuldet. Denn dessen Regelungsprokrastination führt denknotwendig zu einem zeitlichen Auseinanderfallen von der Einräumung 105 Da erst seit kurzer Zeit über die flächendeckende Einführung eines negativen Zinses im Einlagenbereich nachgedacht wird, hat das Phänomen des Negativzinses bis jetzt noch keinen Eingang in die Vertragsgestaltung, vor allem nicht in die AGB der Banken, gefunden. 106 Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25b. 107 s. o. § 2.
B. Anpassung bei Termineinlagen
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der Rechtsmacht und seiner Ausübung. Das Transparenzgebot ist in einem solchen Fall dahingehend auszulegen, dass die sich unterwerfende Partei bei Vertragsschluss und Einräumung des Leistungsbestimmungsrechts zumindest in einem gewissen Maße abschätzen kann, welche Auswirkungen durch die Ausübung dieses Rechts auf sie zukommen werden. Die Bankkunden konnten im Positivzinsumfeld aber nicht absehen, dass anstelle der Leistungspflicht der Bank eine eigene Leistungspflicht entstehen könnte. Damit verstoßen Klauseln, die zu dieser Zeit vereinbart wurden und aufgrund derer nun ein Negativzins erhoben werden soll, ohne dass die Klausel diese Möglichkeit explizit erwähnt, gegen das Transparenzgebot. Wenn die AGB-rechtliche Unzulässigkeit einer Anpassung nun aber damit begründet wird, dass den Parteien bei Vertragsschluss das derzeitige Niedrigund Negativzinsumfeld nicht bewusst war, so stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt der Finanz-, Wirtschafts- und Bankenkrisen der vergangenen Jahre den Parteien die Möglichkeit des Abrutschens des Zinses in den negativen Bereich bewusst gewesen sein muss. Dies wird in der Praxis höchst unterschiedlich zu beurteilen sein. Da es hier jedoch um eine Vereinbarung in AGB geht, muss der Parteiwille i. S. d. §§ 133, 157 BGB ausgelegt, verobjektiviert und gefragt werden, ab welchem Zeitpunkt die Parteien davon ausgehen mussten, dass auch ein Abrutschen des variablen Zinssatzes in den negativen Bereich denkbar ist.108 Zunächst bietet sich dabei der 1. Januar 2013 an, da ab diesem Zeitpunkt der im BGB geregelte Basiszinssatz negativ wurde.109 Allerdings hat dieser Basiszinssatz nach der hier vertretenen Auffassung lediglich eine Bedeutung als kalkulatorischer Parameter,110 weshalb von diesem Zins keine Schlüsse auf den vertragsrechtlichen Zins gezogen werden können. Es spricht vieles dafür, hier stattdessen den 11. Juni 2014 als Stichtag zu wählen, weil an diesem Tag erstmals in Form der Einlagefazilität ein negativer Zins im Einlagenbereich erhoben wurde.111 Wenngleich dieser Zins nur durch die Europäische Zentralbank bzw. durch die nationalen Notenbanken 108 Dieser Differenzierung zwischen Altverträgen, bei denen die Parteien noch nicht von einem negativen Zins ausgehen konnten, und den Neuverträgen, die schon unter dem Niedrig- und Negativzinsumfeld abgeschlossen wurden, treffen auch (wenngleich vermutlich nur für den Aktivbereich) Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (100). 109 In diese Richtung scheint Omlor zu tendieren [im Rahmen eines Vortrags vor dem Bankrechtstag 2017, zusammengefasst in: Bastian / Werner, WM 2017, 1533 (1537)]. 110 s. o. § 5 D. IV. 111 Vgl. Anhang 1. Auch Kropf, WM 2017, 1185 (1186) spricht davon, dass sich die Leitzinspolitik der EZB „seit spätestens 11.6.2014 […] grundlegend gewandelt“ habe.
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gegenüber den Geschäftsbanken erhoben wird und damit kein Zins i. S. d. Vertragsrechts vorliegt, gab es im Vor-112 und Nachhinein dieser Entscheidung eine umfassende Berichterstattung in der Presse, sodass das Phänomen des Negativzinses gerade für Einlagen spätestens zu diesem Zeitpunkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangte. Im Rahmen dieser Berichterstattung, die durch viele der großen Tageszeitungen von der FAZ113 bis zur BILD114 ging, wurde zudem (meist noch in Form einer Befürchtung) vertreten, dass der negative Satz der Einlagefazilität auch zu einem negativen Zins im Einlagenbereich der Privatkunden führen könnte.115 Damit ist eine Klausel eines einer Termineinlage zugrundeliegenden Darlehensvertrages, der vor dem 11. Juni 2014 abgeschlossen wurde, und die die Möglichkeit, dass der Zins auch einen negativen Wert annehmen kann, nicht explizit nennt, wegen eines Verstoßes gegen das Transparenzgebot unwirksam.116
112 Siehe zur Berichterstattung im Vorhinein der Entscheidung des EZB-Direkto riums o.V., Niedrige Zinsen gegen Deflation – notfalls negativ, o. S. (Süddeutsche Zeitung online vom 14.05.2014); o.V., Bundesbankchef hält Minus-Zinsen für möglich, o. S. (Spiegel online vom 22.05.2014), Buhse, Die wahre Strategie der EZB, o. S. (Zeit online vom 4. Juni 2014), Schultz, Draghis Experiment, o. S. (Spiegel online vom 05.06.2014). 113 O.V., Erstmals Negativzinsen auf Tagesgeld, o. S. (FAZ online vom 29.10.2014). 114 O.V., Immer mehr Banken schließen Strafzinsen nicht mehr aus, o. S. (BILD online vom 23.11.2014). 115 Siehe aus der Tagespresse von Juni 2014 – Februar 2015 (in chronologischer Reihenfolge) o.V., Deutsche-Bank-Manager rechnet mit Strafzinsen auf Spar- und Girokonten, o. S. (Spiegel online vom 02.11.2014); o.V., Strafzinsen auf Sparbüchern und Girokonten „bald Normalität“, o. S. (Manager Magazin vom 02.11.2014); o.V., Bundesbank-Vorstand sorgt sich um deutsche Sparkultur, o. S. (Spiegel online vom 03.11.2014; „Bei der Skatbank sind die Schranken für Strafzinsen gefallen, nun könnten weitere folgen.“); Rottwilm, Sicherheit kostet Geld – EZB führt Altersvorsorge ad absurdum, o. S. (Manager Magazin vom 03.11.2014); o.V., Bankenverband hält Strafzins für möglich, o. S. (Spiegel online vom 10.11.2014); o.V., Negative Zinsen – Es kann den kleinen Sparer treffen, o. S. (n-tv Online vom 20.11.2014); o.V., Commerzbank plant Minuszinsen, o. S. (Spiegel online vom 20.11.2014); Siedenbiedel, Angriff auf die Sparer, o. S. (FAZ online vom 23.11.2014; „Die Banken geben die Strafzinsen der Europäischen Zentralbank an ihre Kunden weiter. Wer gedacht hat, als kleiner Sparer ungeschoren davonzukommen, hat sich gehörig getäuscht.“); Siedenbiedel, Die neue Welt der Negativzinsen, o. S. (FAZ online vom 16.02.2015). 116 In die Richtung einer zeitlichen Differenzierung hinsichtlich der Vorhersehbarkeit eines negativen Zinses gehen auch (wenngleich für Zinsgleitklauseln im Aktivgeschäft der Banken) Hingst / Neumann, BKR 2016, 95 (100).
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(2) Verträge mit Vertragsschluss nach dem 11. Juni 2014 Auf Verträge, die nach dem 11. Juni 2014 abgeschlossen wurden, kann diese Argumentation nicht übertragen werden. Seit diesem Zeitpunkt musste es den Bankkunden bewusst gewesen sein, dass sich aufgrund des derzeitigen Niedrig- und Negativzinsumfeldes und der geldpolitischen Maßnahmen der EZB auch im Einlagenbereich ein negativer Zins ergeben könnte, womit eine Leistungspflicht der Banken entfiele und eine eigene Leistungspflicht entstehe. Damit ist eine Klausel in solchen Verträgen, aufgrund derer nun ein Negativzins erhoben werden soll, mit dem Transparenzgebot vereinbar, da die sich möglicherweise ändernden Leistungspflichten bei Vertragsschluss für die Parteien erkennbar und der Inhalt des Vertrages damit klar war. ee) Grenzen aus § 315 BGB Das Erheben eines negativen Zinses im Rahmen von Zinsanpassungsklauseln bei Termineinlagen kann aber auch aufgrund der sich aus § 315 BGB ergebenden Grenzen unzulässig sein. (1) Schaffung vs. Konkretisierung einer Leistungspflicht Tröger lehnt die Zulässigkeit des Erhebens eines negativen Zinses über § 315 BGB schon deshalb ab, weil „bereits der Wortlaut der Bestimmung verdeutlicht, dass lediglich der Inhalt (Art, Umfang, Modalitäten) einer im Vertrag grundsätzlich vereinbarten Leistung durch eine der Parteien konkretisiert werden darf“.117 Dieses Argument vermag aber für sich genommen nicht zu überzeugen. Es entspricht nämlich der herrschenden Meinung, dass im Rahmen des § 315 BGB sowohl Leistungs- als auch Gegenleistungspflichten bestimmt werden,118 wobei in der Tat zu fragen ist, ob die Festlegung einer Gegenleistungspflicht anstelle der ursprünglichen Leistungspflicht noch von der im Rahmen der Unterwerfungsvereinbarung rahmenmäßig festgelegten Leistung liegt. Dennoch ist die hier interessierende Konstellation kein Fall, bei der eine der beiden Parteien willkürlich irgendeine andere Gegenleistung bestimmt, anstatt die Leistung zu bestimmen. Es handelt sich – eher praktisch als rechtlich betrachtet – immer noch um eine Anpassung der Geschäftsbeziehung an die aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten durch die Veränderung eines zuvor festgelegten Parameters. Von diesem 117 Tröger,
NJW 2015, 657 (659). in: Staudinger, BGB, § 315 Rn. 132; Schulze, in: Schulze, BGB, § 315 Rn. 4; deshalb auch die Argumentation von Tröger kritisierend Schürmann / Langner, in: Schimansky / Bunte / Lwowski, Bankrechts-Handbuch, § 70 Rn. 25b. 118 Rieble,
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Grundmodell wird auch bei negativer Verzinsung nicht abgewichen. Es entsteht nur die sonderbare Situation, dass ab einer bestimmten Veränderung dieses Parameters (sobald dieser