Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 7 Abs. 1 GG und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität [1 ed.] 9783428502042, 9783428102044

In einer Gesellschaft, die in weltanschaulich-religiöser Hinsicht nicht mehr homogen ist, sondern sich zunehmend plurali

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German Pages 388 Year 2005

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Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt: Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 7 Abs. 1 GG und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität [1 ed.]
 9783428502042, 9783428102044

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C A R O L A RATHKE

Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1005

Öffentliches Schulwesen und religiöse Vielfalt Zugleich ein Beitrag zur Dogmatik von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 7 Abs. 1 GG und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität

Von Carola Rathke

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahre 1999 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10204-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Θ

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In einer Gesellschaft, die in weltanschaulich-religiöser Hinsicht nicht mehr homogen ist, sondern sich zunehmend pluralistisch ausdifferenziert, stellt das Verhältnis von Staat und Religion ein dauerhaftes Problem dar. Die vorliegende Untersuchung greift aus der Gesamtproblematik einen Aspekt auf, der durch die zunehmende kulturelle und religiöse Vielfalt für die öffentlichen Schulen entstanden ist. Der Blick wird konkret auf jene Spannungen gerichtet, die sich aus der Gegenüberstellung des staatlichen Anspruchs auf schulische Erziehung der Kinder einerseits und der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Kinder sowie deren Eltern andererseits ergeben. I m Rahmen dieser Konfrontation, die die Schwierigkeiten einer zunehmend spannungsreichen Vielfalt der Gesellschaft wie unter einem Brennglas bündelt, berufen sich beide Seiten auf verfassungsrechtliche Positionen. Im Vordergrund steht die individuelle Religionsfreiheit, da gerade der kulturell-religiöse Freiheitsanspruch in einem Spannungsverhältnis zum staatlichen Erziehungsauftrag steht und damit in Konflikt zu den schulischen Erziehungsvorgaben geraten kann. Hinzu treten das Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates und das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen. Da der Gesamtkomplex in erheblichem Umfang durch - folgenreiche - Vorverständnisse geprägt ist, wird die Perspektive durch einen Blick auf die einschlägige politische Philosophie sowie einen Rechtsvergleich mit den USA erweitert. Ziel der Untersuchung ist es, auf dieser Grundlage herauszufinden, ob die verfassungsrechtlichen Regelungen den bestehenden Konfliktsituationen angemessen Rechnung tragen und welche staatlichen Gestaltungsspielräume bestehen. Die Untersuchung wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Eine Mischung aus beruflichen und persönlichen Gründen hat dazu geführt, dass die Arbeit mit Verzögerung veröffentlicht wird. Aufgrund der zwischenzeitlich vergangenen Zeitspanne war die Versuchung groß, bei der Überarbeitung für die Drucklegung die Untersuchung grundlegend anders zu konzipieren und einzelne Teile der Untersuchung neu zu schreiben. Es wäre dann jedoch eine andere Arbeit daraus geworden als die ursprüngliche Dissertation. Ich habe mich daher dazu entschlossen, die Untersuchung - von redaktionellen Änderungen abgesehen - in ihrer ursprünglichen Fassung zu belassen. Die neuere Entwicklung wird, soweit sie für den Untersuchungsgegenstand von Bedeutung ist, in einem kurzen Nachtrag skizziert. Der rechtsvergleichende Teil ist gegenüber der Ursprungsfassung nicht weiter ergänzt worden.

Vorwort

6

Besonders herzlicher Dank gilt Herrn Professor Rainer Wahl, der die Arbeit nicht nur betreut, sondern mich als Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl über Jahre hinweg unterstützt und gefördert hat. Seine Anregungen, seine Offenheit und seine Toleranz haben mich über die wissenschaftliche Tätigkeit hinaus in vielfältiger Weise geprägt. Danken möchte ich darüber hinaus Professor Dr. Thomas Würtenberger, der die Mühe des Zweitgutachtens auf sich genommen hat. Auch im übrigen habe ich von vielen Seiten direkte oder indirekte Unterstützung erfahren. Mein Dank gilt vor allem jenen Freunden in Freiburg und Berlin, die das Entstehen der Arbeit durch regelmäßige Gespräche, kritische Ratschläge und aufmunternde Worte begleitet haben. Schließlich wäre die Untersuchung ohne die materielle Sicherheit einer Förderung aus öffentlichen Mitteln in dieser Form nicht geschrieben worden. Ich danke daher nicht zuletzt der baden-württembergischen Graduiertenförderung für die Gewährung eines Doktorandenstipendiums. München, Dezember 2004

Carola Rathke

Inhaltsverzeichnis Einleitung

21

Α. Ausgangssituation

21

Β. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

23

I. Die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit II. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates III. Der Aufsichtsbegriff

24 26 27

C. Rechtsvergleichende Perspektive

28

D. Zugrundeliegende Fragestellungen der politischen Philosophie

29

E. Ziel der Untersuchung

30

F. Gang der Untersuchung

31 1. Kapitel

Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

§ 1 Die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) A. Schutzbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit I. Eingrenzung der Begriffe Religion und Weltanschauung

33

34 34 35

1. Der Religions- und Weltanschauungsbegriff in der Rechtsprechung ...

35

2. Der Religionsbegriff im Schrifttum

36

3. Der Weltanschauungsbegriff im Schrifttum

36

II. Umfang der einzelnen Gewährleistungen 1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

38 38

a) Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als einheitlicher Schutzbereich

38

b) Weites Schutzbereichsverständnis von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

39

Inhaltsverzeichnis c) Versuche einer Schutzbereichsbegrenzung

40

aa) Die Bezugnahme auf historische Gegebenheiten (sog. Kulturadäquanzklausel)

41

bb) Differenzierung nach der Art der religiösen Betätigung

43

cc) Verschärfung der Beweisanforderungen

43

d) Fazit

44

2. Umfang der Gewährleistungen im Schrifttum

44

a) Schutzbereichsverständnis aa) Die Glaubensfreiheit als allumfassende Garantie bb) Weitergehende Garantien

Differenzierung

zwischen

44 44

den einzelnen 45

b) Eingrenzungsversuche des Schrifttums auf Schutzbereichsebene ...

47

aa) Begrenzung des Schutzbereichs durch Bezugnahme auf historische Gegebenheiten

48

bb) Begrenzung auf verfassungsrechtlich zulässige Praktiken

49

cc) Verschärfung der Beweisanforderungen

49

B. Beschränkungen von Art. 4 GG auf Schrankenebene I. Die Schrankenebene in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

50

50

1. Ablehnung einer Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 GG 2. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV 3. Kollidierendes Verfassungsrecht als Schranke des Art. 4 GG II. Die Schrankenebene in der Literatur 1. Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 GG a) Übertragung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG b) Analoge Übertragung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG 2. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV § 2 Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates A. Verfassungsrechtliche Herleitung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates I. Vertreter einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche II. Zulässigkeit einer Kooperation zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich

50 51 52 53 53 53 54 55 57

57 58

59

Inhaltsverzeichnis

9

Β. Abhängigkeit des Neutralitätsverständnisses vom Staats- und VerfassungsVerständnis

61

I. Staats- und Verfassungsverständnis der Befürworter einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche

61

II. Staats- und Verfassungsverständnis der Trennungsgegner C. Trennung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates vom „ideologischen Gehalt" des Grundgesetzes I. Das Grundgesetz als organisatorisches Rahmengerüst II. Das Grundgesetz als Verkörperung eines Menschenbildes und Wertesystems § 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen (Art. 7 Abs. 1 GG) A. Entwicklung des Aufsichtsverständnisses I. Begriffliche Vorklärungen II. Wesentliche Rahmenbedingungen: Vorbehalt des Gesetzes und Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis 1. Vorbehalt des Gesetzes

62

63 64

64 65 66 66

68 68

a) Entwicklung des Gesetzesvorbehalts bis zum Erlaß des Grundgesetzes

68

b) Der Vorbehalt des Gesetzes unter dem Grundgesetz

68

2. Das besondere Gewaltverhältnis

70

a) Das besondere Gewaltverhältnis vor Erlaß des Grundgesetzes

71

b) Das besondere Gewaltverhältnis unter dem Grundgesetz

71

III. Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen unter der Weimarer Verfassung (Art. 144 S. 1 WRV)

74

1. Aufsicht im weiteren Sinn

74

2. Aufsicht im engeren Sinn

76

B. Staatliches Aufsichtsrecht über das Schulwesen unter dem Grundgesetz I. Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen in den Stellungnahmen des Schrifttums 1. Entwicklung bis in die siebziger Jahre a) Entwicklung der herrschenden Ansicht aa) Anknüpfung an die Weimarer Verfassung

76

77 77 77 77

Inhaltsverzeichnis bb) Beschränkung des Aufsichtsrechts durch „kollidierendes Verfassungsrecht"

78

(1) Aufsicht im weiteren Sinn

78

(2) Aufsicht im engeren Sinn

80

b) Abweichende Ansichten im Schrifttum

81

aa) Vorreiterrolle Peters - Beschränkung auf ein enges Aufsichtsverständnis

82

bb) Fuß' Beschränkung des Aufsichtsbegriffs aus rechtsstaatlichen Überlegungen

82

2. Entwicklung seit den siebziger Jahren

83

a) Auswirkungen auf den weiten Aufsichtsbegriff

83

b) Reichweite des engen Aufsichtsbegriffs

86

c) Versuche einer Beschränkung des Aufsichtsrechts

87

3. Fazit II. Aufsichtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts III. Ausblick § 4 Schultypen des Grundgesetzes A. Drei Schultypen des Grundgesetzes I. Die Bekenntnisschule II. Die Weltanschauungsschule III. Die Gemeinschaftsschule

89 90 91 92 92 92 94 94

B. Vereinbarkeit der einzelnen Schultypen mit dem Grundgesetz

95

I. Bundesverfassungsgericht und herrschende Meinung

96

II. Abweichende Stimmen im Schrifttum C. Verfassungsmäßigkeit der ausschließlichen Errichtung von Bekenntnisschulen I. Stellung der Rechtsprechung zur Problematik II. Stellungnahmen des Schrifttums zur Problematik D. Verfassungsmäßigkeit der ausschließlichen Errichtung von Gemeinschaftsschulen I. Stellung der Rechtsprechung II. Stellungnahmen des Schrifttums

96 97 98 99

101 101 104

Inhaltsverzeichnis

11

2. Kapitel Das Spannungsfeld von schulischem Erziehungsauftrag des Staates, individueller Religions- und Weltanschauungsfreiheit und staatlicher Neutralitätspflicht im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

106

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen die Integration religiöser Elemente in den schulischen Bereich 107 A. Schulgebete und Schulandachten I. Positionen der Rechtsprechung 1. Instanzrechtsprechung

107 107 107

a) Schulgebet

107

b) Schulandachten

112

2. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts

114

3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

116

II. Reaktionen im Schrifttum

117

1. Verteidigung des Schulgebets

118

2. Abweichende Stimmen im Schrifttum

119

B. Kruzifix im Klassenzimmer I. Entscheidungen der Rechtsprechung

122 122

1. Instanzentscheidungen

122

2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

123

a) Ansicht der Senatsmehrheit

124

b) Gemeinsames Sondervotum der Richter Seidl und Söllner sowie der Richterin Haas 126 II. Reaktionen in der Literatur

127

1. Kritiker des bundesverfassungsgerichtlichen Beschlusses

128

2. Befürworter des bundesverfassungsgerichtlichen Beschlusses

132

§ 6 Zweite Gruppe: Religiös bedingte Einwände gegenüber „neutralen" Schulveranstaltungen A. Exkurs: Verfassungsrechtliche Verankerung der Schulpflicht I. Befürworter einer verfassungsrechtlichen Herleitung der Schulpflicht II. Kritiker einer verfassungsrechtlichen Herleitung der Schulpflicht B. Freistellungen der Schüler vom Schulunterricht I. Befreiung vom Schulbesuch an bestimmten Schultagen

133 133 134 135 136 136

Inhaltsverzeichnis IL Befreiung vom Schulsport

137

1. Rechtsprechung

138

a) Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht

139

b) Befreiung vom gesamten koedukativen Schulsport

141

c) Generelle Befreiung von jeglichem Sportunterricht

143

2. Stellungnahmen in der Literatur

143

3. Kapitel Das Spannungsverhältnis von Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten § 7 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Verfassungsrecht

145

146

A. Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit

147

B. Beschränkungsmöglichkeit von Grundrechten

148

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit A. Establishment Clause I. Allgemeine Vorbemerkung zum Verständnis der Establishment Clause ...

149 152 152

II. Anwendung der Establishment Clause in der Rechtsprechung des Supreme Court 155 1. Der Lemon Test

155

a) Secular Purpose

156

b) Secular Effect

156

c) Entanglement Test

157

2. Endorsement Test III. Schrifttum

157 159

1. Kritik des Schrifttums am Lemon Test

160

2. Kritik des Schrifttums am Endorsement Test

161

B. Free Exercise Clause I. Die Free Exercise Clause in der Rechtsprechung des Supreme Court

161 161

1. Entwicklung der Free Exercise Clause

162

2. Der Compelling Interest Test in der Rechtsprechung des Supreme Court

163

Inhaltsverzeichnis

13

3. Rückzug vom Compelling Interest Test

164

4. Erlaß des Religion Freedom Restoration Act von 1993

164

II. Kritik des Schrifttums an der Rechtsprechung des Supreme Court

166

1. Kritik am Maßstab des Supreme Court für die Annahme einer Beeinträchtigung der individuellen Religionsfreiheit

166

2. Kritik am Compelling Interest Test

167

3. Entwicklung des Equal Regard-Standards zur Beurteilung der Free Exercise-Entscheidungen 167 C. Versuche einer Angleichung beider Klauseln in der Rechtsprechung des Supreme Court 168 I. Von der Strict Separation-Theorie zum Neutralitätsgebot

169

II. Das Neutralitätsgebot

169

D. Definition des Religionsbegriffs

170

I. Begriffsverständnis des Supreme Court II. Definitionsversuche im Schrifttum

171 173

1. Chopers Extratemporal Consequences

173

2. Greenawalts Analogie

174

3. Merels Self-Definition

175

4. Ingbers Abgrenzung von Religion und Ideologie

175

§ 9 Schulen in den Vereinigten Staaten

177

A. Verfassungsrechtliche Absicherung des Bildungswesens

177

B. Die Schulpflicht (compulsory education)

178

§10 Fallgestaltungen im Spannungsfeld von öffentlichem Schulwesen und Religion A. Schulgebete und Schweigeminuten I. Engel v. Vitale

179 180 181

1. Mehrheitsmeinung

182

2. Abweichende Meinung des Justice Steward

182

II. Abington School District v. Schempp

183

1. Mehrheitsmeinung

184

2. Abweichende Meinung des Justice Steward

186

Inhaltsverzeichnis III. Wallace v. Jaffree

186

1. Mehrheitsmeinung

187

2. Ansicht von Justice O'Connors

188

3. Ablehnende Ansicht der Justices Burger, White und Rehnquist

189

Β. Aufhängen der Zehn Gebote im Klassenzimmer

189

I. Mehrheitsmeinung im Fall Stone ν. Graham

190

II. Abweichende Meinung des Justice Rehnquist im Fall Stone ν. Graham ... 191 C. Released time-Programme I. McCollum v. Board of Education

191 191

1. Mehrheitsmeinung

192

2. Stellungnahme des Justice Frankfurter

192

3. Abweichende Meinung des Justice Reed

193

II. Zorach v. Clauson 1. Mehrheitsmeinung

194 194

2. Abweichende Meinung der Justices Black, Frankfurter und Jackson ... 195 D. Nutzung der Schule für religiöse Zwecke außerhalb der offiziellen Unterrichtszeit

196

I. Mehrheitsmeinung im Fall Board of Education of Westside Community Schools v. Mergens

196

II. Stellungnahme des Justice Marshall E. Darstellung der Evolutionslehre im Biologieunterricht I. Eppenson v. Arkansas II. Edwards v. Aquillard

198 199 200

1. Mehrheitsmeinung

201

2. Abweichende Ansichten der Justices Scalia und Rehnquist

201

F. Einwendungen gegen die Benutzung bestimmter Unterrichtsmaterialien I. Smith v. Board School Commissioners II. Mozert v. Hawkins County III. Grove v. Mead School District No. 354 §11 Fazit

198

203 203 205 209 211

Inhaltsverzeichnis

15

4. Kapitel Einflüsse und Rahmenbedingungen der neueren politischen Philosophie §12 Liberalismus - Kommunitarismus - Republikanismus

214 215

A. Einführung

215

B. Grundansätze der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte

218

I. Der Ausgangspunkt bei Rawls II. Sandels Kritik an Rawls

218 220

III. Gutmanns Reaktion auf Sandels Kritik an Rawls

223

IV. Zwischenbilanz

224

C. Wandel in der Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte I. Taylors Systematisierung II. Rawls' Wandel zum politischen Liberalismus III. Der wertegeladene Liberalismus am Beispiel Gardbaums D. Bedeutung des Republikanismus I. Gemeinsamkeiten aller republikanischen Konzeptionen

225 225 228 231 233 234

II. Unterschiede in den Wertvorgaben der einzelnen republikanischen Ausprägungen 236 E. Fazit § 13 Auswirkungen der Debatte auf die schulische Erziehung

237 237

A. Bedeutung des Einflusses

238

B. Erziehungskonzepte der Liberalisten

239

I. Grundgedanken liberaler Erziehungstheorien II. Auswirkungen auf die Rolle des Staates

239 240

1. Vollkommene Ausklammerung des Staates aus der Erziehung der Kinder

240

2. Einbeziehung des Staates in die Erziehung der Kinder

241

III. Bewertung der liberalistischen Erziehungstheorien C. Erziehungskonzepte der Kommunitaristen I. Grundzüge einer kommunitaristischen Erziehungstheorie

242 243 243

Inhaltsverzeichnis II. Auswirkungen auf die Rolle des Staates III. Bewertung des kommunitaristischen Erziehungskonzepts D. Erziehungskonzepte der Republikaner I. Grundzüge einer republikanischen Erziehungstheorie II. Auswirkungen auf die Rolle des Staates III. Bewertung des republikanischen Erziehungskonzepts E. Amy Gutmanns „Democratic Education" I. Grundzüge einer „demokratischen Erziehungstheorie" II. Rolle des Staates

243 244 245 245 247 247 248 248 250

III. Bewertung der „demokratischen Erziehungstheorie"

251

§ 14 Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die Zulässigkeit schulischer Wertevermittlung 252 A. Aussagen des Grundgesetzes

253

I. Ergebnisse der Grundwertediskussion

253

II. Grundwertediskussion und Ableitbarkeit von Erziehungszielen aus der Verfassung 257 III. Philosophische Erziehungstheorien und Art. 7 Abs. 1 GG B. Aussagen der amerikanischen Verfassung I. Der Verfassungstext

258 260 260

II. Auswirkung der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte auf die Schulrechtsprechung des Supreme Court 261 5. Kapitel Das öffentliche Schulwesen zwischen individueller Religions- und Weltanschauungsfreiheit, weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates und staatlichem Aufsichtsrecht

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG A. Die Schutzbereichsebene I. Eingrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG 1. Anwendungsbereich der Religions-und Weltanschauungsfreiheit

263

264 265 266 268

Inhalts verzeichni s a) Auslegung des Weltanschauungsbegriffs

17 269

aa) Methodischer Ausgangspunkt

269

bb) Systematische Überlegungen

270

(1) Abgrenzung mittels der Bezugnahme auf die „Welt als Ganze" 270 (2) Rückgriff auf Präzisierungsversuche des Schrifttums

272

(3) Vergleich der Weltanschauungs- mit der Religions- und Gewissensfreiheit 273 b) Zwischenbilanz 2. Umfang der Glaubensfreiheit II. Umfang der einzelnen Gewährleistungen 1. Gewährleistungen der Glaubensfreiheit

275 276 277 278

a) Kritik an der herkömmlichen Konzeption

278

b) Ermittlung des Gewährleistungsgehalts

278

2. Gewährleistungen der Bekenntnisfreiheit

280

3. Gewährleistungen der Religionsausübungsfreiheit

281

a) Einbeziehung der Weltanschauung in Art. 4 Abs. 2 GG

282

b) Gewährleistungsgehalt der Religions- und Weltanschauungsfreiheit

283

c) Exkurs: Auswirkungen der Konzeption auf die Gewissensfreiheit .. 284 aa) Reichweite der Gewissensfreiheit

285

bb) Folgerungen

286

Die Schrankenproblematik des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG I. Ablehnung einer Übertragung der Schrankenregelung anderer Grundrechte II. Die Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV

287 288 288

1. Kritiker einer Übertragung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

290

2. Befürworter einer Übertragung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

290

3. Auslegung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV

291

4. Reichweite der Schrankenregelung

294

a) Einbeziehung der Weltanschauungsausübung

294

b) Einbeziehung des gesamten forum externum

295

c) Folgen für das Verständnis von Art. 136 Abs. 1 WRV

295

d) Auswirkungen der Schrankenproblematik auf die Gewissensfreiheit

297

Inhaltsverzeichnis § 16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates

298

A. Aussagen des Grundgesetzes zum Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich 300 I. Die einschlägigen Vorschriften

300

1. Art. 137 Abs. 1 WRV

300

2. Art. 136 Abs. 4 WRV

301

3. Art. 137 Abs. 6 WRV

301

4. Art. 7 Abs. 3 GG

302

5. Art. 7 Abs. 5 GG

302

II. Folgerungen für das Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich unter dem Grundgesetz 302 1. Ablehnung einer laizistischen Konzeption

303

2. Keine rigorose Ausklammerung aller weltanschaulich-religiösen Elemente aus dem staatlichen Bereich 304 3. Keine staatliche Indifferenz gegenüber dem weltanschaulich-religiösen Bereich 305 B. Weltanschaulich-religiöse Neutralität als materiell-rechtliche Schranke staatlichen Handelns 307 C. Weltanschaulich-religiöse Neutralität im schulischen Bereich

308

I. Staatliche Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen

309

II. Staatlich veranstaltete religiöse und/oder weltanschauliche Übungen 1. Vorliegen einer staatlichen Veranstaltung

309 310

a) Gesetzliche Anordnung von weltanschaulichen und/oder religiösen Übungen 310 b) Anordnungen des Schulleiters

310

c) Vom Lehrer während der offiziellen Unterrichtszeit durchgeführte weltanschauliche und / oder religiöse Übungen

311

2. Vereinbarkeit von staatlich veranstalteten weltanschaulichen und/oder religiösen Übungen im Schulbereich mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität 312 a) Herleitung aus der Verfassungsmäßigkeit der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule 313 b) Religiöse Übungen als Annex zu Art. 7 Abs. 3 GG

314

Inhaltsverzeichnis III. Weltanschaulich-religiöse Symbole an den Wänden der Schule

19 315

1. Differenzierung nach Schultypen

315

2. Schulkreuze als Beispiel

316

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

317

A. Enges Aufsichtsverständnis der herrschenden Meinung

318

B. Abweichendes Aufsichtsverständnis im Schrifttum

318

C. Kritik des engen Aufsichtsbegriffs

319

I. Begriffsklärung

319

II. Zuordnung der schulischen Angelegenheiten zum eigenen oder fremden Bereich und korrespondierende Aufsichtsbefugnisse 320 1. Äußere Schulangelegenheiten

320

2. Innere Schulangelegenheiten

321

a) Herrschende Meinung

321

b) Abweichende Stimmen im Schrifttum

322

c) Zugrundeliegende Vorverständnisse

323

III. Allgemeine Anerkennung einer Sonderstellung des Unterrichtsbereichs .. 324 1. Dominierende Rolle des Staates

324

2. Maßgebender Einfluß der Gesellschaft

325

a) Herleitung aus den Grundrechten

326

aa) Art. 2 Abs. 1 GG

326

bb) Art. 5 Abs. 3 GG

327

b) Herleitung aus dem Demokratie- und Sozialstaatsgebot IV. Kritik und Neuorientierung

327 328

1. Selbstentfaltung des Kindes

328

2. Pädagogische Freiheit

329

3. Sozialstaats- und Demokratiegebot

330

4. Sachspezifische Notwendigkeit einer Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte 331 § 18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse im schulischen Bereich 334

2*

A. Grundsätzlich volle gesetzgeberische Regelungsbefugnis

335

B. Zweifel an einer uneingeschränkten gesetzgeberischen Regelungsbefugnis

336

Inhaltsverzeichnis C. Teilweise Übertragung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung auf demokratisch legitimierte Gremien 337 D. Aufgaben Verteilung zwischen Gesetzgeber, Gremium und Schulverwaltung .. 341 I. Demokratische Legitimation des Gremiums II. Regelung der Gremienzusammensetzung und des Verfahrens III. Vorgabe von Bildungszielen E. Privatschulen als Alternative? Nachtrag

341 342 343 343 346

A. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen I. Individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

347 348

1. Schutzbereich und Trennungslehre

348

2. Schrankendogmatik der Religionsfreiheit

349

II. Weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates III. Schule und Staatsaufsicht

351 353

B. Spannungsfeld von staatlichem Erziehungsauftrag und individueller Religionsfreiheit 354 I. Tragen eines Kopftuchs im staatlichen Schuldienst II. Kruzifix in der Schule III. Befreiung von einer Klassenfahrt aus religiösen Gründen C. Vorverständnisse

355 358 359 361

Literaturverzeichnis

363

Sachwortverzeichnis

383

Einleitung Α. Ausgangssituation In den letzten Jahrzehnten hat die kulturelle Vielfalt der deutschen Gesellschaft - bedingt durch die Zuwanderung und den Einfluß von Menschen aus anderen Kulturkreisen - kontinuierlich zugenommen.1 Diese kulturelle Vielfalt der Gesellschaft spiegelt sich vor allem im schulischen Bereich anschaulich wider. Nur wenig überspitzt läßt sich sagen, daß die kulturelle Vielfalt der Gesellschaft ihr Gegenstück in den öffentlichen Schulen findet. 2 Die Betonung liegt auf den öffentlichen Schulen. Nur diese erweisen sich als tauglicher Spiegel der gesellschaftlichen Vielfalt. Die Schulen in privater Trägerschaft setzen im Regelfall bestimmte Akzente, die sich auf den weltanschaulich-religiösen oder den pädagogischen Bereich beziehen, von denen jedoch nur bestimmte Bevölkerungsgruppen, niemals aber die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit angesprochen werden. Darüber hinaus unterliegen nur die öffentlichen Träger in vollem Umfang grundgesetzlichen Bindungen.3 Vor diesem Hintergrund gilt die vorliegende Untersuchung der Frage, welche Auswirkungen die Zunahme der kulturellen Vielfalt auf die schulische Erziehung an öffentlichen Schulen entfaltet. Dabei gilt es die Besonderheiten zu berücksichtigen, die den schulischen Bereich kennzeichnen. So kann sich kein Kind - gleich welcher Herkunft - aufgrund der in Deutschland bestehenden Schulpflicht der elementaren Schulerziehung entziehen. Dadurch bedingt trägt jedes Kind zwangsläufig seinen eigenen, im familiären Umfeld erworbenen persönlichen kulturellen Hintergrund mit in den schulischen Bereich hinein. Vergegenwärtigt man sich zugleich, daß die schulische Erziehung niemals wertneutral sein kann, da bereits durch die Auswahl von Unterrichtsinhalten und -materialien unvermeidlich Akzente gesetzt werden, wird verständlich, weshalb Spannungen zwischen den zu vermittelnden Unterrichtsinhalten und den persönlichen Wertvorstellungen der Kinder und der dahinterstehenden Eltern vorprogrammiert sind.

1 Während der Anteil der Ausländer an der Gesamtbevölkerung 1960 noch 1,2% betrug, stieg er bis 1970 auf 4,3 %, bis 1980 auf 7,2%, bis 1990 auf 8,2% und bis 1996 auf 8,9% an; vgl. dazu die Angaben in den Statistischen Jahrbüchern der Bundesrepublik Deutschland. 2 Als „öffentliche Schulen" werden die Schulen bezeichnet, die in staatlicher oder nichtstaatlicher, öffentlicher Trägerschaft - im Regelfall in jener der Kommunen oder Kreise stehen. 3 Allgemein zu den verfassungsrechtlichen Aspekten der Integration von Ausländern in das Schulwesen Hage, RdJB 1982, 26 ff. m. w. N.

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Die vorliegende Arbeit richtet den Blick auf jene rechtlichen Rahmenbedingungen, die das Verhältnis von schulischer Erziehung und wachsender kultureller Vielfalt der Schüler und deren Eltern prägen. Sie richtet den Blick auf die Frage, ob und inwieweit der staatliche Rahmen für die schulische Erziehung den gewandelten gesellschaftlichen Gegebenheiten Rechnung trägt und Rechnung tragen kann. Die bloße Konstatierung der gesellschaftlichen Pluralisierung sowie der ihr innewohnenden Spannungen ist dabei als Untersuchungsgrundlage nicht ausreichend. Diese Feststellung mag für andere Wissenschaften als Grundlage für weitergehende soziologische und andere grundlagenbezogene Fragestellungen von großem Interesse sein. Für den Juristen erlangt sie erst dann Bedeutung, wenn sich daraus rechtliche Konflikte ergeben, insbesondere der einzelne oder einzelne Gruppen sich unter Berufung auf grundrechtliche Positionen gegen staatliche Maßnahmen i m schulischen Bereich zur Wehr setzen (können). Die Zunahme der kulturellen Vielfalt trägt derartige rechtliche Komponenten in sich. Sie treten insbesondere dann in Erscheinung, wenn die kulturellen Eigenheiten religiöse oder weltanschauliche Wurzeln aufweisen. In diesem Fall steigt die Wahrscheinlichkeit, daß der einzelne sich aufgrund seines religiös-kulturellen Hintergrundes nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht in der Lage sieht, bestimmten staatlichen Anordnungen i m schulischen Bereich Folge zu leisten. Hinzu kommt, daß die kulturellen Unterschiede oftmals gerade dann verstärkt wahrgenommen werden, wenn sich dahinter religiöse oder weltanschauliche Wertvorstellungen verbergen, die der christlichabendländischen Tradition fremd sind. Aus der Vielzahl der allein i m schulischen Bereich denkbaren Konfliktkonstellationen konzentriert sich die vorliegende Arbeit exemplarisch auf ein einziges, allerdings sehr umfangreiches Problemfeld: auf die Spannungen, die sich aus der Gegenüberstellung des staatlichen Anspruchs auf schulische Erziehung der Kinder einerseits und der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Kinder sowie deren Eltern andererseits ergeben. I m Rahmen dieser Konfrontation berufen sich beide Seiten auf grundgesetzliche Positionen. Der Staat stützt seinen Anspruch auf Art. 7 Abs. 1 GG, die Kinder bzw. deren Eltern stützen sich auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (i.V.m. Art. 6 Abs. 2 GG). Darüber hinaus erlangt in diesem Spannungsfeld das Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates Bedeutung. Es ist vor allem für die Frage wesentlich, inwieweit der Staat einerseits berechtigt oder gar dazu angehalten ist, religiöse oder weltanschauliche Elemente in seinen staatlichen Bereich zu integrieren, und inwieweit er andererseits dazu verpflichtet ist, Freiräume für die Entfaltung der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit der Schüler- und Eltern zu wahren oder gar zu schaffen. Wie spannungsgeladen das Verhältnis von schulischer Erziehung und individuellem, kulturell-religiös geprägtem Freiheitsanspruch von Schülern und Eltern sein kann, zeigen besonders anschaulich die einschlägigen Entscheidungen der Rechtsprechung. 4 Die zum Teil erheblichen Unterschiede, die bei ähnlich gelagerten Fallgestaltungen zwischen den Instanzgerichten, aber auch zwischen Unter- und

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Obergerichten zu verzeichnen sind, lassen erahnen, welches Problempotential die Thematik in sich birgt. Die Brisanz läßt sich auch an den sehr unterschiedlichen Reaktionen des Schrifttums auf die Rechtsprechungsentscheidungen ablesen.5

B. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen Aufgrund der zentralen Stellung, die den betroffenen verfassungsrechtlichen Positionen im System des Grundgesetzes zukommt, bedarf es einer Bestandsaufnahme des hierzu vorhandenen Meinungsstandes in Rechtsprechung und Literatur. Wegen der Vielzahl der in diesem Bereich ergangenen Entscheidungen wird sich die Darstellung der Rechtsprechung in erster Linie auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts beschränken. Die Darstellung des Meinungsstandes in der Literatur wird verdeutlichen, daß die Auslegung der einschlägigen grundrechtlichen Positionen sowie des Prinzips der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates keinesfalls als abschließend geklärt angesehen werden kann. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich mit Blick auf die kulturell-religiös geprägten Freiheitsrechte, die den schulischen Erziehungsvorgaben des Staates entgegenstehen können, auf die individuelle Seite der Religionsfreiheit. 6 Dies bedeutet freilich nicht, daß dem Aspekt der kollektiven Religionsfreiheit im schulischen Kontext keine Bedeutung zukäme. Er kommt insbesondere im Zusammenhang mit Fragen des in Art. 7 Abs. 3 GG ausdrücklich vorgesehenen Religionsunterrichts zum Tragen.7 Auch in dieser Hinsicht besteht Diskussionsbedarf, der insbesondere die Frage betrifft, unter welchen Voraussetzungen auch nicht-christlichen Gruppen die Möglichkeit zur Erteilung von Religionsunterricht eingeräumt werden muß. Entzündet hat sich diese Frage vor allem an dem Anliegen islamischer Religions4

Vgl. dazu die Darstellung der einzelnen Entscheidungen unten S. 106 ff. 5 Vgl. dazu unten S. 117 ff. und S. 127 ff.

6 Die genaue Bezeichnung der Freiheiten des Art. 4 GG erweist sich als schwierig. Zu ihrer Kennzeichnung werden unterschiedliche Begriffe verwendet. Ganz überwiegend wird von der Religions- oder der Glaubensfreiheit gesprochen. Findet der zuletzt genannte Begriff der Glaubensfreiheit Anwendung, ist jedoch Vorsicht geboten. Je nach Zusammenhang kann er den Oberbegriff für die einzelnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG statuierten Garantien bilden oder aber konkret die im ersten Absatz niedergeschriebene Glaubensfreiheit bezeichnen. Die vorliegende Arbeit hat sich dafür entschieden, den Begriff der Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Oberbegriff für die einzelnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG niedergelegten Garantien zu verwenden. Dahinter steht der Gedanke, daß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG neben der als eigenes Grundrecht zu behandelnden Gewissensfreiheit den Religionen und Weltanschauungen besonderen Schutz zukommen lassen soll. 7 Zum Problem des Religionsunterrichts angesichts wachsender kultureller Vielfalt vgl. Eiselt, DÖV 1981, 205 ff.; Füssel, RdJB 1985, 74 ff.; Füssel/Nagel, EuGRZ 1985, 497 ff.; Gebauer, RdJB 1989, 263 ff.; Cavdar, RdJB 1993, 265 ff.; Mückl, AöR 122 (1997), 513 (548 ff.). Allgemein zur Problematik des Religionsunterrichts Brauburger, RdJB 1989, 251 ff.; Richter, RdJB 1993, 257 ff.; Renck, DÖV 1994, 27 ff.; Scheilke, RdJB 1996, 340 ff.

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gruppen, einen eigenen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anzubieten. Diesem Begehren kommt unter dem Gesichtspunkt möglicher integrativer Wirkungen durchaus Bedeutung zu. A u f die Identifizierung des einzelnen mit dem Schulsystem und nicht zuletzt auch mit der ihn umgebenden Gesellschaft dürfte es sich förderlich auswirken, wenn staatlicherseits der Versuch unternommen wird, Räume und Veranstaltungen zu schaffen, in denen die jeweiligen religiösen Eigenheiten gepflegt werden können. 8 Gleichwohl stellt der Religionsunterricht mit der in Art. 7 Abs. 3 GG getroffenen Absicherung einen Sonderfall dar. Da der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird (Art. 7 Abs. 3 S. 2 GG), reduziert sich das potentielle Konfliktfeld bislang vor allem auf die grundsätzliche Frage der Einbeziehung weiterer, nicht-christlicher Religionsgemeinschaften in den Religionsunterricht. Die inhaltliche Ausgestaltung des Religionsunterrichts hat sich - bedingt auch durch die Begrenzung des Kreises an Religionsgemeinschaften, denen der schulische Religionsunterricht zugestanden wird - als weniger konfliktträchtig erwiesen. Daher soll diese kollektive Seite der Religions- und Weltanschauungsfreiheit für die vorliegende Untersuchung außer Betracht bleiben. I m Vordergrund steht die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit, da gerade sie i m Spannungsverhältnis zum staatlichen Erziehungsauftrag steht und damit in Konflikt zu den schulischen Erziehungsvorgaben geraten kann. A u f ihre Besonderheiten i m Spannungsfeld von kulturell-religiösem Freiheitsanspruch und staatlichem Erziehungsauftrag wird sich die Darstellung beschränken.

I. Die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit M i t Blick auf die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit gilt es sowohl den Schutzbereich als auch die Schrankenebene eingehend zu beleuchten. I m Rahmen des Schutzbereichs der Religions- und Weltanschauungsfreiheit fällt auf, daß Rechtsprechung, und Schrifttum sich mit der Festlegung des Anwendungsbereichs eher bedeckt halten. In aller Regel wird vermieden, näher zu umschreiben, wann eine Religion oder Weltanschauung anzunehmen ist. Zwar versteht sich von selbst, daß eine abschließende Aufzählung der geschützten Religionen und Weltanschauungen ausscheidet, da ein zukunftsoffenes Grundrecht nicht anhand enger Kriterien einen bestimmten status quo festzulegen vermag. Dennoch bedarf jedes Grundrecht eines - zumindest grob bestimmbaren - Anwendungsbereichs, um die Entscheidung zu ermöglichen, wann sein Schutz greift. Gerade angesichts des wachsenden Kreises an Menschen aus fremden Kulturkreisen und des Aufkommens neuer Formen der Religion besteht ein Bedarf an klarerer Konturierung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die momentane Unsicherheit i m Umgang mit den Folgewirkungen kultureller Vielfalt und den neueren Erscheinun8 So auch v. Campenhausen, ZevKR 25 (1980), 135 (148); Füssel, RdJB 1985, 74; Mückl, AöR 122 (1997), 513 (548).

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gen im Religions- und Weltanschauungsbereich hat ihre Wurzeln nicht zuletzt in dem fehlenden Anforderungsprofil der Begriffe Religion und Weltanschauung. Ein wichtiges Anliegen der Arbeit besteht daher darin, Kriterien zu entwickeln, die eine Abgrenzung des Grundrechts der Religions- und Weltanschauungsfreiheit von anderen Freiheitsrechten - insbesondere der Gewissensfreiheit, der Meinungsfreiheit und der allgemeinen Handlungsfreiheit - und damit eine Präzisierung des spezifischen Schutzbereichs ermöglichen. Hinsichtlich des Umfangs der einzelnen Gewährleistungen zeigt sich, daß es der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht gelingt, dem Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ausreichend klare Konturen zu geben.9 Das einheitliche Schutzbereichsverständnis, das auf eine Unterscheidung zwischen den einzelnen in den beiden Absätzen niedergelegten Freiheiten verzichtet, und das weite Schutzbereichsverständnis, demzufolge das gesamte glaubensgeleitete Handeln unter dem Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG steht, ziehen einen Mangel an Differenzierung nach sich, der sich bis in die Lösung einzelner Fallgestaltungen hinein auswirkt. Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht versuchen Teile des Schrifttums, die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG systematischer anzugehen. 10 Dabei werden unterschiedliche Vorschläge unterbreitet, die sich allerdings hinsichtlich des Schutzumfangs von Religion und Weltanschauung im Ergebnis nicht wesentlich von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden. Aufgrund der überwiegend weiten Interpretation des Schutzbereichs kommt den Schranken des Grundrechts der Religions- und Weltanschauungsfreiheit besondere Bedeutung zu. Das Bundesverfassungsgericht hat sich früh dafür ausgesprochen, daß das Grundrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit vorbehaltlos gewährleistet sei und nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden könne.11 Die Literatur scheint - auf den ersten Blick - denselben Weg einzuschlagen. Nähere Betrachtung zeigt jedoch, daß sich beachtliche Stimmen dafür aussprechen, Art. 4 GG den Schranken des - über Art. 140 GG ins Grundgesetz inkorporierten - Art. 136 Abs. 1 WRV zu unterziehen. 12 Von den Befürwortern dieser Ansicht wird die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV dabei mit der Schranke der „allgemeinen Gesetze" in Art. 5 Abs. 2 GG verglichen. Keine Übereinstimmung besteht hingegen darüber, ob sich die Schranke gleichmäßig auf die Religions- und die Weltanschauungsfreiheit erstreckt und welche Gewährleistungen nur die Ausübung des glaubensgeleiteten Handelns oder auch die Bekenntnisfreiheit - davon im Einzelfall erfaßt werden. Diesen Hintergrund vor Augen geht die vorliegende Arbeit der Frage nach, ob nicht eine eindeutige Abgrenzung der einzelnen Gewährleistungen des Art. 4 GG 9 Näher dazu unten S. 34 ff. 10 Vgl. dazu unten S. 34 ff., 44 ff. Näher dazu unten S. 53 ff. 12 Vgl. dazu unten S. 55 ff. 11

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dem Grundrecht eine präzisere Gestalt zu geben vermag, ohne zugleich den Schutzbereich in übermäßiger Weise zu beschneiden. Auf der Schrankenebene steht die Regelung des Art. 136 Abs. 1 WRV im Zentrum des Interesses. Hier wird zu untersuchen sein, ob und gegebenenfalls in welcher (Wechsel)Beziehung Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 136 Abs. 1 WRV zueinander stehen. In dem Maße, in dem Art. 136 Abs. 1 WRV eine Begrenzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG entnommen werden kann, schließt sich die Frage an, ob die Schranke - dem Wortlaut entsprechend - allein der Religionsausübung gilt oder über deren engeren Bereich hinausreicht. II. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates In engem Zusammenhang mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit steht die staatliche Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität. Hergeleitet wird diese staatliche Verpflichtung aus einer Zusammenschau von verfassungsrechtlichen Vorschriften, die weltanschauliche oder religiöse Fragestellungen zum Gegenstand haben. Genannt werden in Rechtsprechung und Schrifttum üblicherweise die Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 WRV. Im Spannungsfeld zwischen individuellem Freiheitsanspruch in kulturell-religiöser Hinsicht und staatlichen Erziehungsvorgaben im schulischen Bereich kommt der Frage nach Reichweite und Konkretisierung der staatlichen Neutralitätspflicht maßgebende Bedeutung zu. So unumstritten und anerkannt der Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ist, so umstritten ist seine inhaltliche Ausgestaltung. Allgemeines Einvernehmen besteht allein darüber, daß dieser Grundsatz den Staat dazu verpflichtet, den einzelnen aufgrund seiner religiösen oder weltanschaulichen Einstellung weder zu bevorzugen noch zu diskriminieren. In dieser Hinsicht hat der Staat strikte Neutralität zu wahren. Die Einmütigkeit schwindet allerdings, sobald es um die Frage geht, inwieweit der Staat weltanschauliche oder religiöse Elemente in den von ihm gesteuerten Bereich integrieren darf. An dieser Frage gleichsam als Frontlinie entlang haben sich im Laufe der Diskussion zwei Lager gebildet: Eine Minderheit im Schrifttum geht von der grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich aus.13 Von einer grundsätzlichen und nicht strikten Trennung wird gesprochen, da das Grundgesetz ausdrücklich Ausnahmen von diesem Trennungsgebot in Form von Kooperationsmöglichkeiten zwischen den beiden Bereichen vorsieht. Anerkannte Ausnahmen sind jedoch nur die Erteilung von Religionsunterricht an staatlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 GG) und die staatliche Erhebung von Kirchensteuern (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV). Demgegenüber lehnt die Mehrheit des Schrifttums eine derart strenge Trennung der beiden Bereiche mit der Begründung ab, das Grundgesetz gehe von einer Kooperation beider Bereiche aus.14 13 Näher dazu unten S. 58 f.

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Die Auseinandersetzung mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates wird dadurch erschwert, daß die vertretenen Argumentationslinien in enger, kaum zu trennender Verbindung mit bestimmten Staats- und Gesellschaftsbildern sowie entsprechenden Vorverständnissen stehen. Bei der Mehrheit im Schrifttum ist die deutliche Sorge zu spüren, daß die grundsätzliche Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich die vollständige Ausklammerung aller religiösen Elemente aus dem staatlichen Bereich nach sich ziehen würde. Um so mehr stellt sich die Frage, ob und wieweit derartige Befürchtungen begründet sind und nicht durch vielfache Überspitzung der gegnerischen Positionen der Blick für die Realität versperrt wird. Andere Staaten - wie die USA oder auch Frankreich - können als Beispiel dafür angeführt werden, daß trotz eines strikten Trennungsgebots des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich nicht jedes religiöse Element aus dem staatlichen Bereich verbannt werden muß. Dem Staat wird auch dort die Verpflichtung auferlegt, Freiräume für die individuelle Entfaltung der Religionsfreiheit zu sichern und nötigenfalls im Rahmen staatlicher Veranstaltungen zu gewährleisten. Der rechts vergleichenden Perspektive - namentlich dem Vergleich mit den USA - muß vor diesem Hintergrund besondere Aufmerksamkeit gelten.15

III. Der Aufsichtsbegriff Nach wohl herrschender, jedenfalls aber weit verbreiteter Ansicht ergibt sich das Recht des Staates, auf die Erziehung der Schüler Einfluß zu nehmen, aus dem in Art. 7 Abs. 1 GG normierten Grundsatz der staatlichen Schulaufsicht. Er bildet in den hier einschlägigen Konstellationen regelmäßig den Gegenpol zum kulturell-religiös geprägten Freiheitsanspruch von Schülern und Eltern. Im einzelnen ist der Aufsichtsbegriff jedoch Gegenstand umfangreicher Diskussionen. Verkürzt dargestellt stehen zwei Grundpositionen einander gegenüber: Eine Mehrheit im Schrifttum geht in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht von einem weiten Aufsichtsverständnis aus. Danach soll die Aufsicht nicht auf bloße Kontrollbefugnisse im engeren Sinn beschränkt sein, sondern der Exekutive die Befugnis zur umfassenden Gestaltung der inneren Schulangelegenheiten - einschließlich der inhaltlichen Ausgestaltung des Unterrichts - einräumen. 16 Gegen diese weite Interpretation des Aufsichtsbegriffs wendet sich eine Minderheit im Schrifttum. Ihrer Ansicht nach gewährt Art. 7 Abs. 1 GG nur Kontrollbefugnisse, wobei allerdings über die Reichweite dieser Befugnisse verschiedene Auffassungen bestehen.17

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Näher dazu unten S. 59 f. Vgl. dazu unten §§ 7 bis 11. 16 Vgl. zum Begriff der inneren Schulangelegenheiten die Ausführungen S. 67. 17 Näher dazu unten S. 81 ff. 15

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Die bisherige Auslegung des Aufsichtsbegriffs wirft zahlreiche Fragen auf. Die Schwierigkeiten beginnen bereits beim Begriff der „Aufsicht". Der weite und pauschal verwendete Begriff verschleiert bestehende inhaltliche Unterschiede, die bei einer Kontrolle i m eigenen staatlichen und bei der Kontrolle eines fremden Bereichs bestehen. Insofern scheint es zunächst einmal angezeigt, die beiden Kontrollbereiche durch terminologische Differenzierungen voneinander abzugrenzen. Darüber hinaus muß sich zeigen, ob und inwieweit der von der überwiegenden Ansicht konzipierte Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG auf Vorverständnissen beruht, die sich nur aus der historischen Entwicklung des Schulrechts erklären lassen. A u f den ersten Blick wird das weite Aufsichtsrecht des Staates auch unter dem Grundgesetz fortgeführt, obwohl die Fortentwicklung des Grundsatzes vom Gesetzesvorbehalt und der Abschied vom „besonderen Gewaltverhältnis" ein solches weites Verständnis fragwürdig erscheinen lassen. Vor diesem Hintergrund muß es Anliegen der Arbeit sein, die historisch gewachsenen Prämissen des Aufsichtsbegriffs zu hinterfragen und auf ihre Verflechtung mit der Lehre vom „besonderen Gewaltverhältnis" hin zu untersuchen. Daran muß sich die Frage anschließen, inwieweit ein weiter Aufsichtsbegriff mit entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten der Exekutive i m Bereich der inneren Schulangelegenheiten dem Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt entspricht, wie ihn das Bundesverfassungsgericht in seiner Wesentlichkeitsrechtsprechung herausgearbeitet hat. Insgesamt zeigen sowohl das rege Interesse an der Interpretation des Aufsichtsbegriffs als auch die verhärteten Fronten, daß die Auslegung des Begriffs noch eine weitere, über den rechtlichen Bereich hinausgehende Dimension berührt. Letztlich entscheidet die Interpretation des Aufsichtsbegriffs über den Einfluß, der dem Staat über die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts zukommt. Dieser Punkt - die staatliche Kompetenz, Schulinhalte festzulegen - ist nur schwer von der Frage zu trennen, ob und inwieweit der demokratische Verfassungsstaat die Erziehung seiner Bürger beeinflussen darf. Diese Fragestellung beschäftigt nicht nur die Rechtswissenschaft, sondern vor allem die politische Philosophie. Insofern verwundert es nicht, daß sich auch die politische Philosophie i m Rahmen der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte des Themas angenommen hat. W i l l die Arbeit einen Beitrag dazu leisten, Vorverständnisse aufzudecken und ihre Auswirkungen auf die rechtliche Diskussion aufzuzeigen, muß sie sich auch dieser Debatte wid-

C. Rechtsvergleichende Perspektive Die skizzierte Problematik ist keine deutsche Eigenheit, sondern findet sich auch in anderen westlichen Verfassungsstaaten wieder. Aus der Vielzahl an Staaten, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen müssen, sollen die Vereinigten 18

Näher dazu unten §§ 12 bis 14.

Einleitung Staaten aufgrund ihrer Besonderheiten exemplarisch herausgegriffen und zur Grundlage eines Rechts Vergleichs gemacht werden. Kennzeichen der Vereinigten Staaten ist seit jeher die religiöse Vielfalt. Wenngleich sich diese zunächst auf die verschiedensten Ausprägungen der christlichen Religionen beschränkte, kamen aufgrund der fortwährenden Einwanderungsströme zunehmend auch nicht-christliche Religionen in das Land. Die Vereinigten Staaten haben sich daher schon über einen wesentlich längeren Zeitraum hinweg mit den angesprochenen Spannungslagen befassen müssen. Die Arbeit richtet ihren Blick vorrangig auf jene Fallgestaltungen, die in den Vereinigten Staaten bis vor den Supreme Court - das amerikanische Verfassungsgericht - vorgedrungen sind. Es gilt darzustellen, wie das Verfassungsgericht diese Fallgestaltungen handhabt. Dabei erweist es sich als unerläßlich, eine kurze Einführung in das amerikanische Verfassungsrecht vorzunehmen. Erst nachdem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Verfassungssituation - insbesondere die Reichweite der hier einschlägigen Grundrechte und der staatlichen Neutralitätspflicht - näher herausgearbeitet worden sind, ist eine ausreichende Basis für einen Rechtsvergleich vorhanden. Besonderes Augenmerk wird auf die in den Vereinigten Staaten gängige Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich gelegt werden. Aus rechtsvergleichender Perspektive ist hier besonders aufschlußreich, ob die strengere Handhabung des Grundsatzes der strikten Trennung i m Verhältnis von staatlichen Erziehungsvorgaben und individueller weltanschaulich-religiöser Freiheit zu anderen oder mit der Situation in Deutschland vergleichbaren Ergebnissen führt.

D. Zugrundeliegende Fragestellungen der politischen Philosophie Da das Spannungsverhältnis von schulischen Erziehungsvorgaben und individueller Freiheit von folgenreichen Vorverständnissen geprägt ist, liegt eine Einbeziehung der (politisch-)philosophischen Grundlagendiskussion in die Untersuchung nahe. Besonders aufschlußreich ist i m vorliegenden Zusammenhang die seit geraumer Zeit mit erheblichem Aufwand geführte Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte, in deren Zentrum die Frage stand und steht, auf welcher moralischen Grundlage sich eine moderne Gesellschaft konstituiert. 1 9 Die Antworten, die auf diese Frage gegeben werden, haben erhebliche Folgen für den schulischen Bereich. Denn in dem Umfang, in dem der Zusammenhalt der Gesellschaft mit gewissen Gemeinsamkeiten an von allen geteilten moralischen Werten verknüpft wird, liegt es nahe, dem Staat und seinen öffentlichen Schulen zuzugestehen, diese 19 Vgl. zu dieser Debatte zusammenfassend Brumlik/Brunkhorst, Gemeinschaft und Gerechtigkeit; Forst, Kontexte der Gerechtigkeit; Honneth, Kommunitarismus; Kersting, Liberalismus, Kommunitarismus, Republikanismus, in: Apel/Kittner, Diskursethik, 127 ff.; ders., Liberalismus und Kommunitarismus, Information Philosophie 1993, 4 ff.; Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?; ders., Grenzgötter der Moral.

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Werte auch der schulischen Erziehung zugrundezulegen. Vor diesem Hintergrund ist für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse, welche Erkenntnisse sich aus der (politisch-)philosophischen Debatte für die konkrete Frage der staatlichen Wertevermittlung im Rahmen der schulischen Erziehung gewinnen lassen. Dafür ist nicht zuletzt maßgebend, inwieweit die jeweiligen Strömungen eigene Erziehungstheorien ausgebildet haben. Die einzelnen Erziehungsvorstellungen können in der Praxis aber nur insoweit nutzbar gemacht werden, als sie sich mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben der betreffenden Staaten - im vorliegend Zusammenhang mit jenen der Vereinigten Staaten und Deutschlands - vereinbaren lassen. Während in den Vereinigten Staaten keine Verfassungsregelung existiert, die sich explizit mit schulischen Angelegenheiten befaßt, ist in Deutschland mit Art. 7 Abs. 1 GG ein verfassungsrechtlicher Rahmen vorgegeben, der die schulische Erziehung maßgeblich bestimmt. Vor einer Auseinandersetzung mit dieser Bestimmung gilt es jedoch zu klären, ob nicht das Grundgesetz als ganzes ein Wertsystem verkörpert, das den Staat dazu berechtigt, die ihm innewohnenden Werte im Rahmen der schulischen Erziehung zu vermitteln. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, führt auf die in den siebziger Jahren in Deutschland geführte Grundwertediskussion zurück. Im Vordergrund stand seinerzeit die Frage, ob sich die Aufgabe des Staates auf die Aufrechterhaltung eines Minimalkonsenses reduziert und er ansonsten nur die ihm von der Gesellschaft vorgegebenen Werte vermitteln oder ob er darüber hinaus aktiv an der Herstellung eines Grundkonsenses mitwirken darf. Parallelen dieser Diskussion mit der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte liegen nahe und bedürfen näherer Untersuchung. Letztlich werden sowohl die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte als auch die Grundwertediskussion den Hintergrund liefern, um in einem abschließenden Teil die Auseinandersetzung um die Auslegung des Aufsichtsbegriffs in den dafür nötigen Kontext zu stellen.

E. Ziel der Untersuchung Ziel der Arbeit ist es, das Verhältnis von staatlichem Aufsichtsrecht über das Schulwesen, Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Schülern bzw. deren Eltern sowie staatlicher Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität näher in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, inwieweit das öffentliche Schulsystem dem daraus entstehenden Konfliktpotential angemessen Rechnung trägt. Dafür ist in weitem Maße ausschlaggebend, welche Spielräume dem Staat bei der Gestaltung des Schulsystems zustehen. Damit verbunden ist nicht zuletzt die Frage, ob der Staat die inhaltliche Unterrichtsgestaltung, der im Rahmen der schulischen Erziehung elementare Bedeutung zukommt, über die Vorgabe von Bildungszielen und Erziehungszielen in einer pluralistischen Gesellschaft angemessen steuern kann. Der Staat muß - soll die schulische Erziehung die Kinder auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten angemessen vorbereiten - eine Vielzahl unterschiedli-

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eher, oftmals kontroverser Positionen berücksichtigen. Dabei drängt sich die Frage auf, ob er mit dieser Aufgabe in einer zunehmend pluralisierten Gesellschaft nicht überfordert ist und die veränderte Situation nicht nach neuen Möglichkeiten verlangt, um die schulische Erziehung in ausreichendem Maße auf die gesellschaftlichen Gegebenheiten abzustimmen.

F. Gang der Untersuchung Die Untersuchung nimmt ihren Ausgangspunkt in einem ersten Kapitel bei den einschlägigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 7 Abs. 1 GG und das staatliche Gebot zur weltanschaulich-religiösen Neutralität werden näher erörtert, um auf diese Weise die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen abzustecken. Im zweiten Kapitel wird der Blick auf jene Entscheidungen der Rechtsprechung gerichtet, die sich mit dem Konfliktfeld von individueller Religions- und Weltanschauungsfreiheit, staatlichem Erziehungsauftrag und Neutralitätsgebot befassen. Die Darstellung der Rechtsprechung und der darauf Bezug nehmenden Stellungnahmen im Schrifttum dienen nicht nur der Bestandsaufnahme über die relevanten Fallgestaltungen, sondern auch der Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen anhand von Einzelfällen. Das dritte Kapitel eröffnet die rechtsvergleichende Perspektive. Nach kurzer Schilderung der amerikanischen Verfassungslage werden die im Rahmen der vorliegenden Thematik prägnantesten Entscheidungen des Supreme Court dargestellt und auf ihre Lösungsmodelle hin untersucht. Mit dem vierten Kapitel wird die Arbeit um eine politisch-philosophische Komponente erweitert. Im Anschluß an eine kurze Skizze der Grundpositionen der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte und der damit verbundenen Argumentationslinien wird nachgezeichnet werden, wie sich diese Debatte auf die staatliche Befugnis zur Wertevermittlung im schulischen Bereich auswirkt. Darüber hinaus wird untersucht, inwieweit die verschiedenen Positionen der Debatte unter dem vorgegebenen Rahmen des Grundgesetzes bzw. der amerikanischen Verfassung Bestand haben (können). Das fünfte Kapitel setzt sich eingehend mit den verschiedenen, in den vorstehenden Kapiteln herausgearbeiteten Problemstellungen auseinander. An eine ausführliche Auseinandersetzung mit den betroffenen Grundrechten und der staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität schließt sich eine kritische Betrachtung der Rechtsprechung an. Besonderes Augenmerk gilt der Darstellung, inwieweit die Diskussion um den Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG von philosophisch-politischen Vorverständnissen beeinflußt wird. Abschließend richten sich die Überlegungen auf die Frage, ob und gegebenenfalls wie ein pluralistischer Staat angesichts der kulturellen Vielfalt der Gesellschaft überhaupt in der Lage ist,

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die inhaltliche Gestaltung des Schulwesens so zu übernehmen, daß dem Spannungsfeld von staatlichem Aufsichtsrecht über das Schulwesen, individueller Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie staatlicher Neutralitätspflicht angemessen Rechnung getragen wird.

1. Kapitel

Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen Die zum Teil erheblich voneinander abweichenden Lösungsansätze, die bei schulischen Konflikten i m Spannungsfeld von individueller Religions- und Weltanschauungsfreiheit, staatlicher Verpflichtung zu weltanschaulich-religiöser Neutralität und dem Aufsichtsrecht des Staates über das Schulwesen angeboten werden, sind vor allem auf ein unterschiedliches Verständnis der einschlägigen grundgesetzlichen Vorschriften zurückzuführen. Aus diesem Grund soll zunächst ein Überblick über den Meinungsstand der in der Rechtsprechung sowie i m Schrifttum vertretenen Argumente und Positionen gegeben werden. Die Darstellung konzentriert sich hinsichtlich der Rechtsprechung auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Ihnen werden, bezogen auf die relevanten Punkte, die unterschiedlichen Ansätze des Schrifttums gegenübergestellt. Nach näherer Betrachtung wird sich zeigen, daß Ursache der erheblichen Differenzen weniger die Auslegung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als vielmehr das Verständnis des Aufsichtsbegriffs sowie der staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität ist. Gleichwohl befaßt sich die Arbeit zunächst mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Er ist Grundlage der gerichtlichen Entscheidungen, seine Verletzung wird von Seiten der Schüler oder Eltern (gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 6 GG) i m Rahmen der i m zweiten Kapitel näher darzustellenden Fallgestaltungen vorrangig geltend gemacht. Trotz der seit langem gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in den letzten Jahren eine wachsende Unsicherheit i m Umgang mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu verzeichnen. Diese Unsicherheit zeigt sich zunächst i m Zusammenhang mit der hier nicht näher zu behandelnden kollektiven Religionsund Weltanschauungsfreiheit, konkret beim Umgang mit den neu aufgekommenen sogenannten Jugendreligionen und -sekten. 1 Wenngleich die Schwierigkeiten i m Bereich der kollektiven Religionsfreiheit nicht ohne weiteres auf die individuelle Seite durchschlagen, zeigen die neueren gerichtlichen Entscheidungen klar an, daß sich auch i m Bereich der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit zunehmend erhebliche Probleme stellen. Sie betreffen vor allem die Frage, inwieweit sich bestimmte Forderungen tatsächlich aus einer Religion oder Weltanschauung ergeben und in welchem Umfang sie überhaupt schützenswert sind. Die immer sichtbarer werdenden Schwierigkeiten auch i m Umgang mit der individuellen 1 Vgl. dazu beispielhaft die Ausführungen von Alberts, NVwZ 1994, 1150 ff.; v. Campenhausen, ZevKR 25 (1980), 135 ff.; Müller-Volbehr, JZ 1981, 41 ff.; ders ., Essener Gespräche 19 (1985), 111 ff.; Schatzschneider, BayVBl. 1985, 321 ff.; Scholz, NVwZ 1992, 1152 ff.

3 Rathke

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Religions- und Weltanschauungsfreiheit legen eine Betrachtung des gegenwärtigen Meinungsstandes nahe.2

§ 1 Die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) Im Vordergrund der Betrachtung steht die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit, da im schulischen Bereich - abgesehen vom Religionsunterricht - bislang nur sie Bedeutung erlangt und in Konflikt mit den staatlichen Erziehungsvorgaben gerät.3 Der Schwerpunkt liegt auf dem nach außen tretenden weltanschaulich bzw. religiös geprägten Handeln. Denn die ganz überwiegende Zahl der Konflikte entsteht erst, wenn die weltanschaulich bzw. religiös geprägten Ansichten über das forum internum hinaus in den gesellschaftlichen oder staatlichen Bereich gelangen. Die Konfliktdichte nimmt mit zunehmendem Kontakt zur Außenwelt kontinuierlich zu.4

A. Schutzbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit Der Bestimmung des Schutzbereichs kommt auch bei Art. 4 Abs. 1 und 2 GG entscheidende Bedeutung zu. Hier wird festgelegt, inwieweit sich der einzelne überhaupt auf das Grundrecht berufen kann und welche Handlungen verfassungsrechtlichen Schutz genießen. Auf den ersten Blick erscheint die Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als vergleichsweise unproblematisch. Das Schrifttum vermittelt den Eindruck, als ob der vom Bundesverfassungsgericht vorgezeichnete, sogleich näher zu beschreibende Weg auf allseitige Anerkennung stieße. Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser erste Eindruck jedoch als trügerisch. Wenngleich große Teile des Schrifttums im Ergebnis der Ansicht des Bun2

An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß sich das erste Kapitel auf die Darstellung der verschiedenen Meinungen beschränkt. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den einzelnen Positionen erfolgt erst im abschließenden fünften Kapitel, S. 263 ff. 3 Dennoch werden im Rahmen der Schutzbereichsdarstellung wiederholt Aussagen des Bundesverfassungsgerichts herangezogen werden, die aus Entscheidungen zur kollektiven Religions- und Weltanschauungsfreiheit stammen. Aufgrund des einheitlichen Schutzumfangs der individuellen und der kollektiven Religions- und Weltanschauungsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist eine derartige Übertragung möglich und unbedenklich. Abweichungen zwischen der individuellen und der kollektiven Religions- und Weltanschauungsfreiheit bestehen nur auf der Schrankenebene. Dort unterliegt die kollektive Religionsausübung - aufgrund der über Art. 140 GG inkorporierten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung - ausdrücklichen Beschränkungen. 4 So auch Fehlau, JuS 1993, 441 (442); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 8; Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301 (306).

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

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desVerfassungsgerichts folgen, ist das Schrifttum in sich weit weniger geschlossen, als es zunächst den Anschein hat. Differenzen ergeben sich vor allem aufgrund von Vorverständnissen, die an Art. 4 GG herangetragen werden und sich nicht selten bis in dogmatische Feinheiten hinein auswirken. Bei Inkrafttreten des Grundgesetzes zeichnete sich die Gesellschaft der Bundesrepublik durch eine relative Homogenität aus. Im religiösen Bereich bekannte sich die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zum Christentum.5 Wenngleich sich auch heute noch zahlreiche Menschen dem Christentum zugehörig fühlen, hat die religiöse und kulturelle Vielfalt in der Bundesrepublik - bedingt durch die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturkreisen und das Aufkommen von Sekten - stark zugenommen. Angesichts dieser Änderungen ist fraglich und umstritten, welche dieser Gruppierungen überhaupt als Religion bzw. Weltanschauung einzustufen und ob und in welchem Umfang sie in den Schutz des Art. 4 GG einzubeziehen sind. Klare und eindeutige Antworten auf diese Frage sind nur schwer zu geben, da sich die Rechtsprechung zumeist nur knapp und das Schrifttum nur sporadisch und an versteckter Stelle mit der Frage beschäftigen, was überhaupt eine Religion oder Weltanschauung kennzeichnet.6 Auf diesen Punkt wird daher zunächst einzugehen sein, bevor die Auffassungen zum Schutzumfang der einzelnen Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in den Blick genommen werden.

I. Eingrenzung der Begriffe Religion und Weltanschauung Die geringe Beachtung, die der Definition des Religions- und Weltanschauungsbegriffs in Rechtsprechung und Literatur zuteil wird, zeigt sich bereits in der Kürze, mit der die Begriffe abgehandelt werden. Dem Religionsbegriff werden im Regelfall kaum mehr als zwei Sätze gewidmet. Etwas umfangreicher fällt allein die Auseinandersetzung mit dem Weltanschauungsbegriff aus, wobei innerhalb des Schrifttums leicht voneinander abweichende Stimmen zu verzeichnen sind.

7. Der Religions- und Weltanschauungsbegriff in der Rechtsprechung

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts definiert den Religionsund Weltanschauungsbegriff regelmäßig in einem Atemzug. Sie setzt die beiden Begriffe zueinander ins Verhältnis und versucht sie durch das Aufzeigen von Gemeinsamkeiten und Differenzen näher zu umschreiben. Unter Religion und Welt5 v. Campenhausen, ZevKR 25 (1980) 135; Müller-Volbehr, 1994,488 f. 6

ZRP 1991, 345; Renck, KJ

Eine ausführlichere Auseinandersetzung findet sich lediglich bei Bleckmann, Staatsrecht II, § 25 Rdnr. 10 ff. sowie bei Fleischer, Religionsbegriff, S. 1 ff. 3*

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

anschauung versteht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine mit der Person des Menschen verbundene Gewißheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel menschlichen Lebens. Während sich die Weltanschauung auf innerweltliche - „immanente" - Bezüge beschränken soll, liegt der Religion nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts eine den Menschen überschreitende und umgreifende - „transzendente" - Wirklichkeit zugrunde.7

2. Der Religionsbegriff

im Schrifttum

Im Schrifttum wird eine Religion regelmäßig dann angenommen, wenn ein Gedankensystem eine transzendente Komponente aufweist. Das soll insbesondere dann der Fall sein, wenn das System einen überweltlichen Bezug besitzt und nicht bis in alle Einzelheiten hinein dem Beweis zugänglich ist. 8 Teilweise wird einschränkend eine Gottesvorstellung gefordert. 9 Wie in der Rechtsprechung sind die Aussagen zum Religionsbegriff auch im Schrifttum ausgesprochen allgemein und vage gehalten.

3. Der Weltanschauungsbegriff

im Schrifttum

Unter einer Weltanschauung werden im Schrifttum übereinstimmend nichtreligiöse Gedankensysteme verstanden, die sich auf die Welt als Ganze beziehen, d. h. ein umfassendes Konzept zur Weltsicht bieten, ohne auf ein Gottesbild, das Jenseits oder Elemente der Transzendenz zurückzugreifen. 10 Dieser sehr weite Begriff der Weltanschauung führt dazu, daß neben sämtlichen auf das Weltganze bezogenen Philosophien auch wissenschaftliche Erklärungen und Erforschungen, die auf das Weltganze ausgerichtet sind, unter den Schutz der Weltanschauung gestellt werden. 11 Als Beispiel für eine als Weltanschauung einzustufende Philosophie, die diesen Anforderungen entspricht, wird standardmäßig der Marxismus genannt.12 Mit großer Regelmäßigkeit wird zugleich darauf verwiesen, daß sich das Bundes7 BVerfGE 32, 98 (107); 90, 112 (115); vgl. auch BVerwGE 37, 344 (363); 61, 152 (156); BAG NJW 1996, 143(146). 8 Vgl. u. a. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 66; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 17; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 19; Preuß, in: AlternativKommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 15. 9 So beispielsweise von Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 66. 10 Vgl. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 18; v. Münch, in: v. Münch /Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 35; Preuß, in: Alternati v-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 94. 11 Diese Konsequenz zieht insbesondere Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14. 12 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67; Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 18.

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

37

Verfassungsgericht der Einordnung des Marxismus als Weltanschauung ausdrücklich angeschlossen habe.13 Anschauliche Beispiele für die als Weltanschauung zu qualifizierenden wissenschaftlichen Erkenntnisse liefert Preuß, der darauf hinweist, daß unter anderem der Darwinismus, die Psychoanalyse, die ökonomische Theorie des Ordoliberalismus und der Keynesianismus die entsprechenden Anforderungen erfüllen. 14 Bleckmann geht noch einen Schritt weiter und beschränkt die Weltanschauungsfreiheit nicht auf den Schutz der Gedankensysteme als solche, sondern weitet ihn auf jede daraus resultierende Einzelaussage aus.15 Nicht alle Autoren bleiben jedoch bei dieser sehr weit gefaßten Definition der Weltanschauung stehen. Einige Autoren vermitteln den Eindruck, als ob ihnen die Vielzahl an Gedankensystemen, die bei alleiniger Anwendung der skizzierten Definition als Weltanschauung zu qualifizieren wären, nicht ganz geheuer seien. Einen zaghaften Eingrenzungsversuch unternimmt Kokott, die nur jene Gedankensysteme als Weltanschauung einstufen will, die eine wertende Stellungnahme zum Weltganzen enthalten.16 Danach genießen rein beschreibende Stellungnahmen zur Welt nicht den Schutz der Weltanschauung, so daß namentlich die auf das Weltganze bezogenen wissenschaftlichen Erklärungen wegen ihres bloß beschreibenden Charakters und der fehlenden weitenden Aspekte nicht als Weltanschauung anzusehen wären. Einen ähnlichen Weg scheint Bleckmann einzuschlagen, dessen Darstellung jedoch nicht eindeutig zu entnehmen ist, ob neben einer wertenden Stellungnahme zum Weltganzen zusätzlich gefordert wird, daß sich daraus bestimmte Verhaltensanforderungen ergeben. 17 Dies hätte zur Folge, daß im Regelfall nur noch Philosophien mit moralischen oder ethischen Aussagegehalten in den Bereich der Weltanschauungen fielen. Das geforderte Zusatzelement wird freilich im selben Atemzug dadurch entwertet, daß eine Weltanschauung bereits dann angenommen werden soll, wenn nur eines der beiden Elemente vorliegt. 18 Demgegenüber nimmt Herzog in zweifacher Hinsicht eine Einschränkung der weiten 13 BVerfGE 25, 230 (233 f.). Das Bundesverfassungsgericht führt dort aus: „Die Strafbarkeit des § 129 StGB wird nicht wegen einer bestimmten politischen Anschauung [gemeint ist hier die marxistische] bejaht ( . . . ) ; auch wird nicht die weltanschauliche Überzeugung als solche, sondern die Beeinträchtigung erheblicher Gemeinschaftswerte und Rechtsgüter für strafbar gehalten." Die Aussagekraft dieser Entscheidung darf jedoch nicht überschätzt werden. Die Entscheidung befaßt sich keineswegs ausschließlich mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Diese werden im Gegenteil im Rahmen einer Vielzahl von als verletzt gerügten grundgesetzlichen Garantien angesprochen, um sogleich kurz und prägnant für nicht einschlägig erklärt zu werden. Aus diesem Kontext heraus erscheint es zweifelhaft, ob sich das Verfassungsgericht tatsächlich hinreichend intensiv mit der Frage auseinandergesetzt hat, ob und inwieweit der Marxismus als Weltanschauung betrachtet werden kann, um daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, das Gericht habe der Qualifizierung des Marxismus als Weltanschauung ausdrücklich zugestimmt. 14

Preuß, in: Aiternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14. 15 Bleckmann, Staatsrecht II, § 25 Rdnr. 23. 16 Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 18. 17 Bleckmann, Staatsrecht II, § 25 Rdnr. 20 ff. is Bleckmann, Staatsrecht II, § 25 Rdnr. 22.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Definition der Weltanschauung vor: 19 Zum einen werden nur die Gedankensysteme als Weltanschauung anerkannt, die neben der Ausrichtung auf die Welt als Ganzes einen metaphysischen Bezug aufweisen. Zum anderen soll die Weltanschauung eine ähnliche Breite und Geschlossenheit aufweisen müssen wie die im abendländischen Kulturkreis anerkannten Religionen.20

II. Umfang der einzelnen Gewährleistungen Einigkeit besteht in Rechtsprechung und Schrifttum insoweit, als nicht jede glaubens- bzw. religiös geleitete Handlung vom Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfaßt werden soll. Zur Begründung wird vor allem angeführt, daß die Garantie der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ansonsten zu einem zweiten Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit verkäme - mit dem einzigen, aber überaus entscheidenden Unterschied, keiner ausdrücklichen Schrankenregelung zu unterliegen. 21 Über die Art und Weise einer Beschränkung der Gewährleistungen des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bestehen im einzelnen jedoch erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Das dargebotene Spektrum an vorgeschlagenen Beschränkungsmöglichkeiten läßt grob gesagt zwei Richtungen erkennen: Zum einen den Versuch einer restriktiven Interpretation des Schutzbereichs, zum anderen die Begrenzung des weit verstandenen Schutzbereichs auf der Schrankenebene. Die folgende Darstellung unterscheidet zwischen den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts und jenen des Schrifttums.

1. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

a) Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als einheitlicher Schutzbereich Der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird erst verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß das Verfassungsgericht die ersten beiden Absätze des Art. 4 GG als einheitliches Grundrecht begreift. In der sog. Rumpelkammer-Entscheidung führt das Gericht aus, daß die im zweiten Absatz verankerte Freiheit der ungestörten Religionsausübung im Begriff der - im ersten Absatz niedergelegten - Glaubens- und Bekenntnisfreiheit enthalten sei. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts dient die besondere Hervorhebung der ungestörten Religionsausübung lediglich der Klarstellung in Reaktion auf die negativen Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus. 22 Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts läßt freilich nicht erkennen, in 19 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67. In diesem Sinne auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 18. 2 1 Zur Frage ob und inwieweit auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG die Schranke des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV Anwendung findet, unten S. 51 f., 55 f. 20

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

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welchem Verhältnis die beiden Garantien des ersten Absatzes - die Glaubens- und die Bekenntnisfreiheit - zueinander stehen. Eine Gesamtbetrachtung der einschlägigen Entscheidungen zeigt jedoch, daß das Verfassungsgericht auch diese beiden Garantien nicht voneinander abgrenzt, sondern sie ebenfalls als Einheit betrachtet. 23 Die einheitliche Betrachtung der beiden Absätze dient dem Bundesverfassungsgericht vor allem dazu, vermeintlich bestehende Schutzlücken zu schließen. Ausgangspunkt des Gerichts ist die Vorstellung, daß im Bereich der Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit - auch wenn letztere als eigenständiges Grundrecht behandelt wird - ein übereinstimmender Schutzstandard gewährt werden müsse. Dieses Ziel scheint dem Verfassungsgericht bei getrennter Betrachtung der einzelnen Gewährleistungen nicht erreichbar zu sein. Offenbar geht das Gericht von der Annahme aus, daß sich die Glaubensfreiheit - der bisherigen Tradition entsprechend - nur auf den religiösen Glauben bezieht, nicht hingegen das Bilden und Innehaben einer Weltanschauung gewährleistet. Die Bekenntnisfreiheit soll zwar gleichermaßen religiöse wie weltanschauliche Äußerungen , nicht aber Gewissensäußerungen garantieren. Da sich der zweite Absatz von Art. 4 GG wiederum dem Wortlaut nach nur auf die Religionsausübung bezieht, müßten sowohl das weltanschauliche als auch das gewissensgeleitete Handeln schutzlos bleiben. Neben diesen als positive Freiheiten bezeichneten Rechten schützt Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nach allgemeiner Ansicht auch deren negative Seite. Für die Religionsund Weltanschauungsfreiheit bedeutet dies, daß der einzelne auch das Recht besitzt, keine Religion oder Weltanschauung zu haben, seine religiösen und weltanschaulichen Ansichten nicht zu äußern und nicht an einer religiösen bzw. weltanschaulich geleiteten Übung teilnehmen zu müssen.24

b) Weites Schutzbereichsverständnis von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Die bereits erwähnte Rumpelkammer-Entscheidung25 erweist sich - neben der Zusammenfassung der Gewährleistungen der Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu einer Einheit - noch in einem weiteren Punkt als richtungweisend. Sie legt das Fundament 22

BVerfGE 24, 236 (245): „Die besondere Gewährleistung der gegen Eingriffe und Angriffe des Staates geschützten Religionsausübung in Art. 4 Abs. 2 GG erklärt sich historisch aus der Vorstellung eines besonderen exercitium religionis, insbesondere aber aus der Abwehrhaltung gegenüber den Störungen der Religionsausübung unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft". 2 3 BVerGE 32, 98 (106 f.); 69, 1 (33 f.). 24 BVerfGE 41, 29 (49); 52, 223 (241); 93, 1 (10 f.). Ein Teilbereich der negativen Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist in Art. 136 Abs. 3 S. 1, Abs. 4 und Art. 141 WRV normiert. 2

5 BVerfGE 24, 236 (245 f.).

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

für die seither vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung vertretene weite Interpretation des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Dieser soll sich nicht allein auf glaubensbezogene Handlungen i m engeren Sinne und damit nicht nur darauf beschränken, eine Religion oder Weltanschauung zu bilden, zu haben, zu äußern und auszuüben. Erfaßt sein soll insgesamt das Recht, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln". 2 6 Danach sollen beispielsweise auch die Propaganda und das Werben für den eigenen Glauben vom Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfaßt sein. 2 7 Begünstigend wirkt sich für die extensive Schutzbereichsauslegung aus, daß das Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung, welche Handlungen religiös oder weltanschaulich motiviert sind, das Selbstverständnis der jeweiligen Religionsoder Weltanschauungsgemeinschaft in die Betrachtung einbezieht. 28 Für sich genommen können die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, allerdings auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Berufung auf die Freiheitsgewährleistung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht rechtfertigen. Hinzu kommen muß vielmehr, daß es sich auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion bzw. Religionsgemeinschaft handelt. 2 9 Bei der Klärung dieser Frage sollen die Gerichte keine freie Bestimmungsmacht ausüben, sondern den von der Verfassung gemeinten oder vorausgesetzten, dem Sinn und Zweck der grundrechtlichen Verbürgung entsprechenden Begriff der Religion zugrunde legen. Daß dafür wiederum die aktuelle Lebens Wirklichkeit, Kulturtradition sowie das allgemeine und religionswissenschaftliche Verständnis eine Rolle spielen sollen, deutet jedoch erneut auf ein tendenziell weites Schutzbereichsverständnis hin.

c) Versuche einer Schutzbereichsbegrenzung In einigen frühen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich das Bestreben, die Berufung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bereits auf Schutzbereichsebene zu begrenzen. 30 Die Beschränkung von Grundrechten auf der Ebene des Schutzbereichs birgt jedoch insoweit beträchtliche Gefahren in sich, als eine solche Vorgehensweise nur zwei Varianten kennt: die Einbeziehung in oder die Ausgrenzung aus dem Schutzbereich. Wird ein Lebensbereich aus dem Schutzbereich ausgegrenzt, wird die Freiheit begrifflich und absolut beschränkt. Wird der ge26 27 28 29 30

BVerfGE 32, 98 (106); 33, 23 (28); 41, 29 (49). BVerfGE 12, 1 (3 f.); 24, 236 (245). BVerfGE 24, 236 (245). BVerfGE 83, 341 (353); BVerfG NVwZ 1993, 357 (358). Vgl. dazu nur BVerfGE 12, 1 (4) und BVerfGE 24, 236 (246).

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

41

schützte Lebensbereich dabei definitorisch bestimmt, werden die nach Zweck und Mittel mit Argumenten i m einzelnen darzulegenden und zu legitimierenden Schranken der Freiheit durch eine - regelmäßig wesentlich geringeren Begründungsanforderungen unterliegende - Definition der Freiheit verdrängt. Demgegenüber sind auf Schrankenebene Feinabstimmungen möglich. Hier steht der jeweilige Sachverhalt i m Vordergrund, so daß eine dem Einzelfall angemessene Lösung gefunden werden kann. Was in dem einen Fall noch als verhältnismäßiger Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts gilt, kann i m nächsten Fall aufgrund veränderter Rahmenbedingungen bereits unverhältnismäßig sein. Ist die Maßnahme hier noch geeignet oder erforderlich, ist sie es dort schon nicht mehr. Aus diesen Gründen ist eine Beschränkung erst auf Schrankenebene in aller Regel vorzuziehen. 3 1 Diesen Weg hat in neuerer Zeit auch das Bundesverfassungsgericht eingeschlagen. Gleichwohl sollen zunächst die früheren Begrenzungsversuche des Verfassungsgerichts auf Schutzbereichsebene skizziert werden, da diese sich - in unterschiedlichen Varianten - i m Schrifttum wiederfinden. Anknüpfungspunkt für die Beschränkungen ist naturgemäß nur das forum externum, das die weltanschaulich oder religiös motivierten Aktivitäten umfaßt.

aa) Die Bezugnahme auf historische (sog. Kulturadäquanzklausel )

Gegebenheiten

In seiner frühen Rechtsprechung versucht das Bundesverfassungsgericht, die Weite des Schutzbereichs der Religions- und Weltanschauungsfreiheit durch den Verweis auf die historischen Gegebenheiten zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes zu beschränken. In der später mit der Bezeichnung „Kulturadäquanzklausel" versehenen Passage führt das Verfassungsgericht aus, daß das Grundgesetz nicht jede glaubensgeleitete Handlung schützen wolle, sondern „nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf den Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet h a t " . 3 2 Eine ähnliche Aussage findet sich später in der schon vorstehend erwähnten Rumpelkammer-Entscheidung, in der das Bundesverfassungsgericht - bezogen auf Religionsgemeinschaften - ausführt, diese seien nur vom Schutz des Art. 4 GG erfaßt, solange sich ihre Betätigungen „ i m Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker" halten. 3 3 Allerdings kam es in keiner der beiden Entscheidungen darauf an, ob sich die betreffenden Handlungen noch innerhalb der „gemeinsamen sittlichen Grundanschauungen" der heutigen Kulturvölker hielten, so daß das Kriterium bislang keine inhaltliche Konkretisierung erfahren hat. Welchen Inhalt die „gemeinsamen 31 Für eine Begrenzung der Grundrechte auf Schrankenebene auch Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 45; Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301 (305); Starck , in: v. Mangoldt/ Klein /Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 7,45. 32 BVerfGE 12, 1 (4). 33 BVerfGE 24, 236 (246).

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

sittlichen Grundanschauungen" der heutigen Kulturvölker nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts i m einzelnen aufweisen, ist daher offen geblieben. Die praktische Tauglichkeit der Kulturadäquanzklausel ist als überaus gering einzuschätzen. Angesichts der Vielfalt der existierenden Kulturvölker mit zum Teil stark voneinander abweichenden Menschenbildern dürfte es kaum gelingen, größere Übereinstimmungen bzw. Gemeinsamkeiten festzustellen. Legte man Art. 4 Abs. 1 und 2 GG allein die eventuell verbleibenden marginalen Übereinstimmungen zugrunde, hätte dies die faktische Aushöhlung des Schutzbereichs zur Folge. Offenbar hat das Bundesverfassungsgericht die Schwäche der Kulturadäquanzklausel selbst erkannt. Fest steht, daß die in späteren Entscheidungen getroffenen Aussagen mit der Klausel nicht mehr zu vereinbaren sind und sich das Gericht - wenn auch nicht ausdrücklich, so doch zumindest konkludent - von der Formel verabschiedet hat. Der Eindruck einer Kehrtwende wird dadurch verstärkt, daß das Bundesverfassungsgericht in seiner späteren Rechtsprechung betont, dem Grundgesetz liege kein bestimmter, auf den status quo einer bestimmten geschichtlichen Situation bezogener „ethischer Standard" zugrunde. Das Grundgesetz soll sich i m Gegenteil gerade durch seine Offenheit gegenüber allen weltanschaulichen und religiösen Ansichten auszeichnen. Nach Ansicht des Gerichts spiegeln sich in dieser Offenheit die Würde des Menschen, das Recht zur eigenverantwortlichen und freien Entfaltung der Persönlichkeit und nicht zuletzt die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates wider. 3 4 Indem das Verständnis des Art. 4 GG nicht auf einen bestimmten historischen Moment fixiert wird, tritt die Zukunftsoffenheit des Grundrechts umso deutlicher hervor. 3 5 Dies entspricht einem Konzept der Grundrechte, das die Einbeziehung neuer gesellschaftlicher Entwicklungen in den jeweiligen Schutz ermöglicht. Zu Recht hebt das Verfassungsgericht hervor, daß nur bei Wahrung dieser Offenheit der staatlichen Verpflichtung zu weltanschaulich-religiöser Neutralität Rechnung getragen werden könne. 3 6 Ließe der Staat nur jenen religiösen und weltanschaulichen Ausrichtungen Schutz zukommen, die bestimmten, sich aus einer geschichtlichen Situation ergebenden Anforderungen genügen, diskriminierte er die neu aufkommenden Religionen und Weltanschauungen gegenüber den althergebrachten. 37 Damit verließe der Staat seinen neutralen Standpunkt und bezöge unzulässigerweise Position gegen neue Erscheinungen. 34 BVerfGE 41, 29 (50): „Das Grundgesetz legt auch nicht etwa einen »ethischen Standard' im Sinne eines Bestandes von bestimmten weltanschaulichen Prinzipien fest, etwa nach den Maximen, die sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet haben ( . . . ) . Der »ethische Standard4 des Grundgesetzes ist vielmehr die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Menschenbildes, das die Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt. In dieser Offenheit bewährt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität." 35 Die Annahme einer Kulturadäquanzklausel brächte demgegenüber ein eher statisches Schutzbereichsverständnis mit sich. 36 Näher zur staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität unten S. 57 ff.

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit bb) Differenzierung

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nach der Art der religiösen Betätigung

Ein weiterer Ansatz in der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die Weite des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu begrenzen, findet sich in dem Bemühen, von vornherein jene Betätigungen aus dem Schutzbereich auszuklammern, die - wie z. B. die Anmietung von Räumlichkeiten zwecks Abhaltung kultischer Handlungen - zwar mittelbar der Verwirklichung des glaubensgeleiteten Handelns dienen, selbst jedoch einen „religionsneutralen Vorgang" darstellen. 38 Durch diese Differenzierung sollte verhindert werden, faktisch allen Handlungen, die nur i m entferntesten Sinn glaubensgeleitet sind, den Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zuteil werden zu lassen. Zugleich sollte damit der Gefahr vorgebeugt werden, das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu einem zweiten Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit verkommen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat von diesem Eingrenzungsversuch jedoch - zumindest indirekt - ebenfalls Abstand genommen und den Schutzbereich wieder weiter gefaßt. Seit der Rumpelkammer-Entscheidung 39 hat sich das Verfassungsgericht wiederholt dafür ausgesprochen, daß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht nur die glaubensbezogenen Handlungen i m engeren Sinne schützt, sondern dem einzelnen das Recht gewährt, sein gesamtes Verhalten gemäß den Grundsätzen seines Glaubens auszurichten und dementsprechend zu handeln. 4 0 Folglich bezieht das Verfassungsgericht seither in ständiger Rechtsprechung auch solche Handlungen in den Schutzbereich ein, die an sich religionsneutral sind, d. h. zwar der Verwirklichung einer Glaubensüberzeugung dienen, ebenso aber ohne dahinterstehende religiöse oder weltanschauliche Motivation ausgeführt werden können. 4 1 Verhalten, das nur bei Gelegenheit religiöser oder weltanschaulicher Handlungen i m äußeren Zusammenhang mit ihnen - stattfindet, soll demgegenüber nicht geschützt sein 4 2 In diesem Kriterium wird offenbar auch die entscheidende Abgrenzung zur allgemeinen Handlungsfreiheit gesehen.

cc) Verschärfung

der Beweisanforderungen

Eine nur indirekte Beschränkung des Schutzbereichs der Religions- und Weltanschauungsfreiheit stellt der später vom Bundesverfassungsgericht eingeschlagene und auch heute noch beschrittene Weg dar. Es geht dabei nicht i m eigentlichen Sinne um eine Verkürzung des Schutzbereichs, sondern um eine Beschränkung der Möglichkeit, diesen Schutz in Anspruch zu nehmen. Für die Geltendmachung des Grundrechts der Religions- und Weltanschauungsfreiheit reicht nach Ansicht des 37

Diesen Aspekt arbeitet insbesondere Fehlau (JuS 1993,441 [443]) prägnant heraus. 38 BVerfGE 19, 129(133). 3 9 BVerfGE 24, 236 ff. 40 BVerfGE 32, 98 (106); 41, 29 (49). 41

Dazu auch v. Campenhausen, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, § 136 Rdnr. 71. 42 BVerfGE 17, 302 (305); 19, 129 (133).

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Verfassungsgerichts die bloße Behauptung, daß ein Verhalten einer religiösen oder weltanschaulichen Motivation entspringt, nicht aus. Es ist vielmehr glaubhaft zu machen, daß das Verhalten einer derartigen Quelle entspringt. 43 Diese verschärften Anforderungen an die Plausibilität des geltend gemachten glaubensgeleiteten und verpflichtenden Handelns verfolgen erkennbar das Ziel, der Gefahr einer zu extensiven Interpretation und damit einhergehenden Konturlosigkeit des Schutzbereichs zu begegnen.

d) Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht von den ersten Versuchen, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bereits auf Schutzbereichsebene zu begrenzen, in späteren Entscheidungen - zumindest konkludent - Abschied genommen hat. Geblieben ist einzig und allein das Bestreben, mittelbar über die Verschärfung der Beweisanforderungen - von der bloßen Behauptung hin zur Glaubhaftmachung - auf den Umfang der Inanspruchnahme von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Einfluß zu nehmen. Insgesamt haben sich die Eingrenzungsbestrebungen des Bundesverfassungsgerichts zunehmend auf die Schrankenebene verlagert. 4 4

2. Umfang der Gewährleistungen

im Schrifttum

a) Schutzbereichsverständnis Große Teile des Schrifttums folgen i m Grundsatz dem einheitlichen Schutzbereichsverständnis des Bundesverfassungsgerichts. Teilweise wird schlichtweg auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwiesen. Die Mehrheit der Autoren setzt sich jedoch eingehender mit der Frage auseinander, in welchem Verhältnis die einzelnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Garantien zueinander stehen. Dabei lassen sich unterschiedliche Konzeptionen nachzeichnen: aa) Die Glaubensfreiheit

als allumfassende Garantie

Der wohl überwiegende Teil des Schrifttums betrachtet die Glaubensfreiheit als die alle anderen Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfassende „Obergarantie". Danach reduziert sich die Glaubensfreiheit nicht auf das forum internum, auf das bloße Bilden und Innehaben einer Religion oder Weltanschauung, sondern gewährleistet darüber hinaus sowohl die Verkündung des Bekenntnisses als auch das religiös- bzw. weltanschaulich geleitete Handeln. 4 5 Anlaß für ein derart weites Ver43 BVerfGE 34, 165 (195); 47, 327 (385); 50, 256 (262); BVerfG NJW 1993, 455. 44

Siehe dazu die Ausführungen unten S. 50 ff. So unter anderem Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 4 Rdnr. 7 m.w.N; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 22 m. w. N. 45

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

45

ständnis der Glaubensfreiheit dürfte insbesondere die Erwägung sein, auf diesem Wege ohne weitere Schwierigkeiten einen einheitlichen Schutzumfang für die Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit begründen zu können. Konsequenz dieser Auffassung ist - wie Zippelius treffend hervorhebt - , daß der Bekenntnis- und Ausübungsfreiheit nur noch deklaratorischer Charakter zukommt. 4 6

bb) Weitergehende Differenzierung den einzelnen Garantien

zwischen

Anderen Stimmen in der Literatur geht die pauschale Herleitung der individuellen Garantien aus einer allgemeinen Glaubensfreiheit zu weit. Der von ihnen favorisierte Ansatz zeichnet sich durch eine unterschiedlich weitgehende Differenzierung zwischen den einzelnen Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aus. So weicht beispielsweise Starck insoweit geringfügig von der herrschenden Ansicht ab, als er die Glaubensfreiheit auf die Garantie des forum internum beschränkt. Erfaßt sein soll nur die Freiheit, einen Glauben zu bilden und zu haben. Entgegen dem historischen Verständnis des Glaubensbegriffs, das mit dem Glauben nur den religiösen Glauben verbindet, bezieht Starck allerdings - ohne weitergehenden Argumentationsaufwand - den weltanschaulichen Glauben in die Glaubensfreiheit ein 4 7 Die Bekenntnisfreiheit reduziert er nicht - wie es sich angesichts des Wortes „Bekennen" vermuten ließe - auf das bloße Verkünden der weltanschaulichen oder religiösen Ansichten, sondern entnimmt ihr auch die Gewährleistung des weltanschaulich bzw. religiös geleiteten Handelns 4 8 Grund für diese weite Auslegung der Bekenntnisfreiheit dürfte die Befürchtung sein, daß das weltanschaulich geleitete Handeln angesichts der Beschränkung der Ausübungsfreiheit auf die Religionsausübung ansonsten schutzlos bliebe. Läßt sich bei Starck bereits ein erster Ansatz zur Differenzierung zwischen den einzelnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG niedergelegten Garantien entnehmen, zeichnen sich andere Autoren durch das weitergehende Bestreben aus, den einzelnen Freiheiten einen eigenständigen Schutzbereich zuzuerkennen. Einen ähnlichen, in der Argumentation jedoch weiter ausdifferenzierten Weg als Starck beschreitet Herzog, ohne dabei i m Ergebnis zu einem von der Rechtsprechung und der herrschenden Ansicht i m Schrifttum abweichenden Schutzumfang zu gelangen. In Übereinstimmung mit Starck beschränkt Herzog die Glaubensfreiheit auf das forum internum 4 9 Auch bei ihm umfaßt der Glaubensbegriff den religiösen und den weltanschaulichen Glauben. Diesen Zuschnitt des Glaubensbegriffs gewinnt Herzog durch Bezugnahme auf den Gewährleistungsumfang der Bekenntnisfreiheit, die sich von ihrem Wortlaut her sowohl auf das religiöse als auch auf das weltan46

Zippelius , in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 44. ? Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 3. 4 » Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 4. 49 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 66. 4

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

schauliche Bekenntnis bezieht. Da nach Ansicht Herzogs das Bekennen einer Religion oder Weltanschauung zwingend deren vorherige Bildung voraussetzt, soll sich der Glaubensbegriff nicht allein auf den religiösen Glauben beziehen können, sondern darüber hinaus auch den weltanschaulichen Glauben einbeziehen müssen. 5 0 Die in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Bekenntnisfreiheit umfaßt nach Herzog nur die Verkündung des religiösen oder weltanschaulichen Glaubens. Insofern soll die Bekenntnisfreiheit nur eine von Art. 5 Abs. 1 GG verselbständigte Form der Kommunikation darstellen. 51 Zwar schließt es Herzog nicht grundsätzlich aus, der Bekenntnisfreiheit auch das Recht zum bekenntnisgeleiteten Handeln zu entnehmen, doch hält er eine derartige Herleitung angesichts der ausdrücklichen Absicherung der Religionsausübung i m zweiten Absatz von Art. 4 GG nicht für angezeigt. Unklar bleibt in der Konzeption Herzogs, ob - mangels expliziter Regelung der Weltanschauungsausübung - das Recht zum bekenntnisgeleiteten Handeln aus der weltanschaulichen Bekenntnisfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG oder durch eine Gleichstellung von Religion und Weltanschauung in Art. 4 Abs. 2 GG hergeleitet werden muß. I m Ergebnis besteht kein Zweifel, daß Herzog die Weltanschauungsausübung in den Schutz des Art. 4 GG einbezieht. Das Bestreben, die einzelnen Gewährleistungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG klar voneinander abzugrenzen, ist jedoch nicht bis zum Ende konsequent durchgeführt. Welche der Freiheiten die Weltanschauungsausübung gewährleistet, bleibt offen. Ein ähnliches Schutzbereichsverständnis scheint auch Kokott Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zugrundezulegen. I m Gegensatz zu Herzog, der - mit Ausnahme der Einordnung des weltanschaulich geleiteten Handelns - zum Umfang der einzelnen Freiheiten eindeutig Stellung bezieht, bleiben die Aussagen Kokotts i m Ergebnis allerdings weitgehend offen. Fest steht nur, daß die Glaubensfreiheit ausschließlich auf das forum internum beschränkt sein soll. 5 2 Unklar bleibt, inwieweit der weltanschauliche Glauben mit in den Schutz der Glaubensfreiheit einzubeziehen ist. Ebenfalls nicht eindeutig feststellbar ist die Einordnung der Bekenntnisfreiheit. Allein der Aussage, die Bekenntnisfreiheit umfasse die Freiheit, das eigene religiöse bzw. weltanschauliche Bekenntnis zu verkünden, läßt sich entnehmen, daß die Bekenntnisfreiheit - in Übereinstimmung mit Herzog - offenbar auf die kommunikativen Handlungen beschränkt bleiben soll. 5 3 Unklar sind auch die Ausführungen zur Freiheit der Religionsausübung. Den einschlägigen Passagen läßt sich nicht entnehmen, inwieweit die Ausübung der Religionsfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG - entsprechend dem Wortlaut - auf die Ausübung des religiös geleiteten Handelns beschränkt sein oder - aufgrund einer Gleichstellung des religiösen und des weltanschaulichen Bekenntnisses - darüber hinaus auch das weltanschaulich ge50 51 52 53

Herzog, Herzog, Kokott, Kokott,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67. in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 82 f. in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 23. in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 28.

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

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prägte Handeln umfassen s o l l . 5 4 Dennoch soll i m Ergebnis wohl auch das weltanschaulich motivierte Handeln von Art. 4 GG erfaßt sein. I m Unterschied zu jenen Autoren, die sich zwar durch eine ausdifferenzierte Vorgehensweise, nicht aber in der Reichweite des durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährten Schutzumfangs von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterscheiden, weicht Zippelius auch i m Ergebnis von den dargestellten Auffassungen ab. Zippelius beschränkt die Glaubensfreiheit auf das forum internum, wobei er den Glaubensbegriff entsprechend der historischen Begriffsentwicklung auf den religiösen Glauben reduziert. Der weltanschauliche Glaube bleibt demgegenüber schutzlos. Alle über das forum internum hinausgehenden Aktivitäten sollen nur insoweit vom Schutz des Art. 4 GG umfaßt sein, als sie ausdrücklich i m Grundgesetz aufgeführt sind. Diese einengende Interpretation hat zur Folge, daß nur das weltanschauliche bzw. religiöse Bekenntnis sowie die Religionsausübung dem Schutz des Art. 4 GG unterliegen. Das weltanschaulich motivierte Handeln wird - wie Zippelius ausdrücklich bestätigt - nicht vom Schutz des Art. 4 GG erfaßt. 55 Der Überblick zeigt, daß nahezu das gesamte Schrifttum - mit Ausnahme von Zippelius, der mit seinem engen Schutzbereichsverständnis einen eigenen Weg einschlägt - Art. 4 GG einen einheitlichen Gewährleistungsumfang entnimmt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Glaubensfreiheit als allumfassende Garantie betrachtet oder den einzelnen Freiheiten eine eigene Bedeutung zuerkannt wird. Diese Vereinheitlichung des Gewährleistungsumfangs entspricht i m Ergebnis jener des Bundesverfassungsgerichts. Das Schrifttum folgt dem Bundesverfassungsgericht aber nicht nur mit Blick auf die Vereinheitlichung, sondern i m wesentlichen auch bei der weiten Auslegung des Schutzbereichs. Das gesamte Verhalten, das an den Lehren des religiösen und weltanschaulichen Glaubens ausgerichtet ist, wird in den Schutzbereich einbezogen. 56

b) Eingrenzungsversuche des Schrifttums auf Schutzbereichsebene Angesichts des überwiegend einheitlich und weit gefaßten Schutzbereichs finden sich allerdings auch i m Schrifttum Versuche, den Gewährleistungsumfang bereits auf Schutzbereichsebene wieder zu begrenzen. Dabei werden unterschiedliche Argumente angeführt, die teilweise an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 57 anknüpfen. 54 Kokott , in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 32. 55 Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 103. 56 So u. a. v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 22; Scheuner, Essener Gespräche 8 (1974), 43 (58); Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 21. Kritisch hingegen Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 25 f. 57 Vgl. oben S. 38 ff.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

aa) Begrenzung des Schutzbereichs durch Bezugnahme auf historische Gegebenheiten A u f der Grundlage einer historischen Interpretation wird die als „Kulturadäquanzklausel" bekannt gewordene Passage des Bundesverfassungsgerichts 58 von Teilen des Schrifttums für richtig befunden. 59 A n keiner Stelle findet sich allerdings eine vertiefte Auseinandersetzung mit der - auch vom Bundesverfassungsgericht offen gelassenen - Frage, wie eine gemeinsame Grundanschauung der Kulturvölker gefunden werden kann und welche Inhalte sie i m einzelnen aufweisen soll. Einen der Kulturadäquanzklausel nahestehenden Ansatz vertritt Isensee, dem zufolge nicht „jedes exotische und jedes modische religiöse Phänomen" von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erfaßt sein s o l l . 6 0 Seiner Ansicht nach sind die verfassungsrechtlichen Begrifflichkeiten aus dem historischen und politischen Kontext und den Traditionen Mittel- und Westeuropas heraus zu verstehen. Für Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ergebe sich auf dieser Grundlage eine „europazentristische und christliche" Prägung. 61 Zwar lehnt Isensee - i m Gegensatz zu H a m e l 6 2 - die Beschränkung des Schutzbereichs auf ausschließlich christliche Religionen ab, gleichwohl soll der allen Religionen und Weltanschauungen zukommende Schutzumfang auf das von den christlichen Kirchen i m Laufe des geschichtlichen Prozesses abgesteckte Betätigungsfeld begrenzt sein. 6 3 Eine solche Reduzierung des Schutzbereichs entsprechend dem aus der Tradition erwachsenden Verständnis der christlichen Religionen ist insofern problematisch, als die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gerade auch i m Schutz einzelner - nicht zuletzt als Angehörige von Minderheiten - vor der Beeinflussung durch die Mehrheit besteht. Soll dieser Schutz nicht ins Leere laufen, kann er nicht 58 BVerfGE 12, 1 (4); 24, 236 (246). 59 So Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 GG, Rdnr. 85. Widersprüche finden sich bei Schatzschneider (BayVBl. 1985, 321 [322]), der unter Rückgriff auf die Kulturadäquanzklausel die Feststellung trifft: „Der verfassungsrechtliche Schutz, auf den sich die sog. Jugendreligionen berufen können, ist dennoch nicht unbegrenzt; er wirkt nur insoweit, als sich die Aktivitäten dieser Gemeinschaften (gemeint sind die sog. neuen Jugendreligionen) im Rahmen gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen der heutigen Kulturvölker halten". Drei Absätze zuvor (S. 323) wird im selben Beitrag jedoch ausgeführt: „Das Grundgesetz schützt die Entwicklungen neuer, bisher nicht bekannter religiöser Ausdrucks- und Kulturformen - so fremdländisch sie uns erscheinen mögen und so wenig sie in den europäischen Kulturkreis passen." Auch findet keine Auseinandersetzung mit der Frage statt, wie bei den gegebenen Verschiedenheiten ein gemeinsamer Nenner gefunden werden soll, der die übereinstimmenden Grundanschauungen der Kulturvölker enthält. 60 Isensee, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Müller-Volbehr in: Essener Gespräche 19 (1985), 142(144). 61 Isensee, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Müller-Volbehr in: Essener Gespräche 19 (1985), 142(144). 62 Hamel, in: Grundrechte IV, S. 77 ff. 63 Isensee, Diskussionsbeitrag zum Vortrag von Müller-Volbehr in: Essener Gespräche 19 (1985), 142(144).

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

49

nur in dem von den christlichen Religionen vorgegebenen Rahmen gewährleistet werden. Vor allem den Angehörigen religiöser und weltanschaulicher Minderheiten muß der Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in vollem Umfang zuteil werden.

bb) Begrenzung auf verfassungsrechtlich

zulässige Praktiken

Teile des Schrifttums begrenzen den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG demgegenüber nicht ausschließlich auf christliche Praktiken, wollen jedoch jene Religionen und Weltanschauungen von vornherein aus dem Schutzbereich ausgrenzen, die Lehren und Praktiken vertreten, die nicht mit dem Grundgesetz in Einklang stehen. 64 So berechtigt das Anliegen ist, Religionslehren und -ausübungen zu begrenzen, die nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sind, scheint es doch zweifelhaft, der davon betroffenen Religion oder Weltanschauung insgesamt den Schutz zu versagen. Dies gilt um so mehr, als es in aller Regel um einzelne verfassungswidrige Praktiken gehen wird. Fraglich erscheint auch, ob diese Problematik tatsächlich auf Schutzbereichs- und nicht eher auf Schrankenebene anzusiedeln ist. Die Beurteilung, inwieweit etwa eine Kultushandlung verfassungswidrig ist, kann in den seltensten Fällen pauschal und a priori getroffen werden, sondern erfordert ein entgegenstehendes staatliches Interesse oder verfassungsrechtlich gewährleistete Rechte Dritter. Liegen sie vor, kann das Urteil der Verfassungswidrigkeit nicht per se, sondern sachgemäß nur i m Rahmen eines Ausgleichs der gegenüberstehenden Positionen getroffen werden. cc) Verschärfung

der Beweisanforderungen

Entsprechend dem Weg des Bundesverfassungsgerichts legen Teile in der Literatur besonderes Gewicht auf den Nachweis einer Verbindung von religiöser Überzeugung und entsprechendem Handeln. Dabei reicht es den Autoren i m Regelfall nicht aus, ausschließlich auf das Selbstverständnis der Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft abzustellen. 65 Sie verlangen vielmehr eine gewisse Objektivierbarkeit. Es müsse zumindest nachvollziehbar sein, daß das Handeln einer religiösen oder weltanschaulichen Motivation entspringe. 66 Teilweise läßt sich i m Schrifttum auch die weitergehende Forderung finden, das jeweilige Handeln müsse nach objektiven Kriterien für den religiösen und weltanschaulichen Auftrag wesensnotwendig sein und in einem entsprechenden organisatorischen und sachlichen Zusammenhang dazu stehen. 67 Als entscheidend wird zudem angesehen, daß 64 Müller-Volbehr, JZ 1981, 41 (44); Obermayer, ZevKR 17 (1982), 253 (261). 65 So aber Albers (NVwZ 1985, 92 [93]), der eine subjektive Betrachtungsweise genügen läßt. 66 v. Campenhausen, in: HdbStR, § 136 Rdnr. 70; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 103 ff.; Loeschelder, Essener Gespräche 20 (1986), 149 (157 f.); Pirson, in: FS für Frost, 383 (386); Weber, NJW 1983, 2541 (2553). 67 So Badura, Der Schutz von Religion und Weltanschauung, S. 49 ff., 89 f.

4 Rathke

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

religiöses und weltanschauliches Handeln von einem Verhalten unterschieden werden müsse, das nur in einem äußeren Zusammenhang mit religiösen bzw. weltanschaulichen Handlungen oder nur bei entsprechender Gelegenheit stattfinde. 68

B. Beschränkungen von Art. 4 GG auf Schrankenebene Die Frage nach den Schranken von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewinnt in dem Maße an Bedeutung, in dem Einschränkungen auf Schutzbereichsebene abgelehnt werden. In diesem Fall verlagert sich die Frage nach den Grenzen der Religionsund Weltanschauungsfreiheit zwangsläufig auf die Schrankenebene. Die Beschränkung des Schutzbereichs auf Schrankenebene bereitet jedoch insofern Schwierigkeiten, als weder Art. 4 Abs. 1 noch Abs. 2 GG einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt unterliegen. Für die kollektive Religions- und Weltanschauungsfreiheit, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht im Vordergrund steht, ist allgemein anerkannt, daß die über Art. 140 GG inkorporierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung Beschränkungen vorsehen. Inwieweit diese in das Grundgesetz inkorporierten Bestimmungen - insbesondere Art. 136 Abs. 1 WRV - auch der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit Grenzen ziehen, ist jedoch äußerst umstritten. 69 Ebensowenig besteht Einvernehmen über die Frage, inwieweit die Schranken anderer Grundrechte zur Begrenzung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG herangezogen werden können. Im folgenden wird zunächst die vom Bundesverfassungsgericht favorisierte Lösung dargestellt, bevor auf die Ansätze im Schrifttum eingegangen wird.

I. Die Schrankenebene in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 7. Ablehnung einer Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 GG

Das Bundesverfassungsgericht lehnt eine Übertragung der Schranken von Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 2 GG auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ausdrücklich ab. Eine Übertragung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG scheidet nach Ansicht des Gerichts bereits deshalb aus, weil ansonsten das in ständiger Rechtsprechung herausgebildete Verhältnis der Subsidiarität von Art. 2 Abs. 1 GG zur Spezialität der übrigen Freiheitsrechte unterlaufen würde. 70 Von einer Übertragung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts sowohl we68 So Müller, Positivität der Grundrechte, S. 99 f. 69 Dazu sogleich unten S 51 f. und 55 ff. 70 BVerfGE 32, 98 (107).

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

51

gen des Wortlauts und der Stellung beider Grundrechte als auch angesichts ihrer „fundamentalen Verschiedenheit" Abstand zu nehmen. Während es bei der Meinungsfreiheit um die Kundgabe subjektiver Äußerungen und Werturteile gehe, schütze die Glaubensfreiheit eine „mit der Person des Menschen verknüpfte Gewißheit über den Bestand und den Inhalt bestimmter Wahrheiten". Selbst wenn Überschneidungen denkbar seien, sorge der Grundsatz der Spezialität für den Vorrang der Glaubensfreiheit. 71

2. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV

Nach Art. 136 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG dürfen die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden. Obwohl der Wortlaut dieser Vorschrift geeignet ist, den Eindruck einer Schrankenregelung für die Religionsausübung zu wecken, wird auch diese Interpretation vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich abgelehnt.72 Das Verfassungsgericht ist der Ansicht, Art. 136 Abs. 1 WRV müsse „im Lichte der gegenüber früher erheblich verstärkten Tragweite des Grundrechts der Glaubens- und Gewissensfreiheit" ausgelegt werden. Im Ergebnis werde Art. 136 Abs. 1 WRV von Art. 4 GG überlagert. 73 Diese Argumentation ist alles andere als zwingend. Durch die Inkorporation in das Grundgesetz stehen die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung gleichwertig neben den übrigen Bestimmungen der Verfassung. Zwischen ihnen ist kein Stufenverhältnis auszumachen, so daß eine Ausschaltung des Art. 136 Abs. 1 WRV durch eine Überlagerung des angeblich gewichtigeren Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aus systematischen Gründen ausscheidet.74 Interessanterweise geht das Bundesverfassungsgericht selbst in anderen Entscheidungen ebenfalls von einer Gleichwertigkeit aller - einschließlich der inkorporierten - grundgesetzlichen Bestimmungen aus. Es spricht ausdrücklich davon, daß die Art. 136-139 WRV sowie Art. 141 WRV eine organische Einheit mit dem Grundgesetz bilden und als vollgültiges Verfassungsrecht anzusehen sind. 75 Vor diesem Hintergrund erscheint die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Verhältnis von Art. 136 Abs. 1 WRV und Art. 4 GG nur wenig stimmig.

71 BVerfGE 32, 98 (107). 72 BVerfGE 33,23 (30). 73 BVerfGE 33, 23 (31). 74 Fehlau (JuS 1993, 441 [443]) versucht die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts dadurch zu retten, daß er dem Gericht eine mißverständliche Formulierung unterstellt. Seiner Ansicht nach hat das Verfassungsgericht die Gleichwertigkeit der beiden Vorschriften erkannt und kommt über eine teleologische Interpretation dazu, daß Art. 136 Abs. 1 WRV aufgrund des hohen Ranges des Art. 4 GG von diesem „suspendiert" werde. 75 Vgl. dazu BVerfGE 19, 206 (219); 19, 226 (236); 53, 366 (400). *

52

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen 3. Kollidierendes

Verfassungsrecht

als Schranke des Art. 4 GG

Auch wenn eine Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 GG ebenso wie die Anwendung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 W R V nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht in Betracht kommt, läßt das Gericht keinen Zweifel daran, daß eine schrankenlose Gewährleistung der Religionsfreiheit nicht praktikabel wäre. 7 6 Dementsprechend hält das Gericht eine Beschränkung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit für möglich, wenn sie „von der Verfassung selbst, d. h. nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit dieses grundlegenden Wertsystems" vorgenommen w i r d . 7 7 Daraus ergibt sich als Leitlinie für die Schrankenziehung, daß glaubensgeleitete Handlungen nur solange keinen verfassungsrechtlichen Schranken unterliegen, wie sie sich i m Einklang mit den Wertentscheidungen der Verfassung befinden und keine Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer zur Folge haben. 7 8 Eine Besonderheit besteht insofern, als bei Fallgestaltungen, in denen die glaubensgeleiteten Aktivitäten in Konflikt mit den religiösen oder weltanschaulichen Einstellungen Dritter geraten und beide Seiten sich auf Art. 4 GG berufen, regelmäßig eine Gegenüberstellung von positiver und negativer Religionsfreiheit in Rede steht. Jene Partei, die sich gegen die Religionsausübung eines anderen wendet, beruft sich auf ihre negative Religionsfreiheit, während sich diejenige Partei, die ihre Religion entsprechend ihren Vorstellungen auszuüben gedenkt, die positive Religionsfreiheit geltend macht. 7 9 Liegt ein derartiges Spannungsverhältnis vor, kommt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts weder der positiven noch der negativen Religionsfreiheit ein grundsätzlicher Vorrang zu. Vielmehr gilt es zwischen beiden Positionen - unter Berücksichtigung des Toleranzgebots - einen Ausgleich herzustellen. 80

76 BVerfGE 32, 98 (107). 77 BVerfGE 12, 1 (4); 32, 98 (108); 33, 23 (29). 78 So ausdrücklich BVerfGE 33, 23 (29). 79 Dieser Gegenüberstellung sind große Teile des Schrifttums gefolgt. Vgl. dazu u. a. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4 Rdnr. 7 f.; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 24; MüllerVolbehr, DÖV 1995, 301 (307). Kritisch dazu Renck, NVwZ 1994, 544 ff.; ders.\ ZRP 1996, 205 f. Nach Renck ist eine Kollision, bei der sich beide Seiten auf Art. 4 GG berufen, undenkbar, da Art. 4 GG als klassisches Freiheitsrecht ein ausschließlich staatsgerichtetes Abwehrrecht darstelle. Der einzelne könne sich daher nur gegen Eingriffe in Art. 4 GG von staatlicher, nicht hingegen von privater Seite wehren. Fühle sich der einzelne in dieser Weise vom Staat in Art. 4 GG beeinträchtigt, stelle sich im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung insbesondere die Frage, inwieweit dieser Eingriff mit der staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zu vereinbaren sei. so BVerfGE 52, 223 (247); zuletzt in BVerfGE 93, 1 (10).

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

53

II. Die Schrankenebene in der Literatur Die vorherrschende Ansicht i m Schrifttum schlägt - mangels ausdrücklicher Schrankenregelung - den vom Bundesverfassungsgericht beschrittenen Pfad ein, wonach Beschränkungen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit nur durch kollidierendes Verfassungsrecht möglich sind. 8 1 Teilweise werden jedoch neben dem vom Bundesverfassungsgericht vorgezeichneten Weg auch die vom Gericht ausdrücklich abgelehnten Möglichkeiten als angemessene Beschränkung der individuellen Religionsfreiheit angesehen. Diesen Ansätzen soll i m folgenden besondere Aufmerksamkeit zuteil werden, da die Schrankenfrage entscheidende Bedeutung bei allen staatlichen Versuchen gewinnt, Regelungen i m Spannungsfeld von individueller Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit und staatlichen Erziehungsvorgaben zu treffen.

1. Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 GG Da die überwiegende Mehrheit i m Schrifttum der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt, lehnt sie unter Verweis auf den Grundsatz der Schrankenspezialität die Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 GG ausdrücklich ab. 8 2 Gleichwohl finden sich beachtliche Stimmen, die eine solche Übertragung für angezeigt und zulässig halten. Als übertragbare Schranken werden in diesem Fall Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 2 GG herangezogen.

a) Übertragung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG Anknüpfend an die Diskussionen des Parlamentarischen Rates 8 3 wurde in den ersten Jahren unter dem Bonner Grundgesetz die Übertragung der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG auf jedes Grundrecht und damit auch auf Art. 4 GG für möglich gehalten. 84 Z u m damaligen Zeitpunkt wurde die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung" allerdings eng verstanden. A u f ihrer Grundlage waren Beschränkungen nur möglich, wenn diese elementare Verfassungsgrundsätze und

81 So beispielsweise Kriele, JA 1984, 629 (630); Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301 (306); v. Münch, in: v. Münch /Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 54; Obermayer, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 140 Rdnr. 63 m.w.N; Rux, Der Staat 36 (1996) 525 (528); Steiner, JuS 1982, 157(162). 82 Dazu nur v. Campenhausen, in: HdStR, § 136 Rdnr. 81; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 91 f.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 53; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 45; Steiner, JuS 1982, 157 (162). 83 Vgl. dazu die Zusammenfassung der Beratungen von Matz, JöR 1 (1951), 1 (75). A. Hamann, GG (1956), Art. 4 Anm. 4; v. Mangoldt-Klein, Bonner GG (1957), Art. 4 Anm. III 5 a.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Grundentscheidungen des Verfassungsgebers betrafen. 85 Zeitgleich mit der Ausweitung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG 8 6 wandelte sich auch das Verständnis der Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung". Um den weiten Schutzbereich angemessen begrenzen zu können, wurden fortan alle Normen, „die formell und materiell verfassungsmäßig sind", als zulässige Einschränkungen angesehen.87 Dieses veränderte Schrankenverständnis machte eine pauschale Übertragung auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unmöglich, da ansonsten Art. 4 GG weniger Schutz zugekommen wäre als jedem anderen (speziellen) Freiheitsrecht. Wenngleich heute allgemein anerkannt ist, daß die Schrankenbestimmung des Art. 2 Abs. 1 GG wegen der gewandelten Funktion der allgemeinen Handlungsfreiheit nicht zur Begrenzung des Art. 4 GG herangezogen werden kann, findet sich bei Herzog der Vorschlag, die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG in modifizierter Form zur Begrenzung der Reiigionsausübungsfreiheit heranzuziehen. Art. 2 Abs. 1 GG sei von vornherein als Schrankenregelung der Handlungsfreiheit konzipiert worden und eigne sich daher - in angepaßter Form - zur Begrenzung der spezielleren Handlungsfreiheit der Religionsausübung.88 Den Kreis jener Rechte, die eine Beschränkung von Art. 4 GG rechtfertigen können, will Herzog allerdings auf solche Rechte anderer beschränken, die vom Grundgesetz garantiert werden. 89 Im übrigen gilt es zu beachten, daß Herzog - aufgrund der von ihm vorgenommenen Differenzierung zwischen den einzelnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleisteten Freiheiten - den einzelnen Garantien unterschiedliche Schrankenregelungen zuweist. Während die Bekenntnisfreiheit den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG analog unterliegen soll, sollen auf die Religionsausübung die modifizierten Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG Anwendung finden. Allein die Glaubensfreiheit ist nach Ansicht Herzogs schrankenlos gewährleistet. 90 b) Analoge Übertragung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG Ebenfalls von Herzog wird die analoge Übertragung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG zur Begrenzung der Bekenntnisfreiheit vertreten. 91 Dem besonderen Gewicht der Religionsfreiheit soll dadurch Rechnung getragen werden, daß die im Lüth-Urteil 92 entwickelte Wechselwirkungslehre Anwendung findet. 93 Die Eines Vgl. Fehlau, JuS 1993, 441 (443). 86 Zur Ausweitung des Schutzbereichs des Art. 2 Abs. 1 GG kam es erstmals in der ElfesEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfGE 6, 32 (36 ff.). 87 BVerfGE 6, 32 (37 ff.); 63, 88 (108 f.); 80, 157 (153). 88 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 114. 89 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 114 ff. 90 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 76 und 89 f.

91 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 90 ff. 92 BVerfGE 7, 198 (208 f.). 93 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 90.

§ 1 Individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit

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schränkung der Bekenntnisfreiheit ist danach nur verfassungsgemäß, wenn nicht das Bekenntnis einer Religion oder Weltanschauung als solche verboten wird und die Einschränkung darüber hinaus dem Schutz eines Gemeinschaftswertes dient, der im Vergleich mit der Bekenntnisfreiheit überwiegt. Nach Ansicht Herzogs weist die Übertragung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG den Vorteil auf, daß nicht in jedem Fall eine Abwägung zwischen zwei Verfassungsgütern vorgenommen werden muß. Über den Rückgriff auf Art. 5 Abs. 2 GG könne die Argumentation „ - bei voller Respektierung des Gewichts von Art. 4 I im Vorgang der Güterabwägung - zwangloser funktionieren". 94 2. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV

Ein beachtlicher Teil des Schrifttums zieht die über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierte Bestimmung des Art. 136 Abs. 1 WRV zur Beschränkung von Art. 4 GG heran. 95 Starck geht in seiner Begründung für die Heranziehung dieser Bestimmung gar davon aus, daß der Verzicht auf eine Schrankenregelung in Art. 4 GG nur mit der Fortgeltung des Art. 136 Abs. 1 WRV erklärt werden könne. 96 Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht schließen die Anhänger dieser Ansicht eine Überlagerung von Art. 136 Abs. 1 WRV durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG aus. Die Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung werden in dem von Art. 140 GG bezeichneten Umfang - einschließlich Art. 136 Abs. 1 WRV - als voll gültiges Verfassungsrecht angesehen, das gleichwertig neben den sonstigen Bestimmungen des Grundgesetzes stehen s o l l 9 7 Die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV wird dabei in aller Regel - meist unter Berufung auf die historische Interpretation unter der Weimarer Verfassung - als qualifizierter Schrankenvorbehalt im Sinne der „allgemeinen Gesetze" des Art. 5 Abs. 2 GG konzipiert. 98 Die Begründung dafür folgt der Systematik der Weimarer Bestimmungen: Unter der Weimarer Reichsverfassung wurde die Regelung des Art. 136 Abs. 1 WRV mit der Schrankenregelung des Art. 135 S. 3 WRV gleichgesetzt.99 Art. 135 W R V 1 0 0 gewährleistete in seinem 94 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 92. 95 Vgl. v. Campenhausen, in: HdStR, § 136 Rdnr. 82; Ehlers, in: Sachs, GG , Art. 140 Rdnr. 4; ders., Art. 140 GG-Art. 136 WRV Rdnr. 4; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 4 Rdnr. 17; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/ Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46 ff.; Stolleis, JuS 1974, 770 (773 f.). 96 So Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46. 97 Auf die Unmöglichkeit einer schlichten Überlagerung des Art. 136 Abs. 1 WRV von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG weist auch Fehlau (JuS 1993,441 [443]) hin. 98 Vgl. v. Campenhausen, in: HdStR, § 136 Rdnr. 82; Ehlers, in: Sachs, GG , Art. 140 Rdnr. 4; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46. Auf die historische Interpretation nimmt ausdrücklich Starck (a. a. O., Art. 4 Rdnr. 48) Bezug. 99 Vgl. dazu Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 136 Anm. 1: „Und wenn andererseits die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten durch die Religionsfreiheit nicht beschränkt sein sollen, so ist diese Vorschrift gleichbedeutend mit Art. 135 Satz 3:

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Satz 1 die Glaubens- und Gewissensfreiheit, in Satz 2 die Freiheit der ungestörten Religionsausübung. Art. 135 S. 3 WRV versah diese Gewährleistungen mit dem Vorbehalt, daß die allgemeinen Staatsgesetze davon unberührt bleiben müßten. Die Interpretation dieser allgemeinen Staatsgesetze entsprach im Grundsatz dem heutigen Verständnis der „allgemeinen Gesetze" in Art. 5 Abs. 2 GG. 1 0 1 Welchen Pflichten im Einzelfall Vorrang vor der Religionsausübungsfreiheit zukommt, soll - entsprechend der im Lüth-Urteil zu Art. 5 Abs. 2 GG entwickelten Wechselwirkungslehre - auch für das Verhältnis von Art. 136 Abs. 1 WRV zu Art. 4 GG in der Abwägung zwischen Schranke und Grundrechtsgehalt wertend zu ermitteln sein. 102 Obwohl diese Abwägung regelmäßig zu identischen Ergebnissen führt wie die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Abwägung zwischen verschiedenen kollidierenden Verfassungsgütern, soll der entscheidende Vorteil einer ausdrücklichen Anerkennung des Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke von Art. 4 GG darin liegen, daß „an einen positiv-verfassungsrechtlich verankerten Pflichtbegriff angeknüpft werden kann". 103 Umstritten ist allerdings, ob und inwieweit neben der ausdrücklich in Art. 136 Abs. 1 WRV genannten Religionsausübungsfreiheit - auch die Ausübung der Weltanschauung der Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV unterliegt. Während dies auf der einen Seite wegen der Gleichsetzung von Religion und Weltanschauung in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG befürwortet wird, 1 0 4 wird auf der anderen Seite auf den Wortlaut des Art. 136 Abs. 1 WRV abgestellt, der sich ausdrücklich nur auf die Religionsausübung beziehe. Die Vertreter dieser restriktiven Auslegung unterwerfen die Weltanschauungsausübung keinen positivverfassungsrechtlichen, sondern nur den verfassungsimmanenten Schranken. 105

100 Art. 135 WRV: „Alle Bewohner des Reiches genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit. Die ungestörte Religionsausübung wird durch die Verfassung gewährleistet und steht unter staatlichem Schutz. Die allgemeinen Staatsgesetze bleiben hiervon unberührt." 101 So ausdrücklich Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 48. 102 v. Campenhausen, in: HbdStR, § 136 Rdnr. 82; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46. Bereits unter der Weimarer Verfassung war anerkannt, daß nicht jedes Gesetz die Religionsfreiheit einzuschränken vermag. Bereits damals wurde auf die Interpretation der die Meinungsfreiheit beschränkenden „allgemeinen Gesetze" in Art. 118 Abs. 1 S. 1 WRV zurückgegriffen: „Vorbehalten sind nur die allgemeinen Gesetze. Der Begriff des allgemeinen Gesetzes ist derselbe wie in Art. 118 Abs. 1 Satz 1. Er steht hier wie dort im Gegensatz zu den Spezialgesetzen (Sondergesetzen), d. h. zu den Gesetzen, die sich gegen eine bestimmte Meinung oder Anschauung als solche richten." (Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 135 Anm. 6). 103 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46. 104 So Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 48. 105 In diesem Sinne v. Campenhausen, in: HbdStR, § 136 Rdnr. 82.

§ 2 Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates

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§ 2 Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates Der Begriff der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ist eng mit Art. 4 GG verbunden. Die Nähe zu Art. 4 GG ergibt sich aus der Erkenntnis, daß ein Staat, der seinen Bürgern die Religions- und Weltanschauungsfreiheit garantiert, diese Freiheiten nur dann zur vollen Entfaltung verhelfen kann, wenn sie mit der staatlichen Verbürgung der weltanschaulich-religiösen Neutralität einhergehen und der Staat sich insbesondere mit keiner bestimmten Religion oder Weltanschauung identifiziert (sog. Identifikationsverbot). 106 Das Bundesverfassungsgericht spricht in diesem Zusammenhang mit beträchtlichem Pathos davon, daß angesichts der weltanschaulich-religiösen Vielfalt nur ein in dieser Hinsicht neutraler Staat „Heimstatt aller Bürger" sein könne. 107

A. Verfassungsrechtliche Herleitung des Grundsatzes der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates Seine hauptsächliche Wurzel hat der Begriff der weltanschaulich-religiösen Neutralität in dem über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Art. 137 Abs. 1 WRV, der die Errichtung einer Staatskirche verbietet und damit dem Staat versagt, sich ein bestimmtes religiöses Bekenntnis zu eigen zu machen. Das Bundesverfassungsgericht leitet die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates jedoch nicht allein aus dieser in das Grundgesetz inkorporierten Bestimmung der Weimarer Reichsverfassung her, sondern legt ihr eine Zusammenschau aller der im Grundgesetz mit weltanschaulichen und religiösen Fragestellungen befaßten Vorschriften - namentlich den Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV - zugrunde. 108 Dieser Herleitung folgt der ganz überwiegende Teil des Schrifttums. 109 106 Vgl. v. Campenhausen, in: v. Mangoldt / Klein / v. Campenhausen, Bonner GG, Art. 140 Rdnr. 20; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 122; Obermayer, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 140 Rdnr. 78; Richter, RdJB 1993, 257 (260); Renck, JuS 1989, 451 ff.; Rux, Der Staat 36 (1996), 525 (531); Schiaich, Neutralität, S. 17 ff. (insbes. S. 19). 107 BVerfGE 19,206(216). los BVerfGE 6, 434 f.; 10, 59 (85); 18, 385 (386); 19, 206 (216); 24, 236 (246); 32, 98

(102).

109 v. Campenhausen, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, S. 77; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 382; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 27 II 6; Scheuner, DÖV 1967, 585 ff.; Schiaich, Neutralität, S. 132 ff., 154 ff., 192 ff.; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 19 ff. Nur vereinzelt wird angenommen, daß sich die Verpflichtung des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht ausdrücklich aus bestimmten Verfassungsbestimmungen, sondern erst aus der Gesamtordnung des Grundgesetzes ergebe (in diese Richtung offenbar Morlok, Selbstverständnis, S. 331 f.). Diese Auffassung ist allerdings folgenreich: Wird der Grundsatz der Gesamtordnung der Verfassung entnommen, wird die

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen So unbestritten die grundsätzliche Verpflichtung des Staates zur weltanschau-

lich-religiösen Neutralität ist, so umstritten ist die inhaltliche Ausgestaltung des Begriffs. Dabei 2:eigen sich die Differenzen weniger in den abstrakten Darstellungen zur weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates als vielmehr i m Detail und in den einzelnen Fallgestaltungen. Obwohl alle Seiten vom Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates ausgehen, werden vielfach erheblich voneinander abweichende, teilweise auch vollkommen entgegengesetzte Ergebnisse erzielt. Die i m Schnittpunkt von Schule und Religion liegenden Entscheidungen der Rechtsprechung liefern hierfür anschauliche B e i s p i e l e . 1 1 0 Konsens besteht insoweit, als die weltanschaulich-religiöse Neutralität dem Staat gebietet, den einzelnen nicht aufgrund seiner religiösen oder weltanschaulichen Einstellung zu bevorzugen bzw. zu benachteiligen. I n dieser Beziehung ist der Staat zur Wahrung strikter Neutralität angehalten. Keine Einigkeit besteht hingegen darüber, inwieweit die Integration bestimmter weltanschaulich-religiöser Elemente i n den staatlichen Bereich gegen die staatliche Verpflichtung zur weltanschaulichreligiösen Neutralität verstößt. A n diesem Punkt kommt es in Rechtsprechung und Literatur regelmäßig zum Schwur. Dabei lassen sich i m wesentlichen zwei widerstreitende Positionen ausmachen: die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche auf der einen Seite, die grundsätzliche Zulässigkeit einer Kooperation zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich auf der anderen.

I. Vertreter einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche Eine kleine Anzahl an Autoren spricht von einer „grundsätzlichen" Trennung von Staat und Kirche. Sie begründen ihr Neutralitätsverständnis unter Rückgriff auf die in Art. 4 Abs. 1 und 2 G G verankerte individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Ihrer Ansicht nach kann der Staat die individuelle Religionsund Weltanschauungsfreiheit nur garantieren, wenn er von einer vollkommen neutralen Basis aus agiert. Während einzelne Autoren sämtliche weltanschaulich-religiösen Bezüge aus dem staatlichen Bereich ausklammern w o l l e n , 1 1 1 plädieren andere dafür, daß der Staat in seiner Verantwortung keine weltanschaulichen oder religiösen Veranstaltungen durchführen (lassen) d a r f . 1 1 2

Prüfung erschwert, ob die vom Staat erlassenen Akte seiner Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität entsprechen. Hinzu kommt, daß ein derartiges Verständnis eine Kollision zwischen dem staatlichen Gebot der weltanschaulich-religiösen Neutralität und anderen Verfassungsgütern unmöglich macht. Es kann in diesem Fall nicht zum Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Abwägung gemacht werden. ho Vgl. dazu unten S. 106 ff. 111 112

Fischer, Trennung von Staat und Kirche S. 177 ff.

v. Zezschwitz., JZ 1966, 337 (338), der rein private weltanschauliche oder religiöse Übungen im schulischen Bereich für zulässig erachtet.

§ 2 Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates

59

Daß die genannten Autoren - trotz ihres Plädoyers für eine vollkommene Ausklammerung weltanschaulich-religiöser Elemente aus dem staatlichen Bereich nur von einer „grundsätzlichen" Trennung der beiden Bereiche sprechen, ist keineswegs eine Nachlässigkeit, sondern geschieht mit Bedacht. Angesichts der i m Grundgesetz ausdrücklich statuierten Regelungen, die eine Kooperation zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich vorsehen, könne nicht von einer strikten Trennung der beiden Bereiche, sondern nur von einer grundsätzlichen Trennung gesprochen werden. 1 1 3 Als Fälle einer zulässigen Kooperation werden regelmäßig das Abhalten von Religionsunterricht an staatlichen Schulen (Art. 7 Abs. 3 GG) sowie die staatliche Erhebung von Kirchensteuern (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 6 WRV) genannt. Da diese Regelungen als Ausnahmen von einer ansonsten strikt durchzuhaltenden Trennung beider Bereiche betrachtet werden, sollen sie eng auszulegen und keinesfalls auf andere Bereiche übertragbar sein. 1 1 4 Die Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich soll die Regel, die teilweise Kooperation beider Bereiche die Ausnahme bleiben. Die Frage, inwieweit Art. 7 Abs. 5 GG - dessen Wortlaut die Interpretation zuläßt, daß der Staat die Befugnis zur Errichtung von öffentlichen Bekenntnisschulen innehat 1 1 5 - ebenfalls als Ausnahme vom Neutralitätsgrundsatz zu werten ist, wird in der Regel nicht behandelt. Jene Autoren, die sich mit der Einordnung des Art. 7 Abs. 5 GG befassen, lehnen eine Qualifizierung als Ausnahmeregelung ganz überwiegend ab, so daß es i m Ergebnis bei den zwei Ausnahmen des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen und der staatlichen Erhebung von Kirchensteuern b l e i b t . 1 1 6 Angesichts dieser nur partiellen Durchbrechungen wird auch von einem indifferenten Staat gesprochen - von einem Staat, dem „das Gebiet von Religion und Weltanschauung entzogen i s t " . 1 1 7

II. Zulässigkeit einer Kooperation zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich Die Mehrheit i m Schrifttum lehnt eine derart grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche a b . 1 1 8 Zur Begründung wird angeführt, daß sich aus Art. 137 Abs. 1 113

Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 178; v. Zezschwitz, JZ 1971, 11 (13). 114 Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 184; v. Zezschwitz, JZ 1971, 11 (14). ι 1 5 Aus der Voraussetzung, daß private Volksschulen als Bekenntnis- oder Weltanschauungsschulen nur dann errichtet werden dürfen, wenn eine entsprechende öffentliche Schule in der Gemeinde nicht besteht, könnte die Zulässigkeit der staatlichen Errichtung derartiger Schulen hergeleitet werden. 116 So beispielsweise Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 278. Weitere Ausführungen zu dieser Problematik unten S. 96 f. Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 185. us So u. a. Hesse, ZevKR 25 (1980), 239 (246 f.); Müller, DÖV 1969, 441 (443) m. w. N. in Fußn. 9; Scheuner, DÖV 1967, 585 (588).

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

W R V lediglich das Verbot der Bevorzugung einer bestimmten Religion durch die Erhebung zur Staatsreligion ergebe. Dementsprechend verblieben eine Reihe verfassungsmäßiger - auch institutionalisierter - Möglichkeiten der Zusammenarb e i t . 1 1 9 Gegen eine grundsätzliche Trennung von staatlichem und weltanschaulichreligiösem Bereich wird darüber hinaus angeführt, daß die Frage nach dem Inhalt der weltanschaulich-religiösen Neutralität nicht abstrakt, sondern nur für einen konkreten Sachverhalt geklärt werden könne. Erst nach Betrachtung des Einzelfalls lasse sich eine Antwort auf die Zulässigkeit von Kooperationsmöglichkeiten zwischen dem staatlichen und dem weltanschaulich-religiösen Bereich geben. 1 2 0 I m übrigen sei ein indifferenter Staat überhaupt nicht realisierbar. Der demokratische Staat lebe davon, daß die Bürger über den politischen Prozeß unter anderem auch ihre religiösen oder weltanschaulichen Ansichten in den staatlichen Bereich hineintragen und somit die Rechtswirklichkeit in gewisser Weise prägen. 1 2 1 Dementsprechend könne vom Staat nichts weiter als die Pflicht zur Gleichbehandlung aller religiösen und weltanschaulichen Ansichten und Gruppierungen verlangt werd e n . 1 2 2 Die Gegenmeinung leiste mit ihrer grundsätzlichen Trennung der beiden Bereiche einem dem Grundgesetz widersprechenden Laizismus Vorschub. 1 2 3 Die Vertreter einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche weisen den Vorwurf freilich entschieden zurück und betonen, daß der weltanschaulich und religiös neutrale Staat auf keinen Fall mit einem laizistischen Staat gleichgesetzt werden könne, der sich gegen jeglichen kirchlichen Einfluß auf staatliche Interessen und Belange wendet und die völlige, strikte Trennung von Staat und Kirche anstrebt. Die verfassungsrechtlich vorgesehenen Ausnahmen - Religionsunterricht an staatlichen Schulen und staatliche Erhebung von Kirchensteuern - zeigten, daß eine strikte Trennung weder zulässig noch gewollt sei. Die Ausnahmen müßten jedoch auf die veifassungsrechtlich vorgesehenen Fälle beschränkt bleiben. 1 2 4

119 Hofmann, DVB1. 1967, 439 (441); Kokott, Art. 4 Rdnr. 5 120 Müller, DÖV 1969, 441 f. 121 Siehe dazu insbesondere die Ausführungen bei Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 20 ff., sowie bei Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 21, jeweils m. w. N. 122 In diesem Sinne auch BVerfGE 32, 98 (106); vgl. ferner Hesse, ZevKR 3 (1953/54), 188 (196); Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 22; Scheuner, DÖV 1967, 588 (592) m. w. N.; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 26. 123 So unter anderem der Vorwurf von Hofmann, DVB1. 1967, 439 (441) und Link, NJW 1995, 3353 (3357). 124 Vgl. Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 185, der die Behauptung als schlichte Polemik zurückweist, mit der man sich nicht weiter auseinandersetzen müsse (S. 180); dahingehend auch die Ausführungen von v. Zezschwitz, JZ 1971, 11, (15 f.). Weitere Ausführungen zum Laizismus Vorwurf unten S. 305 f.

§ 2 Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates

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B. Abhängigkeit des Neutralitätsverständnisses vom Staats- und Verfassungsverständnis Verständnis und Konzeption der weltanschaulich-religiösen Neutralität hängen maßgeblich vom jeweils vertretenen Staatsverständnis ab. Die jeweiligen Grundpositionen zum Verhältnis von Staat und Kirche erweisen sich als weichenstellend für das inhaltliche Verständnis des Begriffs der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates. Dieser Zusammenhang von Staatskonzeption und inhaltlichem Verständnis der weltanschaulich-religiösen Neutralität wird in aller Regel wenig beachtet. 1 2 5

I. Staats- und Verfassungsverständnis der Befürworter einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche Jene Autoren, die den Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität als grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche konzipieren, gehen - generalisierend gesprochen - von einer mehr oder weniger rigorosen Trennung der Bereiche von Staat und Gesellschaft aus. Geprägt und pointiert formuliert wurde diese These namentlich von Krüger. 1 2 6 Andere Vertreter haben sich ihr anschlossen, wenngleich sie ihre Ansichten nicht immer in derselben Deutlichkeit vortragen. Krüger nimmt an, daß ein Staat, der - mit der Formulierung des Bundesverfassungsgerichts gesprochen - Heimstatt aller Bürger sein will, sich durch keine besonderen Eigenschaften auszeichnen dürfe, die nur einzelnen Bürgern zukommen. Ein derartiges Staatsgebilde sei nur denkbar, wenn die Bürger i m staatlichen Bereich befreit von ihren Besonderheiten agierten. Es ist „nicht der Mensch in der Besonderheit seiner Religion, seines Standes, seiner Nation, seiner Rasse oder seines Geschlechts, sondern der Mensch in seiner allgemeinen Eigenschaft ( . . . ) , der als Subjekt den Staat denken und dadurch verwirklichen soll. Es ist hierbei der Mensch vorausgesetzt, der sich allen seinen Besonderheiten gegenüber freigemacht und mit einem Ergebnis entwickelt wurde, die - anders als die Besonderheiten - j e d e r andere Mensch der Gruppe zu teilen v e r m a g . " 1 2 7 Dementsprechend sollen alle jene Punkte aus dem staatlichen Bereich auszuklammern sein, über die in der Gesellschaft kein Konsens besteht. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß ein solches Verständnis des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zwingend eine grundsätzlich strikte Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich nach sich zieht. Angesichts der Vielfalt an religiösen und weltanschaulichen Einstellungen besteht in der Gesellschaft nicht die erforderliche Einigkeit, so daß der gesamte Bereich vom staatlichen Sektor fernzuhalten und ausschließ125

Einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten stellen Meyer-Teschendorf, (ZevKR 23 [1978], S. 202 ff.) sowie Hesse (ZevKR 25 [1980], S. 239 ff.) her. 126 Krüger, Allgemeines Staatsrecht, S. 160. 127 Krüger, Allgemeines Staatsrecht, S. 160.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

lieh dem gesellschaftlichen Bereich vorzubehalten ist. Krügers Staatsverständnis zufolge hat der einzelne mit Eintritt in den staatlichen Bereich seine religiösen oder weltanschaulichen Bindungen abzulegen. Vom Neutralitätsverständnis Krügers ausgehend vertreten einzelne Autoren die Vorstellung einer absoluten Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, die Mischbereiche oder Gemengelagen nicht zuläßt. 1 2 8 Bei ihnen findet sich zwar nicht die weitergehende Forderung Krügers, daß der Bürger sich jeglicher (religiöser und weltanschaulicher) Eigenarten und Besonderheiten zu entledigen habe, wenn er i m staatlichen Raum handelt. M i t Krüger stimmen sie aber darin überein, daß religiöse und weltanschauliche Aktivität aus dem staatlichen Bereich ausgeklammert bleiben müsse.

II. Staats- und Verfassungsverständnis der Trennungsgegner Hinter der Ansicht der Mehrheit i m Schrifttum steht ein Staatsverständnis, das die dichotome Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft mit der Begründung ablehnt, es handle sich um altliberales Gedankengut, das spätestens mit Aufkommen des Leistungsstaates als überholt anzusehen s e i . 1 2 9 Aufgrund der vielfältigen Verflechtungen zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Bereich hat namentlich Böckenförde eine differenzierte Betrachtungsweise gefordert und konzipiert, der sich später weitere Autoren angeschlossen haben. 1 3 0 Je nach betroffenem Bereich sollen danach unterschiedliche Maßstäbe an die staatliche Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität anzulegen sein. Böckenförde unterscheidet zwischen der „distanzierenden" und der „offenen Neutralität": I m Bereich der ursprünglich hoheitlichen Befugnisse - der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung - sollen staatlicher und weltanschaulich-religiöser Bereich strikt voneinander zu trennen sein. Insofern soll die sog. „distanzierende Neutralität" Platz greifen, die über Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 WRV, Art. 4 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 GG eine besondere Absicherung erhalten habe. Entscheidend ist nach Böckenförde jedoch, daß sich der moderne Staat nicht auf die Ausführung der hoheitlichen Entscheidungsfunktionen beschränke, sondern durch Übernahme von Organisation und Verwaltung zunehmend genuin gesellschaftliche Bereiche in seine Obhut genommen habe. Diese „sozialen Gebilde" zeichneten sich dadurch aus, daß ihre Nutzer keine staatlichen Ämter ausübten, sondern Privatpersonen blieben, die ihre grundgesetzlich garantierten Rechte mit in diesen Raum hineintrügen. Die Eigen128

Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 284. In diese Richtung auch v. Zezschwitz (JZ 1966, 337 [338 f.]), der jedoch rein private religiöse oder weltanschauliche Übungen im staatlichen Bereich für zulässig erachtet (a. a. O. 338). Μ So ausdrücklich Meyer-Teschendorf, ZevKR 23 (1978), 202 (216). 130 Vgl. Böckenförde, DÖV 1974, 253 (255 f.). Später schlossen sich ihm u. a. Hesse, ZevKR 25 (1980), 239 (246 ff.), Link, JZ 1980, 564 (565) und Meyer-Teschendorf, ZevKR 23 (1978), 202 (212 ff.) an.

§ 2 Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates

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art dieser sozialen Gebilde verlangt - so Böckenförde - nach einer übergreifenden „offenen Neutralität". Der Staat trage den Rechten des Einzelnen nur dann ausreichend Rechnung, wenn er ihnen - in einem angemessenen Rahmen - eine hinlängliche Entfaltungsmöglichkeit innerhalb der staatlichen Institutionen zugestehe. Dem Staat soll es danach verwehrt sein, alle weltanschaulich-religiösen Elemente aus ursprünglich gesellschaftlichen, vom Staat in seine Obhut genommenen Bereichen auszugrenzen.131

C. Trennung der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates vom „ideologischen Gehalt" des Grundgesetzes Die Frage nach der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates darf nicht mit der Frage nach dem „ideologischen Gehalt" des Grundgesetzes verwechselt werden, auch wenn beide in ihren Grundaussagen Überschneidungen aufweisen können. Bei letzterer geht es im Kern darum, inwieweit sich aus dem Grundgesetz bestimmte Werte entnehmen lassen, die der Staat seinem Handeln und damit auch der schulischen Erziehung - zugrundelegen muß und darf. Als Anknüpfungspunkt für diese Diskussion und das daraus gegebenenfalls herzuleitende Postulat einer Wertevermittlung wird in aller Regel das Menschenbild des Grundgesetzes gewählt. 132 Dabei lassen sich - stark generalisierend - zwei einander gegenüberstehende Lager ausmachen, die zwar in sich nicht homogen sind, aber von gemeinsamen Grundprämissen ausgehen. Vereinzelt findet sich das Konzept eines Grundgesetzes, das ein (bloßes) organisatorisches Rahmengerüst darstellt, weite Teile der Rechtsprechung und Literatur sehen im Grundgesetz hingegen die Verkörperung bzw. den Ausfluß eines Menschenbildes und eines mehr oder weniger konkreten Wertsystems. 133 Einig sind sich beide Konzepte darin, daß die Festlegung auf ein ganz bestimmtes Menschenbild ausgeschlossen ist. Insofern wird allseits anerkannt, daß es einem demokratischen Staat widerspricht, den einzelnen durch die Vorgabe ganz bestimmter Werte auf eine „genormte" Persönlichkeit zu fixieren. 134

131 Böckenförde, DÖV 1974, 253 (255 f.); Hesse, ZevKR 25 (1980); 239 (246 ff.); Link, JZ 1980, 564 (565); Meyer-Teschendorf, ZevKR 23 (1978), 202 (212 ff.). 1 32 Siehe dazu Häberle, Menschenbild, S. 75 ff.; Morlok, Sebstverständnis, S. 331, 334. Im Zusammenhang mit dem religiös-weltanschaulichen Pluralismus auch Böckenförde, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 58 (64 f.). 1 33 Zu den unterschiedlichen Verfassungsbegriffen, die diesen Konzeptionen zugrundeliegen, Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 1 ff.; Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 5 II. 134 Vgl. Schiaich, Weltanschauliche Neutralität, S. 18.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

I. Das Grundgesetz als organisatorisches Rahmengerüst Teilweise wird im Schrifttum angenommen, daß sich dem Grundgesetz weder ein geschlossenes Wertesystem noch ein bestimmtes Menschenbild entnehmen lasse. Das Grundgesetz gebe seinen Bürgern nur einen organisatorischen Handlungsrahmen vor, aus dem sich die für den sozialen Umgang unerläßlichen Rechte ergeben. Anliegen des Grundgesetzes sei es jedoch keinesfalls, eine bestimmte „geistig-kulturelle Entwicklungsstufe" festzulegen. 135 Eine derart werteorientierte Ausrichtung des Grundgesetzes widerspreche dem sich aus der Verfassung ergebenden Neutralitätsgebot. Dieses allseits anerkannte Verbot der staatlichen Indoktrination verkäme zu einer reinen Fiktion, wenn es nur innerhalb des vom Grundgesetz vorgegebenen Werterahmens Bedeutung erlange. Damit wäre eine von allen Einflüssen unabhängige Persönlichkeitsentfaltung von vornherein ausgeschlossen.136

II. Das Grundgesetz als Verkörperung eines Menschenbildes und Wertesystems Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die von einem gemeinschaftsbezogenen Individuum ausgeht137, entnehmen weite Teile des Schrifttums dem Grundgesetz ein verfassungsrechtlich verankertes Menschenbild mit einzelnen inhaltlichen Werten. 138 Die Werteorientierung wird auch daraus gefolgert, daß dem Staat des Grundgesetzes eine „geschichtlich gewachsene Individualität" zugrundeliege, ihm ein bestimmtes Kultursystem eigen sei, dessen wesentliche Elemente in den Grundrechten - vor allem in den Garantien von Ehe, Familie, Kirche und Schule - zum Ausdruck kommen sollen. 139 Die Gefahr, die mit einem solchen Konzept verbunden ist und von Schiaich klar herausgearbeitet wird, 1 4 0 liegt darin, daß ein in dieser Weise wertegebundener Staat in einem ständigen Spannungsverhältnis zur „Wertoffenheit des freiheitlichdemokratischen Staates" steht. Dem Staat wird einerseits die Aufgabe zugesprochen, den in den staatlichen Prozeß eingebrachten Werten mit Offenheit zu begeg135 Loewenstein, Verfassungslehre, S. 1 ff.; Jach, Staatliches Schulsystem, S. 151. Vgl. auch die Darstellung bei Maunz/Zippelius, Staatsrecht, § 5 II 2 d. 136 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 156 f. 137 BVerfGE 4, 7 (15 f.); 7, 320 (323): „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das des isolierten Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten."

138 In diesem Sinne beispielsweise Dürig, JR 1952, 259 ff.; Häberle, S. 83 ff. 139 v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 232, 234. 140 Schiaich, Essener Gespräche 4 (1970), 9(18 f.).

Menschenbild,

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

65

nen, andererseits soll der Staat über die Organisation der Partizipation erreichen, daß sich seine Bürger mit dem Staat identifizieren. 141 Die Kompromißformel lautet dahingehend, daß Nichtidentifikation des Staates mit partikularen Interessen ebensowenig wie weltanschauliche Neutralität bedeuten könne, daß die staatliche Ordnung wertfrei wäre. 142 Die bloße staatliche Abstinenz soll noch keine Garantie für die „Freiheit im Pluralismus" sein. 143 Dementsprechend soll die wesentliche Funktion des Staates darin bestehen, staatliche Entscheidungen zu treffen, die einen Ausgleich zwischen dem Dilemma von „Wertexistenz und Wahlfreiheit" herstellen. 144 Die bei dieser Situation von Weitgebundenheit und Offenheit des demokratischen Staates entstehende Spannung wird als eine systemimmanente betrachtet, die keiner Lösung zugeführt werden könne, sondern hinzunehmen sei. 145 Innerhalb dieses Konzepts kommt Art. 4 GG eine wesentliche Bedeutung zu. Er garantiert die Aufrechterhaltung der Wahlfreiheit und verhindert, daß der einmal gefundene Ausgleich zu einem Wertediktat führt. 146

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen (Art. 7 Abs. 1 G G ) Maßgebende Bedeutung für die Frage, ob und inwieweit der Staat durch schulische Erziehungsvorgaben die individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Schülern und Eltern beschränken kann, kommt dem in Art. 7 Abs. 1 GG normierten staatlichen Aufsichtsrecht über das Schulwesen zu. Die Errichtung und Ausgestaltung des Schulwesens fällt mangels ausdrücklich statuierter Bundeskompetenz zwar in die Zuständigkeit der Länder. Art. 7 GG sorgt jedoch für einige bundeseinheitliche Vorgaben. Obwohl allen Absätzen des Art. 7 GG - der Statuierung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen mit der Ausnahmeregelung für die bekenntnisfreien Schulen in Absatz 3, der Freistellungsmöglichkeit in Absatz 2 sowie der in den Absätzen 4 und 5 garantierten Privatschulfreiheit - eine grundlegende Funktion bei der Gestaltung des Schulwesens zukommt, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die im ersten Absatz verankerte staatliche Aufsicht über das Schulwesen. Diesem Absatz kommt im Zusammenhang mit der vorliegenden Fragestellung herausragende Bedeutung 141

v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 235; Schiaich, Essener Gespräche 4 (1970), 9

(18 f.). 142

v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 235. ι « Schiaich, Essener Gespräche 4 (1970), 9(19). 1 44 Schiaich, Essener Gespräche 4 (1970), 9 (19). 145 Schiaich, Essener Gespräche 4 (1970), 9 (17). 146 Schiaich, Essener Gespräche 4 (1970), 9 (18). Allgemein zu den Schwierigkeiten einer Wertbegründung des Rechts Böckenförde, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 67 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, 136 ff. 5 Rathke

66

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

zu. Von dem ihm zugesprochenen Umfang und dem Inhalt des staatlichen Aufsichtsrechts hängt es ab, wie groß die Konfliktspanne zwischen dem Aufsichtsrecht des Staates über das Schulwesen und den Freiheitsrechten der Schüler bzw. ihren Eltern ist. Aus der Bandbreite an möglichen Konflikten konzentriert sich die vorliegende Arbeit - dem Zuschnitt des Untersuchungsgegenstandes entsprechend 147 - auf die Konfrontation von staatlichem Aufsichtsrecht einerseits und der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Religionsfreiheit der Schüler bzw. - vermittelt über Art. 6 Abs. 2 GG - deren Eltern andererseits.

A. Entwicklung des Aufsichtsverständnisses Dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 GG zufolge steht das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Unstreitig folgt daraus, daß der Staat sowohl über das öffentliche als auch über das private Schulwesen wacht. 148 Außerordentlich umstritten sind jedoch Umfang und Grenzen dieser Aufsicht. Hier bestehen sowohl im Schrifttum als auch zwischen Literatur und Rechtsprechung erhebliche Unterschiede.

I. Begriffliche Vorklärungen Der Begriff „Aufsicht" findet sich sowohl für die Aufsicht im eigenen - staatlichen - Bereich für die Kontrolle des übergeordneten gegenüber dem nachgeordneten Verwaltungsträger als auch für die Kontrolle eines fremden Bereichs, im Regelfall eines Selbstverwaltungsbereichs. In beiden Fällen wird von der Befugnis des Staates zur Rechts- und Fachaufsicht gesprochen. Diese gängige „vereinheitlichende" Terminologie verschleiert den Blick für bestehende Unterschiede hinsichtlich des Umfangs der Aufsicht. Während sich die staatliche Kontrolle im eigenen Bereich gleichermaßen auf die Rechts- und die Zweckmäßigkeit des Handelns nachgeordneter Verwaltungsträger erstreckt, beschränkt sich die Kontrolle über den fremden Bereich im Regelfall auf die Rechtmäßigkeit des Handelns. Nur bei ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung besteht darüber hinaus ausnahmsweise die Befugnis zur grundsätzlich unbeschränkten Kontrolle auch der Zweckmäßigkeit des Verwaltongshandelns (Fachaufsicht). Sinnvoll und erstrebenswert wäre daher, wenn bereits durch eine begriffliche Differenzierung verdeutlicht würde, ob von einer Aufsicht im eigenen oder fremden Bereich die Rede ist. Im folgenden soll dahingehend differenziert werden, daß der Begriff der Fachaufsicht nur für 147

Vgl. zu dieser Eingrenzung oben S. 30 f. Als „öffentliche Schulen" werden die Schulen in staatlicher und nichtstaatlicher, aber öffentlicher Trägerschaft bezeichnet. Letztere stehen im Regelfall in Trägerschaft der Kommunen oder Kreise. Der Begriff der privaten Schulen oder Privatschulen bezieht sich auf Schulen in privater Trägerschaft. 148

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

67

den fremden Bereich Anwendung findet. Für die Kontrolle im eigenen Bereich wird der Begriff der verwaltungsinternen Kontrolle bevorzugt, da er deutlich macht, daß es um eine Rechts- und Zweckmäßigkeitskontrolle gegenüber einem nachgeordneten Verwaltungsträger geht. Die Problematik des staatlichen Aufsichtsrechts über das Schulwesen geht ganz gleich, wie im einzelnen die Aufsichtsbefugnisse bezeichnet werden - über das klassische Begriffsverständnis von „Aufsicht", das sich regelmäßig auf die Kontrolle des Handelns eines anderen bezieht, weit hinaus. Im Kern der Auseinandersetzung geht es um Umfang und Reichweite der Befugnisse der Exekutive im gestalterischen und rechtsetzenden Bereich. Nach dem Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes ist es unbestritten, daß die Legislative - und zwar je nach Kompetenz das Bundesparlament oder die Landesparlamente - in ihrer Regelungsbefugnis bis hin zur Grenze der verfassungsrechtlich abgesicherten Rechte Dritter im Grundsatz keinen Beschränkungen unterliegt. 149 Entscheidend ist jedoch, welche Befugnisse der Exekutive im schulischen Bereich zukommen. Hier spielt der Aufsichtsbegriff eine maßgebende Rolle. Er dient als Instrument, um die Reichweite des exekutivischen Einflusses auf das Schulwesen - insbesondere auf die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts - zu bestimmen. In historischer Perspektive war es Aufgabe und Funktion des Aufsichtsbegriffs, den Einfluß der Exekutive auf das Bildungswesen zu sichern und potentiell weit zu halten. Angesichts der im Laufe des 19. Jahrhunderts kontinuierlich gewachsenen Bedeutung des Gesetzesvorbehalts konnte der Aufsichtsbegriff diese Funktion nur erfüllen, indem er eng mit dem Institut des besonderen Gewaltverhältnisses im Schulwesen150 verknüpft wurde. Beide Entwicklungsstränge - Ausweitung des Gesetzesvorbehalts und Zurechnung des Schulwesens zu den besonderen Gewaltverhältnissen - waren entscheidende Rahmenbedingungen für Verständnis und Reichweite des Aufsichtsbegriffs. Da ihr Einfluß sich teilweise bis heute fortsetzt, muß ihnen zunächst die Aufmerksamkeit gelten, bevor der Blick erneut auf das Aufsichtsverständnis gerichtet werden kann. Vorausgeschickt werden muß jedoch die Unterscheidung von äußeren und inneren Schulangelegenheiten, da sie für die getroffenen Grenzziehungen in vielfacher Hinsicht maßgebend ist. Werden mit den äußeren Schulangelegenheiten üblicherweise Errichtung, Unterhaltung und Finanzierung der Schulen bezeichnet, die das Verhältnis zwischen staatlichen Schulbehörden und Schulträgern betreffen, richtet sich der Begriff der inneren Schulangelegenheiten auf die Art, die Formen und Gegenstände des Unterrichts und damit auf das eigentliche Schulgeschehen.151

149 N u r wenige Autoren arbeiten diesen Aspekt in der vorstehenden Deutlichkeit heraus. In diesem Sinne beispielsweise Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (213). 150 Dazu sogleich unten S. 70 ff. 151 Dazu zählen namentlich der Unterricht und die damit zusammenhängenden Verwaltungsmaßnahmen, pädagogische Entscheidungen in Fachkonferenzen, Notengebung und Versetzungen etc.; vgl. Avenarius, Schulrechtskunde, S. 159 ff. *

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

68

II. Wesentliche Rahmenbedingungen: Vorbehalt des Gesetzes und Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis 1. Vorbehalt des Gesetzes

Hinter dem Grundsatz des Gesetzesvorbehalts verbirgt sich die entscheidende Frage, wie die Kompetenzen von gesetzgebender und vollziehender Gewalt voneinander abgegrenzt und verteilt werden sollen. Dem Grundgesetz läßt sich eine ausdrückliche Antwort nicht entnehmen. Art. 20 Abs. 3 GG sieht lediglich die Bindung der vollziehenden Gewalt an die Vorgaben der gesetzgebenden Gewalt vor, besagt jedoch nichts darüber, ob und inwieweit die Exekutive auch ohne gesetzliche Grundlagen handeln darf.

a) Entwicklung des Gesetzesvorbehalts bis zum Erlaß des Grundgesetzes Das Prinzip vom Vorbehalt des Gesetzes entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als verfassungsrechtliches Instrument der konstitutionellen Monarchie. Entsprechend seiner Funktion, den individuellen und gesellschaftlichen Bereich gegenüber der monarchischen Exekutive abzusichern und notwendige Eingriffe an die Zustimmung der Volksvertretungen zu binden, blieb das Prinzip auf Eingriffe in Freiheit und Eigentum beschränkt. Die ohnedies nur in Ansätzen vorhandene Leistungsverwaltung wurde nicht erfaßt. Der gesamte verwaltungsinterne Bereich, zu dem alle „besonderen Gewaltverhältnisse" und damit im Grundsatz auch das Bildungswesen zählten, verblieb in der Regelungsbefugnis der Exekutive. Diese - reduzierten - Anforderungen galten bis in die Weimarer Zeit hinein. 1 5 2 War mithin zwar eine gesetzliche Grundlage für Eingriffe der Exekutive in Freiheit und Eigentum des einzelnen gefordert, wurden jedoch keine genaueren Anforderungen an den Inhalt der gesetzlichen Ermächtigung gestellt. 153 Im übrigen blieb es der Verwaltung selbst überlassen, Regelungen zu treffen.

b) Der Vorbehalt des Gesetzes unter dem Grundgesetz Gegenüber der Weimarer Verfassung hat sich die Ausgangslage unter dem Grundgesetz insoweit geändert, als der Gesetzgeber über Art. 80 GG dazu verpflichtet ist, die gesetzgeberischen Aufgaben selbst wahrzunehmen. Delegieren darf er diese Befugnisse nur dann an die Exekutive, wenn er in einem Gesetz 152

Vgl. dazu die Ausführungen bei Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 18 Rdnr. 8 f.; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 5 Rdnr. 206 ff.; Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rdnr. 10 ff.; Kloepfer, JZ 1984, 685 f.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 9. 153 Dazu Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 262.

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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Inhalt, Zweck und Ausmaß der zu übertragenden Befugnisse umgrenzt hat. Mit Blick auf die Reichweite des Gesetzesvorbehalts ist die Aussagekraft von Art. 80 GG allerdings begrenzt. Zum einen sind die dort genannten Anforderungen an die Angabe von Inhalt, Zweck und Ausmaß in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vergleichsweise gering angesetzt worden. 154 Zum anderen gibt Art. 80 GG keine Antwort auf die weiterreichende Frage, ob es der Exekutive - über das Setzen von Rechtsgrundlagen im Verordnungswege hinaus - gestattet ist, ohne gesetzliche Grundlage rechtlich relevante Handlungen vorzunehmen. 155 Einen gewissen Wandel hat die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit sich gebracht. 156 Das Bundesverfassungsgericht schränkt die Möglichkeit, Aufgaben auf die Exekutive zu übertragen, dadurch ein, daß es alle grundlegenden und wichtigen Entscheidungen dem Gesetzgeber vorbehält. Dem Gesetzgeber soll die Verpflichtung obliegen, „in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst ( . . . ) zu treffen". 157 Was als wesentlich zu betrachten ist, kann nach Ansicht des Verfassungsgerichts nicht allgemein, sondern nur für den einzelnen Sachbereich und unter Berücksichtigung der beabsichtigten oder tatsächlichen Regelungsintensität beurteilt werden. 158 Aufgrund dieser gesteigerten Anforderungen an den Gesetzgeber wird vielfach nicht mehr von einem Gesetzes-, sondern einem Parlaments vorbehält gesprochen. 159 Entscheidend für den schulischen Bereich ist, welche Entscheidungen als so „wesentlich" zu qualifizieren sind, daß sie nicht (mehr) der Exekutive überlassen bleiben können, sondern vom Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Problematik in einer ganzen Reihe von Entscheidungen zu nähern versucht, ohne bei der Eingrenzung jedoch über Einzelfallentscheidungen hinauszugelangen.160 Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, 154 Vgl. nur BVerfGE 35, 179 (183); 38, 348 (358). 155 Auf diesen von Art. 80 GG nicht geregelten Punkt weist insbesondere Achterberg, (Allgemeines Verwaltungsrecht, § 18 Rdnr. 4) hin. Speziell zum Gesetzesvorbehalt im Schulverhältnis Seilschopp, DÖV 1971,413 ff. 156 Dazu Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 18 Rdnr. 31 f.; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 265 ff.; Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rdnr. 18; Kloepfer, JZ 1984, 685 (689 ff.); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 264 ff. 157 BVerfGE 61, 260 (275); 88, 103 (116). Vgl. zur früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzesvorbehalt BVerfGE 2, 307 (319 f.); 8, 155 (166 ff.); 33, 303 (336 f.); 33, 125 (158 ff.); 40, 237 (248 ff.). 158 BVerfGE 49, 89 (127). 159 Vgl. Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 265; Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rdnr. 18; Kloepfer, JZ 1984, 685 (690); Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 264. 160 Vgl. BVerfGE 34, 165 (192 f.); 41, 251 (259 f.); 45, 400 (417 f.); 47, 46 (78 ff.); 58, 268.

70

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

daß das Gericht auf der einen Seite der Gefahr einer zu weitgehenden Vergesetzlichung des Schulverhältnisses entgehen, auf der anderen Seite aber alle für die Grundrechtsausübung von Schülern und Eltern wesentlichen Entscheidungen dem Gesetzgeber vorbehalten will. Solange aber die Grenzen unklar bleiben, bietet sich der Schulverwaltung die Möglichkeit, über einen weiten Eingriffsbegriff verstärkten Einfluß auf das Schulwesen geltend zu machen.

2. Das besondere Gewaltverhältnis

Das besondere Gewaltverhältnis ist - nach der klassischen Differenzierung Otto Mayers 161 - eine Bezeichnung für die besondere Nähebeziehung von Bürger und Staat, die vor allem im Schul-, Strafgefangenen-, Wehrdienst-, Beamten- und sonstigen AnstaltsVerhältnissen besteht.162 Während das „allgemeine Gewaltverhältnis" die allgemeine rechtliche Abhängigkeit bezeichnen soll, in der der Bürger zum Staat steht, zielt der Begriff des „besonderen Gewaltverhältnisses" auf eine verschärfte Abhängigkeit, die mit Blick auf einen bestimmten Zweck öffentlicher Verwaltung für jene begründet wird, die in den vorgesehenen besonderen Zusammenhang treten. In diesem besonderen Verhältnis zum Staat hat der einzelne - nach der klassischen Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis - geringere Rechte als im allgemeinen Verhältnis zum Staat. Da er sich in einem Zustand verminderter Freiheit befinden soll, muß er sich nach dem richten, was der jeweilige Zweck der öffentlichen Verwaltung erfordert. Insofern steht das besondere Gewaltverhältnis - nach klassischem Verständnis - außerhalb der Rechtsordnung. Es ist „rechtsfreier Raum", in dem insbesondere der Vorbehalt des Gesetzes nicht gilt. 1 6 3 Die klassische Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis hat sich im Laufe der Zeit gewandelt und ist von der Strafgefangenen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 164 bekanntlich 1972 überholt worden. Da die Entwicklung und die damit verbundenen Folgewirkungen für den Aufsichtsbegriff jedoch von erheblicher Bedeutung sind, soll sie in groben Zügen nachgezeichnet werden.

161

Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 101 f. Achterberg, § 20 Rdnr. 44; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 275; Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr. 21; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr. 27. 163 Allgemein zum klassischen Verständnis des besonderen Gewaltverhältnisses Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rdnr. 46; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6; Rdnr. 275 ff.; Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 59 ff.; Wolff! Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 9 Rdnr. 3. 164 BVerfGE 33, 1 ff. 162

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

71

a) Das besondere Gewaltverhältnis vor Erlaß des Grundgesetzes In historischer Perspektive ist die Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis das verwaltungsrechtliche Abbild der Machtverhältnisse in der konstitutionellen Monarchie. 165 Jene Bereiche, die die Volksvertretungen dem Monarchen nicht abringen konnten, blieben bei diesem und der ihm zur Verfügung stehenden Bürokratie als exekutivischer Freiraum, in dem die Regelungsbefugnis bei der Spitze der Exekutive lag. Daß Bürokratie, Heer und Bildungswesen dem Parlament entzogenen und damit dem Monarchen unterworfen blieb, war politisch bedeutsam, wenngleich diese Bedeutung in der juristischen Figur des besonderen Gewaltverhältnisses nur mittelbar zum Ausdruck kam. Auch nach dem Ende der konstitutionellen Monarchie blieb die Dogmatik der gesetzesfrei von der Exekutive beherrschten „besonderen Gewaltverhältnisse" bestehen. Beamtentum, Militär und Bildungswesen wurden nach wie vor als Herrschaftsbereich einer Exekutive angesehen, die dem Parlament - insoweit - überwiegend distanziert gegenüberstand. Auch unter der Weimarer Verfassung waren diese besonderen Nähebeziehungen Anlaß dafür, die jeweiligen Bereiche zum staatlichen Sektor zu zählen. Als Folge dieser Einbeziehung in den innerstaatlichen Bereich wurde der gesamte Bereich als rechtsfreier Raum betrachtet, der allein und ausschließlich der administrativen Gestaltungsbefugnis unterlag. In ihm kamen damit weder die Grundrechte noch der Gesetzesvorbehalt zur Anwendung, Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die in diesem Bereich getroffenen Anordnungen bestanden nicht. Der Exekutive war es somit möglich, ohne gesetzliche Grundlage und gerichtliche Überprüfung Eingriffe in den Rechtsbereich des einzelnen anzuordnen. Die von der Exekutive erlassenen Anordnungen ergingen regelmäßig in Form von Verwaltungsvorschriften, denen kein Rechtscharakter zugesprochen wurde. 166 b) Das besondere Gewaltverhältnis unter dem Grundgesetz Mit dem Grundgesetz und dem in ihm enthaltenen System der Grundrechte ist die klassische Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis nicht vereinbar. Verfassungs- und Gesetzesbindung sowie die Grundrechtsunterworfenheit der gesamten öffentlichen Verwaltung stehen der Vorstellung von gesetzesfreien Räumen entgegen. Diese Einsicht hat sich nach Erlaß des Grundgesetzes erst allmählich durchgesetzt. Mit Blick auf die Entwicklung, die das besondere Gewaltverhältnis unter dem Grundgesetz durchlaufen hat, lassen sich drei Phasen unterscheiden. 165 So der Hinweis von Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rdnr. 46; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 277; Wolff Ί Bachoff Stober, Verwaltungsrecht I, § 9 Rdnr. 3. 166 Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rdnr. 44; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 275 ff.; Klein, DVB1. 1987, 1102; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 17.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Zunächst wurde die unter der Weimarer Verfassung bestehende Situation unter dem Grundgesetz weitgehend aufrechterhalten. Zur Begründung wurde entweder auf das Gewohnheitsrecht oder auf verfassungsrechtliche Regelungen rekurriert, zu denen unter anderem auch Art. 7 Abs. 1 GG gezählt wurde. Für den Schulbereich wurde ihm die Aufrechterhaltung des besonderen Gewaltverhältnisses entnommen. 167 Im Laufe der Zeit setzte sich jedoch zunehmend die Ansicht durch, daß die Grundrechte in den besonderen Gewaltverhältnissen nicht vollkommen ausgeklammert werden können. Mit dieser Einsicht wurde eine neue Phase eingeläutet. Ausgangspunkt der neuen Entwicklung war die Erkenntnis, daß im innerstaatlichen Bereich durchaus Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und dem einzelnen bestehen können. In dem Augenblick, in dem die innerstaatlichen Rechtsbeziehungen anerkannt wurden, unterlag der Staat aber der Verpflichtung, bei der Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen Grundrechte zu beachten. Allerdings war die Wirkung der Grundrechte insoweit noch eingeschränkt, als nicht jede den Grundrechtsbereich berührende Regelung als Eingriff geweitet wurde. Zunächst bürgerte sich vielmehr die von Ule begründete Differenzierung zwischen dem Grund- und dem Betriebsverhältnis ein, die im Ergebnis dazu führte, daß ein Eingriff nur dann angenommen wurde, wenn das Grund- und nicht das Betriebsverhältnis betroffen war. 168 Auf der Grundlage dieses Verständnisses unterlagen die Anstaltsverhältnisse - trotz des Eindringens der Grundrechte - weiterhin einer besonderen Situation. Dies änderte sich erst mit der vom Bundesverfassungsgericht getroffenen Strafgefangenen-Entscheidung 169, die zugleich das Ende der Figur des besonderen Gewaltverhältnisses einleitete. Obwohl das Bundesverfassungsgericht die vorherigen Phasen mitgetragen hatte, kam es in der Strafgefangenen-Entscheidung zum Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung. 170 Ohne weitere Auseinandersetzung mit der Problematik erklärte das Verfassungsgericht, daß den Grundrechten auch im Strafgefangenenverhältnis uneingeschränkte Geltung zukomme: „In Art. 1 Abs. 3 GG werden die Grundrechte für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung für unmittelbar verbindlich erklärt. Dieser umfassenden Bindung der staatlichen Gewalt widerspräche es, wenn im Strafvollzug die Grundrechte beliebig oder nach Ermessen eingeschränkt werden könnten. ( . . . ) Die Grundrechte von Strafgefangenen können also nur durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden ( . . . ) " . 1 7 1 Fortan 167

So der Hinweis bei Maurer, Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr. 28. 168 ule, VVDStRL 15 (1957), 109 (152 ff.). Vgl. dazu insbesondere auch Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rdnr. 47 f.; in diesem Sinne zudem Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 15 Rdnr. 783; Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 41 Rdnr. 16 ff.; Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 32 Rdnr. 31. 169 BVerfGE 33, 1 ff. i™ BVerfGE 15, 288 (293 ff.); allgemein zum besonderen Gewaltverhältnis auch BVerfGE 3, 58 (153); 15, 167 (199); 16, 94 (114 f.). " ι BVerfGE 33, 1 (10 f.).

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

73

soll die Exekutive nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts auch in den besonderen Staat-Bürger-Verhältnissen den üblichen rechtsstaatlichen Bindungen unterliegen. Es gelten der Gesetzesvorbehalt ebenso wie die Grundrechte, das gesamte Verwaltungshandeln ist gemäß Art. 19 Abs. 4 GG justitiabel. Das Bundesverfassungsgericht hat in weiteren, das besondere Gewaltverhältnis betreffenden Entscheidungen den in der Strafgefangenen-Entscheidung beschrittenen Weg fortgesetzt und ausdifferenziert. 172 Für das Schulverhältnis hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Bindung der Verwaltung an Gesetzes vorbehält und Grundrechte ausgesprochen und alle wesentlichen Entscheidungen dem Gesetzgeber vorbehalten. 173 Vor diesem Hintergrund läßt sich festhalten, daß die bislang als „besonderes Gewaltverhältnis" bezeichneten Verbindungen zwischen Staat und Gesellschaft zwar Eigenarten aufweisen, denen durch gezielte Regelungen Rechnung zu tragen ist. Dennoch unterliegt die Verwaltung bei der Ausgestaltung dieser Verhältnisse den für sie im sonstigen Staat-Bürger-Verhältnis üblichen Bindungen. Ihr Handeln bedarf einer gesetzlichen Grundlage und muß den Grundrechten der beteiligten Bürger voll Rechnung tragen. Die Literatur ist der Verfassungsrechtsprechung ganz überwiegend gefolgt. 174 Auch wenn der Begriff des „besonderen Gewaltverhältnisses" bisweilen noch auftaucht 175 , können der Exekutive daraus keine von ihrem sonstigen Verwaltungshandeln abweichenden Befugnisse erwachsen. Freilich ist auch heute noch manche Frage ungeklärt. Offen ist insbesondere, inwieweit für die verschiedenen Pflichtenverhältnisse eine unterschiedslose Regelung möglich ist, die den Erfordernissen des jeweiligen Verhältnisses - im Strafvollzug, in der Schule, im Wehrdienst etc. Rechnung trägt. 176 Die Unsicherheiten, die damit verbunden sind, schlagen sich im Bereich der Schule vor allem darin nieder, daß die Abgrenzung von staatlichem Erziehungsauftrag einerseits und Grundrechten der Schüler und Eltern andererseits unklar, die Übergänge fließend geblieben sind. Die verbleibenden Unsicherheiten wirken sich auch auf die Interpretation des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG aus. 177 In dem Maße, in dem das Verhältnis von staatlichem Erziehungsauftrag und Grundrechten der betroffenen Schüler und Eltern als ein besonderes bezeich172 BVerfGE 40, 237 (253 f.); 40, 276 (283); 58, 358 (367). 173 Erstmalig in BVerfGE 34, 165 (192 f.), aber auch in BVerfGE 41, 251 (259 ff.); 45, 400 (417 ff.); 47, 46 (78 ff.); 58, 257 (264 ff.). 174 Evers, VVDStRL 23, (1966), 147 (160 ff.); Kempf, JuS 1972, 701 (704); Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rdnr. 46; Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rdnr. 21; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr. 28 ff.; Bull, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6 Rdnr. 278. Speziell für die Schule Heckel, RdJB 1969, 8 (9 ff.); Hufen, Grenzen schulischer Selbstverwaltung, in: Jach / Jenkner, Autonomie der staatlichen Schule, 51 (54); Perschel, RdJB 1968, 184 (185). 175 Einen Versuch, das „besondere Gewaltverhältnis" als verwaltungsrechtliche Kategorie zu reaktivieren, unternimmt, Ronellenfitsch, DÖV 1981, 933 ff. 1 76 Auf diese Problematik hat schon Thieme, JZ 1964, 81 ff., hingewiesen. 177 Vgl. dazu sogleich unten S. 76 ff.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

net wird, 1 7 8 liegt die Versuchung nahe, die Reichweite des staatlichen Aufsichtsrechts über das Schulwesen mit eben diesen Besonderheiten zu begründen und potentiell weit zu fassen. Mit dieser Erkenntnis vor Augen kann der Blick erneut auf die Entwicklung des Aufsichtsverständnisses gerichtet werden.

III. Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen unter der Weimarer Verfassung (Art. 144 S. 1 WRV) Die Aufsicht des Staates über das Schulwesen kann auf eine lange verfassungsrechtliche Tradition zurückblicken. Schon im preußischen Allgemeinen Landrecht war ein solches Aufsichtsrecht in § 9 Abs. 2 ALR verankert. 179 Im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 7 GG erlangt jedoch insbesondere Art. 144 S. 1 WRV herausragende Bedeutung und wird dementsprechend oft in Bezug genommen.180 Der in Art. 144 S. 1 WRV verwendete Aufsichtsbegriff beschränkte sich nicht auf ein enges Aufsichtsverständnis (Aufsichtsbefugnisse im eigentlichen Sinne), sondern ging weit darüber hinaus und stellte einen Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Funktionen dar, die der Exekutive oblagen und teils aufsichtlicher, teils regelnder, teils administrativer Natur waren. 181 Grundlage für ein solches weites Aufsichtsverständnis war die Tatsache, daß unter der Weimarer Verfassung keine Unterscheidung zwischen Schulaufsicht und Schulverwaltung getroffen wurde. 182 1. Aufsicht im weiteren Sinn

Versucht man das Aufsichtsverständnis unter der Weimarer Verfassung in den Kategorien von Aufsicht im weiteren und Aufsicht im engeren Sinn zu fassen, 183 zeigt sich rasch, daß mit der Aufsicht im weiteren Sinne in der Weimarer Zeit keine bloßen Aufsichtsbefugnisse verbunden waren, sondern das umfassende Recht zur „Leitung und Verwaltung der inneren Schulangelegenheiten durch den 178 in diese Richtung weist auch BVerfGE 47,46 (78 ff.). 179 Einen kurzen und prägnanten Überblick über die historische Entwicklung des Aufsichtsrechts des Staates über das Schulwesen bietet Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (206 ff.). 180 Art. 144 WRV lautet: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates; er kann die Gemeinden daran beteiligen. Die Schulaufsicht wird durch hauptamtlich tätige, fachmännisch vorgebildete Beamte ausgeübt." 181 Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 144 Nr. 1; Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 701. 182 Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 144 Nr. 1. 183 Die ausdrückliche Gegenüberstellung dieser beiden Aufsichtsbegriffe war in der Weimarer Zeit nicht sehr geläufig. Damals wurde im Regelfall nur von der Aufsicht im engeren Sinn gesprochen, neben die die Zuständigkeit des Staates im Bereich der inneren Schulangelegenheiten trat. Nichtsdestotrotz soll diese Unterschiedung schon hier eingeführt werden, da sie der Sache nach bereits unter der Weimarer Verfassung existierte.

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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Staat". 184 Aus diesem Grund wurde in späteren Jahren für diesen Bereich auch der Begriff der Schulhoheit eingeführt. 185 Die inneren Schulangelegenheiten umfaßten die „Gegenstände und Formen des Unterrichts" wie Lehrplan, Lehrziele, Lehrmittel, Lehrmethode und Schulzucht, die von der Schulaufsicht gesteuert und festgesetzt wurden. 186 Die Regelung dieser inneren Schulangelegenheiten war ausschließliche Domäne der Exekutive. Voraussetzung für die uneingeschränkte Befugnis der Exekutive zur Regelung der inneren Schulangelegenheiten war das unter der Weimarer Verfassung herrschende Verständnis vom besonderen Gewaltverhältnis. 187 Da zahlreichen von der Verwaltung getroffenen Regelungen im schulischen Bereich ein freiheitsbeschränkender und damit in die Freiheit eingreifender Charakter nicht abgesprochen werden konnte, zumal die in Art. 145 S. 1 WRV verfassungsrechtlich angeordnete Schulpflicht die Schulerziehung nicht dem Belieben des einzelnen überließ, hätte unter normalen Umständen der Gesetzesvorbehalt auch schon unter der Weimarer Verfassung greifen müssen. Aufgrund der Zurechnung des Schulbereichs zu den besonderen Gewalt Verhältnissen war dem Gesetzgeber die Regelung dieses Bereichs jedoch verwehrt, so daß Schulaufsicht und Schulverwaltung im Ergebnis weitgehend gleichgestellt werden konnten. Allein dadurch, daß im Schulverhältnis der Gesetzesvorbehalt keine Anwendung fand, war es der Verwaltung möglich, den gesamten Bereich frei von gesetzlichen Vorgaben zu gestalten. Blickt man auf die geschichtliche Entwicklung des Aufsichtsbegriffs zurück, war die Gleichsetzung von Schulverwaltung und Schulaufsicht keineswegs zwingend oder gar gewollt. Fuß arbeitet treffend heraus, daß dem weiten Schulaufsichtsverständis ein folgenreicher Bedeutungswandel zugrundeliegt. Ausgangspunkt dafür war die in § 18 Abs. 1 des preußischen Allgemeinen Landrechts vorgesehene formelle Zusammenlegung von Schulaufsicht und Schulverwaltung in einer Behörde. Durch diese Zusammenlegung verwischten im Laufe der Zeit die Unter184

Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 144 Nr. 1; Giese, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 144 Nr. 1. 185 Vgl. dazu die Ausführungen bei Hopf/Nevermann/Richter, Schulaufsicht, S. 44 m. w. N. Vorgeschlagen wurde die Verwendung dieses Begriffs bereits bei Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, S. 701 f. 186 Den inneren Schulangelegenheiten stehen die äußeren Schulangelegenheiten gegenüber, die sich auf die Schulträgerschaft und damit auf die Errichtung, Unterhaltung sowie Finanzierung der Schule beziehen. Die Verwaltung dieser äußeren Schulangelegenheiten lag in der Weimarer Zeit ausschließlich in den Händen der Gemeinden. Diese Situation war keineswegs zwingend. Die verfassungsrechtliche Situation wäre für andere Regelungen durchaus offen gewesen. Mangels anderweitiger Regelung lagen die äußeren Schulangelegenheiten jedoch bei den Gemeinden. Diese Aufteilung zwischen der Verwaltung der äußeren Angelegenheiten, die den Gemeinden oblag, und jener der inneren, die dem Staat zustand, führte zu dem von Anschütz entworfenen, prägnanten und daher viel zitierten Bild: „Die Gemeinde baut, als Trägerin der äußeren Schulverwaltung, der Schule das Haus; Herr im Hause aber ist der Staat." Vgl. zum ganzen Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 143 Nr. 2. 187 Vgl. dazu oben S. 71.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

schiede zwischen den beiden Bereichen und führten letztlich zu dem unter der Weimarer Verfassung vertretenen weiten Aufsichtsbegriff, der nunmehr darüber hinaus auf die Figur des besonderen Gewaltverhältnisses gestützt wurde. 188 Selbst jene Autoren, denen unter der Weimarer Verfassung die ursprüngliche Trennung von Schulaufsicht und Schulverwaltung noch gegenwärtig war, rechtfertigten nun die weite Auslegung des Aufsichtsbegriff - insbesondere die weiten Gestaltungsbefugnisse der Exekutive im Bereich der inneren Schulangelegenheiten - mit der Zurechnung der Schule zum besonderen Gewaltverhältnis. 189 Angesichts dieses Befundes läßt sich festhalten, daß die unbeschränkte Gestaltungsbefugnis der Exekutive im Bereich der inneren Schulangelegenheiten unter der Weimarer Verfassung unumstritten war. Der Aufsichtsbegriff in Art. 144 S. 1 WRV wurde als die „Herrschaft des Staates über die Schule" verstanden. 190 Entscheidende Voraussetzung und Grundlage für dieses weite Aufsichtsverständnis war jedoch die Annahme, daß das Schulverhältnis zu den besonderen Gewaltverhältnissen zählte. Ohne diese Prämisse wäre der weite Aufsichtsbegriff nicht zu begründen gewesen. 2. Aufsicht im engeren Sinn

Die Aufsicht im engeren Sinn bezog sich auch in der Weimarer Zeit auf die eigentlichen Aufsichtsbefugnisse der Verwaltung über die einzelnen Schulen. Aufgrund der weiten Gestaltungsbefugnisse des Staates kam dieser „eigentlichen" Kontrolle der Schulen unter der Weimarer Verfassung keine herausragende Bedeutung zu. Relevanz erlangte sie nur im Bereich der nichtstaatlichen Schulen. Nur dort lag ein von der staatlichen Verwaltung getrennter und damit ihrer unmittelbaren Beeinflussung entzogener Bereich vor.

B. Staatliches Aufsichtsrecht über das Schulwesen unter dem Grundgesetz Zu einem zentralen Streitpunkt unter dem Grundgesetz hat sich die Frage entwickelt, ob die Regelung des Art. 7 Abs. 1 GG an das traditionelle Begriffsverständnis anknüpfen und der Exekutive weiterhin weitreichende Kompetenzen im Schulbereich einräumen wollte, oder ob das Grundgesetz einen Bruch mit dieser Tradition vollzogen und den Aufsichtsbegriff auf sein eigentliches, enges Verständnis zurückgeführt hat. Zur Verdeutlichung dieser Auseinandersetzung wird zunächst auf den Meinungsstand im Schrifttum eingegangen, bevor der vom Bundesverfassungsgericht beschrittene Weg dargestellt wird. iss Siehe dazu die ausführliche Darstellung bei Fuß, VVDStRL 23 (1960), 199 (207 ff.). 189 190

So beispielsweise Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 702 f. Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 144 Nr. 1.

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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I. Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen in den Stellungnahmen des Schrifttums Verständnis und Auslegung von Art. 7 Abs. 1 GG sind durch die Änderungen, die das Schulrecht seit Beginn der siebziger Jahre erfahren hat, entscheidend geprägt worden. Dieser Wandel des Schulrechts hat im Ergebnis zu einer gewissen Annäherung der einander ursprünglich konträr gegenüberstehenden Ansichten geführt. Für das Verständnis des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG ist jedoch ein Überblick über die gesamte Entwicklung unerläßlich. Nur auf diese Weise läßt sich erkennen, wodurch die Veränderungen bedingt waren und welchen Vorverständnissen sie weiterhin verhaftet sind. Zu diesem Zweck sollen - der Entwicklung des Schulrechts entsprechend - zwei Phasen voneinander unterschieden werden: die Auslegung des Aufsichtsbegriffs bis in die siebziger Jahre sowie die seit den siebziger Jahren eingetretene Entwicklung, ausgelöst durch die Verabschiedung vom besonderen Gewaltverhältnis und die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

1. Entwicklung

bis in die siebziger Jahre

Beinahe unmittelbar nach Erlaß des Grundgesetzes begann die Diskussion um das Verständnis des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG. Dabei stand zunächst die Frage im Mittelpunkt, inwieweit Art. 7 Abs. 1 GG von dem traditionellen AufsichtsVerständnis - insbesondere vom Verständnis des Art. 144 S. 1 WRV - abrükken oder im Gegenteil eine bloße Fortführung der bisherigen Konzeption absichern sollte.

a) Entwicklung der herrschenden Ansicht aa) Anknüpfung an die Weimarer

Verfassung

Die ersten Kommentierungen erwecken den Eindruck, als ob die Tradition auch nach Schaffung des Grundgesetzes ungebrochen sei, das Schulwesen unter der Herrschaft des Staates stehe und der Aufsichtsbegriff damit nach wie vor über das enge Begriffsverständnis hinausgehe.191 Der Exekutive wurde in dieser Phase neben den eigentlichen Aufsichtsrechten weiterhin die Befugnis zugesprochen, die inneren Schulangelegenheiten umfassend und ohne gesetzliche Grundlage zu regeln. Es zeigte sich jedoch rasch, daß die unter der Weimarer Verfassung unbe-

191

So bei v. Mangoldt/Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Auflage 1957, Art. 7 Anm. III 2 f.; Wernicke , Bonner Kommentar, Stand 1956), Art. 7 Anm. II 1 a. Gegen den Staat als „absoluter Herr der Schule" sprechen sich deutlich Peters (in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, Band I V / 1 , S. 411) und Hechel (DÖV 1952, 617 [621]) aus.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

schränkte Gestaltungsfreiheit der Exekutive im Bereich der inneren Schulangelegenheiten unter dem Grundgesetz nicht in derselben Breite fortbestehen konnte. bb) Beschränkung des Aufsichtsrechts durch „ kollidierendes Verfassungsrecht"

Die ersten Beschränkungen des Aufsichtsbegriffs sind auf das gewandelte Verständnis vom besonderen Gewaltverhältnis zurückzuführen. Obgleich sich dieser Wandel primär auf den weiten Aufsichtsbegriff über das Schulwesen auswirkte, war er auch für den engen Aufsichtsbegriff von Bedeutung. Erst die Zusammenschau beider Begriffe läßt erkennen, auf welche Bereiche sich die Aufsicht in Art. 7 Abs. 1 GG unter dem Grundgesetz bezieht und in welchem Umfang sie besteht. (1) Aufsicht im weiteren Sinn Unter der Schulaufsicht im weiteren Sinn wurde - trotz zunehmender Distanz zur Lehre vom besonderen Gewaltverhältnis - auch unter dem Grundgesetz zunächst die Befugnis des Staates zur Ordnung und Organisation des Schulwesens, d. h. zur Regelung der inneren Schulangelegenheiten verstanden. Zur Begründung wird im seinerzeitigen Schrifttum auf die gewohnheitsrechtlich bzw. historisch gewachsene Entwicklung des Schulaufsichtsbegriffs verwiesen, der die in mehr als 150 Jahren herausgearbeitete Summe der staatlichen Befugnisse gegenüber der Schule - insbesondere die volle Ordnungsgewalt des Staates in den inneren Schulangelegenheiten - erfassen soll. 1 9 2 Allerdings sorgt der Wandel im Verständnis vom besonderen Gewaltverhältnis für eine Anpassung des Aufsichtsbegriffs an die neuen Gegebenheiten. Das Vordringen der Ansicht, daß innerhalb der besonderen Gewaltverhältnisse - zumindest im Bereich des Grundverhältnisses - durchaus Rechtsbeziehungen bestehen können, verpflichtet die Exekutive nunmehr, bei ihren Handlungen stets auch die Grundrechte zu beachten. Die das Grundverhältnis betreffenden grundrechtlichen Beschränkungen dürfen fortan - wie bei sonstigem staatlichen Handeln auch - nur durch oder aufgrund eines Gesetzes vorgenommen werden. Erstmalig hält damit der Gesetzesvorbehalt - wenngleich nur begrenzt Einzug in den Bereich des besonderen Gewaltverhältnisses „Schule". Damit einhergehend steht dem einzelnen bei Nichtbeachtung der grundrechtlichen Bindungen über Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz zu. Entscheidend ist jedoch, daß der weite Aufsichtsbegriff auch unter dem Grundgesetz zunächst beibehalten wird. Der Exekutive wird über das eigentliche Aufsichtsrecht hinaus weiterhin die Befugnis zugestanden, die inneren Schulangelegenheiten umfassend zu regeln. Ledig192 So unter anderem Heckel, Schulverwaltung, in: Peters, Kommunale Wissenschaft, S. 133; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 256. Besonders deutlich formuliert dies Heckel DÖV 1952, 617 (619 f.).

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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lieh im grundrechtsrelevanten Grundverhältnis soll sie von nun an einer gesetzlichen Grundlage bedürfen. Zur Begründung des fortbestehenden weiten Aufsichtsbegriffs belassen es einige Autoren nicht bei dem Verweis auf das traditionelle, lediglich an die Gegebenheiten des Grundgesetzes angepaßte Begriffsverständnis. Sie versuchen darüber hinaus, positive Gründe für ein derart weites Aufsichtsverständnis zu benennen. Dabei werden im wesentlichen zwei Argumentationslinien verfolgt: Zum einen wird der Gedanke angeführt, daß es in einem modernen Staat, in dem Mobilität und Flexibilität eine herausragende Rolle einnehmen, unerläßlich sei, Kinder mit einem einheitlichen Grundstandard an Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten. Dieser Grundstandard könne nur garantiert werden, wenn neben gewissen organisatorischen Vorkehrungen auch bestimmte inhaltliche Erziehungsziele vom Staat vorgegeben werden. 193 Zum anderen wird von der Annahme ausgegangen, daß es zur Aufrechterhaltung eines demokratischen Staatswesens unabdingbar sei, die Kinder als die zukünftigen Bürger mit dem Grundbestand der die Gesellschaft tragenden Werte vertraut zu machen. Nur durch eine gewisse Einheitlichkeit in der Erziehung könne der für ein demokratisches Staatswesen notwendige Zusammenhalt hergestellt werden. 194 Damit wird der staatlichen Befugnis zur einheitlichen Regelung der inneren Schulangelegenheiten eine ausgeprägte Integrationsfunktion zugesprochen. 195 Besonders deutlich findet sich dieser Gedanke bei Oppermann, wenn er schreibt, „daß auch und gerade der freiheitlich-demokratische Staat nicht darauf verzichten kann, seine künftigen Bürger mit den grundlegenden Werten vertraut zu machen, auf denen er sich aufbaut und deren Respektierung im Sozialleben vorausgesetzt wird. Die Schule, insbesondere soweit sie Pflichtschule ist, erweist sich als die natürliche Stätte für solche Pflege staatsbürgerlicher Erziehung' 4 . 196 Andere Autoren - wie beispielsweise v. Campenhausen - erkennen zwar, daß es in der modernen Gesellschaft angesichts ihrer Pluralität große Schwierigkeiten bereitet, die inneren schulischen Angelegenheiten staatlicherseits angemessen zu regeln, insbesondere ausgewogene Lehrpläne zu erstellen und Bildungsziele festzulegen. Dies gelte um so mehr, als es an einem allgemein akzeptierten Bildungsideal fehlte, das der Staat zur Grundlage seiner schulischen Erziehung machen könne. Dennoch sehen auch die skeptischen Stimmen in der Übertragung des Schulwesens auf die Gesellschaft keine Alternative, da auch diese nicht in der Lage sei, ein einheitliches Bildungsideal zu entwickeln. Dem Staat komme gerade angesichts der neueren Entwicklungen eine tragende Rolle zu, zumal es immer •93 So insbesondere Evers, VVDStRL 23 (1966), 147 (149); Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 256 f. 194 195

Evers, Erziehungsziele, S. 58; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 257. v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 24; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht,

S. 256. 196

Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 257.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

schwieriger werde, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ansichten, die über die Ausrichtung der schulischen Erziehung der Kinder bestehen, zu vermitteln und einen auf die verschiedenen Interessen Rücksicht nehmenden Lehrplan zu entwerfen. In einer solchen Situation könne nur der Staat „mit seinen regulierenden Funktionen ein gewisses Maß an Neutralität" gewährleisten. Die Gesellschaft sei nicht in vergleichbarem Maß dazu geeignet.197 (2) Aufsicht im engeren Sinn Als Schulaufsicht im engeren Sinn wird - wie bereits angesprochen 198 - die eigentliche Kontrolle über die Schulen verstanden. Aufgrund der weitgehend undifferenzierten Verwendung des Aufsichtsbegriffs 199 wird jedoch bei der Aufsicht im engeren Sinn von Beginn an nicht klar zwischen der Aufsicht im eigenen staatlichen und jener über einen fremden Bereich getrennt. Eine solche Trennung wäre aber mit Blick auf den unterschiedlichen Umfang des Aufsichtsrechts durchaus von Bedeutung. Über die Schulen in staatlicher Trägerschaft wird dem Staat unstreitig sowohl die Befugnis zur Rechts-, als auch zur Fachaufsicht zugestanden; nach der in dieser Arbeit verwendeten Terminologie 200 handelt es sich dabei allerdings nur um eine verwaltungsinterne Kontrolle. Nicht im selben Maße eindeutig ist die Reichweite der staatlichen Aufsichtsbefugnisse bei den Schulen in nichtstaatlicher Trägerschaft. Im Regelfall steht dem Staat über den fremden Bereich nur die Rechtsaufsicht zu, das Recht zur Fachaufsicht besitzt er nur aufgrund ausdrücklicher gesetzlicher Ermächtigung. Angesichts dieses Befundes war und ist stets von Bedeutung, unter welchen Voraussetzungen von einem fremden Bereich auszugehen ist. Daran schließt sich die Frage an, ob die - für die Aufsicht über den fremden Bereich - eingeschränkten Aufsichtsbefugnisse auch im schulischen Bereich nur in reduziertem Umfang Anwendung finden sollen. Die herrschende Meinung nimmt einen fremden Bereich ganz überwiegend bei allen nichtstaatlichen Schulen an. Zu diesen nichtstaatlichen Schulen gehören die nichtstaatlichen öffentlichen Schulen - insbesondere die Schulen in der Trägerschaft einer Selbstverwaltungskörperschaft - sowie alle Schulen in privater Trägerschaft. 201 Mit Blick auf die nichtstaatlichen öffentlichen Schulen soll dem Staat im Bereich der inneren Schulangelegenheiten die Fachaufsicht, im Bereich der äußeren Schulangelegenheiten aufgrund der zu beachtenden Selbstverwaltungsrechte der Schulträger hingegen nur die Rechtsaufsicht zustehen.202 197 v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 24 ff. In den siebziger Jahren wiederholt v. Campenhausen diese Ansicht abermals in: Nevermann / Richter, Verfassung und Verwaltung der Schule, S. 279 (286 ff.). 198 Näher dazu oben S. 66 f., 76. 199 Dazu bereits oben S. 66 f. 200 Dazu oben S. 66 f.

201 Dazu Heckel, DÖV 1952, 617 (618); ders., Schulverwaltung, in: Peters, Kommunale Wissenschaft, S. 132; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 256.

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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Schwierigkeiten bereitet es, den Umfang des Aufsichtsrechts über die Schulen in privater Trägerschaft zu bestimmen. Zahlreiche Autoren befassen sich nur oberflächlich mit der Reichweite der staatlichen Aufsichtsbefugnisse über das Privatschulwesen. Sie vermeiden es, eindeutige Aussagen zu treffen und belassen es bei dem Hinweis, daß das Aufsichtsrecht angesichts der in Art. 7 Abs. 4 und 5 getroffenen Sonderregelung für die Privatschulen sowohl im Bereich der äußeren als auch im Bereich der inneren Schulangelegenheiten nur eingeschränkt auszuüben sei. 203 Bei genauerem Hinsehen scheinen diese Autoren davon auszugehen, daß die Schulen in privater Trägerschaft im Bereich der äußeren Angelegenheiten stets, im Bereich der inneren Angelegenheiten ebenfalls ganz überwiegend nur einer Rechtsaufsicht unterliegen 2 0 4 So wird den Schulen in privater Trägerschaft weitgehend das Recht zugesprochen, sowohl die Schulorganisation als auch die Festlegung von Erziehungszielen, Lehrinhalten und Lehrmethoden selbst zu bestimmen. 205 Für weitergehende staatliche Aufsichtsbefugnisse spricht sich lediglich Oppermann aus. Er gesteht dem Staat das Recht zur Fachaufsicht zu, jedoch offenbar aufgrund der Sonderregelung in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG - in einem nicht näher konkretisierten „beschränkten" Maß. 2 0 6 Die Dienstaufsicht über die Lehrer obliegt in jedem Fall dem Land, je nach Schulträger aber mit unterschiedlicher Intensität. 207

b) Abweichende Ansichten im Schrifttum Im Gegensatz zu den geschilderten Auffassungen im Schrifttum steht eine nach Erlaß des Grundgesetzes erst allmählich anwachsende Gruppe an Autoren, die eine - dem Grundgesetz angepaßte - Fortführung des unter der Weimarer Verfassung gültigen Aufsichtsverständnisses ablehnt. Ihrer Ansicht nach hat das Grundgesetz mit der bisherigen Tradition im Schulbereich gebrochen, so daß es aus sich heraus und ohne Rückgriff auf überkommene Aufsichtsverständnisse ausgelegt werden müsse. 202 Heckel, DÖV 1952, 617 (618); ders., Schulverwaltung, in: Peters, Kommunale Wissenschaft, S. 132; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 256; vgl. zur Kritik unten S. 320 ff. 203 Diese Situation hat sich auch in späteren Jahren nicht geändert. Vgl. beispielsweise Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 18 f. 204 So explizit Oppermann, in: HdbStR, § 135 Rdnr. 12, 21. Vgl. hierzu auch die Ausführungen bei Peters, Erziehung, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte I V / 1 , S. 430. 205 Dazu Heckel, Schulverwaltung, in: Peters, Kommunale Wissenschaft, S. 136 Fußn. 6. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 66; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 7 Rdnr. 13. 206 Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 256. 207 Dazu Heckel, DÖV 1952, 617 (618); ders., Schulverwaltung, in: Peters, Kommunale Wissenschaft, S. 132; Hopf/Nevermann/Richter, Schulaufsicht, S. 46. 6 Rathke

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

aa) Vorreiterrolle Peters - Beschränkung auf ein enges Aufsichtsverständnis

In den ersten Jahren nach Erlaß des Grundgesetzes ist es allein Peters, der die zum Aufsichtsbegriff getroffenen Ausführungen im Schrifttum nicht teilt und sich entschieden gegen das weite Aufsichtsverständnis ausspricht. Peters lehnt es ab, dem Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG eine vom üblichen Verständnis des Begriffs „Aufsicht" abweichende Interpretation zugrundezulegen. Seiner Ansicht nach ist es sowohl terminologisch als auch der Sache nach nicht möglich, daß der Begriff eine „Aufsicht" über die Eigenverwaltung des Staates umfaßt. Der Begriff setze zwingend einen fremden Bereich voraus, der bei den staatlichen Schulen im Eigenbereich nicht gegeben sei. Über alle nichtstaatlichen Schulen, zu denen er sowohl die Schulen in privater als auch jene in öffentlicher Trägerschaft der Kommunen und Kreise zählt, stehe dem Staat ausschließlich die Befugnis zur Rechtsaufsicht zu. Der Staat dürfe nur dann ausnahmsweise die Fachaufsicht über diese Schulen ausüben, wenn ein förmliches Gesetz ihn dazu ausdrücklich ermächtige. Eine derartige Ermächtigung lasse sich aus Art. 7 Abs. 1 GG selbst nicht entnehmen; es bestehe jedoch die Möglichkeit, sie in den einzelnen Landesgesetzen zu statuieren. 208 bb) Fuß ' Beschränkung des Aufsichtsbegriffs aus rechtsstaatlichen Überlegungen

Im Anschluß an Peters frühe Kritik am Aufsichtsverständnis der herrschenden Meinung tauchen in späteren Jahren weitere Autoren auf, die für eine enge Auslegung des Aufsichtsbegriffs plädieren. Exemplarisch soll hier die Argumentation von Fuß herausgegriffen werden, der insofern einen neuen Gesichtspunkt in die Diskussion einbringt, als er die Beschränkung des Aufsichtsbegriffs auf die eigentlichen Aufsichtsrechte mit rechtsstaatlichen Erwägungen begründet. Gegen die Zuständigkeit der Exekutive zur Regelung der inneren Schulangelegenheiten und damit gegen den weiten Aufsichtsbegriff führt Fuß das Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes ins Feld. Danach liege die Gesetzgebung in der Kompetenz der Legislative, im Schulbereich namentlich bei den Landesparlamenten. Grundsätzlich sei es Aufgabe der Legislative, die inneren schulischen Angelegenheiten - wie beispielsweise den Erlaß von Schul- und Prüfungsordnungen - zu regeln. Ob und inwieweit der Exekutive auch Rechtsetzungsbefugnisse zustünden, bestimme sich ausschließlich nach den Ermächtigungen, die das Parlament unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Delegationsgrundsätze ausgesprochen habe. 209 Dementsprechend könne die Schulverwaltung nur dann regelnd tätig werden, wenn sie dazu in einem förmlichen Gesetze, in dem Inhalt, Zweck und Ausmaß der zu er208 Peters, Der Städtetag 1952, 99 (101); ders., Erziehung, in: Bettermann/Nipperdey/ Scheuner, Grundrechte, Band I V / 1 , S. 410 f. 209 Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (213 f.).

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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lassenden Regelung ausdrücklich festgelegt sind, ermächtigt wurde. Art. 7 Abs. 1 GG läßt sich - laut Fuß - keine derart generelle Ermächtigung der Schulverwaltung zur Regelung der inneren Schulangelegenheiten entnehmen.210 Scheidet die Regelung der inneren Angelegenheiten durch die Exekutive aus rechtsstaatlichen Aspekten aber aus, verbleibt als Regelungsbereich des Art. 7 Abs. 1 GG nur das administrative Aufsichtsrecht im eigentlichen Sinn 2 1 1 Im Gegensatz zu Peters begrenzt Fuß das Recht, die Zweckmäßigkeit der inneren Schulangelegenheiten zu kontrollieren, nicht auf den eigenen Bereich, der staatlichen Schulen, sondern dehnt es auf den fremden Bereich - die Schulen in der Trägerschaft der Kommunen und Kreise - aus. 212 Eine Ausnahme sollen aufgrund der Sonderregelung in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG lediglich die Privatschulen bilden, bei denen sich auch nach Ansicht von Fuß die Aufsicht auf eine Rechtsaufsicht beschränkt, die sich in der Kontrolle der Einhaltung der in Art. 7 Abs. 4 GG statuierten Genehmigungsvoraussetzungen, insbesondere der Prüfung der Gleichwertigkeit der privaten Schule mit den entsprechenden öffentlichen Schulen erschöpft. 213

2. Entwicklung

seit den siebziger Jahren

Die Entwicklung seit den siebziger Jahren betrifft schwerpunktmäßig den weiten Aufsichtsbegriff, so daß sich die Ausführungen im wesentlichen darauf konzentrieren können. Zwei Veränderungen erweisen sich für das Verständnis des weiten Aufsichtsbegriffs als richtungsweisend: der Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis und die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. 214

a) Auswirkungen auf den weiten Aufsichtsbegriff Mit dem nun ungehinderten Einlaß der Grundrechte in den zuvor als besonderes Gewaltverhältnis bezeichneten Bereich sind zwei entscheidende Besonderheiten dieser Rechtsfigur nicht mehr haltbar: der - bis dahin noch beschränkt mögliche 215 - Ausschluß der Grundrechtsgeltung und die fehlende Justiziabilität. Diese Entwicklung hat zur Folge, daß sich auch die dritte Ausnahme - die Nichtanwendung des Gesetzesvorbehalts innerhalb der besonderen Gewaltverhältnisse - auf Dauer nicht rechtfertigen läßt. Die bis dahin in den Händen der Exekutive liegende Aus210 Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (213 f.). 211 Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (215). 212 Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (215 f.). 213 Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (219 f.). 214 Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 68 ff. und S. 70 ff. 215

Die Grundrechte kamen bis dahin nur im Grundverhältnis zur Geltung; näher dazu oben S. 71 ff. 6*

84

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

gestaltung der besonderen Gewaltverhältnisse wird nunmehr sowohl unter rechtsstaatlichen als auch unter demokratischen Aspekten für problematisch gehalten. Diese Entwicklung entspricht in großen Teilen der von Fuß bereits 1966 auf der Staatsrechtslehrertagung erhobenen Forderung, die gesamte regelnde Tätigkeit des Staates im Sinne des Gesetzesvorbehalts zumindest insoweit förmlichen Gesetzen zu unterwerfen, als diese jedenfalls Inhalt, Zweck und Ausmaß der von der Exekutive zu erlassenden Regelungen festlegen müßten. 216 Die Verwaltung soll im Ergebnis auch in den Anstaltsverhältnissen den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts unterliegen. Bestanden zunächst - trotz Anerkennung der Geltung des Gesetzesvorbehalts nun auch im schulischen Bereich - je nach der gesetzlichen Regelungsdichte für die Verwaltung noch beträchtliche Spielräume, die sie nach eigenem Ermessen ausgestalten konnte, verengen sich diese mit der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiter. 217 Die wesentlichen Entscheidungen (auch) im Schulbereich dürfen danach nicht mehr an die Exekutive delegiert, sondern müssen vom Gesetzgeber selbst getroffen werden. Allerdings bleiben auch nach der Wesentlichkeitsrechtsprechung Spielräume bestehen, da gerade im Schulwesen nicht ohne weiteres feststeht, was als wesentlich zu betrachten ist. Zwar ist allseits anerkannt, daß die grundlegenden Erziehungs- und Bildungsziele das Kriterium der Wesentlichkeit erfüllen und gesetzlich festgelegt werden müssen. Da alle Länder dieser Forderung entweder in ihren Landesverfassungen oder in ihren Schulgesetzen Rechnung getragen haben, kommt diesem Punkt in der Diskussion mittlerweile kaum noch Bedeutung zu. 2 1 8 Darüber hinaus wird im Hinblick auf eine gewisse Einheitlichkeit der Schulausbildung allgemein befürwortet, daß der Gesetzgeber die wesentlichen Charakteristika der jeweiligen Schularten und -formen festzulegen habe. Heftig umstritten ist aber die Frage, ob und inwieweit der Gesetzgeber auch die zu unterrichtenden Fächer sowie die Lernziele selbst normieren muß219 Der Abschied vom besonderen Gewaltverhältnis veränderte die Arbeitsweise der Schulverwaltung noch in einer anderen Hinsicht. Die Exekutive hatte von nun an nicht nur die Grundrechte der am Erziehungsprozeß Beteiligten uneinge216 Dazu Fuß oben S. 82 f. 217 Vgl. oben S. 68 ff. 218 Eine Verankerung in der Landesverfassung findet sich in Baden-Württemberg (Art. 11), Bayern (Art. 128), Brandenburg (Art. 28), Bremen (Art. 26 f.), Hessen (Art. 55), Mecklenburg·^Vorpommern (Art. 15 Abs. 3), Nordrhein-Westfalen (Art. 7), Rheinland-Pfalz (Art. 27 f.), Saarland (Art. 26 ff.), Sachsen (Art. 101 Abs. 1), Sachsen-Anhalt (Art. 27 Abs. 2) und Thüringen (22). In Berlin (§ 1), Niedersachsen (§ 2), Hamburg (§ 2) und Schleswig-Holstein (§ 4) finden sich entsprechende Regelungen in den Schulgesetzen. 219 Für eine gesetzliche Festsetzung der Fächer sowie der Lernziele sprechen sich u. a. Bryde, DÖV 1982, 661 (669) und Nevermann, VerwArch 71 (1980), 241 (253) aus. Dagegen v. Campenhausen, in: Nevermann / Richter, Verfassung und Verwaltung der Schule, 279 (285); Eiselt, DÖV 1980, 405 (406); Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, S. 170; Lerche, Bayerisches Schulrecht, S. 87 f.

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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schränkt zu beachten, vielmehr begannen die Grundrechtsträger unter Berufung auf ihre grundrechtlichen Positionen eine aktive Mitwirkung am schulischen Erziehungsprozeß zu fordern. Zunächst beriefen sich vor allem Eltern auf ihr in Art. 6 Abs. 2 GG niedergelegtes Elternrecht. Später rückte auch das Art. 2 Abs. 1 GG entnommene Recht des Kindes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in den Blickpunkt. 220 Im Schrifttum stieß insbesondere der Ruf der Eltern nach Mitwirkungsbefugnissen auf offene Ohren. 221 Unter Berufung auf die Gleichrangigkeit von staatlichem und elterlichem Erziehungsauftrag sprachen sich zahlreiche Autoren für Mitwirkungsbefugnisse der Eltern am Erziehungsprozeß aus. 222 Dabei wurde und wird ein generelles Beteiligungsrecht der Eltern ganz überwiegend weder für geboten noch für angemessen gehalten.223 Die Eltern sollen nicht allgemein an pädagogischen und inhaltlichen Fragestellungen, sondern gezielt in jenen Bereichen beteiligt werden, in denen Persönlichkeitsrechte berührt werden. Je mehr es um Fragen der Schulorganisation gehe, desto mehr könne die Beteiligung der Eltern auf Einzelfälle beschränkt werden. 224 Die Landesgesetzgeber haben der Forderung nach einer verstärkten Mitwirkung Rechnung getragen und in den Schulgesetzen Beteiligungsrechte von Eltern und Schülern vorgesehen. Die Entscheidung zur Einführung von Mitwirkungsrechten wurde neben dem grundrechtlichen Einfluß auch von dem Gedanken getragen, daß die Schule ihren Auftrag, die Schüler zur Übernahme von Mitverantwortung in Staat und Gesellschaft zu befähigen und im Geist von Demokratie, Toleranz und Offenheit zu erziehen, am ehesten erfüllen könne, wenn die Schulverfassung partizipatorische Elemente enthält. 225 Insofern kann die Aufnahme von Mitwirkungsbefugnissen in die Schulgesetze auch als Folge der allgemeinen Forderung nach „Demokratisierung" gesehen werden, die Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre (auch) die Schule erreichte. 226 Obwohl die einzelnen Landesgesetze mit Blick auf die partizipatorisehen Elemente in der Schulverfassung mehrfach geändert wurden, weisen die einzelnen Länder immer noch beachtliche Unter220 Vgl. z u dieser Entwicklung die Ausführungen bei Ladeur, RdJB 1991, 263 m. w. N. Grundlegend zur Selbstentfaltung des Kindes im schulischen Bereich, Stein, Selbstentfaltung, S. 1 ff. 221 Vgl. hierzu Dietze, NJW 1982, 1352 ff.; Fehnemann, DÖV 1978, S. 489 ff.; dies., AöR 105 (1980), S. 529 ff.; Ossenbühl, DÖV 1977, 801 (805 ff.); Wimmer, DVB1. 1967, 809 ff. 222

Auf die Einzelheiten der Entwicklung kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden; vgl. dazu Dietze, NJW 1982, 1352 ff.; Fehnemann, DÖV 1978, S. 489 ff.; dies., AöR 105 (1980), S. 529 ff.; Ossenbühl, DÖV 1977, 801 (805 ff.); Wimmer, DVB1. 1967, 809 ff. 22 3 Siehe dazu Pieroth, DVB1. 1994, 949 (955 ff.). 22 4 So explizit Wimmer, DVB1. 1967, 809 (814). 225 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei Avenarius, RdJB 1994, 256 (259 f.) und Nevermann, RdJB 1975, 200 ff. 226 Vgl. aus dem damaligen Schrifttum zur „Demokratisierung" der Schule nur die Beiträge in Wilhelm (Hrsg.), Demokratie in der Schule, Lenhart (Hrsg.), Demokratisierung der Schule, Gamm, Kritische Schule und Brezinka, Pädagogik der Linken.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

schiede in der Reichweite der Mitwirkungsbefugnisse von Eltern und Schülern auf. Die Bandbreite reicht von bloßen verfahrensmäßigen Beteiligungsrechten bis hin zu echten, bindenden Entscheidungskompetenzen.227 Gerade angesichts dieser Unterschiede darf freilich nicht übersehen werden, daß die Mitwirkungsbefugnisse von Eltern und Schülern ihre Möglichkeit, sich unmittelbar auf ihre Grundrechte zu berufen, nicht ausschließt. Sowohl das Elternrecht als auch das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit sind Individualgrundrechte, die durch eine kollektive Ausübung nicht ersetzt oder verdrängt werden können.

b) Reichweite des engen Aufsichtsbegriffs Die Veränderungen im Verlauf der siebziger Jahre haben das enge Aufsichtsbegriffsverständnis weitgehend unberührt gelassen, so daß im Grundsatz auf die obigen Erläuterungen verwiesen werden kann. 228 Für die Reichweite der staatlichen Aufsichtsbefugnisse bedeutet dies, daß die Schulen in staatlicher Trägerschaft weiterhin der verwaltungsinternen Kontrolle unterliegen. Die Schulen in nichtstaatlicher öffentlicher Trägerschaft unterstehen im Bereich der äußeren Schulangelegenheiten (nur) der Rechtsaufsicht, im Bereich der inneren Schulangelegenheiten hingegen weiterhin der Fachaufsicht. 229 Allein bei den Schulen in privater Trägerschaft werden die Aufsichtsbefugnisse auch im Bereich der inneren Schulangelegenheiten regelmäßig auf eine Rechtsaufsicht beschränkt. 230 Schärfere Aufsichtsbefugnisse werden ganz allgemein nur gefordert, wenn die privaten Ersatzschulen mit staatlichen Hoheitsbefugnissen ausgestattet sind. In diesem Fall wird dem Staat überwiegend die Befugnis zuerkannt, die Erfüllung der hoheitlichen Aufgaben im Wege der Fachaufsicht zu kontrollieren. 231 Trotz der allgemein befürworteten Beteiligung von Eltern und Schülern am schulischen Erziehungsprozeß ist die Reichweite des Aufsichtsbegriffs nicht in Frage gestellt worden. Oft findet die Frage nach den Folgewirkungen verstärkter Mitwirkungsbefugnisse nicht einmal gesonderte Erwähnung. 232 Der Fachaufsicht 227

Zu den Einzelheiten Geis, Schulische Partizipationsregelungen, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 31 (33 ff.). 228 Oben S. 86 ff. Dort auch nähere Ausführungen zur Zuordnung der inneren und äußeren Schulangelegenheiten zum eigenen (staatlichen) oder fremden Bereich. 229 Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), GG Art. 7 Rdnr. 35 ff.; Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Art. 7 Rdnr. 8 ff.; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art .7 Rdnr. 3; Maunz, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 16 ff. - insbesondere Rdnr. 21 m. Einen guten Überblick über die Argumentationslinie der herrschenden Meinung gibt v. Campenhausen, in: Nevermann/ Richter (Hrsg.), Verfassung und Verwaltung der Schule, 279 ff. 2 30 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 66; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 7 Rdnr. 13. 231 Vgl. dazu Frowein, Lage der Privatschulen, S. 21 ff.; Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, S. 156; Müller, Recht der freien Schule, S. 112 ff., 279 ff. In diesem Sinne wohl auch v. Mangoldt/Klein, GG (1957) Art. 7 Anm. III 5.

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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wird weiterhin Zugriff auf alle und damit auch auf jene Bereiche zugestanden, in denen Eltern und Schülern echte Entscheidungskompetenzen übertragen wurden. Teilweise wird jedoch gefordert, daß die Fachaufsicht nicht antizipatorisch, sondern erst dann tätig wird, wenn getroffene Entscheidungen zu beanstanden sind. 233 Die Ursache für das Festhalten der herrschenden Meinung an der Fachaufsicht im Mitwirkungsbereich darf im übrigen nicht allein in der mangelnden Bereitschaft gesucht werden, überkommene Strukturen aufzugeben. Erst in jüngerer Zeit wurde herausgearbeitet, daß die Gremien, in denen Eltern und Schüler tatsächliche Entscheidungskompetenzen besitzen, aufgrund ihrer mangelnden demokratischen Legitimation der - demokratisch legitimierten - Fachaufsicht der Schulverwaltung unterliegen müssen.234 Eine geringfügige Änderung bei der Reichweite der Fachaufsicht hat sich im Bereich der inneren Schulangelegenheiten lediglich insoweit ergeben, als die Lehrer angesichts ihrer pädagogischen Freiheit nur einer eingeschränkteren Fachaufsicht unterliegen sollen 2 3 5 c) Versuche einer Beschränkung des Aufsichtsrechts In den siebziger Jahren richtet sich das Bemühen einiger Autoren auf die Beschränkung der gesamten staatlichen Aufsicht auf eine bloße Rechtsaufsicht. Die entsprechenden Autoren berufen sich vor allem auf das Demokratieprinzip. Der Grundsatz der Demokratie - in Zusammenschau mit dem Sozialstaatsprinzip 232 Pauschal für eine Fachaufsicht über die inneren Angelegenheiten sprechen sich aus: Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 7 Rdnr. 48; Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 7 Rdnr. 8 ff. (insbesondere 11 f.); Oppermann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Band VI, § 135 Rdnr. 12 f. Intensiv setzen sich mit dieser Frage allerdings Geis (Schulische Partizipationsregelungen, in: Jach/Jenkner [Hrsg.], Autonomie der staatlichen Schulen, 31 [46 ff.]) und Hufen (Schulische Selbstgestaltung, in: Jach/Jenkner [Hrsg.], Autonomie der staatlichen Schulen, 51 [55 ff.]) auseinander. Anderer Ansicht ist Wimmer (DVB1. 1967, 809 [815]), der die Bereiche, in denen die Eltern an Entscheidungen mitwirken, nur einer Rechtsaufsicht unterstellen will. Die Mitbestimmung werde wieder „aus den Angeln gehoben", wenn letztlich die Schulaufsicht die abschließende Entscheidung treffe. 233 So Hufen, Schulische Selbstgestaltung, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 51 (66). 234 Weitere Ausführungen zur Notwendigkeit demokratischer Legitimation im Schulbereich unten S. 330 f. 23 5 Nicht alle Autoren treffen eine solche genaue Differenzierung im Bereich der inneren Schulangelegenheiten. Vgl. aber Avenarius, RdJB 1994, 256 (257); Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, S. 178; Hopf/Nevermann/Richter, Schulaufsicht, S. 50 ff. In diesem Sinne auch Wolff/ Bachof/Stober, Verwaltungsrecht II, § 101 Rdnr. 48. Gegen eine Beschränkung der Fachaufsicht aufgrund der pädagogischen Freiheit der Lehrer spricht sich Eiselt (DÖV 1981, 821 ff.) aus. Er befürchtet, daß die Schüler durch eine solche Beschränkung der Fachaufsicht zu „Geiseln in der Hand des Lehrers" werden. Zum Schutz der Schüler müsse die Schulaufsicht das Lehrerverhalten umfassend korrigieren können. Der Aspekt der pädagogischen Freiheit trete angesichts dieser Sachlage in den Hintergrund (a. a. O., S. 825).

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

verpflichte den Staat, den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einen ausreichenden Entfaltungsspielraum einzuräumen. 236 Dies gelte umso mehr, „als die Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen bei der inhaltlichen Gestaltung und Erneuerung erzieherischer Prozesse nicht über subjektive Teilhabeansprüche durchgesetzt werden ( . . . ) " könne. 237 Da ein allgemein anerkanntes Bildungsideal nicht (mehr) existiere, sei ein Schulsystem zu schaffen, daß den unterschiedlichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Erziehungszielen Rechnung trage und ihnen eine Verwirklichungsmöglichkeit einräume. 238 Deshalb sei es notwendig, die gesellschaftlichen Kräfte in die Gestaltung des Schulwesens einzubeziehen. Namentlich Jach will die Gesellschaft ausdrücklich auch an der inhaltlichen Gestaltung des Schulwesens beteiligen. 239 Nur über die aktive Mitwirkung der gesellschaftlichen Kräfte sei ein inhaltlich plurales und damit der Wertevielfalt Rechnung tragendes Schulsystem denkbar. 240 Die Forderung nach einer stärkeren Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte am schulischen Erziehungsprozeß geht regelmäßig mit einem Plädoyer für die Ausgestaltung des Schulwesens in Form von Selbstverwaltungseinheiten einher. Gerade in einer stärkeren Selbstverwaltung der Schulen wird ein besonders geeigneter Weg zur Pluralisierung und Demokratisierung der Schulen gesehen.241 Den Eltern werde dadurch die Möglichkeit eingeräumt, ihre Kinder auf jene Schule zu schikken, die ihren eigenen Erziehungsvorstellungen am ehesten entspricht. 242 Die Aufgabe des Staates soll sich auf die Vorgabe von „Verkehrsformen" beschränken, nach denen die Entscheidungen über die Ausgestaltung des Schulwesens getroffen werden. 243 Konsequenterweise sollen die Aufsichtsbefugnisse des Staates auch hier auf eine reine Rechtsaufsicht reduziert sein. Die Aufsicht des Staates soll sich auf die Sicherstellung einer ausreichenden Grundrechtsentfaltung aller am Prozeß Beteiligten beschränken. 244 Schulaufsicht unter der Geltung des Grundgesetzes 236 Vgl. Jach, Staatliches Schulsystem, S. 225 ff.; ders., Schulvielfalt, S. 28 ff. In diesem Sinne - allerdings ohne sich eindeutig auf das Demokratieprinzip zu berufen - auch Ladeur, RdJB 1991, 263 (267 ff.). 237 So Jach, Staatliches Schulsystem, S. 225. 238 Dazu Ladeur, RdJB 1991, 263 (268); Jach, Staatliches Schulsystem, S. 233; ders., Schul Vielfalt, S. 80. 239 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 238; ders., Schulvielfalt, S. 28, 80 und 83. 240 Ladeur, RdJB 1991, 263 (269); Jach, Staatliches Schulsystem, S. 237 f. 241 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 231; ders., Schulvielfalt, S. 28 und 80. In diesem Sinne auch Perschel, DÖV 1970, 34 (39). Dabei gilt es allerdings den Eindruck zu vermeiden, daß Autoren wie Jach die Realisierung des schulischen Selbstverwaltungsmodells als verfassungsrechtliches Gebot des Art. 7 Abs. 1 GG betrachten. Ihrer Ansicht nach stellt es lediglich eine Möglichkeit zur effektiven Einbeziehung gesellschaftlicher Tendenzen in das Schulwesen dar (so ausdrücklich Jach, Staatliches Schulsystem, S. 244; ders., Schulvielfalt, S. 83). 242 Vgl. Ladeur, RdJB 1991, 263 (269); Jach, Staatliches Schulsystem, S. 239. 243 Vgl. Jach, Staatliches Schulsystem, S. 235; ders., Schulvielfalt, S. 80; vgl. aber auch Ladeur, RdJB 1991, 263 (269).

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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soll danach „in einem selbst verwalteten Schulwesen eine Gewährleistungsgarantie i. S. der Rechtsaufsicht über die Beachtung der Grundrechtsgewährleistungen im schulischen Prozeß für Schüler und Eltern unter Bereitstellung von Erziehungsund Bildungseinrichtungen bedeuten, die dabei sicherstellt, daß das Schulwesen nicht einzelnen gesellschaftlichen Gruppen oder individuellen Interessen ausgeliefert wird, sondern alle wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen und Richtungen Berücksichtigung finden und die Rechte der am schulischen Prozeß Beteiligten gewahrt werden". 245 3. Fazit

Bedingt durch die Überwindung der Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses, die uneingeschränkte Bindung der Exekutive an den Gesetzesvorbehalt und die weitere Einengung der exekutivischen Entscheidungsspielräume im Zuge der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der weite Aufsichtsbegriff einem grundlegenden Wandel unterworfen worden. 246 Räumte er in Übernahme der Tradition der Weimarer Verfassung - und begünstigt durch die Lehre vom besonderen Gewalt Verhältnis - der Exekutive zunächst die Befugnis

zur uneingeschränkten Gestaltung der inneren Schulangelegenheiten ein, setzte sich bald die Ansicht durch, daß die Verwaltung bei der Gestaltung der inneren Angelegenheiten im Bereich des sog. Grundverhältnisses nicht vollkommen frei, sondern an die Grundrechte namentlich der Schüler und Eltern gebunden ist. Spätestens mit der Strafgefangenen-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 247 haben die Grundrechte uneingeschränkten Einzug in die besonderen Gewaltverhältnisse auch an den Schulen gehalten. Verfassungsrechtlich ist die Rechtsfigur der besonderen Gewaltverhältnisse danach nicht mehr haltbar. Die vereinzelt vorgebrachte Argumentation, das besondere Gewaltverhältnis habe in Art. 7 Abs. 1 GG eine gesonderte Absicherung erfahren und werde von der Vorschrift vorausgesetzt, wird zu Recht überwiegend abgelehnt.248 Die in Art. 1 Abs. 3 GG ausdrücklich statuierte Bindung der gesamten Verwaltung an die Grundrechte verbietet es, aus Art. 7 Abs. 1 GG - ohne entsprechende ausdrückliche Regelung - eine Freistellung der Schulverwaltung von dieser Bindung herzuleiten. Der Abschied von der Figur des besonderen Gewaltverhältnisses ist zu Recht auch wegbereitend für die immer stärker vordringende Ansicht geworden, daß neben den Grundrechten auch der Gesetzesvorbehalt im Schulsektor im vollen Umfang Anwendung findet. 244 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 245; ders., Schulvielfalt, S. 83 f.; Ladeur trifft keine in diesem Maße eindeutige Aussage, dürfte aber der Auffassung Jachs im Grundsatz folgen; siehe dazu Ladeur, RdJB 1991, 263 (269). 245 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 245; ders., Schul Vielfalt, S. 83 f. In diesem Sinne auch Clevinghaus, Recht auf Bildung, S. 367. 246 Vgl. z u dieser Entwicklung oben S. 68 ff. 247 BVerfGE 33, 1 ff. 248 Siehe dazu nur die Hinweise bei Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8 Rdnr. 28.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Das Handeln der Schulverwaltung ist verfassungsrechtlich nur auf Grundlage eines dazu ermächtigenden Gesetzes zulässig. Steht fest, daß die Schulverwaltung bei der Ausgestaltung der inneren Schulangelegenheiten dem Gesetzesvorbehalt unterliegt und zur Beachtung der Grundrechte verpflichtet ist, unterscheidet sie sich nicht (mehr) von anderen Bereichen der Verwaltung und des Verwaltungshandelns. Dabei kann dahinstehen, ob der Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG überhaupt jemals das weite Aufsichtsverständnis umfaßte oder nicht von vornherein auf ein enges Verständnis zugeschnitten war. 249 Jedenfalls aufgrund der eingetretenen verfassungsrechtlichen Entwicklung hat der weite Aufsichtsbegriff seine Berechtigung verloren. Die mit dem weiten Aufsichtsverständnis verbundenen besonderen, über das sonstige Verwaltungshandeln hinausgehenden Gestaltungsmöglichkeiten der Exekutive im Bereich der Schulverwaltung sind unter den aktuellen grundgesetzlichen Gegebenheiten verfassungswidrig. Die veränderten Rahmenbedingungen haben dazu geführt, daß auch die herrschende Meinung vom weiten Aufsichtsverständnis des Art. 7 Abs. 1 GG Abschied nehmen mußte. Allein eine enge Auslegung des Aufsichtsbegriffs ist mit der gewandelten Verfassungslage vereinbar. Die damit bezeichnete Frage nach Umfang und Reichweite des Aufsichtsbegriffs darf allerdings nicht mit der Frage verwechselt werden, inwieweit der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der schulischen Angelegenheiten Beschränkungen unterliegt. 250

II. Aufsichtsverständnis des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß sich der Begriff der Aufsicht über das Schulwesen nicht auf die administrativen Aufsichtsbefugnisse - die Aufsicht im engeren Sinne - beschränkt, sondern darüber hinaus auch die schulhoheitlichen Befugnisse - die Aufsicht im weiteren Sinne - umfaßt. In Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Ansicht im Schrifttum führt das Gericht aus, die Schulaufsicht erfasse „nicht nur die organisatorische Gliederung der Schule, sondern auch die inhaltliche Festlegung der Ausbildungsgänge und Unterrichtsziele". 251 Dadurch soll dem Staat die Möglichkeit eingeräumt werden, unabhängig von den Eltern eigene Erziehungsziele vorzugeben. Allerdings hebt das Verfassungsgericht hervor, daß das Grundgesetz - im Gegensatz zur Weimarer Verfassung - keine unbegrenzte staatliche Schulhoheit gewähre. Art. 7 Abs. 1 GG müsse im Zusammenhang mit anderen einschlägigen Verfassungsbestimmungen, insbesondere dem Erziehungsrecht der Eltern in Art. 6 249 So bereits frühzeitig Fuß, VVDStRL 23 (1966), 199 (213 ff.) und Peters, Der Städtetag 1952, 99 (101); ders., Erziehung, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte, Band I V / 1 , S. 410; ferner Clevinghaus, Recht auf Bildung, S. 363 ff.; Jach, Staatliches Schulsystem, S. 245. 250 Vgl. dazu unten S. 334 ff. 251 BVerfGE 34, 165 (182); 52, 223 (236).

§ 3 Das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen

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Abs. 2 GG, gesehen werden. Das Elternrecht stehe gleichrangig neben dem staatlichen Erziehungsauftrag, 252 so daß zwischen den unterschiedlichen Erziehungsvorstellungen ein angemessener Ausgleich hergestellt werden müsse. Das Verfassungsgericht betont darüber hinaus, daß der Exekutive im Schulbereich keine unbegrenzte Gestaltungsfreiheit zustehen könne. 253 Das Rechtsstaatsund das Demokratieprinzip sowie die einschlägigen Grundrechte sollen den Gesetzgeber dazu verpflichten, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und damit gerade nicht der Schulverwaltung zu überlassen. Wie die Abgrenzung mit allen ihren Rückwirkungen auf den Aufsichtsbegriff - im einzelnen aussehen soll, läßt sich der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts allerdings nicht eindeutig entnehmen. Auf der einen Seite warnt das Gericht vor den Gefahren einer zu weitgehenden Vergesetzlichung, die gerade für das Schulverhältnis mißliche Folgen haben könne. Auf der anderen Seite weist das Gericht darauf hin, daß die Grenzen zwischen dem staatlichen Erziehungsauftrag und den Grundrechten von Eltern und Schülern fließend und nur schwer auszumachen seien, ihre Markierung für die Ausübung der Grundrechte aber maßgebende Bedeutung haben könne und daher zu den Aufgaben des Gesetzgebers zähle. 254 Was diese Rechtsprechung - über die bloße Kennzeichnung des Spannungsverhältnisses hinaus - für die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts bedeuten soll, bleibt weitgehend offen.

III. Ausblick Die Bedeutung, die der Auslegung des Aufsichtsbegriffs beigemessen wird, und die verhärteten Positionen deuten darauf hin, daß sich hinter der Auseinandersetzung um den Schulaufsichtsbegriff in Art. 7 Abs. 1 GG eine grundlegendere Problematik verbirgt, die allgemein den Einfluß des Staates auf die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts betrifft und letztlich die Frage nach der staatlichen Einflußnahme auf die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften aufwirft. Dieser Thematik, die in der Bundesrepublik eng mit der Grundwertediskussion verbunden ist und philosophische Fragestellungen berührt, hat sich in jüngerer Zeit vor allem die aus den Vereinigten Staaten kommende Liberalismus-KommunitarismusDebatte angenommen. Ihr soll im vierten Kapitel nähere Aufmerksamkeit geschenkt werden. 255 252 BVerfGE 34, 165 (183). 253 Aus der früheren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzes vorbehält im Schulverhältnis BVerfGE 34, 165 (192); 41, 251 (259 f.). Die „Wesentlichkeitslehre" wurde erstmals in der Sexualkundeentscheidung - BVerfGE 47, 46 (78) - auf den schulischen Bereich übertragen; vgl. darüber hinaus BVerfGE 58, 257 (268 f.). 254 BVerfGE 47, 46 (78 ff.). 255 Eine ausführliche Darstellung der Debatte, der daraus abgeleiteten Erziehungstheorien sowie der Übertragbarkeit dieser Erziehungstheorien unter Berücksichtigung der grundgesetzlichen Gegebenheiten finden sich unten S. 214 ff.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

§ 4 Schultypen des Grundgesetzes Die Darstellung und Erläuterung einzelner Schultypen sowie die Frage nach ihrer Verfassungskonformität ist als Grundlage für die weiteren Überlegungen insofern notwendig, als die Frage nach der zulässigen Integration weltanschaulichreligiöser Elemente in den schulischen Bereich in untrennbarem Zusammenhang mit den einzelnen Schularten steht. Eine Antwort auf diese Frage kann nicht pauschal, sondern nur unter Berücksichtigung des jeweils vorliegenden Schultypus gegeben werden. Dementsprechend gilt es zunächst das Verständnis der einzelnen im Grundgesetz genannten Schultypen in den Blick zu nehmen, bevor im Anschluß daran - nach der Trägerschaft der Schulen differenziert - untersucht werden kann, inwieweit sie mit den grundgesetzlichen Vorgaben in Einklang stehen.

A. Drei Schultypen des Grundgesetzes Art. 7 Abs. 5 GG läßt sich entnehmen, daß das Grundgesetz drei Schultypen voneinander unterscheidet: die Gemeinschafts-, die Bekenntnis- sowie die Weltanschauungsschule. Aufgrund ihrer Nennung in Art. 7 Abs. 3 GG wird teilweise noch die bekenntnisneutrale Schule als eigener Schultyp angeführt. 256 Die Anerkennung dieser Schule als eigener Typ überzeugt jedoch nicht. Die Bekenntnisneutralität ist kein prägendes Kennzeichen einer bestimmten Schulart, sondern ein Element, das vor allem den Weltanschauungsschulen, aber auch einem Teil der Gemeinschaftsschulen zukommt. Die genannten drei Schultypen können keinen Ausschließlichkeitsanspruch erheben. Auch das Bundesverfassungsgericht hebt ausdrücklich hervor, daß unter dem Grundgesetz unterschiedliche Schulformen weltanschaulich-religiöser Art denkbar sind 2 5 7 Bislang ist jedoch kein Versuch unternommen worden, neue Schulformen einzuführen, die über die drei (bzw. vier) ausdrücklich im Grundgesetz benannten Schultypen hinausgehen. Diese Schultypen und ihre jeweiligen Charakteristika gilt es näher zu betrachten.

I. Die Bekenntnisschule Nach übereinstimmender Ansicht trägt eine Schule die Bezeichnung Bekenntnisschule, wenn der gesamte Unterricht an den Vorstellungen eines religiösen Bekenntnisses ausgerichtet wird. 2 5 8 Nicht mehr als Bekenntnisschule, sondern als 25

6 In diesem Sinne wohl Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 14. 257 Vgl. BVerfGE 41 29(46). 258 Zur Vereinbarkeit der Bekenntnisschule mit dem Grundgesetz Hamel, DÖV 1953, 593 ff.

§ 4 Schultypen des Grundgesetzes

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bekenntnismäßige christliche Gemeinschaftsschule 259 werden im Regelfall jene Schulen eingestuft, die ihren Unterricht auf den Gemeinsamkeiten der beiden christlichen Religionen ausrichten. Diese Einordnung erscheint vor dem Hintergrund gewandelter gesellschaftlicher Verhältnisse allerdings zunehmend zweifelhaft. Es sind keine überzeugenden Gründe dafür ersichtlich, die bekenntnismäßige christliche Gemeinschaftsschule als Gemeinschaftsschule und nicht als Bekenntnisschule zu qualifizieren. Die Tatsache, daß sich der Unterricht an den Bekenntnisschulen nur auf ein religiöses Bekenntnis und nicht auf die gemeinsamen Grundsätze der beiden christlichen Religionen bezieht, ist kein schlagkräftiges Argument für die Qualifikation als Gemeinschaftsschule. Die Gemeinschaftsschule zeichnet sich - wie bereits aus dem Wortlaut hervorgeht - gerade dadurch aus, daß sie der gesamten Gemeinschaft und damit allen Schülern ungeachtet ihres religiösen oder weltanschaulichen Hintergrundes zur Verfügung steht. Die Bezeichnung der bekenntnismäßig christlichen Schulen als Gemeinschaftsschulen mag historisch gesehen ihre Berechtigung gehabt haben, solange sich die Bevölkerung ganz überwiegend zum Christentum bekannte. Insofern konnten Schulen, die sich nicht auf das eine oder andere spezielle Bekenntnis, sondern auf das Christentum bezogen, im allgemeinen als Schulen betrachtet werden, die allen Schülern offenstanden. Die gesellschaftlichen Gegebenheiten haben sich jedoch in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Eine nicht zu unterschätzende Zahl der Bevölkerung, vor allem aber der schulpflichtigen Kinder, sind Anhänger nichtchristlicher Glaubensrichtungen. Eine konfessionell christliche Ausrichtung widerspricht vor diesem Hintergrund dem Grundgedanken der Gemeinschaftsschule. Bei den bekenntnismäßig christlichen Schulen kann nicht mehr von einer allen Schülern zur Verfügung stehenden und „nach Bekenntnissen und Weltanschauungen der Lehrer und Schüler nicht getrennten Schule" gesprochen werden. 260 Der entsprechende Schultypus hat durch die Schwerpunktsetzung auf das Christentum ausgrenzenden Charakter und ist nicht allen Schülern gegenüber gleichermaßen offen. Schulen, die aufgrund ihres religiösen Charakters ausgrenzende Wirkungen besitzen, sind daher 259 Die Bezeichnung zwischen den einzelnen Autoren variiert, ohne daß damit jedoch inhaltliche Abweichungen verbunden sind. So spricht beispielsweise Hofmann (DVB1. 1967, 439 [440]) in diesem Zusammenhang von der materiell christlichen Gemeinschaftsschule. 260 Erstaunlicherweise bereitet Hofmann (DVB1. 1967, 439 [440]) trotz seiner Definition, nach der die Gemeinschaftsschule „eine nach den Bekenntnissen und Weltanschauungen der Lehrer und Schüler nicht getrennte Schule ist", die Existenz einer bekenntnismäßig christlichen Gemeinschaftsschule keine Schwierigkeiten (DVB1. 1967, 439). Es erscheint jedoch fragwürdig, ob nicht eine nach Bekenntnissen getrennte Schule vorliegt, wenn der Unterricht an den Grundsätzen des Christentums und damit an den Gemeinsamkeiten zweier religiöser Bekenntnisse ausgerichtet wird. Insofern besteht kein qualitativer Unterschied zwischer einer Schule, die ihre Schülerschaft aufgrund der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bekenntnis oder zu einer bestimmten Bekenntnisgruppe - hier den christlichen Bekenntnissen - aussucht. Denn auch die Zugehörigkeit zu einer Bekenntnisgruppe schließt andersdenkende Schüler aus und kann damit nicht mehr als ein Schultypus beschrieben werden, der davon absieht, zwischen den Bekenntnissen und Weltanschauungen seiner Schüler und Lehrer zu differenzieren.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

zu den Bekenntnisschulen zu rechnen. Zu den Bekenntnisschulen zählen nicht nur jene Schulen, die ihren Unterricht an einem religiösen Bekenntnis ausrichten, sondern auch jene, die die Gemeinsamkeiten einer religiösen Bekenntnisgruppe zur Grundlage ihres Unterrichts machen und andersgläubige Schüler insoweit ausgren-

II. Die Weltanschauungsschule Das Pendant zur Bekenntnisschule bildet die Weltanschauungsschule. An ihr ist der gesamte Unterricht nicht an einem Bekenntnis, sondern an einer Weltanschauung ausgerichtet. Entsprechend den im Rahmen der Bekenntnisschule vorgebrachten Argumenten ist eine Schule auch dann noch als Weltanschauungsschule zu qualifizieren, wenn die Schule ihren Unterricht an den übereinstimmenden Grundsätzen mehrerer Weltanschauungen ausrichtet. Die Weltanschauungsschulen zählen unbestrittenermaßen zu den bekenntnisfreien Schulen, so daß gem. Art. 7 Abs. 3 GG der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach ist. 2 6 2

III. Die Gemeinschaftsschule Eine allgemeine Definition der Gemeinschaftsschule sucht man in der Regel vergebens. Ohne weitere Erläuterung wird meist direkt zu den verschiedenen Ausprägungen der Gemeinschaftsschule übergeleitet. Diesem Defizit kann hier jedoch unter Verweis auf die Ausführungen zur Bekenntnisschule begegnet werden. Dort wurde dargelegt, daß Aufgabe und wesentliches Anliegen der Gemeinschaftsschule darin bestehen, allen Schülern - unabhängig von ihrem jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Hintergrund - offenzustehen. Damit die Gemeinschaftsschule diesen Zweck erfüllen kann, ist es ihr - im Gegensatz zur Bekenntnis· oder Weltanschauungsschule - versagt, ihren Unterricht an den Grundsätzen einer oder mehrerer religiöser Bekenntnisse oder Weltanschauungen auszurichten. 263 Eine Ausgrenzung von Schülern aufgrund ihrer religiösen oder weltanschaulichen Vorprägungen muß insoweit vermieden werden.

261 Dem hier dargestellten Ergebnis dürfte insbesondere Obermayer (Gemeinschaftsschule, S. 39 Nr. 11) zugestimmt haben, der eindringlich davor warnt, die christliche Gemeinschaftsschule in eine christlichen Bekenntnisschule zu verwandeln. Als christliche Gemeinschaftsschulen bezeichnet Obermayer die Gemeinschaftsschulen, in denen der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist. Er hebt in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervor, daß es auch an einer christlichen Gemeinschaftsschule unzulässig sei, den darüber hinausgehenden Unterricht auf der Grundlage der allgemeinen christlichen Glaubenssätze zu erteilen. 262 Vgl. Hemmrich, in: v. Münch, GG, Art. 7 Rdnr. 22; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 53 e; Pieroth, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 7 Rdnr. 7. 2 63 Weitere Ausführungen dazu S. 101 ff.

§ 4 Schultypen des Grundgesetzes

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Im Regelfall werden der Gemeinschaftsschule drei verschiedene Schultypen zugerechnet, deren Bezeichnung leicht variiert, ohne jedoch zu inhaltlichen Differenzen zu führen. In der Sache kann von der neutralen, der bildungsmäßig christlichen sowie der bekenntnismäßig christlichen Gemeinschaftsschule gesprochen werden. 264 Die gängige Zuordnung der bekenntnismäßig christlichen Gemeinschaftsschule zum Schultyp geht jedoch fehl, da sie der Aufgabe und dem Grundanliegen der Gemeinschaftsschule widerspricht. Die bekenntnismäßige christliche Gemeinschaftsschule ist aufgrund ihrer eingrenzenden Ausrichtung an einer Bekenntnisgruppe der Sache nach als Bekenntnisschule zu qualifizieren. 265 Es verbleiben somit die neutrale sowie die bildungsmäßig christliche Gemeinschaftsschule. Diese beiden Ausprägungen der Gemeinschaftsschule weisen weitgehende Übereinstimmungen auf. Der einzige, zugleich aber entscheidende Unterschied besteht darin, daß die neutrale Gemeinschaftsschule zu den bekenntnisfreien Schulen gezählt wird, so daß gem. Art. 7 Abs. 3 GG der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach entfällt. Trotz der Bezeichnung als (bildungsmäßig) christliche Gemeinschaftsschule ist auch für diesen Schultypus allseits anerkannt, daß es - abgesehen vom Religionsunterricht - wie an der neutralen Gemeinschaftsschule untersagt ist, den allgemeinen Unterricht an den gemeinsamen Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse auszurichten. Umstritten ist jedoch, inwieweit sich bei den bildungsmäßig christlichen Gemeinschaftsschulen aus der Verpflichtung zur Erteilung des Religionsunterrichts zugleich die Berechtigung herleiten läßt, weitere religiöse Elemente - wie beispielsweise das Abhalten von Schulgebeten und Schulandachten oder das Anbringen von religiösen Symbolen an den Wänden der Schule - in den Schulalltag zu integrieren. 266 Diese Frage wird im weiteren Verlauf der Arbeit näher beleuchtet werden. 267

B. Vereinbarkeit der einzelnen Schultypen mit dem Grundgesetz Während es für die Schulen in privater Trägerschaft allgemein anerkannt ist, daß sie in allen drei Ausprägungen - als Gemeinschafts-, Bekenntnis- und Weltanschauungsschule - verfassungsrechtlich zulässig sind, ist dies für die Schulen in 264 Ähnlich wie hier Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 271. Hofmann (DVB1. 1967, 439 [440]) nennt die beiden letzteren formell christliche und materiell christliche Gemeinschaftsschule; in diesem Sinne auch Rust, BayVBl. 1967,44 (45 f.). 2 65 Vgl. oben S. 92 ff. 266

So leiten einige Autoren aus der Erteilung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach her, daß sich die bildungsmäßig christlichen Gemeinschaftsschulen nicht gänzlich religiöser Elemente entledigen müssen. Vielmehr soll es zulässig sein, Schulgebete abzuhalten oder religiöse Symbole - wie z. B. ein Kruzifix - in den Klassenzimmern aufzuhängen. Vgl. dazu Hofmann, DVB1. 1967,439 (440). 2 67 Vgl. dazu unten S. 308 ff.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

öffentlicher Trägerschaft umstritten. Dabei stehen sich im wesentlichen zwei Auffassungen gegenüber.

I. Bundesverfassungsgericht und herrschende Meinung Das Bundesverfassungsgericht geht im Einklang mit der ganz überwiegenden Ansicht im Schrifttum davon aus, daß neben den privaten auch die öffentlichen Schulen in allen drei Gestaltungsformen mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sind. Die Verfassungsmäßigkeit der öffentlichen Errichtung von Gemeinschafts-, Bekenntnis- oder Weltanschauungsschulen leite sich aus Art. 7 Abs. 5 GG her. Dürfe eine private Volksschule als Gemeinschafts-, Bekenntnis- oder Weltanschauungsschule nur dann zugelassen werden, wenn eine öffentliche Schule dieser Art in der Gemeinde nicht vorhanden sei, ergebe sich daraus eindeutig, daß das Grundgesetz die Existenz dieser Schulen als öffentliche Schulen voraussetze. 268 Darüber hinaus wird betont, daß die religiös-weltanschauliche Ausrichtung der Schule mangels näherer Regelung in Art. 7 GG - dem jeweiligen Landesgesetzgeber überlassen sei. Dieser müsse bei der Gestaltung des Schulwesens allerdings auf die Grundrechte von Schülern und Eltern, insbesondere auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Rücksicht nehmen. 269

II. Abweichende Stimmen im Schrifttum Im Gegensatz zu dieser ganz herrschenden Meinung halten einige wenige Autoren sowohl die Bekenntnisschule als auch die bekenntnismäßig christliche Gemeinschaftsschule als öffentliche Schule für verfassungswidrig. 270 Die Verfassungswidrigkeit der konfessionell ausgerichteten Schulen soll sich aus der Verletzung des staatlichen Gebots zur weltanschaulich-religiösen Neutralität ergeben. Aus ihr wird die Unzulässigkeit einer staatlichen Vermittlung jeglicher religiöser oder weltanschaulicher Ansichten gefolgert. Die Vertreter dieser abweichenden Position im Schrifttum sind durchweg Anhänger des Trennungsprinzips. Sie gehen von der grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich aus und erkennen nur die aus268 Vgl. V. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 176; Heckel, DÖV 1953, 593 (594); Keim, Schule und Religion, S. 159; Obermayer, DÖV 1967, 16; Rux, Der Staat 36 (1996), 525 (536 f.). In diesem Sinne - wenn auch nicht ganz deutlich - wohl auch Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 12 d. Siehe auch BVerfGE 41, 29 (46). 269 BVerfGE 41, 29 (45); 41, 65 (78 f.); 52, 223 (237) sowie v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 169; Grundmann, BayVBl. 1966, 37 (38); Hemmrich, in: v. Münch, GG, Art. 7 Rdnr. 16; Renck, KJ 1994, 488 (491). 270 Krüger, Rechtsgutachten, in: Giese/von der Heydet, Der Konkordatsprozeß, Teilband 3, S. 1052 (1085); Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 273. Fischer hält ausschließlich die bekenntnisneutrale Gemeinschaftsschule für verfassungsgemäß.

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drücklich im Grundgesetz statuierten Ermächtigungen als Ausnahmen vom Trennungsprinzip an. 2 7 1 Vor diesem Hintergrund überrascht nicht, daß die staatliche Errichtung einer bekenntnismäßig ausgerichteten Schule aus der Sicht dieser Autoren zu einer unzulässigen Identifizierung des Staates mit einer bestimmten Glaubensrichtung führt. Der Staat verstoße damit gegen seine Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität. Unabhängig davon, ob die Vermittlung der Glaubensinhalte mit den individuellen Glaubensvorstellungen des einzelnen übereinstimmen und die Beeinflussung mit oder gegen den Willen von Schülern und / oder Eltern geschehe, stelle die bloße Tatsache, daß diese Konfrontation von staatlicher Seite vorgenommen werde, eine Mißachtung des Neutralitätsgebots dar. 272 Zulässig könne die Errichtung von öffentlichen Schulen in Form von Bekenntnis- oder bekenntnismäßig christlichen Gemeinschaftsschulen nur dann sein, wenn das Grundgesetz deren Errichtung als Ausnahme vom Neutralitätsgebot ausdrücklich vorsehe. Als einzige einschlägige Norm kommt in diesem Zusammenhang Art. 7 Abs. 5 GG in Betracht, der jedoch bei der Mehrzahl der Autoren keine Erwähnung findet. Diese scheinen entweder konkludent davon auszugehen, daß Art. 7 Abs. 5 GG keine Ausnahmeregelung darstellt oder übersehen die Regelung schlichtweg. Einzig Fischer setzt sich mit der Bestimmung auseinander, kann ihr aber ebenfalls nicht den Charakter einer Ausnahme vom Trennungsprinzip entnehmen. Seines Erachtens gibt der Wortlaut von Art. 7 Abs. 5 GG für derart weitreichende Schlußfolgerungen zu wenig Anhaltspunkte. Einem Nebensatz, der lediglich Voraussetzungen für die Errichtung von privaten Volksschulen benenne, könne keine ausdrücklich normierte Ausnahmeregelung in einer so bedeutsamen Frage entnommen werden. 273 Fischer kommt daher in Übereinstimmung mit den anderen Autoren zu dem Ergebnis, daß weder die Bekenntnisschule noch die bekenntnismäßig christliche Schule als öffentliche Schule mit dem staatlichen Gebot zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zu vereinbaren und beide somit verfassungswidrig seien.

C. Verfassungsmäßigkeit der ausschließlichen Errichtung von Bekenntnisschulen Geht man mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Meinung von der Vereinbarkeit der Bekenntnis- und bekenntnismäßig christlichen Gemeinschaftsschulen als öffentliche Schulen mit dem Grundgesetz aus, 274 ist damit noch keine Antwort auf die Frage gegeben, inwieweit die ausschließliche Errichtung eines bestimmten Schultyps in einzelnen Schulbezirken 271 Fischer, Staat und Kirche, S. 178. Näher dazu oben S. 58 f. 272 v. Zezschwitz, JZ 1971, 11 (12 f.). 273 Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 278. 274 Vgl. dazu die Begründung unten S. 302 ff. und S. 313 f. 7 Rathke

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

mit dem Grundgesetz in Einklang steht. Rechtsprechung und Literatur haben sich auch in diesem Zusammenhang mit der Bekenntnisschule sowie darüber hinaus mit der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule 275 befaßt. In den sechziger Jahren stand zunächst die Frage, inwieweit die alleinige Existenz einer Bekenntnisschule in einem Schulbezirk verfassungsgemäß ist, im Mittelpunkt der Diskussion. Die Problematik kam in dem Zeitpunkt auf, in dem die einzelnen Schulbezirke ihre konfessionelle Homogenität einbüßten. Eltern unterschiedlicher Konfession oder ohne konfessionelle Ausrichtung machten geltend, die Verpflichtung, ihre Kinder auf eine Bekenntnisschule schicken zu müssen, verletze sie in ihrem Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit. 276

I. Stellung der Rechtsprechung zur Problematik Zunächst war die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der ausschließlichen Existenz einer Bekenntnisschule nur mittelbar Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung. Im sog. Reichskonkordatsprozeß, in dem eigentlicher Entscheidungsgegenstand die Frage nach der Verpflichtung des Landes Niedersachsen zur Erfüllung des von der nationalsozialistischen Reichsregierung im Namen des Deutschen Reichs mit dem Heiligen Stuhl am 20. Juli 1933 abgeschlossenen Reichskonkordats war 2 7 7 , führte das Bundesverfassungsgericht als obiter dictum aus, daß es schlechthin nicht zu realisieren sei, „allen Eltern eine ihren Wünschen entsprechende Schulart zur Verfügung zu stellen. Das Verfassungsgericht betrachtet es als unvermeidbar, daß die Eltern bestimmter Minderheiten dazu gezwungen sind, ihre Kinder auf eine ihren Vorstellungen nicht entsprechende Schule schicken zu müssen". 278 Diese vom Bundesverfassungsgericht vorgegebene Linie traf jedoch auf eine widerstreitende Praxis. Wesentliche Ursache dafür war die zunehmende konfessionelle Durchmischung der Bevölkerung. Immer häufiger wandten sich Eltern bekenntnisfremder Schüler an die Gerichte, um feststellen zu lassen, daß die alleinige Existenz einer Bekenntnisschule sie bzw. ihre Kinder in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen verletzte. So setzte sich unter anderem der Bayerische Verfassungsgerichtshof mit der Frage auseinander und kam zu dem Ergebnis, daß es nicht mit der Glaubensfreiheit zu vereinbaren sei, wenn Schüler nach den Grundsätzen eines ihnen fremden Bekenntnisses unterrichtet und erzogen würden. 279 Um die gängige Praxis der alleini275

Dazu sogleich unten S. 101 ff. Das Grundrecht auf Religionsfreiheit gewährt den Eltern nach allgemeiner Ansicht auch das Recht, die religiös-weltanschauliche Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen; vgl. BVerfGE 41, 29 (2. LS u. 47 f.); 41, 89 (107). 277 RGBl. II, S. 679. 27 « BVerfGE 6, 309 (339). 27 9 BayVGH BayVBl. 1967,201 (203). 276

§ 4 Schultypen des Grundgesetzes

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gen Existenz einer Bekenntnisschule im Schulbezirk dennoch nicht gänzlich aufgeben zu müssen, unternahm der Bayerische Verfassungsgerichtshof zunächst den Versuch, Art. 135 Abs. 2 BV (a.F.) 280 dahingehend verfassungskonform auszulegen, daß der Unterricht in bekenntnismäßig gemischten Schulklassen nicht allein am Mehrheitsbekenntnis ausgerichtet werden dürfe, sondern auf der Grundlage beider Bekenntnisse zu erteilen sei. 281 Darüber hinaus wurden Bekenntnisschulen, in denen konfessionelle Minderheiten in nicht ganz unbeträchtlicher Zahl auftraten, dazu verpflichtet, einen oder mehrere Lehrer des jeweiligen Minderheitsbekenntnisses anzustellen - und zwar nicht nur für den Religionsunterricht. 282 Die Rechtswirklichkeit zeigte jedoch auf längere Sicht, daß alle Versuche, auf die konfessionellen Minderheiten angemessen Rücksicht zu nehmen, nicht zufriedenstellend waren und sich als halbherzig erwiesen. Sichtbares Zeichen dieses Unbehagens war die Tatsache, daß im Laufe der Zeit die Befugnis zur alleinigen Errichtung einer Bekenntnisschule im Schulbezirk aus allen Landesgesetzen verschwand.283

II. Stellungnahmen des Schrifttums zur Problematik Der ganz überwiegende Teil der Literatur befürwortete die Entwicklung der Rechtsprechung. 284 Die in einigen Bundesländern bestehende Gesetzeslage, die die alleinige Einrichtung der Bekenntnisschule ermöglichte, wurde wegen eines nicht zu rechtfertigenden Eingriffs in die Religionsfreiheit andersdenkender Eltern und deren Kinder für verfassungswidrig gehalten. Deutlicher als in der Rechtsprechung wird im Schrifttum jedoch die konfligierende Interessenlage zwischen den beiden „Elternlagern" herausgearbeitet. Wird die ausschließliche Existenz der Bekenntnisschule für verfassungswidrig erklärt, ist es den Eltern, die eine bekenntnismäßige Ausrichtung des gesamten Unterrichts wünschen, nicht mehr ohne weiteres möglich, ihren Kindern eine entsprechende Erziehung zukommen zu lassen. Da ihnen über Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ebenfalls garantiert ist, ihren Kindern eine ihren Vorstellungen entsprechende religiöse Erziehung zu sichern, wird durch die Abschaffung der Bekenntnisschule das Grundrecht dieser Eltern tangiert. Im Ergebnis kommt es zur Kollision zwischen den Grundrechtspositionen jener Eltern, 280 Art. 135 Abs. 2 BV (a.F.) schrieb vor, daß die Schulen in der Regel als Bekenntnisschulen zu errichten sind, die „hinsichtlich der Lehrer und der Schüler" das Gepräge eines bestimmten Bekenntnisses tragen. Die Schüler sollten nach diesen Grundsätzen unterrichtet und erzogen werden. 281 BayVGH BayVBl. 1967, 201 (203). 282 BayVGH BayVBl. 1967, 201 (203); BayVGH BayVBl. 1967, 312 (313); BayVGH BayVBl. 1967, 423. 283 Vgl. dazu auch v. Campenhausen, ZevKR 14 (1968), 26 (30 ff.). 284 Vgl. nur v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 181 ff.; Keim, Schule und Religion, S. 182 ff.

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

die eine religiöse Prägung des gesamten Unterrichts wünschen und den Positionen derjenigen, die eine derartige Erziehung ablehnen. Bei der notwendigen Abwägung der widerstreitenden Interessen wird letztendlich jenen Eltern der Vorzug eingeräumt, die eine bekenntnisorientierte Erziehung ablehnen. Zur Begründung wird angefühlt, daß in diesem Fall der Wesensgehalt der Religions- und Weltanschauungsfreiheit berührt sei, während bei jenen Eltern, die einen bekenntnisorientierten Unterricht wünschen, zwar das Grundrecht, nicht jedoch dessen Wesensgehalt betroffen sei. Der entscheidende Unterschied wird darin gesehen, daß im ersten Fall die Eltern dazu verpflichtet werden, ihre Kinder einem ihren weltanschaulichen oder religiösen Vorstellungen nicht entsprechenden bekenntnisgeprägten Unterricht auszusetzen, während im letzteren Fall die Eltern zwar auf einen bekenntnisgeprägten Unterricht verzichten müssen, nicht aber dazu gezwungen werden, ihre Kinder in einem fremden Glauben erziehen zu lassen.285 Lediglich vereinzelt finden sich demgegenüber Stimmen im Schrifttum, die einen Eingriff in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erst dann annehmen wollen, wenn die Kinder entgegen ihrem Willen oder jenem ihrer Eltern dazu gezwungen werden, aktiv an der Ausübung des Bekenntnisses mitzuwirken bzw. der Unterricht in einer ihre Gefühle verletzenden Weise verläuft. 286 Die These der betreffenden Autoren lautet, daß Minderheiten jenen Schultyp akzeptieren müßten, für den sich die Mehrheit der Eltern entschieden habe. Es sei nicht einzusehen, warum jene Eltern, die mehrheitlich eine bekenntnismäßig ausgerichtete Erziehung ihrer Kinder wünschten, von einer Minderheit dazu gezwungen werden sollten, von diesem Wunsch Abstand zu nehmen. 287 Andere Stimmen im Schrifttum halten zwar eine Argumentation unter Berufung auf die MehrheitsVerhältnisse im Grundrechtsbereich für unzulässig, lehnen aber eine Verletzung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ab, solange der grundsätzliche Wille besteht, für Minderheiten Ausweichmöglichkeiten zu schaffen und diese nur aufgrund tatsächlicher Gründe - insbesondere wegen zu geringer Finanzmittel - nicht realisierbar sind. In diesen Fällen soll nur ein „faktischer Zwang4' vorliegen, der für eine Verletzung von Art. 4 GG als nicht ausreichend angesehen wird. 2 8 8

285 v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 181 ff.; Keim, Schule und Religion, S. 182 ff., besonderes deutlich auf S. 184 unten. 286 Letzteres soll im Regelfall auszuschließen sein, solange der Unterricht auf der Grundlage des Toleranzgedankens erfolgt. Vgl. zum Ganzen Peters, Rechtsgutachten, in: Giese/ von der Heydet, Der Konkordatsprozeß, Teilband 3, S. 648 (661); ähnlich auch Feuchte/Daliinger, DÖV 1967, 361 (365 f.); Heckel, DÖV 1953, 593 (596). 287 288

Dazu Peters, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte I V / 1 , S. 409, Siehe die Nachweise bei v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 175 Fußn. 45 f.

§ 4 Schultypen des Grundgesetzes

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D. Verfassungsmäßigkeit der ausschließlichen Errichtung von Gemeinschaftsschulen Die bereits angesprochenen Änderungen der landesverfassungsrechtlichen Regelungen dahingehend, daß die alleinige Errichtung einer Bekenntnisschule im Schulbezirk nicht mehr zulässig ist, 2 8 9 führten zwangsläufig zum Rückzug der Bekenntnisschule als Schultypus. Sie machte der Gemeinschaftsschule Platz, die sich seit den siebziger Jahren im Vordringen befindet. Auch die Verfassungsmäßigkeit der alleinigen Existenz einzelner Gemeinschaftsschulformen im Schulbezirk war jedoch zunächst umstritten und Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen. I. Stellung der Rechtsprechung Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen war die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Gemeinschaftsschulen bildungsmäßig christlicher Prägung. In drei Entscheidungen, die alle im 41. Band veröffentlicht sind, hielt das Gericht drei unterschiedliche Ausprägungen der christlichen Gemeinschaftsschule für verfassungsgemäß, eine davon allerdings erst nach verfassungskonformer Auslegung. 2y0 Gegenstand der Entscheidungen waren drei das Schulrecht seinerzeit neu regelnde landesverfassungsrechtliche Bestimmungen. Während Art. 135 der bayerischen Verfassung (damals wie heute) festlegt(e), daß die öffentlichen Volksschulen die Schüler nach den „Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse" zu unterrichten und zu erziehen haben, sah und sieht Art. 16 Abs. 1 der baden-württembergischen Verfassung vor, daß die Kinder in den christlichen Gemeinschaftsschulen „auf der Grundlage christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte" zu erziehen sind. Ähnlich wie die baden-württembergische sah und sieht auch die nordrhein-westfälische Verfassung in Art. 12 Abs. 6 LV vor, daß die Kinder an Gemeinschaftsschulen auf der „Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte" zu unterrichten und zu erziehen sind, diese Unterrichtung und Erziehung aber „in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen" erfolgen soll. In Baden-Württemberg und in Bayern sahen Eltern in der Errichtung derartiger Gemeinschaftsschulen eine unzulässige Übernahme bestimmter religiöser - hier christlicher - Elemente in das Schulwesen. Diese seien weder mit ihrer negativen Religionsfreiheit - die sie davor bewahre, ihre Kinder in einer bestimmten, von ihnen abgelehnten religiösen oder weltanschaulichen Ausrichtung erziehen zu lassen291 - noch mit der staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zu vereinbaren. 292 Im Gegensatz dazu sahen Erziehungsberechtigte in Nordrhein-Westfalen die Um289 V g l . o b e n S. 9 7 ff.

290 BVerfGE 41, 29 ff.; 41, 65 ff.; 41, 88 ff. 291 B V e r f G E 4 1 , 2 9 ( 3 7 ) ; 4 1 , 6 5 ( 7 1 f f . ) .

292 BVerfGE 41, 29 (37).

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1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

Wandlung der Bekenntnisschulen in Gemeinschaftsschulen als eine unzulässige Vernachlässigung des ihnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Bestimmungsrechts über die religiöse Erziehung ihrer Kinder an. 2 9 3 Grundlegende Aussagen zur Verfassungsmäßigkeit der Gemeinschaftsschule bildungsmäßig christlicher Prägung werden vom Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zur Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg getroffen, auf die in den beiden anderen Entscheidungen zurückgegriffen wird. 2 9 4 Das Bundesverfassungsgericht hält die baden-württembergische Regelung für einen zulässigen Eingriff in das die weltanschaulich-religiöse Ausrichtung umfassende Erziehungsrecht der Eltern. Gleich zu Beginn der Entscheidung verdeutlicht das Verfassungsgericht, daß den Eltern - abgesehen von der ausdrücklich in Art. 7 Abs. 2 GG vorgesehenen Befreiungsmöglichkeit ihres Kindes vom Religionsunterricht - keine Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich des Schulwesens zustünden. Den Eltern komme insbesondere kein Mitspracherecht bezüglich der Festlegung der Schultypen zu, da das Grundgesetz diese Entscheidung ausdrücklich der landesrechtlichen Ausgestaltung überlassen habe. 295 Dem Landesgesetzgeber soll allerdings die Verpflichtung obliegen, bei der Ausgestaltung die übrigen Verfassungsbestimmungen - insbesondere Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit Blick auf die Schüler sowie deren Eltern - zu berücksichtigen. 296 Darüber hinaus müsse der Landesgesetzgeber beachten, daß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht nur ein individuelles Abwehrrecht des einzelnen gegenüber staatlichen Maßnahmen enthält, sondern den Staat zugleich dazu verpflichtet, einen Raum für jene zu schaffen, die ihre religiösen bzw. weltanschaulichen Neigungen entfalten möchten. 297 Das Verfassungsgericht teilt danach nicht die Ansicht der Beschwerdeführer, wonach der Staat alle religiösen oder weltanschaulichen Bezüge aus seinen Schulen fernzuhalten habe, sondern hält den Staat im Gegenteil für verpflichtet, jenen Schülern, die ihrem Glauben auch im schulischen Bereich Ausdruck verleihen möchten, entsprechende Möglichkeiten und Freiräume zur Verfügung zu stellen. Nach Ansicht des Gerichts verwirklicht sich die staatliche Neutralitätsverpflichtung gerade in der Offenheit allen religiösen und weltanschaulichen Einstellungen gegenüber. 298 Der Landesgesetzgeber sei verpflichtet, bei der Ausgestaltung des Schulwesens einen angemessenen Ausgleich zwischen den beiden konfligierenden Interessen von positiver und negativer Religionsfreiheit herzustellen. 299 Er müsse 293 BVerfGE 41, 88 (96). 294 Gerade diese Grundsatzentscheidung ist Gegenstand detaillierterer Auseinandersetzung geworden. 295 BVerfGE 41, 29 (46). 296 BVerfGE 41, 29 (46-48). 297 BVerfGE 41, 29 (49). 298 BVerfGE 41, 29 (48 ff.) 299 BVerfGE 41, 29 (49 f.); 29 65 (78); 41 88 (108). Das Bundesverfassungsgericht spricht in seinen Entscheidungen immer dann von positiver Religionsfreiheit, wenn Möglichkeiten

§ 4 Schultypen des Grundgesetzes

103

berücksichtigen, daß einerseits weltanschaulich-religiöse Bezüge im Schulwesen gestattet seien, andererseits aber Art. 4 GG verlange, weltanschaulich-religiöse Zwänge möglichst auszuschließen.300 Dabei sei es legitim, wenn der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Schulwesens unter anderem auf die Schultradition sowie die konfessionelle Zusammensetzung und religiöse Verwurzelung der Bevölkerung Rücksicht nehme. 301 In einem pluralistischen Staat sei es schlechterdings unmöglich, bei der Gestaltung des Schulwesens allen Elternwünschen gerecht zu werden. 302 Entschließe sich der Landesgesetzgeber dazu, religiöse Elemente bei der Gestaltung des Schulwesens zu berücksichtigen, soll dies selbst dann zulässig sein, wenn eine Minderheit von Eltern die Einbeziehung derartiger Elemente ablehnt. 303 Entscheidend ist jedoch die vom Verfassungsgericht getroffene Einschränkung, daß diese Aussage nur für die Vermittlung des sich im Laufe der Geschichte herausgebildeten christlich-abendländischen Kultur- und Bildungserbes gelten soll, nicht hingegen für die Vermittlung von Glaubenswahrheiten. Diese habe sich ausschließlich auf den Religionsunterricht zu beschränken. 304 Das Verfassungsgericht betont, daß die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen jedenfalls dann überschritten ist, wenn eine Schule missionarische Züge annimmt oder die christlichen Glaubensinhalte für verbindlich erklärt werden, da in diesem Fall die notwendige Offenheit anderen Werten gegenüber nicht mehr gewahrt sei. 305 Nach Ansicht des Verfassungsgerichts halten sich sowohl die baden-württembergische als auch die nordrhein-westfälische Regelung innerhalb der skizzierten verfassungsrechtlichen Grenzen. Die bayerische Regelung hingegen bedurfte einer verfassungskonformen Auslegung. Obgleich der Wortlaut des Art. 135 S. 2 BV wonach die Erziehung und Unterrichtung der Kinder nach den „Grundsätzen der christlichen Bekenntnisse" vorzunehmen ist - darauf hindeutet, daß nicht nur christliche Kultur- und Bildungswerte, sondern darüber hinaus auch Glaubensinhalte vermittelt werden sollen, kommt das Verfassungsgericht im Wege verfassungskonformer Auslegung zu dem Ergebnis, die Vorschrift beziehe sich nur auf Werte und Normen, die „vom Christentum maßgeblich geprägt, auch weitgehend zum Gemeingut des abendländischen Kulturkreises geworden sind". 3 0 6 Es gehe zur Ausübung der religiösen Ansichten begehrt werden, von der negativen Religionsfreiheit, wenn derartige Praktiken abgelehnt werden; vgl. dazu auch die Ausführungen oben S. 39. 300 BVerfGE 41, 29 (50 f.) 301 BVerfGE 41, 29 (51). 302 BVerfGE 41, 88 (107). 303 BVerfGE 41, 29 (51). 304 BVerfGE 41, 29 (51 f.): „Die Bejahung des Christentums in den profanen Fächern bezieht sich in erster Linie auf die Anerkennung des prägenden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländische Geschichte herausgebildet hat, nicht auf eine Glaubenswahrheit und ist damit auch gegenüber Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert." In diesem Sinne auch BVerfGE 41, 65 (78 f.). 305 BVerfGE 41, 29 (51); 41, 65 (78). 306 BVerfGE 41,65, (84 f.).

1. Kap.: Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen

104

nicht um die Vermittlung von Glaubenswahrheiten, sondern des von der Glaubenswahrheit zu unterscheidenden christlich-abendländischen Kultur- und Bildungserbes. Im Ergebnis hatten danach alle drei Verfassungsbeschwerden keinen Erfolg.

II. Stellungnahmen des Schrifttums Wie in der Rechtsprechung war auch im Schrifttum nicht die Gemeinschaftsschule als solche, sondern nur in ihrer Ausprägung als christliche Gemeinschaftsschule Gegenstand der Auseinandersetzung. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, daß im Regelfall auch nur die bekenntnismäßig christliche Gemeinschaftsschule als problematisch angesehen wird. Nur bei ihr wird die Frage gestellt, inwieweit die alleinige Existenz einer derartigen Schule im Schulbezirk mit der Religionsund Weltanschauungsfreiheit nicht christlich orientierter Schüler zu vereinbaren ist. Mit Blick auf die bildungsmäßig christliche Gemeinschaftsschule, die ihren Unterricht - abgesehen vom Religionsunterricht - nicht an christlichen Glaubenssätzen, sondern nur am christlichen Kultur- und Bildungserbe ausrichtet, erkennt das Schrifttum - im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht - ganz überwiegend an, daß die Religions- und Weltanschauung andersdenkender Kinder bzw. deren Eltern nicht verletzt ist. 3 0 7 Entsprechend den Ergebnissen zur Bekenntnisschule wird demgegenüber eine bekenntnismäßig christliche Gemeinschaftsschule als einzige Schule vor Ort in weitem Maße für verfassungswidrig gehalten. Die Mehrheit im Schrifttum geht davon aus, daß die bekenntnismäßig christliche Gemeinschaftsschule aufgrund ihres missionarischen Charakters in den Wesensgehalt der Religionsfreiheit von Kindern und Eltern eingreift, die eine christliche Erziehung ablehnen.308 Obermayer warnt ausdrücklich davor, daß die christlichen Gemeinschaftsschulen nicht zu christlichen Bekenntnisschulen verkommen dürf.

309

ten. Ähnlich wie im Fall der Bekenntnisschule wird jedoch auch die bekenntnismäßig christliche Gemeinschaftsschule von einigen wenigen Autoren verteidigt. Als Argument wird anführt, daß es einer den christlichen Glaubenssätzen nicht verbundenen Minderheit solange zuzumuten sei, eine christliche Gemeinschaftsschule zu besuchen, wie sie nicht zur Übernahme oder Anerkennung der christlichen Glaubensinhalte gezwungen und ihr mit Toleranz begegnet werde. 310 Insofern bestehe die Möglichkeit, die Erziehung und den Unterricht in Klassen mit nichtchristlichen Kindern nicht ausschließlich und ausnahmslos am Mehrheitsbekenntnis auszurich307 Keim, Schule und Religion, S. 187; Maunz, in Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 15, jeweils m. w. N.; Scheuner, Verfassungsrechtliche Fragen der Gemeinschaftsschule, in: Festgabe für Maunz, S. 307 (321); Weber, Der Staat 8 (1969), 493 (504). 308 v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 176 f. m. w. N.; vgl. auch Keim, Schule und Religion, S. 187. 3 °9 Obermayer, Gemeinschaftsschule, S. 39 Nr. 11. 310 Feuchte/Daliinger, DÖV 1967, 361 (365 f.); Hofmann, DVB1. 1967, 439 (440 f.).

§ 4 Schultypen des Grundgesetzes

105

ten. 311 Insgesamt wird geltend gemacht, daß dem Minderheitenschutz an den bekenntnismäßig christlichen Gemeinschaftsschulen - im Gegensatz zu den Bekenntnisschulen - eine deutlich untergeordnete Rolle zukomme, da sich die klare Mehrheit der Bevölkerung zum Christentum bekenne.312 Die Zahl der „Dissidenten", auf die Rücksicht genommen werden müsse, sei äußerst gering. 313 Der Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten - die wachsende Abkehr vom Christentum und die zunehmende Bedeutung anderer Religionsgemeinschaften in Deutschland - dürften dieser Argumentation allerdings den Boden entzogen haben. 314

311 312 313 314

Feuchte/Dallinger, DÖV 1967, 361 (366); Hofmann, DVB1. 1967, 439 (440). Angeführt werden z.T. 96%; so bei Hofmann, DVB1. 1967, 439 (440 f.). Dazu Hofmann, DVB1. 1967, 439 (440 f.). So auch Renck, KJ 1994, 488 (489).

2. Kapitel

Das Spannungsfeld von schulischem Erziehungsauftrag des Staates, individueller Religions- und Weltanschauungsfreiheit und staatlicher Neutralitätspflicht im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur Im Anschluß an die Darstellung der verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen gilt es im folgenden näher auf die wichtigsten richterlichen Entscheidungen in diesem Bereich sowie die daran anknüpfenden Reaktionen des Schrifttums einzugehen. Gegenstand aller Entscheidungen ist der Konflikt zwischen den religiösen oder weltanschaulichen Einstellungen der Schüler bzw. - vermittelt über Art. 6 Abs. 2 GG - deren Eltern auf der einen und der inhaltlichen Ausgestaltung der schulischen Erziehung durch den Staat auf der anderen Seite. Der Überblick über die Rechtsprechung wird nicht nur die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen, die den Verlauf der weiteren Entwicklung am nachhaltigsten geprägt haben. Die Darstellung wird auch einschlägige Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts sowie einzelner Instanzgerichte in die Betrachtung einbeziehen. Diese Bandbreite erleichtert es zum einen, die Entwicklungsprozesse der einzelnen Fallgestaltungen und ihrer jeweiligen Lösungen aufzuzeigen. Zum anderen verdeutlicht das Gesamtbild anschaulich die Schwierigkeiten und die Komplexität der Problematik, die zu weit auseinanderliegenden Entscheidungen einzelner Gerichte und kontroversen Stellungnahmen in der Literatur geführt haben. Um die gemeinsamen Bezugspunkte zu verdeutlichen, werden die Fallgestaltungen in zwei Hauptgruppen eingeteilt, innerhalb derer die Entscheidungen nach übereinstimmenden thematischen Gesichtspunkten geordnet sind. Die erste - weitaus größere - Gruppe befaßt sich mit Fällen, in denen die religiöse Ausrichtung der Schule von Schülern oder Eltern als unzulässiger Eingriff in ihre grundgesetzlich garantierte Religions- und Weltanschauungsfreiheit angesehen wird. Der zweiten Gruppe liegen demgegenüber religiös bedingte Freistellungsbegehren von Schulveranstaltungen zugrunde, die für sich genommen (weltanschaulich-religiös) neutral sind.

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 107

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen die Integration religiöser Elemente in den schulischen Bereich Im Mittelpunkt der ersten Fallgruppe steht die (bildungsmäßig) christliche Gemeinschaftsschule. Nur bei diesem Schultypus ist zweifelhaft, ob und inwieweit die Einbeziehung christlich-religiöser Elemente - wie das Abhalten von Schulgebeten, Schulandachten oder das Anbringen von religiösen Symbolen in den Klassenzimmern - über den Religionsunterricht hinaus mit dem Grundgesetz vereinbar ist.1 An der Bekenntnisschule ist die Integration derartiger religiöser Elemente ebenso eine Selbstverständlichkeit wie an den neutralen Gemeinschafts- und den Weltanschauungsschulen deren Ausgrenzung aus dem schulischen Bereich.

A. Schulgebete und Schulandachten Besonders entscheidungsträchtig ist lange Zeit der Problemkreis um Schulgebete und Schulandachten gewesen. Wiederholt hatten sich Gerichte mit der Frage zu beschäftigen, ob und unter welchen Voraussetzungen das Abhalten von Schulgebeten bzw. Schulandachten an öffentlichen Gemeinschaftsschulen außerhalb des Religionsunterrichts mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Diese Problematik hat - bis zu den Entscheidungen des Bundesverwaltungs- und Bundesverfassungsgerichts - etliche Instanzgerichte beschäftigt und zu zahlreichen Stellungnahmen geführt. 2

I. Positionen der Rechtsprechung 1. Instanzrechtsprechung

a) Schulgebet Als eines der ersten Gerichte sah sich der Hessische Staatsgerichtshof mit der Frage der Zulässigkeit von Schulgebeten an öffentlichen Gemeinschaftsschulen konfrontiert. Traditionsbedingt wurde von den Lehrern an zahlreichen hessischen

1 Nur wenn staatlicherseits religiöse oder weltanschauliche Übungen angeordnet werden, erhält die Frage verfassungsrechtliche Relevanz; vgl. dazu die Ausführungen unten S. 309 ff. 2 Aufgrund der Vielzahl der ergangenen Entscheidungen kann nicht jede Instanzentscheidung berücksichtigt werden. Die folgende Darstellung, die zwischen den Instanzgerichten, dem Bundesverwaltungs- und dem Bundesverfassungsgericht unterscheidet, gibt einen Überblick über die Bandbreite der in diesem Zusammenhang vertretenen Ansichten und Argumente. Im Anschluß daran wird auf die Reaktionen im Schrifttum eingegangen. 3 Hess. StGH KirchE 2, 275 ff.

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

Gemeinschaftsschulen allmorgendlich ein überkonfessionelles Schulgebet abgehalten, dessen Teilnahme den Schülern freistand. Für das Abhalten derartiger Schulgebete bestand weder eine gesetzliche Anordnung noch eine Verwaltungsvorschrift. Die Eltern eines Schülers, die für ihr Kind jede Form von religiöser Erziehung ablehnten, sahen in dem Schulgebet einen verfassungswidrigen Eingriff in Art. 48 Abs. 2 der hessischen Verfassung (HV). Nach dieser Vorschrift darf niemand gezwungen werden, an einer religiösen Übung teilzunehmen.4 Der Staatsgerichtshof gab dem Begehren der Eltern statt, indem er das Abhalten von Schulgebeten als nicht zu rechtfertigenden Eingriff in Art. 9 und 48 Abs. 2 HV wertete. In seiner Entscheidung stellt der Staatsgerichtshof zunächst fest, daß die Person der Lehrerin, die das Schulgebet durch das Sprechen der Anfangsworte unterstützt, einen Akt öffentlicher Gewalt vornimmt. 5 Diese Feststellung ist Voraussetzung dafür, daß der Sachverhalt überhaupt Grundrechtsrelevanz erlangt. Bevor der Staatsgerichtshof im einzelnen begründet, worin der durch das Gebet ausgelöste Zwang besteht, setzt er sich ausführlich mit der negativen Bekenntnisfreiheit auseinander. Als negative Bekenntnisfreiheit, verankert in Art. 9 HV, bezeichnet der Staatsgerichtshof das Recht jedes einzelnen, seine weltanschauliche oder religiöse Einstellung nicht zu offenbaren sowie - positiv formuliert - die Befugnis, diese Einstellung zu verschweigen. Dieses Recht auf Schweigen zählt nach Ansicht des Staatsgerichtshofs zum Wesensgehalt des Art. 9 HV und soll insofern uneinschränkbar sein, als es seinerseits nicht in einen fremden Rechtskreis eingreift. 6 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum der Gerichtshof dem Aspekt der negativen Bekenntnisfreiheit eine herausgehobene Bedeutung beimißt. Steht die Teilnahme am Schulgebet frei, kann das Schulgebet den betunwilligen Schüler nur dann in seiner Religions- oder Weltanschauungsfreiheit verletzen, wenn auch die Abwesenheit vom Schulgebet ihn in irgendeiner Weise in seinem Grundrecht tangiert. Zu eben diesem Ergebnis gelangt der Staatgerichtshof. Seiner Ansicht nach wird der betunwillige Schüler durch das Fernbleiben vom Gebet tagtäglich dazu gezwungen, seine abweichende Überzeugung offenzulegen. Dieser Zwang stelle einen Eingriff in die negative Freiheit des Art. 48 Abs. 2 HV und damit zugleich in Art. 9 HV dar.7 Der Grundrechtseingriff könne nicht durch das Recht zur ungestörten Religionsausübung der betwilligen Schüler gerechtfertigt werden. Die Religionsausübung sei nicht nur ein Anwendungsfall der Glauben- und Bekenntnisfreiheit, sondern zugleich auch der allgemeinen Handlungsfreiheit und unterliege damit den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 HV. Die ungestörte Religionsausübung sei daher nur insoweit gewährleistet, als sie nicht Rechte Drit4 Art. 48 Abs. 2 HV lautet: „Niemand darf gezwungen oder gehindert werden, an einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder religiösen Übung teilzunehmen oder eine religiöse Eidesformel zu benutzen." Die Vorschrift gilt als ein besonderer Anwendungsfall von Art. 9 HV. Dieser lautet: „Glauben, Gewissen und Überzeugung sind frei." 5 Hess. StGH KirchE 2, 275 (284). 6 Hess. StGH KirchE 2, 275 (288 f.).

ι Hess. StGH KirchE 2, 275 (292).

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 109

ter verletze.8 Daraus folge, daß die positive Religionsausübungsfreiheit ihre Grenzen in der unbeschränkbaren negativen Bekenntnisfreiheit finde. Auch die Mehrheit habe auf die Durchsetzung ihres Willens zu verzichten, wenn unbeschränkbare Grundrechte des einzelnen entgegenstehen.9 Schließlich hebt der Staatsgerichtshof hervor, daß die Beschränkung der Religionsfreiheit der betwilligen Schüler nur vorübergehender Art sei, da sie außerhalb des Schulunterrichts ihren religiösen Übungen ungehindert nachgehen könnten. Demgegenüber greife das Schulgebet bei den betunwilligen Schülern in den Wesensgehalt der negativen Bekenntnisfreiheit ein, da keine zumutbaren Ausweichmöglichkeiten bestünden.10 Mit einem ähnlichen Fall wie der Hessische Staatsgerichtshof sah sich das Verwaltungsgericht Aachen11 konfrontiert. An einer (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule wurde nach Beginn der ersten und vor dem Ende der letzten Unterrichtsstunde ein kurzes überkonfessionelles Gebet gesprochen. Im Unterschied zum Fall des Hessischen Staatsgerichtshofs gab es jedoch keine Hinweise darauf, daß den Schülern die Teilnahme am Gebet freigestellt war. Gegen diese Schulpraxis wandte sich ein Elternteil mit der Begründung, sein Kind werde durch das - innerhalb der Unterrichtszeit veranstaltete - Schulgebet dazu gezwungen, an einer religiösen Übung teilzunehmen. Darüber hinaus sei die Veranstaltung derartiger religiöser Übungen ein Verstoß gegen die staatliche Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität. Dementsprechend müsse an der gesamten Schule das Abhalten von Gebeten unterbunden werden. Das Verwaltungsgericht gab der Klage insoweit statt, als der Schule verboten wurde, in der Klasse des Kindes ein Schulgebet abzuhalten. Mit Blick auf das weitergehende Klagebegehren, an der Schule insgesamt das Schulgebet zu untersagen, fehlte dem Kläger das Rechtsschutzbedürfnis. Ähnlich wie der Hessische Staatsgerichtshof betrachtet es das Verwaltungsgericht Aachen als einen Eingriff in die Religions- und Weltanschauungsfreiheit des betunwilligen Schülers, wenn dieser durch die Nichtteilnahme am Schulgebet trotz Anwesenheit jeden Morgen erneut dazu verpflichtet werde, seine von der religiösen Einstellung der übrigen Schüler abweichende Ansicht zu bekunden. Im Gegensatz zum Staatsgerichtshof legt sich das Verwaltungsgericht jedoch nicht fest, inwieweit hierdurch die negative Bekenntnisfreiheit - das Recht zum Schweigen oder die positive Bekenntnisfreiheit - das Recht zum Bekennen - verletzt wird. 12 Prägnant arbeitet das Gericht das Spannungsverhältnis heraus, daß zwischen dem Recht des betunwilligen Schülers und jenen anderen Schülern besteht, die den Unterricht mit einem Gebet beginnen wollen. Dabei stellt das Gericht fest, daß Art. 4 GG ausschließlich grundrechtsimmanenten Schranken, auf keinen Fall aber den 8 Hess. StGH KirchE 2, 275 (292). 9 Hess. StGH KirchE 2, 275 (292/298). 10 Hess. StGH KirchE 2, 275 (293). 11 VG Aachen KirchE 10, 393 ff. 12 VG Aachen KirchE 10, 393 (395 f.).

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG unterliege. 13 Dieses Ergebnis steht in deutlichem Gegensatz zur Entscheidung des Hessischen Staatsgerichtshofs, der die Religionsausübung noch als Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit betrachtet und den entsprechenden Schranken unterworfen hatte. Bei der Frage, wie die bestehende Kollisionslage zu lösen ist, richtet sich der Blick des Gerichts auf eine sachbereichsspezifische Lösung für den besonderen Bereich der Schule.14 Dabei spielt die staatliche Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität eine entscheidende Rolle. Nach Ansicht des Gerichts soll sie Hoheitsträger, zu denen auch die Lehrkräfte gerechnet werden, dazu verpflichten, keine religiösen oder weltanschaulichen Übungen anzuordnen. Zwar soll aus dem Gebot auf der anderen Seite nicht gefolgert werden können, daß religiöse oder weltanschauliche Veranstaltungen in den Schulen gänzlich untersagt sind. Der entscheidende Punkt liege in der hoheitlichen Anordnung des Schulgebets. Sie ist letztendliche Ursache dafür, daß der Religionsfreiheit des betunwilligen Schülers Vorrang vor der Religionsfreiheit der anderen, betwilligen Schüler eingeräumt wird. Das Gericht hebt jedoch ausdrücklich hervor, daß außerhalb der Unterrichtszeit unter Freiwilligkeit der Teilnahme veranstaltete kultische Handlungen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen. 15 Zu erwähnen bleibt, daß es das Verwaltungsgericht explizit ablehnt, aus der in Art. 7 Abs. 3 GG statuierten Pflicht zur Erteilung von Religionsunterricht oder dem Charakter der Gemeinschaftsschule als (bildungsmäßig) christlicher Schule Schranken für den betunwilligen Schüler herzuleiten. Das im Religionsunterricht regelmäßig zum Ausdruck kommende Bekenntnis der eigenen religiösen Überzeugung stellt nach Ansicht des Gerichts eine Ausnahme vom Grundrecht der Bekenntnisfreiheit dar und ist nicht auf den sonstigen Unterricht übertragbar. 16 Die Ausrichtung der Gemeinschaftsschule als (bildungsmäßig) christliche Schule besage nur, daß der Unterricht auf der Grundlage der christlichen Kultur- und Bildungswerte aufgebaut sei. Daraus ergebe sich jedoch nicht die Berechtigung des Staates, kultische Handlungen verbindlich vorzuschreiben: „Glauben zu wecken und zu fördern ist nicht Aufgabe des Staates oder eines sonstigen Hoheitsträgers". 17 Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts wurde beim Oberverwaltungsgericht Münster Berufung eingelegt.18 Dieses gab der Klage ebensowenig wie das Verwaltungsgericht statt, setzt in der Begründung jedoch einen anderen Schwerpunkt als die Vorinstanz. Zunächst führt das Oberverwaltungsgericht aus, daß es trotz der Ausrichtung der Schule als (bildungsmäßig) christliche Gemeinschafts13 14 15 16 17

VG Aachen KirchE VG Aachen KirchE VG Aachen KirchE VG Aachen KirchE VG Aachen KirchE

10, 393 10, 393 10, 393 10, 393 10, 393

(396). (397). (400). (398). (398 f.).

is OVG Münster KirchE 12,480 ff.

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 111

schule nicht zulässig sei, bei Widerspruch eines Kindes bzw. dessen Eltern ein Schulgebet zu veranstalten. Dabei wird als maßgeblicher Aspekt angesehen, daß das Kind aufgrund der Schulpflicht - abgesehen von eng begrenzten, hier nicht einschlägigen Ausnahmen - dazu gezwungen sei, alle Schulveranstaltungen zu besuchen. Das Vorgehen, einen nicht betwilligen Schüler zur Teilnahme am Schulgebet zu verpflichten, sei - so das Berufungsgericht - nicht mit Art. 12 Abs. 6 S. 1 LV zu vereinbaren, der die Erziehung der Kinder in Offenheit sowohl für die christlichen als auch für andere religiöse und weltanschauliche Bekenntnisse vorsieht. Die erforderliche Offenheit sei bei der Veranstaltung von Schulgebeten gegenüber Schülern nichtchristlicher Bekenntnisse nicht mehr gewahrt. 19 In einem zweiten Schritt geht das Berufungsgericht darauf ein, daß die Pflicht zur Teilnahme an religiösen Veranstaltungen in die Rechte des nicht betwilligen Schülers aus Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 4 GG eingreife. Unabhängig davon, ob das Gebet überkonfessioneller Art sei oder nicht, stelle es einen Bekenntnisakt dar, von dem es keine Ausweichmöglichkeit gebe. Das Verlassen des Klassenzimmers während der betreffenden Zeit scheidet nach Ansicht des Gerichts als Ausweichmöglichkeit aus, da aufgrund der Schulpflicht jedem Schüler die Verpflichtung obliege, den gesamten Unterricht zu besuchen. Eine Anwendung von Art. 7 Abs. 2 GG auf den vorliegenden Sachverhalt komme ebenfalls nicht in Betracht, da sich diese Vorschrift ausdrücklich nur auf den Religionsunterricht beziehe. Als Ausnahmeregelung sei die Vorschrift eng auszulegen, so daß eine Übertragung auf das Schulgebet ausscheide.20 Weiter führt das Berufungsgericht aus, daß das Verbot des Schulgebets keinen Eingriff in die positive Bekenntnisfreiheit der betwilligen Schüler begründe. Aus Art. 4 GG ergebe sich kein Recht, Einfluß auf die Gestaltung staatlicher Veranstaltungen zu nehmen. Art. 4 GG gewähre dem einzelnen zwar die Möglichkeit, seinen religiösen oder weltanschaulichen Einstellungen außerhalb des staatlichen Bereichs ungehindert Ausdruck zu verleihen. Dieses Recht bedeute jedoch nicht, daß der einzelne jederzeit und unter Beeinträchtigung der Rechte anderer seinen religiösen Übungen nachgehen könne. Dementsprechend hätten die betwilligen Schüler keinen Anspruch darauf, während der Unterrichtszeit ein Schulgebet durchzuführen oder zu verlangen, daß zu diesem Zweck der Unterricht unterbrochen werde. 21 Abschließend hebt das Oberverwaltungsgericht zwei Aspekte hervor, die offenbar zur Klärung der Problematik über den Fall hinaus beitragen sollen: Zum einen stellt das Gericht klar, daß die Veranstaltung von religiösen Übungen außerhalb der Unterrichtszeit auch dann, wenn sie unter Anleitung oder Beaufsichtigung eines Lehrers stattfinden, keinen rechtlichen Bedenken ausgesetzt sei. Zum anderen deutet das Gericht an, daß ein während der Unterrichtszeit gesprochenes Schulge19 OVG Münster KirchE 12, 480 (486). 20 OVG Münster KirchE 12,480 (487 f.). 21 OVG Münster KirchE 12,480 (488).

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

bet verfassungsrechtlich unbedenklich sei, wenn alle Schüler bzw. deren Eltern eine diesbezügliche Zustimmung erteilen. 22 b) Schulandachten Das Verwaltungsgericht Hannover 23 hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwieweit die Morgenandacht an einer christlichen Gemeinschaftsschule zulässig ist. Die Morgenandacht fand zweimal monatlich für ca. 15 Minuten statt. Die Zeit wurde von der ersten Unterrichtsstunde abgezogen. Die Schüler, die vom Religionsunterricht abgemeldet waren, wurden auch von der Teilnahme an der Andacht freigestellt. Einige Schüler, die einer freireligiösen Gemeinschaft angehörten und vom Religionsunterricht abgemeldet waren, wandten sich jedoch allgemein gegen religiöse Veranstaltungen während der Schulzeit, insbesondere gegen das Abhalten von Morgenandachten und Schulgebeten. Das Verwaltungsgericht wies die Klage als unbegründet ab. In seiner Begründung legt das Verwaltungsgericht den Schwerpunkt der Argumentation auf den Charakter der Gemeinschaftsschule als christliche Schule, wie er in § 2 des Gesetzes über das öffentliche Schulwesen in Niedersachen in der Fassung vom 27. Juni 1966 geregelt war. 24 Zusätzlich verweist das Gericht auf § 3 desselben Gesetzes,25 demzufolge die Schüler nicht nur auf Grundlage des abendländischen Kulturgutes und des deutschen Bildungserbes, sondern auch auf der Grundlage des Christentums erzogen werden sollten. Beiden Vorschriften entnimmt das Gericht die staatliche Verpflichtung, die Schüler unter Beachtung des Toleranzgedankens auch mit der Denkweise des Christentums vertraut zu machen. In diesem Zusammenhang weist das Verwaltungsgericht darauf hin, daß die Entscheidung des Hessischen Staatsgerichtshof, der die hessischen Gemeinschaftsschulen als weltliche Schulen eingestuft hatte 26 , aufgrund der Ausprägung der niedersächsischen Gemeinschaftsschulen als christliche Schulen nicht auf den vorliegenden Sachverhalt übertragbar sei. 27 22 OVG Münster KirchE 12, 480 (489 f.). 23 VG Hannover KirchE 10, 31 ff. 24 § 2 SchG (1966) lautet: „Die von den Gemeinden, Landkreisen, Zweckverbänden und vom Land getragenen Schulen (öffentliche Schulen im Sinne dieses Gesetzes) sind grundsätzlich christliche Schulen. In ihnen werden die Schüler ohne Unterschied des Bekenntnisses und der Weltanschauung gemeinsam erzogen. In Erziehung und Unterricht ist auf die Empfindung Andersdenkender Rücksicht zu nehmen." 25 § 3 SchG (1966): „Die Schulen haben die Aufgabe, die ihnen anvertrauten jungen Menschen für Leben und Beruf vorzubereiten und sie auf der Grundlage des Christentums, des abendländischen Kulturgutes und des deutschen Bildungserbes zu selbständig denkenden und verantwortungsbewußt handelnden Bürgern eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates zu bilden und zu erziehen." 26 Hess. StGH KirchE 2, 275 (293 ff.). 27 VG Hannover KirchE 10, 31 (34). Inwieweit das Verwaltungsgericht mit dieser Einordnung der hessischen Gemeinschaftsschulen als weltliche Schulen tatsächlich Zustimmung

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 113

An der Verfassungsmäßigkeit von § 2 des niedersächsischen Gesetzes über das öffentliche Schulwesen bestehen nach Ansicht des Gerichts keine Bedenken. Art. 7 GG überlasse die nähere Ausgestaltung des Schulwesens - einschließlich der Bestimmung des weltanschaulichen bzw. religiösen Charakters der Schulen - den Ländern. 28 Entscheide sich ein Land für die christliche Schule als Regelschule, könne die negative Bekenntnisfreiheit der nicht betwilligen Schüler die positiven Bekenntnishandlungen nicht verhindern. Gerade dadurch, daß die christliche Gemeinschaftsschule Raum für christliche Werte belasse, unterscheide sie sich von der weltlichen Gemeinschaftsschule. Dabei sei zwar auf die Empfindungen der andersdenkenden Schüler Rücksicht zu nehmen. Die Rücksicht müsse jedoch nicht so weit gehen, den christlichen Schülern zu untersagen, in angemessenem Umfang ihrem Bekenntnis Ausdruck zu verleihen. 29 Auf den konkreten Fall bezogen führt das Gericht aus, daß sich die vorliegende religiöse Veranstaltung im gesetzlich zulässigen Rahmen halte. Morgenandachten, die im Monat die Dauer von 30 Minuten nicht überschreiten und für die vom Religionsunterricht abgemeldeten Schüler nicht verpflichtend sind, seien einerseits ein angemessener Ausdruck des christlichen Charakters der Schule und nähmen andererseits ausreichend Rücksicht auf andersdenkende Schüler. 30 Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts wurde beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg Berufung eingelegt.31 Dieses wies die Klage als unbegründet ab. In Übereinstimmung mit der Vorinstanz stellt auch das Oberverwaltungsgericht die Ausrichtung der niedersächsischen Schulen als christliche Schulen in den Mittelpunkt der Begründung. Das Berufungsgericht betrachtet es als Aufgabe der niedersächsischen Schulen, das Christentum nicht nur als „soziologischen Faktor", sondern auch in seinem „ethischen und religiösen Gehalt" zu vermitteln. 32 Aus diesem Grund könnten auch keine Einwände erhoben werden, wenn sich die Schule in gewissem Maß für das Abhalten kultischer Veranstaltungen einsetze. Diese seien Teil der Erziehung und Bildung der Schüler auf der Grundlage des Christentums. 33 Mit Blick auf eventuell entgegenstehende Grundrechte führt das Oberverwaltungsgericht aus, daß sich aus der negativen Bekenntnisfreiheit der Schüler keine Verfassungswidrigkeit der Schulandacht herleiten lasse. An einer christlichen Gemeinschaftsschule sei es den Schülern nicht gestattet, sich uneingeschränkt auf die verdient, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Es erscheint jedoch fragwürdig, eine Schule, an der der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach erteilt wird, als weltliche Schule zu qualifizieren. 28 VG Hannover, KirchE 10, 31 (34). 29 VG Hannover KirchE 10, 31 (36). 30 VG Hannover KirchE 10 31 (35 f.). 31 OVG Lüneburg KirchE 10, 314 ff. 32 OVG Lüneburg KirchE 10, 314 (317). 33 OVG Lüneburg KirchE 10, 314 (317). 8 Rathke

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

negative Bekenntnisfreiheit zu berufen. 34 Gemäß Art. 7 Abs. 1 GG obliege es den Ländern, die weltanschaulich-religiöse Ausgestaltung der Schulen zu bestimmen. Hätten sich einzelne Länder - wie Niedersachen - für die Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule entschieden, erfahre das Grundrecht der Bekenntnisfreiheit eine entsprechende Modifizierung. 35 Nur so könne verhindert werden, daß intolerante Minderheiten Inhalt und Umfang der christlichen Glaubensübungen diktierten. 36 Abschließend geht das Gericht auf die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zur weltanschaulich-religiösen Neutralität ein. Aus dem Neutralitätsgebot ergebe sich keine Verpflichtung des Staates zur Indifferenz in weltanschaulich-religiösen Fragen. Nach Ansicht des Gerichts stellt es daher auch keinen Verstoß gegen das Neutralitätsprinzip dar, wenn der Staat auf die gemeinsamen Grundanschauungen der christlichen Religionen Rücksicht nimmt, von denen sich die Mehrheit der Bevölkerung leiten läßt. Dementsprechend soll es mit dem Neutralitätsgebot vereinbar sein, wenn der Staat christliche Schulen und keine religiös neutralen Schulen bereitstellt. Der Bekenntnisfreiheit der andersdenkenden Schülern werde durch Art. 3 Abs. 2 und 3 GG sowie das im niedersächsischen Schulgesetz niedergelegte Toleranzgebot ausreichend Rechnung getragen. Die Bekenntnisfreiheit der Minderheitenschüler gehe - so das Oberverwaltungsgericht - keinesfalls so weit, daß sie von der christlichen Mehrheit den Verzicht auf die staatliche Förderung ihrer Bekenntnisbedürfnisse verlangen könnten.37

2. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts

Der Schulgebetsfall des Oberverwaltungsgerichts Münster wurde im Revisionsweg dem Bundesverwaltungsgericht 38 vorgelegt. Im Gegensatz zu den Vorinstanzen hielt das Bundesverwaltungsgericht das Begehren der Kläger sowie ihre Ablehnung des Schulgebets für nicht begründet und gab der Revision des Schulamtes statt. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts werden die Schüler bei einem während der Unterrichtszeit - außerhalb des Religionsunterrichts - gesprochenen Schulgebet nicht zur Teilnahme an einer religiösen Übung gezwungen. Die in diesem Zusammenhang vom Oberverwaltungsgericht Münster vorgebrachte Argumentation, daß die Schulpflicht den betunwilligen Schüler zur Teilnahme verpflichte, 39 hält das Bundesverwaltungsgericht für unzutreffend. Die allgemeine Schulpflicht werde insoweit durch Art. 140 GG i.V.m. 136 Abs. 4 WRV überlagert, 34 35 36 37 38 39

OVG Lüneburg KirchE OVG Lüneburg KirchE OVG Lüneburg KirchE OVG Lüneburg KirchE BVerwGE 44, 196 ff. Vgl. oben S. 107 ff.

10, 314 (319). 10, 314 (318 f.). 10, 314 (319). 10, 314 (321 f.).

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 115

der ausdrücklich festlege, daß niemand zur Teilnahme an einer religiösen Übung gezwungen werden darf. 40 Das Bundesverwaltungsgericht sieht in der Veranstaltung des Schulgebets auch keinen Verstoß gegen das Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates. Unter Bezugnahme auf Art. 7 Abs. 3 GG - und speziell für die Volksschulen aus Art. 7 Abs. 5 GG - weist das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, daß dem Staat von Verfassungs wegen die Befugnis eingeräumt sei, nicht bekenntnisfreie Schulen zu errichten. Darin eingeschlossen sei die Berechtigung, an nicht bekenntnisfreien Schulen religiöse Übungen - wie das Schulgebet - auch während des Unterrichts abzuhalten. Eine Verletzung des Grundrechts der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit komme nicht in Betracht, sofern betunwillige Schüler die Möglichkeit hätten, sich in zumutbarer Weise der Teilnahme am Schulgebet zu entziehen. Dies könne - so das Bundesverwaltungsgericht - dadurch geschehen, daß betunwillige Schüler während der Dauer des Gebets dem Klassenzimmer fernblieben oder indem sie dem Gebet stillschweigend beiwohnten. Allerdings verlangt das Bundesverwaltungsgericht, daß bei religionsunmündigen Schülern die Erziehungsberechtigten über das Abhalten eines Schulgebets sowie über die Möglichkeit, nicht an der Veranstaltung teilzunehmen, informiert werden. Damit derartige religiöse Übungen nicht in die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der betunwilligen Schüler eingreifen, müßten sich zudem die Dauer und die Häufigkeit dieser Übungen in einem angemessenen Umfang halten. Im Ergebnis gebiete das Toleranzgebot dem betunwilligen Schüler, das Abhalten der religiösen Übungen grundsätzlich hinzunehmen. Die betwilligen Schüler seien wiederum dazu verpflichtet, diese Übungen in angemessenen Grenzen zu halten.41 In einem weiteren Abschnitt setzt sich das Bundesverwaltungsgericht ausführlich mit der Ansicht des Hessischen Staatsgerichtshof sowie des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg auseinander, daß Schulgebete in die negative Bekenntnisfreiheit der betunwilligen Schüler eingreifen. 42 Das Bundesverwaltungsgericht lehnt diese Argumentation mit der Begründung ab, aus der negativen Bekenntnisfreiheit lasse sich nur das Recht herleiten, nicht an kultischen Handlungen Dritter teilnehmen zu müssen. Sie gewähre hingegen nicht das Recht, solche Handlungen zu untersagen, solange sie sich in einem zumutbaren Rahmen halten. Die Auffassung der beiden Gerichte führe - so das Bundesverwaltungsgericht - in unzulässiger Weise zu einem Vorrang der negativen vor der positiven Bekenntnisfreiheit. 43

40 BVerwGE 44, 196 (197 f.). 41 BVerwGE 44, 196 (198 f.). 42 Hess. StGH KirchE 7, 275 ff.; OVG Lüneburg KirchE 10, 314 ff. Vgl. dazu die vorstehenden Ausführungen zu den beiden Entscheidungen S. 110 ff. und S. 113 f. 43 BVerwGE 44, 196 (200). 8*

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur 3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Die Entscheidung des Staatsgerichtshofs Hessen gelangte ebenso wie die des Bundesverwaltungsgerichts vor das Bundesverfassungsgericht 44, das über beide Fälle gemeinsam entschied und im Ergebnis dem Bundesverwaltungsgericht folgte. Bevor sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung mit dem konkreten Sachverhalt befaßt, setzt es sich mit der abstrakten Frage auseinander, inwieweit über den Religionsunterricht hinausgehende Bezüge an öffentlichen Gemeinschaftsschulen überhaupt zulässig sind. Unter Verweis auf die Entscheidungen zur Gemeinschaftsschule kommt das Verfassungsgericht zu dem Ergebnis, daß christliche Bezüge an den Gemeinschaftsschulen grundsätzlich zulässig seien.45 Sei die Einbeziehung christlicher Bezüge ins Schulwesen verfassungsmäßig, sei auch ein Schulgebet dann nicht zu beanstanden, wenn es sich im Rahmen der den Ländern über Art. 7 Abs. 1 GG zustehenden Ausgestaltung des Schulwesens halte und zudem die Grundrechte der Beteiligten - hier Art. 4 GG - ausreichend beachtet würden. 46 Die grundsätzliche Zulässigkeit einer Einbeziehung religiöser Bezüge leitet das Bundesverfassungsgericht ebenso wie das Bundesverwaltungsgericht aus Art. 7 Abs. 3 und 5 GG her. 47 Darüber hinaus betont auch das Verfassungsgericht, daß die Teilnahme am Schulgebet als religiöse Übung gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 4 GG keinesfalls verpflichtend sein dürfe. Dementsprechend sei es ausgeschlossen, das Schulgebet zum Bestandteil des allgemeinen Schulunterrichts zu erklären oder im Lehrplan auszuweisen. Das Veranstalten von Schulgebeten dürfe von staatlicher Seite lediglich in Form einer Empfehlung nahegelegt werden. 48 Nachdem das Bundesverfassungsgericht das Abhalten von Schulgebeten unter Wahrung der Freiwilligkeit der Teilnahme grundsätzlich für zulässig erachtet hat, geht es näher auf den Einzelfall ein. Dabei setzt es sich zunächst mit der Ansicht des Hessischen Staatsgerichtshof auseinander, der in der Verpflichtung des betunwilligen Schülers, durch die Abwesenheit vom Schulgebet täglich erneut seine ablehnende Haltung zum bekenntnismäßigen Verhalten der übrigen Mitschüler offenbaren zu müssen, einen unzulässigen Eingriff in seine negative Bekenntnisfreiheit gesehen hatte. Das Bundesverfassungsgericht hält diese Auslegung der negativen 44 BVerfGE 52, 223 ff. 45 Vgl. die Ausführungen zu den Gemeinschaftsschulentscheidungen oben S. 101 ff. 46 BVerfGE 52, 223 (236 ff.). An anderer Stelle (a. a. Ο., S. 242 ff.) weist das Verfassungsgericht darauf hin, daß die Frage, inwieweit über den Religionsunterricht hinausgehende religiöse Elemente in das Schulwesen aufzunehmen sind, nicht allgemein, sondern nur für das jeweilige Bundesland beantwortet werden könne, da den Ländern die nähere Ausgestaltung des Schulwesens obliege. In den dem Gericht zur Entscheidung vorliegenden Fällen hatte sich keines der beiden Bundesländer für eine bekenntnisfreie Gemeinschaftsschule ausgesprochen. 47 BVerfGE 52, 223 (238). 48 BVerfGE 52, 223 (238 f.).

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 117

Bekenntnisfreiheit für zu weitgehend. Die negative Bekenntnisfreiheit soll erst dann verletzt sein, wenn der einzelne Schüler dazu gezwungen wird, seine eigene weltanschauliche oder religiöse Einstellung zu offenbaren, nicht jedoch bereits dann, wenn er seine Auffassung zum bekenntnismäßigen Verhalten der Mitschüler bekundet. Das Verfassungsgericht verweist in diesem Zusammenhang auf Art. 7 Abs. 2 GG, der bei der Abmeldung vom Religionsunterricht vom nichtteilnehmenden Schüler ebenfalls eine ablehnende Stellungnahme verlange. 49 Ferner lehnt das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die vom Hessischen Staatsgerichtshof vorgenommene Gewichtung zwischen positiver und negativer Bekenntnisfreiheit ab. Entgegen der Auffassung des Staatsgerichtshofs, der die negative Bekenntnisfreiheit als schrankenlos gewährleistet angesehen, die positive hingegen den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG unterworfen hatte, sind nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts beide Seiten der Bekenntnisfreiheit im gleichen Umfang garantiert und unterliegen jeweils (nur) den verfassungsimmanenten Schranken. Träten Spannungen zwischen positiver und negativer Bekenntnisfreiheit auf, sei unter Berücksichtigung des Toleranzgebots ein angemessener Ausgleich herzustellen. 50 Werden im schulischen Bereich religiöse Übungen - wie Schulgebete - veranstaltet, ist dem Toleranzgebot nach Ansicht des Verfassungsgerichts Genüge getan, wenn über die Teilnahme frei und ohne Zwang entschieden werden kann und zumutbare Ausweichmöglichkeiten existieren. Von den Schulen seien daher entsprechende organisatorische Rahmenbedingungen zu schaffen, insbesondere seien die Gebete nach Dauer und Häufigkeit in einem angemessenen Umfang zu halten.51 Nach Ansicht des Verfassungsgerichts waren die Rahmenbedingungen im vorliegenden Fall eingehalten worden.

II. Reaktionen im Schrifttum In der Literatur entzündete sich die Auseinandersetzung um die Schulgebetsfrage unmittelbar im Anschluß an die Entscheidung des Hessischen Staatsgerichtshofs und blieb bis zur bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung stetiger Diskussionsgegenstand. Von Beginn an haben sich in der Auseinandersetzung um die Schulgebetsthematik - wie auch in der im folgenden Abschnitt zu behandelnden Kruzifixproblematik - zwei Lager herauskristallisiert. Die Ursache für diese „Frontstellung" ist das unterschiedliche Verständnis vom Inhalt der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates. Auf der einen Seite des Meinungsspektrums soll es dem Staat - abgesehen von den verfassungsrechtlich normierten Ausnahmen - von vornherein verwehrt sein, religiöse Elemente in seinen Bereich zu integrieren. Auf der anderen Seite wird dem Staat entweder unter Hinweis auf die Kooperationen zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich oder 49 BVerfGE 52, 223 (246). so BVerfGE 52, 223 (246 f.). 5i BVerfGE 52, 223 (248 ff.).

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

unter Verweis auf die staatliche Verpflichtung, zumindest im Bereich der ehemaligen besonderen Gewaltverhältnisse Möglichkeiten zur Verwirklichung der Grundrechte vorzusehen, die Befugnis zur Integration religiöser Elemente in seinen Bereich zugestanden.52 Während dem Aspekt der staatlichen Neutralitätsverpflichtung in den einzelnen Gerichtsentscheidungen keine zentrale Bedeutung beigemessen wird, ist er als Vorverständnis im Schrifttum von maßgebender Bedeutung.53 1. Verteidigung

des Schulgebets

Die überwiegende Meinung im Schrifttum geht - entgegen der Ansicht des Hessischen Staatsgerichtshofs und damit in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungs- und dem Bundesverfassungsgericht - davon aus, daß das Schulgebet an den bildungsmäßig christlichen Gemeinschaftsschulen verfassungsgemäß ist. 54 Während die Argumentationsstrukturen im einzelnen voneinander abweichen, besteht jedoch allgemeines Einvernehmen darüber, daß das Schulgebet nur dann zulässig ist, wenn die Freiwilligkeit der Teilnahme gesichert ist sowie ausreichende und zumutbare Ausweichmöglichkeiten existieren. 55 Ein großer Teil des Schrifttums gelangt ohne größeren Begründungsaufwand zur Verfassungsmäßigkeit des Schulgebets. Aus der vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Zulässigkeit (bildungsmäßig) christlicher Gemeinschaftsschulen wird die generelle Zulässigkeit religiöser Bezüge im öffentlichen Schulwesen hergeleitet, sofern nur die Freiwilligkeit der Teilnahme und die Überkonfessionalität des Gebets gewahrt sind. Unter diesen Voraussetzungen sei gesichert, daß sich der Staat kein bestimmtes religiöses Bekenntnis zu eigen macht. 56 Einige Autoren gehen den Sachverhalt jedoch differenzierter an. Sie halten die Herleitung der Verfassungsmäßigkeit des Schulgebets aus der Zulässigkeit der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule für verfehlt und weisen darauf hin, daß das Verfassungsgericht - vom Religionsunterricht abgesehen - ausdrücklich nur die Vermittlung von christlichen Kultur- und Bildungswerten und gerade nicht von christlichen Glaubens werten für zulässig erachtet habe. Das Gebet stelle jedoch eindeu52 Vgl. die näheren Ausführungen zu den verschiedenen Neutralitätsverständnissen oben S. 57 ff. 53 Vgl. Böckenförde, DÖV 1974, 253 (255 f.); Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 284; Hesse, ZevKR 25 (1980), 239 (246 ff.); Link, JZ 1980, 564 (565); Meyer-Teschendorf, ZevKR 1978, 202 (204 ff.); v. Zezschwitz, JZ 1966, 337 ff. 54 In diesem Sinne Böckenförde, DÖV 1980, 323 (326); v. Campenhausen, ZevKR 14 (1968), 26 (48); Hesse, ZevKR 25 (1980), 239 (244 ff.); Keim, Schule und Religion, S. 92; Link, JZ 1980, 564; Maunz, in: FS für Faller, 175 (184); Meyer-Teschendorf, ZevKR 1978, 202 (230).

55 Vgl. dazu nur v. Campenhausen, ZevKR 14 (1968), 26 (48); Böckenförde, DÖV 1974, 253 (256 f.); ders., DÖV 1980, 323 (326); Meyer-Teschendorf, ZevKR 1978, 202 (230); Hesse, ZevKR 25 (1980), 239 (244); Maunz, in: FS für Faller, 175 (185). 56 So beispielsweise Feuchte/Daliinger, DÖV 1967, 361 (364 ff.); Keim, Schule und Religion, S. 92; Maunz, in: FS für Faller, 175 (184 ff.).

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 119

tig einen Bekenntnisakt dar, so daß dessen Verfassungsmäßigkeit einer eingehenderen Begründung bedürfe. 57 Eine solche Begründung soll nur dann entbehrlich sein, wenn das Schulgebet nicht als staatliche, sondern als private Veranstaltung qualifiziert wird. In diesem Fall soll eine Kollision sowohl mit der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates als auch mit den Grundrechten der betunwilligen Schüler ausgeschlossen sein. Genau diesen Nachweis - des Schulgebets als privater Veranstaltung - zu erbringen, ist Anliegen zahlreicher Autoren. Ausgehend von der Unterteilung der staatlichen Neutralitätspflicht in eine strenge „distanzierende Neutralität" und eine „offene Neutralität" 58 wird die Schule als Teil der Daseinsvorsorge der offenen Neutralität zugerechnet, die eine völlige Ausklammerung aller religiösen Elemente von vornherein ausschließen soll. Diesem Konzept der offenen Neutralität im Schulbereich liegt folgende Überlegung zugrunde: Das ursprünglich dem gesellschaftlichen Bereich angehörende soziale Gebilde „Schule" werde im modernen Verfassungsstaat zwar vom Staat organisiert und verwaltet, zeichne sich jedoch dadurch aus, daß die Benutzer ihre grundgesetzlich garantierten Rechte in diesen Bereich hineintragen. Dem Staat wird die Pflicht auferlegt, bei der Organisation des Schulwesens dafür Sorge zu tragen, daß die grundrechtlichen Abwehr- und Leistungsansprüche ausreichende Beachtung finden und eventuell widerstreitende Interessen zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden. 59 Ermöglicht der Staat das Abhalten eines Schulgebets, kommt er danach nur seiner Pflicht nach und stellt Räumlichkeiten zur Grundrechtsverwirklichung zur Verfügung. 60 Die Religionsausübung - das Gebet - soll demgegenüber - beim Lehrer ebenso wie bei den Schülern - ein privater Akt sein.61 Die widerstreitenden Interessen zwischen betwilligen und betunwilligen Schülern sollen dadurch zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden, daß die Freiwilligkeit der Teilnahme schulorganisatorisch abgesichert wird. 62

2. Abweichende Stimmen im Schrifttum

Die Vertreter einer abweichenden Meinung halten - von einer Ausnahme abgesehen63 - das Schulgebet mit dem staatlichen Neutralitätsgebot für unvereinbar. Teilweise machen sie geltend, der Staat sei dazu verpflichtet, seinen Bereich - zu 57

Böckenförde, DÖV 1980, 323. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, daß auch Autoren, die einen breiteren Argumentationsansatz aufweisen, immer wieder der Versuchung erliegen, die Zulässigkeit des Schulgebets unter anderem aus der Zulässigkeit christlicher Bezüge an Gemeinschaftsschulen herzuleiten; vgl. Gromitsaris, AöR 121 (1996), 359 (365). 58 Näher dazu oben S. 57 ff. 59 Böckenförde, DÖV 1974, 253 (255 f.); ders., DÖV 1980, 323 (325); Meyer-Teschendorf, ZevKR 23 (1978), 202 (215). 60 Link, JZ 1980, 564 (565); Meyer-Teschendorf, ZevKR 23 (1978), 202 (219 f.). 61 Link, JZ 1980, 564 (565); Meyer-Teschendorf, 62 Böckenförde, DÖV 1974, 253 (256 f.). 63 Dazu sogleich im Text.

ZevKR 23 (1978), 202 (220).

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

dem auch das Schulwesen zähle - von sämtlichen weltanschaulichen oder religiösen Elementen freizuhalten, sofern nicht das Grundgesetz einen ausdrücklichen gegenteiligen Hinweis enthält.64 Teilweise wird vertreten, der Staat dürfe keine weltanschaulichen und religiösen Veranstaltungen in seiner Verantwortung durchführen bzw. durchführen lassen.65 Die zuletzt genannten Autoren bejahen - im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung - eine staatliche Veranstaltung bereits dann, wenn diese unter Mitwirkung einer Lehrkraft erfolgt. Die Möglichkeit, daß die Lehrkraft als Privatperson und nur bei Gelegenheit ihres Dienstes handelt, wird aufgrund des engen Zusammenhangs mit der Lehrtätigkeit abgelehnt. Eine unter Mitwirkung des Lehrers oder sonstwie staatlich angeordnete religiöse Veranstaltung könne daher nur verfassungsgemäß sein, wenn sie als Ausnahme vom grundsätzlichen Trennungsgebot zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösen Bereich explizit im Grundgesetz vorgesehen sei. Da sich eine derart ausdrückliche Ausnahme für das Schulgebet im Grundgesetz nicht findet, soll zur Rechtfertigung allenfalls noch eine Annexkompetenz zur Ausnahmeregelung des Art. 7 Abs. 3 GG - der Erlaubnis zur staatlichen Erteilung des Religionsunterrichts - in Betracht kommen. Auch diese Möglichkeit wird jedoch im Ergebnis wegen des eng zu handhabenden Charakters der Ausnahmeregelung verworfen. Vom Religionsunterricht abgesehen seien daher religiöse Handlungen - unabhängig davon, wie groß die Menge derer ist, die sie wünschen - aus dem schulischen Bereich auszuklammern.66 Lediglich eine Stimme im Schrifttum lehnt die herrschende Ansicht ab, ohne zugleich ein Verfechter des Trennungsgebots zu sein. Keim kommt mit einer an den Hessischen Staatsgerichtshof 67 angelehnten Argumentation zur Verfassungswidrigkeit des christlichen Schulgebets. Im Gegensatz zu den anderen Kritikern der herrschenden Meinung hält er ein Schulgebet auch an bildungsmäßig christlichen Gemeinschaftsschulen grundsätzlich für zulässig. Anknüpfend an Art. 7 Abs. 5 GG führt er aus, daß die staatliche Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität im schulischen Bereich nur eingeschränkte Gültigkeit besitze, wie sich anhand der Möglichkeit der staatlichen Errichtung von Bekenntnisschulen zeigen lasse. Im einzelnen sei es Sache des Landesgesetzgebers, die weltanschaulich-religiöse Ausrichtung des Schulwesens festzulegen. Diesem obliege nicht nur die Wahl der entsprechenden Schulart, sondern auch deren Ausgestaltung im einzelnen, wozu unter anderem die Frage über die Modalitäten einer Integration religiöser Elemente in den Schulalltag zähle 6 8 Entscheide sich der Landesgesetzgeber 64

Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 284. Ebenso v. Zezschwitz, JZ 1966, 337 (339 f.). 65 v. Zezschwitz, JZ 1966, 337 (339 f.). 66 v. Zezschwitz, JZ 1966, 337 (342 f.). Ohne die Möglichkeit einer Annexbildung zu Art. 7 Abs. 3 GG in Erwägung zu ziehen, kommt Fischer (Trennung von Staat und Kirche, S. 284) ebenfalls zu diesem Ergebnis. 67 Hess. StGH KirchE 2, 275 ff. 68 Keim, Schule und Religion, S. 198. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier angemerkt, daß Keim ebenfalls die ausschließliche Existenz einer Bekenntnis- oder bekenntnis-

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 121

für eine bildungsmäßig christliche Gemeinschaftsschule, seien religiöse Veranstaltungen unter Wahrung der Freiwilligkeit der Teilnahme durchaus zulässiger Bestandteil der schulischen Arbeit. Entscheidend soll jedoch sein, daß das Schulgebet überkonfessioneller Natur ist, da ansonsten der Staat den Anschein erwecke, einem bestimmten Bekenntnis den Vorzug zu geben.69 Von der Problematik der grundsätzlichen Zulässigkeit außerhalb des Religionsunterrichts veranstalteter religiöser Übungen im schulischen Bereich ist nach Keim die Frage zu trennen, ob - und gegebenenfalls welche - Konsequenzen der Widerspruch eines Kindes bzw. seiner Erziehungsberechtigten auf die Durchführung des Schulgebets mit sich bringen. Bereits der Widerspruch nur eines Schülers bzw. dessen Erziehungsberechtigten soll zur Unzulässigkeit des Schulgebets führen, wenn es sich um ein staatlich veranstaltetes Schulgebet handelt. Ein Gebet sei stets als staatliches Gebet einzustufen, wenn es unter Anwesenheit einer Lehrkraft gesprochen werde - auch dann, wenn diese das Gebet nicht mitspricht. 70 Ein staatlich veranstaltetes Schulgebet greife in die Religionsfreiheit der Schüler ein, wenn diese dazu verpflichtet werden, gegen ihre Überzeugung am Schulgebet teilzunehmen oder durch ihr Fernbleiben jeden Tag von Neuem ihre ablehnende Haltung zu offenbaren. Eine Rechtfertigung über Art. 7 Abs. 2 GG, der bei Nichtteilnahme des Kindes am Religionsunterricht dieses bzw. seine Eltern dazu verpflichtet, ihre ablehnende Auffassung nach außen hin zu bekunden, komme nicht in Betracht. Art. 7 Abs. 2 GG sei eine eng auszulegende Ausnahmeregelung, die nicht auf den gesamten schulischen Bereich übertragen werden könne. Im übrigen fehle es bereits an einer Vergleichbarkeit der Situation: Die Nichtteilnahme am Religionsunterricht sei aufgrund der für dieses Fach vorgenommenen bekenntnismäßigen Aufteilung bei weitem nicht so augenfällig wie das Fernbleiben von der gesamten Klassengemeinschaft beim Schulgebet.71 Keim fügt abschließend hinzu, daß den anderen - betwilligen - Schülern die Möglichkeit verbleibe, jeder für sich oder in Gruppen zu beten, solange dies nicht in Anwesenheit einer Lehrkraft geschehe und keine Störung des Unterrichtsablaufs nach sich ziehe. Andersdenkende Schüler oder Eltern könnten sich dagegen nicht zur Wehr setzen.72 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß alle Kritiker der herrschenden Meinung unter Mitwirkung eines Lehrers abgehaltene Schulgebet als staatliche Veranstaltung qualifizieren und daraus - mit zum Teil voneinander abweichenden Begründungen - einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Religionsfreiheit der betunwilligen Schüler herleiten. mäßig christlichen Gemeinschaftsschule in einem Schulbezirk für verfassungswidrig hält. Er verwendet Art. 7 Abs. 5 GG nur als Indiz für seine These, daß religiöse Elemente an staatlichen Schulen durchaus zulässig seien (siehe dazu S. 180 ff.). 69 Keim, Schule und Religion, S. 198 f. 70 Keim, Schule und Religion, S. 201. Keim, Schule und Religion, S. 202. 72 Keim, Schule und Religion, S. 202.

122

2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

B. Kruzifix im Klassenzimmer Während die Auseinandersetzungen über die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der einzelnen Schularten und über das Schulgebet inzwischen beinahe Historie sind, hat eine aktuellere Fragestellung die Gemüter in Rechtsprechung und Schrifttum auf das heftigste bewegt und eine emotional aufgeladene, nur bedingt sachliche Diskussion ausgelöst. Aufhänger dieser Debatte war die Frage, inwieweit § 13 Abs. 1 S. 3 der bayerischen Volksschulordnung (BayVSO a.F.), dem zufolge in jedem Klassenzimmer ein Kreuz anzubringen war, mit dem Grundgesetz in Einklang stand.73 Gegen seine Verfassungsmäßigkeit wandte sich ein Elternpaar, das diese Anordnung als Eingriff in die Glaubensfreiheit seiner Kinder (Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 107 Abs. 1 BV) sowie das Elternrecht (Art. 6 Abs. 2 GG; Art. 126 Abs. 1 BV) ansah und dagegen eine einstweilige Anordnung zu erwirken suchte. I. Entscheidungen der Rechtsprechung 1. Instanzentscheidungen

Das Verwaltungsgericht Regensburg lehnte ebenso wie der Verwaltungsgerichtshof München als Beschwerdegericht den Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ab. 74 Nach Ansicht beider Gerichte war der Anspruch auf Entfernung der Kreuze nicht hinreichend glaubhaft gemacht, so daß ein Anordnungsgrund nicht anerkannt wurde. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts greift § 13 Abs. 1 S. 3 BayVSO a.F. weder in das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6. Abs. 2 GG, Art. 126 Abs. 1 BV) noch in die Religionsfreiheit der Schüler (Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 100, 107 Abs. 1BV) ein. Die Regelung verpflichte nicht dazu, das Kreuz als Unterrichtsmittel einzusetzen oder zum Gegenstand des allgemeinen Schulunterrichts zu machen. Mit dem Aufhängen des Kreuzes komme die Schule der ihr obliegenden Verpflichtung nach, die Eltern bei der religiösen Erziehung ihrer Kinder zu unterstützen. Eine derartige unterstützende Tätigkeit im weltanschaulich-religiösen Bereich sei dann rechtlich unbedenklich, wenn sie keine weltanschaulich-religiösen Zwänge auslöse. Aus der staatlichen Neutralitätspflicht folge lediglich, daß die Schule keinen missionarischen Charakter besitzen dürfe und davon absehen müsse, die christlichen Glaubenssätze für verbindlich zu erklären. 75 Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts hält sich die Anordnung, in jedem Klassenzimmer ein Kreuz an73 § 13(1) BayVSO: „Die Schule unterstützt die Erziehugsberechtigten bei der religiösen Erziehung der Kinder. Schulgebet, Schulgottesdienst und Schulandacht sind Möglichkeiten dieser Unterstützung. In jedem Klassenzimmer ist ein Kreuz anzubringen. Lehrer und Schüler sind verpflichtet, die religiösen Empfindungen aller zu achten." 74 VG Regensburg, BayVBl. 1991, 345 ff.; VGH München NVwZ 1991, 1099 ff. 75 VG Regensburg, BayVBl. 1991, 345 f.

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 123

zubringen, innerhalb dieser Grenzen. Die Gegenwart des Kreuzes verlange weder eine Identifizierung der Schüler mit diesem, noch verpflichte es zu einem bekenntnismäßigen Verhalten. Darüber hinaus besitze es keine missionarische Wirkung. 76 Der Verwaltungsgerichtshof München als Besch werdegericht folgt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, setzt in der Begründung jedoch einen von der Vorinstanz abweichenden Schwerpunkt. Im Gegensatz zum Verwaltungsgericht geht der Verwaltungsgerichtshof davon aus, daß der Staat durch das Anbringen des Kreuzes ein religiöses Element in den staatlichen Bereich einführt und dadurch bedingt den christlichen Glauben in besonderer Weise fördert. Der Schutzbereich der Religionsfreiheit - hier der der negativen Religionsfreiheit - sei daher berührt. 77 Im unmittelbaren Anschluß führt der Verwaltungsgerichtshof jedoch aus, daß die negative Religionsfreiheit nicht schrankenlos gewährleistet werde, sondern ihre Grenzen in der sonstigen Verfassung, namentlich in der schulorganisatorischen Bestimmung des Art. 7 Abs. 1 GG sowie der Religionsfreiheit der anderen Schüler finde. Art. 7 Abs. 1 GG gewähre dem Landesgesetzgeber das Recht, das Schulwesen näher auszugestalten und christliche Bezüge einzuführen. Die negative Religionsfreiheit sei insoweit durch Art. 7 Abs. 1 GG begrenzt. Der negativen Religionsfreiheit könne daher auch nicht das Recht entnommen werden, auf jegliche religiösen Symbole im schulischen Bereich zu verzichten. 78 Entscheidend soll sein, daß sich die Grenzen der staatlichen Ausgestaltungsfreiheit im Bereich des Schulwesens aus dem Toleranzgebot ergeben. Danach sei es dem Staat verboten, eine missionarische Schule einzurichten oder die christlichen Glaubenssätze für verbindlich zu erklären. Damit kommt der Verwaltungsgerichtshof zu dem Ergebnis, daß im vorliegenden Fall die verfassungsrechtlichen Grenzen nicht überschritten wurden. 79

2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 13 Abs. 1 BayVSO a.F. gelangte letztlich zum Bundesverfassungsgericht 80, das im Gegensatz zu den Instanzgerichten mit einer knappen Mehrheit (vier zu drei Stimmen) einen Anordnungsanspruch 76 VG Regensburg, BayVBl. 1991, 345 (346). Eine ähnliche Argumentation wie das VG Regensburg verfolgt das OVG Münster (NVwZ 1994, 575), auf dessen Entscheidung hier nicht gesondert eingegangen wird. Ebenso wie das VG Regensburg betont das OVG Münster, daß es einer Schule nicht verwehrt sein könne, bei der organisatorischen Bereitstellung eines Raums, in dem die Schüler ihre Grundrechte entfalten können, auf die religiösen Symbole zurückzugreifen, die im jeweiligen Bundesland vermehrte Verbreitung finden. Ein derartiges Vorgehen stellt nach Ansicht des OVG Münsters keine unzulässige Identifikation des Staates mit einem religiösen Bekenntnis dar (a. a. O.). 77 VGH München, NVwZ 1991, 1099 (1100). ™ VGH München, NVwZ 1991, 1099 (1100). 7 9 VGH München, NVwZ 1991, 1099 (1100 f.).

BVerfGE 93, 1 .

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

bejahte. Dessen Versagung war nach Ansicht der Senatsmehrheit nicht mit Art. 4 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zu vereinbaren. Die überstimmten Richter haben der Entscheidung ein Sondervotum beigefügt, das als Zeichen für die besondere Brisanz der Entscheidung und der zugrundeliegenden Problematik gewertet werden kann. a) Ansicht der Senatsmehrheit Die Senatsmehrheit beginnt mit Ausführungen zum Schutzbereich der in Art. 4 Abs. 1 GG verankerten Glaubensfreiheit und setzt sich - im Gegensatz zu den Instanzgerichten - insbesondere mit der Frage religiöser Symbole auseinander. Zunächst wird festgestellt, daß die Glaubensfreiheit den Gebrauch religiöser Symbole umfaßt. Der einzelne habe das Recht, für sich zu entscheiden, welche religiösen Symbole er anerkennt und welche er ablehnt. Die Senatsmehrheit weist zwar darauf hin, daß die Glaubensfreiheit nicht die Befugnis umfasse, von Kultushandlungen oder religiösen Symbolen Dritter verschont zu werden. 81 Zugleich hebt sie jedoch hervor, daß die Glaubensfreiheit dem einzelnen das Recht gewährleiste, vom Staat nicht in eine Situation gebracht zu werden, in der er ohne Ausweichmöglichkeit religiösen Symbolen ausgesetzt ist, die seinem Glauben nicht entsprechen. Ferner betont die Senatsmehrheit, daß sich aus der staatlichen Verpflichtung, in den von ihm in seine Obhut genommenen Bereichen einen ausreichenden Entfaltungsraum zur Verwirklichung der Grundrechte zur Verfügung zu stellen, nicht das Recht ergebe, eine aktive staatliche Unterstützung dieser Entfaltung einzufordern. Der Staat würde mit einer solchen Forderung seiner NeutralitätsVerpflichtung zuwiderhandeln. 82 Mit Blick auf den vorliegenden Fall folgert die Senatsmehrheit aus diesen Vorgaben, daß die gesetzliche Anordnung in Verbindung mit der bestehenden Schulpflicht den nichtchristlichen Schüler in eine Situation bringt, in der er von staatlicher Seite ohne Ausweichmöglichkeit einem seiner Einstellung nicht entsprechenden Glaubenssymbol ausgesetzt wird. Anliegen der Glaubensfreiheit müsse es aber sein, den einzelnen vor solch einer Situation zu bewahren. Prägnant - und deshalb oft zitiert - findet sich der Schluß, daß die Schüler ansonsten dazu genötigt würden, „unter dem Kreuz zu lernen". 83 Die Senatsmehrheit hebt ausdrücklich hervor, daß diese vom Staat geschaffene Situation weder mit den alltäglichen flüchtigen Begegnungen mit religiösen Symbolen noch - aufgrund der unterschiedlichen Dauer und Intensität der Wirkung - mit jenen in Gerichtssälen verglichen werden könne. 84 Im übrigen stelle auch die Möglichkeit der nichtchristlichen Schüler, Privatschulen zu besuchen, aufgrund des zu zahlenden Schulgeldes 81

Mit diesem Hinweis soll offenbar die im Rahmen der Schulgebetsentscheidungen mehrfach von den verschiedenen Instanzgerichten aufgeworfene Frage, ob die negative Bekenntnisfreiheit auch Schutz vor kultischen Handlungen Dritter biete, erneut verneint werden. 82 BVerfGE 93, 1 (15 ff.). 83 BVerfGE 93, 1 (18). 84 BVerfGE 93, 1 (18).

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 125

keine zumutbare Alternative dar. 85 Die Senatsmehrheit läßt bei ihren weiteren Ausführungen keinen Zweifel daran, daß das Kreuz - ungeachtet der Tatsache, daß viele der ursprünglich christlichen Werte heute Teil der christlich-abendländischen Tradition geworden sind - für einen bestimmten Glauben steht und nicht nur für die christlich-abendländische Tradition. 86 Es sei eine „dem Selbstverständnis des Christentums und der christlichen Kirchen zuwiderlaufende Profanisierung des Kreuzes, wenn man es ( . . . ) als bloßen Ausdruck abendländischer Tradition oder als kultisches Zeichen ohne spezifischen Glaubensbezug ansehen wollte." 87 Nachdem das Gericht die gesetzliche Anordnung als Eingriff in die Religionsfreiheit der andersdenkenden Schüler gewertet hat, sieht es - im Gegensatz zu den Vorgängerentscheidungen - keine Möglichkeit, diesen Eingriff zu rechtfertigen. Weder aus dem in Art. 7 Abs. 1 GG verankerten staatlichen Erziehungsauftrag noch aus der in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG festgelegten Religionsfreiheit der christlichen Schüler lasse sich die Verfassungsmäßigkeit des Eingriffs herleiten. Unter Rückgriff auf die in den Gemeinschaftsschulentscheidungen getroffenen Aussagen88 stellt das Gericht erneut fest, Art. 7 Abs. 1 GG verlange vom Staat nicht den völligen Verzicht auf religiöse und weltanschauliche Bezüge, zumal es ihm gar nicht möglich sei, kulturell und historisch bedingte Wertüberzeugungen gänzlich abzustreifen. 89 Hinzu komme, daß der Staat auf die jeweiligen Elternwünsche und damit auch auf den Wunsch einer religiös ausgerichteten Erziehung Rücksicht nehmen müsse. Es sei Aufgabe des Landesgesetzgebers, die verschiedenen kollidierenden Interessen - insbesondere im Hinblick auf Art. 4 GG - zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Zwar habe der Landesgesetzgeber bei der Ausgestaltung der Gemeinschaftsschulen als (bildungsmäßig) christliche Schulen darauf zu achten, daß die Schulen in weltanschaulich-religiöser Hinsicht keinen missionarischen Charakter aufweisen und keine Verbindlichkeit für die christlichen Glaubensinhalte beanspruchen. Die christlichen Gemeinschaftsschulen seien aber mit der staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zu vereinbaren, solange sich die Bejahung des Christentums an diesen Schulen gerade nicht auf die Glaubenswahrheiten, sondern auf seine Anerkennung als prägender Kultur- und Bildungsfaktor beziehe.90 Diese seit den Gemeinschaftsschulentscheidungen für den Landesgesetzgeber bestehende Ausgestal85 BVerfGE 93, 1 (18). 86 Erstaunlicherweise setzt sich das Gericht erst an dieser Stelle näher mit der Klassifizierung des Kreuzes als religiöses Symbol auseinander. Wäre diese Klärung gleich zu Beginn der Entscheigung vorgenommen worden, wäre von vornherein klar gewesen, daß die Senatsmehrheit das Kreuz - und zwar mit wie ohne Korpus - als ausschließlich religiöses Symbol betrachtet. Im übrigen sind auch die vorangehenden Ausführungen des Gerichts nur nachzuvollziehen, wenn dem Kreuz ein religiöser Charakter zugesprochen wird. 87 BVerfGE 93, 1 (20). 88 BVerfGE 41, 29 ff.; 41, 65 ff.; 41, 88 ff. 89 BVerfGE 93, 1 (22). 90 BVerfGE 93, 1 (23).

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

tungsgrenze habe der bayerische Gesetzgeber im vorliegenden Fall allerdings überschritten. Mit der Anordnung, ein Glaubenssymbol an den Klassenwänden aufzuhängen, habe der Landesgesetzgeber gegen seine Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität verstoßen.91 Auch eine Rechtfertigung des Eingriffs unter Berufung auf die positive Bekenntnisfreiheit der christlichen Schüler soll nach Ansicht des Verfassungsgerichts ausscheiden. Zwar müsse für die christlichen Schüler die Möglichkeit bestehen, ihren Glauben auch im schulischen Bereich zum Ausdruck zu bringen. Dabei müßten sie jedoch auf die Empfindungen der nichtchristlichen Schüler Rücksicht nehmen. Der Toleranzgedanke gebiete, daß religiöse Veranstaltungen unter Wahrung der Freiwilligkeit der Teilnahme stattfinden und für die nichtchristlichen Schüler zumutbare Ausweichmöglichkeiten vorgesehen sind. Diesem Toleranzgebot werde beim Aufhängen von Schulkreuzen, deren Einwirkungen sich die nichtchristlichen Schüler nicht entziehen können, nicht ausreichend Rechnung getragen. Im Ergebnis sei daher die Anordnung insgesamt verfassungswidrig.

b) Gemeinsames Sondervotum der Richter Seidl und Söllner sowie der Richterin Haas Im Gegensatz zur Senatsmehrheit gehen die drei überstimmten Richter davon aus, daß sich § 13 Abs. 1 S. 3 BayVSO a.F. im Rahmen des dem Landesgesetzgeber über Art. 7 Abs. 1 GG zustehenden Ausgestaltungsspielraums hält. Die Argumentation der überstimmten Richter baut auf der Zulässigkeit der christlichen Gemeinschaftsschule auf. Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß das Bundesverfassungsgericht die Vermittlung von christlichen Kultur- und Bildungswerten ausdrücklich für zulässig erklärt habe. Vor diesem Hintergrund dürfe es dem Staat auch nicht verwehrt sein, das Kreuz als Symbol der christlichen Kultur- und Bildungswerte in den Klassenzimmern aufzuhängen. Die entscheidende Prämisse dieser Argumentation besteht darin, daß nicht nur die christlichen, sondern auch die nichtchristlichen Schüler das Kreuz als Verkörperung bloßer kulturellen Werte akzeptieren oder zumindest respektieren können. An dieser Stelle zeichnet sich erstmals der Unterschied zwischen den Ausgangspunkten von Senatsmehrheit und -minderheit ab: Während die Senatsmehrheit das Kreuz ausschließlich als religiöses Symbol betrachtet, sieht die Senatsminderheit darin auch eine Versinnbildlichung der christlich-abendländischen Kultur- und Bildungswerte 9 2 Aus diesem Grund gestaltet sich das Schulkreuz nach Auffassung der überstimmten Richter auch unter Berücksichtigung der staatlichen Neutralitätsverpflichtung als unproblematisch. Das Kreuz besitze für die andersdenkenden Schüler weder missionarischen Charakter noch zwinge es die Schüler zu bekenntnismäßigen Handlungen, 91 BVerfGE 93, 1 (23 f.). 92 BVerfGE 93,1 (27 f.); ausführlicher setzen sich die überstimmten Richter auch auf S. 32 mit dieser Thematik auseinander.

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 127

es symbolisiere lediglich in verfassungsrechtlich zulässiger Weise die Bildungsinhalte dieser Schulform. 93 Nach Ansicht der Senatsminderheit muß der Staat, der den schulischen Bereich in seine Obhut genommen hat, dafür Sorge tragen, daß im Schnittfeld von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich den Freiheitsrechten der Schüler ein ausreichender Entfaltungsraum bereitgestellt wird. Bei der Schaffung des dafür notwendigen organisatorischen Rahmens sei es zulässig, auch Wertsymbole einzubeziehen, die in dem jeweiligen Bundesland überwiegend verbreitet sind. 94 Das Aufhängen und der Anblick von Schulkreuzen begründe auch keinen Eingriff in die negative Bekenntnisfreiheit der nichtchristlichen Schüler. Dieses Ergebnis können die überstimmten Richter allerdings nur dadurch erhalten, daß sie dem Kreuz einen sinnvariierenden Charakter zusprechen. Der Anblick des Kreuzes soll bei den christlichen Schülern eine andere Wirkung entfalten als bei den nichtchristlichen. Während für erstere das Kreuz durchaus eine religiöse Bedeutung verkörpere, soll es für letztere nur Sinnbild einer Ausrichtung der christlichen Gemeinschaftsschule an bestimmten Kultur- und Bildungswerten sein 9 5 Eventuell mit dem Anblick verbundene mentale Belastungen der nichtchristlichen Schüler hielten sich jedenfalls in hinzunehmenden Grenzen. Das Kreuz zwinge die Schüler weder zu religiösen Übungen noch zur Kundgabe einer eigenen weltanschaulichen oder religiösen Überzeugung. Im übrigen würden die nichtchristlichen Schüler auch im sonstigen Alltag nicht vor dem Anblick von Kreuzen verschont. Als Beispiele werden Wegekreuze, Kreuze in Profanbauten - Krankenhäusern, Altersheimen, Hotels und Gaststätten - sowie in Privatwohnungen genannt 96

I L Reaktionen in der Literatur

Auch wenn nahezu alle Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich mit der Frage der Zulässigkeit religiöser Elemente im schulischen Bereich befaßt haben, für erhebliche Aufmerksamkeit sorgten, hat keine der Entscheidungen so viel Aufsehen erregt wie der Kruzifix-Beschluß. Bedauerlicherweise sind die Reaktionen im Schrifttum nicht immer sachlich, sondern aufgrund einer harten Frontstellung zwischen Befürwortern und Kritikern stark emotional aufgeladen und gleiten bisweilen ins Polemische ab 9 7 Im vorliegenden Zusammenhang sollen jene 93 BVerfGE 93, 1 (29). 94 BVerfGE 93, 1 (30). In diesem Zusammenhang zieht die Senatsminderheit eine Parallele zum freiwilligen, überkonfessionellen Schulgebet. Sei dieses verfassungsrechtlich zulässiger Teil der von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auch im schulischen Bereich garantierten aktiven Glaubensbetätigung, könne für das Schulkreuz nichts anderes gelten. 95 BVerfGE 93, 1 (32). 96 BVerfGE 93, 1 (33). 97 Als Beispiel sei hier nur auf die Auseinandersetzung zwischen Neumann (ZRP 1995, S. 381 ff.) und Reis (ZRP 1996, S. 56 ff.) verwiesen. Obwohl Neumann von Reis ausdrück-

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

Anmerkungen und Stellungnahmen unberücksichtigt bleiben, die sich mehr oder weniger ausschließlich mit dem mißglückten Leitsatz, den nachträglichen Präzisierungsversuchen, der öffentlichen Verteidigung des Beschlusses durch die Richter und der daran anschließenden Frage auseinandersetzen, inwieweit solche Nachbesserungen das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz schädigen.98 Im Vordergrund stehen sollen stattdessen die dogmatischen Grundlagen und die Argumente in der Sache. Wie beim Schulgebet spaltet sich das Schrifttum auch hier in zwei Lager. 7. Kritiker

des bundesverfassungsgerichtlichen

Beschlusses

Die Argumente der Kritiker des Beschlusses sind vielfältig, lassen sich jedoch auf einige wesentliche, immer wieder genannte Kernpunkte zurückführen. Einige wenige Autoren setzen mit ihrer Kritik bereits auf der Ebene des Schutzbereichs ein. So hält Isensee es von vornherein für ausgeschlossen, unter Berufung auf das Grundrecht der Religionsfreiheit Einfluß auf die räumliche Gestaltung der Schule zu nehmen. Nach dem Grund Verständnis Isensees kann kein Grundrecht dem einzelnen die Befähigung verschaffen, unter Berufung auf dieses Recht die Gestaltung der Umwelt zu beeinflussen. 99 Einseitige Verfügungen über die Umwelt sind nach Isensee grundrechtlich nur im privaten Raum und auch nur dann geschützt, wenn dieser im Eigentum des Verfügenden steht. Konkretisiert auf die Religionsfreiheit bedeutet diese Prämisse, daß das Freiheitsrecht dem einzelnen zwar die Möglichkeit zur Innehabung eines eigenen Glaubens, eines Bekenntnisses sowie die diesbezügliche Ausübung garantiert, ihm jedoch nicht das Recht verleiht, mittels dieses Freiheitsrechts seine gesellschaftliche oder staatliche Umwelt zu verändern. Dementsprechend soll sich aus der Religionsfreiheit keinesfalls das Recht herleiten lassen, über die im Schulraum verwendeten Symbole - gleich welcher Art sie sind - zu verfügen. Isensee spricht die Verfügungsgewalt über derartige Symbole im Klassenzimmer damit ausschließlich dem Staat zu. Weder unter dem Aspekt der positiven noch der negativen Bekenntnisfreiheit ließen sich Argumente für oder gegen das Aufhängen von Kreuzen anführen. 100 Neben dieser problematischen, den Schutzbereich von vornherein definitorisch einengenden Ansicht Isensees101 stellen andere Kritiker die Subsumtion des Falles lieh der Polemik bezichtigt wird, überbietet Reis ihn letztlich, indem er ihm - unter Veröffentlichung von Neumanns beruflichem Werdegang - die Schwächen seiner Argumentation nachsieht. Die Ausuferung der Diskussion ins Polemische bedauert auch Czermak, ZRP 1996, 201 f. 98 Fest steht allerdings, daß die Entscheidung angesichts der Bedeutung der Sache dogmatisch klarer und weniger mißverständlich hätte gefaßt werden müssen. Siehe dazu unter anderem die Anmerkungen von Flume , NJW 1995, 2904 f. und Zuck, NJW 1995, 2903 f. 99 Isensee, ZRP 1996, 10 (12). 100 Isensee, ZRP 1996, 10 (12 f.). ιοί Es stellt eine folgenreiche Verkürzung der grundgesetzlich verankerten Freiheitsrechte dar, wenn sie von vornherein - ohne daß es dazu einer gesetzlichen Schranke oder einer

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 129

unter die negative Religionsfreiheit in Frage. Ausgangspunkt dieser Argumentation bildet die Feststellung, daß die negative Religionsfreiheit überhaupt nicht greife, die ablehnende Haltung gegenüber dem Kreuz vielmehr Ausdruck einer eigenen Überzeugung und damit der positiven Religionsfreiheit sei. Damit verbunden - und offenbar bezweckt - ist die Folge, daß die Darlegungslast demjenigen obliegt, der sich auf die positive Religionsfreiheit beruft. Er muß den Nachweis erbringen, daß seine weltanschauliche oder religiöse Ausrichtung Glaubensinhalte aufweist, die ihn zu einem bestimmten Verhalten veranlassen. Mit Blick auf den Kruzifix-Fall kommen die Kritiker zu dem Ergebnis, die Beschwerdeführer hätten darlegen müssen, daß ihre Weltanschauung es ihnen verbiete, sich einem Kreuzsymbol auszusetzen.102 Eine solche „kreuzfeindliche' 4 Einstellung könne aber allein aus der anthroposophischen Ausrichtung der Beschwerdeführer nicht hergeleitet werden. Eine Berufung auf die Religionsfreiheit scheide daher aus. Allenfalls eine Beeinträchtigung der Gewissensfreiheit oder des Elternrechts könne überhaupt in Erwägung gezogen werden. 103 Die Mehrheit der Kritiker befaßt sich weniger mit der Frage, inwieweit der Schutzbereich der Religionsfreiheit betroffen ist, sondern widmet sich vielmehr der Diskussion, ob ein Kruzifix an der Schulwand einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen könne. Wie das Bundesverfassungsgericht gehen auch diese Kritiker zunächst davon aus, daß das Aufhängen von Kreuzen in Klassenzimmern nicht mit der staatlichen Neutralitätsverpflichtung zu vereinbaren wäre, wenn sich der Staat dadurch ein religiöses Symbol zu eigen machte. 104 Im Gegensatz zur Senatsmehrheit nehmen die Kritiker des Beschlusses jedoch an, daß sich das Kreuzsymbol nicht auf ein - ausschließlich - religiöses Symbol reduzieren lasse, der Staat somit nicht ohne weiteres gegen seine Neutralitätspflicht verstoße, wenn er das Kreuz in Bezug nehme. Unter Verweis auf seine vielfältigen Funktionen „als Zeichen einer sich christlich legitimierenden Herrschaft (Konstantin), als Zeichen einer von christlichen Werten geprägten politischen Gemeinschaft (Staatssymbolik), als Zeichen der Nächstenliebe (Rotes Kreuz), als Zeichen der zwischenmenschlichen Versöhnung, als Friedens- und Segenszeichen"105 wird das Kreuz als „sinnvariierend" 106 und - ähnlich den Kunstwerken - als verschiedenen Interpretationen zugänglich umschrieben. 107 Dem Staat wird die Befugnis zugesprochen, Abwägung mit anderen Verfassungsgütern bedürfte - keinen Einfluß auf die Gestaltung der Umwelt nehmen können, sofern diese nicht im privaten Eigentum stehen. Zur Kritik an einer vorschnellen definitorischen Eingrenzung des Schutzbereichs oben S. 34 ff. 102 v. Campenhausen, AöR 121 (1996), 449 (453 f.); Geis, RdJB 1995, 373 (376); Würtenberger, „Unter dem Kreuz" lernen, in: FS für Knöpfle, S. 397 (410). 103 Vgl. Geis, RdJB 1995, 373 (376 f.). 104 So Isensee, ZRP 1996, 10 (13). 105 Link, NJW 1995, 3353 (3355). 106 So Müller-Volbehr, JZ 1995, 996 (997). 107 v. Campenhausen, AöR 121 (1996) 449 (461); Geis, RdJB 1995, 373 (378); in diesem Sinne auch Isensee, ZRP 1996, 10 (14). 9 Rathke

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

sich außerstaatlicher Symbole zu bedienen und diesen einen eigenen, unabhängig von ihrem früheren Gehalt „staatsspezifischen" Inhalt beizumessen.108 Mache der Staat von dieser Befugnis Gebrauch, verliere das Kreuz an der staatlichen Schulwand seine religiöse Symbolik und sei nur noch Ausdruck der vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich für zulässig erklärten christlich-abendländischen Tradìdon. 1 0 9 Viele der weiteren Kritikpunkte, die von den Gegnern des bundesverfassungsgerichtlichen Beschlusses vorgebracht werden, sind unter Berücksichtigung dieses Vorverständnisses zu lesen. Das Bundesverfassungsgericht wird auf dieser Grundlage auch an Stellen gescholten, die angesichts des (anderen) verfassungsrechtlichen Vorverständnisses - der Annahme des Kreuzes als religiöses Symbol - gar nicht anders hätten beurteilt werden können. Zwar unterstellen viele Kritiker bei ihrer weiteren Analyse des Beschlusses zunächst das Vorliegen eines Eingriffs. Zahlreiche auf der Stufe der Eingriffsrechtfertigung dem Bundesverfassungsgericht vorgehaltene Argumentationslinien setzen aber voraus, daß das Kreuz nicht als ein religiöses, sondern als ein Symbol der christlich-abendländischen Tradition qualifiziert wird. So wird der Senatsmehrheit im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung vorgeworfen, sie habe weder die Reichweite des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags richtig interpretiert noch die Rechte der christlichen Schüler aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG hinreichend berücksichtigt. Mit Blick auf den ersten Kritikpunkt führen die Kritiker an, das Bundesverfassungsgericht habe mit seinem Beschluß in unzulässiger Weise in die Kulturhoheit der Länder eingegriffen und das bundesstaatliche Kompetenzgefüge mißachtet.110 Art. 7 Abs. 1 GG gebe den einzelnen Ländern lediglich einen Rahmen vor, innerhalb dessen ihnen nicht nur die organisatorische, sondern auch die inhaltliche Ausgestaltung des Schulwesens obliege. Die Länder könnten daher selbst darüber bestimmen, ob und inwieweit sie christliche Bezüge als Teil der kulturellen Überlieferung ihres Landes mit in ihr Schulwesen integrieren wollen. Habe sich ein Land - wie der Freistaat Bayern - in verfassungsrechtlich zulässiger Weise für die christliche Gemeinschaftsschule als Regelschule entschieden, sei es nicht möglich, dieser Schule das „nächstliegende Symbol dieser Zusammenhänge" - das Kreuz - zu verbieten. 111 Daß das Kreuz im Rahmen dieser Argumentation nur als Symbol der christlich-abendländischen Tradition zulässig ist, das Bundesverfassungsgericht im Kruzifix-Beschluß aber ausdrücklich von einem religiösen Symbol ausgeht, wird dabei nicht weiter problematisiert.

io« Geis, RdJB 1995, 373 (378 f.); ähnlich auch v. Campenhausen, AöR 121 (1996), 449 (451). 109 v. Campenhausen, AöR 121 (1996), 449 (451); so auch Geis, RdJB 1995, 373 (380). In diesem Sinne auch Würtenberger, „Unter dem Kreuz" lernen, in: FS für Knöpfle, S. 397 (406 f.). ho Geis, RdJB 1995, 373 (385). in Geis, RdJB 1995, 373 (385); Würtenberger, Knöpfle, S. 397 (407 f.).

„Unter dem Kreuz" lernen, in: FS für

§ 5 Erste Gruppe: Einwendungen gegen religiöse Elemente im schulischen Bereich 131

Die negative Religionsfreiheit der nichtchristlichen Schüler erfährt nach Ansicht der Kritiker des Kruzifix-Beschlusses noch durch eine weitere Komponente - nämlich die positive Religionsfreiheit der christlichen Schüler - eine Begrenzung. Wenngleich alle Kritiker im Ausgangspunkt anerkennen, daß die (christliche) Mehrheit nicht die grundrechtlichen Position der (nichtchristlichen) Minderheit aushöhlen dürfe, soll auch die Minderheit dazu verpflichtet sein, den jeweils Andersdenkenden mit Toleranz zu begegnen. Eine unbeschränkte Berufung auf die negative Bekenntnisfreiheit sei damit nicht zu vereinbaren, da sonst den weltanschaulichen oder religiösen Positionen der Minderheit stets Vorrang vor jenen der Mehrheit zukäme. 112 Dem Bundesverfassungsgericht wird vorgeworfen, daß es der negativen Religionsfreiheit in seinem Beschluß eine übermäßige Bedeutung zugesprochen, sie zu einem „Ober-" bzw. „Übergrundrecht" erhoben habe. 113 Notwendig soll demgegenüber eine offene Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit sein. Wird der Anblick des Kreuzes - was das Gros der Kritiker aus den oben genannten Gründen ablehnt - als Eingriff in die negative Religionsfreiheit gewertet, fällt die von den Kritikern des Bundesverfassungsgerichts vorgenommene Abwägung durchweg zugunsten der positiven Religionsfreiheit der christlichen Schüler aus. 114 In Übereinstimmung mit den Vorinstanzen wird argumentiert, daß der bloße Anblick eines Kreuzes weder eine Identifizierung mit dem durch das Kreuz symbolisierten Gedankengut verlange noch einen missionarischen Charakter aufweise oder den Betrachter zu bestimmten Verhaltensweisen zwinge. 115 Die verfassungsgerichtliche Überbetonung der negativen Religionsfreiheit führe demgegenüber zur Ausklammerung sämtlicher religiöser Bezüge aus dem Unterricht, was einem mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden Laizismus Vorschub leiste und auch nicht mit der bisherigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur Frage der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zu vereinbaren sei. 116

"2 Link, NJW 1995, 3353 (3356); Müller-Volbehr, JZ 1995, 996 (999); Würtenberger, „Unter dem Kreuz" lernen, in: FS für Knöpfle, S. 397 (410). "3 v. Campenhausen, AöR 121 (1996), 449 (451); Geis, RdJB 1995, 373 (385); MüllerVolbehr, JZ 1995, 996 (999). 114 Müller-Volbehr, JZ 1995, 996 (1000). Die Annahme, daß der Anblick eines Kreuzes, ein zu vernachlässigendes Minimum an Zwangselementen enthalte, ist nur möglich, wenn das Kreuz ausschließlich als ein Symbol der christlich-abendländischen Kultur betrachtet wird. Angesichts der Vielzahl der in der Schule aufeinandertreffenden weltanschaulichen bzw. religiösen Ansichten läßt sich die These von einem minimalen Zwang nur dann halten, wenn nicht staatlicherseits eine Ausrichtung - hier auf das Christentum - durch das Anbringen entsprechender Symbole privilegiert wird. 115 v. Campenhausen (AöR 121 (1996), 449 [459 f.]) unter Zitierung der Entscheidung zu den Kreuzen im Gerichtssaal - BVerfGE 35, 366 (375); so auch Reis, ZRP 1996, 56 (58). 116 Geis, RdJB 1995, 373 (384); Link, NJW 1995, 3353 (3357); Müller-Volbehr, JZ 1995, 996 (1000); Würtenberger, „Unter dem Kreuz" lernen, in: FS für Knöpfle, S. 397 (404).

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur 2. Befürworter

des bundesverfassungsgerichtlichen

Beschlusses

Wenngleich das Bundesverfassungsgericht mit seinem Kruzifix-Beschluß von der weit überwiegenden Mehrheit des Schrifttums kritisiert wird, finden sich in der Literatur auch zustimmende Äußerungen. Die Befürworter des Beschlusses knüpfen mit ihrer Argumentation durchweg an der staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität an. 1 1 7 Sie gehen mit der Senatsmehrheit davon aus, daß das Kreuz ein ausschließlich religiöses Symbol und nicht zugleich auch ein Kultursymbol verkörpere. 118 Ist das Kreuz aber ein religiöses Symbol, verstößt die staatliche Anordnung, in jedem Klassenzimmer einer öffentlichen Schule ein derartiges Symbol anzubringen, gegen die staatliche Neutralitätspflicht. Die Befürworter des Beschlusses betonen, daß es dabei um eine vom Staat geschaffene Lage gehe, in der der einzelne ohne Ausweichmöglichkeit mit einem religiösen Symbol konfrontiert werde. 119 Genau diese Kombination von Staatlichkeit und fehlender Ausweichmöglichkeit sei dafür verantwortlich, daß sich das Schulkreuz von den sonstigen im Alltag anzutreffenden Kreuzen unterscheide, bei denen weder eine staatliche Anordnung noch derselbe Grad an Unausweichlichkeit vorliege. 120 Um dem Vorwurf zu begegnen, alle weltanschaulichen oder religiösen Einflüsse aus dem staatlichen Bereich ausklammern zu wollen, heben die Befürworter des Beschlusses hervor, daß es ihnen nicht darum gehe, in den Schulen jede Form religiöser Betätigung zu unterbinden. Ebenso wie die Mehrheit des Schrifttums halten sie den Staat im Gegenteil für verpflichtet, in sozialen Gebilden wie den Schulen Freiräume für die Ausübung der Religionsfreiheit zu schaffen. Entscheidend sei jedoch, daß der Staat die Schüler bei der Verwirklichung dieses Freiheitsrechts nicht aktiv unterstützen dürfe. 121 Darüber hinaus weisen die Befürworter des Beschlusses darauf hin, daß sich auch den Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit christlicher Gemeinschaftsschulen keine Indizien für die Zulässigkeit der Anordnung von Schulkreuzen entnehmen ließen. Das Bundesverfassungsgericht spreche sich in diesen Entscheidungen dagegen aus, christliche Glaubenssätze zur Grundlage des Unterrichts zu machen. Allein die Ausrichtung des Unterrichts an den christlichen Kultur- und Βildungswerten werde für zulässig erklärt. Daraus 117

Nicht alle Autoren heben diesen Aspekt explizit hervor, sie schreiben jedoch vom Kreuz als religösem Symbol und machen auf diesem Wege ihren Standpunkt deutlich. Ausführlich setzen sich mit der Klassifizierung des Kreuzes Neumann (ZRP 1995, 381 [383]) und Rux (Der Staat 36 [1996], 525 [541 ff.]) auseinander. In diesem Sinne, wenngleich nicht in dieser Deutlichkeit, auch Czermak, ZRP 1996, 201 (203); Renck, ZRP 1996, 16 (20). us So Czermak, ZRP 1996, 201 (202); Neumann, ZRP 1995, 381 (384); Renck, ZRP 1996, 16 (20); Rux, Der Staat 36 (1996), 525 (540). 119 Dazu Czermak, ZRP 1996, 201 (204); Renck, ZRP 1996, 16 (19); Rux, Der Staat 36 (1996), 525 (545 ff.). 120 So Neumann, ZRP 1995, S. 383. 121 So Neumann, ZRP 1995, 381 (386); Rux, Der Staat 36 (1996), 525 (530).

§ 6 Zweite Gruppe: Einwände gegenüber „neutralen" Schuleranstaltungen

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könne aber nur geschlossen werden, daß eine vom Staat vorgenommene Integration religiöser Symbole in den schulischen Bereich unzulässig sei. 122 Gerade diese Ausführungen machen deutlich, daß die Befürworter des Kruzifix-Beschlusses den Schwerpunkt ihrer Argumentation nicht auf die Abwägung miteinander konkurrierender Grundrechte, sondern auf die Frage legen, ob und inwieweit sich die gesetzliche Anordnung zum Anbringen von Kreuzen in Klassenzimmern mit der staatlichen Neutralitätspflicht vereinbaren läßt. Dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität werden die entscheidenden Maßstäbe dafür entnommen, inwieweit sich der Staat im schulischen Bereich religiösen und weltanschaulichen Einflüssen öffnen darf. 123

§ 6 Zweite Gruppe: Religiös bedingte Einwände gegenüber „neutralen" Schulveranstaltungen Die zweite Fallgruppe zeichnet sich dadurch aus, daß einzelne Schüler - bzw. deren Eltern - aus religiösen 124 Gründen eine Befreiung vom Schulunterricht an bestimmten Schultagen oder von bestimmten Veranstaltungen geltend machen. Im Gegensatz zu den Entscheidungen der ersten Fallgruppe 125 geht es nicht um eine von der Schule durchgefühlte Handlung, die weltanschaulich-religiöse Bezüge aufweist, sondern um weltanschaulich-religiös neutrale Schulveranstaltungen, von denen die Schüler aufgrund ihrer religiösen Einstellung eine Freistellung begehren. Bevor jedoch auf die einzelnen Entscheidungen eingegangen wird, gilt es zunächst die Frage nach der verfassungsrechtlichen Verankerung der Schulpflicht zu klären. Dieser Frage kommt insofern besondere Bedeutung zu, als die begehrte Befreiung von schulischen Veranstaltungen eine besondere Qualität aufweisen muß, wenn sich die Pflicht zur Teilnahme an den Schulveranstaltungen unmittelbar aus der Verfassung ergibt.

A. Exkurs: Verfassungsrechtliche Verankerung der Schulpflicht Während unter der Weimarer Verfassung die Pflicht zum Schulbesuch ausdrücklich in Art. 145 Abs. 1 WRV vorgesehen war, findet sich im Grundgesetz keine vergleichbare Bestimmung. 126 Art. 7 Abs. 1 GG nennt lediglich das Aufsichtsrecht 122 Vgl. Czermak, ZRP 1996, 201 (203); Renck, ZRP 1996, 16 (19); Rux, Der Staat 36 (1996), 525 (538). ι 2 3 Näher zum Neutralitätsgebot oben S. 57 ff. sowie unten S. 298 ff. 124 Aus weltanschaulichen Gründen wurden bislang keine Einwendungen gegen Schulveranstaltungen erhoben. 125 Vgl. dazu oben S. 107 ff.

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

des Staates über das Schulwesen. Regelungen zur Schulpflicht lassen sich nur im Schulrecht der Bundesländer nachweisen, teilweise auch in einzelnen Landesverfassungen. 127 Die Frage nach einer grundgesetzlichen Verankerung der Schulpflicht ist gleichwohl von Bedeutung, wenn gegen die Verpflichtung zum Schulbesuch Einwände erhoben werden, die sich auf die eigenen religiösen Überzeugungen (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) oder auf das konfessionelle Elternrecht (verankert in Art. 6 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) stützen. Die Frage, ob ein derartiger grundgesetzlicher Anknüpfungspunkt aufzuweisen ist oder nicht, hat Folgewirkungen für die Möglichkeit einer Beschränkung der betreffenden Grundrechte durch die - dann gegebenenfalls verfassungsrechtlich abgesicherte - Schulpflicht.

I. Befürworter einer verfassungsrechtlichen Herleitung der Schulpflicht In der Rechtsprechung und großen Teilen der Literatur wird davon ausgegangen, daß sich die Schulpflicht aus Art. 7 Abs. 1 GG - dem Aufsichtsrecht des Staates über das Schulwesen - ergebe. 128 Das Bundesverfassungsgericht hat sich in jenen Entscheidungen, in denen der Schulpflicht Bedeutung zukam, zwar nicht die Mühe gemacht, deren verfassungsrechtliche Verankerung ausdrücklich festzustellen. Den einschlägigen Aussagen läßt sich jedoch entnehmen, daß das Gericht der Schulpflicht Verfassungsrang beimißt. Kommt es zwischen der Schulpflicht und anderen Verfassungsgütern - namentlich der Religionsfreiheit und dem konfessionellen Elternrecht - zu Unvereinbarkeiten, ist das Gericht stets darum bemüht, einen möglichst schonenden Ausgleich zwischen den beiden Positionen herzustellen. 129 126 Art. 145 WRV lautet: „Es besteht allgemeine Schulpflicht. Ihrer Erfüllung dient grundsätzlich die Volksschule mit mindestens acht Schuljahren und die anschließende Fortbildungsschule bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahre. Der Unterricht und die Lernmittel in den Volksschulen und den Fortbildungsschulen sind kostenlos." Vgl. allgemein zum geschichtlichen Werdegang der Schulpflicht: Conze, Sozialgeschichte 1800-1850, in: Aubin/ Zorner (Hrsg.), Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2, S. 426 (484 ff.); ders., Sozialgeschichte 1850-1918, in: Aubin/Zorner (Hrsg.), Handbuch der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Band 2, S. 602 (670 ff.); Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band VI, S. 943 f.; Mors, Entwicklung der Schulpflicht. 127 So vor allem in den Landesverfassungen von Baden-Wüttemberg (Art. 14 Abs. 1), Bayern (Art. 129 Abs. 1), Bremen (Art. 30) Hessen (Art. 56 Abs. 1), Nordrhein-Westfalen (Art. 8 Abs. 2), Sachsen-Anhalt (Art. 25 Abs. 2) und Schleswig-Holstein (Art. 6 Abs. 1).

™ BVerfG NJW 1987, 180; BVerwG RdJB 1993, 113; BayVGH RdJB 1993, 114; Heckel ! Avenarius, Schulrechtskunde, S. 311; Gröschner, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 7 Rdnr. 22 f. 129 Auf die Frage, ob die hieraus entstehenden Konflikte zwischen der Schulpflicht und der Religions- und Weltanschauungs- oder Gewissensfreiheit der Schüler sowie dem konfessionellen Elternrecht bereits dadurch ausgeglichen werden, daß das Grundgesetz in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG für derartige Fälle die Möglichkeit zur Errichtung konfessioneller Privatschulen vorsieht (so insbesondere Gröschner, in Dreier [Hrsg.], GG, Art. 7 Rdnr. 24), soll hier nicht weiter eingegangen werden.

§ 6 Zweite Gruppe: Einwände gegenüber „neutralen" Schuleranstaltungen

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Ein solcher Ausgleich ist nur dann erforderlich, wenn der Schulpflicht Verfassungsrang zugestanden wird. 1 3 0 Wie das Bundesverfassungsgericht bleibt auch das Bundesverwaltungsgericht in seinen Entscheidungen eine genauere Herleitung der Schulpflicht aus Art. 7 Abs. 1 GG schuldig. Statt dessen führt es wie selbstverständlich aus: „Insbesondere steht das durch Art. 6 II 1 GG von Bundesverfassungs wegen gewährleistete Grundrecht der Kl. ( . . . ) der durch Art. 7 I GG gedeckten Begründung der allgemeinen Schulpflicht nicht entgegen".131 Auch diese Passage zeigt, daß der Schulpflicht offenbar Verfassungsrang zuerkannt wird, da nur dann zwischen dieser und anderen Verfassungsgütern ein Ausgleich hergestellt werden muß. Das Bundesverwaltungsgericht betont im übrigen, daß der Staat seinen Bildungs- und Erziehungsauftrag nur dann unabhängig von den Vorstellungen der Eltern wahrnehmen könne, wenn ihm ein umfassendes Recht zur Statuierung einer allgemeinen Schulpflicht zugesprochen wird und die Erteilung von Befreiungen wenigen Ausnahmefallen vorbehalten bleibt. 132 Im Schrifttum wird darüber hinaus argumentiert, daß der staatliche Erziehungsauftrag leerliefe, wenn der Schulbesuch auf freiwilliger Basis stattfände. Auch Art. 7 Abs. 2 GG, der den Erziehungsberechtigten das Bestimmungsrecht über die Teilnahme am Religionsunterricht gewährt, lasse sich zumindest mittelbar die Verpflichtung zur Teilnahme an den sonstigen Schulveranstaltungen entnehmen.133

II. Kritiker einer verfassungsrechtlichen Herleitung der Schulpflicht Vereinzelt wird die Verankerung der Schulpflicht im Grundgesetz bestritten. Ohne ausführliche Auseinandersetzung mit Art. 7 Abs. 1 GG wird lapidar darauf verwiesen, daß das Grundgesetz im Gegensatz zur Weimarer Verfassung keine Regelung der Schulpflicht vorsehe. 134 Dieses Argument überzeugt jedoch nicht gegenüber jenen erwähnten Gründen, die für eine verfassungsrechtliche Fundierung der Schulpflicht angeführt werden können: Zum einen kann der in Art. 7 Abs. 1 GG normierte staatliche Erziehungsauftrag nur realisiert werden, wenn alle Kinder zum regelmäßigen Besuch der Schule verpflichtet sind und Ausnahmen nur in eng umgrenzten Fällen zugelassen werden. Danach kann es nicht von der Willkür der Eltern abhängen, ob ihre Kinder zur Schule geschickt werden oder nicht. Der staat130 Siehe dazu BVerfG RdJB 1993, S. 113: „Die allgemeine Schulpflicht und die sich daraus ergebenden weiteren Pflichten beschränken in zulässiger Weise das in Art. 6 II 1 GG gewährleistete elterliche Bestimmungsrecht über die Erziehung des Kindes. Auch die von den Bf. in Anspruch genommene Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) gibt ihnen nicht das Recht, die Anmeldung ihres Sohnes zum Besuch der Volksschule zu unterlassen". 131 BVerwG NVwZ 1992,370. 132 BVerwG NVwZ 1994, 578 m. w. N. 133 Vgl. dazu Fetzner, RdJB 1993, 91 (94 f.); Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 7 Rdnr. 24. 134 Staupe, Schulrecht, S. 219; vgl. auch Stein/Roell, Schulrecht, S. 52.

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

liehe Erziehungsauftrag setzt mithin die Schulpflicht geradezu voraus. 135 Zum anderen wird zu Recht darauf hingewiesen, daß die Regelung des Art. 7 Abs. 2 GG die Befreiungsmöglichkeit vom Religionsunterricht - nur dann Sinn ergibt, wenn der Besuch von Schulveranstaltungen im Grundsatz verbindlich ist. 1 3 6

B. Freistellungen der Schüler vom Schulunterricht Religiös bedingte Freistellungsbegehren vom Schulunterricht haben sich bisher auf zwei Fallgestaltungen beschränkt: Zum einen die Befreiung vom Schulunterricht an bestimmten Schultagen, zum anderen die Befreiung von der Teilnahme am Schulsport. I. Befreiung vom Schulbesuch an bestimmten Schultagen Die Freistellung einzelner Schüler vom Schulunterricht ist - gerade wegen der in Deutschland bestehenden Schulpflicht - nicht ohne weiteres möglich. Entsprechende Beschwerden führen in regelmäßigen Abständen zur Anrufung der Gerichte seitens jener Eltern, die eine Befreiung für ihre Kinder begehren. Dies gilt namentlich dann, wenn die Befreiung aus religiösen Gründen eingefordert wird. Im Unterschied zu den Entscheidungen der ersten Fallgruppe haben diese Fälle jedoch weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur für sonderlich viel Aufsehen gesorgt. Ein Grund dafür mag darin liegen, daß zwei wichtige Präzedenzfälle - die Befreiung der Juden und der Sieben-Tages-Adventisten vom Samstagsunterricht als Achtung ihrer Glaubensüberzeugung, die die Heiligung des Sabbats durch Arbeitsruhe vorsieht - schon lange vor Erlaß des Grundgesetzes anerkannt waren. 137 Eine solche generelle Freistellung wird daher auch übereinstimmend für zulässig erachtet. Zwar wird durchaus gesehen, daß eine derartige Befreiung von der Schulpflicht an bestimmten Tagen zu Störungen des staatlichen Schulerziehungsrechts führen kann, wenn die fehlenden Kinder den verpaßten Unterrichtsstoff nicht nachholen und dadurch bedingt den folgenden Unterrichtsablauf hemmen. Die Entscheidung, ob eine entsprechende schulorganisatorische Regelung auch aus pädagogisch-didaktischer Sicht vertretbar ist, wird jedoch allein der Schulverwaltung zugesprochen, der dabei ein weiter Gestaltungsspielraum zustehen soll. 1 3 8 135

So auch Heckel ! Avenarius, Schulrechtskunde, S. 311; Gröschner, in Dreier (Hrsg.), GG, Art. 7 Rdnr. 22 f. 136 So Fetzner, RdJB 1993, 91 (94 f.) m. w. N.; Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 7 Rdnr. 24. 137 Das Urteil des OVG Münster (RdJB 1971, 25) verweist auf das Preußische Allgemeine Landrecht (Teil II 11, §§ 1, 2 PrALR), Art. 12 der Preußischen Verfassung vom 31. Januar 1850 und die entsprechende Praxis. Vgl. auch BVerfGE 24, 236 (245). 138 BVerwG KirchE 13, 221 (224).

§ 6 Zweite Gruppe: Einwände gegenüber „neutralen" Schuleranstaltungen

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Die Frage nach der Verpflichtung zur Freistellung anderer - nicht einer dieser beiden Gruppen angehörenden - Kinder von der Schulpflicht an bestimmten Tagen wirft vor diesem Hintergrund in erster Linie Gleichheitsprobleme auf. In jedem Einzelfall muß geprüft werden, ob die für Juden und Sieben-Tages-Adventisten anerkannte Ausnahmeregelung mit anderen Sachverhalten vergleichbar ist, so daß eine Pflicht zur Freistellung besteht. Die dabei bestehenden Schwierigkeiten betreffen vornehmlich Beweisfragen und insbesondere die Anforderungen, die als Nachweis für die Existenz der mit der Schulpflicht kollidierenden Glaubensüberzeugung zu erbringen sind. 139

II. Befreiung vom Schulsport In den letzten Jahren haben sich Gerichte vermehrt mit Fällen befassen müssen, in denen Schülerinnen oder deren Eltern aus Glaubensgründen eine Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht bzw. vom gesamten koedukativen Schulsport begehrten. In einigen wenigen Fällen wurde darüber hinaus eine Freistellung nicht nur vom koedukativen, sondern vom gesamten Schulsport eingefordert. In der überwiegenden Zahl der Fälle beantragten Schülerinnen islamischen Glaubens die Befreiung nur vom koedukativen Schwimm- oder vom gesamten koedukativen Sportunterricht. Sie machten geltend, daß ihnen eine Teilnahme an diesem Unterricht aufgrund der aus Glaubensgründen zu tragenden Bekleidung nicht möglich sei. Sure 24 Vers 31 (bzw. Suren 32 und 33 Vers 59) des Korans sei zu entnehmen, daß Frauen und Mädchen sich in der Öffentlichkeit gegenüber dem männlichen Geschlecht nicht ohne Kopfbedeckung und nicht mit entblößten Armen und Beinen zeigen dürften. Daher müsse auch von einer Kleidung Abstand genommen werden, bei der sich die Konturen des Körpers abzeichneten, was letztlich zum Tragen weiter Gewänder verpflichte. 140 Der koedukativ erteilte Schwimm- und Sportunterricht sei mit diesen Vorgaben nicht vereinbar. Einzelne Freistellungsbegehren stützten sich darüber hinaus auf eine religiöse Ausrichtung des Islams, die für Frauen wie für Männer jegliche sportliche Betätigung ablehnt. 141 139 Anders wird diese Problematik allerdings vom OVG Münster beurteilt; vgl. RdJB 1971, 24 (insbes. S. 26) mit Anm. Guthart. Das Gericht gelangte gar nicht zur Beweisproblematik, da es von vornherein eine Vergleichbarkeit ablehnte, wenn es sich bei den Klägern nicht um Angehörige einer „festgefügten Körperschaft des öffentlichen Rechts" handelte. Das Bundesverwaltungsgericht sah in dieser Argumentation allerdings eine Verkennung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG: „Als Individualgrundrecht ist die Glaubensfreiheit nicht nur den Mitgliedern anerkannter Religionsgemeinschaften, sondern auch den Angehörigen anderer religiöser Vereinigungen und sogar dem einzelnen ohne Rücksicht auf seine Zugehörigkeit zu einer religiösen oder weltanschaulichen Gemeinschaft verbürgt" (S. 225). 140

Dem Inhalt der Sure zufolge „sollen gläubige Frauen ihre Blicke niederschlagen, ihre Scham hüten und ihre Reize nicht zur Schau tragen, es sei denn, was außen ist und sie sollen ihren Schleier über ihren Busen schlagen und ihre Reize nur ihren Ehegatten, Vätern, Brüdern, Söhnen und anderen nahen männlichen Verwandten sowie Frauen und auch Kindern, welche die Blöße der Frauen nicht beachten, zeigen".

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

Befreiungsbegehren vom koedukativen oder vom gesamten Sportunterricht sind jedoch nicht auf Anhänger der islamischen Religionen beschränkt. Sie finden sich auch bei Anhängern christlicher Religionen, namentlich den Anhängern der Palmarianischen Kirche. 142 Diese Kirche - eine katholische Glaubensgemeinschaft zeichnet sich durch die Ablehnung der nachkonzilianischen Entwicklung der römisch-katholischen Kirche aus. 143 In einem Dekret haben die Palmarianer eigene Regeln der Sittlichkeit niedergelegt, zu denen unter anderem auch ΒekleidungsVorschriften zählen. Frauen werden darin angewiesen, auf jeden Fall das Tragen von Hosen zu unterlassen. Unterstützend wird auf das 5. Buch Moses 22, 5 verwiesen, in dem es Frauen verboten wird, Männerkleidung zu tragen. Die Nichtbefolgung dieser Vorschriften wird als schwere Sünde angesehen und mit der Exkommunikation bestraft. Allen Fällen ist gemeinsam, daß die Schüler bzw. ihre Eltern ihr Befreiungsbegehren auf die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierte Religionsfreiheit (gegebenenfalls in Verbindung mit dem konfessionellen Elternrecht) stützen. Aus unterschiedlichen religiösen Motiven heraus wird eine Teilnahme am gesamten Schulsport abgelehnt bzw. nur bei Beachtung gewisser organisatorischer Vorkehrungen - etwa einer getrenntgeschlechtlichen Unterrichtung - für mit ihrem Glauben vereinbar gehalten.

7. Rechtsprechung

Die den Gerichten zur Entscheidung vorgelegten Fälle spitzen sich stets auf eine Kollision zwischen der Religionsfreiheit der Schülerinnen aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dem Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 GG einerseits sowie dem verfassungsrechtlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG andererseits zu. 1 4 4 Die betroffenen Schülerinnen und Eltern sehen in der Verpflichtung zur Teilnahme am Schulsport einen Eingriff in die sich aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ergebende Religionsfreiheit. Sie gehen davon aus, daß die Bekleidungsvorschriften unmittelbarer Ausdruck der Moralvorstellungen sowie der Lebensführung der jeweiligen religiösen Gemeinschaften sind. 145 Ihren grundge141 VG Freiburg InfAuslR 1994, 297 (298). 142 BayVGH KirchE 25, 164. 143 BayVGH KirchE 25, 164. 144 BayVGH KirchE 25, 164 (165); VG Köln KirchE 28, 188 (189/192); OVG Lüneburg KirchE 29, 94 (98); OVG Münster KirchE 29, 231 (233 f.). 145 So besonders deutlich in BayVGH KirchE 25, 164 (168). Siehe auch OVG Lüneburg KirchE 29, 94 (98) m. w. N. Stets wird bei der Prüfung des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gefordert, daß „derjenige, der sich darauf beruft, die religiösen oder weltanschaulichen Motive seines Handelns als für ihn verpflichtend darstellen und begründen können muß; auch bedarf es einer ausreichenden Objektivierbarkeit hinsichtlich des Inhalts des als verpflichtend dargestellten religiösen oder weltanschaulichen Gebots." (OVG Münster KirchE 29, 231 [235]). In den vorliegenden Fällen waren diese Anforderungen erfüllt; OVG

§ 6 Zweite Gruppe: Einwände gegenüber „neutralen" Schuleranstaltungen

139

setzlich verankerten Rechten steht der staatliche Erziehungsauftrag gegenüber, der es dem Staat ermöglichen soll, unabhängig von den Vorstellungen der Schüler und Eltern eigene Erziehungsziele - wie die Festlegung eines für alle verpflichtenden Sport- und/oder Schwimmunterrichts - zu verfolgen. Der staatliche Erziehungsauftrag steht gleichgeordnet neben der Religionsfreiheit der Schülerinnen und dem Erziehungsrecht der Eltern. 1 4 6 Die Gerichte, die sich um eine Lösung des Spannungsverhältnisses bemühen, betonen im Ausgangspunkt wiederholt, daß es in einer pluralistischen Gesellschaft nicht möglich sei, die öffentliche Schule in einer Weise zu gestalten, die den religiösen und weltanschaulichen Vorstellungen aller Beteiligten entspricht. Gleichwohl müsse ein möglichst schonender Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessenslagen gefunden werden. 147 Bei dieser Interessenabwägung gelte es die unterschiedliche Reichweite der einzelnen Befreiungsbegehren zu berücksichtigen, so daß zwischen der Freistellung vom koedukativen Schwimmunterricht, vom gesamten koedukativen Schulsport sowie von jeglichem Schulsport zu unterscheiden sei.

a) Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht Als einziges Gericht kommt das Kammergericht Berlin zu dem Ergebnis, daß einer muslimischen Schülerin die Teilnahme am Schwimmunterricht generell zuzumuten sei. Das Gericht stellt darauf ab, daß sich die betreffende muslimische Schülerin und ihr Vater nicht gegen den koedukativen Schwimmunterricht insgesamt, sondern nur gegen die von den Mädchen zu tragende leichte Badebekleidung wendeten. Die Kollision zwischen Religionsfreiheit und staatlichem Erziehungsrecht lasse sich daher ohne die Freistellung der Schülerin dadurch lösen, daß sie während des Schwimmunterrichts eine die Arme und Beine in ausreichender Weise bedeckende Kleidung trage. Das Gericht gibt zugleich die zweifelhafte Empfehlung, unter dem Badeanzug ein Hemd mit langen Ärmeln oder eine Strumpfhose zu tragen. 148 Eine Freistellung vom koedukativen Schwimmunterricht sei jedenfalls nicht gerechtfertigt. Die eigentümlichen Vorschläge des Kammergerichts werden bereits ein Jahr später in einem anderen Fall vom Amtsgericht Tiergarten 149 zurückgewiesen. Das Münster KirchE 29, 231 (235); BayVGH KirchE 25, 164 (167 f.); VG Köln, KirchE 28, 188 (190). In diesen Entscheidungen wird auch betont, daß der „zahlenmäßigen Stärke und der gesellschaftlichen Auswirkung der Glaubenshaltung" mit Blick auf die „Schutzfähigkeit einer religiösen Überzeugung keine Bedeutung" zukomme; OVG Lüneburg KirchE 29, 94

(100). 146 BayVGH KirchE 25, 164 (167); OVG Lüneburg KirchE 29, 94 (98); BVerwG NVwZ 1994, 578 (579). 147 BayVGH KirchE 25, 164 (167 f.); OVG Münster KirchE 29, 231 (233). 148 K G K i r c h E 2 3 , 2 1 ( 2 2 ) .

149 AG Tiergarten KirchE 23, 113 ff.

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2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

Gericht verweist zunächst auf die Selbstverständlichkeit, daß Kleidungsstücke in Berührung mit Wasser die Eigenschaft haben, sich eng an den Körper anzulegen, so daß dessen Konturen sichtbar werden und zudem das Schwimmen in unzumutbarer Weise behindert wird. 1 5 0 Das Amtsgericht löst die Kollision der einschlägigen Grundrechte daher zugunsten der Religionsfreiheit und läßt eine Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht zu. Wie auch in späteren Entscheidungen anderer Gerichte wird die Argumentation vor allem von der Feststellung getragen, daß der Schwimmunterricht zwar wichtiger Bestandteil des staatlichen Bildungsauftrags sei, aber nur einen Teil des Sportunterrichts darstelle. 151 Andere Gerichte weisen übereinstimmend darauf hin, daß durch die Freistellung einzelner Schülerinnen vom Schwimmunterricht weder der staatliche Bildungsauftrag als solcher noch die Funktionsfähigkeit der Schule in irgendeiner Weise gefährdet seien. Aus der bloßen Nichtteilnahme am Schwimmunterricht ergäben sich - im Gegensatz zur Freistellung von Schülern an bestimmten Schultagen - insbesondere keine organisatorischen Schwierigkeiten. Daher komme auch dem Aspekt, wie die Schüler das Versäumte nachholen, ohne den weiteren Unterrichtsablauf zu behindern, im konkreten Zusammenhang keine Bedeutung zu. 1 5 2 Das Oberverwaltungsgericht Münster bezieht mit dem Gleichheitsgedanken einen weiteren Aspekt in die Erwägungen ein. Überlegt wird, inwieweit die Tatsache, daß sich die islamischen Kleidervorschriften einseitig zum Nachteil der Frauen auswirken, Konsequenzen für die Beurteilung des Falles haben muß. Entscheidend soll sein, ob dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag aufgrund der Benachteiligung von Frauen eine Gewichtung zukommt, die bei der Abwägung stärker zu berücksichtigen ist und letztlich zu Lasten der Religionsfreiheit geht. Letztlich gelangt das Gericht jedoch zu dem Ergebnis, daß den gesellschaftlichen Auswirkungen einer Glaubenshaltung im Verhältnis zum Schutz der subjektiven religiösen Überzeugung im Regelfall keine gesteigerte Bedeutung zukommt. Anderes soll nur dann gelten, wenn die subjektive Glaubensüberzeugung und das daraus resultierende Verhalten in Widerspruch zu anderen Wertentscheidungen der Verfassung geraten und daraus fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder Grundrechte Dritter resultieren. Die Freistellung einer Schülerin vom Schwimmunterricht gefährde jedoch weder den staatlichen Bildungsauftrag noch Grundrechte der anderen Schüler. 153 Dem staatlichen Bildungsauftrag komme daher unter den gegebenen Umständen kein gesteigertes Gewicht zu. 150 AG Tiergarten KirchE 24, 113 (115). 151 AG Tiergarten KirchE 24, 113 (115); VG Köln KirchE 28, 188 (192); OVG Münster KirchE 29, 231 (236 f.). Vgl. zu dieser Thematik auch die Entscheidung des Schweizerischen Bundesgerichts (RdJB 1994, 293 ff.), das in einer ausführlichen und aufschlußreichen Argumentation die Freistellung einer muslimischen Schülerin vom Schwimmunterricht befürwortet. Die Religionsfreiheit wird dabei als vorrangig gegenüber der „Bürgerpflicht" angesehen, an allen Unterrichts V e r a n s t a l t u n g e n teilzunehmen. 152 VG Köln KirchE 28, 188 (192 f.); OVG Münster KirchE 29, 231 (237). 153 OVG Münster KirchE 29, 231 (236 f.).

§ 6 Zweite Gruppe: Einwände gegenüber „neutralen" Schul Veranstaltungen

141

b) Befreiung vom gesamten koedukativen Schulsport Obwohl das Bestreben einer Befreiung vom gesamten koedukativen Schulsport weiter reicht als die Befreiung (nur) vom koedukativen Schwimmunterricht, gleichen sich die von den Gerichten angeführten Argumente. Mit Ausnahme einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster wird die Kollision durchweg zugunsten der Religionsfreiheit gelöst. Das Oberverwaltungsgericht Münster geht davon aus, daß einer muslimischen Schülerin im Sportunterricht - im Gegensatz zum Schwimmunterricht, bei dem die genannten religiösen Motive Vorrang vor dem staatlichen Erziehungsauftrag hätten und eine Befreiung notwendig sei - ausreichende Möglichkeiten offenstehen, ihre Körperkonturen zu verdecken und damit ihren religiösen Überzeugungen nachzukommen. Die Schülerin könne etwa „einen weitgeschnittenen Blouson aus festem Stoff mit Trainingshose tragen ( . . . ) . Daß es möglich ist, die Haare durch ein sachgemäß befestigtes Tuch oder eine andere Kopfbedeckung zu verdecken steht außer Frage". Ferner könne die Schülerin von einzelnen Unterrichtselementen, bei denen eine Hilfestellung und damit körperliche Kontakte unvermeidlich sind, befreit werden, ohne daß eine Befreiung vom gesamten koedukativen Sportunterricht erforderlich sei. 1 5 4 Sowohl das ein Jahr später gefällte Urteil des Oberverwaltungsgerichts Bremen155 als auch früher getroffene Entscheidungen anderer Gerichte 156 halten demgegenüber eine vollständige Befreiung vom koedukativen Sportunterricht für die einzige angemessene Lösung der Konfliktlage. 157 In allen diesen Entscheidungen wird die Bedeutung des koedukativen Sportunterrichts als Teil des staatlichen Bildungsauftrags aufgrund seiner sowohl gesundheitsfördernden als auch sozialen Komponente hervorgehoben. 158 Gleichwohl wird darauf verwiesen, daß es muslimischen Schülerinnen im Sportunterricht - ebenso wie im Schwimmunterricht nicht möglich sei, durch das Tragen weiter Kleider zu verhindern, daß sich bei einzelnen Übungen Körperkonturen abzeichnen oder sich bei den Übungen die Kopfbedeckung lockert. Den dadurch hervorgerufenen Glaubenskonflikt der Schülerinnen halten die Gerichte insofern für unzumutbar, als sich aus ihrer Befreiung weder eine Beeinträchtigung des Sportunterrichts noch der Funktionsfähigkeit der Bildungseinrichtung Schule ergebe. 159 Die Gerichte stimmen allerdings darin überein, daß eine vollständige Befreiung vom Sportunterricht nur solange als angemessener Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen zu betrachten ist, wie 154 O V G Münster K i r c h E 29, 396 ( 4 0 2 - 4 0 4 ) .

155 156 94 ff. 157 158 159

RdJB 1992, 412 ff. BayVGH KirchE 25, 165; HessVGH KirchE 25, 307 ff.; OVG Lüneburg KirchE 29, OVG Bremen RdJB 1992, 412 ff.; OVG Lüneburg KirchE 29, 94 (100). OVG Bremen RdJB 1992, 412 (413); OVG Lüneburg KirchE 29, 94 (100).

142

2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

die Schule keinen getrenntgeschlechtlichen Sportunterricht anbietet. 160 Ist dies der Fall, scheidet eine Befreiung aus. Der Fall des Oberverwaltungsgerichts Münster gelangte vor das Bundesverwaltungsgericht, das sich im Ergebnis der von den anderen Gerichten vorgezeichneten Argumentationslinie anschloß. Das Bundesverwaltungsgericht hebt zunächst hervor, daß im Grundsatz der Besuch aller Schulveranstaltungen verpflichtend ist und Befreiungsmöglichkeiten nur in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich sind. Das Gericht betont, daß die Freistellung vom koedukativen Sportunterricht einen Sonderfall darstelle, der nur mit den Eigenarten des Sportunterrichts erklärt werden könne und eine Übertragung auf andere Fächer unmöglich mache. 161 Mit dieser Feststellung verfolgt das Bundesverwaltungsgericht ersichtlich das Ziel, über den Sportunterricht hinausgehenden Befreiungsbegehren von vornherein Einhalt zu gebieten.162 Als einzigen Ausweg aus der geschilderten Kollisionslage sieht jedoch auch das Bundesverwaltungsgericht im konkreten Fall die Befreiung der Schülerin vom gesamten koedukativen Sportunterricht, solange keine organisatorischen Vorkehrungen für einen getrenntgeschlechtlichen Sportunterricht getroffen werden oder getroffen werden können. 163 Auch das Bundesverwaltungsgericht setzt sich in seiner Entscheidung darüber hinaus mit der Frage auseinander, inwieweit Gedanken der Gleichberechtigung Einfluß auf den Ausgang der Entscheidung haben können. Angeknüpft wird an den schulischen Bildungs- und Erziehungsauftrag, der auf jeden Fall die Vermittlung der Grundrechte - und damit auch des Art. 3 Abs. 2 GG - als Mindeststandard umfassen soll. Gleichwohl soll Art. 3 Abs. 2 GG im vorliegenden Fall keine Bedeutung für den Ausgang der Entscheidung zukommen. Die Integration ausländischer Schülerinnen sei durch die Teilnahme an den anderen Unterrichtsveranstaltungen nicht gefährdet. Im übrigen sei zu berücksichtigen, daß die Freistellung vom Sportunterricht die Schülerinnen nicht in eine stärkere Außenseiterposition drängen würde als die Teilnahme am Schulsport in unpassender Kleidung. 164 Der schulische Bildungs- und Erziehungsauftrag werde durch eine Freistellung nicht verletzt.

160 Vgl. HessVGH KirchE 25, 307 (310); OVG Bremen RdJB 1992,412 (414). 161 BVerwG NVwZ 1994, 578 (580). 162 BVerwG NVwZ 1994, 578 (580). In diesem Zusammenhang weist das Bundesverwaltungsgericht explizit darauf hin, daß das Bundesverfassungsgericht in der Sexualkunde-Entscheidung (BVerfGE 46, 47 ff.) - in der das Verfassungsgericht darüber zu entscheiden hatte, inwieweit die obligatorische Erteilung des Sexualkundeunterrichts mit dem Elternrecht aus Art. 6 Abs. 2 GG zu vereinbaren ist - dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag den Vorrang eingeräumt hat (a. a. O. S. 580 f. unter Verweis auf BVerfGE 47, 46 [69 ff.]). 163 BVerwG NVwZ 1994, 578 ff. 164 BVerwG NVwZ 1994, 578 (581).

§ 6 Zweite Gruppe: Einwände gegenüber „neutralen" Schulveranstaltungen

143

c) Generelle Befreiung von jeglichem Sportunterricht Eine kleine Gruppe von Fällen betrifft die Befreiung vom gesamten Sportunterricht, der aus religiösen Gründen generell und nicht nur dann abgelehnt wird, wenn er aus organisatorischen Gründen nicht nach Geschlechtern getrennt stattfindet. Sowohl der bayerische

Verwaltungsgerichtshof

als auch das Verwaltungsgericht

Freiburg haben angesichts der Kollisionslage zwischen Art. 7 Abs. 1 GG einerseits und Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 Abs. 2 GG andererseits der Religionsfreiheit den Vorrang eingeräumt. 165 Die Argumentation entspricht im wesentlichen jener in den Entscheidungen zur Befreiung vom koedukativen Sportunterricht, so daß sich eine nähere Darstellung der Gründe erübrigt. Auch hier wird auf die Bedeutung des staatlichen Bildungsauftrags im Bereich des Sportunterrichts hingewiesen, zugleich aber betont, daß dieser durch die Befreiung nicht in Frage gestellt werde. Erneut wird hervorgehoben, daß keine organisatorischen Schwierigkeiten oder gar eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Schule zu befürchten seien. 166

2. Stellungnahmen in der Literatur

Das Schrifttum hat sich nur vereinzelt mit der Befreiung vom Schulsport aus religiösen Motiven befaßt, dabei jedoch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Befreiung vom koedukativen Sportunterricht überwiegend positiv aufgenommen. 167 Während an der Befreiung vom Schwimmunterricht übereinstimmend keine Kritik geübt wird, halten einige Autoren eine Befreiung vom koedukativen Sportunterricht nicht für erforderlich. 168 In Anknüpfung an die vom Oberverwaltungsgericht Münster vorgeschlagene Lösung erachten sie es für ausreichend, wenn sachgerechte Zugeständnisse an die Sportbekleidung - verbunden mit vereinzelten Befreiungen von bestimmten Übungen - gemacht werden. 169 Darüber hinaus wird vereinzelt kritisiert, daß jene Gerichte, die die Kollision zwischen der Religionsfreiheit der Schülerin und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag zugunsten der Religionsfreiheit lösen, dem objektiv-rechtlichen Gehalt von Art. 3 Abs. 2 GG nicht ausreichend Rechnung trügen. Zwar gestehen die Kritiker zu, daß der Verzicht der einzelnen Schülerin auf die gleichberechtigte BayVGH K i r c h E 25, 164 (171); VG F r e i b u r g , I n f A u s l R 1994, 297 (299). 166 BayVGH KirchE 25, 164 (170); VG Freiburg, InfAuslR 1994, 297 (299). 167 Vgl. dazu Füssel, RdJB 1994, 292 ff. - Im Ergebnis ähnlich Wesel (NJW 1994, 1389 f.), der allerdings dem Bundesverwaltungsgericht vorwirft, in der Entscheidung zu sehr auf die Koedukation abgestellt und dadurch den Schwerpunkt der Entscheidung auf einen Aspekt gelegt zu haben, der nicht Art. 4 GG unterfällt. Zu den vorangegangenen Entscheidungen des OVG Bremen und OVG Münster Füssel, RdJB 1993, 228 ff. 168 Groh, RdJB 1992, 414 ff. 169 Groh, RdJB 1992, 414 f., der zudem die Frage aufwirft, inwieweit der Glaubensregel aufgrund der tatsächlichen Lebensumstände überhaupt noch Bedeutung zukommt, dafür allerdings selbst keine Antwort liefert (S. 415). So auch Pieroth, DVB1. 1994, 949 (960). 165

144

2. Kap.: Schule und Religionsfreiheit im Spiegel von Rechtsprechung und Literatur

Teilnahme am Schulsport eine individuelle Grundrechtsverletzung ausschließt. In der Freistellung soll jedoch ein Verstoß gegen die objektiv-rechtliche Wertentscheidung des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG liegen. 170 Ohne eine Befreiungsmöglichkeit aus weltanschaulichen oder religiösen Gründen grundsätzlich ausschließen zu wollen, machen die Kritiker geltend, daß die Gerichte die tatsächlichen Auswirkungen einer Freistellung für die Bildungschancen der muslimischen Schülerinnen in ihren Entscheidungen nicht hinreichend berücksichtigt hätten. Die Entscheidungen eröffneten den islamischen Glaubensgemeinschaften die Möglichkeit, die muslimischen Schülerinnen gegen ihren Willen in eine „islamische Nischengesellschaft" zu treiben und förderten damit nicht zuletzt die „Errichtung von Ghettos". 171 Damit werde eine Situation begünstigt, die nicht mehr mit dem staatlichen Erziehungsauftrag in Einklang stehe. 172

170 Groh, RdJB 1992, 414 (416) und Rittstieg, InfAusLR 1992, 271 (272). 171 So Rittstieg in der Anmerkung zum Urteil des OVG Bremen InfAusLR 1992, 271. Derartige Entscheidungen eröffneten „die Möglichkeit zu scharfer, religiös verbrämter Repression gegenüber Mädchen und Frauen. Sie dient nicht einer gleichberechtigten multikulturellen Gesellschaft, sondern der Errichtung von Ghettos". In diesem Sinne auch ders. in der Anmerkung zum Urteil des BVerwG InfAusLR 1994, 65. 172 Groh, RdJB 1992, 414 (416) in der Anmerkung zu den Urteilen des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 15. 11. 1991 und des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 24. 3. 1992.

3. Kapitel

Das Spannungsverhältnis von Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten Die Vereinigten Staaten haben sich seit ihrer Entstehung mit einer Vielzahl unterschiedlicher religiöser Gruppierungen auseinandersetzen müssen. Der in der Bundesrepublik erst in den letzten 40 Jahren verstärkt aufgekommene Konflikt zwischen individueller Religionsfreiheit und Erziehungsvorgaben im Schulwesen kann in den Vereinigten Staaten auf eine lange Geschichte zurückblicken. Es bietet sich daher an, auf die Erfahrungen und Erkenntnisse, die in den Vereinigten Staaten im Schnittfeld von Religion und Schule über die Jahre hinweg erzielt wurden, zurückzugreifen und zu überlegen, ob und inwieweit die dortigen Problemlösungsstrategien für Deutschland nutzbar gemacht werden können. Nachdem Rechtsvergleichung als Erkenntnismethode lange Zeit eine Domäne des Privatrechts war, 1 gewinnt sie in zunehmendem Maße auch im öffentlichen Recht an Bedeutung. Die lange gehegten Bedenken, daß verschiedene Systeme des öffentlichen Rechts wegen ihrer Eingebundenheit in und Verschränkungen mit dem gesamten Staatswesen im Grunde nicht vergleichbar sind, bestehen nicht mehr.2 Auch im öffentlichen Recht wird - bedingt durch wachsende Auslandsbezüge und die „Supranationalisierung" der Rechtsordnungen - das Bedürfnis anerkannt, für kompliziertere Probleme Lösungsanregungen aus anderen Rechtsordnungen heranzuziehen und, wo es sich anbietet, aus dem Rechtsvergleich zu lernen. Die Rechtsvergleichung kann dabei unterschiedliche Funktionen erfüllen. Sie kann auf einer ersten Stufe die Lösung eines bestimmten Sachproblems in einer anderen Rechtsordnung darstellen, um auf diese Weise - im Sinne einer Auslandsrechtskunde - Denkanstöße für die Diskussion im nationalen Recht sowie Anregungen für die Gesetzesauslegung und die richterliche Rechtsfortbildung zu geben. Sie kann darüber hinaus auf einer zweiten Stufe - ausgehend von der fremden Rechtsordnung - bestimmte Strukturen der eigenen und der fremden Rechtsordnung aufdecken, um so etwaige Vorverständnisse sowie die Voraussetzungen für die Übertragbarkeit oder Nicht-Übertragbarkeit einzelner Rechtsinstitute und Lösungsstrategien offen zu legen.3 Die vorliegende Untersuchung versucht, sich beiden Herausforderungen zu stellen. 1 Grundlegend Zweigert / Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts. 2 So auch Schmidt-Aßmann, Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, in: FS für Lerche, S. 513(517).

10 Rathke

146

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Mit Blick auf das Schnittfeld von individueller Religionsfreiheit und staatlichen Erziehungsvorgaben im Schulwesen muß bereits im Vorfeld dem weit verbreiteten Vorurteil entgegengetreten werden, daß ein Vergleich zwischen der deutschen und der amerikanischen Rechtsordnung wegen der unterschiedlichen Ausgangslagen im Verhältnis von Staat und Kirche nicht möglich sei. Die in Deutschland häufig zitierte Ansicht, in den Vereinigten Staaten bestehe von jeher eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche - eine sog. „wall of seperation between church and state" - trifft in dieser Absolutheit nicht zu. So lassen sich zahlreiche Fälle des Supreme Court anführen, in denen es um die Bestimmung eines angemessenen Ausgleichs zwischen der individuellen Religionsfreiheit der Schüler auf der einen und den staatlichen Interessen auf der anderen Seite geht.4 Gleichwohl läßt sich nicht leugnen, daß die Lösungsstrategien in Deutschland und in den Vereinigten Staaten strukturelle Unterschiede aufweisen und von verschiedenen Systementscheidungen geprägt sind. Um so mehr kommt es darauf an, die strukturelle Andersartigkeit offen zu legen und Vorverständnisse zu klären. Bevor es zur Darstellung einzelner Fälle kommt, sollen daher die verfassungsrechtliche Absicherung der Religionsfreiheit, die Frage nach der Definition des Begriffes „Religion" 5 sowie das Verhältnis von Staat und Kirche im amerikanischen Verfassungsrecht näher erörtert werden. Um diese Fragestellungen ihrerseits richtig verorten zu können, müssen zunächst einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Verfassungsrecht skizziert werden, die im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind.

§ 7 Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Verfassungsrecht Das deutsche und das amerikanische Recht werden nach gängiger Einordnung zwar unterschiedlichen Rechtskreisen zugeschrieben. Im Verfassungsrecht finden sich jedoch neben Unterschieden im Detail zahlreiche Gemeinsamkeiten. Der Rechtsvergleich mit einem Land des anglo-amerikanischen Rechtskreises beginnt in aller Regel mit einem Hinweis auf die Besonderheiten des „Case Law". Gemeint ist üblicherweise der Verweis auf ein Rechtssystem, das nicht - wie die Bundesrepublik - das Gesetzesrecht (Statute Law), sondern das Richterrecht (Case 3 Eine weitere Stufe der Rechtsvergleichung wäre die Vorbereitung einer transnationalen Rechtvereinheitlichung, wie sie in Teilbereichen auf europäischer Ebene - und im Zivilrecht etwa im Bereich des Kaufrechts - geschehen ist und geschieht. 4 Dieser Interessenskonflikt tritt besonders häufig in den Schulentscheidungen auf. Vgl. dazu unten S. 179 ff. 5 Im Gegensatz zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unterscheidet die amerikanische Verfassung nicht zwischen den Begriffen „Religion" und „Weltanschauung". Näher dazu unten S. 149 ff.

§ 7 Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Verfassungsrecht

147

Law) als primäre Rechtsquelle anerkennt.6 Das damit verbundene Präjudiziensystem verlangt - ohne daß dieser Grundsatz schriftlich festgelegt sein muß - im Interesse seiner Funktionsfähigkeit, daß die unteren Gerichte an die Entscheidungen der höheren Gerichte - die sog. „precedents" - gebunden sind (,Doctrine of Stare Decisis'7). Diese Grundsätze des Präjudiziensystems können - im Gegensatz zum britischen - auf das amerikanische Verfassungsrecht nicht ohne weiteres übertragen werden. Durch die Existenz einer geschriebenen Verfassung und die dort niedergelegten Grundsätze kann das amerikanische Verfassungsrecht in mancher Hinsicht eher mit dem deutschen als mit dem britischen Verfassungsrecht verglichen werden.8 Dies hat zur Folge, daß das Case Law im amerikanischen Verfassungsrecht nicht die gewohnte Bedeutung erlangt. Gleichwohl zeichnet sich gerade das amerikanische Verfassungsrecht - insbesondere was die Reichweite und Interpretation des Schutzbereichs der Grundrechte anbelangt - durch eine Vielzahl von Prinzipien und Standards aus, die von der Rechtsprechung entwickelt wurden und aufgrund ihrer regelmäßigen Anwendung Allgemeingültigkeit erlangt haben.9

A. Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Bedeutung, die der Verfassungsgerichtsbarkeit zukommt, hängt entscheidend vom Umfang und den Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle ab. In den Vereinigten Staaten liegt der Verfassung - von einigen Ausnahmen abgesehen das klassische Gewaltenteilungsprinzip zugrunde. 10 Danach liegt die Hauptaufgabe der Gerichte grundsätzlich in der Kontrolle der Exekutive bei der Durchführung legislativer Entscheidungen. Eine unmittelbare Kontrolle der Legislative durch die Gerichte ist in diesem klassischen Konzept nicht vorgesehen.11 Auch in den Vereinigten Staaten hat jedoch die Frage nach der Möglichkeit, die Kontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Legislative zu erstrecken, ebenso Bedeutung erlangt wie die allgemeinere Frage, ob der Anwendungsbereich der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf die „von den Verfassungsvätern bedachten Anwendungsfälle" zu beschränken sei. 12 Ohne die Entwicklung im einzelnen nachzeichnen zu können, läßt sich im Ergebnis festhalten, daß die Rechtsprechung des 6

Blumenwitz, Einführung, S. 4; Hay, Einführung, S. 5. Aus dem lateinischen „stare decisis et non quieta movere" (bei den Entscheidungen stehen bleiben); vgl. Blumenwitz, Einführung, S. 22; Hay, Einführung, S. 8 f. 8 So auch Blumenwitz, Einführung, S. 20. 9 Als Beleg dafür mag die Tatsache dienen, daß sich die Lehrbücher des amerikanischen Verfassungsrechts bei der Darstellung des Verfassungsrechts stark an der Entwicklung der Rechtsprechung des Supreme Court orientieren. Auch insoweit ähnelt das amerikanische Verfassungsrecht eher dem deutschen als dem britischen Verfassungsrecht. 10 Näher dazu bei Brugger, Grundrechte, S. 428, Fußn. 2 sowie Hay, Einführung, S. 22 f. 11 Brugger, Grundrechte, S. 428. 12 Brugger, Grundrechte, S. 429. 7

10*

148

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Supreme Court ausgehend von der fundamentalen Entscheidung Marbury ν. Madison 13 zu einer „Maximalkonzeption verfassungsgerichtlicher Kontrolle" geführt hat, die sich sowohl auf die Legislative erstreckt als auch weit über die von den Verfassungsvätern antizipierten Fälle hinausgeht.14 Mag der Zugang zum Supreme Court durch das freie Annahmeverfahren auch beschränkt sein, sind Umfang und Grenzen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle in der Sache jedoch betont weit gehalten. Im Umgang mit den Entscheidungen des Supreme Court gilt es zu beachten, daß sich das Verfassungsgericht darum bemüht, die eigenen Präjudizien einzuhalten und die zu beurteilenden Fälle stets als konsequente Fortschreibung früherer Entscheidungen auszuweisen,15 obwohl für das Gericht selbst die Stare Decisis-Doktrin nicht gilt und seine Entscheidungen daher nicht ohne weiteres zu einer Selbstbindung führen. 16 Die wesentlichen Gründe einer früheren Entscheidung werden in aller Regel nur dann ausdrücklich außer Kraft gesetzt (overruled), wenn sich die historischen Gegebenheiten oder die Rechtslage gewandelt haben. Gerade in der Funktion einer Anpassung an die geänderten historischen Gegebenheiten liegt die viel zitierte Funktion des Gerichts als eine „Triebkraft des Fortschritts". 17

B. Beschränkungsmöglichkeit von Grundrechten Die im deutschen Grundgesetz angelegte Unterteilung der grundrechtlichen Garantien in Schutzbereich und Schranken (im Sinne von Beschränkungsmöglichkeiten des Schutzbereichs) sind in der amerikanischen Verfassung nur in „rudimentären" Ansätzen vorhanden. 18 Dennoch darf daraus nicht der Schluß gezogen werden, daß die Grundrechte schrankenlos gewährleistet seien. Grundrechtsbeschränkungen dürfen nach amerikanischem Verfassungsrecht zum einen auf die allgemeinen polizeilichen Kompetenzen - die police power - gestützt werden, auf deren Grundlage sowohl legislative als auch administrative Regelungen erlassen werden können, die der „Sicherheit, Gesundheit, Wohlfahrt und Moral der Bevölkerung" dienen. 19 Zum anderen können Grundrechte durch die einzelnen Kompetenzen des Bundes eine Beschränkung erfahren. 20 Über diese ausdrücklich festgeschriebenen Kompetenzen hinaus hat der Supreme Court ungeschriebene Kom5 U . S . (1 C r a n c h ) , 137 (1803). 14 Hay, Einführung, S. 12; Brugger, Grundrechte, S. 429 f. ι 5 Blumenwitz, Einführung, S. 27; Brugger, Grundrechte, S. 430. 16 Vgl. Blumenwitz, Einführung, S. 27. 17 Blumenwitz, Einführung, S. 28; Brugger, Grundrechte, S. 430; Hay, Einführung, S. 15. ι 8 So Brugger, Grundrechte, S. 39. Siehe dazu auch Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 481 ff.; Johnson, USA, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte, S. 885 (943 f.). 19 Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 41; Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 481. 20 So Brugger, Grundrechte, S. 41. 13

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

149

petenzen im Rahmen der Necessary and Proper Clause anerkannt. Danach dürfen Grundrechte auch aus wichtigen Gemeinwohlgründen beschränkt werden. 21 Entscheidend ist in diesem Zusammenhang stets, welche Gewichtigkeit der den Grundrechten entgegengesetzte Allgemeinwohlbelang aufweisen muß, um das Grundrecht in angemessener Weise zu beschränken. Das Supreme Court fordert zur Beschränkung von Grundrechten im Regelfall ein zwingendes staatliches Interesse (a compelling state interest). 22 Je nach betroffenem Grundrecht kann das Gewicht, das der Allgemeinwohlbelang aufweisen muß, jedoch variieren, so daß sich allgemeingültige Aussagen nicht ohne weiteres treffen lassen. Bei der Darstellung der Religionsfreiheit wird daher gesondert auf die vom Staat im Falle einer Beschränkung der Religionsfreiheit einzuhaltenden Anforderungen eingegangen werden. 23

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit Die 1879 erlassene Verfassung der USA enthielt zunächst keine Verankerung der Religionsfreiheit. Zur Zeit der Schaffung der amerikanischen Verfassung waren den Verfassungsvätern noch die jahrhundertelang währenden religiösen Auseinandersetzungen in den europäischen Staaten präsent. In dem Bewußtsein um die unterschiedlichen religiösen Prägungen der früheren Kolonien und dem Wissen, wie tief die jeweiligen religiösen Überzeugungen verwurzelt waren, kamen die Repräsentanten auf der verfassunggebenden Versammlung in Philadelphia stillschweigend darin überein, die Religionsproblematik auszuklammern. Sie befürchteten, daß sich in diesem Punkt angesichts der Vielzahl an unterschiedlichen Auffassungen und Einstellungen keine Einigkeit erzielen lasse und die Versammlung womöglich an dieser Frage zerbrechen und gänzlich scheitern würde. 24 Allgemeine Übereinstimmung bestand jedoch darüber, daß dem Staat und den einzelnen Religionen am besten gedient sei, wenn zwischen ihnen keine Verquickung bestehe.25 21

Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 41. Vgl. zur Frage der Beschränkung von Grundrechten auch Hay, Verfassungsrecht, S. 481 ff.; Johnson, USA, in: Grabitz (Hrsg.), Grundrechte, S. 885 (943 ff.). 22 Zur besseren Einschätzung des Stellenwertes des compelling state interest sei erwähnt, daß zur Rechtfertigung von staatlichen Maßnahmen in anderen Bereichen das öffentliche Interesse entweder „wichtig, substanziell (substancial), bedeutsam" oder nur „überhaupt vertretbar, rational oder legitim (rational, legitimate)" sein muß. Entsprechend dieser Einteilung werden die vom Supreme Court in dem jeweiligen Bereich angewendeten Prüfungsmaßstäbe als strict scrutiny test, intermediate scrutiny test oder rational basis test bezeichnet. Das Hauptgewicht der Supreme Court-Rechtsprechung liegt auf der Zweiteilung von strict scrutinay test und rational basis test. Vgl. zum ganzen Brugger, Grundrechte, S. 41 f. 23 Vgl. dazu die Ausführungen unten S. 152 ff. 24 Alexander/Alexander, Public School Law, S. 113. 25 Alexander/Alexander, Public School Law, S. 113 f.

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Bereits bei der Ratifizierung der Verfassung durch die einzelnen Staaten ergaben sich mit Blick auf die Ausklammerung der Religionsproblematik erste Schwierigkeiten. Sechs Bundesstaaten verabschiedeten zwar die Verfassung, schlugen aber im selben Atemzug eine entsprechende Ergänzung vor. North Carolina und Rhode Island verweigerten die Ratifizierung bis zur Verabschiedung eines Grundrechtskatalogs (der Bill of Rights), in dem unter anderem die Religionsfreiheit garantiert werden sollte. 26 Madison, der zunächst die Ausklammerung der Religionsproblematik verteidigte, fügte sich schließlich dem Druck sowohl der Bundesstaaten als auch anderer Staatsmänner und brachte noch 1879 einen Vorschlag von zwölf Verfassungsergänzungen (amendments) in das Repräsentantenhaus ein. Zehn davon wurden 1791 als „Bill of Rights" verabschiedet und erlangten anschließend die notwendige Zustimmung der einzelnen Bundesstaaten.27 Die Verbürgung der Religionsfreiheit erhielt in der Bill of Rights durch die Nennung an erster Stelle eine besonders exponierte Stellung, was ein Hinweis auf die Bedeutung sein mag, die diesem Grundrecht beigemessen wurde. Im First Amendment heißt es: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof ( . . . )" 2 8 Die im First Amendment verankerte Religionsfreiheit umfaßt danach zwei verschiedene Garantien. Die erste wird üblicherweise als „Establishment Clause", die zweite als „Free Exercise Clause" bezeichnet.29 Aufgrund der unterschiedlichen Zielrichtung der beiden Klauseln - die erste geht insbesondere auf das Verhältnis von Staat und Religion ein, die zweite gewährleistet dem einzelnen Schutz vor staatlichen Beeinträchtigungen - sollen beide im folgenden getrennt behandelt werden. Dies ist umso mehr angezeigt, als der einzelne unter der Establishment Clause - im Gegensatz zur Free Exercise Clause - keinen Nachweis für die tatsächliche Beeinträchtigung seiner Religionsfreiheit erbringen muß. Es reicht aus, wenn er geltend macht, daß ein Gesetz in unzulässiger Weise eine bestimmte Religion bevorzugt oder benachteiligt. 30 Im Verlauf der Darstellung der beiden Klauseln wird sich zeigen, daß zahlreiche Fallgestaltungen möglich sind, in denen die Klauseln miteinander in Konflikt geraten. Daher sollen auch die Wege skizziert werden, die beschritten werden, um die beiden Klauseln aufeinander abzustimmen.

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Alexander/Alexander, Public School Law, S. 114. Alexander/Alexander, Public School Law, S. 114; Brugger, Einführung, S. 5. In der Zwischenzeit sind weitere 17 Ergänzungen zur Bill of Rights hinzugekommen. 28 Im First Amendment sind darüber hinaus weitere „ Kommunikationsgrundrechte" - u. a. die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit - garantiert. Der vollständige Wortlaut des First Amendment lautet: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peacibly to assembly and to petition the Government for a redress of grievances". 29 Die Establishment und die Free Exercise Clause werden üblicherweise mit Einrichtungs- und Ausübungsklausel übersetzt. 30 Engel ν. Vitale, 370 U.S. 421,430 (1962). 27

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

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Besonderer Hervorhebung bedarf, daß aufgrund der staatlichen Kompetenzverteilung ursprünglich nur der Bundesstaat, nicht aber die Gliedstaaten an die grundrechtlichen Garantien gebunden war(en). Diese Situation änderte sich erst, als der Supreme Court auch die Gliedstaaten über die Due Process Clause des Fourteenth Amendment zur Beachtung der grundrechtlichen Garantien verpflichtete. 31 Für die Free Exercise Clause sprach der Supreme Court die Bindung erstmalig in der Entscheidung Meyer v. Nebraska aus 32 , für die Establishment Clause in Eversori ν. Board of Education. 33 Während die Verpflichtung der Gliedstaaten zur Beachtung der Free Exercise Clause allgemein akzeptiert wurde, stieß die Übertragung der Establishment Clause im Schrifttum auf erheblichen Widerstand. Wie bei der Darstellung der Establishment Clause zu sehen sein wird, 34 liegen die Gründe dafür vor allem in einem unterschiedlichen inhaltlichen Verständnis dieser Klausel. In weiten Teilen des Schrifttums wurde aus der Entstehungsgeschichte der Establishment Clause hergeleitet, daß die Verfassungsväter durch diese Absicherung den Bundesstaat gerade daran hindern wollten, in Religionsangelegenheiten Einfluß auf die konkrete Ausgestaltung in den Gliedstaaten zu nehmen.35 Darüber hinaus wurde und wird vereinzelt noch argumentiert, daß es den Gliedstaaten unbenommen sein soll, eine eigene Staatskirche zu errichten. Andere Autoren wiederum verweisen darauf, daß die Staaten über das Fourteenth Amendment nur zur Beachtung der Freiheiten des einzelnen verpflichtet seien, so daß eine Erstreckung der Establishment Clause, die sich - im Gegensatz zur Free Exercise Clause - gerade nicht auf den Schutz von Individualrechten bezieht, nicht beabsichtigt gewesen sein könne. 36 Justice Brennan, der sich mit diesen Einwänden auseinandersetzt, weist jedoch alle entschieden zurück. Seiner Ansicht nach ging es den Verfassern des Fourteenth Amendments darum, den Bürgern in den Gliedstaaten mehr Rechte zu verschaffen. Die Tatsache, daß den Gliedstaaten ursprünglich gewisse Privilegien bei der Gestaltung ihrer Religionsangelegenheiten zugestanden wurden, trete dagegen in den Hintergrund. Die Religionsfreiheit des einzelnen könne nur dann umfassend garantiert werden, wenn neben der Free Exercise Clause auch die Establishment Clause gewährleistet werde. 37 Gerade die Väter der Verfassung hielten weder die eine noch die andere Klausel für sich genommen zur Sicherung der Religionsfreiheit für ausreichend.38 Im Ergebnis sind mittlerweile sowohl die ganz überwiegende Meinung im Schrifttum als auch die Rechtsprechung des Supreme Court der Ansicht, daß die 31 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Laycock, 47 Ohio St. J. (1986), 409 (414 ff.). 32 Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390, 399 (1923). 33 Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 8 (1947) 34 Vgl. unten S. 152 ff. 35 So Bradley , 18. Connec. L. Rev. (1986), 827 (831 ff.). 36 Nachweise für diese Argumentationen finden sich bei Brennan (concurring), in: Abington v. Schempp, 374 U.S. 203, 254 ff. (1963). 37 Brennan (concurring), in: Abington v. Schempp, 374 U.S. 203, 255 f. (1963). 38 Brennan (concurring), in: Abington v. Schempp, 374 U.S. 203, 256 (1963).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

einzelnen Gliedstaaten durch die Due Process Clause des Fourteenth Amendment ebenso an die im First Amendment verankerten Rechte gebunden sind wie der Bundesstaat.39 Im übrigen hatten schon lange vor Erlaß des Fourteenth Amendment zahlreiche Staaten eine dem First Amendment entsprechende Regelung in ihre Verfassungen aufgenommen oder sich zumindest von den Prinzipien des First Amendment leiten lassen.40

A. Establishment Clause Während über lange Zeit hinweg der Establishment Clause ein vergleichsweise einheitliches Verständnis zugrunde gelegt wurde, das auf eine Trennung von Staat und Religion gerichtet war und ist, haben sich in neuerer Zeit vermehrt Stimmen auch innerhalb des Supreme Court - hervorgetan, die die bisherige Auslegung der Klausel als Verkennung bzw. Verdrehung der historischen Gegebenheiten betrachten und für ein engeres Verständnis plädieren.

I. Allgemeine Vorbemerkung zum Verständnis der Establishment Clause Die gängige Auslegung der Establishment Clause geht davon aus, daß sich die Einrichtungsklausel nicht in dem Verbot der Errichtung einer offiziellen Staatsoder zumindest staatlich unterstützten Kirche erschöpft, sondern weit darüber hinausgeht und den Erlaß solcher Gesetze verbietet „which aid one religion, aid all religions, or prefer one religion over another" 4 1 Diese Verständnis der Establishment Clause hat zu dem viel gebrauchten Zitat geführt, die Establishment Clause errichte eine „wall of seperation between church and state" 4 2 Der weiten Ausle39 So beispielsweise Dent, 61 S. Cai. L. Rev. (1988), 863 (875 f.); haycock, 47 Ohio St. L. J (1986), 409 (410 f.); Tribe, Constitutional Law, S. 1156. 40 Bezogen auf die „ Verbannung" religiöser Elemente aus öffentlichen Schulen führen die Richter Frankfurter, Jackson, Rutledge, Burton aus: „ ( . . . ) long before the Fourteenth Amendment subjected to new limitations, the prohibition of furtherance by the State of religious instruction became the guiding principle, in law and feeling, of the American people"; vgl. McCollum v. Board of Education, 333 U.S. 203, 215 (1948). 41 Everson v. Board of Education, 330 U.S. 1, 8 ff. (1947). Dort heißt es ausführlich: „Neither a state nor the Federal Government can set up a church. Neither can pass laws which aid one religion, aid all religions, or prefer one religion over another. Neither can force nor influence a person to go to or to remain away from church against his will or force him to profess a belief or disbelief in any religion. No person can be punished for entertaining or professing religious beliefs or disbeliefs, for church attendance or nonattendance. ( . . . )". Siehe zur der Auseinandersetzung im einzelnen Bradley, 18 Connec. L. Rev. (1986), 827 (829 ff.); Tribe, Constitutional Law, S. 1158 ff. 42 Diese prägnante Formulierung geht auf Jefferson zurück, der sie in einem Brief an die Danbury Baptist Association benutzte. Vom Supreme Court wird sie erstmalig in der Ent-

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

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gung der Establishment Clause wird jedoch - unter Berufung auf den Willen der Verfassungsväter - seit einiger Zeit eine wesentlich engere gegenübergestellt: Das vorrangige Anliegen der Verfassungsväter sei das Verbot der Errichtung einer Staatskirche gewesen. Darüber hinaus wollten sie (nur) verhindern, das es zwischen den einzelnen religiösen Gruppierungen zu Diskriminierungen und Ungleichbehandlungen komme. 43 Justice Brennan hat sich im Fall Abington School District ν. Schempp in einer

Anmerkung ausführlich mit den Vorstellungen der Verfassungsväter bei Schaffung der Establishment Clause auseinandergesetzt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Verfassungsväter zwar aufgrund der damaligen historischen Gegebenheiten - der Erfahrungen mit England - vor allem das Verbot der Errichtung einer Staatskirche vor Augen hatten. Dennoch lasse sich der Schutz der Establishment Clause nicht auf dieses Verbot reduzieren, da es sonst ausreichend gewesen wäre, den Verfassungstext ausdrücklich diesem Zweck anzupassen.44 Das Anliegen der Establishment Clause habe vielmehr von vornherein darin bestanden, den Staat daran zu hindern, seine Macht für rein religiöse Ziele einzusetzen. Insbesondere sollten alle Maßnahmen unterbunden werden, die dazu geeignet sind, den Glauben oder einzelne Glaubenshandlungen zu fördern oder zu verhindern. 45 „In sum, the history ( . . . ) permits little doubt that its prohibition was designed comprehensively to prevent those official involvements of religion which would tend to foster or discourage religious worship or belief 4 4 6 Brennans besonderes Interesse gilt im übrigen der verantwortungsvollen Aufgabe des Verfassungsgerichts, die verfassungsrechtlichen Gewährleistungen der sich stetig wandelnden Rechtswirklichkeit und den sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnissen anzupassen. Er konzentriert sich bei seiner Darstellung auf die Establishment Clause, um aufzuzeigen, daß es bei der Auslegung der Verfassungsscheidung Reynolds v. United States, 98 U.S. 145, 164 (1878) verwendet. Allerdings darf diese Formulierung nicht dahingehend mißverstanden werden, daß in den Vereinigten Staaten jegliche Berührung zwischen dem staatlichen und dem religiösen Bereich verboten ist: „ ( . . . ) the metaphor itself is not a wholly accurate description of the practical aspects of the relationship that in fact exists between church and state. No significant segment of our society and no institution within it can exist in a vacuum or in total or absolute isolation from all the other parts, much less from government. It has never been thought either possible or desirable to enforce a regime of total separation". Lynch v. Donelly, 465 U.S. 668, 673 (1984). 43 So Justice Rehnquist (dissenting) in: Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 98 (1985): „It seems indisputable from these glimpses of Madison's thinking, as reflected by actions on the floor of the House in 1789, that he saw the Amendment as designed to prohibit the establishment of a national religion, and perhaps to prevent discrimination among sects. He did not see it as requiring neutrality on part of government between religion and irreligion". 44 Justice Brennan (concurring), in: Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 233 (1963). 45 Justice Brennan (concurring), in: Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 234(1963). 46 Justice Brennan (concurring), in: Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 234(1963).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

garantien nicht so sehr darauf ankommt, den Schwerpunkt auf die Zielsetzung der von den Verfassungsvätern entworfenen Garantie zu legen. Entscheidend sei vielmehr die Frage, welche Konsequenzen die Verfassungsbestimmung verhindern wollte. An diesem Grundgedanken sei die Auslegung auszurichten: 47 „But an awareness of history and an appreciation of the aims of the Founding Fathers do not always resolve concrete problems. ( . . . ) A more fruitful inquiry, it seems to me, is whether the practices here challenged threaten those consequences which the Framers deeply feared ( . . . )." 4 8 Das Bewußtsein um die damaligen historischen Gegebenheiten sowie die Betrachtung der Ziele der Verfassungsväter soll nicht ausreichen, um alle anstehenden Fragestellungen angemessen lösen zu können. Viele Fragen ließen sich bei alleiniger Berücksichtigung dieser Aspekte aufgrund sich wandelnder gesellschaftlicher Verhältnisse nicht beantworten. Die entscheidende Aufgabe sei es „to translate ,the majestic generalities of the Bill of Rights, conceived as part of the pattern of liberal government in the eighteenth century, into concrete restraints on officials dealing with the problems of the twentieth century Der von Brennan behandelte Fall bietet für die Anwendung seiner Auslegungsmethode ein hervorragendes Beispiel. In dem Fall geht es um die Frage, inwieweit vom Verbot der „establishment of religion" auch religiöse Übungen in Schulen erfaßt werden. Zur Zeit der Verabschiedung der Verfassung konnte diese Frage nicht Gegenstand der Überlegungen der Verfassungsväter sein, da die schulische Erziehung nahezu ausschließlich in privaten - und zwar zum ganz überwiegenden Teil in kirchlichen - Händen lag. Auch zeichneten sich die Vereinigten Staaten zum damaligen Zeitpunkt bei weitem noch nicht durch die heutige religiöse Pluralität aus. Zwar gab es Unterschiede zwischen den einzelnen protestantischen Sekten. Trotz allem bestand aber eine relative Homogenität, so daß sich eine Diskussion über religiöse Übungen an öffentlichen Schulen nicht in der heutigen Schärfe zugespitzt hätte. Mit Einführung eines flächendeckenden öffentlichen Schulwesens, begleitet von der Festsetzung der Schulpflicht und verbunden mit der immer weiter steigenden religiösen Vielfalt, bot sich den Richtern eine veränderte gesellschaftliche Situation dar, auf die die Garantie des First Amendment anzuwenden war. 50 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß sowohl Justice Brennan - trotz seiner ausführlichen historischen Analyse - als auch die Mehrheit des Supreme Court ein weites Verständnis der Establishment Clause befürworten. Diese weite Auslegung wird auch der folgenden Darstellung zugrunde gelegt.

47

Justice Brennan (concurring), in: Abington v. Schempp, 374 U.S. 203, 230 ff. (1963). Justice Brennan (concurring), in: Abington v. Schempp, 374 U.S. 203, 234 f. (1963). 49 Justice Brennan (concurring), in: Abington School District ν. Schempp, 374 U.S. 203, 236 f. (1963). 50 Vgl. hierzu die Ausführungen Brennans (concurring), in: Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 237 ff. (1963). 48

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

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II. Anwendung der Establishment Clause in der Rechtsprechung des Supreme Court Verbietet die Establishment Clause alle Gesetze, „which aid one religion, aid all religions, or prefer one religion over another", stellt sich die Frage, wann ein derartiges religionsförderndes staatliches Bestreben anzunehmen ist. Obwohl diese Frage den Supreme Court von Beginn beschäftigte, wurde erst 1971 in der Entscheidung Lemon v. Kurtzman ein Standard formuliert: der - nach der Entscheidung benannte - sog. Lemon Test.51 Danach ist eine staatliche Maßnahme mit der Establishment Clause zu vereinbaren, wenn - kumulativ - die Regelung (1) einen säkularen Zweck (purpose) verfolgt, (2) die Hauptwirkung der Regelung weder in der Förderung noch Hinderung der Religion besteht und (3) die Regelung keine übermäßige Verquickung von Staat und Kirche nach sich zieht. 52 Der Lemon Test ist trotz einiger wiederholt vermerkter Schwächen den meisten Entscheidungen zur Establishment Clause zugrundegelegt worden. In die Diskussion gerieten die Kriterien des Lemon Tests allerdings erneut 1985 durch Justice O'Connor. Diese modifiziert die ersten beiden Kriterien des Lemon Tests, ohne sich jedoch vollständig vom ursprünglichen Standard zu verabschieden.53 Auch der Supreme Court hat bislang im Grundsatz am Lemon Test festgehalten, so daß zunächst auf diesen eingegangen werden soll, bevor seine Modifizierungen und Konkretisierungen näher dargestellt werden. 54

7. Der Lemon Test

Mit Blick auf die Kriterien des Lemon Tests gilt es sich zunächst zu vergegenwärtigen, daß der Supreme Court bei der Frage, inwieweit staatliche Maßnahmen religionsfördernde bzw. behindernde Tendenzen in sich tragen, stets den Wandel der Zeit mit berücksichtigt. Was in früheren Jahrzehnten als eindeutige religiöse 51 Lemon ν. Kurtzman, 403 U.S. 602, 613 f. (1971). Allerdings ist zu vermerken, daß der Lemon Test keineswegs aus dem „Nichts" entstand. Die ersten beiden Kriterien kristallisierten sich bereits in früheren Entscheidungen, insbesondere in Abington v. Schempp (374 U.S. 203 ff. [1963]), heraus. Schon dort führte das Gericht aus: „The test may be stated as follows: what are the purpose and the effect of the enactment? If either is the advancement or inhibition of religion then the enactment exeeds the scope of legislative power as circumscribed by the Constitution. That is to say that to withstand the structures of the Establishment Clause there must be a secular purpose and a primary effect that neither advances nor inhibits religion" (a. a. O., S. 222). 52 Lemon v. Kurtzman, 403 U.S. 602, 613 f. (1971): „First the statute must have a secular legislative purpose; second, its principal or primary effect must be one that neither advances nor inhibits religion ( . . . ) ; finally, the statute must not foster ,an excessive government entanglement with religion'". 53 Vgl. die Ausführungen von Justice O'Connor in: Wallace v. Jaffree, 482 U.S. 38, 69 (1985). 54 Näher dazu sogleich unten S. 157 ff.

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Pflicht angesehen wurde, kann heute seinen Charakter derart gewandelt haben, daß es als legitime Zielsetzung des Staates einzustufen ist. Als prägnantes Beispiel werden in diesem Zusammenhang immer wieder die Ladenschlußgesetze genannt, die eine Geschäftsöffnung am Sonntag unter Verbot stellen. Waren diese Regelungen ursprünglich Ausdruck der Befolgung des 10. Gebots, werden sie heute von diesem religiösen Zweck gelöst und als legitimes staatliches Interesse gewertet, für seine Bürger einen allgemeinen Ruhetag festzulegen. 55

a) Secular Purpose Der Begriff des säkularen Zwecks wird vom Supreme Court weit interpretiert. Eine staatliche Maßnahme soll nicht bereits dann gegen dieses Erfordernis verstoßen, wenn sie einen religiösen Ursprung hat oder zufälligerweise mit einer religiösen Praxis koinzidiert, da ansonsten beinahe jede staatliche Maßnahme problematisch wäre. 56 Danach soll insbesondere nicht erforderlich sein, daß die staatliche Maßnahme einen ausschließlich säkularen Zweck aufweist. 57

b) Secular Effect Darüber hinaus soll eine staatliche Maßnahme nicht mit der Establishment Clause zu vereinbaren sein, wenn ihre Hauptwirkung in der Förderung oder Hinderung einer oder mehrerer Religionen besteht. Im Laufe der Zeit haben sich bestimmte Kriterien herausgebildet, bei deren Vorliegen die Unvereinbarkeit mit der Establishment Clause von vornherein feststehen soll. Ein Verstoß wird ohne weiteres angenommen, wenn (1) die staatliche Maßnahme zwischen einzelnen Konfessionen Unterscheidungen trifft, sofern sie sich nicht ausnahmsweise darum bemüht, übermäßige Härten bei der Ausübung der individuellen Religionsfreiheit für die Angehörigen einer bestimmten religiösen Gruppierung auszugleichen, (2) der 55 Dazu insbesondere McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420, 433 ff. (1961). Kurze Zeit später wurde diese Auffassung in Braunfeld v. Brown (366 U.S. 599, 602 f. [1961]) nochmals bestätigt. In dieser Entscheidung betont der Supreme Court unter Bezugnahme auf die Vorgängerentscheidung abermals den Werdegang der Regelung von der ursprünglichen Befolgung eines religiösen Gebots hin zu einer staatlichen Fürsorgeaufgabe gegenüber seinen Bürgern: „We also took cognizance in McGowan, of the evolution of Sunday Closing Laws from wholly religious sanctions to legislation concerned with the establishment of a day of community tranquillity, respite and recreation ( . . . )". 56 Vgl. dazu nur McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420, 442 (1961); Lynch v. Donelly, 465 U.S. 668, 680 (1984); Justice Powell (concurring), in: Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 64 (1985). 57 So u. a. in Engel v. Vitale, 370 U.S. 421, 424 f. (1962); Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 223 f. (1963); Epperson v. Arkansas, 393 U.S. 97, 107 ff. (1968); Stone v. Graham, 449 U.S. 39, 41 (1980); Lynch v. Donelly, 465 U.S. 668, 680 (1984); Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 56 (1985).

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

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Staat hoheitliche Befugnisse auf religiöse Gruppierungen überträgt, oder (3) der Staat seine Legitimität aus religiösen Quellen herleitet. 58 Die überwiegende Zahl der staatlichen Maßnahmen verstößt nicht unmittelbar gegen eines der drei vorstehend aufgelisteten Kriterien. Daher ist im Regelfall eine Abwägung zwischen den religiösen und den säkularen Elementen einer Maßnahme vorzunehmen, um auf diesem Wege herauszufinden, welche Seite dominiert. In seiner frühen Rechtsprechung differenzierte der Supreme Court zwischen den Haupt- und den Nebenwirkungen einer Maßnahme und nahm einen Verstoß gegen die Establishment Clause an, wenn die Hauptwirkung einer Maßnahme in der Förderung oder Hinderung einer Religion bestand. In späteren Jahren verabschiedete sich der Supreme Court von dieser Unterscheidung und ging - obgleich der Name „primary secular effect" beibehalten wurde - dazu über, zwischen Maßnahmen zu unterscheiden, die direkte und unmittelbare, und solchen, die nur entfernte, unbeabsichtigte oder indirekte Auswirkungen auf eine Religion haben. Nur erstere sollen mit der Establishment Clause unvereinbar sein. c) Entanglement Test Auch wenn eine staatliche Maßnahme eindeutig einen säkularen Zweck verfolgt und keine unmittelbaren Auswirkungen auf eine Religion entfaltet, verbleibt die Möglichkeit, daß die staatliche Maßnahme eine übermäßige Verzahnung von Staat und Kirche nach sich zieht. Dies ist Inhalt des dritten Kriteriums des Lemon Tests, das die Bezeichnung Entanglement Test trägt. Dieser dritte Prüfungspunkt hat allerdings in späteren Entscheidungen zunehmend an Bedeutung verloren. Das Verbot einer übermäßigen Verquickung von Staat und Kirche wurde nicht mehr als bindend, sondern nur noch als „richtungsweisend" („signpost") betrachtet. 59 2. Endorsement Test

Der Endorsement Test geht - wie bereits erwähnt - auf Justice O'Connor zurück. Ohne den Lemon Test grundweg abzulehnen, ist sie der Ansicht, daß dieser Test einiger Modifikationen bedarf, um dem Grundgedanken des First Amendment besser Ausdruck zu verleihen und die unzulässigen religionsfördernden Maßnahmen des Staates besser einzugrenzen. Erstmals formulierte O'Connor ihre Ansicht in der abweichenden Meinung zu Lynch v. Donelly, später erneut in Wallace ν. Jaffree. 60 In der zuletzt genannten Entscheidung erhielt ihr Ansatz mit dem Namen Endorsement Test eine eigene Bezeichnung.61 Nachdem O'Connor den Endorsees Vgl. hierzu die Ausführungen von Tribe, Constitutional Law, S. 1214. 59 So in Mueller ν. Allen, 463 U.S. 388,443 (1983). 60 Justice O'Connor (concurring), in: Lynch v. Donelly, 465 U.S. 668, 687 ff. (1984); Justice O'Connor (concurring), in: Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 67 ff. (1985). 61 Wallace v. Jaffree, 482 U.S. 38, 69 (1985).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

ment Test in weiteren Entscheidungen stets von neuem als Verbesserung des Lemon Tests angepriesen hatte,62 geriet er zunehmend in den Blick des (gesamten) Supreme Court und wurde vom Gericht schließlich der Entscheidung Edwards v. Aguillard zugrundegelegt. Allerdings hat der Endorsement Test nicht die uneingeschränkte Zustimmung aller Richter des Supreme Court gefunden. Mehrere Richter sprachen sich dezidiert dagegen aus 6 3 Insofern kann (noch) nicht davon gesprochen werden, daß der Endorsement Test den Lemon Test substituiert hätte. Im Schrifttum hat der Endorsement Test jedoch - wie noch zu sehen sein wird ganz überwiegend Zustimmung gefunden. 64 Justice O'Connor geht davon aus, daß die Establishment Clause verletzt sei, wenn der Staat die Zugehörigkeit zu einer Religion zum Anknüpfungspunkt für den Status einer Person in der politischen Gemeinschaft mache.65 Daher sollen auch jene staatlichen Maßnahmen, die eine bestimmte Religion oder religiöse Übung billigen, unzulässig sein, da sie den Andersdenkenden den Eindruck vermitteln, daß sie nicht in gleicher Weise voll akzeptierte Mitglieder der politischen Gemeinschaft seien.66 O'Connor schlägt vor diesem Hintergrund vor, die ersten beiden Kriterien des Lemon Tests zu modifizieren: Der erste Punkt soll dahingehend abgewandelt werden, daß der Staat mit seinen Handlungen nicht die Absicht verfolgen darf, eine Religion bzw. religiöse Handlung zu billigen bzw. zu mißbilligen. Das zweite Kriterium soll sicherstellen, daß staatliche Maßnahmen nicht den Eindruck erwecken, der Staat billige bzw. mißbillige eine Religion oder religiöse Handlung.67 Nach Ansicht O'Connors soll eine Regelung bereits dann unzulässig sein, wenn keine Zweifel daran bestehen, daß der Grund für die Regelung in der Förderung der Religion oder eines bestimmten religiösen Glaubens liegt. 68 Zur Begründung ihrer Konzeption benennt O'Connor zwei Punkte, in denen der Endorsement Test dem Lemon Test überlegen sein soll. Zum einen gelinge es dem Endorsement Test, mit Fallgestaltungen umzugehen, in denen die staatliche Maßnahme zwar einen säkularen Zweck verfolgt, jedoch ganz überwiegend religions62 Vgl. Estate of Thornton v. Caldor, Inc., 472 U.S. 703 ff. (1985); Corporation of Presiding Bishop of the Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints v. Amos, 483 U.S. 327, 346 ff. (1987). 63 So warnt Justice Powell gleich in der Entscheidung Jaffree v. Wallace davor, von einem über eine Vielzahl von Fällen hinweg akzeptierten Standard abzuweichen (472 U.S. 38, 63 f. [1985]). Justice Kennedy will wiederum nicht erkennen können, inwiefern der Endorsement Test dem Lemon Test überlegen sein soll (in: Board of Education of Westside Community Schools ν. Mergens den Endorsement Test 496 U.S. 226, 261[1990]). 64 Vgl. unten S. 159 ff. 65 Justice O'Connor (concurring), in: Lynch v. Donelly, 465 U.S. 668, 687 (1984); Justice O'Connor (concurring), in: Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 69 (1985). 66 Justice O'Connor (concurring), in: Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 69 (1985). 67 Justice O'Connor (concurring), in: Lynch v. Donelly, 465 U.S. 668, 688 ff. (1984); in diesem Sinne auch Justice O'Connor (concurring), in: Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 69 (1985). 68 Wallace v. Jaffree, 472 U.S. 38, 75 (1985).

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fördernde oder -hindernde Auswirkungen besitzt. Als prägnantes Beispiel benennt O'Connor den Erlaß von Strafgesetzen, die Mord unter Strafe stellen, zugleich aber zufälligerweise mit dem 10. Gebot koinzidieren. 69 Zum anderen ermögliche es der Endorsement Test, einen Ausgleich zwischen den Anforderungen der Establishment und der Free Exercise Clause herzustellen. Der Lemon Test könne nicht rechtfertigen, warum staatliche Maßnahmen, die den Free-Exercise-Rechten zur angemessenen Geltung verhelfen, gleichwohl mit der Establishment-Clause vereinbar sein können. Es sei unmöglich nach einem säkularen Zweck zu suchen, wenn sich die Vorschrift ganz gezielt dafür einsetze, staatlich bedingte Hürden bei der Ausübung der Free Exercise-Rechte zu beseitigen.70 Der Endorsement Test hingegen ermögliche dem Staat im Grundsatz, die Existenz von Religion anzuerkennen und sie bei der Gestaltung der Gesetze und der Politik zu berücksichtigen. Der Staat verstoße erst dann gegen die Establishment Clause, wenn er bei seinem Vorgehen die Religion insgesamt oder einen bestimmten Glauben favorisiere oder zumindest versuche, sie zu favorisieren. Inwieweit eine staatliche Maßnahme tatsächlich nur die Hürden bei der Ausübung der Free Exercise-Rechte beseitigt oder doch womöglich eine Religion oder eine religiöse Übung in unzulässiger Weise fördert, soll nach dem Urteil eines (fiktiven) voll informierten objektiven Dritten entschieden werden. 71

III. Schrifttum Der vom Supreme Court über lange Zeit hinweg favorisierte und noch immer nicht völlig verabschiedete Lemon Test bot und bietet auch dem Schrifttum immer wieder Anlaß für kritische Auseinandersetzungen.72 Weit weniger umstritten ist hingegen der von Justice O'Connor vorgeschlagene Endorsement Test, obwohl auch dieser nicht kritiklos hingenommen wird. 73 Bemerkenswerterweise beläßt es 69 Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 70 (1985). 70 Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 81 ff. (1985). 71 Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 76, 83 (1985). 72 Siehe dazu unter anderem Laycock, 47 Ohio St. L. J. (1986), 409 (450); Mansfield , 72 Calif. L. Rev. (1984), 847 (848); McCoy/Kurtz, 39 Vand. L. Rev. (1986), 249 (252); Paulsen , 61 Notre Dame L. Rev. (1986), 311 (315); Smith, 86 Mich. L. Rev. (1987), 266 (269). 73 Sehr ausführlich setzen sich u. a. Beschle (62 Notre Dame L. Rev. [1987], 151 ff.), Loewy (N.C. L. Rev. [1986] 1049 ff.) und Marshall (59 S. Calif. L. Rev. [1986] 495 ff.) mit dem Endorsement Test auseinander. Der Vorschlag O'Connors trifft bei ihnen - trotz kleinerer Modifikationen - auf große Zustimmung. Wenngleich nicht mit demselben Begründungsaufwand stimmen dem Endorsement-Test ferner zu: Note, Harv. L. Rev. (1987), 1607 (1647); Bradley, 1986 Duke L. J. 1, 55; Dellinger, 95 Yale L. J. (1986), 1631 (1638); McCoy /Kurtz, 39 Vand. L. Rev. (1986), 249 (257); Paulsen, 61 Notre Dame L. Rev. (1986), 311 (352); Smith, 37 Ala. L. Rev. (1986), 345 (367); Strossen, 47 Ohio St. L. J. (1986), 333 (361). Kritisch beurteilt den Endorsement Test insbesondere Smith, 86 Mich. L. Rev. (1987), 266 ff.

160

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

das Schrifttum im Regelfall bei der Kritik, in den seltensten Fällen werden konstruktive Vorschläge gemacht, wie man auf besserem Wege ermitteln könne, ob ein Gesetz religionsfördernde oder -hindernde Tendenzen in sich trägt.

7. Kritik des Schrifttums

am Lemon Test

Das Schrifttum, das bereits frühzeitig einzelne Kritikpunkte am Lemon Test benannt hatte, stimmt inhaltlich in wesentlichen Punkten mit jenen Argumenten O'Connors überein, die als Begründung für den Wandel des Lemon Tests hin zum Endorsement Tests vorgebracht werden. Hauptanknüpfungspunkt für die Kritiker ist vor allem das erste Prüfungskriterium, die Verfolgung eines säkularen Zwecks. Gegen dieses erste Kriterium des Lemon Tests wird vorgebracht, daß es keine klaren Grenzziehungen vornehme, insbesondere nicht hinreichend deutlich herausarbeite, wann der religiöse Zweck einer Maßnahme derart überwiegt, daß trotz zugleich vorhandener säkularer Ziele ein Verstoß gegen die Establishment Clause anzunehmen sei. 74 Darüber hinaus stelle der Lemon Test nicht ausreichend klar, auf welche Ansichten bei der Beurteilung abgestellt werden soll, ob hinter der staatlichen Maßnahme überwiegend religionsfördernde oder -hindernde Bestrebungen stehen: auf die subjektive Auffassung der am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten oder auf die Bewertung durch außenstehende Dritte. 75 Stelle man auf die subjektiven Ansichten der am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten ab, trage dies die Gefahr in sich, daß äußerlich rein säkulare Gesetze allein wegen der eventuell dahinterstehenden Motivation zu Fall gebracht werden könnten. Aufgrund einer entsprechenden Motivation der am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten wären auch alle jene Regelungen unzulässig, die gezielt den Versuch unternehmen, übermäßige Härten bei der Ausübung der Free Exercise-Rechte - der individuellen Religionsfreiheit - auszugleichen.76 Schließlich wird darauf verwiesen, daß sich der Lemon Test auch dadurch selbst ins Abseits gestellt habe, daß der Supreme Court das Entanglement-Kriterium, das eine übermäßige Verzahnung von Staat und Religion unterbinden soll, nicht mehr als verpflichtendes Gebot betrachte, sondern zu einem bloßen „Richtungsgeber" herabgestuft habe. Die ganz überwiegende Mehrheit im Schrifttum geht davon aus, daß die von Justice O'Connor vorgeschlagene Modifikation hin zum Endorsement Test besser geeignet ist, dem Gedanken der Establishment Clause Rechnung zu tragen. Dabei wird immer wieder betont, daß nur der Endorsement Test erklären könne, warum jene staatlichen Maßnahmen, die ganz bewußt Härten für den einzelnen bei der 74 So Johnson, 72 Cai. L. Rev. (1984), 817 (827 f.). 75 So beispielsweise Scalia /Rehnquist, in: Edwards v. Aguillard, 482 U.S. 578, 636 (1987). 76 Vgl. dazu die Aussage von Scalia/Rehnquist, in: Edwards v. Aguillard, 482 U.S. 578, 617 (1987): „We have not yet come close to reconciling Lemon and our Free Exercise cases, and typically we do not really try".

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

161

Ausübung der Free Exercise-Rechte abzuschwächen versuchen, mit der Establishment Clause vereinbar sind. 77 Dennoch hat - wie eingangs erwähnt - auch der Endorsement Test seine Kritiker gefunden. 78

2. Kritik des Schrifttums

am Endorsement Test

Von seinen Kritikern wird dem Endorsement Test zunächst entgegengehalten, daß er nicht hinreichend deutlich herausarbeite, wann der Staat in unzulässiger Weise eine Religion oder religiöse Übung billigt bzw. mißbilligt. 79 Hinzu komme, daß die Rechtsprechung des Supreme Court stets soweit wie möglich davon Abstand genommen habe, die hinter einer staatlichen Maßnahme stehende Absicht zu erforschen. Gerade wenn an einer staatlichen Maßnahme - wie am Erlaß eines Gesetzes - mehrere Personen beteiligt sind, sei es kaum möglich, eine zuverlässige Aussage über die damit verfolgte Absicht zu erzielen. 80 Über diese Kritikpunkte hinaus wird dem Endorsement Test vorgehalten, sein zweites Kriterium - die Frage, ob die staatliche Maßnahme den Eindruck erweckt, eine Religion oder religiöse Übung zu billigen bzw. zu mißbilligen - besitze keinen zusätzlichen Erkenntniswert. Die Anhaltspunkte, die der (fiktive) außenstehende, voll informierte objektive Dritte zur Beurteilung des Sachverhalts erhalte, stünden nicht per se fest, sondern variierten von Anwender zu Anwender und lieferten damit kein neutrales, unbeeinflußtes Ergebnis. 81 Insgesamt sind kritische Äußerungen über den Endorsement Test aber die Ausnahme. Die ganz überwiegende Mehrheit des Schrifttums betrachtet den Endorsement Test als sinnvolle und lobenswerte Fortentwicklung des Lemon Tests.

B. Free Exercise Clause I. Die Free Exercise Clause in der Rechtsprechung des Supreme Court Die Free Exercise Clause schützt von ihrem Grundansatz her die individuelle Religionsfreiheit des einzelnen vor staatlichen Beeinträchtigungen. In seiner Entscheidung Abington v. Schempp hat der Supreme Court die Garantie prägnant zusammengefaßt. Die Free Exercise Clause „recognizes the value of religious trai77

Vgl. hierzu die Ausführungen bei Tribe , Constitutional Law, S. 1228. Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen von Smith, 86 Mich. L. Rev. (1987) 266 ff. und Beschle, Notre Dame L. Rev. (1987), 151 (175 ff.). ™ So Smith, 86 Mich. L. Rev. (1987), 266 (276 ff.). Vgl. zur Kritik am Endorsement Test auch Tushnet, 18 Connec. L. Rev. (1986), 701 (711 f.). so Vgl. Smith, 86 Mich. L. Rev. (1987), 266 (283 ff.), si In diesem Sinne Smith, 86 Mich. L. Rev. (1987), 266 (292 ff.). 78

11 Rathke

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

ning, teaching and observance and more particularly, the right of every person to freely choose his own course with reference thereto, free of any compulsion from the state". 82 Die Klausel soll den einzelnen danach vor staatlichen Zwangsmaßnahmen schützen. Sie bewahrt ihn allerdings nicht vor jeglicher Konfrontation mit anderen religiösen Ansichten und Einstellungen.83 Auch verleiht sie dem einzelnen nicht das Recht, unter Berufung auf die Religionsfreiheit interne staatliche Vorgänge zu beeinflussen. 84

1. Entwicklung der Free Exercise Clause

In seiner frühen Rechtsprechung hatte der Supreme Court nur das Innehaben eines Glaubens als uneingeschränkt geschützt, die staatliche Reglementierung religiösen Handelns hingegen nicht als Beeinträchtigung der Free Exercise Clause angesehen.85 In der Literatur stieß die Entscheidung von Beginn an auf Widerspruch. Dem Supreme Court wurde entgegengehalten, daß für den Gläubigen nicht nur das Innehaben des Glaubens, sondern auch das Handeln entsprechend den religiösen Geboten eine zentrale Rolle spiele und eine oftmals nicht zu trennende Einheit bilde. 86 Der Schutz des Glaubens sei aber nur dann vollständig gewährleistet, wenn auch die Religionsausübung in den Schutzbereich der Free Exercise Clause einbezogen werde. 87 Der Supreme Court erkannte das bestehende Defizit und erstreckte den Schutz der Free Exercise Clause in der Entscheidung Cantwell v. Connecticut 88 auch auf die Religionsausübung, unterschied beim Schutzumfang jedoch weiterhin zwischen dem Innehaben des Glaubens und der Religionsausübung. Während das Innehaben des Glaubens uneingeschränkt gewährleistet wurde, sollte die Religionsausübung Einschränkungen zugänglich sein: „Conduct remains subject to regulation for the protection of society". 89 Dem Wortlaut der Free Exercise Clause lassen sich allerdings keinerlei Anhaltspunkte für ein solches unterschiedliches Schutzniveau entnehmen. Da die Vorgabe, zwischen dem Innehaben des Glaubens und der Religionsausübung mit Blick auf den Schutzumfang zu unterscheiden, zudem aus einer Zeit stammte, in der die Berührungspunkte zwischen dem einzelnen und dem Staat begrenzt waren, konnte sie auf Dauer keinen Bestand haben. Mit der wachsenden Übernahme gesellschaftlicher Aufgaben durch den Staat sowie den dadurch bedingten Konfliktherden zwischen einzelnem und Staat wurde 82 83 84 85 86 87 88 89

Abington v. Schempp, 374 U.S. 203, 222 (1963). Edwards v. Aguillard, 482 U.S. 578 (1987); Epperson ν. Arkansas 393 U.S. 97 (1968). Tribe, Constitutional Law, S. 1243. Reynolds v. United States, 98 U.S. (8 Otto) 145 (1878). Vgl. die Ausführungen bei Salmons, 62 U. Chi. L. Rev. (1995), 1243 (1261). Dazu Salmons, 62 U. Chi. L. Rev. (1995), 1243 (1246). 310 U.S. 296 ff. (1940). Cantwell v. Connecticut, 310 U.S. 296, 303 f. (1940).

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

163

auch die Religionsausübung umfassend dem Schutz der Free Exercise Clause unterstellt. 90 Im Gegensatz zum „bloßen" Innehaben des Glaubens tritt die Religionsausübung in eine Wechselbeziehung zur Umwelt. In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle gerät sie in Konflikt mit einer staatlichen Anordnung, durch die die Religionsausübung erschwert oder vereitelt wird. Betroffene begehren regelmäßig unter Berufung auf das First Amendment eine entsprechende Freistellung. Gerade für diese Fallgestaltungen hat der Supreme Court im Laufe seiner Rechtsprechung einen weiteren Test - den sog. compelling interest test - entwickelt, anhand dessen er bemißt, ob eine Freistellung von der staatlichen Anordnung zu gewähren ist. Der Test stellt in einem ersten Schritt darauf ab, ob der Kläger den Nachweis dafür erbringen kann, daß er tatsächlich einen bestimmten religiösen Glauben innehat. An diese Prüfung schließt sich in einem zweiten Schritt die Beurteilung an, welcher Grad an Unvereinbarkeit zwischen dem Glauben sowie dessen Anforderungen einerseits und der staatlichen Anforderung andererseits besteht.

2. Der Compelling Interest Test in der Rechtsprechung des Supreme Court

Um zu entscheiden, in welchen Fällen aus religiösen Gründen eine Ausnahme von der Einhaltung gewisser Gesetze oder Regelungen zu gewähren ist, hatte der Supreme Court zunächst danach differenziert, ob ihre Befolgung nur eine indirekte oder eine direkte Belastung für den Glauben bedeutete 9 1 Indirekte Beeinträchtigungen sollten nur dann verfassungswidrig sein, wenn der Staat sein säkulares Ziel auf eine andere Art und Weise erreichen konnte, die den Glauben nicht in dem selben Maße beeinträchtigte. 92 Diese ursprüngliche Differenzierung wurde in der Entscheidung Sherbert v. Verner 93 aufgegeben. Seither soll in jedem Fall, in dem die Religionsfreiheit - direkt oder indirekt - betroffen ist, eine detaillierte Prüfung vorgenommen werden, ob ein zwingendes staatliches Interesse (compelling state interest) an der Aufrechterhaltung der Regelung besteht und keine mildere Regelung zur Erreichung dieses staatlichen Interesses denkbar ist (sog. Compelling Interest Test). Obwohl der in Sherbert beschrittene Weg in weiteren Entscheidungen ausdrücklich bestätigt wurde, 94 ist der Compelling Interest Test in vielen Fällen nicht mehr 90 Sherbert v. Verner, 374 U.S. 398, 403 (1963); Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205, 215 (1972). In diesen Entscheidungen legt der Supreme Court fest, daß Beschränkungen der Religionsausübung durch den Staat nur dann zu rechtfertigen sind, wenn ein zwingendes staatliches Interesse nachgewiesen werden kann. Vgl. zum Ganzen auch die Ausführungen bei Salmons, 62 U. Chi. L. Rev. (1995), 1243 (1246 ff.). 91 Braunfled v. Brown, 366 U.S. 599, 606 (1961). 92 Braunfled v. Brown, 366 U.S. 599, 607 (1961). 93 374 U.S. 398 ff. (1963). 11*

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

als ein bloßes Lippenbekenntnis geblieben. In den relevanten Entscheidungen wurde zwar stets auf den in Sherbert begründeten Standard verwiesen. Im Ergebnis wird jedoch kein zwingendes staatliches Interesse zur Rechtfertigung der Belastung der individuellen Religionsfreiheit verlangt. Der Supreme Court begnügt sich vielmehr mit einem einfachen, schlichten staatlichen Interesse. 95 Lediglich in der Entscheidung Wisconsin v. Yoder 96 wendet das Supreme Court den Compelling Interest Test in seiner ursprünglichen Rigidität an 9 7 Die im übrigen laxe Handhabung des Tests ist einer der Hauptanknüpfungspunkte für die Kritik des Schrifttums an diesem Maßstab.

3. Rückzug vom Compelling Interest Test

Im Jahre 1990 wurde der Anwendungsbereich des Compelling Interest Test vom Supreme Court erheblich eingeschränkt. In der Entscheidung Employment Division, Department of Human Ressources of Oregon v. Smith 9S erklärt der Supreme

Court die im Fall Sherbert entwickelten qualifizierten Anforderungen zur Rechtfertigung der - direkten wie indirekten - Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit in den Fällen für nicht anwendbar, in denen die Beeinträchtigung durch ein allgemeingültiges, religionsneutrales Gesetz geschieht. Der Supreme Court lehnt es in dieser Entscheidung ab, den einzelnen auch bei religionsneutralen Gesetzen stets dann freizustellen, wenn es dem Staat nicht gelingt, ein zwingendes staatliches Interesse an der Aufrechterhaltung der Regelung nachzuweisen.99

4. Erlaß des Religion Freedom Restoration Act von 1993 I m Anschluß an die Entscheidung Employment Division, Department of Human

Ressources of Oregon v. Smith 100 bestand allgemeine Unsicherheit darüber, ob der Supreme Court den in Sherbert entwickelten qualifizierten Prüfungsmaßstab bei Beeinträchtigungen der Free Exercise Clause ein für allemal verabschiedet hatte. 94 Sherbert v. Verner 374 U.S. 398, 403/406 f. (1963). Der im Fall Sherbert eingeschlagene Weg wurde in weiteren Entscheidungen bestätigt, vgl. u. a. Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205, 214 f./221 (1972); Thomas v. Review Board of the Indiana Employment Sec. Div., 450 U.S. 707, 718 (1981); United States v. Lee, 455 U.S. 252, 257 (1982); Hobbie v. Unemployment Appeals Compensation Commission of Florida, 480 U.S. 136, 141 (1987); Frazee v. Illinois Department of Employment Security, 498 U.S. 829, 836 (1989). 95 Vgl. dazu Eisgruber/ Sager, 61 U. Chi. L. Rev. (1994), 1245 (1246): „Everywhere else there where strong indications that the Court could not in fact live with the broad dictum of Sherbert 96 406 U.S. 205 (1972). 97 406 U.S. 205, 221 ff. (1972). 98 494 U.S. 872 ff. (1990). 99 494 U.S. 872, 878 f. (1990). 100 494 U.S. 872 ff. (1990).

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Dieser Unsicherheit wurde mit Erlaß des Religion Freedom Restoration Act von 1 9 9 3 1 0 1 , der in beiden Häusern des Kongresses mit überwältigender Mehrheit verabschiedet w u r d e , 1 0 2 ein Ende gesetzt. In diesem „ A c t to protect the free exercise of religion" stellt der Gesetzgeber klar, daß der in Sherbert aufgestellte Standard allen Free Exercise-Entscheidungen bei jeder wesentlichen Beeinträchtigung der Religionsfreiheit zugrunde zu legen ist. Die entscheidende Regelung lautet: See. 2. Congressional Findings and Declaration of Purposes Findings. - The Congressfinds that (...) (3) government should not substantially burden religious exercise without compelling justification; (4) in Employment Division v. Smith, 494 U.S. 872 (1990) the Supreme Court virtually eliminated the requirement that the government justify burdens on religious exercise imposed by laws neutral toward religion; and (5) the compelling state interest test as set forth in prior Federal court rulings is a workable test for striking sensible balances between religious liberty and competing prior governmental interests. Purposes - the purposes of this Act are: (1) to restore the compelling interest test as set forth in Sherbert v. Verner, 374 U.S. 398 (1963) and Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205 (1972) and to guarantee its application in all cases where free exercise of religion is substantially burdened; (...r Darüber hinaus legt der Religious Freedom Restoration Act fest, daß die Religionsausübung auch dann nicht ohne den Compelling Interest Test eingeschränkt werden kann, wenn die Beeinträchtigung durch ein allgemeingültiges, religionsneutrales Gesetz bewirkt wird: See. 3. Free Exercise of Religion Protected (a) In General. - Government shall not substantially burden a person's exercise of religion even if the burden results from a rule general applicability, except as provided in subsection (b). (b) Exception. - Government may substantially burden a person's exercise of religion only if it demonstrates that application of the burden to the person (1) is in furtherance of a compelling governmental interest; and (2) is the least restrictive means of furthering that compelling governmental interest.

101 42 USC 2000bb. 102 Eisgruber/Sager, 61 U. Chi. L. Rev. (1994), 1245 (1249 f.) sowie Fußn. 18 (1994) unter Verweis auf 139 Cong. Ree. Η. 2356-03 (May 11, 1993); 139 Cong. Ree. S. 14471 (Oct. 27, 1993). 103 42 USC 2000bb. 104 42 USC 2000bb-l.

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Der Supreme Court hat zu der Neuregelung bisher nicht Stellung genommen. Das Anliegen des Gesetzgebers, die bestehende Unsicherheit auszuräumen, scheint aber zunächst erreicht worden zu sein.

II. Kritik des Schrifttums an der Rechtsprechung des Supreme Court Die Kritik des Schrifttums am Umgang des Supreme Court mit der Free Exercise Clause setzt im wesentlichen an zwei Punkten an: Zum einen wird die Anforderung kritisiert, die der Supreme Court an die Beeinträchtigung der individuellen Religionsfreiheit stellt, zum anderen die laxe Handhabung des Compelling Interest Test.

7. Kritik am Maßstab des Supreme Court für die Annahme einer Beeinträchtigung der individuellen Religionsfreiheit

Teile des Schrifttums werfen dem Supreme Court vor, daß er erst dann eine Beeinträchtigung der individuellen Religionsfreiheit annimmt, wenn die staatliche Maßnahme den einzelnen dazu zwingt, seinem Glauben zuwider zu handeln, nicht jedoch schon dann, wenn die Religionsausübung lediglich unbequemer oder schwieriger wird. Die Kritiker warnen davor, den von den Untergerichten - den Courts of Appeals - beschrittenen Weg einzuschlagen, nach dem eine Beeinträchtigung nur dann anzunehmen ist, wenn die Religionsausübung zentral bzw. unentbehrlich ist. 1 0 5 Andere Kritiker halten dem Supreme Court vor, keinen festen Maßstab für die Beeinträchtigung der Religionsfreiheit zu besitzen, sondern ergebnisorientiert vorzugehen. 106 Einige Autoren belassen es nicht beim bloßen Hinweis auf die Schwierigkeiten einer Grenzziehung zwischen einer relevanten bzw. irrelevanten Beeinträchtigung der Religionsfreiheit. Sie halten den gesamten Ansatzpunkt des Supreme Court für verengt. Ihrer Ansicht nach gehen sowohl der Supreme Court als auch die Untergerichte von einem zu engen Verständnis der Religionsausübung aus. Viele der nicht der jüdisch-christlichen Tradition entsprechenden Religionspraktiken von Minderheiten würden dadurch dem Schutz des First Amendment entzogen. Durch diese Vorgehensweise verkenne der Supreme Court die Bedeutung, die der Religionsausübung bei der Identitätsbildung zukomme. Als Ursache für das (zu) enge Verständnis der Religionsausübung wird die - ihrer Ansicht nach unbegründete - Befürch105 Vgl. dazu die Ausführungen bei Salmons , 62 U. Chi. L. Rev. (1995), 1243 (1248 f.) unter Verweis auf Sequoyah v. Tennessee Valley Authority, 620 F2d 1159, 1164 (1980); Wilson v. Block, 708 F2d 735, 743 ff. (1983). 106 So beispielsweise die Kritik von Salmons , 62 U. Chi. L. Rev. (1995), 1243 (1250).

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

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tung gesehen, daß eine gerichtliche Anerkennung bestimmter Praktiken zu einer wahren Flut an Freistellungsbegehren von gesetzlichen Pflichten aus religiösen Gründen führen würde, die es dem Staat letztlich unmöglich mache, seine Ziele zu verfolgen. 107

2. Kritik am Compelling Interest Test

Die Mehrheit des Schrifttums stört sich insbesondere an dem in der SherbertEntscheidung entwickelten Compelling Interest Test. Der dort festgelegte Maßstab wird wegen seiner Manipulierbarkeit als unbefriedigend empfunden. Obwohl nach dem Sherbert-Standaid eigentlich nur ein staatliches Interesse höchsten Ranges zur Rechtfertigung der Beeinträchtigung der individuellen Religionsfreiheit dienen könne, habe der Supreme Court eine Regelung bereits mit Interessen wie der einheitlichen Rechtsanwendung oder administrativen Erleichterungen gerechtfertigt. 1 0 8 In Anbetracht der Vielzahl an Entscheidungen, in denen die Anwendung des Compelling Interest Test kaum mehr als ein Lippenbekenntnis darstelle, bilde dessen strikte Einhaltung - der tatsächliche Nachweis eines „interest of the highest order" in Sherbert und Yoder - nicht die Regel, sondern die Ausnahme. 109 Dieser Kritik ist allerdings mit der Verabschiedung des Religion Freedom Restoration A c t 1 1 0 der Boden entzogen worden.

3. Entwicklung des Equal Regard-Standards zur Beurteilung der Free Exercise-Entscheidungen

Eisgruber und Sager wählen für ihre Kritik einen abweichenden Ansatz und entwickeln daraus einen eigenen Standard für die Beurteilung der Free Exercise-Entscheidungen. Sie bemängeln, daß sowohl der Supreme Court als auch weite Teile des Schrifttums den Eindruck vermitteln, der verfassungsrechtlich garantierten Religionsfreiheit komme eine besonders privilegierte Stellung zu, so daß auch das glaubensgeleitete Handeln mehr oder weniger ungehemmt garantiert sei. Ein solches Bild der Religionsfreiheit sei verfehlt. Nach Ansicht von Eisgruber und Sager bezieht sich der Schutz der Religionsfreiheit nicht auf den besonderen Stellenwert, 107 Vgl. dazu Salmons , 62 U. Chi. L. Rev. (1995), 1243 (1253). io» Eisgruber/Sager, 61 U. Chi. L. Rev. (1994), 1245 (1246 f.); Salmons, 62 U. Chi. L. Rev. (1995), 1243 (1246 u. 1248) unter Berufung auf Bowen v. Roy, 476 U.S. 693, 707 (1986) und United States v. Lee, 455 U.S. 252, 258 (1982). Einen prägnanten Überblick über die schwankenden Anforderungen des Supreme Court gibt Dent, S. 61 Cai. L. Rev. 863, (902 ff.). 109 Eisgruber/Sager, 61 U. Chi. L. Rev. (1994) 1245 (1247) unter Verweis auf die Entscheidungen Bob Jones University ν. United States, 461 U.S. 604 (1983); United States v. Lee, 455 U.S. 252, 260 (1974); Bowen v. Roy, 476 U.S. 693, 700 (1986). no Vgl. oben S. 164 ff.

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

den der Glauben im Leben des einzelnen einnimmt, sondern auf die ihm innewohnende Tendenz, zum Anknüpfungspunkt von Diskriminierungen zu werden. Die Verfassung bezwecke den Schutz vor glaubensbedingten Diskriminierungen und nicht die Privilegierung des Glaubens gegenüber jeglichem rechtmäßigen staatlichen Anliegen. 111 Dementsprechend sollen unter der Free Exercise Clause auch von religionsneutralen, allgemeingültigen Gesetzen stets dann Ausnahmen zu gewähren sein, wenn dem einzelnen aufgrund seiner Religion ansonsten eine Benachteiligung widerfahren würde. Der Vorschlag lautet, zukünftigen free exerciseEntscheidungen einen anderen Maßstab - den der gleichen Achtung (equal regard) - zugrundezulegen. Mit diesem Maßstab könne auch den Ansichten religiöser Minderheiten besser Rechnung getragen werden. Equal regard erfordere „that government treat the deep, religiously inspired concern of minority religious believers with the same regard as that enjoyed by the deep concerns of citizens generally". 1 1 2 Dem Ansatz zufolge ist eine Ausnahme von der Einhaltung eines allgemeingültigen Gesetzes stets dann zu gewähren, wenn der Kläger nachweisen kann, daß (1) dieses Gesetz in erheblicher Weise mit einem seiner religiösen Verpflichtung entspringenden Verhalten kollidiert und (2) ihm eine Ausnahme von der Befolgung der Norm zugestanden worden wäre, wenn seinem religiös motivierten Anliegen die gleiche Achtung entgegengebracht worden wäre wie sonstigen grundlegenden Anliegen von Bürgern. Die zweite Voraussetzung soll insbesondere dann erfüllt sein, wenn der Betroffene aufzeigen kann, daß der Staat die Bedeutung, die die Einhaltung einer bestimmten religiösen Pflicht in seinem Leben einnimmt, nicht ausreichend gewürdigt hat. Gleiches soll gelten, wenn der Staat zwar die Bedeutung einer bestimmten religiösen Pflicht für den einzelnen angemessen gewichtet, gleichwohl aber eine bestimmte Glaubensrichtung aufgrund ihrer Inhalte bevorzugt. 113

C. Versuche einer Angleichung beider Klauseln in der Rechtsprechung des Supreme Court In der Rechtsprechung des Supreme Court ist es - wie die vorstehenden Ausführungen zeigen - immer wieder zu Spannungen zwischen der Establishment und der Free Exercise Clause gekommen. Diese betreffen, wie später noch genauer zu sehen sein wird, insbesondere den schulischen Bereich. 114 Aufgrund der Bedeutung, die der Angleichung und Harmonisierung der beiden Klauseln zukommt, gilt es der Problematik jedoch zunächst allgemeine Aufmerksamkeit zu schenken.

in Eisgruber/Sager, 112 Eisgruber/Sager, 113 Eisgruber/Sager, 114

61 U. Chi. L. Rev. (1994), 1245 (1248). 61 U. Chi. L. Rev. (1994), 1245 (1283). 61 U. Chi. L. Rev. (1994), 1245 (1285).

Siehe dazu die Darstellung der Schulentscheidungen unten S. 179 ff. Vgl. zu dieser Thematik auch Tribe, Constitutional Law, S. 1169 ff.

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

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I. Von der Strict Separation-Theorie zum Neutralitätsgebot In den ersten Entscheidungen, in denen sich Spannungen zwischen der Establishment und der Free Exercise Clause abzeichneten, operierte der Supreme Court zunächst mit der sog. Strict Separation-Theorie. 115 Mit diesem - auch als no-aid-Gebot bezeichneten - Ansatz wurde der Versuch unternommen, Konflikte dadurch zu vermeiden, daß dem Staat versagt wurde, religionsfördernde Handlungen vorzunehmen. Dieser Ansatz erwies sich jedoch als außerordentlich schwierig. Große Meinungsverschiedenheiten bestanden vor allem darüber, wann eine religionsfördernde staatliche Maßnahme anzunehmen sei. Die einzelnen Verfassungsrichter kamen dementsprechend zu weit voneinander abweichenden Ergebnissen. 116 Aufgrund der Schwierigkeiten im Umgang mit dem no-aid-Gebot verabschiedete sich der Supreme Court bald von der Strict Separation-Theorie und führte in der Folge das Neutralitätsgebot ein.

II. Das Neutralitätsgebot Entgegen verbreiteter Meinung geht der Supreme Court zu keiner Zeit von einem strikten Neutralitätsverständnis aus, nach dem es dem Staat versagt wäre, sich mit religiösen Fragestellungen überhaupt zu befassen. Der Supreme Court hält im Gegenteil eine Harmonisierung von Establishment und Free Exercise Clause nur für möglich, wenn der Staat bei gewissen Fallgestaltungen gezielt Maßnahmen mit religiösem Bezug ergreift. 117 Staatliche Maßnahmen mit religiösem Bezug sind nach der Establishment Clause zwar grundsätzlich unzulässig. Der Supreme Court erkannte jedoch frühzeitig, daß die free exercise-Rechte des einzelnen in einigen Fällen so übermäßig belastet werden, daß der Staat regulierend eingreifen muß. 118 Im Laufe der Zeit bildete der Supreme Court drei verschiedene Kategorien einer staatlichen Einflußnahme heraus. Er unterscheidet seither zwischen der notwendigen, der erlaubten und der verbotenen Anpassung (required, permissible and for115

Die strict separation-Theorie liegt insbesondere der Entscheidung Everson v. Board of Education (330 U.S. 1, 8 ff. [1947]) zugrunde. Wie unterschiedlich das Verständnis vom „no-aid"-Gebot ist, zeigt sich in der Entscheidung Illinois ex rei. McCollum v. Board of Education (333 U.S. 203 ff. [1948]) besonders deutlich. 117 Dazu insbesondere Lynch v. Donelly, 465 U.S. 668, 673 (1984): „It has never been thought either possible or desirable to enforce a regime of total separation ( . . . ) Nor does the Constitution require complete separation of church and state; it affirmatively mandates accomodation, not merely tolerance, of all religions, and forbids hostility towards any". In diesem Sinne auch Zorach v. Clausen 343 U.S. 306, 314 f. (1952); Illinois ex. rei. McCollum v. Board of Education 333 U.S. 203, 211 (1948); Justice Goldberg (concurring), Abington v. Schempp, 374 U.S. 203, 306 (1963). Vgl. ferner die Ausführungen bei Giannella, 81 Harv. L. Rev. (1968), 513 ff. und Weis , 73 Yale L. J. (1964), 593 ff. us Vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen in Zorach v. Clauson, 343 U.S. 306, 314 (1952).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

bidden accomodation).119 Ein Fall der notwendigen Anpassung soll dann anzunehmen sein, wenn den free exercise-Rechten des einzelnen nur durch die Erteilung einer Ausnahme von der Befolgung einer allgemeingültigen Regelung oder durch ein anderweitiges staatliches Tätigwerden angemessen Rechnung getragen werden kann. Erlaubt soll eine Rücksichtnahme auf die free exercise-Rechte hingegen sein, wenn beim Aufeinandertreffen der Establishment und der Free Exercise Clause die free exercise-Rechte leicht dominieren. Inwieweit der Staat hier regulierend tätig wird, soll in seinem Ermessen stehen. In allen anderen Fällen ist es dem Staat verwehrt, Maßnahmen mit religiösen Bezügen zu ergreifen. Sie würden gegen die Establishment Clause verstoßen. 120

D. Definition des Religionsbegriffs Die amerikanische Verfassung verwendet im Gegensatz zur deutschen nur den Begriff „religion" und unterscheidet nicht zwischen Religion und Weltanschauung. Aus der Sicht des deutschen Rechts drängt sich daher die Frage auf, ob in der amerikanischen Terminologie der Begriff „religion" auch Weltanschauungen einschließt. Diese Frage ist - nach längerer Entwicklung - im amerikanischen Verfassungsrecht bejaht worden. Seit Verabschiedung des First Amendment wurden zahlreiche Versuche unternommen, den Religionsbegriff zu definieren. Sowohl der Supreme Court als auch das Schrifttum tun sich jedoch schwer, zu einer eindeutigen Definition zu gelangen. Die Schwierigkeiten ergeben sich vor allem daraus, daß jeder Definitionsversuch die Gefahr in sich trägt, abschließend festzulegen, wem der Schutz des First Amendment zuteil wird. Insofern neigt jede Definition dazu, neue, nichttraditionelle religiöse Glaubensvorstellungen auszugrenzen und damit gegen die Establishment Clause zu verstoßen. 121 Auf der anderen Seite ist das Bedürfnis vorhanden, den Religionsbegriff näher zu umgrenzen. Nur so kann beurteilt werden, ob bestimmten Handlungen der Schutz des First Amendment zuteil werden soll. In den Vereinigten Staaten wird die Problematik dadurch verschärft, daß sich die Autoren im Schrifttum nicht einig sind, ob dem Religionsbegriff sowohl in der Establishment als auch in der Free Exercise Clause ein einheitliches Verständnis zugrundezulegen ist. Diejenigen, die eine unterschiedlich weitgehende Interpretation des Religionsbegriffs bejahen, plädieren im Regelfall dafür, der Establishment Clause ein engeres Verständnis als der Free Exercise Clause zugrundezulegen. Mit dieser unterschiedlichen Interpretation des Religionsbegriffs ist die Hoffnung verbunden, Spannungen zwischen den beiden Klauseln möglichst weitgehend zu verVgl. Goldberg (concurring), in: Abington School District ν. Schempp, 374 U.S. 203, 306(1963). 120 Hierzu Tribe, Constitutional Law, S. 1167 ff. 121 Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (241).

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

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meiden. 122 Im folgenden wird jedoch in Übereinstimmung mit der ganz überwiegenden Mehrheit sowohl der Verfassungsrichter als auch des Schrifttums und im Einklang mit dem Wortlaut des First Amendment - der keinen Hinweis auf eine unterschiedliche Auslegung des Religionsbegriffs enthält - von einem einheitlichen Religionsverständnis in beiden Klauseln ausgegangen.123

I. Begriffsverständnis des Supreme Court Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ging der Supreme Court trotz aller Bemühungen, eine allgemeingültige Definition zu vermeiden, von einem engen, theistisch geprägten Begriffsverständnis aus. 124 Ein religiöser Glauben wurde angenommen, wenn er auf der Trias Göttlichkeit, Sittlichkeit und Gottesverehrung (divinity, morality, and worship) basierte. 125 In der Entscheidung United States v. Macintosh hat der Supreme Court diesen engen Religionsbegriff prägnant zusammengefaßt: „a belief in relation to God involving duties superior to those arising from any human relation". 126 Obwohl sich die Vereinigten Staaten seit ihrer Gründung durch religiöse Pluralität ausgezeichnet haben, bestand in den ersten Jahrzehnten - bedingt durch die vorherrschend europäischen Immigranten, die ein ähnliches Religionsverständnis aufwiesen - eine vergleichsweise große Homogenität im Hinblick auf das inhaltliche Verständnis des Religionsbegriffs. Nur aus diesem Grund konnte der Supreme Court in seinen frühen Entscheidungen von einem theistischen Religionsverständnis ausgehen, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen. Die relative Homogenität der Gesellschaft löste sich jedoch spätestens mit der verstärkten Zuwanderung asiatischer Immigranten auf. Sie brachten aus ihrer Heimat ein anderes Religionsverständnis mit, das sich mit westlichen Religionsvorstellungen nicht deckte. 127 Aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen sah sich auch der Supreme Court gezwungen, den Religionsbegriff den neuen Verhältnissen anzupassen. In der Entscheidung United States v. Ballard 128 nahm er ausdrücklich Abschied von einem theistisch geprägten Religionsverständnis. Das Gericht führt dort aus, daß sich die Religionsfreiheit auch auf solche Lebenstheorien und Ansichten vom Leben nach dem Tod erstrecke, die für die Anhänger christli•22 So Bowser, 11 Val. U. L. Rev. (1977) 163 (198); Note, 91 Hav. L. Rev. (1978), 1056. Vgl. dazu die Ausführungen bei Tribe, Constitutional Law, S. 1186. 123 Vgl. zu diesem Aspekt die Ausführungen bei Choper, 1982 U. 111. L. Rev., 579 (605 f.); Greenawalt, 72 Calif. L. Rev. (1984), 753 (813 ff.); Ingber, Stanford L. Rev. (1989), 233 (289); Johnson, 72 Calif. L. Rev. (1984), 817 (834 f.); Tribe, Constitutional Law, S. 1186. 124 Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (252); Tribe, Constitutional Law, S. 1179 f. 125 Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989) 233, (252); Tribe, Constitutional Law, S. 1179. 126 United States v. Macintosh, 283 U.S. 605, 633 f. (1931). 127 Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989), 233, Fußn. 112. 128 322 U.S. 78 (1944).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

eher Glaubensvorstellungen geradezu ketzerisch wirkten. 129 In der Folgezeit dehnte der Supreme Court den Religionsbegriff weiter aus. Zwei wichtige Fälle beziehen sich zwar nicht auf das First Amendment, sondern auf die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus religiösen Gründen, setzen sich jedoch eingehend mit dem Religionsbegriff auseinander. 130 Im Fall Seeger führt der Supreme Court aus, daß für das Vorliegen einer Religion entscheidend sei, ob diese im Leben des einzelnen einen Platz einnehme, der mit jenem vergleichbar sei, der bei einem orthodoxen Gottesglauben eingenommen werde. Eine solche Vergleichbarkeit wird bejaht, wenn hinter der Vorstellung des einzelnen eine Macht steht, der alles weitere untergeordnet bzw. von der alles weitere abhängig gemacht wird. 1 3 1 Im Fall Welsh wird das Gericht noch deutlicher, indem es jede tiefverwurzelte, ernsthaft befolgte moralische oder ethische Vorstellung für vergleichbar mit religiösen Vorstellungen hält. 1 3 2 Der in den Kriegsdienstverweigerungsfällen entwickelte Trend zu einem weiten, jede ethisch-moralische Vorstellung umfassenden Religionsverständnis wird in einer weiteren - diesmal auf dem First Amendment basierenden Entscheidung bestätigt. Im Fall Thomas v. Review Board führt das Gericht aus: „Religious beliefs need not be acceptable, logical or consistent, or comprehensible to others in order to merit First Amendment protection". 133 Allerdings erfährt dieser weite Religionsbegriff in der Entscheidung Wisconsin v. Yoder dahingehend eine Klarstellung, daß nicht jede philosophische Überzeugung in den Schutz der Religionsfreiheit einbezogen werden könne. 134 Wo genau die Grenze verläuft, bleibt freilich offen. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß der Religionsbegriff des Supreme Court nicht nur Religionen im deutschen Verständnis, sondern auch Weltanschauungen umfaßt. Inwieweit letztlich jede - für den einzelnen verbindliche - ethischmoralische Einstellung einbezogen wird, läßt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Insofern bleibt gerade auch für den deutschen Beobachter spannend, wie die weitere Entwicklung der Supreme Court-Rechtsprechung verlaufen wird. Eventuell lassen sich aus der amerikanischen Auseinandersetzung um den Religionsbegriff Erkenntnisse für die in Deutschland bislang nur zaghaft geführte Auseinandersetzung um den Religions- und Weltanschauungsbegriff gewinnen. 129 United States v. Ballard, 322 U.S. 78, 86 (1944): Die Religionsfreiheit umfasse „the right to maintain theories of life and of death and of the hereafter which are rank heresy to followers of the orthodox faiths". 130 United States v. Seeger, 380 U.S. 163 (1965) und Welsh v. United States, 398 U.S. 333 (1970). 131 Der Supreme Court (380 U.S. 163, 184 [1965]) prüft wie folgt: „ ( . . . ) does the claimed belief occupy the same place in the life of the objector as an orthodox belief in God (...)?" 132 Greenawalt , 72 Calif. L. Rev. (1984), 753 (767). Zur Kritik an diesem Ansatz Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (254 ff.). 133 450 U.S. 707 (715 f.) (1981). 134

406 U.S. 205, 216 (1972): „Thoreau's choice was philosophical and personal rather than religious, and such belief does notrise to the demands of the Religion Clauses".

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

173

II. Definitionsversuche im Schrifttum Die Schwierigkeit, eine allgemeingültige Definition für den Religionsbegriff zu finden, kennzeichnet nicht nur die Rechtsprechung, sondern auch das Schrifttum. Immer wieder unternehmen Autoren den Versuch, eine einheitliche, auf alle möglichen Fallgestaltungen anwendbare Definition zu finden. 135 Die Vielzahl an Autoren, die sich mit der Begriffsbestimmung befassen, macht es unmöglich, auf alle Definitionsansätze im einzelnen einzugehen. Im folgenden werden exemplarisch besonders charakteristische Versuche dargestellt, die einen Eindruck davon vermitteln, wie groß die Bandbreite der vertretenen Meinungen ist. 7. Chopers Extratemporal

Consequences

Das Bestreben Chopers ist es vor allem, eine rechtlich faß- und handhabbare Definition zu entwickeln. Er sieht die Möglichkeit einer Abgrenzung religiöser von sonstigen Überzeugungen mittels des Kriteriums der „extratemporal consequences" am besten gewährleistet. Ein schutzwürdiger religiöser Glaube liege nur vor, wenn seine Anhänger davon ausgehen, daß von der Einhaltung des Glaubens ihr Schicksal nach dem Tod abhänge oder der Glaube dieses zumindest beeinflusse. Werde der einzelne dazu verpflichtet, einem derartigen Gebot zuwider zu handeln, seien die Auswirkungen für ihn wesentlich größer als für jemanden, der „nur" gegen einen Moralkodex verstoße. 136 Nach Ansicht Chopers ist das Phänomen der extratemporal consequences nicht nur in den westlichen Religionen, sondern in allen großen Sekten der Welt nachzuweisen. Er benennt neben dem Christentum, dem Judentum und dem Islam ausdrücklich hinduistische und buddhistische Sekten. 137 Darüber hinaus sieht sich Choper in seinem Ansatz von zwei wichtigen Supreme Court-Entscheidungen in den Fällen Wisconsin v. Yoder l3S und West Virginia

State Board of Education ν. Barnette

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bestätigt, in denen von den glau-

bensabhängigen Gefahren für die „own salvation" bzw. der „fear of spiritual condemnation" die Rede ist. 1 4 0 135 Choper, 1982 U. 111. L. Rev. 579 ff.; Greenawalt, 72 Calif. L. Rev. (1984), 753 f.; Hall, 61 Tex. L. Rev. (1982), 139 ff.; Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 ff.; Merel, 45 U. Chi. L. Rev. (1978), 805 ff. 136 Choper, 1982 U. 111. L. Rev. 579, 598. 137 Choper, 1982 U. 111. L. Rev. 579, 600. 138 406 U.S. 205 ff. (1972). 139 319 U.S. 624 ff. (1943). 140 Vgl. hierzu Choper, 1982 U. 111. L. Rev. 579, 601. Mit Blick auf die erste Entscheidung verweist Choper auf die Passage: „by sending their children to high school, they (the Old Oder Amish) would ( . . . ) endanger their own salvation and that of their children" (Wisconsin v. Yoder, 406 U.S. 205, 209 [1972]). Aus der zweiten Entscheidung zitiert Choper folgenden Abschnitt: „compelling little children to participate in a ceremony ( . . . ) ends in nothing but a fear of spiritual condemnation" (West Virginia State Board of Education v. Barnette, 319 U.S. 624, 644 [1943]).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten 2. Greenawalts Analogie

Greenawalt geht von der Annahme aus, daß es keine Faktoren gibt, die allen Religionen gemeinsam sind und daher zur Grundlage einer abschließenden Definition des Religionsbegriffs gemacht werden können. Die einzige Möglichkeit, sich dem Religionsbegriff zu nähern, besteht seines Erachtens im Wege von Analogieschlüssen im Einzelfall. Das vorgeschlagene Konzept soll zunächst die Festlegung von Merkmalen voraussetzen, die in der Gesellschaft unumstritten das Siegel des Religiösen tragen. Im Anschluß daran müsse überprüft werden, ob der vorliegende Fall in seiner Zusammenschau an vorhandenen Eigenschaften in etwa mit jenen verglichen werden könne, die herkömmlicherweise als unstreitig religiös angesehen werden: 141 „ A more fruitful approach to understanding and employing the concept of religion is to identify instances to which the concept indisputably applies, and to ask in more doubtful instances how close the analogy is between these and the indisputable instances". 142 Dabei soll die zur Überprüfung stehende „Religion" auf keinen Fall alle Faktoren besitzen müssen, die von der Mehrheit als eindeutig religiös klassifiziert werden. Entscheidend soll die Kombination der einzelnen Faktoren sein. 143 Greenawalt sieht seinen Ansatz ebenfalls durch zwei Supreme Court-Entscheidungen - United States v. Seeger 144

und Welsh ν. United

States - bestätigt 145 : „(...) they may also be understood as employing an analogical approach to a statutory formulation of religion for which ultimate concern or conscious feeling turns out to be the decisive aspect of analogy". 146 Greenawalt weist selbst darauf hin, daß im Ergebnis zahlreiche Übereinstimmungen zwischen dem Analogieansatz und den sonstigen, auf eine starre Definition ausgerichteten Begriffsbestimmungen bestehen. Diese weitgehende Kongruenz ergebe sich bereits daraus, daß die starren Definitionsansätze das Vorliegen einer Religion bejahen, wenn bestimmte - je nach der Definition unterschiedliche charakteristische Elemente vorliegen. Oftmals werde zur Beurteilung, ob ein Analogieschluß möglich ist, auf dieselben Elemente zurückgegriffen. 147 Der Analogieansatz zeichne sich jedoch durch den großen Vorteil aus, daß er keinen der Faktoren für verbindlich erkläre und daher eine wesentlich flexiblere Herangehensweise erlaube. Dadurch sei er insbesondere besser geeignet, neue religiöse Strömungen zu integrieren. 148 Der Nachteil von Greenawalts Konzeption liegt freilich darin, daß er keine Kriterien aufstellt, anhand derer die Zulässigkeit eines Analogie141 142 143 144 145 146 147 148

Greenawalt, 72 Calif. Greenawalt, 72 Calif. Greenawalt, 72 Calif. 380 U.S. 163 (1965). 398 U.S. 333 (1970). Greenawalt, 72 Calif. Greenawalt, 72 Calif. Greenawalt, 72 Calif.

L. Rev. (1984), 753 (762 ff.). L. Rev. (1984), 753 (763). L. Rev. (1984), 753 (768).

L. Rev. (1984), 753 (773). L. Rev. (1984), 753 (766). L. Rev. (1984), 753 (815).

§ 8 Verfassungsrechtliche Verankerung der Religionsfreiheit

175

schlusses überprüft werden könnte. Dementsprechend bleibt der Ausgang der Entscheidungen - die Einordnung der vorgetragenen Überzeugungen als religiös oder areligiös - in hohem Maße unbestimmt. Im Vergleich zur bisherigen Supreme Court-Rechtsprechung verhilft sein Ansatz nicht ohne weiteres zu einem Mehr an Rechtsklarheit und Rechtssicherheit.

3. Merels Self-Definition

Merel versucht, eine feste Umgrenzung des Religionsbegriffs dadurch zu umgehen, daß er die Einordnung einer bestimmten Überzeugung als Religion oder eines bestimmten Verhaltens als glaubensgeleitet dem Selbstverständnis des einzelnen überläßt. 149 Zwar gesteht er zu, daß das alleinige Abstellen auf die Einordnung durch den einzelnen zu untragbaren Ergebnissen führt und den Schutzzweck der Religionsfreiheit letztlich aushöhlt, wenn jeder - ohne irgendeinen Nachweis erbringen zu müssen - sein Handeln durch die bloße Berufung auf die Religionsfreiheit unter besonderen Schutz stellen könnte. Um einen solchen Mißbrauch auszuschließen, hält er einige objektiv überprüfbare Nachweise für das tatsächliche Vorliegen eines Glaubens für unverzichtbar. Die geforderten Nachweise differieren, je nachdem ob die Establishment oder die Free Exercise Clause in Rede steht. In den free exercise-Fällen soll der einzelne nicht mehr nachweisen müssen, als daß er ein bestimmtes Gedankensystem tatsächlich zur Grundlage seines Lebens macht. 150 Aufwendiger gestaltet sich hingegen der Nachweis bei der Establishment Clause. Da in den meisten Establishment-Fällen nicht der einzelne, sondern eine religiöse Gruppierung im Zentrum der Auseinandersetzung steht, kann nicht an das Selbstverständnis eines einzelnen angeknüpft, sondern müssen gruppenbezogene Kriterien formuliert werden. Merel ordnet eine Gruppierung dann als religiös ein, wenn sie Lehren vertritt, die sich auf ein nicht rational faßbares Glaubenssystem stützen, das Prinzipien und Pflichten für seine Anhänger in mehr als nur einem einzigen Lebensbereich festlegt. 151

4. Ingbers Abgrenzung von Religion und Ideologie

Im Gegensatz zu den anderen Ansätzen versucht Ingber dem Religionsbegriff dadurch mehr Konturen zu geben, daß er ihn vom Begriff der Ideologie abgrenzt. Der Religionsbegriff sei so alt wie die Menschheit. Seit jeher sei es ein Bestreben der Menschen, mittels Religion vor allem die Fragen nach dem Sinn des Lebens 149 Merel, 45 U. Chi. L. Rev. (1978), 805 ff. 150 Merel, 45 U. Chi. L. Rev. (1978), 805 (834): „A workable test of religion for purposes of the free exercise clause might thus be stated to include any multidimensional system of beliefs that an individual claimant sincerely asserts to be religiously held". 151 Merel, 45 U. Chi. L. Rev. (1978), 805 (838).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

sowie diejenigen zu beantworten, die über das Vorstellungsvermögen der Menschen hinausgehen. Zur Erfüllung dieser Aufgaben hätten die Religionen die Gesellschaft auch mit Moralsystemen ausgestattet, die Kategorien von Richtig und Falsch aufstellen und dadurch Rechte und Pflichten begründen. 152 Im Gegensatz zum Religionsbegriff sei der Begriff der Ideologie wesentlich jüngeren Datums. Er habe seine „Geburtsstunde" im Zeitalter der Aufklärung an der Schwelle vom 17. zum 18. Jahrhundert. Der Schwerpunkt der Aufklärung habe in der Betonung der Vernunft, des Intellekts gelegen, der jeglicher Tradition und Autorität mit Skepsis begegnet.153 Während die Religion das Recht als zum Teil von Gott, zum Teil von Menschen gemacht betrachte, begreife die Aufklärung die Gesetze primär als eine menschliche Erfindung: „In short, the Enlightenment shifted the focus from a religious to a secular theory of law, from moral to an instrumental political theory". 154 Nach Ansicht Ingbers bestehen zwar große Übereinstimmungen zwischen Religionen und Ideologien, zumal beide ähnliche Funktionen erfüllen - nämlich eine Antwort auf den Sinn des Lebens zu geben und bestimmte ethisch-moralische Wertvorgaben aufzustellen. Dennoch dürfe der entscheidende Unterschied zwischen beiden nicht übersehen werden, der auch eine unterschiedliche Behandlung - die Einbeziehung in bzw. das Ausklammern aus dem Schutzbereich des First Amendment - rechtfertige. Während die Anhänger einer Religion ihre Glaubensprinzipien als autoritativ, „von außen" vorgegeben betrachteten, so daß diese außerhalb ihrer freien Entscheidungsmöglichkeit und Selbstbestimmung liegen, sollen sich Ideologien durch das Fehlen derart verpflichtender, handlungsleitender Prinzipien auszeichnen.155 Die religiösen Verpflichtungen sollen daher anderer, höherer Natur sein als die weltlichen, die den zwischenmenschlichen Umgang regeln. Im Gegensatz zu letzteren seien sie keiner Hinterfragung und Diskussion zugänglich. Die Trennung von Religion und Ideologie liefere eine rechtlich faßund abgrenzbare Begründung für die Sonderbehandlung des religiösen Glaubens. Sie ermögliche eine klare Abgrenzung zwischen dem weltlichen Glauben, für den das geschriebene Gesetzesrecht die höchste Autorität sei, und dem religiösen, für den eine „höhere" Autorität bestehe. Laut Ingber liegt der besondere Vorteil seiner Definition in ihrer Flexibilität, d. h. in ihrer Fähigkeit, auch neue religiöse Strömungen zu integrieren: „A religion can be nonanthropomorphic, nontheistic, or even have a membership of one as long as the claimed religious obligations are imposed by or under the influence of some sacred force". 156

152 ingber, 153 Jngber, 154 ingber, 155 Ingber, 156 ingber,

41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (278). 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (279). 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (280). 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (283). 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (287).

§ 9 Schulen in den Vereinigten Staaten

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§ 9 Schulen in den Vereinigten Staaten Die amerikanische Verfassung enthält keine Aussagen zur Schule. Aus dem Fehlen einer expliziten Regelung darf jedoch nicht darauf geschlossen werden, daß die Verfassungsväter der Schulproblematik gleichgültig gegenüberstanden. Einige der Abgeordneten plädierten im Gegenteil ausdrücklich für eine nationale Regelung. Letztendlich setzte sich jedoch die Ansicht durch, daß die Schulfrage bei den einzelnen Gliedstaaten am besten aufgehoben sei. 157 Obwohl die Schulen daher in der Verfassung keine Erwähnung finden, hat die Thematik auch auf nationaler Ebene zu keinem Zeitpunkt ein Schattendasein gefristet, sondern ist im Gegenteil stets auf großes Interesse gestoßen.158

A. Verfassungsrechtliche Absicherung des Bildungswesens Seit Gründung der Vereinigten Staaten ist die Errichtung eines flächendeckenden freien, öffentlichen - d. h. von religiösen Einflüssen unabhängigen - Schulsystems als unerläßlicher Bestandteil für das Wohlergehen eines freiheitlichen demokratischen Staates angesehen worden. 159 Bereits die Verfassungsväter weisen auf die elementare Bedeutung eines öffentlichen, von religiösen Einflüssen befreiten und kostenlosen Schulsystems hin. 1 6 0 Nur durch eine einheitliche schulische Erziehung könne die Freiheit garantiert und damit die Demokratie aufrechterhalten werden. 161 Ein demokratischer Staat könne auf Dauer nur dann überleben, wenn der 157

Vgl. dazu Alexander/Alexander, Public School, S. 49. Allgemein dazu McCarthy ! Cambron-McCabe, Public School Law, S. 1 ff.; Yudof/ Kirp/ Levin, Educational Policy and the Law, S. 1 ff. 159 Vgl. u. a. die Ausführungen von Justice Brennan (concurring), in Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 241 f. (1963): „It is implicit in the history and character of American public education that the public schools serve a uniquely public function: the training of American citizens in an atmosphere free of parochial, divisive, or separisi influences of any sort - an atmosphere in which children may assimilate a heritage common to all American groups and religions." - Siehe dazu auch Frankfurter (concurring), McCollum v. Board of Education, 333 U.S. 203, 214 (1948): „The evolution of colonial education, largely in the service of religion, into the public school system of today is the story of changing conceptions regarding the American democratic society, of the function of State-maintained education in such a society ( . . . )." 160 Alexander / Alexander, Public School, S. 49: „Education was much on the minds of the founding fathers, who believed that public virtue and the welfare of the state were dependant on the ablility of the people to properly exercise their democratic prerogatives. ( . . . ) In this light, many statesmen of the new nation believed that education was best preservative of freedom ( . . . )." Alexander/Alexander, Public School, S. 20: „During the 1760s and 1770s the idea developes that there should be a free system of education that would provide for a general diffusion of knowledge, cultivate new learning and nurture the democratic ideals of government." 158

12 Rathke

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

einzelne Bürger die Fähigkeit erwerbe, seine demokratischen Rechte tatsächlich zu nutzen und in den politischen Prozeß einzubringen. Dessen Qualität und Stabilität hänge zu einem erheblichen Anteil von der Bildung seiner Bürger ab. 1 6 2 Die Schulen seien jene Institution, in der demokratische Werte an die zukünftigen Bürger weitergeben und vermittelt würden. Angesichts dieser frühen Hervorhebung der Bedeutung eines öffentlichen Schulwesens gilt es sich zu vergegenwärtigen, daß die Schulen vor der Unabhängigkeit (1776) ganz überwiegend in privater - im Regelfall in konfessioneller - Trägerschaft standen. Aufgrund des dafür zu zahlenden Schulgeldes waren sie nur für einen kleinen, privilegierten Kreis zugänglich. 163 Die Entwicklung hin zu einem flächendeckenden öffentlichen Schulsystem verlief dementsprechend nicht ohne Schwierigkeiten und Hindernisse. Insbesondere in den ersten Jahrzehnten kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen mit Kirchenführern, die eine konfessionelle Erziehung der Kinder favorisierten. 164

B. Die Schulpflicht (compulsory education) In allen Bundesstaaten der Vereinigten Staaten ist die allgemeine Schulpflicht gesetzlich festgelegt, wobei den Eltern freisteht, ihr Kind auf eine öffentliche oder eine staatlich anerkannte Privatschule zu schicken. 165 Versuche der Eltern, die Schulpflichtgesetze unter Berufung auf Unvereinbarkeiten mit dem Elternrecht zu Fall zu bringen, haben die Gerichte ausnahmslos unter Verweis auf ein zwingendes staatliches Interesse an einem gut informierten und unterrichteten Bürger abgelehnt. 1 6 6 Auch Befreiungsbegehren von der Schulpflicht aus Glaubensgründen sind - mit einer Ausnahme - von den Gerichten stets abgelehnt worden. Nur im Fall Wisconsin v. Yoder 167 gab der Supreme Court einem Freistellungsbegehren statt. Die Kinder der Amish-Sekte wurden ab der 8. Klasse - für die letzten beiden Schuljahre - von der Schulpflicht befreit. In seiner Begründung stellt der Supreme Court ganz gezielt auf die Eigenarten der Amish-Sekte ab, was eine Übertragung Vgl. dazu auch die Ausführungen von Justice Brennan (concurring), in: Abington School District ν. Schempp, 374 U.S. 203, 230 (1963): „Americans regard the public schools as a most vital civic institution for the preservation of a democratic system of government." 162 Imber/van Geel, Education Law, S. 18; Levin , 95 Yale L. J. (1986), 1647 (1648). 163 Vgl. dazu sowie zur Entwicklung des Schulwesens Alexander/Alexander, Public School, S. 19 ff.; Carnoy /Levin, Schooling, S. 7 ff. 164 Vgl. zu dieser Problematik die Ausführungen bei Alexander/Alexander, Public School, S. 21 ff.; siehe dazu auch Frankfurter (concurring), in: McCollum v. Board of Education, 333 U.S. 203,217(1948). 165 Vgl. zur historischen Entwicklung der Schulpflicht Tyack, 46 Harv. Educ. Rev. (1976), 355 ff. 166 van Geel, Courts, S. 19; Imber/van Geel, Education Law, S. 18 f. 167 406 U.S. 205 (1972).

§10 Fallgestaltungen

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auf andere Fallgestaltungen ausschließt.168 Er betont die besondere Lebensweise der Amish-Sekte, ihre Abschottung von der sonstigen Gesellschaft sowie ihre vollständige Autonomie. Durch die Abgeschlossenheit der Sekte von der restlichen Gesellschaft habe der Erwerb gewisser Kenntnisse, die für das Leben in einer modernen Gesellschaft unerläßlich sind, ausnahmsweise keine vergleichbare Bedeutung. Die Kinder der Amish-Sekte sollten die Zeit der letzten beiden Schuljahre besser darauf verwenden, sich die Fähigkeiten und Fertigkeiten anzueignen, die zum Leben in ihrer Gemeinschaft unerläßlich sind.

§ 10 Fallgestaltungen im Spannungsfeld von öffentlichem Schulwesen und Religion In den Vereinigten Staaten haben Fallgestaltungen, bei denen es im Kern um einen Konflikt zwischen dem staatlichen Erziehungsinteresse und religiösen Fragestellungen geht, eine lange Tradition. Immer wieder kamen Fallgestaltungen vor Gericht, in denen Eltern oder Schüler bestimmte Schulveranstaltungen oder Schulinhalte als Verstoß gegen die Establishment Clause oder als Eingriff in ihre individuelle Religionsfreiheit - ihre free exercise-Rechte - ansahen.169 Wurden die Gerichte bereits zuvor regelmäßig mit dieser Problematik konfrontiert, kam es in den 80er Jahren zu einer besonderen Prozeßwelle. 170 Grund dafür war das Aufkommen einer sich wieder auf strenge sittliche Werte zurückbesinnenden, zumeist aus evangelischen Fundamentalisten bestehenden Bewegung.171 Deren Anhänger erhoben gegen die Schulen den Vorwurf, ihre Kinder in einer den religiösen Vorstellungen zuwiderlaufenden Weise zu beeinflussen, wenn nicht gar zu indoktrinieren. 172 Die folgende Darstellung konzentriert sich auf wichtige Entscheidungen, die sich mit dem Konfliktfeld Schule und Religion befassen. Abgesehen von drei Entscheidungen von Untergerichten, die alle derselben Thematik angehören, 173 werden nur Entscheidungen des Supreme Court dargestellt, da diese die Entwicklung am nachhaltigsten geprägt haben. Aufgrund der Vielzahl der ergangenen Entscheidungen kann kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, sondern nur ein Über168 Unter Berufung auf die besonderen Umstände in der Entscheidung Wisconsin v. Yoder hat der Supreme Court in späteren Entscheidungen eine Freistellung von der Schulpflicht aus religiösen Gründen stets abgelehnt. Vgl. dazu die Ausführungen bei van Geel, Courts, S. 24 ff. 169 Vgl. dazu Arons/Lawrence, 15 Hav. Civ. Rights - Civ. Lib. L. Rev. (1980), 332 ff.; Diamond, Tex. L. Rev. (1981), 477 ff.; van Geel, Tex. L. Rev. (1983), 197 ff.; Kurland, U. Chi. L. Rev. (1961), 1 ff.; Nowak, Northw. U. L. Rev. (1976), 883 ff.; Yerby, U. Chi. L. Rev. (1989), 899 ff.

1 70 In diesem Sinne Alexander/Alexander, Public School, S. 113. 171 Vgl. die Ausführungen bei Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (234). 172 Dazu Ingber, 41 Stanford L. Rev. (1989), 233 (237). 173 Vgl. unten S. 203 ff. 12*

180

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

blick über die wichtigsten und richtungsweisenden Entscheidungen gegeben werden. Einige Fallgestaltungen werden dem Leser aus der deutschen, im zweiten Kapitel näher dargestellten Diskussion vertraut sein. Dabei wird sich zeigen, wie ein Staat, der - wie es in Deutschland oft vereinfacht dargestellt wird - von einer (im Grundsatz) strikten Trennung von Staat und Kirche ausgeht, mit problematischen Fallgestaltungen umgeht. Bereits auf den ersten Blick überrascht, wie detailliert sich der Supreme Court - trotz des klaren Trennungsgebots - mit einzelnen Fällen auseinandersetzt und keineswegs immer zu einstimmigen und unstreitigen Ergebnissen gelangt. Die dargestellten Entscheidungen sind jeweils unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefaßt.

A. Schulgebete und Schweigeminuten Angesichts der Tatsache, daß die Möglichkeit eines verfassungsrechtlichen Konflikts zum Thema „Schulgebete an öffentlichen Schulen" bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts angelegt war, mag es erstaunen, daß diese Problematik erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts vor den Supreme Court gelangt ist. Diese lange Phase des Schweigens hat jedoch zwei Ursachen: Zum einen sind die Gliedstaaten nicht von Beginn an, sondern erst in späteren Jahren über die Due Process Clause des Fourteenth Amendment vom Supreme Court zur Beachtung der in der Bundesverfassung verankerten Grundrechte verpflichtet worden. 174 Zum anderen hatte die Entwicklung des Schulwesens insofern einen entscheidenden Einfluß, als die Schulen zunächst ganz überwiegend in privater, im Regelfall in konfessioneller Trägerschaft lagen. An den betreffenden Schulen war das morgendliche Schulgebet ebenso wie das Bibelzitieren fester Tagesordnungspunkt. An dieser Situation änderte sich zunächst kaum etwas, als das öffentliche Schulwesen auf den Plan trat. Die Veranstaltung religiöser Übungen blieb auch an öffentlichen Schulen weiterhin Bestandteil des Schulalltags.175 Diese religiösen Veranstaltungen beruhten jedoch im Regelfall auf keiner gesetzlichen Grundlage, sondern erfolgten in bloßer Fortführung einer Tradition. Laut Justice Brennan gab es bis zur Jahrhundertwende nur im Staat Massachusetts ein Gesetz, das religiöse Übungen für verbindlich erklärte; in allen anderen Staaten lag die Veranstaltung der religiösen Übungen ausschließlich im Ermessen der Schulbehörden. 176 174

Für die Free Exercise Clause erstmalig in Meyer v. Nebraska, 262 U.S. 390, 399 (1923), für die Establishment Clause in Everson v. Board of Education. 330 U.S. 1, 8 (1947). Vgl. dazu auch die Ausführungen oben S. 146 ff. 175 „As free public schools gradually supplanted the private academies and sectarian schools between 1800 and 1850, morning devotional exercises were retained with few alterations". So Justice Brennan (concurring), in: Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 268 (1963). Vgl. zur geschichtlichen Entwicklung des Schulwesens auch die Ausführungen bei Justice Frankfurter (concurring), in: McCollum v. Board of Education, 333 U.S. 203, 213 ff. (1948). 176 Justice Brennan (concurring), in: Abington School District ν. Schempp, 374 U.S. 203, 269(1963).

§10 Fallgestaltungen

181

Die Veranstaltung religiöser Übungen an öffentlichen Schulen wurde jedoch nicht immer kritiklos hingenommen. Vor allem in den Großstädten der Ostküste, in denen Ende des 18. Jahrhunderts eine Vielzahl von Immigranten eintrafen, wurde bald erkannt, daß die Einbeziehung religiöser Elemente in den Schulalltag großes Konfliktpotential in sich trägt. Schon damals wurde dafür plädiert, sämtliche religiösen Elemente aus dem Schulbereich zu verbannen und die religiöse Erziehung der Kinder ausschließlich in die Hände der Eltern und der Kirchen zu legen. 177 Immer häufiger wurde in späteren Jahrzehnten die Verfassungsmäßigkeit der Veranstaltung religiöser Übungen an öffentlichen Schulen angezweifelt und wurden Gerichte namentlich zur Klärung der Schulgebetsfrage angerufen. Die Verfassungsgerichte der Gliedstaaten waren daher schon lange vor dem Supreme Court mit der Problematik konfrontiert. 178 Im folgenden konzentrieren sich die Ausführungen gleichwohl auf die Beurteilung des Sachlage durch den Supreme Court, da seine Entscheidungen für die weitere Entwicklung maßgebend waren und sind.

I. Engel v. Vitale Im Fall Engel v. Vitale 179 wurde in einem vom Staat New York erlassenen Gesetz den einzelnen Schulbezirken die Möglichkeit eingeräumt, an ihren öffentlichen Schulen zu Beginn des Unterrichtstages - unter Wahrung der Freiwilligkeit der Teilnahme - ein überkonfessionelles Schulgebet mit folgendem Wortlaut abzuhalten: „Almighty God, we acknowledge our dependence upon Thee, and we beg Thy blessings upon us, our parents, our teachers and our Country". 180

Mehrere Eltern betrachteten sowohl das Gesetz als auch die aufgrund dieses Gesetzes erlassene Regelung des Schulbezirks, die die Schulen zum Abhalten des Schulgebets mit obigem Wortlaut verpflichtete, als Verletzung der Establishment Clause des First Amendment. Der Supreme Court kam - im Gegensatz zu allen Vorinstanzen, die in dem Schulgebet keine Verletzung der Establishment Clause zu erkennen vermochten, zur Verfassungswidrigkeit des vom Bundesstaat New York erlassenen Gesetzes.

177 Es mehrten sich Äußerungen wie die folgende: „It is my belief that religious teaching in our homes, Sunday schools, churches, by the good mothers, fathers and ministers of Ohio is far preferable to compulsory teaching of religion by the state. The spirit of our federal and state constitutions from the beginning ... (has) been to leave religious instruction to the discretion of parents". Justice Brennan (concurring), in: Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203, 273 f. (1963) unter Zitierung des Governeurs von Ohio. 178 Siehe dazu die Nachweise bei Alexander/Alexander, Public School, S. 176 Anm. 8. 179 370 U.S. 421 ff. (1962). 180 370 U.S. 421, 422 (1962).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten 1. Mehrheitsmeinung

In seiner Begründung steht es für den Supreme Court zunächst außer Zweifel, daß das täglich abzuhaltende Gebet, in dem die Schüler göttlichen Segen erbitten, eine religiöse Handlung darstellt und somit auf seine Vereinbarkeit mit dem First Amendment - hier der Establishment Clause - zu überprüfen ist. In diesem Zusammenhang versucht das Verfassungsgericht, den Inhalt der Establishment Clause unter Hinweis auf die historischen Gegebenheiten zu verdeutlichen, und geht dabei vor allem auf die enge Verflechtung der Geschichte der Menschheit mit der Religionsgeschichte ein. Zugleich weist das Verfassungsgericht jedoch darauf hin, daß aus den im Laufe der Geschichte erzielten Erfahrungen die Erkenntnis gewonnen wurde, daß sich Staat und Religion nur dann in vollem Umfang entfalten könnten, wenn sie sich wie zwei Pole gegenüberstehen, die möglichst keinerlei Verbindungen miteinander eingehen.181 Aufgrund dieser Erfahrungen wende sich die Establishment Clause nicht nur gegen die staatliche Förderung oder Benachteiligung einer oder mehrerer Religionen, sondern gegen jegliche Verquickung von Staat und Religion. 182 Verabschiede der staatliche Gesetzgeber ein Gesetz, das den einzelnen Schulbezirken die Möglichkeit einräumt, in ihren öffentlichen Schulen ein Schulgebet abzuhalten, liege darin zweifelsohne eine staatliche Unterstützung des im Gebet verkörperten religiösen Glaubens.183 Dabei soll die Tatsache, daß es sich um ein überkonfessionelles Gebet handelt, dessen Teilnahme dem einzelnen Schüler zudem noch freigestellt ist, unbeachtlich sein. Die Establishment Clause sei - im Gegensatz zur Free Exercise Clause - nicht erst dann verletzt, wenn der einzelne nachweisen könne, durch die staatliche Maßnahme einem besonderen Zwang ausgesetzt zu sein, sondern bereits dann, wenn Gesetze erlassen werden, die einen bestimmten Glauben etablieren. 184 Der Supreme Court betont zugleich, daß das Verbot, derartige Gesetze zu erlassen, nicht als Feindseligkeit gegenüber dem religiösen Glauben oder konkreten Gebeten gewertet werden dürfe. Es gehe allein darum, staatlichen Organen sowohl das Abfassen als auch das offizielle Sanktionieren von Gebeten zu untersagen und klarzustellen, daß diese Aufgabe einzig und allein den Bürgern obliege. 185 2. Abweichende Meinung des Justice Steward

Nach Ansicht von Justice Steward, der die Mehrheitsmeinung des Gerichts nicht teilt, begründet das Schulgebet keinen Verstoß gegen die Establishment Clause. 181 370 U.S. 421, 425 ff. (1962): „Its first and most immediate purpose rested upon the belief that a union of government and religion tends to destroy government and to degrade religion" (a. a. O., S. 431). 182 370 U.S. 421,429 (1962). 183 370 U.S. 421, 430, (1962). 184 370 U.S. 421,430 (1962). 185 370 U.S. 421,435 (1962).

§ 10 Fallgestaltungen

183

Steward gelangt zu diesem Ergebnis aufgrund eines von der Mehrheitsmeinung abweichenden Verständnisses der Establishment Clause. Seines Erachtens beschränkt sich der Inhalt der Establishment Clause auf das Verbot, eine Staatskirche zu errichten. 186 Da es in dem zu beurteilenden Fall nicht um die Erhebung einer Religion zur offiziellen Staatsreligion, sondern „nur" um das Gebet von Schülern an öffentlichen Schulen ging, das zudem aufgrund der Freiwilligkeit der Teilnahme die Free Exercise-Rechte der andersdenkenden Schüler respektierte, soll die Establishment Clause gar nicht erst berührt sein. Den Schülern dennoch das Gebet zu untersagen, bedeute, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, das religiöse Erbe der amerikanischen Nation zu teilen. Wie eng Religion und Geschichte miteinander verbunden seien, spiegele sich - so Steward - vor allem in der Vielzahl von staatlichen Zeremonien wider. Er verweist dabei auf die Sitzungen des Supreme Court, die mit den Worten „God save the United States and this Honorable Court" eröffnet werden, sowie auf die täglichen Eröffnungsgebete des Senats- und Repräsentantenhauses.187 Genausowenig wie diese Zeremonien im Verdacht stünden, eine offizielle Staatsreligion zu errichten, könne derartiges aus dem vom Staat New York erlassenen Gesetz herausgelesen werden: „What each has done has been to recognize and to follow the deeply entrenched and highly cherished spiritual traditions of our Nation ( . . . ) " . 1 8 8

II. Abington School District v. Schempp In der Entscheidung Abington School District v. Schempp189 faßt der Supreme Court zwei Fälle zusammen, in denen von Eltern und Schülern gemeinsam geltend gemacht wurde, daß die gesetzliche Anordnung, zu Beginn eines jeden Schultages - auf freiwilliger Basis und ohne Kommentierung - Bibelverse zu lesen und im Anschluß daran ein gemeinsames Gebet zu sprechen, gegen die Establishment Clause des First Amendment verstoße. Die Vorinstanzen kamen bei der Beurteilung des Sachverhalts zu unterschiedlichen Ergebnissen. 190 Der Supreme Court folgte in seiner Entscheidung dem Gericht von Pennsylvania und erklärte die gesetzlichen Regelungen wegen Verstoßes gegen die Establishment Clause für verfassungswidrig.

186 Justice Steward (dissenting), 370 U.S. 421,445 (1962). 187 Justice Steward (dissenting), 370 U.S. 421, 448 (1962). 188 Justice Steward (dissenting), 370 U.S. 421,450 (1962). 189 374 U.S. 203 ff. (1963). 190 Während der District Court in Pennsylvania das Gesetz wegen Verstoßes gegen die Establishment Clause für verfassungswidrig erklärte, kamen in Maryland sowohl der Trial Court als auch der Court of Appeals zum gegenteiligen Ergebnis.

184

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten 1. Mehrheitsmeinung

Der Supreme Court betont zunächst - ebenso wie Justice Steward in seiner abweichenden Meinung im Fall Engel v. Vitale 1 9 1 - die enge Verbindung von Religion und amerikanischer Geschichte mit Verweis auf die noch heute im Alltag zahlreich vorkommenden Zeremonien, insbesondere den Eid des Präsidenten „So help me God" und die Eröffnungsgebete zu den Sitzungen des Supreme Court, des Repräsentantenhauses sowie des Senats.192 Wie bereits in der Entscheidung Engel v. Vitale hebt der Supreme Court jedoch erneut hervor, daß der Gedanke der religiösen Freiheit - bedingt durch die geschichtlichen Erfahrungen - ebenfalls tief in der amerikanischen Gesellschaft verwurzelt sei. Vor allem an diesen Punkt, an die Verankerung der religiösen Freiheit, knüpfen die weiteren Ausführungen an. Der Supreme Court bemüht sich - im Gegensatz zur Entscheidung Engel v. Vitale - um eine exakte Herausarbeitung des Inhalts der Establishment Clause. 193 Unter Bezugnahme auf etliche Vorgängerentscheidungen kommt er zu dem Ergebnis, daß die Establishment Clause nicht nur die staatliche Bevorzugung einzelner Religionen, sondern jegliche Verquickung von Staat und Kirche verbiete. Dabei wird die seit der Everson-Entscheidung viel zitierte Passage wiederholt, daß „neither a state nor the Federal Government can set up a church. Neither can pass laws which aid one religion, aid all religions, or prefer one religion over another." 194 Aufgrund der Vielzahl der in den Jahren zuvor vor den Supreme Court gelangten Entscheidungen zur Establishment Clause bemüht sich das Gericht, einen einheitlichen Maßstab zur Beurteilung vergleichbarer Fallgestaltungen zu finden. Das Verfassungsgericht arbeitet zwei Elemente heraus, die es zur Beurteilung heranzieht, ob die staatliche Regelung mit der Establishment Clause in Einklang steht: Gefragt wird zum einen nach dem Zweck, zum anderen nach der Wirkung der gesetzlichen Regelung. Um mit der Establishment Clause vereinbar zu sein, muß der mit der Regelung verfolgte Zweck ein säkularer sein. Die Hauptwirkung der Regelung darf zudem weder zur Förderung noch zur Verhinderung von Religionen beitragen. 195 Diese Merkmale entsprechen in der Sache den ersten beiden Kriterien des Lemon Tests, 196 der später über lange Zeit hinweg nahezu allen Entscheidungen zur Establishment Clause zugrundegelegt wird. Im vorliegenden Fall kommt das Verfassungsgericht zu dem Ergebnis, daß die Gesetze keine säkularen Ziele verfolgen. Dabei soll unbeachtlich sein, daß von staatlicher Seite behauptet wurde, die Bibel werde nur zur Förderung moralischer Werte oder als Referenz im ansonsten säkularen Unterricht herangezogen. Dieses 191 192 193 194 195 196

370 U.S. 421 ff. (1962); dazu oben S. 182 ff. 374 U.S. 203, 213 (1963). 374 U.S. 203, 218 ff. (1963). 374 U.S. 203, 217 (1963). 374 U.S. 203, 222 (1963). Vgl. dazu oben S. 155 ff.

§ 10 Fallgestaltungen

185

Vorbringen steht nach Auffassung des Verfassungsgerichts im Widerspruch zu der Tatsache, daß die Bibelstellen ohne Kommentierung bleiben und die Teilnahme gerade nicht verpflichtend sei. Beide Faktoren sollen für eine Veranstaltung religiösen Charakters sprechen. 197 Im übrigen tritt der Supreme Court dem im Verfahren geäußerten Vorwurf, das Verbot derartiger Veranstaltungen leiste in unzulässiger Weise der „religion of secularism" Vorschub, 198 entschieden entgegen. Er betont erneut, daß die Einbeziehung antireligiöser Elemente ebenso wie religionsfördernde Maßnahmen des Staates gegen die Establishment Clause verstoßen. Im vorliegenden Fall lägen jedoch keine Anhaltspunkte für eine antireligiöse Einstellung vor. Die Establishment Clause habe nicht zum Ziel, jede Auseinandersetzung mit der Religionsthematik zu vermeiden. Daher seien solange keine Einwände zu erheben, wie im Rahmen des Schulunterrichts Vergleiche zwischen verschiedenen Religionen angestellt, Religionsgeschichte erteilt oder auf die Bedeutung der Religion für die Entwicklung der Zivilisation hingewiesen werde. Ebenso unbedenklich sei es, die Bibel zur Grundlage objektiver literarischer oder historischer Studien zu machen. 199 Die Establishment Clause greife erst, wenn diese Ebene der „Religionskunde" verlassen und religionsfördernde oder -hindernde Elemente ins Spiel kämen. Justice Goldberg, dem sich Justice Harlan anschließt, hebt in seiner gesonderten, der Mehrheit im Ergebnis beipflichtenden Stellungnahme darüber hinaus einen Punkt hervor, der in der Entscheidung keine Berücksichtigung gefunden hat. Ausgehend von der Tatsache, daß es dem Staat nicht möglich ist, die Existenz von Religionen zu ignorieren, soll es ihm erlaubt sein, unter bestimmten Voraussetzungen durch eine Regelung einen angemessenen Ausgleich zwischen staatlichem und religiösen Bereich herzustellen. Es müsse daher geprüft werden, ob ein Fall der notwendigen oder jedenfalls der erlaubten Angleichung (required or permissible accomodation) vorliege, bei denen eine Verletzung der Establishment Clause ausgeschlossen sei. 200 Im konkreten Fall kommt Goldberg zu dem Ergebnis, daß der Zweck der Regelungen nicht auf eine solche - notwendige oder erlaubte - Anpassung gerichtet sei. Die Regelungen nutzten gezielt die durch die Schulpflicht begründete Anwesenheit der Schüler sowie die schulische Autorität aus, um religionsfördernd tätig zu werden. Es gehe um mehr als einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen Staat und Religion, so daß ein Verstoß gegen die Establishment Clause vorliege. 201 197 374 U.S. 203, 224 (1963). Justice Brennan hebt in seiner eigenen, mit der Mehrheit des Supreme Court übereinstimmenden Stellungnahme hervor, daß das Erreichen säkularer Ziele - wie beispielsweise die Förderung moralischer Werte - durch religiöse Praktiken nur dann mit der Establishment Clause zu vereinbaren sei, wenn nachgewiesen werden könne, daß das Erreichen dieser Ziele mit anderen, säkularen Mitteln vollkommen ausgeschlossen ist (a. a. O., S. 279 f.; 293 f.) 198 374 U.S. 203,225 (1963). 199 374 U.S. 203, 225 (1963). 200 Justice Goldberg (concurring), 374 U.S. 203, 306 (1963); vgl. zum Verständnis der notwendigen bzw. erlaubten Anpassung auch die Ausführungen oben S. 169 ff.

186

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten 2. Abweichende Meinung des Justice Steward

Ebenso wie in der Entscheidung Engel v. Vitale 202 stimmt Justice Steward auch im Fall Abington v. Schempp nicht mit der Mehrheitsmeinung des Gerichts überein. Erneut geht er von einem anderen Grundverständnis der Establishment Clause aus und gelangt auf dieser Grundlage zu einer abweichenden Beurteilung des Sachverhalts. Wie in Engel v. Vitale betont Justice Steward, daß sich der Inhalt der Establishment Clause auf das Verbot beschränke, eine Staatskirche zu errichten. Selbst wenn der Establishment Clause - der Mehrheitsmeinung entsprechend - ein weiterer Anwendungsbereich als das bloße Verbot der Errichtung einer Staatskirche entnommen werde, soll sie nach Ansicht von Steward - im Gegensatz zu den sonstigen Garantien des First Amendment - eine immanente Schranke in sich tragen: die Rechte der Free Exercise Clause. 203 Seines Erachtens nach ist es nicht möglich, dem Staat sämtliche religionsfördernde Maßnahmen zu untersagen, wenn dieser sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, religionsfeindlich zu agieren. 204 Verbiete der Staat, religiöse Übungen in den Schulen abzuhalten, sei darin eine solche religionsfeindliche Einstellung zu sehen. Ein Staat nehme - so Steward - gegenüber religiösen Fragestellungen nur dann tatsächlich eine neutrale Position ein, wenn er den gläubigen Schülern die Möglichkeit anbiete, an religiösen Übungen teilzunehmen. Lehne der Staat ein derartiges Vorgehen in den Schulen ab, komme er nicht seiner Neutralitätspflicht nach, sondern etabliere im Gegenteil eine „religion of secularism" oder bevorzuge jene Ansichten, die die Religionsausübung als eine ausschließlich private Angelegenheit betrachten. 205 Nach Ansicht Stewards tragen die im Fall Abington v. Schempp zu beurteilenden Gesetze in zulässiger Weise den free exercise-Rechten der gläubigen Schüler Rechnung. Da die Regelungen durch die Freiwilligkeit der Teilnahme an den religiösen Übungen nicht in die free exercise-Rechte der andersdenkenden Schüler eingriffen, bestünden keine Bedenken gegenüber ihrer Verfassungsmäßigkeit. 206

I I I . Wallace ν. Jaffree Im Fall Wallace ν. Jaffree 207 hatte der Supreme Court erneut eine gesetzliche Regelung mit religiösen Bezügen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen. Während ursprünglich drei Gesetze des Staates Alabama Gegenstand der Auseinandersetzung waren, beschränkt sich die Entscheidung letzten Endes auf ein 201 Justice Goldberg (concurring), 374 U.S. 203, 307 (1963). 202 370 U.S. 421 ff. (1962); dazu oben S. 181 ff. 203 Justice Steward (dissenting), 374 U.S. 203, 311 (1963). 204 Justice Steward (dissenting), 374 U.S. 203, 310 (1963). 205 Justice Steward (dissenting), 374 U.S. 203, 313 (1963). 206 Justice Steward (dissenting), 374 U.S. 203, 319 (1963). 207 472 U.S. 38 ff. (1985)

§10 Fallgestaltungen

187

Gesetz, das den Lehrern öffentlicher Schulen die Möglichkeit einräumte, im Rahmen ihres täglichen Unterrichts eine Schweigeminute zur Meditation oder zum freiwilligen Gebet vorzusehen. 208 Das Gesetz wurde - wie in der Anhörung vor dem District Court vom Senator bestätigt - mit der Intention erlassen, Gebete auf freiwilliger Basis wieder in den öffentlichen Schulen einzuführen. 209

1. Mehrheitsmeinung

Die Ausführungen des Supreme Court konzentrieren sich zunächst auf den Nachweis, daß die einzelnen Gliedstaaten über die Due Process Clause des Fourteenth Amendment denselben verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegen wie der Bundesstaat. Das Verfassungsgericht weist darauf hin, daß es ein in der amerikanischen Rechtsgeschichte tief verwurzelter Gedanke sei, daß die einzelnen Gliedstaaten die First Amendment-Rechte nicht stärker beschränken könnten als der Bundesstaat. Aus diesem Grund gelte die Establishment Clause im selben Umfang in den Gliedstaaten wie auf Bundesebene.210 Nach dieser grundsätzlichen Feststellung wendet sich der Supreme Court der Frage zu, inwieweit das vom Staat Alabama erlassene Gesetz mit der Establishment Clause zu vereinbaren ist. Zur Beantwortung dieser Frage wendet das Verfassungsgericht den unterdessen für alle Establishment-Entscheidungen zum Standard gewordenen Lemon Test 211 an und kommt zu dem Ergebnis, daß das zur Überprüfung stehende Gesetz bereits keinen säkularen Zweck verfolge und somit gegen die Establishment Clause verstoße. 212 Der Supreme Court hebt dabei differenzierend hervor, daß nichts gegen ein Gesetz einzuwenden wäre, das sich auf die Billigung einer täglichen Schweigeminute beschränkt, die von den Schülern auch zum Gebet genutzt werden könnte. Es verstoße jedoch gegen die Establishment Clause, wenn der Gesetzgeber die Gestattung einer Schweigeminute mit dem Verweis versieht, diese zur Meditation oder zum Gebet zu nutzen. Im vorliegenden Fall weise das Gesetz eine solche unzulässige Intention auf. Der Fürspruch für eine religiöse Übung sei nicht mit der staatlichen Neutralitätspflicht zu vereinbaren. 213 208

Das erste 1978 erlassene Gesetz, das den öffentlichen Schulen eine Schweigeminute zur Meditation gestattete, wurde von den Klägern als verfassungsgemäß anerkannt. Das andere, 1982 erlassene Gesetz erlaubte den Lehrern, zu Beginn des Schultages selbst ein Gebet zu sprechen oder interessierte Schüler darin anzuleiten, ein eigenes oder ein vom Staat Alabama verfaßtes Gebet zu sprechen. Dieses Gesetz wurde in einer gesonderten verfassungsgerichtlichen Entscheidung für verfassungswidrig erklärt. Siehe zum ganzen 472 U.S. 38, 40 f. (1985). 209 472 U.S. 38, 43 (1985): „Holmes (der Senator) unequivocally testified that he had „no other purpose in mind'". 210 472 U.S. 38,48 f. (1985). 211 Vgl. zum Inhalt des „Lemon Tests" oben S. 155 ff. 212 472 U.S. 38, 56 (1985). 213 472 U.S. 38, 60 (1985).

188

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten 2. Ansicht von Justice O'Connors

Obwohl Justice O'Connor im Ergebnis mit der Mehrheitsmeinung übereinstimmt, ist ihre Argumentation insofern von Interesse, als sie sich im Zusammenhang mit dieser Entscheidung in großer Ausführlichkeit mit dem Lemon Test auseinandersetzt und den von ihr erstmalig in der Entscheidung Lynch v. Donelly 214 beschrittenen Weg einer Modifikation hin zum Endorsement Test 215 fortsetzt. Entsprechend den in der Entscheidung Lynch v. Donnelly entwickelten Kriterien ist nach Ansicht O'Connors zuerst zu untersuchen, ob der Staat mit seinen Handlungen die Absicht verfolgt, die Religion insgesamt oder eine bestimmte religiöse Handlung zu billigen bzw. zu mißbilligen. Im Anschluß daran gilt es zu klären, inwieweit der Staat mit der Regelung zumindest einen derartigen Eindruck erweckt. 216 Justice O'Connor wendet den Endorsement Test zunächst auf die Frage an, inwieweit Gesetze, die eine tägliche Schweigeminute in den Schulen für verpflichtend erklären, mit der Establishment Clause zu vereinbaren sind. Sie kommt zu dem Ergebnis, daß Schweigeminuten per se keinen religiösen Bezug aufweisen; es liege in den Händen jedes einzelnen Schülers, wie er diese Zeit für sich nutze. Auch dann, wenn ein Gesetz die Option benenne, diese Minute zum freiwilligen Gebet zu nutzen, könne darin keine Bevorzugung religiöser Ansichten gesehen werden. 217 Ein Verstoß gegen die Establishment Clause soll erst dann vorliegen, wenn der Staat den Kindern nahelegt, diese Zeit zum Gebet zu nutzen. Ob dies der Fall ist, soll niemals abstrakt, sondern nur unter Berücksichtigung einschlägiger Kriterien - wie der Entstehungsgeschichte oder dem Wortlaut der jeweiligen Regelung - beantwortet werden können. 218 Dabei soll es dem Gericht verwehrt sein, bei der Erforschung des mit der Regelung verfolgten Zwecks den Willen des Gesetzgebers bis in alle Einzelheiten hinein zu durchleuchten. Es reiche aus, wenn sich in der Entstehungsgeschichte oder dem Wortlaut der Regelung ein säkularer Zweck nachweisen lasse 2 1 9 Im vorliegenden Fall kommt O'Connor zu dem Ergebnis, daß das zu überprüfende Gesetz keine andere Deutung als die Förderung einer bestimmten religiösen Praktik - nämlich des Gebets - zuläßt. Die Entstehungsgeschichte sei insoweit eindeutig, da in Alabama zuvor ein Gesetz existiert hatte, das eine tägliche Schweige214 465 U.S. 668 ff. (1984). 215 Vgl. dazu oben S. 157 ff. 216 Justice O'Connor (concurring), in: Lynch v. Dornelly, 465 U.S. 668, 688 ff. (1984). In diesem Sinne auch in Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 69 (1985). Weitere Einzelheiten zum Endorsement Test oben S. 157 ff. 21V Justice O'Connor (concurring), 472 U.S. 38, 73 (1985). 218 Justice O'Connor (concurring), 472 U.S. 38, 74 (1985). 219 Justice O'Connor (concurring), 472 U.S. 38, 74 ff. (1985). „ ( . . . ) a court has no license to psychoanalyze the legislators" (a.a.O, S. 74).

§ 10 Fallgestaltungen

189

minute zu bloßen Meditationszwecken vorsah. Die später erlassene Regelung könne nicht anders interpretiert werden, als daß sie die Wiedereinführung freiwilliger Gebete an öffentlichen Schulen bezwecke, und sei daher mit der Establishment Clause nicht zu vereinbaren. 220

3. Ablehnende Ansicht der Justices Burger, White und Rehnquist

In seiner abweichenden Meinung sieht Justice Burger, dem sich Justice White anschließt, in dem Inhalt des Gesetzes keine unzulässige Religionsförderung. Seines Erachtens beschränkt sich das Gesetz darauf, das Gebet als eine Möglichkeit anzubieten, die Schweigeminute auszufüllen. Werde allein aufgrund der Erwähnung des Begriffs „Gebet" die Regelung für unzulässig gehalten, sei dies nicht Ausdruck staatlicher Neutralität, sondern komme im Gegenteil einer religionsfeindlichen Einstellung gleich. 221 Justice Rehnquist wählt für seine abweichende Ansicht einen anderen Ansatz. Ähnlich wie in den vorliegenden Entscheidungen Justice Steward will er den Anwendungsbereich der Establishment Clause auf wenige Fälle beschränkt sehen: Seiner Ansicht nach verbietet die Establishment Clause lediglich einerseits die Errichtung einer Staatskirche und andererseits die Ungleichbehandlung verschiedener religiöser Gruppierungen. Sie fordere jedoch nicht, daß der Staat religiösen wie religionsfeindlichen Einstellungen gegenüber die gleiche Achtung aufbringe. Der Staat dürfe sich solange religionsfördernd betätigen, wie er dabei keiner Religion eine bevorzugte Behandlung zuteil werden läßt, sondern alle gleichermaßen fördert. Eine solche Förderung sei mit der staatlichen Neutralität in Religionssachen vereinbar. 222 Aufgrund dieser Auslegung der Establishment Clause gelangt Rehnquist zu dem Ergebnis, daß es dem Staat Alabama erlaubt sei, in einem Gesetz ganz allgemein das Gebet zu unterstützen. 223

B. Aufhängen der Zehn Gebote im Klassenzimmer Grundlegende Ausführungen des Supreme Court zur Verfassungsmäßigkeit der Veranstaltung religiöser Übungen an öffentlichen Schulen finden sich auch in der Entscheidung Stone ν. Graham. 224 In dem zugrundeliegenden Fall war zu beurteilen, ob und inwieweit das Aufhängen der Zehn Gebote in Klassenzimmern mit der grundlegenden Trennung von Staat und Religion vereinbar ist. Auslöser war eine 220 Justice Ο 'Connor (concurring), 472 U.S. 38, 77 ff. (1985). 221 Justice Burger (dissenting), 472 U.S. 38, 62 (1985). 222 Justice Rehnquist (dissenting), 472 U.S. 38, 91 ff. (1985). 223 Justice Rehnquist (dissenting), 472 U.S. 38, 114 (1985). 224 Stone v. Graham, 449 U.S. 39 ff. (1980).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Regelung des Staates Kentucky, in der alle öffentlichen Schulen dazu verpflichtet wurden, in ihren Klassenzimmern eine 16 mal 20 Inch große Ausfertigung der Zehn Gebote aufzuhängen. Jedes Exemplar der Zehn Gebote war mit folgendem Aufdruck versehen: „Secular application of the Ten Commandments is clearly seen in its adoption as the fundamental legal code of Western Civilization and the Common Law of the United States". Ferner sah das Gesetz vor, daß die zum Erwerb der Texte erforderlichen finanziellen Mittel aus privaten Mitteln bestritten werden mußten. Gegen dieses Gesetz wurde mit der Begründung vorgegangen, es verstoße sowohl gegen die Establishment als auch gegen die Free Exercise Clause. Weder der Trial Court noch der Supreme Court of Kentucky mochten erkennen, daß das Gesetz andere als rein säkulare Zwecke verfolgte und hielten es dementsprechend für verfassungsgemäß. Der Supreme Court hingegen bejahte eine Verletzung der Establishment Clause. I. Mehrheitsmeinung im Fall Stone ν. Graham Der Supreme Court greift bei der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes auf die drei in der Entscheidung Lemon v. Kutzman 225 entwickelten Kriterien - den sog. Lemon Test - zurück und kommt zu dem Ergebnis, daß die Regelung bereits keinen säkularen Zweck verfolge. Er vergleicht den vorliegenden Fall mit der Entscheidung Abington School District

ν. Schempp, in der versucht

wurde, das allmorgendliche Bibelzitieren und Gebet ebenfalls mit der Verfolgung säkularer Zwecke zu rechtfertigen. 226 Auch im vorliegenden Fall sei - so das Verfassungsgericht - trotz entgegenstehender Behauptungen unverkennbar, daß das Gesetz religiöse Ziele verfolge. Der Inhalt der aufgehängten Zehn Gebote sei nicht auf rein säkulare Regeln wie das Verbot zu töten beschränkt, sondern enthalte darüber hinaus auch religiöse Regeln wie das Gebot zur ausschließlichen Anbetung Gottes. 227 Die Zehn Gebote seien ein Zeugnis christlich-jüdischen Glaubens, dessen Aufhängen in den Klassenzimmern nicht mit der Establishment Clause zu vereinbaren sei. 2 2 8 Vermittelnd hebt der Supreme Court hervor, daß nichts gegen die Integration der Zehn Gebote in den Schulunterricht einzuwenden wäre, wenn sie lediglich als Beleg für die geschichtliche oder zivilisatorische Entwicklung oder zum Religionsvergleich herangezogen würden. 229 225 403 U.S. 602, 612 f. (1971); vgl. auch die Ausführungen zum Lemon-Test oben S. 155 ff. 226 449 u.S. 39, 41 (1980). Der School District machte geltend, daß er mit diesen Übungen „the promotion of moral values, the contradiction to the materialistic trends of our times, the perpetuation of our institutions and the teaching of literature" verfolge. Näheres dazu oben S. 183 ff. 227 449 U.S. 39,41 f. (1980). 228 449 U.S. 39, 41 (1980): „The Ten Commandments are undeniably a sacred text in the Jewish and Christian faiths, and no legislative recitation of a supposed purpose can blind us to that fact." 229 449 U.S. 39,42 (1980).

§10 Fallgestaltungen

191

II. Abweichende Meinung des Justice Rehnquist im Fall Stone ν. Graham Justice Rehnquist teilt die Ansicht der Mehrheitsmeinung nicht, nach der das Gesetz eine rein religiöse Zielsetzung verfolgt. Er hebt hervor, daß das Verfassungsgericht in den bisherigen Entscheidungen stets darauf abgestellt habe, ob das Gesetz einen säkularen Zweck verfolge. Im vorliegenden Fall lasse das Gesetz selbst keine Zweifel daran, daß es einem solchen säkularen Zweck diene. 230 Im übrigen sei ein Gesetz nicht schon allein deshalb verfassungswidrig, weil sich der vom Gesetzgeber benannte säkulare Zweck zufälligerweise mit religiösen Ansichten überschneide. 231 Derartige Überschneidungen seien aufgrund der Wechselwirkungen zwischen den religiösen Einflüssen und der Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft unvermeidlich. Dementsprechend könne auch der Schulunterricht nicht aller Elemente beraubt werden, die zugleich religiöse Wurzeln besit-

C. Released time-Programme Die Fallgruppe der released time-Programme betrifft die Freistellung von Schülern öffentlicher Schulen zwecks Teilnahme an einer religiösen Unterweisung während der regulären Unterrichtszeit. Die hier einschlägigen Konstellationen zeigen, daß das Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten eine Kooperation von Staat und Kirche keineswegs völlig ausschließt, sondern in erster Linie an die Beachtung bestimmter Grundsätze bindet.

I. McCollum v. Board of Education Im Staat Illinois genehmigte eine lokale Schulverwaltung die Erteilung von Religionsunterricht an öffentlichen Schulen im Rahmen eines released time-Progamms. Organisiert von dem „Champaign Council on Religious Education" kamen einmal wöchentlich von diesem bezahlte Lehrer verschiedener religiöser Gruppierungen während der regulären Unterrichtszeit in die öffentlichen Schulen, um die Schüler dort für 30-45 Minuten in einem von ihnen gewünschten Glauben zu unterweisen. Voraussetzung für die Teilnahme war die schriftliche Genehmi230

Justice Rehnquist (dissenting), 449 U.S. 39, 44 (1980) unter Verweis auf Committee for Public Education v. Nyquist, 413 U.S. 756, 773 (1973); Lemon v. Kutzman, 403 U.S. 602, 613(1971). 231 Justice Rehnquist (dissenting), 449 U.S. 39, 44 (1980) unter Verweis auf McGowan v. Maryland, 366 U.S. 420,445 (1961). 232 Justice Rehnquist (dissenting), 449 U.S. 39, 46 (1980) unter Verweis auf McCollum v. Board of Education, 333 U.S. 203, 235 f. (1948).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

gung der Eltern. Jene Kinder, die keine derartige Unterrichtung wünschten, mußten zwar den Klassenraum, durften jedoch nicht die Schule verlassen. Sie hatten sich während dieses Zeitraums mit den üblichen Unterrichtsmaterialien zu befassen. Den „Religionslehrern" kam die Aufgabe zu, die Anwesenheit der ihrer Klasse zugewiesenen Schüler zu kontrollieren und abwesende Schüler der Schule zu melden. Ein Elternteil verlangte die Einstellung dieser religiösen Unterweisung an öffentlichen Schulen mit der Begründung, ein derartiges Vorgehen sei mit dem First bzw. Fourteenth Amendment nicht zu vereinbaren. Bis zum Supreme Court blieb das Begehren auf Einstellung der religiösen Unterweisung erfolglos. Erst das Verfassungsgericht nahm eine Verletzung der Establishment Clause an. 1. Mehrheitsmeinung

Nach Ansicht des Supreme Court führt die Gestaltung des released time-Programms - obwohl die „Religionslehrer" nicht vom Staat finanziert wurden - zu einer übermäßigen Verflechtung von Staat und Religion. Entscheidend sei, daß der Staat zum einen den Religionen seine öffentlichen Gebäude zur Verfügung stelle. Zudem fördere er den Religionsunterricht dadurch, daß er mittels der bestehenden Schulpflicht für eine gewisse Schülerschaft sorge. 233 In diesem Zusammenhang weist der Supreme Court noch einmal nachdrücklich darauf hin, daß das First und Fourteenth Amendment einen identischen Schutzumfang besitzen und nicht nur vor einer Ungleichbehandlung verschiedener religiöser Ausrichtungen schützen, sondern im Sinne der Entscheidung Everson jede staatliche Regelung verbieten, die einzelne oder auch alle Religionen fördert 2 3 4

2. Stellungnahme des Justice Frankfurter

Justice Frankfurter stützt sich in seiner gesonderten Stellungnahme auf die geschichtliche Entwicklung der Trennung von Staat und Kirche im schulischen Bereich. Er zeigt die Entwicklung des Schulwesens vom privaten, im Regelfall in konfessioneller Trägerschaft stehenden Schulwesens hin zum öffentlichen Schulwesen auf, das die klare Trennung des staatlichen vom religiösen Bereich angestrebt habe. Die religiöse Erziehung sollte auf den außerschulischen Bereich beschränkt bleiben. 235 Da die Kirchen jedoch den mangelnden Zulauf an Kindern beklagten, die sich nach Schulende nicht auch noch in den kirchlichen Religionsunterricht setzen wollten, wurde 1905 die Forderung erhoben, den Kirchen einen Teil der von den Schulen vereinnahmten Zeit abzutreten. Ein auf der Interfaith Conference on Federation erhobener Vorschlag sah vor, daß die Kinder auf 233 3 33 U.S. 203, 209, 212 (1948). 234 333 U.S. 203, 210 f. (1948). Siehe zu den Kernaussagen der Everson-Entscheidung zur Auslegung der Establishment Clause oben S. 152 f. 235 Justice Frankfurter (concurring), 333 U.S. 203, 213 ff. (1948).

§ 10 Fallgestaltungen

193

Wunsch der Eltern am Mittwoch nachmittag vom Unterricht freigestellt werden sollten, um während dieser Zeit nicht auf schulischem, sondern auf kirchlichem Gelände eine religiöse Unterweisung zu erhalten. Während dieser Zeit sollten die Schulen jedenfalls keine Fächer von so großer Bedeutung erteilen, daß den Kindern ein Fernbleiben vom Unterricht faktisch unmöglich gemacht wurde. Nach langen Debatten wurde ein derartiges released time-Programm schließlich in das öffentliche Schulsystem integriert und 1914 erstmalig an einer Schule realisiert. 236 Angesichts dieser historischen Entwicklungslinie der released time-Programme kommt Justice Frankfurter zu dem Ergebnis, daß das Abhalten der religiösen Unterweisungen auf schulischem Grund zu einer übermäßigen Verflechtung von Staat und Kirche führe. Der Staat gewähre dem Council in diesem Fall eine zu weitreichende Unterstützung, da Klassenräume und reguläre Unterrichtszeiten zur Verfügung gestellt würden. Frankfurter betont jedoch ausdrücklich, daß anders konzipierte released time-Programme durchaus mit der Verfassung in Einklang stehen könnten. 237

3. Abweichende Meinung des Justice Reed

Justice Reed sieht in dem vorliegenden released time-Progamm keine Verletzung der Establishment Clause. Zwar geht auch er von der im Fall Everson 238 zugrunde gelegten Definition der Establishment Clause aus, doch kann er der Mehrheitsmeinung in zwei entscheidenden Punkten nicht folgen: Zum einen leitet er unter Berufung auf historische Gegebenheiten her, daß die Trennung von Staat und Kirche eine religiöse Erziehung an Schulen nicht ausschließe.239 Selbst diejenigen, die für eine strikte Trennung von Staat und Kirche plädierten, hätten die religiöse Erziehung an Schulen und Universitäten stets davon ausgenommen.240 Zum anderen sei eine „aid on religion" erst dann zu bejahen, wenn der Staat Kirchen oder religiösen Gruppen eine direkte - hier nicht gegebene - Unterstützung gewähre. 241

236 Justice Frankfurter (concurring), 333 U.S. 203, 222 ff. (1948). 237 Justice Frankfurter (concurring), 333 U.S. 203, 241 ff. (1948). 238 330 U.S. 1 ff. (1947). 239 Justice Reed (dissenting), 333 U.S. 203, 246 f. (1948). 240 Justice Reed (dissenting), 333 U.S. 203, 247 f. (1948) unter Berufung auf Jefferson, den Gründer der University of Virginia: „Thus, the ,wall of separation between church and State' that Mr. Jefferson built at the University which he founded did not exclude religious education from that school" (a. a. O. S. 247). 241 Justice Reed (dissenting), 333 U.S. 203, 248 (1948). 13 Rathke

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

II. Zorach v. Clauson Im Fall Zorach v. Clauson 242 entsprach das von der Stadt New York erlassene released time-Programm im wesentlichen jenem im Fall McCollum. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Programmen bestand darin, daß die religiöse Unterweisung in New York nicht auf dem Gelände der öffentlichen Schulen stattfand, sondern die Schüler für die religiöse Unterweisung die Schulen verlassen und ihre jeweiligen religiösen Zentren aufsuchen mußten. Diese Differenz zwischen den beiden Programmen war zugleich der entscheidende Anknüpfungspunkt für die vom McCollum-Fall abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung. Die Mehrheit der Richter sah in diesem Fall weder eine Verletzung der Free Exercise noch der Establishment Clause.

1. Mehrheitsmeinung

Eine Verletzung der Free Exercise Clause scheidet nach Ansicht des Supreme Court bereits deshalb aus, weil keiner der Schüler zur Teilnahme an der religiösen Unterweisung gezwungen wurde. 243 In Betracht komme daher allein ein Verstoß gegen die Establishment Clause. Diese gebiete zwar die Trennung von Staat und Kirche, doch dürfe das Gebot des First Amendment nicht dahingehend mißverstanden werden, daß jede Wechselbeziehung zwischen dem staatlichen und dem religiösen Bereich verboten wäre. Das First Amendment verbiete lediglich Überschneidungen der beiden Bereiche in bestimmten Situationen. 244 Wäre ausnahmslos jeder Kontakt zwischen beiden Bereichen verboten, dürften auch keine staatlichen Polizei- oder Feuerschutzleistungen an religiöse Einrichtungen erbracht werden. Ebenso wären öffentliche Rituale und Zeremonien, die Anspielungen auf Gott enthalten, oder die verschiedenen Eröffnungsgebete staatlicher Einrichtungen nicht mit der Verfassung zu vereinbaren. Eine in jeder Beziehung rigorose Trennung von Staat und Kirche führe ferner dazu, daß Befreiungsbegehren von Schülern zwecks Heiligung eines bestimmten Feiertages oder zur Teilnahme an einer für ihn verpflichtenden religiösen Veranstaltung nicht zulässig wären 2 4 5 Nach Ansicht des Supreme Court verstößt der Staat solange nicht gegen die Establishment Clause, wie er sich lediglich darum bemüht, auf die religiösen Bedürfnisse seiner Schüler Rücksicht zu nehmen und diese mit den staatlichen Verpflichtungen in einen angemessenen Ausgleich (accomodation) zu bringen. 246 242 343 U.S. 306 ff. (1952). 243 343 U.S. 306, 311 f. (1952). 244 343 U.S. 306, 312 (1952): „The First Amendment, however, does not say that in every and all respects there shall be a separation of Church and State. Rather, it studiously defines the manner, the specific ways, in which there shall be no concert or union or dependancy one on the other". 245 343 U.S. 306, 313 (1952).

§10 Fallgestaltungen

195

Nichts anderes aber unternehme der Staat, wenn er im vorliegenden Fall seinen Stundenplan so ausrichte, daß den Schülern die Möglichkeit eingeräumt werde, in einer bestimmten Zeit außerhalb der Schule eine religiöse Unterweisung zu erhalten. 2 4 7 Im Gegensatz zur McCollum-Entscheidung, in der die Schule durch das Abhalten der religiösen Unterweisung auf dem Schulgelände über das notwendige Maß der Angleichung der verschiedenen Interessen hinausging, soll sich das vorliegende released time-Programm daher noch im verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen halten.

2. Abweichende Meinung der Justices Black, Frankfurter und Jackson

Die drei Justices Black, Frankfurter und Jackson halten die von der Mehrheitsmeinung getroffene Abgrenzung des vorliegenden Falles von dem vier Jahre zuvor vom Supreme Court entschiedenen McCollum-¥dX\ für künstlich und unbegründet. Die Tatsache, daß die religiöse Unterweisung in New York außerhalb des Schulgeländes stattfand, kann ihrer Ansicht nach keine unterschiedliche Behandlung der beiden Fallgestaltungen rechtfertigen. 248 Die Richter halten es in beiden Fällen für entscheidend, daß der Staat über die Schulpflicht ganz gezielt seine Macht zur Förderung religiöser Projekte einsetze. Entscheidend sei, daß die Schüler nur unter der Voraussetzung vom regulären Pflichtunterricht freigestellt würden, daß sie am Religionsunterricht teilnehmen. Da die Kinder nur zwischen dem regulären Pflicht- und dem Religionsunterricht wählen könnten, würden sich auch Kinder zum Besuch des Religionsunterrichts entschließen, die in ihrer Freizeit - d. h. außerhalb des staatlichen Rahmens - keine eigene Initiative zum Besuch solcher Religionsklassen entwickeln würden 2 4 9 Die Justices betonen - dem üblichen Tenor entsprechend - ausdrücklich, daß die Ablehnung derartiger staatlicher Unterstützungen keinesfalls als religionsfeindliche Haltung mißdeutet werden dürfe. Es gehe ihnen ausschließlich darum, religionsfördernde Maßnahmen des Staates zu unterbinden, um im schulischen Bereich wieder eine tatsächliche Trennung von Staat und Kirche herzustellen. 250

246 343 U.S. 306, 313 f. (1952): „When the state encourages religious instruction or cooperates with religious authorities by adjusting the schedule of public events to sectarian needs, it follows the best of our traditions. For it then respects the religious nature of our people and accomodates the public service to their spiritual needs". 24 ? 343 U.S. 306,314(1952). 248 Justice Jackson (dissenting), 343 U.S. 306, 325 (1952): „The distinction attempted between that case and this is trivial, almost to the point of cynicism, magnifying its nonessential details ( . . . )". 24 9 Justice Black (dissenting), 343 U.S. 306, 316, 318 (1952); Justice Frankfurter (dissenting), 343 U.S. 306, 323 (1952); Justice Jackson (dissenting), 343 U.S. 306, 324 (1952). 2 50 Justice Frankfurter (dissenting), 343 U.S. 306, 323 (1952).

13*

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

D. Nutzung der Schule für religiöse Zwecke außerhalb der offiziellen Unterrichtszeit Die Rechtsprechung des Supreme Court zur Nutzung der öffentlichen Schulen für religiöse Zwecke außerhalb der regulären Unterrichtszeiten stützt sich zwar im wesentlichen nicht auf das First Amendment, sondern auf den Equal Access Act (EAA). Im Zusammenhang mit der Thematik Schule und Religion wirft dessen Anwendung jedoch die Frage auf, inwieweit die Regelungen des EAA mit der Establishment Clause vereinbar sind. Im Fall Board of Education of Westside Community Schools v. Mergens 25X stellte eine High School nach vorheriger Genehmigung ihre Räumlichkeiten bestimmten Schülergruppen zur Verfügung, die sich am Nachmittag - außerhalb der offiziellen Unterrichtszeit - treffen wollten. Um zugelassen zu werden, mußten die Schüler in der Lehrerschaft eine Person finden, die ihr Projekt unterstützte. Die Schüler mußten ihr Vorhaben bei der Schul Verwaltung vortragen, die dann darüber entschied, inwieweit das Projekt mit den Vorgaben des School Board zu vereinbaren war. Eine Gruppe von Schülern begehrte die Erlaubnis, einen Christian Club zu gründen, in dem sie gemeinsam die Bibel lesen und diskutieren, aber auch gemeinsam beten wollten. Die Mitgliedschaft in diesem Club war freiwillig und sollte jedermann, unabhängig von seiner religiösen Zugehörigkeit offenstehen. Die Schulbeamten lehnten das vorgetragene Begehren dennoch aus zwei Gründen ab: Zum einen könne dem Club keine Unterstützung aus der Lehrerschaft zuteil werden, zum anderen verstieße die Existenz eines derartigen religiösen Clubs gegen die Establishment Clause des First Amendment. Die betroffenen Schüler wandten sich über ihre Eltern an den District Court. Sie machten geltend, daß die Weigerung, ihren Club zuzulassen, gegen den EAA verstoße. 252 Nach Ansicht des District Court waren die Voraussetzungen für die Anwendung des EAA jedoch nicht gegeben. Der Court of Appeals hingegen hob das Urteil auf. Er hielt den EAA für einschlägig und stellte darüber hinaus fest, daß der EAA mit der Establishment Clause des First Amendment vereinbar sei. Der Supreme Court bestätigte die Entscheidung des Court of Appeals.

I . Mehrheitsmeinung im Fall Board of Education of Westside Community Schools ν. Mergens

Der Supreme Court verzichtet auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Frage, inwieweit der EAA mit der Establishment Clause zu vereinbaren ist, da 251 496 U.S. 226 ff. (1990). 252 Eine zentrale Stellung des EAA nimmt folgende Vorschrift ein: „It shall be unlawful for any public secondary school which receives Federal financial assistance and which has a limited open forum to deny equal access or a fair opportunity to, or discriminate against, any students who wish to conduct a meeting within that limited open forum on the basis of religious, political, philosophical or other content of the speech at such meetings." [20 USCS § 4071 (a)].

§ 10 Fallgestaltungen

197

dessen Regelungen im wesentlichen jene Ausführungen kodifizieren, die der Supreme Court selbst in der Entscheidung Widmar v. Vincent 253 getroffen hatte. In dieser Entscheidung hatte der Supreme Court eine Regelung der University of Missouri für nichtig erklärt, die es einer christlichen Studentengruppe gezielt untersagt hatte, Räumlichkeiten der Universität für religiöse Übungen zu nutzen, während sie anderen, nichtreligiösen Studentengruppen ihre Einrichtungen zur Verfügung gestellt hatte. In dieser Entscheidung hob der Supreme Court hervor, daß die Regelung gegen die verfassungsrechtlich verankerte Redefreiheit verstoße, da sie an einen bestimmten - nämlich religiösen - Inhalt anknüpfe und damit nicht die geforderte inhaltliche Neutralität wahre. Zudem wies er darauf hin, daß die Universität nicht gegen die Establishment Clause verstoße, wenn sie allen - einschließlich religiösen - Gruppierungen gleichberechtigten Zugang (equal access) zu den Universitätseinrichtungen gewähre. Im Unterschied zur Entscheidung Widmar v. Vincent, die sich nur auf Universitäten erstreckte, bezieht der EAA die „public secondary schools" - d. h. auch die High Schools - in seine Regelung ein. 2 5 4 Nach Ansicht des Supreme Court soll jedoch auch die Ausdehnung der Regelung auf die public secondary schools mit der Establishment Clause vereinbar sein. Der Supreme Court überträgt dabei einen Großteil der in der Entscheidung Widmar v. Vincent angestellten Erwägungen auf den vorliegenden Sachverhalt. Zunächst überprüft er unter Anwendung des modifizierten Lemon Tests, ob der EAA einen säkularen Zweck verfolgt. Das Verfassungsgericht stellt fest, daß das Anliegen des EAA ausschließlich darin bestehe, Diskriminierungen aufgrund religiöser oder sonstiger Äußerungen zu verhindern, und somit säkularer Natur sei. Der EAA stelle religiöse und nichtreligiöse Äußerungen gleichermaßen unter Schutz. Ihm könne daher nicht die Intention entnommen werden, die Religion insgesamt oder einen bestimmten Glauben in besonderer Weise zu billigen oder zu mißbilligen. 255 Darüber hinaus besitzt der EAA nach Auffassung des Supreme Court aber auch keine religionsfördernde Wirkung. Es gehe bei den Clubveranstaltungen nicht um den Staat, der bestimmte Äußerungen tätige, sondern um private religiöse Äußerungen, die dem Schutz der Free Exercise Clause unterstehen. Der Supreme Court hält die Schüler für reif genug, um zu verstehen, daß nicht die Schule selbst hinter den Äußerungen stehe, sondern die Schule verschiedenste Äußerungen auf gleichberechtigter Basis zulasse. Auch der Kongreß sei bei Erlaß des Gesetzes davon ausgegangen, daß High School-Schüler den gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Räumen nicht mit der staatlichen Unterstützung von Religionen verwechseln würden. 256 Im übrigen weist der Supreme Court darauf hin, daß mit steigender Anzahl an Clubs, die verschiedene Ansichten vertreten, die Gefahr schwinde, daß die Schule den Eindruck einer be253 254 255 256

454 U.S. 263 (1981). 496 U.S. 226, 234 (1990). 496 U.S. 226,249(1990). 496 U.S. 226, 250 (1990).

198

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

sonderen Billigung bestimmter Ansichten erwecke. 257 Schließlich soll der EAA auch zu keiner übermäßigen Verquickung von Staat und Kirche führen. Der Tatsache, daß ein Lehrer während der Club-Treffen anwesend ist, um für die notwendige Disziplin zu sorgen, wird keine entscheidende Bedeutung beigemessen.258 Der Supreme Court kommt daher zu dem Ergebnis, daß der EAA gegen keine der drei Stufen des (modifizieren) Lemon Tests verstößt und dementsprechend mit der Establishment Clause zu vereinbaren ist.

I I . Stellungnahme des Justice Marshall

Justice Marshall stimmt der Ansicht des Supreme Court zwar im Ergebnis zu. Ihm ist es jedoch ein besonderes Anliegen, die Rolle der Schulen bei der Anwendung des EAA deutlicher herauszustellen. Ebenso wie der Supreme Court ist auch Marshall der Ansicht, daß der EAA im Grundsatz nicht gegen die Establishment Clause verstößt. Um jedoch dem Eindruck entgegenzuwirken, daß die Schule die Religion in besonderer Weise unterstütze (was zugleich gegen das zweite Kriterium des Lemon Test verstieße), müßten die Schulen nach außen hin deutlich machen, daß sie sich in keiner Weise mit den in den einzelnen Gruppierungen und Clubs vertretenen Ansichten identifizierten. Nur wenn die einzelnen Schulen eine nach außen deutlich erkennbare Distanz wahrten, könne der Eindruck vermieden werden, daß die Schule bestimmte Ansichten in besonderer Weise billige. 2 5 9 Die Verpflichtung, sich im ausreichendem Maße von Club-Programmen zu distanzieren, sei um so größer, je weniger Clubs in der Schule existierten, die unterschiedliche Ansichten vertreten. Je kleiner die Anzahl an Gruppen sei, um so größer sei die Gefahr, daß die Schüler die Ansichten eines religiösen Clubs der Schule selbst zuschreiben. 260 Nach Ansicht Marshalls muß sich daher auch die Westside High School im konkreten Fall deutlicher als bisher von ihrem Club-Programm distanzieren, um bei der Einbindung eines „Christian Club" in ausreichendem Maße die staatliche Neutralität gegenüber der Religion sicherzustellen. 261

E. Darstellung der Evolutionslehre im Biologieunterricht Verschiedene Entscheidungen des Supreme Court beschäftigen sich mit der Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Evolutionslehre 257 258 259 260

496 U.S. 226,252(1990). 496 U.S. 226, 253 (1990). Justice Marshall (concurring), 496 U.S. 226, 263 ff. (1990). Justice Marshall (concurring), 496 U.S. 226, 265 f. (1990).

261 Justice Marshall (concurring), 496 U.S. 226, 269 f. (1990).

§10 Fallgestaltungen

199

als Teil des Biologieunterrichts an die Schüler vermittelt werden darf. Ausgangspunkt der Entscheidungen waren jeweils gesetzliche Regelungen, die die Vermittlung der darwinschen Evolutionstheorie im Unterricht untersagten oder an Bedingungen knüpften.

I. Eppenson v. Arkansas Der Staat Arkansas hatte im Jahr 1928 ein Gesetz erlassen, in dem die Darstellung der Evolutionslehre an öffentlichen Schulen und Universitäten unter Strafe gestellt wurde. Für die das Gesetz mißachtenden Lehrer war die Entlassung aus dem Dienst weitere Folge. Der Fall gelangte vor die Gerichte, als Arkansas für die zehnten Klassen ein Biologiebuch einführte, in dem sich ein Kapitel mit der Evolutionslehre („the theory about the origin ( . . . ) of man from a lower form of animal") befaßte. Eine betroffene Biologielehrerin sah sich durch die Einführung des Biologiebuches dem Dilemma ausgesetzt, einerseits das Biologiebuch als Unterrichtsmaterial verwenden zu müssen, andererseits aber sich strafbar zu machen, sobald das Evolutionskapitel in den Unterricht einbezogen wurde. Sie begehrte daher vor dem Chancery Court, das Gesetz für nichtig zu erklären. Das Gericht gab ihrem Anliegen statt. Es sah in dem Gesetz einen Verstoß gegen das im First Amendment verankerte, über das Fourteenth Amendment auch auf die Gliedstaaten anzuwendende Recht auf Redefreiheit. 262 Auf die Berufung des Staates Arkansas hin hob der Supreme Court of Arkansas die Entscheidung auf. Seiner Ansicht nach hielt sich das Gesetz im Rahmen der dem Staat zustehenden Kompetenz, die Lehrpläne öffentlicher Schulen auszugestalten.263 Der Fall gelangte schließlich vor den Supreme Court, der das Gesetz wegen Verstoßes gegen die Establishment Clause des First sowie des Fourteenth Amendment für verfassungswidrig erklärte. In seiner Begründung betont das Verfassungsgericht zunächst, daß die Kontrolle schulischer Angelegenheiten in erster Linie in den Händen der lokalen und staatlichen Behörden liege. Die Gerichte seien jedoch immer dann zur Kontrolle aufgerufen, wenn fundamentale Rechte, insbesondere die Grundrechte, berührt werden. 264 Unter Berufung auf die Vorentscheidungen geht der Supreme Court im weiteren auf den Inhalt der Establishment Clause ein und betont, daß es den einzelnen Gliedstaaten untersagt sei, in der Schule Programme einzuführen, die eine 262 Immer wieder sind Fallgestaltungen, die der Supreme Court auf ihre Vereinbarkeit mit der Establishment Clause überprüfte, von den Untergerichten zunächst unter die - ebenfalls im First Amendment garantierte - Redefreiheit subsumiert worden. Im vorliegenden Fall ging der Chancery Court davon aus, daß die Regelung des Staates Alabama die Freiheit, Wissen zu erwerben, die Freiheit zu lernen und die Freiheit zu unterrichten beschränkte und dadurch gegen das Recht der Rede- und Gedankenfreiheit verstieß; 393 U.S. 97, 100 (1968). 2 63 393 U.S. 97,101 (1968). 264 393 U.S. 97, 104(1968).

200

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

religionsfördernde oder religionsfeindliche Tendenz in sich tragen. 265 Daraus folge, daß die bevorzugte Behandlung einer bestimmten religiösen Lehre ebensowenig mit der Establishment Clause zu vereinbaren sei wie das Verbot einer Theorie allein aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit einem bestimmten religiösen Gebot. 2 6 6 Inwieweit das vorliegende Gesetz mit der Establishment Clause in Einklang steht, beurteilt der Supreme Court anhand jener beiden in der Entscheidung Abington School District

ν. Schempp1

aufgestellten Kriterien, die später die er-

sten beiden Stufen des Lemon Tests bilden 268 : dem Zweck und der Hauptwirkung der Regelung. Bestehen diese in der Förderung oder Beeinträchtigung einer Religion, überschreite der Erlaß des Gesetzes die Befugnisse des gliedstaatlichen Gesetzgebers mit der Folge der Verfassungswidrigkeit der Regelung 2 6 9 Im konkreten Fall kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß das Gesetz ganz gezielt die Vermittlung einer wissenschaftlichen Theorie - der Evolutionslehre - allein deshalb untersage, weil diese nicht mit einer bestimmten religiösen Anschauung - der biblischen Schöpfungsgeschichte - zu vereinbaren sei. 270

II. Edwards v. Aquillard Im Fall Edwards v. Aquillard 271 verpflichtete der Staat Lousiana die öffentlichen Schulen per Gesetz unter Androhung von Sanktionen zu einer - seiner Ansicht nach - ausgeglichenen Darstellung der Evolutions- und Schöpfungslehre (evolution and creation science). Danach mußte immer dann, wenn die darwinsche Evolutionslehre unterrichtet wurde, zwingend auch die biblische Schöpfungslehre dargestellt werden. Den einzelnen Schulen war es lediglich freigestellt, auf die Darstellung der Lehren insgesamt zu verzichten. Die Kläger begehrten in einer einstweiligen Verfügung die Feststellung, daß das Gesetz gegen die Establishment Clause sowohl des First Amendment als auch der Gliedstaatenverfassung verstoße. Der Staat Lousiana brachte zur Verteidigung seines Gesetzes hervor, daß es ausschließlich dem Schutz der akademischen Freiheit diene. Der District Court und der Court of Appeals gaben der Klage wegen Verstoßes gegen die Establishment Clause mit der Begründung statt, das Gesetz verfolge keinen säkularen Zweck. 272 Der Supreme Court bestätigte diese Entscheidungen. 265 393 U.S. 97, 106 f. (1968) unter Berufung auf McCollum v. Board of Education, 333 U.S. 203, (1948); Engel ν. Vitale, 370 U.S. 421 (1962); Abington School District v. Schempp, 374 U.S. 203 (1963). 266 393 U.S. 97, 106 f. (1968). 267 374 U.S. 203 (1963) 268 Zum Lemon Test oben S. 155 ff. 269 393 U.S. 97, 107(1968). 270 393 U.S. 97, 107 (1968): „Arkansas has sought to prevent its teachers from discussing the theory of evolution because it is contrary to the belief of some that the Book of Genesis must be the exclusive source of doctrine as to the origin of man". 271 482 U.S. 578 ff. (1987).

§ 10 Fallgestaltungen

201

1. Mehrheitsmeinung

Bevor der Supreme Court zur Überprüfung der Vereinbarkeit des Gesetzes mit der Establishment Clause den inzwischen etablierten Lemon Test 273 heranzieht, hebt das Gericht erneut hervor, daß sowohl der staatlichen als auch der lokalen Schulverwaltung grundsätzlich ein weiter Ermessensspielraum bei der Gestaltung des öffentlichen Schulwesens zukomme. Zugleich betont der Supreme Court jedoch, daß es gerade angesichts der erheblichen Macht, die dem Staat durch die Schulpflicht über die Kinder zukommt, Aufgabe der Gerichte sei, bei der Ausgestaltung des Unterrichts über die Einhaltung der Imperative des First Amendment zu wachen. 274 Bei der Anwendung des Lemon Tests kommt der Supreme Court ebenso wie die Vorinstanzen zu dem Ergebnis, daß das Gesetz bereits keinen säkularen Zweck verfolge und die genannte staatliche Begründung lediglich vorgeschoben sei. Nach Ansicht des Verfassungsgerichts ist das Gesetz keineswegs auf den Schutz der akademischen Freiheit bedacht. Anstatt die Freiheiten der Lehrer zu erweitern, verenge es diese. Während die Lehrer zuvor befugt gewesen seien, frei auszuwählen, welche wissenschaftlichen Theorien sie in ihrem Unterricht behandeln, dürften sie unter dem Gesetz die Evolutionslehre nur noch unterrichten, wenn sie gleichzeitig auf die Schöpfungslehre eingingen. 275 Im übrigen filtere der Staat aus der Bandbreite an Theorien, die grundsätzlich zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden könnten, bewußt diejenige heraus, die mit gewissen religiösen Ansichten in Konflikt gerät. 276 Damit verhelfe das Gesetz gezielt einer bestimmten religiösen Anschauung, sich verstärkt Gehör zu verschaffen. 277

2. Abweichende Ansichten der Justices Scalia und Rehnquist

Justice Scalia, dem sich Justice Rehnquist ohne eigene Stellungnahme anschließt, teilt die Mehrheitsentscheidung nicht. Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet das Zweck-Kriterium des Lemon Tests. Obwohl er dieses Kriterium im Grunde für nicht handhabbar hält, da im unklaren bleibe, worauf - auf den objektiven Zweck des Gesetzes, die äußerliche Motivation für den Erlaß des Gesetzes 272 482 U.S. 578, 581 f. (1987). 273 Vgl. dazu oben S. 155 ff. 274 482 U.S. 578, 583 f. (1987). 275 482 U.S. 578, 587 ff. (1987). 276 482 U.S. 578, 592 f. (1987). 277 482 U.S. 578, 591 (1987): „The preeminent purpose of the Louisiana legislature was clearly to advance the religious viewpoint that a supernatural being created humankind". Der Supreme Court hegt keinen Zweifel daran, daß das Gesetz der religiösen Sichtweise, derzufolge die Menschheit von einem übernatürlichen Wesen geschaffen worden ist, Vorschub leisten wollte.

202

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

oder die subjektive Motivation derer, die das Gesetz verabschieden 278 - bei der Prüfung dieses Kriteriums abzustellen sei, unterstellt er seinen weiteren Ausführungen zunächst dessen Gültigkeit. 279 Auf dieser Grundlage hebt er hervor, daß die Mehrheitsmeinung nicht ausreichend berücksichtige, daß das Zweckerfordernis des Lemon Tests erst dann nicht eingehalten sein und damit ein Verstoß gegen die Establishment Clause angenommen werden könne, wenn das Gesetz überhaupt keinen säkularen Zweck verfolge, das Gesetz somit ausschließlich auf religiösen Erwägungen beruhe. 280 Der Tatsache, daß ein Regelungsinhalt zufälligerweise mit religiösen Zielsetzungen koinzidiert, soll bei der Beurteilung keine Bedeutung zukommen. 281 Im vorliegenden Fall kann Scalia dem Gesetz keine ausschließliche religiöse Motivation entnehmen. Er ist im Gegenteil der Ansicht, daß die Mehrheitsmeinung die Aussage des Senators, nach der das Gesetz den Schutz der akademischen Freiheit bezwecke, viel zu schnell als Scheinargumentation abgetan habe. Zunächst einmal sei - der Tradition des Supreme Court entsprechend - davon auszugehen, daß die Gliedstaaten verfassungsgemäße Motive verfolgen 2 8 2 Im vorliegenden Fall komme hinzu, daß sich der Senator der Sensibilität der Thematik, insbesondere der verfassungsrechtlichen Relevanz, durchaus bewußt gewesen sei und immer wieder betont habe, daß es nicht um die Förderung religiöser Ansichten, sondern um den Schutz der akademischen Freiheit gehe. 283 Im weiteren legt Scalia großes Gewicht darauf, daß sich die Abgeordneten von Louisiana bei der Verabschiedung des Gesetzes zu großen Teilen von der - aus ihrer Sicht - säkularen Zielsetzung des Gesetzes hätten leiten lassen und nur aus diesem Grund überhaupt ihre Zustimmung erteilt hätten 2 8 4 Solange dies nicht widerlegt werden könne, dürfe nicht davon ausgegangen werden, daß das Gesetz eine ausschließliche religiöse Zielsetzung verfolge. Selbst wenn sich der Gesetzgebungsgeschichte kein eindeutiges Ergebnis entnehmen ließe, ergebe sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzestextes, daß die Regelung die Förderung der akademischen Freiheit bezwecke.285 Der Begriff der akademischen Freiheit dürfe dabei nicht als Freiheit der Lehrer mißverstanden 278

Vgl. zur detaillierten Kritik am Zweck-Kriterium des Lemon Tests die Ausführungen unter 482 U.S. 578, 636 ff. (1987). 279 Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 613 (1987). 280 Die genaue Formulierung lautet: „ ( . . . ) that invalidation under the purpose prong is appropriate when there is no question that the statute or activity was motivated wholly by religious considerations." Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 614 (1987) unter Berufung auf Lynch v. Donnelly, 465 U.S. 668, 680 (1984). 28 1 Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 615 (1987). 282 Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 618 (1987). 28 3 Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 620 f. (1987). 28 * Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 621 (1987): „The vast majority of them voted to approve a bill which explicitly stated a secular purpose; what is crucial is not their wisdom in believing that purpose would be achieved by the bill, but their sincerity in believing it would be." 2 »5 Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 626 f. (1987).

§ 10 Fallgestaltungen

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werden, zu unterrichten, was sie möchten, sondern sei in erster Linie die Freiheit der Schüler vor Indoktrination. 286 Das Hauptanliegen des Gesetzes bestehe in der angemessenen Präsentation beider Evolutionstheorien. Den Schülern solle die Entscheidung darüber belassen werden, welche Lesart über die Entstehung der Menschheit sie bevorzugen. Ihnen solle nicht durch eine einseitige Darstellung wichtige Information vorenthalten werden. 287 Scalia gelangt angesichts dieses Befundes zu dem Ergebnis, daß ohne das Hinzutreten weiterer gegenteiliger Beweise und unter dem bisherigen Erkenntnisstand keine Verletzung der Establishment Clause angenommen werden könne.

F. Einwendungen gegen die Benutzung bestimmter Unterrichtsmaterialien Die in dieser Gruppe zusammengefaßten Fallgestaltungen sind zwar alle nur bis zu den zuständigen Courts of Appeals vorgedrungen, nachdem der Supreme Court die Annahme (ohne nähere Begründung) verweigerte. Gleichwohl soll auf diese Entscheidungen näher eingegangen werden, da sie beispielhaft eine neue, in dieser Dimension bisher unbekannte Problematik aufwerten. Sie zeichnen sich dadurch aus, daß auf den ersten Blick neutral erscheinende Unterrichtsmaterialien wegen ihrer Unvereinbarkeit mit den religiösen Garantien des First Amendment angegriffen werden. Kläger sind fundamentale Christen, die die in der Schule vermittelte Wertepluralität - und damit verbunden die Relativität der einzelnen Werte - nicht akzeptieren wollen und auf unterschiedliche Art und Weise versuchen, die Vermittlung bestimmter Werte zu verhindern. 288 Auffällig ist, daß es den Gerichten offenbar größere Probleme bereitet, mit Fallgestaltungen umzugehen, in denen die Kläger die Verletzung der Free Exercise Clause geltend machen, als mit jenen, in denen sich die Kläger auf die Establishment Clause berufen.

I . Smith v. Board School Commissioners Gegenstand der Auseinandersetzung i m Fall Smith v. Board School Commis-

sioners 289 waren 44 Schulbücher, die auf der vom Staat Alabama offiziell herausgegebenen Schulbuchliste zum Gebrauch an öffentlichen Schulen genannt waren 286 Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 627 (1987). 287 Justice Scalia (dissenting), 482 U.S. 578, 632 (1987). 288 Vgl. hierzu die Ausführungen von Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev., (1993), 581 (583): „It was not the exposure to a particular hostile value or belief, such as Darwinism, but rather exposure to the diversity of the Free Exercise Clause. In other words, the plaintiffs objected to the very principles - tolerance and evenhandedness - traditionally used to identify liberal education" (a. a. O., S. 591). 289 827 F.2d 684 ff. (1987).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

und von den Klägern mit dem Argument angegriffen wurden, sie würden in unzulässiger Weise der „religion of secular humanism" Vorschub leisten. Durch die Betonung der Autonomie des einzelnen werde den theistischen Ansätzen entgegengearbeitet. Dies müsse als Verstoß gegen die Establishment Clause des First Amendment gewertet werden. Der District Court hatte in seiner Auseinandersetzung mit dem Fall den secular humanism als Religion im Sinne des First Amendment anerkannt und gelangte zu dem Ergebnis, daß die Schulbücher diesen secular humanism in unzulässiger Weise förderten und damit einhergehend die theistischen Religionen benachteiligten. 290 Nach Ansicht des District Court war der Gebrauch der Bücher daher nicht mit der Establishment Clause zu vereinbaren und wurde untersagt. 291 Auf Berufung des Alabama State Board of Education setzt sich der Court of Appeals mit dieser Entscheidung auseinander. Er geht dabei nicht auf die Frage ein, inwieweit der secular humanism als Religion zu qualifizieren und in den Schutz des First Amendment einzubeziehen ist, da selbst unter Annahme dieser Voraussetzung nach Ansicht des Court of Appeals keine Verletzung der Establishment Clause vorliegen könne. Unter Verweis auf die Entscheidung Epperson ν. Arkansas 292 stellt der Court of Appeals zunächst heraus, daß die Gerichte bei der Beurteilung schulischer Sachverhalte den weiten Ermessensspielraum, der den School Boards bei der Aufstellung der Lehrpläne zusteht, berücksichtigen müssen und erst dann eingreifen dürfen, wenn fundamentale Verfassungswerte mißachtet werden. 293 Inwieweit die Vorgabe der Schulbücher gegen die im First Amendment verankerte Establishment Clause verstößt, beurteilt der Court of Appeals unter Heranziehung des modifizierten Lemon Tests. 294 Dabei konzentriert sich die Argumentation auf die zweite Stufe des Tests, da sowohl die erste als auch die dritte Stufe von den Klägern selbst als unproblematisch zugestanden worden waren. 295 Gefragt wird danach, ob die Regelung unabhängig von ihrem Zweck den Eindruck der Billigung oder Mißbilligung einer Religion vermittelt. 296 Auf dieser Grundlage kommt der Court of Appeals bei allen Büchern, die sich auf die Fächer Geschichte, Sozialkunde und Wirtschaft konzentrieren, zu dem Ergebnis, daß sie nicht den Eindruck einer besonderen Billigung oder Mißbilligung einer Religion erwecken, sondern sich die Wirkung ausschließlich auf die Vermittlung neutraler Information beschränke. 297 Zwar stehe außer Frage, daß die Bücher sowohl An290 Vgl. dazu die Ausführungen des Court of Appeals 827 F.2d 684, 689 (1987). 291 827 F.2d 684, 688 (1987). 292 393 U.S. 98 ff. (1968). 293 827 F.2d 684, 689 f. (1987). 294 Zum modifizierten Lemon Test - dem Endorsement Test - in der Lesart von Justice O'Connor bereits oben S. 157 ff. 295 827 F.2d 684, 690 (1987). 296 827 F.2d 684, 690 (1987) unter Verweis auf Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 56 (1985) und Lynch v. Donellly, 465 U.S. 668, 690 (1984). 297 827 F.2d 684, 690 ff. (1987).

§ 10 Fallgestaltungen

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sichten präsentierten, die die Autonomie des Individuums herausstellten und damit den theistischen Religionen zuwiderliefen, als auch für einzelne Religionen unter Umständen entscheidende Ereignisse und Daten nicht enthielten. Dieser Punkt dürfe jedoch nicht isoliert für sich, sondern müsse vielmehr aus dem Gesamtkontext heraus beurteilt werden. 298 Aus ihm ergebe sich eindeutig, daß die Bücher nicht dem secular humanism oder irgendeiner anderen Religion nahestünden, sondern den Schulkindern lediglich Werte wie „independent thought, tolerance of diverse views, self-respect, maturity, self-reliance and logical decision-making" vermitteln wollten. Dabei handle es sich ausnahmslos um Werte, die zur Aufrechterhaltung eines demokratischen politischen Systems unerläßlich seien. 299 Die bloße (zufällige) Überschneidung mit religiösen Ansichten sei verfassungsrechtlich unbedenklich, solange nicht eine Religion bewußt gefördert werde. 300 Die ausgewogene Darstellung sei ein Zeichen staatlicher Neutralität den unterschiedlichsten Ansichten gegenüber und könne auch nicht mit einer religionsfeindlichen Einstellung gleichgesetzt werden. Diese läge erst dann vor, wenn gezielt eine religionsfeindliche Einstellung zum Ausdruck komme. 301

I I . Mozert v. Hawkins County

Auch im Fall Mozert v. Hawkins 302 erhoben die Kläger Einwände gegen den Gebrauch bestimmter Schulbücher. Betroffen waren die in den Klassen eins bis acht verwendeten, weithin verbreiteten Lesebücher der sog. „Holt-Reihe". Die Kläger trugen vor, daß mehrere der in dieser Reihe vermittelten Ansichten nicht mit dem Glauben ihrer Kinder übereinstimmten. Im Gegensatz zum vorstehenden Fall beriefen sich die Kläger jedoch nicht auf die Establishment Clause, sondern machten geltend, daß das Lesen und Diskutieren der Texte in die Free ExerciseRechte ihrer Kinder eingreife. Sie verlangten daher von der Schulleitung, ihre Kinder in der Zeit, in der Texte aus der Holt-Serie gelesen wurden, vom Unterricht freizustellen. Zunächst wurde der Fall im beschleunigten Verfahren ohne mündliche Verhandlung vom District Court entschieden, der die Klage abwies. Auf die Berufung der Kläger hin erklärte der Court of Appeals die Durchführung des beschleunigten Verfahrens für ungültig und verwies den Fall zur ausführlichen Verhandlung an den District Court zurück. 303 Diesmal entschied der District Court, daß es nicht mit der Free Exercise Clause zu vereinbaren sei, wenn Kinder dazu verpflichtet würden, Texte zu lesen, die nicht mit ihrem Glauben übereinstimmten. Der Klage wurde daher stattgegeben. Der Fall kam schließlich im Wege der Beru298 827 F.2d 684, 690 ff. (1987). 299 827 F.2d 684, 692 (1987). 300 827 F.2d 684, 692 (1987). 301 827 F.2d 684, 692 (1987). 302 827 F.2d 1058 ff. (1987). 303 827 F.2d. 1058, 1061 (1987).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

fung erneut vor den Court of Appeals, der die Entscheidung des District Court revidierte. Obwohl alle drei der an der Entscheidung beteiligten Richter des Court of Appeals zum selben Ergebnis kamen, beurteilten sie die Problemstellung unterschiedlich und verfaßten daraufhin jeweils eine eigene Stellungnahme. Für Chief Justice Lively ist die entscheidende Frage des Falles, ob ein Eingriff in die Free Exercise Clause des First Amendment vorliegen kann, wenn die Schüler im Unterricht Ideen ausgesetzt sind, die nicht mit ihren religiösen Anschauungen übereinstimmen. 304 Seiner Ansicht nach liegt ein derartiger Eingriff nur dann vor, wenn die Schüler von den Lehrern dazu gezwungen werden, den in der „HoltSerie" zum Ausdruck kommenden Ansichten zuzustimmen und diese als einzig richtige Werte anzuerkennen. Im vorliegenden Fall beschränke sich die Pflicht der Schüler jedoch darauf, die Texte zu lesen sowie an der anschließenden Diskussion teilzunehmen. 305 Das bloße Lesen und Diskutieren von Texten ohne die weitere Verpflichtung, die Inhalte der Texte zu akzeptieren, könne keinen Eingriff in die Free Exercise-Rechte des einzelnen begründen. 306 Justice Kennedy scheint sich demgegenüber nicht sicher zu sein, ob nicht bereits das bloße Lesen und Diskutieren der Texte in die Free Exercise-Rechte der Kinder eingreift. Ohne diese Frage endgültig zu beantworten, kommt sie zu dem Ergebnis, daß - selbst bei Annahme eines Eingriffs in die Free Exercise-Rechte die Schüler jedenfalls die Belastung aufgrund eines zwingenden staatlichen Interesses (compelling state interest) hinzunehmen haben. 307 Unter Bezugnahme auf die Entscheidung Bethel School District ν. Fräser 308 erklärt Kennedy, daß das vorrangige Ziel des amerikanischen Schulsystems darin bestehe, die Schüler auf ihre Bürgerrechte in der Republik vorzubereiten. 309 Ein wesentliches Element in der Vorbereitung der Kinder auf ihre spätere Rolle als Bürger in einem auf Selbstregierung ausgerichteten Regierungssystems liege aber gerade in der Konfrontation der Kinder mit einer Vielzahl an unterschiedlichen gesellschaftlichen und moralischen Ansichten. 310 Nur über das Lesen und anschließende Diskutieren verschiedener Texte lasse sich dieses zwingende staatliche Interesse erreichen. Es bestehe auch keine andere Möglichkeit, die Kinder frühzeitig mit den unterschiedlichen, in der Gesellschaft existierenden Standpunkten vertraut zu machen. Deren Kenntnis sei wiederum unerläßliche Voraussetzung für den Bestand des 304 827 F.2d. 1058, 1063 (1987). 305 827 F.2d. 1058, 1063 f. (1987). 306 827 F.2d. 1058, 1065 (1987): „The requirement that students read the assigned materials and attend reading classes, in the absence of a showing that this participation entailed affirmation or denial of a religious belief, or performance or non-performance of a religious exercise or practice, does not place an unconstitutional burden on the student's free exercise of religion". 307 827 F.2d. 1058, 1070(1987). 308 478 U.S. 675 ff. (1986). 309 827 F.2d. 1058, 1071 (1987). 310 827 F.2d. 1058, 1071 (1987).

§ 10 Fallgestaltungen

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Systems.311 Auch dürfe nicht übersehen werden, daß die Freistellung der Kinder vom Unterricht zu einer erheblichen Störung des gesamten Unterrichtsablauf führen und die bislang gängige Praxis vereitelt würde, daß Lehrer anderer Klassen auf die Inhalte der Holt-Bücher zurückgriffen und diese zum Gegenstand eigener Diskussionen in ihren Fächern machten. 312 Schließlich weist Kennedy darauf hin, daß durch die Freistellung der Schüler religiöse Unterschiede eine besondere Betonung erfahren und damit in den öffentlichen Schulen Kriterien hervorgehoben würden, die keine größere Rolle spielen dürften. 313 Hinter dieser scheinbar konkreten, auf den Fall bezogenen Argumentation Kennedys steht freilich die sehr viel weiter reichende Sorge vor einem Dammbruch: Würden Kinder erst einmal vom Besuch eines Kernfaches freigestellt, sei es nurmehr schwer möglich, weiteren Freistellungsbegehren Einhalt zu gebieten. Dies hätte zur Folge, daß ein vernünftiger Unterrichtsablauf kaum noch gewährleistet werden könnte. Das öffentliche Schulsystem würde faktisch lahmgelegt, wenn jedes einzelne Element, daß nicht mit den religiösen Ansichten der einen oder anderen Seite in Einklang zu bringen sei, zu einer Freistellung von Schülern führen müßte. 314 Richter Boggs schließlich kann weder die Argumentation Livelys noch jene Kennedys teilen. Nach Ansicht von Boggs knüpft die Argumentation Livelys bereits an einer fehlerhaften Prämisse an, wenn dieser davon ausgehe, daß es die Schüler grundweg ablehnten, anderen Ansichten ausgesetzt zu sein. Die Schüler wendeten sich lediglich gegen die in der Holt-Reihe vermittelten Auffassungen. 315 Ein Eingriff in die Free Exercise-Rechte scheide nicht schon deshalb aus, weil die Kinder nicht zu einem ihrem Glauben widersprechenden Verhalten gezwungen werden. Auch das bloße Lesen von Texten könne ein dem eigenen Glauben widersprechendes Verhalten begründen. 316 Mit Blick auf die Ansicht Kennedys, die den eventuellen Eingriff in die Free Exercise-Rechte der Schüler durch ein zwingendes staatliches Interesse gerechtfertigt sieht, vermißt Boggs einen ausreichenden Nachweis dafür, daß die Schüler nur durch das Lesen der Texte der „Holt-Reihe" eine angemessene Vorbereitung auf ihr späteres Leben erhalten. 317 Boggs weist darauf hin, daß die Anforderungen für ein compelling state interest hoch seien und ent311 827 F.2d. 1058, 1071 (1987). 312 827 F.2d. 1058, 1071 f. (1987). 313 827 F.2d. 1058, 1072(1987). 314 827 F.2d. 1058, 1072 f. (1987): „If the school district were required to accomodate exceptions and permit other students to opt-out of the reading program and other core courses with materials other found objectionable, this would result in a public school system impossible to administer". Kennedy stützt ihre Ansicht auch auf die Aussage Jackons in der McCollum-Entscheidung (333 U.S. 203, 235 [1948]): „If we are to eliminate everything that is objectionable to any of these warring sects or inconsistent with any of their doctrines, we will leave public education in shreds" (a. a. O., S. 1073). 315 827 F.2d. 1058, 1074 f. (1987) 316 827 F.2d. 1058, 1075 f. (1987) 317 827 F.2d. 1058, 1076 f. (1987).

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3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

sprechend dem im Fall Sherbert begründeten Standard „only the gravest abuses, endangering paramount interests, give occasion for permissible limitation". 3 1 8 Bei seinem eigenen Lösungsweg beschäftigt sich Boggs insbesondere mit der Frage, ob jede Belastung der Free Exercise-Rechte nur durch ein zwingendes staatliches Interesse gerechtfertigt werden könne. Seines Erachtens hat der Supreme Court bislang weder abschließend geklärt, wann eine religiöse Handlung überhaupt von der Free Exercise Clause geschützt wird, noch wie stark die Belastung der Free Exercise-Rechte sein muß, um eines zwingenden staatlichen Interesses zur Rechtfertigung zu bedürfen. 319 Boggs liest aus den bisherigen Entscheidungen heraus, daß der Supreme Court jedenfalls im Kontext mit dem öffentlichen Schulwesen kein solches zwingendes staatliches Interesse zur Rechtfertigung verlangt. Er verweist darauf, daß das Verfassungsgericht bislang in keinem Fall Lehrpläne wegen Verstoßes gegen Free Exercise-Rechte außer Kraft gesetzt habe. 320 Im konkreten Fall geht Boggs unter Rückgriff auf die bereits genannte Entscheidungen Sherbert und Thomas 321 davon aus, daß eine Belastung der Free Exercise-Rechte vorliege. In den beiden Präzedenzfällen habe der Supreme Court eine Belastung der Free Exercise-Rechte angenommen, als den Klägern - nachdem sie ihre Arbeit wegen Unvereinbarkeiten mit ihrem Glauben gekündigt hatten - die Arbeitslosenunterstützung mit der Begründung verweigert wurde, es fehle an einem vernünftigen Kündigungsgrund. Stellten bereits die monatlich fehlenden 1000 bis 2000 Dollar an Arbeitslosenunterstützung eine Belastung der Free Exercise-Rechte dar, müßte im vorliegenden Fall erst recht eine derartige Belastung angenommen werden, wenn Schüler über Jahre hinweg dazu verpflichtet würden, Lesebücher zu verwenden, die der eigenen religiösen Anschauung widersprechen. 322 Allerdings sei der Rechtsprechung des Supreme Court nicht zu entnehmen, daß jeder religiös motivierte Einwand eines Schülers gegen Unterrichtsinhalte nur durch ein zwingendes staatliches Interesse zu rechtfertigen sei. 3 2 3 Daraus müsse gefolgert werden, daß erst dann Einwände gegen Lehrinhalte erhoben werden könnten, wenn ein Verstoß gegen die Establishment Clause vorliege. 324 Die erfolgreiche Geltend318 827 F.2d. 1058, 1077 (1987) u n t e r (1963). 319 827 F.2d. 1058, 1078 f. (1987). 320 827 F.2d. 1058, 1079 (1987).

B e r u f u n g a u f S h e r b e r t v. V e r n e r ,

374

U.S.

398, 406

321 Sherbert v. Verner, 374 U.S. 398 (1963); Thomas v. Review Board, 450 U.S. 707 (1981). 322 8 27 F.2d. 1058, 1079(1987). 323 8 27 F.2d. 1058, 1079 f. (1987). Ferner weist Boggs darauf hin, daß auch die Verfasser der Bill of Rights die Anwendung der „free exercise of religion" nicht auf derartige Fallgestaltungen erstreckt hätten, wenn sie sich der Problematik hätten stellen müssen - was angesichts eines fehlenden flächendeckenden öffentlichen Schulsystems allerdings nicht notwendig war (a. a. O., S. 1080). 324 8 27 F.2d. 1058, 1080 (1987): „Therefore I conclude that under the Supreme Court's decisions as we have them, school boards may set a curricula bounded only by the Establishment Clause as the state contends".

§ 10 Fallgestaltungen

209

machung der Free Exercise-Rechte wird damit von der Verletzung der Establishment Clause abhängig gemacht. Da nach Ansicht von Boggs im vorliegenden Fall keine Verletzung der Establishment Clause ersichtlich ist, gelangt er ebenfalls zu dem Ergebnis, daß die Schule mit dem Gebrauch der „Holt-Serie" nicht gegen das First Amendment verstoßen habe. 325

III. Grove v. Mead School District No. 354 I m Fall Grove v. Mead School District

No. 354 326

machte ein Elternpaar gel-

tend, daß die Weigerung der Schule, einen bestimmten Roman aus dem Lehrplan der Englischklasse zu streichen, gegen das First Amendment verstoße. In der Klasse ihrer Tochter, die das 10. Schuljahr besuchte, wurde der Roman „The Learning Tree" gelesen, in dem die Geschichte eines schwarzen Jugendlichen dargestellt wird, der im Prozeß des Erwachsenwerdens verschiedene Werte - darunter auch, jedoch auf keinen Fall vorrangig religiöse Werte - hinterfragt. Die Eltern hielten es mit dem Glauben ihrer Tochter nicht für vereinbar, dieses Buch zu lesen, so daß sie von der Lektüre freigestellt und ihr stattdessen ein anderer Roman zugewiesen wurde. Darüber hinaus wurde ihr die Erlaubnis erteilt, während des Englischunterrichts das Klassenzimmer zu verlassen. Dies reichte den Eltern jedoch immer noch nicht aus. Sie verlangten die Streichung des Romans vom Lehrplan und stützten ihr Verlangen sowohl auf die Free Exercise- als auch auf die Establishment Clause. Mit Blick auf letztere machten sie geltend, daß das Buch der religion of secularism Vorschub leiste und - damit einhergehend - christliche Werte unterdrücke. Die Schulverwaltung weigerte sich, dem Anliegen nachzukommen und das Buch aus dem Lehrplan zu entfernen. Der mit dem Fall betraute District Court konnte bei der Beurteilung des Falles im Wege des beschleunigten Verfahrens keine Verletzung des First Amendment feststellen. 327 Der Court of Appeals stimmte dem District Court im Ergebnis zu. Richter Wright, der die Begründung für das Court of Appeals schreibt, betont zunächst routinegemäß, daß den Schulen bei der Gestaltung ihres Unterrichts ein großer Spielraum zukomme und das Gericht die schulischen Maßnahmen nur daraufhin überprüfen dürfe, inwieweit sie gegen Verfassungswerte verstoßen. Wright kann im übrigen weder einen Verstoß gegen die Free Exercise noch gegen die Establishment Clause erkennen. Ein Eingriff in die Free Exercise Clause liege erst dann vor, wenn ein Kind durch eine staatliche Maßnahme zu einem bestimmten, seinem Glauben widersprechenden Verhalten gezwungen werde. Entscheidend seien darüber hinaus drei Kriterien, die bei der Prüfung der Free Exersice Clause zu berücksichtigen sind: (1) die Intensität des Eingriffs in die Free Exercise 325 827 F.2d. 1058, 1081 (1987). 326 753 F.2d. 1528 ff. (1985). 327 753 F.2d. 1528, 1531 (1985). 14 Rathke

210

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Clause, (2) das Vorliegen eines zwingenden staatlichen Interesses zur Rechtfertigung des Eingriffs und (3) das Ausmaß, in dem die Anpassung an die Free Exercise-Rechte den staatlichen Zielen zuwiderlaufen würde. 328 Im vorliegenden Fall liege allenfalls eine minimale Belastung der Free Exercise-Rechte des Kindes vor, das sowohl vom Lesen des Buches als auch von der Anwesenheit in der Klasse befreit war, so daß es in keiner Weise gezwungen wurde, seinem Glauben widersprechende Ausführungen anzuhören. Solche minimalen Belastungen reichen - so Wright - nicht aus, um einen Verstoß gegen die Free Exercise Clause zu begründen. Inwieweit der vorliegende Sachverhalt mit der Establishment Clause in Einklang steht, beurteilt Wright auf Grundlage des Lemon Tests. Ohne auf die einzelnen Prüfungsstufen näher einzugehen, kommt er zu dem Ergebnis, daß das Buch bereits deshalb mit der Establishment Clause zu vereinbaren sei, weil die religiösen Passagen einen untergeordneten Platz im Roman einnähmen und das Hauptanliegen des Romans darin bestünde, einen Einblick in die Schwierigkeiten einer sozialen Randgruppe zu gewähren. 329 Richter Canby fügt, ohne im Ergebnis zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts zu gelangen, eine eigene Anmerkung hinzu, in der er sich - bei der Frage der Vereinbarkeit des Sachverhalts mit der Establishment Clause - mit dem Einwand der Eltern auseinandersetzt, das Lesen des Buches unterstütze die religion of secular humanism in unzulässiger Weise. 330 Canby nimmt dabei bemerkenswerterweise zunächst eine begriffliche Klärung vor: Seines Erachtens setzen die Kläger die Begriffe „secular" sowie „humanist" mit dem Begriff anti-religiös gleich. Für eine derartige Gleichsetzung gibt es seiner Ansicht nach jedoch keine Berechtigung. Er weist darauf hin, daß der sog. „humanism" nicht zwingend mit religiösen, insbesondere nicht mit theistischen Überzeugungen in Widerspruch stehe. 331 Bei der Prüfung des Lemon Tests scheint sich Canby nicht zwischen dem ursprünglichen in der Entscheidung Lemon ν. Kurtzman 332 und dem später modifizierten Lemon Test - dem Endorsement Test - entscheiden zu können und zieht die Kriterien beider Tests zur Beurteilung des Sachverhalts heran. Zunächst stellt er fest, daß es im vorliegenden Fall zu keiner Verquickung von Staat und Religion komme. Das zu lesende Buch sei von keiner humanistischen Organisation gekauft noch sonstwie zur Verfügung gestellt worden. 333 Ferner werde mit dem Buch ein säkularer Zweck verfolgt: Die Schüler sollten unterschiedliche kulturelle Einstellungen und Sichtweisen kennenlernen. Es werde weder der Zweck verfolgt, eine 328 753 F.2d. 1528, 1533 (1985). 329 7 53 F.2d. 1528, 1534(1985). 330 753 F.2d. 1528, 1535 (1985). Als synonym für „religion of secular humanism" werden die „religion of secularism" und die „religion of humanism" gesehen. 331 753 F.2d. 1528, 1535 f. (1985). „Humanism, for example, is not necessarily incompatible with religion generally or with theistic commitments, including Christianity, in particular" (a. a. O., S. 1536). 332 403 U.S. 602 (1971). 333 753 F.2d. 1528, 1538(1985).

§ 11 Fazit

211

Religion in besonderer Weise zu billigen noch zu mißbilligen. 334 Die religiösen Aspekte in dem Buch nähmen keine hervorgehobene Position ein, die diesbezüglichen Aussagen stünden vielmehr in einem übergeordneten Kontext, in dem es um die Probleme eines heranwachsenden farbigen Jugendlichen geht. Im übrigen könne die Beurteilung, inwieweit sich die Schule zum Fürsprecher einer bestimmten Religion macht, nicht nur auf ein Buch gestützt werden, vielmehr müsse dafür der gesamten Lehrplan berücksichtigt werden, zumal Bücher im Regelfall Träger von Meinungen seien und damit gar nicht erst die Intention besäßen, objektiv zu sein. 335 Aus dem gesamten Lehrplan dürfe sich keine Billigung oder Mißbilligung einer bestimmten Religion ergeben. Im vorliegenden Fall lasse sich aus dem Lehrplan der Schule aber nicht entnehmen, daß dieser in irgendeiner Weise der religion of secular humanism eine bevorzugte Stellung einräume. 336

§ 11 Fazit Die Skizze der amerikanischen Rechtslage zeigt, daß die Handhabung und die Auslegung der religiösen Garantien des First Amendment in den Vereinigten Staaten Wandlungen unterworfen und nicht immer frei von Widersprüchen sind. Gleichwohl zeichnet sich die Rechtsprechung des Supreme Court durch eine vergleichsweise große Kontinuität aus. Das Verfassungsgericht ist von Beginn an bemüht, den Religionsbegriff des First Amendment präzise zu umschreiben, um die religiösen Garantien klar von den sonstigen Garantien - insbesondere der Redefreiheit - abzugrenzen. Zwar geht der Supreme Court zunächst von einem äußerst engen, ausschließlich theistischen Religionsverständnis aus, doch paßt er seine Definition dem Wandel der Zeit an und versucht, den Erfordernissen einer modernen pluralistischen Gesellschaft gerecht zu werden. Aber nicht nur bei der Definition des Religionsbegriffs ist der Supreme Court darum bemüht, eine einheitliche Leitlinie zu entwickeln. Im Laufe der Rechtsprechung sind für die Prüfung der Establishment und der Free Exercise Clause feste Standards herausgebildet worden, die der ganz überwiegenden Zahl der entsprechenden Fallgestaltungen zugrundelegt werden: Der - inzwischen modifizierte - Lemon Test für die Establishment sowie der compelling interest test für die Free Exercise Clause sind dafür prägnante Beispiele. Wenngleich sowohl innerhalb des Supreme Court als auch im Schrifttum über Feinheiten einzelner Prüfkriterien diskutiert wird, besteht kein Zweifel, daß die Festlegung der Standards für ein vergleichsweise hohes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bei der Anwendung und Auslegung der Religionsfreiheit geführt hat. 334 753 F.2d. 1528, 1539 (1985). 335 7 53 F.2d. 1528, 1540 (1985). „Instead, objectivity is to be assessed with reference to the manner in which often highly partisan, subjective material is presented, handled, and integrated into the school curriculum ( . . . )". 336 753 F.2d. 1528, 1541 (1985). 14*

212

3. Kap.: Schule und Religionsfreiheit in den Vereinigten Staaten

Die Entscheidungen zur Problemstellung „öffentliche Schule und Religion" machen deutlich, daß - entgegen dem vor allem in der deutschen Literatur gängigen Bild - die in der Establishment Clause des First Amendment festgelegte Trennung von Staat und Kirche den Staat nicht dazu verpflichtet, den religiösen Bereich völlig zu ignorieren. Der Supreme Court geht vielmehr noch darüber hinaus und spricht dem Staat die Verpflichtung zu, gezielt Regelungen religiösen Inhalts zu erlassen, wenn ohne ein staatliches Tätigwerden die free exercise-Rechte einzelner unverhältnismäßig stark beeinträchtigt würden. Auch in den Vereinigten Staaten steht der Staat damit in dem klassischen Spannungsverhältnis, einerseits Distanz zum religiösen Sektor wahren zu müssen, andererseits jedoch den free exerciseRechten des einzelnen einen ausreichenden Entfaltungsraum zu garantieren. Die dargestellten Entscheidungen veranschaulichen die unvermeidliche Gratwanderung des Supreme Courts zwischen der Establishment Clause auf der einen und den free exercise-Rechten auf der anderen Seite. Nur leicht verkürzt läßt sich sagen, daß der Supreme Court erst dann einen Verstoß gegen die Establishment Clause des First Amendment annimmt, wenn der Staat aktiv eine Religion oder religiöse Übungen unterstüzt oder zumindest einen derartigen Eindruck erweckt. Dementsprechend ist es dem Staat verwehrt, offiziell religiöse Übungen an den öffentlichen Schulen abzuhalten, Schweigeminuten mit dem Hinweis zu versehen, diese zum Gebet zu nutzen, oder religiöse Texte an den Wänden öffentlicher Schulen anzubringen. Auf der anderen Seite betont der Supreme Court wiederholt, das nichts dagegen einzuwenden sei, wenn Schüler während der Pausen für sich oder gemeinsam mit anderen religiösen Übungen nachgehen. Ein derartiges Verhalten sei im Gegenteil Ausdruck der free exercise-Rechte. Diese differenzierende Grenzziehung zeigt, daß die Schüler öffentlicher Schulen in den Vereinigten Staaten keineswegs ihre Religion an den Schultüren ablegen müssen. Ihnen wird im Gegenteil ausdrücklich gestattet, innerhalb des schulischen Bereichs religiösen Verpflichtungen nachzukommen, soweit diese den Unterrichtsablauf nicht beeinträchtigen. Ein weiterer Beleg dafür, daß der Staat die religiösen Eigenarten seiner Schüler zu berücksichtigen hat, ist die verfassungsrechtlich anerkannte Verpflichtung, Schüler unter bestimmten Voraussetzungen vom Unterricht freizustellen. Im Unterschied zu den deutschen Gerichten haben sich amerikanische Gerichte mit vielfältigen Freistellungsbegehren aus religiösen Gründen auseinandersetzen müssen. Dabei ist zu beobachten, daß der Supreme Court trotz der großen Bedeutung, die er den free exercise-Rechten zuspricht, lediglich zeitweise Freistellungen vom Unterricht anerkannt, eine vollständige Befreiung von der Schulpflicht im Grundsatz aber strikt ablehnt. Abgesehen von der Entscheidung Wisconsin v. Yoder, die aufgrund ihrer Eigenart nicht auf andere Fallgestaltungen übertragbar sein dürfte, 337 hat der Supreme Court bislang keine Ausnahmen von der allgemeinen Schulpflicht anerkannt. Obwohl der schulische Bereich in der amerikanischen (Bundesverfassung keine Erwähnung findet und dementsprechend die Schulpflicht nicht un337 Näher dazu oben S. 178 f.

§ 11 Fazit

213

mittelbar verfassungsrechtlich verankert ist, hebt der Supreme Court immer wieder die zentrale Rolle hervor, die der Schule in einer demokratischen Gesellschaft zukomme. Sie diene der Vorbereitung des einzelnen auf die moderne Gesellschaft, insbesondere auf seine spätere Rolle als Bürger. Eine vollständige Befreiung von der Schulpflicht sei mit dieser staatlichen Zielsetzung unvereinbar. Ebenfalls wenig Erfolg hatten bislang Klagen von Eltern und Schülern, die bestimmte Unterrichtsmaterialien wegen Unvereinbarkeiten mit ihrem religiösen Glauben aus dem Lehrplan gestrichen sehen wollten. Zwar hat der Supreme Court bislang keinen entsprechenden Fall zur Entscheidung angenommen, die Instanzgerichte haben in dieser Hinsicht aber große Zurückhaltung gezeigt. Sie betonen einheitlich den weiten Ermessensspielraum, der den School Boards bei der Aufstellung der Lehrpläne zukomme. Als generelle Leitlinie scheint sich herauskristallisiert zu haben, daß Unterrichtsinhalte erst dann vom Lehrplan zu entfernen sind, wenn sie gegen die Establishment Clause verstoßen. Nicht ganz einheitlich wird demgegenüber die Frage beantwortet, ob Schüler, die es aus religiösen Gründen ablehnen, bestimmten Unterrichtsinhalten ausgesetzt zu sein, vom Unterricht freizustellen oder gleichwohl zum Besuch des Unterrichts verpflichtet sind. In den bisherigen Entscheidungen klingt die Befürchtung an, daß eine zu großzügige Freistellungspraxis letztlich den staatlichen Interessen zuwiderlaufe. Tendenziell scheinen die Gerichte zu einer eher restriktiven Handhabung der Freistellungsgesuche zu neigen. Damit befinden sich die Instanzgerichte in weitgehender Übereinstimmung mit dem deutschen Bundesverwaltungsgericht 338, das anläßlich der Freistellung einer muslimischen Schülerin vom koedukativen Sportunterricht anmerkt, daß eine Ausweitung auf andere Fallgestaltungen aufgrund der Bedeutung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags ausgeschlossen sei.

338 BVerwG NVwZ 1994, 578 (580); näher dazu oben S. 141 ff.

4. Kapitel

Einflüsse und Rahmenbedingungen der neueren politischen Philosophie Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, daß die aufgezeigten Konflikte regelmäßig deshalb entstehen, weil der Staat bei der schulischen Erziehung Werte vermittelt, die nicht immer und nicht in jeder Hinsicht mit den Werten der Schüler bzw. deren Eltern übereinstimmen. Der schulische Bereich provoziert geradezu eine derartige Kollision, da aufgrund der sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten bestehenden Schulpflicht alle Kinder, die nicht an einer staatlich anerkannten Privatschule unterrichtet werden, eine öffentliche Schule besuchen müssen und eine Vielzahl unterschiedlicher, im außerschulischen Umfeld erworbener Werte in sie hineintragen. Sie treffen dort auf eine staatlich initiierte und organisierte schulische Ausbildung, die gezielt Inhalte vermittelt und - untrennbar damit verbunden - wertbezogene Unterrichtsziele vorgibt. Dieser Befund legt die grundlegende Untersuchung nahe, ob überhaupt - und gegebenenfalls welche - Werte der Staat legitimerweise vermitteln und damit auch in den von ihm geprägten schulischen Unterricht einbringen darf. Dieser Frage soll unter Rückgriff auf neuere Strömungen der politischen Philosophie nachgegangen werden, die sich im Zuge der in den Vereinigten Staaten aufgekommenen - und inzwischen auch in Deutschland etablierten - Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte herauskristallisiert haben.1 In den vergangenen Jahren hat sich diese Debatte schwerpunktmäßig mit der Frage befaßt, auf welcher moralischen Grundlage sich eine moderne Gesellschaft konstituiert. 2 Die Beantwortung dieser Frage hat - wie in der Diskussion wiederholt hervorgehoben wird - erhebliche Auswirkungen auf den schulischen Bereich. Baut der Zusammenhalt der Gesellschaft auf gewissen 1 Vgl. ganz allgemein zu dieser Debatte Brumlik/Brunkhorst, Gemeinschaft und Gerechtigkeit; Forst, Kontexte der Gerechtigkeit; Honneth, Kommunitarismus; Kersting, Liberalismus, Kommunitarismus, Republikanismus, in: Apel/Kittner, Diskursethik, 127 ff.; ders., Liberalismus und Kommunitarismus, Information Philosophie 1993, 4 ff.; Reese-Schäfer, Was ist Kommunitarismus?; ders., Grenzgötter der Moral. 2

Bereits an dieser Stelle sei erwähnt, daß sich neben den Kommunitaristen und Liberalisten mit den Republikanern noch eine dritte Gruppierung herausgebildet hat, die im Regelfall dem kommunitaristischen Lager zugerechnet wird. Im folgenden wird sich jedoch zeigen, daß die Republikaner in einigen bedeutenden Aspekten von kommunitaristischen Ausgangspositionen abweichen, so daß ihnen eine eigenständige Bedeutung zukommt, die auch eine isolierte Darstellung rechtfertigt. Zur Einordnung des Republikanismus vgl. auch Oldfield, Citizenship, S. 145.

§ 12 Liberalismus - Kommunitarismus - Republikanismus

215

Gemeinsamkeiten an von allen geteilten moralischen Werten auf, kann es den öffentlichen Schulen nicht verwehrt sein, diese Werte auch der schulischen Erziehung zugrundezulegen. Vor diesem Hintergrund ist für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse, welche Konsequenzen sich aus den philosophischen Strömungen konkret für die Frage schulischer Wertevermittlung ergeben. Dies gilt umso mehr, als die einzelnen philosophischen Strömungen den Versuch unternehmen, eigene Erziehungstheorien zu entwickeln. Ihnen muß besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die aus der Debatte gewonnenen Erkenntnisse sowie die daraus abgeleiteten Erziehungstheorien können jedoch für die vorliegende Arbeit nur nutzbar gemacht werden, wenn in einem weiteren Schritt die verfassungsrechtlichen Vorgaben der jeweiligen Länder - der Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik - in die Betrachtung einbezogen werden. In dem Maße, in dem die Verfassungen selbst inhaltliche Vorgaben treffen und gewisse Werte verkörpern, setzen sie den einzelnen Erziehungstheorien von vornherein Grenzen. Diese ergeben sich für das deutsche Verfassungsrecht vor allem daraus, daß das Grundgesetz - im Gegensatz zur amerikanischen Verfassung - mit Art. 7 GG eine Regelung enthält, die sich explizit mit dem Schulbereich befaßt. Die Grundlagendebatte und die darauf fußenden Erziehungstheorien werden verdeutlichen, warum die Auslegung dieser Verfassungsnorm und insbesondere des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG eine derart umstrittene Thematik ist. Hinter der Auslegung des Aufsichtsbegriffs steht zwangsläufig die Frage, wie weitreichend der Einfluß des Staates auf die - insbesondere inhaltliche - Gestaltung des Schulwesens sein darf. Welche Rolle dem Staat bei der Gestaltung des Schulwesens zugewiesen wird, hängt wiederum von den Vorverständnissen darüber ab, welche Befugnisse dem Staat bei der Vermittlung von Inhalten und Werten in einer modernen Gesellschaft zustehen.

§ 12 Liberalismus - Kommunitarismus - Republikanismus A. Einführung Hinter der Bezeichnung „Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte" stehen keine zwei in sich homogenen, miteinander im Widerstreit stehenden Geistesströmungen. Die an der Debatte beteiligten Autoren wurden erst im Laufe der Auseinandersetzung dem einen oder anderen Lager zugerechnet. Dementsprechend weisen die Stimmen innerhalb der einzelnen Gruppierungen - zum Teil erhebliche Abweichungen voneinander auf. Dennoch verbindet alle Autoren der jeweiligen Gruppierung ein ähnliches Grund Verständnis über die zentralen, eine Gesellschaft zusammenhaltenden Elemente. Diese Grundsteine der einzelnen Richtungen sollen im folgenden in den Blick genommen werden. Ihren Ausgangspunkt nahm die Debatte mit Rawls' 1971 erschienenem Werk „A Theory of Justice"3, das einen immensen Impuls in die bis dahin eher stagnie-

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

rende politikphilosophische Landschaft brachte. Das Buch löste eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen - von rigoroser Ablehnung bis hin zu euphorischer Zustimmung - aus, wobei sich unter den Kritikern der Autor Michael Sandel mit seinem Werk „Liberalism and the Limits of Justice" besonders hervortat. 4 Er wird seither als der Gegenspieler von Rawls schlechthin betrachtet. Erst später sind diese beiden Autoren, Rawls und Sandel, zum Sinnbild für die sich inzwischen formierenden, widerstreitenden Lager geworden, Rawls als Vertreter der Liberalisten, Sandel als Vertreter der Kommunitaristen. Um sie gruppieren sich - je nachdem, ob sie tendenziell eher als Befürworter oder Gegner des Liberalismus einzustufen sind - weitere Autoren. 5 Wichtig ist jedoch die Feststellung, daß der Kommunitarismus aus einer Kritik am Liberalismus heraus entstanden ist. Die Kommunitaristen stellten den Liberalisten zunächst keine eigene Konzeption gegenüber. Sie beschränkten sich auf die Hervorhebung der konstruktiven Schwächen des Liberalismus. Zunächst wurde Rawls Werk und die sich daran entwickelnde sog. Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte nur in engen philosophischen Kreisen diskutiert. Die breite Öffentlichkeit erreichte die Debatte erst, als sie ihren Schwerpunkt zunehmend auf die Fragestellung nach den moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften verlagerte. Immer mehr rückte damit nicht nur die moderne Gesellschaft, sondern der moderne Verfassungsstaat in den Mittelpunkt der Diskussion. Dieser Wandel erregte das Interesse verschiedener anderer Disziplinen, insbesondere der Soziologie und der politischen Theorie. 6 Erst in dem Zeitpunkt, in dem eine Konkretisierung der Fragestellung auf die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften vorgenommen wurde, tauchte immer häufiger ein weiterer Begriff in der Auseinandersetzung zwischen Liberalisten und Kommunitaristen auf: jener des Republikanismus. Der erst im Zuge der Debatte so genannte Republikanismus entwickelt - wie bereits seine Bezeichnung vermuten läßt - ebensowenig wie der Liberalismus eine vollkommen neuartige, bisher unbekannte Konzeption. Der Republikanismus 3 Das 1971 in den USA erschienene Buch liegt seit 1979 in deutscher Übersetzung vor, auf die sich die folgenden Verweise beziehen. 4 In diesem Sinne auch Honneth, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Kommunitarismus, 7 (9). 5 So werden unter anderem die Autoren Dworkin, Nagel sowie Ackerman dem liberalistischen, Taylor, Maclntyre sowie Walzer dem kommunitaristischen Lager zugerechnet; vgl. dazu Honneth, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Kommunitarismus, 7. 6 Als Soziologen beteiligten sich beispielsweise Bellah und Maclntyre an der Debatte. Ersterer verfaßte seine beiden Hauptwerke, „Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life" und „The Good Society" in Zusammenarbeit mit Madsen, Sullivan, Swidler und Tipon. Von Maclntyres Veröffentlichungen seien an dieser Stelle der Aufsatz „Is Patriotism a Virtue?" und sein Buch „After Virtue" genannt. Als Politologen taten sich unter anderen Gutmann mit ihrem Aufsatz „Communitarian Critics of Liberalism", Walzer mit Veröffentlichungen wie „The Moral Standing of States", „Liberalism and the Art of Separation", „The Communitarian Critique of Liberalism" - und seinem Buch „Spheres of Justice" sowie Barber mit seinen Werken „Strong Democracy" und „Conquest of Politics" hervor.

§12 Liberalismus - Kommunitarismus - Republikanismus

217

greift auf das Ideengut des klassischen Republikanismus zurück, bemüht sich jedoch darum, die Gedanken an die Gegebenheiten eines modernen westlichen Verfassungsstaates anzupassen. Worin die Unterschiede zwischen den beiden Ausprägungen im einzelnen bestehen, wird an späterer Stelle zu sehen sein.7 Hier soll zunächst der Hinweis genügen, daß die Republikaner - wie erwähnt - grundsätzlich dem kommunitaristischen Lager zugerechnet werden, obwohl zwischen beiden Gruppen durchaus Unterschiede bestehen. Genau diese Unterschiede sind Ursache dafür, daß der Kommunitarismus immer weiter in den Hintergrund tritt und vom Republikanismus mehr oder weniger verdrängt wird. Die Unterschiede zwischen Kommunitaristen und Republikanern beziehen sich primär auf die Grundprämissen der jeweiligen Konzeption. Die Kommunitaristen legen ihren theoretischen Ansätzen eine geschlossene, in sich relativ homogene Gemeinschaft zugrunde. Damit stellen sie sich von Beginn an in einen Gegensatz zum Liberalismus, der nicht von Gemeinschaft, sondern von Gesellschaft spricht, die aus einer Vielzahl von Gemeinschaften mit jeweils voneinander abweichenden Wertvorstellungen besteht. Die Republikaner verlassen ebenfalls die Ebene der Gemeinschaft und gehen - ähnlich wie die Liberalisten - von den tatsächlichen Gegebenheiten eines modernen, westlich geprägten Verfassungsstaates aus. Für diesen soll gerade die Vielfalt ganz unterschiedlicher Gemeinschaften und Gruppierungen mit je eigenen Wertvorstellungen kennzeichnend sein. Gleichwohl soll jedoch nicht auf von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilte Wertvorstellungen verzichtet werden. Das Aufkommen des Republikanismus macht deutlich, daß der Wandel in der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte hin zu der Frage nach den moralischen Grundlagen moderner und damit zugleich pluralistischer Gesellschaften dem klassischen kommunitaristischen Ansatz, der auf überschaubare und in sich weitestgehend homogene Gemeinschaften ausgerichtet ist, das Fundament entzieht. In einer zweiten Phase der Debatte stehen sich nicht mehr das liberalistische und das kommunitaristische, sondern das liberalistisehe und das republikanische Lager gegenüber, so daß die Debatte in diesem Abschnitt an sich die Bezeichnung Liberalismus-Republikanismus-Debatte tragen müßte. Der gängigen Terminologie folgend wird jedoch auch im weiteren die gesamte Auseinandersetzung unter dem Oberbegriff Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte geführt. Eine erschöpfende Darstellung der Debatte ist sowohl aufgrund des Zuschnitts als auch der Fragestellung der Arbeit weder möglich noch beabsichtigt. Kenner der gesamten Debatte werden daher einige Repräsentanten des einen oder anderen Lagers vermissen. Verallgemeinerungen und Pauschalierungen lassen sich jedoch nicht vermeiden, wenn die Auseinandersetzung nicht bis in alle Einzelheiten hinein verfolgt werden soll. Entscheidend sind die wesentlichen Grundzüge der Debatte, beginnend mit Rawls' Wiederbelebung liberalistischer Überlegungen, der daran anknüpfenden Kritik der Kommunitaristen sowie der Fortentwicklung der Debatte hin zu einer Konzentration auf die moralischen Grundlagen moderner Verfassungsstaaten. 7

Näher dazu unten S. 237 f.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

B. Grundansätze der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte I. Der Ausgangspunkt bei Rawls In seinem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit" äußert Rawls seine Vorstellungen darüber, anhand welchen Prinzips bzw. welcher Prinzipien Gesellschaften zu ordnen sind. Wie bereits aus dem Titel seines Werkes hervorgeht, baut er seine Gesellschaftskonstruktion auf dem Prinzip der Gerechtigkeit als Fairneß auf. Ausgangspunkt seiner Konzeption ist eine neuzeitliche Vertragstheorie, die sich auf das Prinzip der Fairneß stützt. Gerecht ist danach all das, worauf sich freie und gleiche Bürger unter fairen Bedingungen einigen würden. 8 Rawls geht davon aus, daß in einer Gesellschaft unzählig viele Vorstellungen darüber bestehen, was als gerecht bzw. als ungerecht anzusehen ist. Dennoch sei allen einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft gemeinsam, daß sie bestimmte Gerechtigkeitsvorstellungen besitzen. Alle sähen daher „die Notwendigkeit bestimmter Grundsätze für die Festsetzung der Grundrechte und -pflichten und der als gerecht betrachteten Verteilung der Früchte und Lasten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit, und sie sind bereit, solche anzuerkennen. Man kann sich also natürlicherweise einen Gerechtigkeitsbegriff denken, der aus der ihnen gemeinsamen Rolle besteht."9 Mit seiner Gerechtigkeitskonzeption nimmt Rawls ganz bewußt von der Vorstellung Abstand, Gesellschaften auf der Grundlage von moralischen Werten aufzubauen. Dahinter steht auch hier seine Erkenntnis, daß in jeder Gesellschaft stark voneinander abweichende Vorstellungen darüber bestehen, welche moralischen Werte zu einem glücklichen Leben gehören und damit zum Fundament einer glücklichen Gesellschaft gemacht werden könnten. Formiert sich eine Gesellschaft auf moralischen Grundlagen, fehlt ihr nach Ansicht Rawls die intersubjektive Begründbarkeit, da sich nicht alle Bürger mit den vorgegebenen Moralvorstellungen identifizieren können. Aus diesen Erwägungen heraus abstrahiert Rawls seine Konzeption von moralischen Wertvorstellungen und gründet sie auf den von allen geteilten Gedanken der Gerechtigkeit. Die Rawlssche Organisation der Gesellschaft auf dem von Moralvorstellungen befreiten Prinzip der Gerechtigkeit als Fairneß läßt jedoch keinen Rückschluß darauf zu, welche konkreten Leitlinien daraus für die Organisation der Gesellschaft zu folgern sind. Bei der in einem weiteren Schritt vorzunehmenden Konkretisierung geht es um die Frage, nach welchen Grundsätzen die - von Rawls so genannten - Grundgüter am gerechtesten verteilt werden. Als Grundgüter werden jene Güter bezeichnet, die im Regelfall zur Realisierung rationaler Lebenspläne erforderlich sind. Dazu sollen in erster Linie gesellschaftliche Grundgüter wie „Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen" zählen.10 Die Leitlinien, nach denen 8 Rawls , Theorie der Gerechtigkeit, S. 28. 9 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 21.

§12 Liberalismus - Kommunitarismus - Republikanismus

219

die Verteilung dieser gesellschaftlichen Grundgüter erfolgt, müssen derart beschaffen sein, daß sie „von den Partnern unter allen wesentlichen voraussehbaren Umständen einhaltbar" sind. 11 Um jene Gerechtigkeitsprinzipien zu finden, die in jeder Situation befolgt werden und damit als Grundlage einer gerechten Gesellschaft dienen können, versetzt Rawls die Individuen in einen fiktiven Zustand, den sog. Urzustand (original position). In diesem besitzen alle Individuen gleiche Rechte und agieren unter einem „Schleier des Nichtwissens". Sie befinden sich in Unkenntnis über ihre psychischen und physischen Eigenschaften sowie über ihre soziale Herkunft, so daß der Ausgang ihrer Entscheidungsfindung unbeeinflußt davon ist, ob die aufgestellten Prinzipien ihnen später - nach Wegfall des Schleiers - irgendwelche persönlichen Vor- oder Nachteile verschaffen. 12 Die als Vertragspartner gedachten Individuen unterliegen allerdings der Bedingung, im Urzustand nur solche Grundsätze aufzustellen, die keinem einzelnen eine derart große Belastung zumuten, daß er nach Wegfall des Schleiers und damit in Kenntnis seiner persönlichen gesellschaftlichen Stellung nicht mehr gewillt oder in der Lage ist, den gemeinsam beschlossenen Grundsätzen Folge zu leisten.13 Dem damit verbundenen Aspekt der Vertragstreue, die beschlossenen Grundsätze auch unter den für den einzelnen ungünstigsten Umständen einzuhalten, kommt im Rawlsschen Konzept zentrale Bedeutung zu. Da „die ursprüngliche Übereinkunft endgültig ist und für alle Zukunft besteht, gibt es keine zweite Möglichkeit mehr". 14 Auf der Grundlage dieser Erwägungen würden sich nach Ansicht von Rawls die Vertragspartner unter dem Schleier des Nichtwissens mit großer Wahrscheinlichkeit auf die folgenden zwei Grundsätze einigen und diese der Organisation ihrer Gesellschaft zugrundelegen: (1) Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. Darüber hinaus sind (2) soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie 10 Vgl. dazu näher Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 83. Diesen gesellschaftlichen Grundgütern stellt Rawls die Güter Gesundheit, Lebenskraft, Intelligenz und Phantasie gegenüber, die er als natürliche Grundgüter betrachtet, die nur indirekte Auswirkungen auf die Grundstruktur der Gesellschaft entfalten - Rawls, a. a. Ο., S. 83. 11 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 83. 12 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 29. In seinen späteren Abhandlungen, die stärker die politischen Aspekte seiner Theorie betonen, hat Rawls sein Verständnis vom Urzustand näher erläutert und den Urzustand einer gewissen Korrektur unterzogen. Er betont fortan, daß der Urzustand lediglich als Darstellungsmittel dient, d. h. „er beschreibt die Parteien, von denen jede für die grundsätzlichen Interessen einer freien und gleichen Person verantwortlich ist, wie sie unter fairen Bedingungen zu einer Übereinkunft gelangen, die angemessenen Beschränkungen in Bezug auf all das unterliegt, was als guter Grund gelten soll". In dem Moment, in dem der Urzustand nur als Darstellungsmittel betrachtet wird, soll der Einwand ausgeräumt sein, daß in ihm metaphysische Personen losgelöst von Zielvorstellungen und anderen Einflüssen agieren; vgl. dazu: Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (52 f.).

13 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 202. 14 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 202.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.15 Aus dem zweiten Grundsatz folgt, daß sich die Individuen offenbar nicht in jeder Hinsicht auf eine absolute Gleichheit einigen, sondern Ungleichheiten solange für zulässig erachten, wie diese letztlich dem Vorteil aller dienen. Dieser Grundsatz wird bisweilen auch als Differenzprinzip bezeichnet.16 Mit den zwei Prinzipien stellt Rawls - geleitet vom Prinzip der Gerechtigkeit und losgelöst von jeglichen Moral Vorstellungen - bestimmte Verfahrensgrundsätze auf, mittels derer die in der Gesellschaft jeweils geltenden Wertvorstellungen ermittelt werden. Diese Wert vorgaben werden autonom gesetzt und sind daher - unter Einhaltung des organisatorischen Rahmens - jederzeit abänderbar. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß es Rawls angesichts der Vielfalt der in einer pluralistischen Gesellschaft existierenden Moralvorstellungen ausschließt, eine Gesellschaft auf Moral Vorstellungen zu gründen. Anstelle von Moral Vorstellungen bietet er eine auf dem Gedanken der Gerechtigkeit aufbauende, verfahrensorientierte Konzeption an. Rawls gelangt mit seinen Überlegungen zu Grundsätzen, auf die sich freie und gleiche Bürger mit großer Wahrscheinlichkeit für die Organisation ihrer Gesellschaft einigen würden. Diese Grundsätze bilden jedoch zunächst nichts weiter als einen organisatorisch-prozeduralen Rahmen für den Ablauf gesellschaftlicher Prozesse, salopp gesprochen einen modus vivendi. Die sich im einzelnen herauskristallisierenden Wertvorstellungen bleiben allein dem gesellschaftlichen Prozeß überlassen.

II. Sandels Kritik an Rawls Sandels Kritik an Rawls Werk setzt an den von Rawls aufgestellten anthropologischen Prämissen an. Sowohl in Sandels Werk „Liberalism and the Limits of Justice" als auch in späteren Aufsätzen spricht er sich entschieden gegen die Rawlssche Konzeption des Urzustands aus. Soll „die Gerechtigkeit die erste Tugend" 17 sein, wie Rawls gleich zu Beginn seines Hauptwerkes formuliert, liege dieser Vorstellung ein bestimmtes Personenbild zugrunde. Nach Sandel basiert dieses Personenbild auf der Prämisse, daß der einzelne - als Vertragspartner - unabhängig und losgelöst von Moralvorstellungen zu handeln vermag. 18 Diese Prämisse hält Sandel bereits im Ansatz für verfehlt. Um seine Position zu verdeutlichen, stellt er in der Auseinandersetzung mit Rawls immer wieder zwei Begrifflichkeiten einander gegenüber: das Gute und das Rechte. Während der Topos des „Guten" eine Gemeinschaft kennzeichnen soll, die ihre Grundlage von vornherein 15 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 81 und 202. 16

So beispielsweise bei Sandel, Verfahrensrechtliche Republik, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 18 (26). 17 Rawls, Theorie der Gerechtigkeit, S. 19. 18 Sandel, Verfahrensrechtliche Republik, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 18 (24).

§ 12 Liberalismus - Kommunitarismus - Republikanismus

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in bestimmten unabänderbaren, von allen geteilten moralischen Werten findet, soll der Begriff des „Rechten" für die Rawlssche Konzeption stehen, derzufolge sich eine Gemeinschaft nicht über gewisse, von allen anerkannte Wertvorstellungen konstituiert, sondern nur über einen allgemeingültigen organisatorischen Rahmen, innerhalb dessen erst bestimmte - abänderbare - moralische Werte ermittelt werden. Auf dieser Grundlage formuliert Sandel in starker Verknappung seine Kritik am Rawlsschen Personenbild: „Nur wenn das Selbst gegenüber seinen Zwecken den Vorrang einnimmt, kann das Rechte gegenüber dem Guten primär sein. Nur wenn meine Identität nie an meine augenblicklichen Ziele und Interessen gebunden ist, kann ich mich als einen freien, unabhängigen und zum Wählen befähigten Akteur verstehen". 19 Eben diese Vorstellung von kontextlosen, von intersubjektiven Wertüberzeugungen befreiten Individuen lehnt Sandel ab. Seiner Ansicht nach beruht das Liberalismuskonzept in diesem Punkt auf falschen metaphysischen und metaethischen Voraussetzungen. Im Gegensatz zu Rawls geht Sandel davon aus, daß der einzelne unlösbar mit seiner Umgebung verflochten ist. Die Werte und Lebensziele, die er zur Grundlage seiner Handlungen macht, sind nach Sandel nicht autonom gesetzt, sondern aus interaktiven Prozessen mit der ihn umgebenden Gemeinschaft heraus entstanden. Die Gemeinschaft ist für die Identität des einzelnen insofern konstitutiv. Daraus ergibt sich für Sandel in bewußtem Gegensatz zu Rawls, daß einer Konzeption des Guten vor einer Konzeption des Gerechten der Vorrang einzuräumen sei, da der einzelne nur im Rahmen einer funktionierenden Gemeinschaft sein Selbst entdecken könne. Sandel geht davon aus, daß eine Person ohne Einbindungen in eine Gemeinschaft nie tatsächlich frei und rational handeln könne, sondern ein charakterloses Wesen ohne jegliche moralische Tiefe sei. 20 In späteren Aufsätzen macht Sandel deutlich, daß übergreifende Wertüberzeugungen auch für die moralische Integration eines politischen Gemeinwesens unerläßlich seien.21 Sandel setzt sich darüber hinaus kritisch mit dem von Rawls entwickelten zweiten Grundsatz - dem Differenzprinzip - auseinander. Bereits in seinem Werk „Liberalism and the Limits of Justice", insbesondere aber in seinem Aufsatz „Die verfahrensrechtliche Republik und das ungebundene Selbst" konzentriert sich Sandel auf diesen Aspekt. Seiner Ansicht nach ist das Differenzprinzip nicht mit Rawls Grundannahme kontextloser Individuen in Einklang zu bringen. Der Gedanke, daß der einzelne die ihm zufällig zuteil gewordenen individuellen Vorteile zum Wohl aller einzusetzen hat, erfordere eine moralische Verbindung zwischen den Individuen und verlange eine Identifikation des einzelnen mit jener Gemeinschaft, die seine Vorteile als Allgemeingut betrachtet. Genau diese Prämisse steht nach Sandel im Widerspruch zu dem liberalistischen Selbstverständnis der Loslösung von Moralvorstellungen, „denn wie wir bemerkt haben, verwirft das liberale Selbst 19

Sandel, Verfahrensrechtliche Republik, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 18 (25). 20 Sandel, Liberalism, S. 90. 21 Vgl. dazu nur Sandel, Morality, S. 16.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

gerade diejenigen konstitutiven Ziele und Verknüpfungen, die das Differenzprinzip zu retten und genauer zu bestimmen vermöchte; die von ihnen implizierten moralischen Bindungen und vorgängigen Verpflichtungen würden nämlich den Vorrang des Rechten untergraben". 22 Die skizzierten Ausführungen zeigen, daß sich Sandel im wesentlichen auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem Liberalismus, insbesondere mit Rawls, konzentriert. Er unternimmt nicht den Versuch, dem Liberalismus eine eigene Konzeption entgegenzustellen. Nur an wenigen Stellen lassen sich anhand der Kritik eigene konzeptuelle Ansätze ausmachen. Im Zusammenhang mit der Kritik an Rawls atomistischem Personenverständis trifft Sandel die Unterscheidung zwischen dem „situierten" und dem „radikal situierten" Selbst. Während ersteres in der Lage sei, die ihn umgebende und prägende Gemeinschaft mit den ihr eigenen Werten aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten und die vorgegebenen Werte kritisch zu hinterfragen, ohne jedoch jemals gänzlich aus der historisch gewachsenen Gemeinschaft mit den ihr eigenen Werten auszubrechen, sei letzteres derart mit seiner Gemeinschaft verflochten, daß keinerlei Reflektion über die Gemeinschaftswerte mehr möglich und eine vollkommene Einheit mit diesen Werten gegeben sei. Sandel legt seiner eigenen Konzeption ein „situiertes" Selbst zugrunde. Er geht davon aus, daß es dem einzelnen möglich ist, aus seiner Gemeinschaft herauszutreten und diese und ihre Werte zu hinterfragen. Während zahlreiche andere Autoren Sandel in seiner Kritik an Rawls zustimmen und die Vorstellung eines atomistischen, von allen moralischen Werten losgelösten Individuums für unhaltbar betrachten, sind seine eigenen Prämissen zum Objekt heftiger Kritik geworden. Sandels Kritiker halten es nicht für möglich, daß ein Individuum, für das die Gemeinschaft - und damit auch die ihr zugrundeliegenden Werte - konstitutiv ist, zugleich die Befähigung in sich trägt, die nötige Distanz zu ihr zu wahren, um ihre Wertvorgaben zu hinterfragen. 23 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß Sandel im Gegensatz zu Rawls nicht von einem moralisch ungebundenen, atomistischen Individuum ausgeht. Seiner Ansicht nach wird der einzelne von der ihn umgebenden Gemeinschaft geprägt und übernimmt damit zugleich die jeweiligen Gemeinschafts werte, von denen er sich jedoch durch kritische Reflexion befreien und andere Wertvorgaben annehmen kann. Die Übernahme andersartiger Werte setzt im Regelfall aber einen Wechsel der Gemeinschaft voraus.

22 Sandel, Verfahrensrechtliche Republik, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 18 (29). 2 3 Vgl. hierzu die Kritik von Post, 11 Calif. L. Rev. (1989), 553 (558) und Selznick, 75 Calif. L. Rev. (1987), 445 (447).

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III. Gutmanns Reaktion auf Sandels Kritik an Rawls Aus der Vielzahl an Autoren, die sich mit der Konzeption von Rawls und der daran anknüpfenden Reaktion von Sandel befassen, soll an dieser Stelle Gutmann herausgegriffen werden. Gutmanns Ausführungen sind insbesondere deshalb aufschlußreich, weil sie in der Verteidigung der Rawlsschen Position implizit Korrekturen an dessen Vertragskonzeption vornehmen, die Rawls in späteren Aufsätzen selbst aufgreift - auch wenn er eine Änderung seiner früheren Konzeption nicht ausdrücklich zugesteht, sondern lediglich davon spricht, sich zuvor nicht deutlich genug ausgedrückt zu haben.24 Anliegen Gutmanns ist es zunächst, Rawls Gerechtigkeitskonzeption gegen den von Sandel erhobenen Vorwurf zu verteidigen, sie sei - entgegen der von Rawls deklarierten Absicht - nicht frei von metaphysischen Prämissen. Gutmann benennt vor allem zwei Faktoren, die gegen eine Abstützung von Rawls Gerechtigkeitskonzeption auf metaphysische, deontologische Gegebenheiten sprechen: Nach Ansicht Gutmanns ist der Urzustand so konzipiert, daß sich der einzelne zwar in Unkenntnis über seine individuellen Interessen, nicht aber über das Gemeinschaftsinteresse befindet. Sie weist darauf hin, daß die in dieser Situation unter Berücksichtigung des Gemeinschaftsinteresses aufgestellten Grundsätze gleichwohl nicht vorbestimmt, sondern zufälliger Natur seien.25 Als weiteres Indiz gegen eine metaphysische oder metaethische Ausrichtung des Urzustandes wertet Gutmann, daß die im Urzustand sich herauskristallisierenden Grundsätze - vor dem Wegfall des Schleiers des Nichtwissens - keinesfalls unabänderlich sind, was bei vorgegebenen Prinzipien undenkbar wäre. Nach der Rawlsschen Konzeption sind die sich im Laufe des Prozesses herausbildenden Grundsätze kritisch zu hinterfragen und erst dann endgültig aufzustellen, wenn ihnen auch nach Wegfall des Schleiers in Kenntnis der jeweiligen gesellschaftlichen Position noch Folge geleistet werden kann. Fällt diese Prüfung negativ aus, sind die Grundsätze abzuwandeln.26 Rawls nehme deshalb für die Gerechtigkeit als Fairneß nicht mehr in Anspruch und müsse es auch nicht, als daß sie „für uns die vernünftigste Theorie ist, wenn wir unsere Geschichte und Traditionen, die in unserem öffentlichen Leben verankert sind, voraussetzen. Wir können keine bessere Satzung für unsere soziale Welt finden". 27 Gutmann stimmt Sandel allerdings dahingehend zu, daß Rawls Konzeption nicht von jedem Vorverständnis frei ist. Die Rawlssche Konzeption einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft setze voraus, daß die Persönlichkeit des 24 25

Rawls , Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (37). Gutmann, Kommunitaristische Kritiker, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 68

(72). 26

Gutmann, Kommunitaristische Kritiker, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 68 (71 f.). 27 Gutmann, Kommunitaristische Kritiker, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 68 (73) unter Zitierung von Rawls.

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einzelnen zwar nicht völlig durch von der Gemeinschaft vorgegebene Werte konstituiert werde, aber die Befähigung in sich trage, in einem autonomen Prozeß dem eigenen Leben Zielvorgaben zu setzen.28 Daraus soll jedoch nicht folgen, daß Rawls Konzeption metaphysische Elemente aufweist. Gutmann sieht in ihren Erkenntnissen im Gegenteil einen weiteren Nachweis dafür, daß Rawls Theorie grundsätzlich auf derartige Elemente verzichten kann, da sie nur fordere, daß „Gerechtigkeit in solchen Gesellschaften unbedingten Vorrang genießt, in denen Menschen verschiedene Meinungen über das gute Leben haben und ihre Freiheit, ein solches zu wählen, für ein wichtiges Gut halten". 29 Die von Gutmann vorgenommene Auseinandersetzung mit Sandels Kritik an Rawls zeigt bereits in einer vergleichsweise frühen Phase der Debatte, daß weder ein extrem liberalistisches noch ein extrem kommunitaristisches Konzept moderne pluralistische und heterogene Gesellschaften angemessen erfassen können. Im Ansatz geriert sich Gutmann als Verteidigerin des Liberalismus. Sie geht - in Übereinstimmung mit Rawls - davon aus, daß ein modernes Staatswesen nur auf liberale Werte gegründet werden kann. Gleichwohl erkennt sie an, daß innerhalb der Gesellschaft verschiedene Einheiten - Gemeinschaften - existieren, deren Zusammenhalt sich nur über gemeinsam geteilte Werte begründen läßt. Ein Konzept, das die Gesellschaft ausschließlich auf der Grundlage organisatorischer Prinzipien konstituiert, könne nicht erklären, warum Menschen überhaupt Verbindungen miteinander eingehen. Dazu sei der Rückgriff auf gemeinsam geteilte Wertvorstellungen unerläßlich. Aus diesem Grund mißt Gutmann den Gemeinschaften durchaus Bedeutung zu und schließt auch eine Prägung des einzelnen durch diese Gemeinschaften nicht aus. Über der Vielzahl an verschiedenen Gemeinschaften in einer Gesellschaft stehe jedoch ein liberaler Staat als übergreifende Einheit. Das Potential des Kommunitarismus liegt nach Ansicht Gutmanns vor allem darin, „uns zu zeigen, wie wir nicht nur die Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern durch die vielen gesellschaftlichen Vereinigungen Gemeinschaft anstreben können, wobei der liberale Staat die umfassendste gesellschaftliche Vereinigung wäre". 30

IV. Zwischenbilanz In der ersten Phase der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte beschäftigen sich die Kommunitaristen schwerpunktmäßig damit, die von den Liberalisten aufgestellten (anthropologischen) Prämissen zu entkräften. Sie wehren sich namentlich gegen das von den Liberalisten aufgestellte Gesellschaftskonzept, demzufolge 28

Gutmann, Kommunitaristische Kritiker, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 68

(74). 29

Gutmann, Kommunitaristische Kritiker, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 68

(74 f.). 30

(81).

Gutmann, Kommunitaristische Kritiker, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 68

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sich der einzelne innerhalb eines ihm vorgegebenen organisatorischen Rahmens seine Lebensziele autonom setzen können soll. Die Kommunitaristen halten ein derartiges Personenbild für verfehlt. Ihrer Ansicht nach wird der einzelne zu großen Teilen durch die ihn umgebende Gemeinschaft geprägt. Erst über die Interaktion mit der Gemeinschaft könne der einzelne seine Persönlichkeit überhaupt ausbilden. Während dieses Prozesses übernehme das Individuum unweigerlich die in der jeweiligen Gemeinschaft vorherrschenden Wertvorstellungen. Zwar könne es diese Wertvorstellungen - je nach vertretenem Standpunkt - durchaus kritisch hinterfragen und sich unter Umständen auch von ihnen lossagen. Dies ändere jedoch nichts daran, daß diese Werte zunächst als eigene wahrgenommen und die individuellen Lebensziele damit von der Gemeinschaft mit beeinflußt würden. Die Annahme einer autonomen Entscheidung im Urzustand ist daher nach Ansicht der Kommunitaristen wirklichkeitsfremd und illusorisch.

C. Wandel in der Kommunitarismus-Liberalismus-Debatte Ist bereits bei Gutmann ersichtlich, daß sich Liberalisten und Kommunitaristen nicht als zwei unversöhnliche Lager gegenüberstehen, kristallisieren sich im Laufe der weiteren Debatte zusätzliche Gemeinsamkeiten heraus. Namentlich Taylor unternimmt den Versuch, eine Struktur in die bisherige Debatte zu bringen. Er zeigt auf, daß die Auseinandersetzung auf zwei Ebenen verläuft, die allzu häufig nicht klar voneinander getrennt werden und daher Anlaß zu unnötigen Mißverständnissen geben. Im Rahmen seiner Systematisierung hebt Taylor hervor, in welchen Punkten Gemeinsamkeiten, an welchen Stellen aber auch Unterschiede zwischen den beiden Lagern bestehen. Dabei sieht er voraus, daß im weiteren Verlauf der Debatte nicht mehr so sehr die Frage im Mittelpunkt der Diskussion stehen wird, ob überhaupt Werte vermittelt werden dürfen, sondern welche Werte dies sind. Mit diesem Perspektivenwechsel verlagert die Debatte ihren Schwerpunkt zunehmend auf die Frage nach den moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Während in immer weiterem Maße anerkannt wird, daß bestimmte gemeinsam geteilte Werte zum Zusammenhalt einer Gesellschaft unabdingbar sind, bestehen über den Inhalt dieser (moralischen) Werte weiterhin erhebliche Differenzen. 31 I. Taylors Systematisierung In seinem Aufsatz „Aneinander vorbei: Die Debatte zwischen Liberalismus und Kommunitarismus" unternimmt Taylor den Versuch, eine gewisse Ordnung in die 31

Vgl. zu diesem Wandel der Debatte auch die Ausführungen von Honneth, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Kommunitarismus, 7(15): „Umstritten zwischen den beiden Parteien ist die Beantwortung der Frage, welche moralischen Ressourcen als notwendig angesehen werden müssen, um ein modernes ausdifferenziertes Gemeinwesen am Leben zu erhalten". 15 Rathke

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Vielzahl der Argumente zu bringen, die im Rahmen der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte vorgetragen werden. Licht in das Argumentationsdickicht bringt seines Erachtens die Unterscheidung zweier Ebenen, der ontologischen (soziologischen) von der normativen Ebene. Auf der ontologischen Ebene werden die Begrifflichkeiten zur Beschreibung der sozialen Wirklichkeit festgelegt. Hier geht es um die empirisch-wissenschaftliche Beschreibung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Sinne eines Ist-Zustandes. Die in diesem Rahmen verwendeten Begrifflichkeiten reichen vom Atomismus, für den der isolierte einzelne das Grundelement der sozialen Wirklichkeit ist, bis hin zum Holismus, der die Gemeinschaft als die primäre Einheit der sozialen Wirklichkeit betrachtet. Auf der normativen Ebene geht es demgegenüber um die Frage, wie eine Gesellschaft sinnvollerweise gestaltet werden soll. Taylor spricht in diesem Zusammenhang von „Fragen der Parteinahme". Die normative Ebene richtet sich darauf, einen bestimmten Soll-Zustand zu erreichen. Hier werden Überlegungen angestellt, ob bei der Gestaltung der Gesellschaft eher vom einzelnen oder von der Gemeinschaft auszugehen ist. Die Spannbreite erstreckt sich dabei von Konzeptionen, die den individuellen Rechten und Freiheiten einen absoluten Vorrang einräumen, bis hin zu solchen, die kollektiven Gütern und damit dem Gemeinschaftsleben den Vorzug gewähren. Die normative Ebene zeichnet sich durch die Extreme des Individualismus und des Kollektivismus aus.32 Nach Ansicht Taylors kann das auf jeder der beiden Ebenen vorhandene Spektrum an Möglichkeiten in jeder beliebigen Weise mit dem der jeweils anderen Ebene kombiniert werden. 33 Was das Verhältnis der beiden Ebenen zueinander anbetrifft, so bildet die ontologische Positionsbestimmung „einen theoretischen Hintergrund, der die normative Parteinahme erläutern, plausibilisieren und motivieren kann, jedoch auf keinen Fall hinreichend zu begründen vermag; umgekehrt heißt das aber auch, daß unsere normativen Überzeugungen nur dann vollständig verständlich werden können, wenn sie auf die ontologischen Entscheidungen zurückbezogen werden, die wir vorgängig getroffen haben".34 Im Anschluß an die von ihm vorgenommene Systematisierung bemüht sich Taylor darum, einige Ungenauigkeiten und Verkürzungen, die im Rahmen der Liberalismuskritik immer wieder zu verzeichnen sind, auszuräumen und eine klare Trennung zwischen den verschiedenen Ebenen herzustellen. Ein durchgängiger Vorwurf gegenüber dem Liberalismus lautet, er konzipiere eine Gesellschaft, in der jeder einzelne eigene Wertvorstellungen - eine eigene Konzeption des Guten verfolgen und sich seine Lebenspläne autonom setzen könne. Aufgrund des Fehlens eines gemeinsamen Gutes wird dem Liberalismus regelmäßig die Fähigkeit abgesprochen, eine Gesellschaft auf Dauer aufrecht zu halten. Taylor hält diese Kritik für zu undifferenziert. Zwar sieht auch er, daß der Liberalismus gegenüber 32

Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 f. Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (108). Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß bestimmte Kombinationen eher unwahrscheinlich sind und der Sache nach auch nicht vertreten werden. 34 Honneth, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Kommunitarismus, 7 (15). 33

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den individuellen Lebensplänen und den einzelnen Konzeptionen des Guten Neutralität bewahrt und damit im engeren Sinne keine übergreifende Konzeption des Guten besitzt. Seiner Ansicht nach baut jedoch auch eine liberalistische Gesellschaft auf einer gemeinsamen Vorstellung von der Herrschaft der - in einem bestimmten Verfahren zu findenden - „Gerechtigkeit" und entsprechenden, von allen geteilten organisatorischen Rahmenvorgaben auf. Der Gedanke der Gerechtigkeit bilde das von jedem Gesellschaftsmitglied akzeptierte gemeinsame Gut. 35 Vor diesem Hintergrund wird erst die Feststellung Taylors vollends verständlich, daß ein „prozeduraler Liberaler ( . . . ) ohne weiteres ein Holist" sein könne, sofern er - nicht durch Parteinahme oder normative Setzung, sondern durch Beschreibung der sozialen Wirklichkeit - zu der Überzeugung von bestimmten gemeinsamen Gerechtigkeitsvorstellungen gelangt.36 Im folgenden wirft Taylor die Frage auf, inwieweit die von ihm als Wesenszug des Liberalismus konstatierte, allgemein akzeptierte Herrschaft der Gerechtigkeit für den Zusammenhalt einer Gesellschaft ausreicht. Seiner Ansicht nach ist die Herrschaft der Gerechtigkeit als Grundpfeiler für den Zusammenhalt einer Gesellschaft nicht genügend. Unerläßlich sei dafür ein gewisser Grad an patriotischer Identifikation, gerade er bilde einen wesentlichen Faktor für die Aufrechterhaltung liberaler Demokratien: 37 „Der Patriotismus ist nicht nur in der Vergangenheit ein starkes Bollwerk der Freiheit gewesen, sondern wird dies auch in Zukunft bleiben, ohne durch etwas anderes ersetzt werden zu können. ( . . . ) Das reine aufgeklärte Selbstinteresse wird niemals Menschen stark genug bewegen, um eine wirkliche Bedrohung für potentielle Despoten und Putschisten darzustellen". 38 Auch das eine liberale Gesellschaft verbindende Glied - die Herrschaft der Gerechtigkeit stellt für Taylor zwar in gewisser Weise eine abgewandelte Form von Patriotismus, nämlich einen „Patriotismus der Gerechtigkeit" dar. Er schließt jedoch aus, daß diese reduzierte Form des Patriotismus, die auf „die gemeinsame Treue zu einer bestimmten historischen Gemeinschaft" verzichtet, eine ausreichende Grundlage für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft bildet. Seines Erachtens nährt sich der Patriotismus aus der partizipatorischen Selbstregierung der Bürger. Ihm werde die Grundlage entzogen, wenn derartige partizipatorische Elemente entfallen. 39 Das besondere Verdienst Taylors besteht darin, aufzuzeigen, daß der Liberalismus mit seiner Konzeption der Gerechtigkeit als eine die gesamte Gesellschaft durchziehende Gemeinsamkeit durchaus holistische - der sozialen Wirklichkeit zugrundeliegende gemeinschaftsbezogene - Elemente in sich trägt. Aus dieser Feststellung zieht Taylor den Schluß, daß die eigentliche Debatte auf der normati35

Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (118 f.). Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (123). 37 Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (121). 38 Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (122). 39 Dazu ausführlicher Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (123 ff.). 36

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ven Ebene - der Ebene der Parteinahme - stattfindet. Erst hier finden sich die entscheidenden Unterschiede, die den Inhalt der aufzustellenden Wertvorgaben betreffen. 40 II. Rawls' Wandel zum politischen Liberalismus Rawls spätere, auf seinem Werk „A Theory of Justice" aufbauende Veröffentlichungen zeigen, daß Taylors prägnante Formulierung, ein prozeduraler Liberaler könne ohne weiteres ein Holist sein, weitgehend zutreffend ist. Die von Rawls vorgenommenen Klarstellungen einiger Thesen seines Hauptwerkes, die letztlich nichts anderes als implizite Korrekturen sind, machen deutlich, daß die Rawlssche Gerechtigkeitskonzeption durchaus Vorverständnisse in sich trägt. So hebt Rawls nunmehr explizit hervor, daß seine Personen im Urzustand keineswegs kontextlose, von jeglichen historischen Gegebenheiten unbeeinflußte Individuen seien, sondern „konkrete Staatsmänner, die in der Tradition der westlichen Demokratie moralisch großgeworden sind" 4 1 Indem er seinen Individuen einen moralischen Hintergrund - und zwar jenen der westlichen demokratischen Welt - zuerkennt, entzieht Rawls zwar seinen Kritikern, allen voran Sandel, eine wesentliche Argumentationsgrundlage. Ihr Einwand, daß Rawls Individuen von allen intersubjektiven Wertvorstellungen losgelöst seien, läuft von nun an ins Leere. Der Preis dafür ist jedoch eine gewisse Annäherung an die Prämissen eher gemeinschaftsbezogener Konzeptionen. Rawls betont in seinen späteren Aufsätzen, daß seine Gerechtigkeitskonzeption keine metaphysische, sondern eine politische sei. Im selben Atemzug hebt er hervor, daß in seine politische Konzeption zwar moralisches Gedankengut einfließe, sie daran jedoch nicht ihren Ausgang nehme. Um das politische Element seiner Konzeption herauszustellen, führt Rawls die Bezeichnung „politischer Liberalismus" ein. 42 Die Betonung des politischen Elements bringt er in seinem Aufsatz „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch" prägnant zum Ausdruck: „ Gerechtigkeit als Fairneß wurde konzipiert im Hinblick auf die ( . . . ) Grundstruktur eines modernen demokratischen Verfassungsstaates". An anderer Stelle heißt es: „Gerechtigkeit als Fairneß ist eine politische Gerechtigkeitskonzeption für eine demokratische Gesellschaft". 43 Im weiteren bemüht sich Rawls zu begründen, warum gerade seine (politische) Gerechtigkeitskonzeption zur Grundlage einer demokratischen Gesellschaft ge40

Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (129). Honneth, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Kommunitarismus, 7 (12). 42 Rawls, Übergreifender Konsens, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 293 (330). Rawls Ausrichtung hin zu einem politischen Liberalismuskonzept wird bereits in seinem Aufsatz „Gerechtigkeit als Fairneß" aus dem Jahr 1985 deutlich. Dort führt er allerdings noch nicht den Terminus „politischer Liberalismus" ein. 43 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (38 f.). 41

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macht werden soll. Er versucht den Nachweis zu erbringen, daß seine Gerechtigkeitskonzeption - trotz der in jeder demokratischen Gesellschaft existierenden Vielfalt an religiösen, philosophischen und moralischen Überzeugungen - von einem übergreifenden Konsens getragen wird. 44 Für Rawls bildet die „Vorstellung der Gesellschaft als eines fairen Systems der Kooperation zwischen freien und gleichen Bürgern" das gemeinsame, alles andere verbindende Moment 4 5 Diese soziale Kooperation zwischen den Bürgern soll sich durch drei Elemente auszeichnen: Sie findet (1) anhand von aufgestellten Verfahren und Regelungen statt, (2) sie geschieht durch faire Bedingungen der Zusammenarbeit, die jeder einzelne in dem Bewußtsein anerkennt, daß auch alle anderen diese Bedingungen akzeptieren und (3) sie verlangt von jedem einzelnen die Vorstellung einer eigenen Konzeption des Guten, die er in den Prozeß mit einbringt 46 Aus diesen Ausführungen ergeben sich für Rawls zwingend zwei Prämissen, die für die Teilnahme an diesem Prozeß unerläßlich sind: (1) die Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn sowie (2) die Befähigung zu einer Konzeption des Guten.47 Für die Frage, wie die in dem vorgeschriebenen Verfahren aufgestellten Grundsätze auf allgemeine Akzeptanz stoßen können, spielt für Rawls der Öffentlichkeitsgedanke eine zentrale Rolle. Da der einzelne als freies und gleiches moralisches Wesen betrachtet wird, darf er nur durch solche politischen Institutionen und Regelungen beschränkt werden, die öffentlich zu rechtfertigen sind 4 8 Der dabei zugrundegelegte Öffentlichkeitsbegriff hat bei Rawls drei Stufen: (1) die öffentliche Geltung der Gesetze und sozialen Regeln, die zur Grundstruktur der Gesellschaft gehören, (2) die öffentliche Anerkennung der die Grundstruktur regulierenden Gerechtigkeitsgrundsätze, sowie (3) die öffentliche Rechtfertigung der Grundsätze und der ihnen zugrundeliegenden Gerechtigkeitsauffassung 4 9 Die Öffentlichkeit ist somit das stabilisierende Element der sozialen Kooperation. Die von freien und gleichen Bürgern getroffenen Entscheidungen können im Rahmen der sozialen Kooperation nur dann auf allgemeine Akzeptanz stoßen, wenn sie unter Beachtung der Öffentlichkeitsregeln ergangen sind. Nur dann sei - so Rawls - zu erwarten, daß die die Freiheit des einzelnen beschneidenden Regelungen und die diese Beschränkungen durchsetzenden Institutionen auf Dauer Bestand haben.50 44

Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (37). Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (45). 4 6 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (46). 45

47 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (47); dort auch weitere Ausführungen zum konkreten Inhalt dieser beiden Voraussetzungen. 48 Vgl. dazu die Ausführungen von Rawls, Kantischer Konstruktivismus, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 80 (109 ff.). 49 So die prägnante Zusammenfassung bei Hinsch, Einleitung, in: Rawls (Hrsg.), Liberalismus, 9 (20). Vgl. dazu die detaillierten Ausführungen bei Rawls, Kantischer Konstruktivismus, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 80 (112 ff..). 50 Rawls, Kantischer Konstruktivismus, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 80 (112 f.): „Denn die Grundlagen und Tendenzen von Institutionen, die sich auf Zwangs-

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

Immer wieder betont Rawls, daß seine Gerechtigkeitskonzeption eine politische und keine metaphysische sei. Die aufgestellten Grundsätze und Prämissen enthielten keinerlei moralische Inhalte.51 Auch die Vorstellung vom gleichen und freien Bürger sei keine moralische, sondern eine ausschließlich politische Konzeption. In diesem Zusammenhang lehnt es Rawls auch nachdrücklich ab, seiner Gerechtigkeitskonzeption die oft als liberal bezeichneten Werte der Autonomie oder Individualität zugrundezulegen. Jede Vorgabe von Idealen, seien es auch solche wie Autonomie oder Individualität, favorisiert nach Ansicht Rawls eine bestimmte Konzeption des Guten, die zwangsläufig mit anderen Konzeptionen des Guten konfligiere und damit nicht als Fundament eines übergreifenden Konsenses in Betracht komme. Das Bestreben seiner politischen Lehre besteht gerade darin, auf - nicht konsensfähige - Ideale und damit einhergehend auf eine umfassende Morallehre zu verzichten. 52 Die Qualifizierung als politische Konzeption hat zur Folge, daß Rawls auf eine universelle Anwendbarkeit seiner Gerechtigkeitstheorie verzichtet. Ihre Anwendbarkeit ist von dem Vorhandensein gewisser Voraussetzungen abhängig, namentlich von Staatsmännern, die in der westlichen Demokratie - mit der entsprechenden moralischen Prägung - aufgewachsen sind. Zugleich soll es ein unverrückbares Faktum einer westlichen Demokratie sein, daß in ihr unterschiedliche Ansichten über religiöse, politische und moralische Fragen bestehen. Daraus leite sich die Notwendigkeit ab, eine politische Gerechtigkeitskonzeption zu entwickeln, in der die verschiedenen Konzeptionen des Guten zwar nebeneinander Bestand haben, diese jedoch nicht das Fundament einer Gerechtigkeitskonzeption bilden, sondern losgelöst von den verschiedenen Konzeptionen des Guten zu einer gewissen Übereinstimmung gebracht werden. 53 Ob Rawls Gerechtigkeitskonzeption tatsächlich von jeglicher Moralvorstellung befreit ist - zumal wenn sie auf der Prämisse aufbaut, daß die Grundsätze von Staatsmännern aufgestellt werden, die in einer westlichen Demokratie aufgewachsen sind - , kann allerdings mit guten Gründen bezweifelt werden. Insofern wäre es konsequenter und würde den Kritikern weniger Angriffsfläche bieten, wenn Rawls seine Gerechtigkeitskonzeption auch ausdrücklich auf jene zwei für seine Theorie zentralen Wertvorgaben stützen würde, die zwar politischen Charakter aufweisen, gleichwohl aber nicht uneingeschränkt akzeptiert sind: die Freiheit und die Rechtsgleichheit aller. maßnahmen stützen ( . . . ) und auf die tiefsten Bestrebungen der Menschen Einfluß nehmen, sollten einer öffentlichen Prüfung standhalten. Erfüllen politische Grundsätze die Bedingungen vollständiger Öffentlichkeit und sind gesellschaftliche Einrichtungen und individuelle Handlungen in ähnlicher Art zu rechtfertigen, dann können die Bürger für ihre Überzeugungen und ihr Verhalten allen anderen gegenüber in der Gewißheit einstehen, daß diese offene Rechtfertigung das öffentliche Einverständnis bestärken und nicht schwächen wird". 51 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (59). 52 Rawls, Gerechtigkeit als Fairneß, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 36 (59 ff.). 53 Rawls, Übergreifender Konsens, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 293 (300); ders., Bereich des Politischen, in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus, 333 (344).

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III. Der wertegeladene Liberalismus am Beispiel Gardbaums Ausgehend von der Erkenntnis, daß sich auch die liberalistische Konzeption nicht von allen Vorverständnissen befreien kann, gehen einige Autoren einen Schritt weiter und versuchen aufzuzeigen, daß der Liberalismus sein typisches Gepräge nicht verlieren muß, wenn er die strikte Neutralitätsprämisse als Konzeptionsgrundlage durch die Einbeziehung gewisser Wertvorgaben aufgibt - vorausgesetzt diese Wertvorgaben sind ihrerseits liberalen Inhalts. 54 Exemplarisch für einen solchen wertgeladenen Liberalismus ist das Konzept Gardbaums. Sein Anliegen ist es, nachzuweisen, daß der politische Liberalismus sein Fundament durchaus auf bestimmte Wertvorgaben gründen kann, ohne dadurch seine typischen Charakteristika zu verlieren. Nach Ansicht Gardbaums standen sich in der Debatte zuvor im wesentlichen zwei Lager gegenüber: Einerseits die Liberalisten, die eine strikte staatliche Neutralität befürworten und damit jede staatliche Werte Vermittlung ausschließen, andererseits jene Autoren, die - ohne damit näheres über den Inhalt der zu vermittelnden Werte auszusagen - eine staatliche Wertevermittlung für möglich halten. Diese Gruppe bezeichnet Gardbaum unter Rückgriff auf die Terminologie von Raz 55 als „perfectionists". Allen „perfectionists" soll die Grundannahme, daß eine bestimmte Konzeption des Guten (one way of life) allen anderen überlegen sei sowie die Überzeugung gemeinsam sein, daß der Staat zur Vermittlung der entsprechenden Werte verpflichtet sei. 56 Gardbaum bestreitet, daß allein jene Autoren als Repräsentanten des Liberalismus gelten können, die die Wahrung einer strikten staatlichen Neutralität zwischen den verschiedenen moralischen Idealen bzw. den unterschiedlichen Konzeptionen von einem guten Leben befürworten. 57 Es sei verfehlt, alle diejenigen, die eine staatliche Vermittlung liberaler Grundwerte fordern, von vornherein aus dem Lager der Liberalisten auszuschließen und in dieselbe Ecke zu drängen wie jene (kommunitaristisch geprägten) Autoren, die eine staatliche Vermittlung von Werten wie Gemeinschaft oder zivile Tugenden propagieren. Die Unterscheidung zwischen den Liberalisten und ihren Kritikern dürfe nicht anhand der Frage vorgenommen werden, ob eine staatliche Wertevermittlung grundsätzlich abgelehnt oder befürwortet werde. Entscheidend seien die jeweils zu vermittelnden Inhalte. 58 Gardbaums Anliegen besteht daher darin, die Argumente, die von den Anhängern eines strikten Liberalismus zu ihrer Verteidigung als alleinige Repräsentanten des 54 Gardbaum selbst nennt in diesem Zusammenhang Werte wie Autonomie, Gleichheit und Menschenwürde; vgl. dazu Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 (1369). 55 Raz, Morality of Freedom, S. 426. 56 Raz, Morality of Freedom, S. 426. 57 So beispielsweise Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 ff. 58 Dazu Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 (1352): „Yet it is precisely the content of the values pursued (and not merely the desire to pursue any of them) that defines the actual opposition between liberals and their critics".

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Liberalismus vorgebracht werden, zu entkräften. Die strikten Liberalisten oder Neutralisten bauen ihre Verteidigung gegenüber den „moralischen Liberalisten" auf zwei Grundpfeilern auf, die Gardbaum als „the truth of pluralism" und „the fact of pluralism" bezeichnet. Jene Vertreter des strikten Liberalismus, die der ersten Argumentationslinie - dem „truth of pluralism" - folgen, negieren bereits die erste Prämisse der „perfectionists": Sie halten es für ausgeschlossen, eine Weitung zwischen den unterschiedlichen Konzeptionen des Guten, d. h. den verschiedenen Wertvorstellungen, vorzunehmen. Daher sei es dem Staat auch verwehrt, für eine bestimmte Konzeption des Guten einzutreten. Jene Autoren, die sich der zweiten Argumentationslinie - dem „fact of pluralism" - anschließen, akzeptieren zwar die erste Prämisse der „perfectionists", daß eine Wertung zwischen den verschiedenen Wertvorstellungen möglich sei. Sie können jedoch der zweiten Prämisse der „perfectionists" nicht zustimmen, nach der sich aus der Überlegenheit einer Konzeption des Guten auch die Rechtfertigung dafür ergibt, daß der Staat die aus dieser Konzeption folgenden Werte vermitteln darf. Ihrer Ansicht nach ist es illusorisch, daß sich die Bürger einer pluralen Gesellschaft auf eine einzige Konzeption des Guten einigen, so daß dem Staat letztlich nur die Wahl verbleibt, entweder den einzelnen Konzeptionen des Guten neutral gegenüberzustehen oder Zwangsmittel zur Herstellung der gewünschten Einheitlichkeit einzusetzen. Die zweite Alternative scheide in einem liberalen Staat aber aus, da in diesem Fall die politische Macht nicht im Sinne aller ausgeübt werde. 59 Gardbaum überzeugt keine der beiden Argumentationslinien. Der ersten Gruppe hält er entgegen, daß auch der Gedanke des „truth of pluralism" nicht frei von Wertungen sei. Nach dessen Konzeption konkurrierten niemals alle Konzeptionen des Guten miteinander, sondern nur die „vernünftigen". Alle „unvernünftigen" Konzeptionen würden dagegen von vornherein aus dem „Konkurrenzkampf ausgeklammert. Über das Vernunftkriterium finde eine (nicht offengelegte) Weitung statt, die die Konzeptionen in zwei Lager - in die vernünftigen und die unvernünftigen - aufteile. Da auch die Neutralisten angesichts dieses Befundes nicht auf Wertungen verzichten könnten, ist nach Ansicht Gardbaums der ersten Argumentationslinie die Grundlage entzogen.60 Auch der zweiten Argumentationsfolge kann Gardbaum jedoch die staatliche Verpflichtung zur Wahrung strikter Neutralität nicht entnehmen. Der Vorwurf, die „moralischen Liberalisten" seien auf den Einsatz von staatlichen Zwangsmitteln angewiesen, was einem liberalen Staat widerspreche, werde schon dadurch entkräftet, daß auch die Neutralisten nicht jeden Einsatz von Zwangsmitteln ablehnen. Auch sie befürworten den Einsatz von Zwangsmitteln, wenn nur auf diesem Weg fundamentale Ziele wie die Sicherheit des einzelnen oder Freiheit und Eigentum - also grundlegende liberale Werte - bewahrt werden können. Gardbaum folgert daraus, daß es nicht so sehr darum geht, ob überhaupt staatliche Zwangsmittel eingesetzt 59 Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 (1355 ff.). 60 Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 (1358 ff.).

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werden, sondern um die Frage, zur Erreichung welcher Ziele Zwang eingesetzt wird und welcher Grad an Zwang dazu erforderlich ist. 61 Daß auch die strikten Liberalisten grundlegende weitbezogene Ziele verfolgen und gegebenenfalls mit staatlichen Zwangsmitteln einfordern, scheint Gardbaum unbestreitbar. Die Grenze zwischen dem sogenannten strikten und einem wertgeladenen Liberalismus sei fließend. Daher treffe auch die Annahme, daß nur die strikten Liberalisten den Liberalismus repräsentieren, nicht zu: „Therefore, at least for the forseeable future, liberals who wish to see liberal values promoted through politics need not fear either that the ground has been taken from under their feet or that they are wheeling a Trojan horse into the citadel. Liberal perfectionists are liberals too. Neutrality is only one possible liberal story, one that probably makes more sense as a way of pursuing certain moral values than as a way of avoiding their pursuit". 62 Entscheidend sei allein, daß liberale Werte wie Autonomie, Gleichheit und Menschenwürde verfolgt werden. 63

D. Bedeutung des Republikanismus Der Republikanismus ist die dritte politisch-philosophische Strömung, die im Rahmen der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte Bedeutung erlangt hat. Üblicherweise wird er dem kommunitaristisehen Lager zugerechnet, da er den Schwerpunkt nicht so sehr auf die Frage legt, was den einzelnen von seiner ihn umgebenden Gesellschaft unterscheidet, sondern vor allem darauf, was ihn in diese integriert. 64 Da die Ansatzpunkte des Republikanismus im einzelnen jedoch erheblich vom kommunitaristi sehen Denken abweichen, erscheint eine gesonderte Darstellung angezeigt. In der neueren politischen Philosophie erschöpft sich der Begriff des Republikanismus nicht in der dem deutschen Juristen vertrauten Abgrenzung zweier Staatsformen, namentlich der Republik von der Monarchie, sondern beinhaltet ein wesentlich umfangreicheres Konzept. Zwar greift der Republikanismus - wie bereits angedeutet - keine bislang unbekannten Gedanken auf, sondern belebt alte Ideengerüste neu, 65 so daß in den Vereinigten Staaten auch vom „republican revival" gesprochen wird. 66 Mit diesem wiederbelebten Republikanismus ist jedoch in aller 61 Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 (1364 ff.). 62 Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 (1371). 63 Gardbaum, 104 Harv. L. Rev. (1991), 1350 (1369). 64 So Oldfield, Republicanism, S. 145. 65 Einen guten Überblick über vier klassische Vertreter des Republikanismus - Machiavelli, Rousseau, Hegel und Tocqueville - gibt Oldfield, Republicanism, S. 31 ff. 66 So beispielsweise Fallon, 102 Harv. L. Rev. (1989), S. 1695 ff.; Oldfield, Republicanism, S. 6; Stolzenberg, 106 Harv. 1. Rev. (1993), S. 656; Sunstein, 97 Yale L. J. (1988), S. 1539 ff.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

Regel eine Anpassung der Theorie an die Verhältnisse einer modernen pluralistischen Gesellschaft und deren Problemstellungen verbunden. Beim alleinigen Gebrauch des Begriffs ist daher stets Vorsicht geboten, da erst genauer zu analysieren ist, welche Ausrichtung des Republikanismus sich hinter der allgemeinen Bezeichnung verbirgt. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich ausschließlich auf die neueren Strömungen, auch wenn Übereinstimmungen mit den klassischen Konzepten unverkennbar sind. Die moderne Ausprägung des Republikanismus wird in den Vereinigten Staaten oft auch als „civic republicanism" bezeichnet.67

I. Gemeinsamkeiten aller republikanischen Konzeptionen Die Idee des Republikanismus ist von vornherein auf eine politische Gemeinschaft, auf ein Staatswesen gerichtet. Gerade deshalb können republikanische Konzepte für moderne Staatswesen besonders fruchtbar gemacht werden. Der republikanische Staat konstituiert sich über die Selbstregierung seiner Mitglieder. Dabei ist der Gedanke der Selbstregierung untrennbar mit der Anerkennung des einzelnen als Bürger verflochten. Nur demjenigem wird der Status als Bürger zuteil, der aktiv an der Gestaltung des Staates mitwirkt. 68 Allerdings hat der Gedanke der Selbstregierung der Bürger im Laufe der Geschichte einen entscheidenden Wandel vollzogen. Während der Gedanke ursprünglich auf die Teilhabe jedes einzelnen an jeder politischen Entscheidung gerichtet war, wurde diese Vorstellung angesichts der Größe der gesellschaftlichen Strukturen und der Vielzahl der zu treffenden Entscheidungen bald verabschiedet. Die Erkenntnis der Undurchführbarkeit aller unmittelbaren Formen der Selbstregierung führte zu einem Konzept der Selbstregierung mit stark repräsentativen Zügen, in dem die Entscheidungen von gewählten Repräsentanten getroffen werden. In diesem Sinne liegt der Begriff der Selbstregierung dem heutigen Republikanismus zugrunde. Der Republikanismus geht von einer besonderen Verflechtung aus, die zwischen dem einzelnen und der ihn umgebenden politischen Gemeinschaft - dem Staat besteht. Durch die Ausrichtung des einzelnen auf die konkrete politische Gemeinschaft erlangen zwei Aspekte zentrale Bedeutung: Zum einen die Frage, wie der einzelne die volle Mitgliedschaft in der politischen Gemeinschaft erwirbt, anders ausgedrückt, wie er zum Bürger wird - wobei der Begriff des Bürgers im Republikanismus nicht nur einen Status kennzeichnet, sondern gewisse Handlungspflicht in sich trägt. Zum anderen die Überlegung, auf welche Weise der einzelne zur aktiven Partizipation an der Gestaltung des Gemeinwesens motiviert werden kann. Dem Republikanismus liegt insofern die Prämisse zugrunde, daß das bloße Innehaben von bestimmten Rechten und die entsprechende Fähigkeit, diese wahrzuneh67 Der Gebrauch des Wortes „civic" steht im Zusammenhang mit den Weiten, die alle Bürger gemeinsam teilen. Er stellt eine bewußte Abgrenzung zu einem Republikanismus dar, der den Zusammenhalt seiner Bürger auf religiöse Werte gründet. 68 Oldfield, Republicanism, S. 5.

§12 Liberalismus - Kommunitarismus - Republikanismus

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men, nicht ausreichen, um den einzelnen zur engagierten Teilhabe zu bewegen.69 Bereits hier zeichnet sich ab, daß der Erziehung im Konzept des Republikanismus ein besonderer Stellenwert zukommt und zukommen muß. 70 Hinter beiden Kernpunkten verbirgt sich die republikanische Auffassung, daß sich der einzelne erst über die Teilnahme am politischen Prozeß selbst verwirklicht. 71 Auch eine Staatskonzeption, die auf der Selbstregierung der Bürger aufbaut, verlangt von diesen ein gewisses Maß an Opfern und Disziplin. 72 Das Erbringen von Opfern und das Einfordern von Disziplin können nach der republikanischen Konzeption in freien Gesellschaften - und von diesen ist im weiteren auszugehen nicht durch den Einsatz von Zwangsmitteln abverlangt werden. Jedes Gesellschaftsmitglied muß diesen Beitrag freiwillig leisten. Nach Ansicht der Republikaner ist der einzelne nur dann bereit, einen derartigen Beitrag zu erbringen, wenn er sich mit dem Gemeinwesen identifiziert. Dazu sei ein gemeinsam geteiltes Gut unerläßliche Voraussetzung.73 Das Konzept des Republikanismus zieht daraus den Schluß, daß alle Bürger neben ihren persönlichen Vorstellungen von einem guten Leben in ihren Handlungen (auch) von einem gemeinsamen, von allen geteilten Gut geleitet werden müssen.74 Darin zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Republikanismus und Liberalismus: Während im Liberalismus der einzelne die Freiheit besitzt, nach Belieben zu handeln, solange er gewisse äußere Grenzen einhält, die sich aus den Freiheitsrechten der anderen ergeben, hat der einzelne im Republikanismus stets das gemeinsame Gut im Auge zu behalten.75 Entscheidend ist allein die Frage, auf welche Inhalte und welche Werte der Republikanismus diese Gemeinsamkeiten gründet. Da diesem Aspekt in der zweiten Phase der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte zentrale Bedeutung zukommt, 76 wird ihm ein eigener Abschnitt gewidmet werden. Zunächst soll ein anderer Gesichtspunkt Erwähnung finden, der in enger Verbindung mit dem Gedanken der Selbstregierung der Bürger steht: das republikanische FreiheitsVerständnis. Dieses Freiheitsverständnis wird üblicherweise mit dem Begriff der „positiven" Freiheit belegt und damit bewußt in einen Gegensatz zur „negativen" Freiheit der liberalistischen Konzepte gesetzt. Nach liberalistischem 69 Oldfield, Republicanism, S. 5. 70 Näher dazu unten S. 245 ff. 71 Oldfield, Republicanism, S. 6. „Civic republicanism ( . . . ) holds that political life - the life of a citizen - is not only the most inclusive, but also the highest form of human livingtogether that most individuals can aspire to". 72 Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (110). In diesem Sinne auch Oldfield, Republicanism, S. 5, der die Feststellung trifft: „Civic republicanism is a hard school of thought. There is no cosy warmth in life in such a community. Citizens are called to stern important tasks which have to do with the very sustaining of their identity". 73 Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (110; 115). 74 Fallon, 102 Harv. L. Rev. (1989), 1695 (1697). 7 5 Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (651 ff.) 76 Vgl. dazu die nachstehenden Ausführungen S. 280 f.

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Verständnis ist der einzelne bereits dann frei, wenn er keinem (übermäßigen) staatlichen Zwang ausgesetzt ist. Die „positive" Freiheit geht in ihrem Inhalt hingegen über diese „negative" Freiheit hinaus. Der einzelne soll erst dann frei sein, wenn ihm die Möglichkeit zur Teilhabe am politischen System gewährt wird. Individuelle Freiheit ist danach erst Folge der Partizipationsmöglichkeit. 77 Hier zeigt sich ein weiterer Unterschied zum Liberalismus: Während dieser Politik und Staat tendenziell als Bedrohung für die Freiheit des einzelnen empfindet, sind sie im Republikanismus Mittel zur Erfüllung der Freiheit des einzelnen. Die Kerngedanken des Republikanismus lassen sich dahingehend zusammenfassen, „that human beings are essentially political animals, that they can fulfill their natures only by participating in self-government, and that the most important aims of the political community should be to promote virtue among the citizenry and to advance the common good". 78

II. Unterschiede in den Wertvorgaben der einzelnen republikanischen Ausprägungen Entscheidende Bedeutung in der republikanischen Theorie kommt der Frage zu, welche Werte dem „common good" zugrundeliegen. Bei der Beantwortung dieser Frage haben sich in neuerer Zeit beträchtliche Verschiebungen ergeben. Zu Beginn der Diskussion war der Zusammenhalt der Gesellschaft an einzelnen, von allen zu teilenden gemeinsamen Werten - im Regelfall an bestimmten Tugenden - festgemacht worden, wobei - der nordamerikanischen Tradition entsprechend - häufig dem Patriotismus eine Schlüsselfunktion zuerkannt wurde. 79 Unter dem Begriff Patriotismus verstand und versteht die Mehrheit der Autoren in Übereinstimmung mit Taylor „die gemeinsame Treue zu einer bestimmten historischen Gemeinschaft", insbesondere die Aufrechterhaltung der dazu notwendigen politischen Institutionen.80 In jüngerer Zeit läßt sich demgegenüber als Trend verzeichnen, daß sich auch Republikaner auf liberale Werte wie Freiheit und Gerechtigkeit stützen. Diese neue Ausrichtung hat - der Tendenz zur Schulenbildung entsprechend zu der Begriffsprägung „liberal republicanism" geführt. 81 Die Grenzen zwischen republikanischen und liberalistischen Konzepten verwischen vollends, wenn Autoren, die sich dem Republikanismus verschrieben haben, dafür plädieren, daß die übergreifenden allgemeinverbindlichen Vorgaben - die „common goods" - in 77 Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (652): „The recognition that individual selfrule requires participation in collective self-rule transforms political participation into a species of individual liberty". Vgl. dazu auch Raz, Morality of Freedom, S. 408 f. 78 Fallon, 102 Harv. L. Rev. (1989), 1695 (1697). 79 So beispielsweise Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (123); Maclntyre, Ist Patriotismus eine Tugend? in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 84 ff. 80 Taylor, Debatte, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 103 (123). 81 Diesen Begriff verwendet u. a. Sunstein, 97 Yale L. J. (1988), 1539 (1566 ff.).

§ 13 Auswirkungen der Debatte auf die schulische Erziehung

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einem unter der Beteiligung aller stattfindenden Prozeß zu gewinnen sind. 82 Im Rahmen dieses Prozesses soll - in Übereinstimmung mit den liberalistischen Theorien - den individuellen Rechten der einzelnen Bürger eine hervorgehobene Stellung zukommen. Gerade sie sollen ein wesentlicher Garant für die gleiche und freie Teilnahme am politischen Prozeß sein.83 Nur auf diese Weise soll der in der modernen Gesellschaft existierenden Vielfalt an subjektiven Ansichten angemessen Rechnung getragen werden können.84

E. Fazit Auch wenn der Republikanismus üblicherweise dem kommunitaristischen Lager zugerechnet wird, sind die Unterschiede zwischen den beiden Konzepten beträchtlich. Im Gegensatz zum Kommunitarismus, der eine ausschließlich philosophische Theorie bezeichnet, ist der Republikanismus als politisch-philosophische Theorie auf ein politisches Gemeinwesen bezogen. Er nimmt - anders als der Kommunitarismus - nicht eine kleine, überwiegend homogene Gemeinschaft in Bezug, sondern richtet sich auf ein modernes, pluralistisches Staatswesen. Parallel zur Entwicklung des Liberalismus hin zu einer philosophisch-politischen Theorie hat der Republikanismus den Kommunitarismus als Widersacher des Liberalismus abgelöst.

§ 13 Auswirkungen der Debatte auf die schulische Erziehung Entwicklung und Wandel der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte zeigen, daß zentrale Bedeutung der Frage zukommt, inwieweit das Fundament von Gesellschaften auf gemeinsam geteilten Werten beruht. Das Ergebnis der einzelnen Positionen hat beträchtliche Auswirkungen auf die schulische Erziehung. Die Schule ist - zumindest in modernen Gesellschaften - die maßgebende Institution für die Erziehung der Kinder außerhalb der Familie und damit jene Instanz, die Werte vermittelt und an die nächste Generation weitergibt. Insofern kommt der Frage, wer Einfluß auf die Schulen nehmen und inwieweit er Inhalte vermitteln darf, große Bedeutung zu. 82

Vgl. dazu beispielsweise die Ausführungen bei Sunstein, Yale L. J. (1988), 1539 (1569). So Sunstein, Yale L. J. (1988), 1539 (1569). 84 Vgl. Sunstein, Yale L. J. (1988), 1539 (1575 f.): „Indeed, republicans see disagreement as a creative and productive force, highly congenial to and even an indispensable part of the basic republican faith in political dialogue. ( . . . ) Modern republicanism is thus not grounded in a belief in homogeneity; on the contrary, heterogeneity is necessary if republican systems are to work". 83

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

A. Bedeutung des Einflusses Entgegen vereinzelten Stimmen im Schrifttum, die die Notwendigkeit der Schule als solche in Frage stellen,85 wird der Institution Schule nach ganz überwiegender Ansicht eine zentrale Bedeutung beigemessen und in ihr ein unverzichtbares Element eines jeden modernen Staates gesehen. Davon zu trennen ist jedoch die Frage, wem das Bestimmungsrecht über diese Institution zusteht und wie weit dieses Bestimmungsrecht inhaltlich reicht. In einem staatlich verfaßten Gemeinwesen geht es vor allem um die Rolle, die der Staat bei der schulischen Erziehung einnimmt, und die Frage, ob und inwieweit er die Vermittlung gemeinsamer Werte anstreben darf. Nur wenige Autoren, die sich in der neueren politischen Philosophie hervorgetan haben, unternehmen den Versuch, ihre abstrakten Konzepte auf konkrete Fragestellungen zu übertragen. Dementsprechend finden sich nur wenige Aussagen darüber, welche Folgerungen sich aus den einzelnen Theorien der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte für die Rolle des Staates bei der Erziehung der Kinder ergeben und welche Inhalte dieser Erziehung zugrundezulegen sind. Die starke Zurückhaltung nährt den Verdacht, daß einige Autoren eine Übertragung ihrer Theorien auf reale Situationen scheuen. Dahinter dürfte die Befürchtung stehen, daß es ihren Ansätzen an Praxistauglichkeit mangelt. Selbst jene Autoren, die sich mit der Frage befassen, welche Erziehungskonzeption ihren Ansätzen am besten entspricht, räumen der Problematik oft nur wenig Raum ein und vermeiden klare Konkretisierungen. Mitunter lassen sich erst aus dem einen oder anderen Nebensatz Rückschlüsse auf die jeweiligen Erziehungstheorien ziehen. Einig sind sich alle Theorien dahingehend, daß Kinder ihre erste Sozialisation und damit ihre erste wertbezogene Prägung durch die Familie erfahren. Das Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, ist unbestritten. Streitigkeiten entzünden sich an der Frage, in welchem Maß der Staat im Laufe der Entwicklung der Kinder Einfluß auf deren Erziehung nehmen darf. Für das Verhältnis von elterlichem und staatlichem Erziehungsrecht findet sich dabei eine ganze Bandbreite an Auffassungen, die von der überwiegenden Ausklammerung der Eltern aus der Erziehung ihrer Kinder über das gleichberechtigte Nebeneinander von elterlicher und staatlicher Erziehung bis hin zur überwiegenden Dominanz der elterlichen Erziehungsvorstellungen reichen. Vergleichsweise ausführlich hat Gutmann in ihrem Werk „Democratic Education" die Frage behandelt, wem die Autorität über die Erziehung der Kinder zukommen soll. Sie setzt sich mit unterschiedlichen Modellen auseinander, denen sie jeweils eigene Bezeichnungen gibt, die aber letztlich auf die drei philosophischen Grundkonzepte - Liberalismus, Kommunitarismus und Republikanismus - zurückgeführt werden können.86 An ihre Erkenntnisse kann die vorliegende Arbeit anknüpfen. 85

So insbesondere Iiiich, Entschulung der Gesellschaft, S. 1 ff.

§13 Auswirkungen der Debatte auf die schulische Erziehung

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B. Erziehungskonzepte der Liberalisten Unter den Liberalisten ist Ackerman einer der wenigen, der sich eingehender mit der Konkretisierung des philosophisch-politischen Liberalismus auf spezifische Fragestellungen, insbesondere auf die schulische Erziehung, befaßt. Da er sich des entsprechenden Defizits der Debatte bewußt ist, ermuntert er seine theoretischen Mitstreiter dazu, ebenfalls praxisrelevantere Überlegungen anzustellen: „ I hope I have convinced you that education cannot be treated as if it stood apart from the more general problems of liberal political theory". 87 I. Grundgedanken liberaler Erziehungstheorien Der liberalen Erziehungstheorie liegt kein einheitliches Konzept zugrunde. Es lassen sich - grob unterteilt - zwei verschiedene Ausrichtungen ausmachen, die mit Blick auf die Frage nach der Einbeziehung des Staates in die Erziehung der Kinder zu abweichenden Ergebnissen kommen. Gemeinsam ist beiden liberalistischen Ausrichtungen das Anliegen, die Kinder einer möglichst großen Vielfalt an unterschiedlichen Wertvorstellungen auszusetzen und ihnen die Befähigung zu verleihen, aus dem Gesamtangebot an Werten diejenigen herauszufiltern, die sie ihrem eigenen Leben und damit ihrer individuellen Konzeption von einem guten Leben zugrundelegen wollen. 88 Ziel der schulischen Erziehung sei es vor allem, die Kinder zu veranlassen, die ihnen durch ihre Familien vermittelten Werte kritisch zu hinterfragen. Dabei dürfe die liberalistische Erziehung jedoch nicht daran gemessen werden, inwieweit sich die Kinder von den familiären Wertvorstellungen entfernen. Es sei im Gegenteil unbedenklich, wenn Kinder im Laufe ihres Lebens die elterlichen Wertvorgaben für sich akzeptieren. Entscheidend soll sein, daß den Kindern die Möglichkeit geboten wird, sich kritisch mit diesen Vorgaben auseinanderzusetzen. Hinter diesem Grundsatz der Liberalisten zur schulischen Erziehung steht ersichtlich der Gedanke der Neutralität. In der Konkretisierung dieses Gedankens unterscheiden sich jedoch die beiden Ausrichtungen der liberalistischen Erziehungskonzeption: Während die eine Richtung der Erziehung der Kinder eine strikte Neutralität zugrundelegt, will die andere der Erziehung einen gewissen Rahmen vorgeben, innerhalb dessen sich die Kinder in freier Wahl zu den einen oder anderen Werten bekennen können.89 Diese zweite Strömung hält eine absolute 86

So steht das von Gutmann (Democratic Education, S. 22 ff.) als „The State of Individuals" bezeichnete Modell dem Liberalismus, „The State of Families" dem Kommunitarismus sowie „The Family State" dem Republikanismus nahe. Ebenso in der Interpretation Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1993), Fußn. 367. 87 Ackerman, Social Justice, S. 163. 88 So unter anderem Ackerman, Social Justice, S. 155 f. 89 Die beiden Richtungen finden sich näher konkretisiert bei Ackerman, Social Justice, S. 155 ff.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

Neutralität weder für realisierbar noch für wünschenswert. Sie geht davon aus, daß Kinder nur dann zu wirklich freien Persönlichkeiten heranwachsen können, wenn ihnen ein gewisser Rahmen vorgegeben wird. 90 Dieser Rahmen soll einerseits die Auswahl an theoretisch offenstehenden Möglichkeiten begrenzen, andererseits jedoch den Kindern einen ausreichenden Spielraum zur freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit belassen. Nur durch die Vorgabe von Leitlinien könne eine vollkommene Orientierungslosigkeit der Kinder vermieden werden. Die Vorgaben sollen sich freilich auf jene Punkte beschränken, die für den kulturellen Zusammenhalt der Gesellschaft unabdingbar sind. 91 Einige Autoren gehen noch einen Schritt weiter, indem sie auch die bewußte Vermittlung von Werten für zulässig erachten, solange sich diese auf ausschließlich liberale Inhalte beschränken. Danach können auch solche Vorgaben gemacht werden, die der Aufrechterhaltung liberalistischen Denkens dienen.92

II. Auswirkungen auf die Rolle des Staates Konsens besteht unter den Liberalisten insoweit, als die Erziehung der Kinder auf keinen Fall ausschließlich in die Hände des Staates gelegt werden soll. Keine Einigkeit besteht hingegen darüber, zu welchem Anteil der Staat auf die schulische Erziehung der Kinder Einfluß nehmen darf. Maßgebend ist zwar durchweg das Ziel, die Kinder mit einer möglichst großen Zahl an Wertkonzeptionen zu konfrontieren. Darüber, wie dieses Ziel am besten zu erreichen ist, bestehen aber unterschiedliche Ansichten.

1. Vollkommene Ausklammerung des Staates aus der Erziehung der Kinder

Jene Gruppe von Liberalisten, die jede Art von staatlicher Einschränkung durch die schulische Erziehung ablehnt, befürwortet eine vollständige Ausklammerung des Staates aus dem Schulwesen. Einige Autoren plädieren dafür, die Erziehung ausschließlich bei den Eltern zu belassen, andere wiederum wollen sie auf einen neutralen Dritten übertragen. Aus der Befürchtung heraus, daß eine staatliche Einflußnahme auf die Erziehung der Kinder regelmäßig repressive Elemente in sich trage, die nicht mit der Wertevielfalt zu vereinbaren seien, plädieren einige Autoren dafür, die Erziehung vollständig in der Verantwortung der Eltern zu belassen 9 3 Andere Autoren halten 90 Ackerman, Social Justice, S. 141: „Exposing the child to an endless and changing Babel of talk and behavior will only prevent his development of the abilities he requires if he is ever to take his place among the citizenry". 91 Ackerman , Social Justice, S. 141. 9 a u Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (659).

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auch die Eltern nicht für den adäquaten Erzieher ihrer Kinder. Die Erziehung der Eltern sei - ohne daß ihnen dies zum Vorwurf gemacht werden könnte - im Regelfall allein auf die Weitergabe der eigenen Wertstrukturen ausgerichtet. Aus diesem Grund sei die Erziehung der Kinder besser einem Experten oder professionellen Erzieher anzuvertrauen, der sich unbeeinflußt von elterlichen oder politischen Vorgaben ausschließlich am Wohl des Kindes orientieren und den Kindern die Befähigung vermitteln soll, im Laufe ihrer Entwicklung eine Wahl zwischen den unterschiedlichen Moralvorstellungen und Lebenskonzeptionen zu treffen. 94

2. Einbeziehung des Staates in die Erziehung der Kinder

Bei weitem nicht von allen Liberalisten wird die Beteiligung des Staates an der Erziehung jedoch derart kritisch gesehen. Einige Autoren versuchen durch die Propagierung eines Systems von Bildungsgutscheinen eine möglichst große Wertevielfalt zu erreichen, ohne den Staat vollkommen aus der schulischen Erziehung auszuklammern. Nach diesem Konzept soll der Staat an die Eltern schulpflichtiger Kinder Bildungsgutscheine verteilen, die die Eltern bei der von ihnen favorisierten - öffentlichen oder privaten - Schule einlösen können.95 Da die Auswahl der Schule den Eltern obliegt, beläßt dieser Ansatz den Schwerpunkt der Erziehung bei den Eltern. Ihnen steht es offen, sich für eine staatliche oder private Schule zu entscheiden. Ein beachtlicher Teil der Liberalisten geht über den Vorschlag eines Systems staatlicher Bildungsgutscheine hinaus und befürwortet eine staatliche Schulerziehung, solange diese bestimmte Grenzen nicht überschreitet. Nach Ansicht der Vertreter dieses Ansatzes stellt die Übertragung der schulischen Erziehung auf einen neutralen Dritten keine Gewähr für eine absolute neutrale, von allen Tendenzen befreiten Erziehung dar. Auch ein Konzept, daß die Erziehung in der Verantwortung der Eltern beläßt, stehe im Widerspruch zur liberalistischen Erziehungsidee, die von einer Konfrontation und Auseinandersetzung der Kinder mit einer großen Anzahl von unterschiedlichen Wertvorstellungen ausgeht. Eben diese Konfrontation und Auseinandersetzung werde unmöglich gemacht, wenn allein den Eltern die Verantwortung über die Erziehung der Kinder obliege, da diese naturgemäß die Neigung in sich trügen, nur ihre eigenen Wertvorstellungen zu vermitteln. Damit verbunden sei oftmals der Versuch, die Kinder nicht mit solchen Werten in Berüh93

Diese Feststellung trifft namentlich Gutmann, Democratic Education, S. 28 ff., insbesondere S. 30. In diesem Sinne wohl auch Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), Fußn. 367. 94 Gutmann, Democratic Education, S. 34. 95 Genauere Ausführungen zu dem Bildungsgutscheinsystem bei Coons/Sugerman, Education by Choice, S. 133 ff.; Friedman, Role of Government in Education, in: Solo (Hrsg.), Public Interest, S. 123 ff.; ders., Capitalism, S. 85 ff. Im einzelnen weisen die Verfechter eines derartigen Systems von Bildungsgutscheinen durchaus Unterschiede auf, die vor allem die Rolle des Staates betreffen. Im Gegensatz zu Coon und Sugerman versucht Friedman den staatlichen Einfluß auf die Schulen möglichst weitgehend zurückzudrängen. 16 Rathke

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

rung zu bringen, die den Kindern Anlaß zu Zweifeln an der Richtigkeit der elterlichen Wertvorstellungen geben könnten. Dieser Einwand wird auch jenen Vertretern des Liberalismus entgegengehalten, die für die Errichtung eines Systems von Bildungsgutscheinen plädieren, da das Angebot an die Eltern, ihre Kinder auf jede beliebige Schule zu schicken, im Regelfall zur Folge habe, daß die Eltern ihre Kinder bei der Schule anmelden, die den elterlichen Erziehungsvorstellungen am ehesten entspricht. 96 Angesichts dieses Befundes soll es Aufgabe des Staates sein, einen schulischen Rahmen für den kulturellen Zusammenhalt der Gesellschaft vorzugeben, der sich jedoch auf die Weitergabe von liberalen Werten beschränkt. Insofern wird ein Zusammenspiel von elterlichen und staatlichen Einflüssen als fruchtbare Grundlage für die Erziehung der Kinder angesehen. Dieses Zusammenspiel werde zwar stets von Spannungen begleitet sein. Diese seien jedoch systemimmanent und daher unvermeidbar. Insgesamt stützt sich der Ansatz auf die gegenseitige Rücksichtnahme beider Seiten, der Schule sowie der Eltern. Die Schule habe die - mit zunehmenden Alter der Kinder abnehmende - Autorität der Eltern und damit verbunden deren Erziehungsvorstellungen zu respektieren. Den Eltern wiederum soll die Pflicht zukommen, ihre Autorität nicht dazu einzusetzen, die Kinder am Genuß einer liberalen schulischen Erziehung zu hindern. 97

III. Bewertung der liberalistischen Erziehungstheorien Allen liberalistischen Ansätzen liegt die Idee einer Erziehung zur Freiheit zugrunde. Den Kindern soll über die Konfrontation mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Wertvorstellungen die Möglichkeit verschafft werden, in freier Wahl eine eigene Konzeption von einem guten Leben zu entwickeln. Die Liberalisten unterstellen damit, daß ein allgemeiner gesellschaftlicher Konsens über den Wert „Freiheit" besteht. Gutmann kritisiert diesen Ausgangspunkt der Liberalisten mit den Worten: „To establish a privileged place for freedom as the aim of education, liberals would have to demonstrate that freedom is the singular social good, a demonstration that cannot succeed in a society where citizens sometimes (one need not claim always) value virtue above freedom". 98 Gutmanns Kritik ist freilich nur insoweit berechtigt, als es keinen allgemeinen Konsens über einen wertgeladenen Freiheitsbegriff in einer pluralistischen Gemeinschaft gibt. Wird die Freiheit hingegen als politische Freiheit verstanden, im Rahmen eines freien, demokratischen Prozesses Wertvorgaben aufzustellen, die (auch) der Erziehung der Kinder zugrundegelegt werden, läuft ihre Kritik ins Leere, wenn nicht an den 96 Siehe dazu Ackerman, Social Justice, S. 160. In diesem Sinne auch Gutmann, Democratic Education, S. 65 ff. 97

Ackerman, Social Justice, S. 156. 8 Vgl. zum ganzen Gutmann, Democratic Education, S. 38.

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Grundfesten eines modernen demokratischen Verfassungsstaates gerüttelt werden soll"

C. Erziehungskonzepte der Kommunitaristen Da der kommunitaristische Ansatz als politische Konzeption in einem modernen pluralistischen Staatswesen keine Chance auf tatsächliche Umsetzung hat, 1 0 0 beschäftigen sich nur wenige Autoren mit praktischen Fragestellungen wie beispielsweise der schulischen Erziehung. Dennoch ist es möglich, aus den theoretischen Ansätzen - zumindest in Grundzügen - eine Erziehungskonzeption abzuleiten.

I. Grundzüge einer kommunitaristischen Erziehungstheorie Unabhängig davon, ob die kommunitaristische Erziehungstheorie von einem hypothetischen Staat ausgeht, in dem alle Gesellschaftsmitglieder dieselben Werte teilen, oder ob sie auf eine (kleinere) homogene Gemeinschaft innerhalb eines pluralistischen Staatswesens abstellt, liegt ihr stets der Gedanke zugrunde, einen bestimmten Kanon an Gemeinschaftsweiten an die nächste Generation weiterzugeben. Dieses Erziehungsverständnis ergibt sich zwangsläufig aus der Vorstellung, daß der einzelne seine Persönlichkeit erst durch die Interaktion mit der ihn umgebenden Gemeinschaft entwickeln und entfalten kann. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Gemeinschaftswerte auf die neue Generation übertragen und alle nachwachsenden Gemeinschaftsmitglieder durch sie geprägt werden.

II. Auswirkungen auf die Rolle des Staates Geht man von dem kommunitaristischen Idealfall aus, daß der Staat aus einer einzigen homogenen Gruppe besteht, stellt die Erziehungsfrage keine große Herausforderung dar. In einem solchen idealtypischen Staatswesen ist eine Diskrepanz zwischen den Zielen des einzelnen und den staatlichen Interessen von vornherein ausgeschlossen. Da der einzelne seine Persönlichkeit und Wertvorstellungen erst durch die Gemeinschaft entwickelt, ist eine Abweichung von den gemeinschaftlichen Vorgaben dem System fremd. Zwischen einzelnem und Gemeinschaft besteht eine prinzipielle Übereinstimmung in den Wertüberzeugungen. Dementsprechend bereitet auch die Vorstellung, daß die Gemeinschaft - zur Entlastung der Eltern an der Erziehung der Kinder durch die Bereitstellung entsprechender Institutionen 99 In ihrer demokratischen Erziehungskonzeption geht Gutmann selbst von einer demokratischen Erziehungskonzeption aus und erkennt damit implizit einen politischen Freiheitsbegriff an. 100 Vgl. dazu bereits oben S. 237 f.

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mitwirkt, grundsätzlich keine Schwierigkeiten. Wertdifferenzen oder -konflikte sind angesichts der bestehenden Homogenität nicht zu befürchten. In einem modernen pluralistischen Staat ist demgegenüber - nach klassisch kommunitaristischer Ansicht - eine einheitliche staatliche Erziehung wegen der Vielzahl an unterschiedlichen Gemeinschaften, die das Staatswesen „beherbergt", undenkbar. Für Kommunitaristen ist die Vorstellung inakzeptabel, Werten ausgesetzt zu sein, die jenen der eigenen Gruppe widersprechen, da deren Reproduktion durch Konfrontation mit gemeinschaftsfremden Werten gefährdet wird. 1 0 1 In einem pluralistischen Gemeinwesen müssen Kommunitaristen daher jede Art von staatlicher Erziehung zwangsläufig ablehnen. Die Erziehung der Kinder muß unter diesen Umständen vollständig in den Händen der Eltern oder der Gemeinschaft verbleiben. 102 Dies schließt die Existenz von Schulen zwar nicht völlig aus. In Betracht kommen jedoch allein Schulen in privater Trägerschaft, zwischen denen die Eltern frei wählen können. Nur auf diese Weise ist gesichert, daß die Kinder eine Erziehung erfahren, die den Überzeugungen der Eltern bzw. der jeweiligen Gemeinschaft entspricht.

III. Bewertung des kommunitaristischen Erziehungskonzepts Für den modernen, pluralistisch-demokratischen Staat sind die Konsequenzen eines Konzepts, das die Verantwortung für die Erziehung der Kinder ausschließlich in die Hände der Eltern bzw. der jeweiligen Gemeinschaft legt, gleichermaßen system widrig und inakzeptabel. Auch wenn nicht bestritten werden kann, daß Eltern ein Mitspracherecht bei der Erziehung ihrer Kinder zukommt, stellt eine völlige Abschottung der Kinder von anderen Einstellungen und Denkansätzen einen Fremdkörper im und eine Gefahr für das pluralistische Staatswesen dar. Sie tendiert zu absoluten Wertvorgaben, fördert die Abneigung gegenüber allem Fremden, verhindert die Offenheit gegenüber anderen Lebenskonzeptionen und enthält den Keim für Ausgrenzungen und Fremdenfeindlichkeit. 103 Obwohl die kommunitaristische Konzeption auf den ersten Blick zur Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Pluralität beizutragen scheint, erweist sie sich im Ergebnis als nachteilig und kontraproduktiv, wenn die Vermittlung einzelner freiheitlicher Werte - wie die Toleranz gegenüber Andersdenkenden und die Akzeptanz gruppenfremder Mehrheitsentscheidungen - abgelehnt wird. Im Extremfall können dadurch Zusammenhalt und Funktion des Staatswesens gefährdet werden.

101 Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (663). ι 0 2 So Gutmann, Democratic Education, S. 28 f. i°3 In diesem Sinne auch Gutmann, Democratic Education, S. 32 f.: „States that abdicate all educational authority to parents sacrifice their most effective and justifiable instrument for securing mutual respect among their citizens".

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D. Erziehungskonzepte der Republikaner Wie die Vertreter des Kommunitarismus halten sich die Vertreter des Republikanismus mit der Übertragung ihrer Theorie auf Erziehungskonzepte bedeckt. Dennoch läßt sich auch hier aus den philosophischen Grundelementen ein Erziehungskonzept herleiten, daß den Vorgaben des Republikanismus entspricht.

I. Grundzüge einer republikanischen Erziehungstheorie Zentrales Element des Republikanismus - sowohl in seiner klassischen als auch seiner modernen Variante - ist die Selbstregierung der Bürger. Das System der Selbstregierung fordert eine aktive Teilhabe der Bürger am politischen System. Es baut auf der ständigen Interaktion zwischen Regierenden und Regierten auf, so daß letztlich jeder vom Vorgehen des anderen in irgendeiner Weise betroffen wird. Ist die republikanische Staatsorganisation in besonderem Maße auf die Partizipation des einzelnen angewiesen und damit von dessen Fähigkeiten abhängig, kann sie der Ausbildung seiner Person und seines Charakters nicht gleichgültig gegenüberstehen. Auch der republikanische Staat besitzt daher ein besonderes Interesse daran, auf die Entwicklung der nachwachsenden Bürger im Wege der Kindererziehung Einfluß zu nehmen. Im Rahmen dieser Erziehung nimmt die Vermittlung der grundlegenden gesellschaftlichen Werte eine zentrale Stellung ein, die üblicherweise mit den Begriffen „civic" und „moral education" umschrieben wird. 1 0 4 Unzulänglichkeiten in der Erziehung der Kinder sind zugleich Mängel in der Vorbereitung auf ihre spätere Rolle als Bürger, die das Staatswesen nach dem republikanischen Ansatz in seiner Existenz bedrohen. Die Ausrichtung der moralischen Erziehung der Kinder am Gemeinwohl und an gemeinsamen Weiten ist daher ein wesentlicher Baustein, um den langfristigen Zerfall des Staatswesens zu verhindern. Kinder sollen es als selbstverständlich ansehen, daß sie bei allen ihren Handlungen die Auswirkungen auf das Gemeinwohl in ihre Überlegungen einbeziehen. 105 Dem Gedanken der positiven Freiheit läßt sich ein weiteres Argument für eine wertgeladene Erziehung der Kinder entnehmen. Nach Ansicht der Republikaner besteht eine Diskrepanz zwischen den Wünschen des einzelnen, die von Instinkten und Impulsen geleitet sind, und seinen wahren, tatsächlichen Interessen. Nur wenn der einzelne seine wirklichen Interessen kenne, so die republikanische Konzeption, sei er frei. Diese Freiheit wird mit dem Begriff der positiven Freiheit umschrieben. 104 Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (645): „And because the polity, to which all are subordinate, is governed by its citizens, the polity has a strong interest in the Charakter of its citizens, which can be maintained only through moral education". Stolzenberg verwendet die Begriffe „civic" und „moral education" synonym. Vgl. a. a. O., S. 645 (moral education) bzw. S. 652 (civic education). 105 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (651).

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

Um sie zu erlangen, muß der einzelne über die Aneignung von Reflektionsprozessen und kritischem Denken seine Instinkte und Impulse zu kontrollieren lernen, was eine speziell auf den Erwerb dieser Fähigkeiten ausgerichtete Erziehung voraussetzt. Gerade die schulische Erziehung soll das Mittel zum Erwerb der wahren - positiven - Freiheit sein. 106 Während die skizzierten Grundzüge sowohl für den klassischen als auch den modernen Republikanismus gelten, besteht der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Ausprägungen in der Auswahl jener Werte, die zu den „civic virtues" zählen sollen. Ist der klassische Republikanismus strikt auf die Betonung von Gemeinschaftswerten ausgerichtet, zeichnet sich der moderne Republikanismus dadurch aus, daß er liberale Werte zur Grundlage der „civic virtues" macht. Dies hat zur Folge, daß der moderne Republikanismus die Stellung des einzelnen gegenüber der klassischen Variante deutlich stärkt und ihm eine ebenbürtige Position neben dem Gemeinwohl einräumt. Während im klassischen Republikanismus in Konfliktsituationen der positiven Freiheit stets Vorrang vor der negativen Freiheit eingeräumt wird, stehen im modernen Republikanismus negative und positive Freiheit gleichberechtigt nebeneinander. Entscheidungen werden durch eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den beiden Freiheitspositionen getroffen. 107 Aufgrund dieser gleichberechtigten Stellung von negativer und positiver Freiheit schließt der moderne Republikanismus eine auf übermäßige staatliche Indoktrination gerichtete Erziehung, die die Rechte des einzelnen übergeht, weitgehend aus: „Civic republicanism does not issue a broad mandate for state indoctrination or acculturation. It only permits the imposition of those values, habits, and manners characteristic of a liberal society: open-mindedness, tolerance of diverse opinions, and the critical-objective mindset that underlies individual freedom of choice". 108 Auch hier zeigt sich, daß erhebliche Überschneidungen zwischen der republikanischen Erziehungstheorie und jenen Strömungen innerhalb des Liberalismus bestehen, die eine Vermittlung liberaler Werte befürworten. Der einzige Unterschied, der auf Seiten der republikanischen Erziehungskonzeption erkennbar ist, besteht in der Vorbereitung der Kinder auf ihre Funktion als Bürger und der damit verbundenen (stärkeren) Gemeinwohlorientierung. 109

106 Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (652): „Education of therightsort is necessary to extricate the individual from the judgement-clouding appetites and exigencies to which she is otherwise enslaved. Only by acquiring the capacity to make intelligent choices does the individual become truly free". 107 Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (655 ff.). 108 Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (657). 109 In diesem Sinne auch Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. (1991), 581 (659).

§ 13 Auswirkungen der Debatte auf die schulische Erziehung

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II. Auswirkungen auf die Rolle des Staates Wesentliches Element im republikanischen Konzept der Kindererziehung ist die Vermittlung der - wie auch immer im einzelnen konkretisierten - „civic virtues". Die Weitergabe dieser „civic virtues" soll nicht zuletzt bewirken, daß sich Kinder im Prozeß des Heranwachsens zum Bürger in zunehmendem Maße mit ihrem Staatswesen identifizieren. Diese Ausrichtung der Erziehung führt dazu, daß dem Staat in der republikanischen Erziehungskonzeption eine zentrale Stellung zukommt. Ihm obliegt die Aufgabe, die Kinder auf ihre zukünftige Rolle als Bürger vorzubereiten und sie mit den entsprechenden Werten vertraut zu machen. Am wirkungsvollsten kann der Staat diese Vermittlungsaufgabe durch die Errichtung eines staatlichen Schulwesens wahrnehmen. Auf jeden Fall aber muß das Schulwesen staatlicher Kontrolle unterliegen. III. Bewertung des republikanischen Erziehungskonzepts Das republikanische Erziehungsmodell geht - ebenso wie das wertbezogene liberalistische Modell 1 1 0 - von der Annahme aus, daß sich alle Bürger auf gemeinsame Werte - auf bestimmte „civic virtues" - einigen können. In der Tat ist es in einer modernen Gesellschaft, in der unzählig viele Konzeptionen des Guten existieren, grundsätzlich möglich, die einzelnen Moralkonzeptionen einer gewissen Bewertung zuzuführen. 111 Die Bewertungskriterien belassen jedoch einen derart großen Spielraum, daß eine Reduktion auf eine einzige Konzeption des Guten ausscheidet.112 Die Festlegung auf eine bestimmte Konzeption des Guten könnte allenfalls im Wege demokratischer Prozesse vorgenommen werden, die eine Einigung auf eine einzige Moralkonzeption jedoch prinzipiell ausschließen. Zu unterschiedlich sind die Vorstellungen, mit denen der einzelne aufgewachsen ist, zu stark seine negativen Freiheiten, als daß die als befolgungswürdig erscheinenden Werte durch eine einzige Definition der positiven Freiheit für alle gleichermaßen verbindlich festgelegt werden könnten. Im übrigen ist die Vorstellung befremdlich, daß der Staat den Eltern einerseits die Befolgung ihrer jeweiligen Konzeptionen des Guten beläßt, ihnen andererseits aber unter Berufung auf das staatliche Interesse die Erziehung der Kinder entzieht, um auf diesem Wege die Weitergabe der „civic virtues" an die neue Generation zu no Dazu oben S. 231 ff. ni Gutmann, Democratic Education, S. 26 ff. Ii 2 An dieser Stelle ist allerdings daran zu erinnern, daß selbst die liberalistischen Ansätze eine gewisse Wertung zwischen den unterschiedlichen Konzeptionen des Guten voraussetzen. Als Bewertungsmaßstab wird das Kriterium der „Vernunft" herangezogen. Mit dessen Hilfe sollen alle vernünftigen von den unvernünftigen Konzeptionen des Guten abgegrenzt werden. Für den Staat folgt daraus einerseits die Verpflichtung zur Wahrung von Neutralität gegenüber allen vernünftigen Konzeptionen des Guten, andererseits aber auch die Erlaubnis, alle unvernünftigen Konzeptionen zu bekämpfen; vgl. dazu oben S. 224 f.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

garantieren. In einem modernen pluralistischen Staatswesen erscheint es systemwidrig, gerade den Eltern zu untersagen, die ihnen wichtig erscheinenden Werte an ihre Kinder weiterzugeben, und sie damit vom Erziehungsprozeß auszuschließen. Viele Eltern fühlen sich moralisch dazu verpflichtet. Das damit verbundene Dilemma des pluralistischen Gemeinwesens, die Erziehung zwischen Gemeinwohlbezug und individuellen Konzeptionen ansiedeln zu müssen, bringt Gutmann zutreffend auf den Punkt: „As long as we differ not just in our opinions but in our moral convictions about the good life, the state's educational role cannot be defined as realizing the good life, objectively defined, for each of its citizens. Neither can educational authorities simply claim that a good education is whatever in their opinion is best for the state 4 '. 113

E. Amy Gutmanns „Democratic Education44 Angesichts ihrer Vorbehalte (auch) gegenüber dem republikanischen Erziehungsmodell versucht Gutmann ein Erziehungskonzept zu entwickeln, das sich von inhaltlichen Moralvorstellungen befreit. Auch das von ihr so genannte „demokratische Erziehungskonzept" beruht auf zwei Prämissen, die ihrer Ansicht nach jedem Erziehungsmodell zugrundezulegen sind. Dazu zählt zum einen die Erkenntnis, daß eine in jeder Hinsicht neutrale Erziehung nicht realisierbar sei, zum anderen die Annahme, daß jede Erziehung gewisse Zielvorgaben benötige. Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang, welche Zielvorgaben das demokratische Erziehungskonzept verfolgt.

I. Grundzüge einer „demokratischen Erziehungstheorie 44 Ausgehend von der Erkenntnis, daß es in einem modernen Staat nicht möglich ist, ein allgemeines Einverständnis über die Anerkennung bestimmter Werte zu erzielen, versucht Gutmann die Frage, zu welchen moralischen Werten Kinder erzogen werden sollen, von vornherein aus ihrem Erziehungskonzept auszuklammern. Ist - so eine ihrer beiden Grundannahmen - eine Erziehung ohne die Vorgabe bestimmter Ziele nicht möglich, stellt sich die Frage, auf welche Ziele die Erziehung der Kinder ausgerichtet werden kann, ohne dabei auf moralische Inhalte zurückzugreifen. Gutmanns Ausweg aus dem Dilemma besteht darin, die moralischen Erziehungstheorien durch ein politisches - ein demokratisches Konzept zu ersetzen, von dem sich auch die Bezeichnung „democratic education" herleitet. Wesentliches Charakteristikum der demokratischen Erziehungstheorie soll sein, daß aus den in einer pluralistischen Gesellschaft unvermeidbaren UnGutmann, Democratic Education, S. 8.

§13 Auswirkungen der Debatte auf die schulische Erziehung

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stimmigkeiten über die Ausrichtung der Erziehung eine demokratische Tugend gemacht wird. 1 1 4 Gutmann geht davon aus, daß in einem demokratischen Staatswesen zwar eine Einigung auf eine bestimmte Moralvorstellung nicht möglich ist, alle Bürger jedoch die gemeinsame politische Verpflichtung teilen, gemeinschaftlich an der Gestaltung ihrer Gesellschaft und ihres Staates mitzuwirken. 115 Kern dieser Verpflichtung soll die bewußte soziale Reproduktion („conscious social reproduction") sein, die nur bei entsprechender Erziehung der Kinder realisierbar sei. Die Erziehung soll sicherstellen, daß Kinder die Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die zur Teilnahme an der Gestaltung und Reproduktion der Gesellschaft unentbehrlich sind. 116 Gutmann ist sich bewußt, daß eine solche Ausrichtung der Erziehung auf eine bewußte soziale Reproduktion umstritten ist. Der entscheidende Vorteil der demokratischen Erziehungstheorie soll jedoch darin liegen, daß den Bürgern - durch den Verzicht auf moralische Inhalte - ein maximaler Spielraum zur gemeinsamen Ausgestaltung der Erziehung verbleibt. Allerdings soll diese Gestaltungsfreiheit nicht grenzenlos sein. Eine Beschränkung ergibt sich bereits daraus, daß die Erziehung den Kindern auf jeden Fall jene Voraussetzungen vermitteln soll, die später zur Teilnahme an der gemeinsamen Gestaltung der Gesellschaft nötig sind. 117 Darüber hinaus fordert Gutmann, daß den Kindern im Rahmen der Erziehung ein Bewertungsmaßstab vorgegeben wird, der es ihnen ermöglicht, zwischen guten und schlechten Lebensvorstellungen zu unterscheiden. Diese Befähigung zu Differenzierung und Bewertung sei unerläßlich, um alle jene Denkrichtungen verwerfen zu können, die mit einem demokratischen Staatswesen und einer demokratischen Gesellschaft nicht zu vereinbaren sind. Dafür reiche es nicht aus, den Kindern bestimmte Maßstäbe vorzugeben, vielmehr müsse ihnen auch die Fähigkeit vermittelt werden, innerhalb des verbleibenden Rahmens an vernünftigen Moralkonzeptionen die Vor- und Nachteile der einzelnen Konzeption zu erkennen und zu beurteilen. 118 Innerhalb der skizzierten Grenzen sollen möglichst viele unterschiedliche Wertvorstellungen - familiäre, gruppenspezifische und politische Werte - in den Erziehungsprozeß einfließen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, daß sich die Kinder möglichst weitgehend mit den verschiedenen gesellschaftlichen Einheiten - mit ihrer Familie als kleinster Einheit, mit unterschiedlichen Gemeinschaften und dem Staatswesen als größter Einheit - identifizieren. 119 Alle Instanzen, die 114

Gutmann, Democratic Education, S. 11: „The most distinctive feature of a democratic theory of education is that it makes a democratic virtue out of our inevitable disagreement over educational problems." 115 Gutmann, Democratic Education, S. 39. 116 Gutmann, Democratic Education, S. 38 f. 117 Gutmann, Democratic Education, S. 38 f. 118 Gutmann, Democratic Education, S. 44. 119 Gutmann, Democratic Education, S. 43.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

werte vermittelnd am Erziehungsprozeß teilnehmen, sollen jedoch zwei unverrückbaren inhaltlichen Grenzen unterliegen, deren Beachtung für das demokratische Staatswesen als unabdingbar angesehen wird: den Prinzipien der „nonrepression" und der „nondiscrimination". Der Grundsatz der „nonrepression" soll verhindern, daß die Erziehung dazu mißbraucht wird, kritische Überlegungen bzw. eine kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Konzeptionen von einem guten Leben oder einer guten Gesellschaft zu unterbinden. Das Prinzip der „nondiscrimination" soll es verbieten, bestimmte Gruppen von der Teilhabe am Erziehungsprozeß auszuschließen.120 II. Rolle des Staates Um zu gewährleisten, daß die verschiedenen Werte tatsächlich in den Erziehungsprozeß eingehen, überträgt Gutmann die Verantwortung für die Erziehung der Kinder nicht allein dem Staat, der Familie oder einer sonstigen Gruppierung, sondern bezieht alle gleichermaßen in den Erziehungsprozeß ein. Auch professionelle Erzieher sollen an dieser Verantwortung teilhaben (können). 121 Über diese allgemeinen Feststellungen hinaus ist für Gutmann von entscheidender Bedeutung, welche Konsequenzen sich aus ihrem Konzept für das amerikanische Schulsystem ergeben und wie insbesondere die Definitionsbefugnis über die Schulinhalte und die Kontrolle über das Schulwesen am günstigsten zu verteilen sind. Ausgehend von einem föderalen Regierungssystem sieht Gutmann eine demokratische Erziehung durch eine Verteilung der Befugnisse auf die verschiedenen demokratischen Ebenen - die Gemeinden, die Gliedstaaten und den Bundesstaat - am besten gewährleistet. Eine besonders hervorgehobene Position kommt nach Gutmann den Gemeinden zu: „Preserving a realm of local democratic control over schools not only makes control more effective but permits the content of education to vary, as it should, with local circumstances and local democratic preferences". 122 Die Schlüsselfunktion, die Gutmann den Gemeinden in Schulangelegenheiten einräumt, entspricht freilich weitgehend der amerikanischen Schultradition. 123 Seit jeher werden im amerikanischen Schulwesen die wesentlichen Entscheidungen sowohl inhaltlicher als auch organisatorischer Art auf lokaler Ebene gefällt. 124 120 Gutmann, Democratic Education, S. 44 f.: „The principal of nonrepression prevents the state, and any group within it, from using education to restrict rational deliberation of competing conceptions of the good life and the good society. ( . . . ) Nondiscrimination extends the logic of nonrepression, since states and families can be selectively repressive by excluding entire groups of children from schooling or by denying them an education conducive to deliberation among conceptions of the good life and the good society." 121 Gutmann, Democratic Education, S. 75 ff. 122 Gutmann, Democratic Education, S. 74. 123 Allgemein zur Struktur des amerikanischen Schulsystems oben S. 177 ff. 124 Auch im amerikanischen Schulwesen zeigt sich allerdings die Tendenz, daß die Gliedstaaten über die finanzielle Unterstützung der Schulen versuchen, größeren Einfluß auf die Gestaltung des Schulwesens zu nehmen; vgl. Dichanz, Schulen in den USA, S. 99.

§ 13 Auswirkungen der Debatte auf die schulische Erziehung

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Zuständig für die inhaltliche und organisatorische Ausgestaltung der Schulen ist das sog. „Schoolboard", dessen Vertreter alle vier bis fünf Jahre von den Gemeindeeinwohnern gewählt werden. Die von diesem Gremium getroffenen Entscheidungen werden administrativ von einem „Superintendenten" ausgeführt, der vom Schoolboard eingesetzt wird. Die in regelmäßigen Abständen stattfindende Wahl der Mitglieder des Schoolboards ist ein Grundpfeiler des schulischen Erziehungssystems und zugleich ein Garant für die Kontrolle der Schulpolitik durch die Gemeindebürger. Hinzu kommt, daß das Interesse der Gemeindebürger an der Kontrolle der Schulpolitik sich dadurch potenziert, daß die Gemeinden - in Anlehnung an die von jedem Bürger zu zahlende Grundsteuer - eine Schulsteuer erheben, die der Finanzierung der Schulen und der Lehrer dient. 125 Bereits aus diesem Grund haben die Bürger ein gesteigertes Interesse daran, daß das von ihnen zweckbezogen gezahlte Geld auch für eine Erziehung eingesetzt wird, die möglichst weitgehend ihren Vorstellungen entspricht. Obwohl der Schwerpunkt bei der Bestimmung der schulischen Zielvorgaben und der Kontrolle des Schulwesens auch bei Gutmann auf lokaler Ebene angesiedelt sein soll, wendet sie sich gegen eine Übertragung des gesamten Bestimmungsrechts über das Schulwesen auf die lokalen Einheiten. Diese seien allein nicht in der Lage, die Voraussetzungen für das Funktionieren des gesamten demokratischen Gemeinwesens zu sichern. Neben der lokalen sei eine übergeordnete Kontrolle notwendig, die erst die Gewähr dafür biete, daß sich die Erziehung in den Schulen nicht ausschließlich auf die Vermittlung der in der jeweiligen lokalen Gemeinschaft für wichtig erachteten Inhalte beschränke, sondern darüber hinaus die Vermittlung einer gemeinsamen Kultur und der wesentlichen demokratischen Werte umfasse. Als Kontrollinstanzen sollen sowohl die demokratischen Gliedstaaten als auch der demokratische Bundesstaat in Betracht kommen. 126 Innerhalb dieses - für den Zusammenhalt einer demokratischen Gemeinschaft unerläßlichen Rahmens soll den Gemeinden jedoch sowohl die Art der Vermittlung der demokratischen Werte als auch die Aufnahme zusätzlicher Wertvorstellungen in den Erziehungsprozeß freistehen, sofern sie die durch das Verbot der Unterdrückung sowie der Diskriminierung gezogenen Grenzen beachten.127 III. Bewertung der „demokratischen Erziehungstheorie" Gutmanns demokratische Erziehungstheorie weist den Vorteil auf, die Erziehung der Kinder nicht in die alleinige Verantwortung einer Instanz des Staates oder 125 Dichanz, Schulen in den USA, S. 99. 126 Unter der bestehenden amerikanischen Verfassung besitzt der Bund keine direkte Kontrollbefugnis über das Schulwesen. Die diesbezügliche Kompetenz liegt ausschließlich in den Händen der Gliedstaaten. 127 Gutmann , Democratic Education, S. 73 f.: „Local school boards would remain free to set their own standards within the constraints set by national and state standards, as well as to use their discretion in deciding how to implement federal and state standards."

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

der Familie zu legen, sondern sowohl den Staat als auch die verschiedenen gesellschaftlichen Instanzen am Erziehungsprozeß zu beteiligen. Ihr Ansatz dürfte den tatsächlichen Gegebenheiten eines modernen westlich-demokratischen Staatswesens am ehesten entsprechen. Dazu zählt auch ihr Bemühen, die schulische Erziehung von bestimmten seit jeher umstrittenen Moralkonzeptionen zu lösen. Allerdings drängt sich die Frage auf, ob sich die skizzierte Konzeption - die der Erziehung keine Werte vorgeben, sondern durch die Prinzipien der „nonrepression" und der „nondiscrimination" nur äußere Grenzen abstecken will - wesentlich von liberalistischen Konzeptionen unterscheidet. Letztlich stehen hinter den beiden Prinzipien der „nonrepression" und „nondiscrimination" die liberalen Werte Freiheit und Gleichheit. 128 Zwar fordert Gutmann keine aktive Vermittlung dieser beiden Werte. Dennoch führen die Bewertungsmaßstäbe, die den Kinder vorgegeben werden sollen, um zwischen guten und schlechten Lebensvorstellungen zu unterscheiden, dazu, daß alle Konzeptionen die unverrückbare Grenze der „nonrepression" oder „nondiscrimination" überschreiten, sobald sie die Werte Freiheit und Gleichheit mißachten. Trotz dieser großen Nähe, die Gutmanns demokratische Erziehungskonzeption zum liberalistischen Denken aufweist, bleibt jedoch festzuhalten, daß sie - anders als viele Vertreter der liberalistischen Konzeptionen - den Realitäten einer demokratischen Gesellschaft dadurch in besonderer Weise Rechnung trägt, daß sie die Verantwortung für die schulische Erziehung der Kinder auf möglichst viele Schultern verteilt. 129

§ 14 Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die Zulässigkeit schulischer Wertevermittlung Die Erkenntnisse, die sich der politischen Philosophie für den Bereich der schulischen Erziehung entnehmen lassen, treffen sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten auf ein staatlich und (verfassungs-)rechtlich verfaßtes Gemeinwesen, das einer etwaigen Einflußnahme von vornherein Grenzen zieht. Für die Bedeutung und die Einflußmöglichkeiten der politisch-philosophischen Konzepte und ihrer Erziehungstheorien ist daher aufschlußreich, ob und inwieweit ver128 Bezeichnenderweise benennt Yudof, der ebenso wie Gutmann - allerdings ohne größeren Begründungsaufwand - die schulische Erziehung an demokratischen Werten auszurichten sucht, unter anderem die Werte Freiheit und Gleichheit als demokratische Ideale: „ ( . . . ) the democratic ideal presumably embodies such values as tolerance, civility, liberty, equality, respect for individual dignity, participation in political decision, freedom of expression, freedom to own and dispose of property, and respect for minority interests". Vgl. Yudof, When Government Speaks, S. 54. 129 Ähnliche Ansätze wie bei Gutmann finden sich bei Levin, die schreibt: „Various competing groups and individuals - school boards, school administrators, teachers, parents, students, community leaders, minority groups, and federal and state agencies - seek to control education decision-making to have a say which values are transmitted and how". Vgl. Levin, 95 Yale L. J. (1986), S. 1647 (1649 f.).

§ 14 Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die schulische Wertevermittlung

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fassungsrechtliche Vorgaben den einzelnen konzeptuellen Überlegungen Grenzen setzen. Dabei steht außer Frage, daß auch die verfassungsrechtlichen Vorgaben ihrerseits auf politisch-philosophische Konzepte und die damit verbundenen Vorverständnisse zurückgeführt werden können.

A. Aussagen des Grundgesetzes Das deutsche Grundgesetz enthält in Art. 7 Abs. 1 GG eine Regelung, die sich explizit mit der Gestaltung des Schulwesens befaßt. Die Frage, inwieweit sich einzelne Erziehungstheorien speziell mit Art. 7 Abs. 1 GG vereinbaren lassen, soll jedoch zunächst zurückgestellt werden. 130 Gesteigertes Interesse soll zunächst der Frage gelten, ob und inwieweit sich dem Grundgesetz selbst bestimmte Erziehungsziele entnehmen lassen. Eine positive Antwort auf diese Frage hätte zur Folge, daß alle staatlichen Instanzen auf die verfassungsrechtlich vorgegebenen Erziehungsziele verpflichtet und alle jene Erziehungstheorien unter dem Grundgesetz von vornherein ausgeschlossen wären, die eine entsprechende inhaltliche Einflußnahme des Staates auf die schulische Erziehung der Kinder ablehnen. Die Frage, inwieweit dem Grundgesetz Erziehungsziele zu entnehmen sind, läßt sich für das deutsche Verfassungsrecht nicht ohne Rückgriff auf die Grundwertediskussion beantworten, die sich mit eben dieser Problemstellung befaßt hat und erstaunliche Parallelen zu Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte aufweist. Im folgenden gilt es daher zunächst dem Zusammenhang zwischen Grundwertediskussion und grundgesetzlicher Statuierung von Erziehungszielen nachzugehen, bevor weitere verfassungsrechtliche Eingrenzungen in den Blick genommen werden. I. Ergebnisse der Grundwertediskussion Die unter der Bezeichnung „Grundwertediskussion" geführte Auseinandersetzung fand schwerpunktmäßig in den siebziger und frühen achtziger Jahren statt. 131 Sie war Bestandteil des Bundestagswahlkampfs im Jahr 1976, was zur Folge hatte, daß sich zahlreiche politische und gesellschaftliche Instanzen und Institutionen namentlich die Kirchen - an der Debatte beteiligten. 132 Die Diskussion um Grund•30 Näher zu dieser Problematik unten S. 258 ff. Vgl. allgemein zur Grundwertediskussion nur Kimminich, Was sind Grundwerte?, S. 1 ff., Isensee, NJW 1977, 545 ff. sowie die Beiträge in Gorschenek (Hrsg.), Grundwerte. Aus neuerer Zeit Brunner, Grundwerte, S. 1 ff. - Zum Grundgesetz als Wertordnung Rumpf, Ideologischer Gehalt, S. 1 ff.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz; Hesse, Bedeutung der Grundrechte, HbdVerfR, S. 127 ff. 132 Einen guten Überblick über die verschiedenen parteipolitischen Positionen sowie die Stellung der Kirchen gewähren die von der Katholischen Akademie in Hamburg im Jahre 1976/1977 veranstalteten Vorträge. Die einzelnen Stellungnahmen zum Thema „Grund131

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

werte und deren verfassungsrechtliche Fundierung nahm ihren Ausgang nicht in bildungspolitischen Fragestellungen, sondern in der Auseinandersetzung um die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs. 133 Dennoch wirkte und wirkt sich die Debatte auf andere gesellschaftliche Bereiche und insbesondere auf den schulischen Sektor aus. Sofern die - für die vorliegende Untersuchung allein relevanten - verfassungsrechtlichen Bezüge in Rede stehen, konzentriert sich die Diskussion auf wenige zentrale Fragestellungen, die sich mit Isensee - nur wenig verkürzt - zusammenfassen lassen: „Hat der Staat des Grundgesetzes, unabhängig von den herrschenden Strömungen der Gesellschaft einen eigenständigen Auftrag dazu, das notwendige Maß an sozialethischer Homogenität zu sichern? Darf er sein Herrscherinstrument zum Schutz der Grundwerte auch dann einsetzen, wenn diese nicht mehr vom freien gesellschaftlichen Konsens getragen werden?" 134 Weitgehend anerkannt war in der Diskussion, daß ein demokratischer Verfassungsstaat nur dann funktionsfähig und in der Lage ist, seine eigene Existenz aufrechtzuerhalten, wenn in der Gesellschaft ein gewisser Grundkonsens besteht.135 Ohne einen derartigen Grundkonsens drohe jedes demokratische Staatsgebilde im Chaos zu versinken. 136 Die Stabilität eines demokratischen Staatswesens hänge von der Anzahl der konsensfähigen Faktoren ab. Je größer der gesellschaftliche Konsens, desto stabiler sei das System. Dieser unbestrittenen Feststellung lassen sich allerdings zunächst keine Hinweise darauf entnehmen, wie jene Minimalanforderungen, die zur Aufrechterhaltung eines demokratischen Staatsgebildes unerläßlich sind, im einzelnen aussehen sollen. An genau diesem Punkt entzündete sich die eigentliche Auseinandersetzung. Hält man sich die seinerzeitigen Stellungnahmen vor Augen, lag die eigentlich Zuspitzung der Diskussion in der Frage, ob und inwieweit sich ein Grundkonsens im Sinne eines Kanons gemeinsamer Wertvorstellungen verfassungsrechtlich ableiten und absichern läßt. 137 Umstritten war insbesondere, inwieweit das Grundgesetz über die dem einzelnen garantierten Grundrechte und die Organisationsprinzipien hinaus eine konkrete Wertordnung verkörpert, deren Sicherung und Aufrechterhaltung dem Staat obliegt. Dabei zielte die werte in Staat und Gesellschaft" sind unter diesem Titel von Gorschenek herausgegeben worden. 133 Dies zeigt sich etwa daran, daß die Katholische Akademie die Grundwertediskussion in Zusammenhang mit der Abtreibungsdebatte sieht und auch Autoren wie Isensee in ihren Aufsätzen eine Verbindung zwischen beiden Themen herstellen; vgl. Isensee, NJW 1977, 545. 134 lsensee, Essener Gespräche 11 (1977), 92 (112 ff.). 135 Vgl. hierzu Isensee, NJW 1977, 545; Lehmann, Grundwerte, 9 (16); Würtenberger Ethische Erziehung, in: Politische Studien, Heft 335 (1995), 13 (15 f.); Zacher, Der Staat 9 (1970), 161 (162 ff. und 184 ff.). 136 Schmidt und Isensee sprechen in diesem Zusammenhang von Anarchie; vgl. Isensee, NJW 1977, 545; Schmidt, Ethos und Recht, 13(16). 137 Für einen Konsens über die Gesamtverfassung spricht sich unter anderem Isensee, NJW 1977, 545 (546) aus. Schmidt, Ethos und Recht, 13 (17 f.).

§ 14 Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die schulische Wertevermittlung

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Diskussion nicht primär auf die Frage, inwieweit den Grundrechten des Grundgesetzes über ihre Funktion als subjektive Abwehrrechte hinaus eine objektive Dimension zukommt, die den Staat bindet. Die Bejahung dieser Frage wurde - wenn auch nicht unumstritten - mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weitgehend akzeptiert. 138 Streitig war vielmehr, ob und inwieweit dem Grundgesetz über die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte hinaus ein geschlossenes Wertsystem entnommen werden kann, das dem staatlich verfaßten Gemeinwesen im Sinne eines Auftrages - pathetischer gesprochen als Staatsethos - vorgegeben wäre. Ohne daß damit alle Unterschiede und Abweichungen im Detail erfaßt werden, lassen sich auch in dieser Diskussion im wesentlichen zwei Lager ausmachen, denen nahezu alle vorgebrachten Argumentationsstränge zugeordnet werden können: Auf der einen Seite des Spektrums findet sich die Überzeugung, daß das Grundgesetz nicht nur eine objektive Wertordnung, sondern darüberhinaus ein geschlossenes Wertsystem verkörpere. Dem Staat wird die originäre Verantwortung für den Schutz der Grundwerte, die sich aus dem Sittengesetz und der Verfassung ergeben sollen, zugesprochen. Ihm soll die Verpflichtung obliegen, für eine „positive Wertoffenheit" einzutreten. Der freiheitliche Verfassungsstaat dürfe sich zwar „mit keinem bestimmten Bekenntnis oder Glauben identifizieren, wohl ist er aber selbst auf bestimmte Grundwerte verpflichtet"} 39 Wie sich der Kanon dieser Grundwerte im einzelnen zusammensetzt, wird regelmäßig nicht abschließend geklärt, sondern mit Verweis auf das Grundgesetz als beantwortet angesehen. Das darin enthaltene Wertsystem soll die für den demokratischen Verfassungsstaat unerläßliche Konsensgrundlage bilden. Isensee spricht in diesem Zusammenhang von der Verfassung als dem „ethischen Grundkonsens der Nation". 140 Die von diesem Wertsystem verkörperten Werte sollen dem politischen Prozeß und damit der Mehrheitsentscheidung entzogen sein. Ihnen wird eine quasi vorstaatliche Qualität zugesprochen. 141

138 Beginnend mit dem Lüth-Urteil (BVerfGE 7, 198 ff.) stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß „die Grundrechte in erster Linie dazu bestimmt (sind), die Freiheitssphäre des einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern", daß jedoch „das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will ( . . . ) , in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat" (a. a. O., S. 204 f.). In den der Lüth-Entscheidung nachfolgenden Entscheidungen ist diese Aussage vielfach wiederholt worden. Gegen eine aus den Grundrechten herzuleitende objektive Weitordnung wendet sich vor allem Forsthoff, Industriegesellschaft, S. 69. 139 Vgl. Lehmann, Grundwerte, 9 (17). 140

Isensee, NJW 1977, 545 (546). Dazu auch Würtenberger Ethische Erziehung, in: Politische Studien, Heft 335 (1995), 13 (21 ff.). 141 So Isensee, NJW 1977, 545 (546): „Der Staat trägt die originäre Verantwortung für den Schutz der Grundwerte, die ihm im Sittengesetz wie in der Verfassung vorgegeben sind. Die vorstaatlichen, unverzichtbaren Grundwerte sind kein taugliches Objekt von Mehrheitsabstimmungen".

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Demgegenüber wird - auf der anderen Seite der Skala - die Ansicht vertreten, daß sich aus der objektiven Wertordnung des Grundgesetzes keine konkreten Grundwerte herleiten lassen. Einzelne Wertvorgaben sollen nicht durch die Verfassung festgelegt, sondern dem freien Spiel der gesellschaftlich-politischen Kräfte überlassen sein. Dies bedingt, daß die einzelnen Weitvorgaben nur solange Bestand haben, wie sie vom Konsens der jeweiligen politischen Mehrheit getragen werden. 142 (Grund-)Werte sind danach nicht vorgegeben, sondern werden von der Gesellschaft im politischen Prozeß aufgestellt und erst dadurch zur Leitlinie staatlichen Handelns. Umgekehrt soll der demokratische Verfassungsstaat seine Freiheitlichkeit in Frage stellen und sich selbst die Grundlage entziehen, wenn er Wertvorgaben verbindlich vorschreibe und damit dem politischen Prozeß entziehe.143 Dementsprechend könne das Grundgesetz auch nicht mehr sein als ein Organisationsgefüge bzw. ein Handlungsrahmen für die Wertfindung im Wege des politischen Prozesses.144 Sofern ein ethisches Minimum oder ein gewisser Grad an Übereinstimmung in einer demokratischen Gesellschaft gefordert seien, könnten diese nur über die organisatorischen und politischen Strukturen gefunden und festgelegt werden, innerhalb derer die gesellschaftlichen Kräfte um die zu befolgenden Wertvorgaben streiten. 145 Die typisierende Gegenüberstellung der beiden „Lager" zeigt, daß die Grundwertediskussion große Ähnlichkeiten zur Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte - in ihrer Ausprägung als Liberalismus-Republikanismus-Debatte - aufweist. Jene Gruppierung, die dem Staat ein eigenes Ethos und eine vorgegebene Wertordnung zuschreibt, zu deren Aufrechterhaltung er unabhängig von den jeweiligen politischen Mehrheiten verpflichtet sein soll, um das Überleben des Systems zu garantieren, weist in ihren wesentlichen Zügen Ähnlichkeit zum klassischen republikanischen Ansatz auf. Werden dem Staat auf der anderen Seite keine eigene Wertpersönlichkeit und keine vorgegebene Wertordnung zugeschrieben, sondern ihm (nur) die Rolle eines „Vertreters" für die im Rahmen des politischen Prozesses gewonnenen Werte sowie die Aufgabe zugeordnet, die Freiheitsrechte des einzelnen zu garantieren, zeigt sich die Nähe zu liberalistischen Konzeptionen. 142 Vgl. dazu Schmidt, Ethos und Recht, 13 (21 f.). 1 43 Schmidt, Ethos und Recht, 13 (20): „Der freiheitliche Staat, der weltanschaulich neutrale, der demokratische Staat lebt von ihm vorgegebenen Werten und Werthaltungen. Er hat sie nicht geschaffen, er kann ihren Bestand nicht garantieren, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen". 1 44 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 152 f.; zum zugrundeliegenden (liberalen) Verfassungsverständnis Loewenstein, Verfassungslehre; vgl. auch die Darstellung bei Maunz/Zippelius, Staatsrecht § 5 II 2 d. 145 Vgl. dazu Jach, Staatliches Schulsystem, S. 153: „Gegenüber einer wertsystembezogenen Sicht der Grundrechte auf der Grundlage eines bestimmten Menschenbildes gilt es grundsätzlich, die Substanz der Freiheitlichkeit der Verfassung in der Strukturierung von Verkehrsformen des gesellschaftlichen Miteinander und nicht in der Vorgabe eines bestimmten Inhalts der Vergesellschaftung und dieser zugrundeliegender Werte zu sehen".

§ 14 Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die schulische Werte V e r m i t t l u n g

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II. Grundwertediskussion und Ableitbarkeit von Erziehungszielen aus der Verfassung Aus den jeweiligen Positionen in der Grundwertediskussion ergeben sich erkennbar Folgerungen für die Frage, ob sich der Verfassung unmittelbar bestimmte inhaltliche Erziehungsvorgaben entnehmen lassen. Die Beantwortung dieser Frage hat nicht zuletzt Auswirkungen auf die Dispositionsbefugnis der sonst für die Regelung schulischer Angelegenheiten zuständigen Landesgesetzgeber. In dem Maße, in dem die Verfassung konkrete Erziehungsziele aufweist, ist der Spielraum der Landesgesetzgeber mehr oder weniger begrenzt. Jene Autoren, die im Grundgesetz eine eigene Wertordnung verkörpert sehen, kommen (konsequenterweise) zu dem Ergebnis, daß diese Wertordnung an die Kinder weiterzugeben und daher auch im Rahmen der schulischen Erziehung zu vermitteln sei. Isensee faßt diese Position pointiert dahingehend zusammen: „Der Staat dient dem Ziel, das Grundwerte-Bewußtsein lebendig zu halten, nicht allein durch den Erlaß von Gesetzen, sondern wirksamer durch reale Leistungen. Dazu gehören vor allem die kulturstaatlichen Aktivitäten. Die staatliche Schule findet in den Grundwerten ihr wesentliches Erziehungsprogramm". 146 Die Verfechter dieser Ansicht argumentieren, daß nur durch die Weitergabe der Grundwerte an die nächste Generation der für jedes demokratische Staatswesen unverzichtbare Grundkonsens garantiert werden könne. Nur auf diese Weise sei es dem Staat möglich, seine Existenzgrundlage zu sichern. 147 Zwar führe eine derart wertorientierte Erziehung unweigerlich dazu, daß bestimmte Werte aus dem Erziehungsprozeß ausgeklammert oder zumindest nicht in gleichem Maße berücksichtigt werden. Diese Beschränkung soll jedoch sowohl mit dem Recht des Kindes auf freie Selbstentfaltung als auch dem Elternrecht zu vereinbaren sein. Solange die Erziehung im „Geist der Freiheit" wahrgenommen und den Kindern keine ideologisierenden Bekenntnisse abverlangt würden, sei die damit einhergehende Einschränkung der Freiheit hinzunehmen. Das Elternrecht werde nicht angetastet, da sich die wertbezogene Erziehung auf den schulischen Bereich beschränke. 148 Jene Strömung der Grundwertediskussion, die die Wertfindung dem politischen Prozeß überlassen will, läßt keine eindeutigen Aussagen zu den Auswirkungen auf die schulischen Erziehungskonzepte erkennen. Mit dem Ansatz als solchem unvereinbar ist es jedoch, unmittelbar aus der Verfassung konkrete Erziehungsziele abzuleiten. Die Grundkonzeption legt es im Gegenteil nahe, auch die schulische Erziehung der Kinder dem gesellschaftlichen Prozeß zu überlassen. Entsprechende schulische Erziehungskonzepte finden sich - freilich nicht immer mit ausdrückli146 Isensee, NJW 1977, 545 (551). In diesem Sinne auch Evers, Befugnis des Staates, S. 110; Reeb, Bildungsauftrag, S. 64, der von „der Gesamtverfassung als Leitlinie für die Gewinnung eines Bildungsauftrages 4' spricht. 147 Evers, Befugnis des Staates, S. 110. >4« Evers, Befugnis des Staates, S. 111 f.

17 Rathke

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

chem Bezug zur Grundwertediskussion - auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum. 149 Die Folgerungen, die aus der Grundwertediskussion für die schulische Erziehung gezogen werden (können), weisen ebenfalls eine große Nähe zur Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte auf. Wird dem Grundgesetz eine konkrete Wertordnung entnommen, die der schulischen Erziehung der Kinder zugrundezulegen ist, entspricht dies in wesentlichen Punkten dem republikanischen Lager. Wird die Verfassung demgegenüber als Ordnungsgefüge begriffen, aus dem sich keine konkreten Wertvorgaben und dementsprechend auch keine unmittelbaren Leitlinien für die schulische Erziehung ergeben, weist diese Position starke liberalistische Züge auf. Die Nähe jener ErziehungsVorstellungen, die aus der Grundwertediskussion hervorgegangen sind, mit der liberalistischen bzw. der republikanischen Erziehungstheorie legen die Vermutung nahe, daß diese beiden Erziehungskonzeptionen unter dem Grundgesetz zumindest verfassungsrechtlich vertretbar sind. Um so mehr drängt sich die Frage auf, ob sich Art. 7 GG - der einzigen grundgesetzlichen Regelung, die sich explizit mit der Schulthematik befaßt - weitere Anhaltspunkte für diese Vermutung und gegebenenfalls zusätzliche verfassungsrechtliche Eingrenzungen entnehmen lassen. III. Philosophische Erziehungstheorien und Art. 7 Abs. 1 GG Die Vorschrift des Art. 7 Abs. 1 GG legt fest, daß das gesamte Schulwesen unter der Aufsicht des Staats steht. Dieser nur scheinbar lapidare Satz enthält zwei wichtige Kernaussagen: Zum einen stellt er klar, daß nicht nur die Eltern, sondern auch die Institution Schule an der Erziehung der Kinder mitwirkt. Zum anderen macht er deutlich, daß das gesamte Schulwesen - unabhängig davon, ob sich die Schulen in öffentlicher oder privater Trägerschaft befinden - unter der Aufsicht des Staates steht. Aus diesen Eckpfeilern des durch Art. 7 Abs. 1 GG geformten Schulwesens folgt ohne weiteres, daß alle jene Erziehungstheorien von vornherein nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren sind, die dem Staat die schulische Erziehung vorenthalten wollen. Davon betroffen sind sowohl Teile der liberalistischen Erziehungstheorien als auch der gesamte kommunitaristische Erziehungsansatz. Es handelt sich um jene Strategien, die eine staatliche oder staatlich gesteuerte Erziehung aus Angst vor einer übermäßigen Einflußnahme auf die Erziehung der Kinder ablehnen. 150 Im Ergebnis sind nur die republikanische und die demokratische Erziehungstheorie sowie jene Teile des liberalistischen Erziehungskonzeptes mit den Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 GG vereinbar, die den Staat in die Erziehung der Kinder einbeziehen. Gerade diese Erziehungstheorien und die mit ihnen verbundenen 149 In diese Richtung tendieren etwa Ladeur, RdJB 1991, 263 (269); Jach, Staatliches Schulsystem, S. 225 f. und 233 ff.; ders., Schulvielfalt, S. 28 und 80 ff. 150 Weitere Einzelheiten dazu oben S. 240 f. und S. 243 ff.

§ 14 Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die schulische Weltevermittlung

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Vorverständnisse stehen auch - bewußt oder unbewußt - hinter den unterschiedlichen Auslegungen und Deutungen, die sich zu Art. 7 Abs. 1 GG im Schrifttum finden. In welchem Maße einzelne Erziehungstheorien im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 GG Wirkung entfalten, zeigt sich namentlich bei der heftig umstrittenen Auslegung des Aufsichtsbegriffs. Dort stehen sich - grob gesagt - zwei Gruppierungen unversöhnlich gegenüber: Die überwiegende Ansicht im Schrifttum und das Bundesverfassungsgericht legen dem Aufsichtsbegriff ein weites Verständnis zugrunde. Sie begrenzen die staatliche Aufsichtsbefugnis nicht auf eine Aufsicht im Wortsinn, sondern gewähren der Exekutive darüber hinaus weitreichende Gestaltungsbefugnisse vor allem im Bereich der inneren Schulangelegenheiten.151 Demgegenüber beschränken Teile des Schrifttums das Aufsichtsrecht auf eine Aufsicht im Wortsinn und lehnen weitergehende Befugnisse der Exekutive strikt ab. Bisweilen wird zudem eine größere Autonomie der Schulen gefordert, um auf diese Weise den Einfluß des Staates auf den schulischen Bereich zu verringern. 152 Hinter dieser Auseinandersetzung um den Aufsichtsbegriff stehen letzten Endes unterschiedliche Vorverständnisse, die sich auf die verschiedenen philosophisch-politischen Konzeptionen und die daraus abgeleiteten Erziehungstheorien zurückführen lassen. Zwar können die Erziehungstheorien nicht schablonenartig auf die in der Diskussion um den Aufsichtsbegriff geäußerten Argumente übertragen werden. Die Argumente können jedoch ihrer Tendenz nach durchweg der einen oder anderen Erziehungstheorie zugeordnet werden. Dies gilt insbesondere für die republikanische, gemeinwohlbezogene Konzeption auf der einen und die liberalistische Konzeption auf der anderen Seite. Jene Teile des Schrifttums, die in Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht von einem weiten Aufsichtsverständnis ausgehen, agieren auf der Grundlage einer eher republikanischen Erziehungsvorstellung. Hinter diesem Modell, in dem die Tugend- bzw. Wertevermittlung eine zentrale Rolle spielt, steht die Annahme, daß der einzelne seine Freiheiten nur dann angemessen wahrnehmen kann, wenn er durch eine vom Staat geleitete Erziehung die Befähigung erlangt, seine Interessen im politischen Raum zu artikulieren und sich aktiv an der Gestaltung des Staatswesens zu beteiligen. Diesen Vorstellungen entspricht es weitgehend, wenn zur Rechtfertigung eines weiten Aufsichtsverständnisses ausgeführt wird, daß „auch und gerade der freiheitlich-demokratische Staat nicht darauf verzichten kann, seine künftigen Bürger mit den grundlegenden Werten vertraut zu machen, auf denen er sich aufbaut und deren Respektierung im Sozialleben vorausgesetzt wird. Die Schule, insbesondere soweit sie Pflichtschule ist, erweist sich als die natürliche Stätte für solche Pflege staatsbürgerlicher Erziehung". 153

151 Vgl. dazu ausführlich oben S. 76 ff. und S. 90 f. 152 Vgl. dazu ausführlich oben S. 81 ff. 153 So ausdrücklich Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 257. 17*

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

Auf der anderen Seite stehen jene Autoren, die einen möglichst weiten Rückzug des Staates aus den schulischen Angelegenheiten fordern und den Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG dementsprechend eng auslegen. Eine übermäßige Einflußnahme des Staates auf die Ausgestaltung des Schulwesens trägt ihrer Ansicht nach die Gefahr einer einseitigen Ausrichtung der schulischen Erziehung in sich. Die angestrebte möglichst weitgehende Minimierung des staatlichen Einflusses auf die Regelung des Schulwesens entspricht sowohl Teilen der liberalistischen als auch der demokratischen Erziehungstheorie. Beide grenzen sich dadurch in einem ganz wesentlichen Punkt vom republikanischen Erziehungsmodell ab, daß sie die staatliche Vermittlung konkreter Werte ablehnen. Zwar erhebt das demokratische Erziehungsmodell grundsätzlich keine Einwände dagegen, daß der Staat bestimmte Werte in den Erziehungsprozeß einbringt. Abgelehnt wird jedoch - ebenso wie im liberalistischen Modell - die alleinige Vorgabe konkreter Erziehungsinhalte bzw. Erziehungsziele durch den Staat. Im übrigen kommen die Vertreter eines engen Aufsichtsbegriffs dem demokratischen Erziehungsmodell dort besonders nahe, wo sie mehr Selbstverwaltung für die Schulen fordern, um den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften eine effektivere Einflußnahme auf die Gestaltung der schulischen Erziehung zu ermöglichen. 154 Insgesamt zeigt sich, daß die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 GG nicht zu dem vorschnellen Schluß verleiten dürfen, unter dem Grundgesetz sei die Auseinandersetzung um Erziehungstheorien und die dahinterstehenden philosophisch-politischen Konzepte von vornherein bedeutungslos. Politischphilosophische Vorverständnisse spielen im Gegenteil eine maßgebliche Rolle beim Zuschnitt und bei der Auslegung des verfassungsrechtlichen Rahmens für das Schulwesen und insbesondere bei der Bestimmung der Reichweite staatlicher Aufsichtsbefugnisse. 155

B. Aussagen der amerikanischen Verfassung I. Der Verfassungstext Im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz enthält die amerikanische Verfassung keine Bestimmung, die sich explizit mit der Problematik von Schule und schulischer Erziehung befaßt. Von den dargestellten Erziehungskonzepten sind lediglich jene von vornherein nicht mit der Verfassung zu vereinbaren, die ihrem Ansatz nach kein modernes, pluralistisches Staatswesen zugrundelegen. Damit scheiden namentlich das klassische republikanische Modell und das - auf der Hypothese 154 Vgl. hierzu die Forderung Jachs, Staatliches Schulsystem, S. 238 f.; ders., Schul Vielfalt, S. 80 ff.; zu dieser Entwicklung auch Geis, Schulische Partizipationsregelungen, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 31 ff. und Hufen, Schulische Selbstgestaltung, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 51 ff. 155 Näher zum Verständnis des Aufsichtsbegriffs unten S. 317 ff.

§ 14 Bedeutung verfassungsrechtlicher Vorgaben für die schulische Wertevermittlung

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eines homogenen Staatswesens mit einheitlichen Wertüberzeugungen beruhende kommunitaristische Modell aus. 156 Der erste Eindruck, nach dem die amerikanische Verfassung im übrigen den meisten Erziehungsmodellen gegenüber offen scheint, erweist sich bei näherer Betrachtung insbesondere der Rechtsprechung des Supreme Court jedoch als trügerisch. Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte und die daraus hervorgegangenen Erziehungstheorien haben mehr oder minder starken Einfluß auch auf die Schulrechtsprechung des Supreme Court genommen und dort Spuren hinterlassen, die eine tendenzielle Festlegung nahelegen.

II. Auswirkung der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte auf die Schulrechtsprechung des Supreme Court Dem Supreme Court haben im Zusammenhang mit der Frage nach Umfang und Reichweite der schulischen Erziehung immer wieder Fallgestaltungen vorgelegen, in denen der einzelne die Unvereinbarkeit bestimmter Aspekte der schulischen Erziehung mit seinen verfassungsrechtlich geschützten Rechten geltend machte. 157 In der überwiegenden Zahl der Fälle ging es um Unvereinbarkeiten mit der im First Amendment verankerten Establishment oder der Free Exercise Clause 158 , sekundär um die ebenfalls im First Amendment garantierte Free Speech Clause (Meinungsfreiheit). Den in diesem Zusammenhang getroffenen Aussagen des Supreme Court läßt sich entnehmen, daß das Verfassungsgericht der Tendenz nach ein eher republikanisches Erziehungsmodell favorisiert. Zwar bringt der Supreme Court an keiner Stelle explizit zum Ausdruck, daß der Staat dazu verpflichtet sei, bestimmte Werte im Wege der schulischen Erziehung an die nächste Generation weiterzugeben. Gleichwohl hebt der Supreme Court immer wieder hervor, daß der Staat ein legitimes Interesse daran habe, bestimmte Werte zu vermitteln. Besondere Betonung erfährt auch die Erziehung des einzelnen zum Staatsbürger, der bestimmte Tugenden besitzen muß, um das Gemeinwesen funktionsfähig zu erhalten. Diese Hervorhebung der Wertevermittlung zur Ausbildung bestimmter Tugenden trägt deutliche Züge eines republikanischen Argumentationsansatzes.159 Allerdings sind die Werte, die nach Ansicht des Supreme Court im Wege der schulischen Erziehung zu vermitteln sind, ausschließlich liberalen bzw. demokratischen Inhalts. 160 Dieser Aspekt wird vor allem in der Entscheidung Board ofEdu156

Näher zu den beiden Modellen oben S. 243 ff. 157 Ausführlich dazu oben S. 179 ff. 158 Dazu oben S. 161 ff. 159 Dieser Gedanke kommt in den Entscheidungen West Virginia State Board of Education v. Barnette (1943) über Ambach v. Norwich (1979) bis hin zu Board of Education ν. Pico (1982) zum Ausdruck. Vgl. West Virginia State Board of Education ν. Barnette 319 U.S. 624, 631 (1943); Me Collum v. Board of Education 333 U.S. 203, 231 (1947); Arnbach v. Norwick 441 U.S. 68, 76 f. (1979); Board of Education v. Pico 457 U.S. 853, 876 (1982). 160 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Stolzenberg, 106 Harv. L. Rev. 581 (655 ff.) unter Hinweis auf einschlägige Supreme Court-Entscheidungen zu dieser Thematik.

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4. Kap.: Einflüsse der neueren politischen Philosophie

cation v. Pico 161 betont, wenn es heißt: „The Constitution presupposes the existence of an informed citizenry prepared to participate in governmental affairs, and these democratic principles obviously are constitutionally incorporated into the structure of our government. It therefore seems entirely appropriate that the State uses public schools to ( . . . ) inculcate fundamental values necessary to the maintainance of a democratic political system." 162 Ob der Supreme Court mit dieser Passage seine Parteinahme für ein republikanisches Erziehungsmodell zum Ausdruck bringt, mag dahinstehen. In jedem Fall läßt das Zitat erkennen, daß das Verfassungsgericht einer Ausklammerung des Staates aus dem Erziehungsbereich ablehnend gegenübersteht. Damit spricht sich der Supreme Court - zumindest indirekt gegen jene Erziehungskonzeptionen aus, die die Erziehung der Kinder (ausschließlich) in die Verantwortung der Familie, einer Gemeinschaft oder eines neutralen Dritten legen wollen. Er erteilt sowohl bestimmten liberalistischen Erziehungskonzeptionen als auch dem kommunitaristischen Erziehungsansatz eine mehr oder minder klare Absage.

161 457 U.S. 853 (1982). 162 Board of Education ν. Pico 457 U.S. 853, 876 (1982) unter Zitierung von Ambach v. Norwick 441 U.S. 68, 77 (1979).

5. Kapitel

Das öffentliche Schulwesen zwischen individueller Religions- und Weltanschauungsfreiheit, weltanschaulich-religiöser Neutralität des Staates und staatlichem Aufsichtsrecht Der abschließende Teil der Untersuchung soll die aufgeworfenen Problemstellungen im Wege einer abschließenden Bilanz und Stellungnahme zusammenführen. Im Vordergrund stehen - dem Zuschnitt der Arbeit entsprechend - die verfassungsrechtlichen Aspekte der individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit, der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates sowie des staatlichen Aufsichtsrechts über das Schulwesen, denen mit Blick auf die der Arbeit zugrundeliegenden Fragestellungen entscheidende Bedeutung zukommt. Dabei gilt es sich stets die in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeitete Typik der einzelnen Fallgestaltungen vor Augen zu halten, die sich jeweils auf zentrale Punkte zurückführen lassen: In einer ersten Gruppe, die sich mit der Integration (vor allem) religiöser Elemente in den schulischen Bereich befaßt, geht es in erster Linie um die Frage, inwieweit durch religiöse Elemente im schulischen Bereich die (negative) Religionsfreiheit der Schüler und das Erziehungsrecht der Eltern (konfessionelles Elternrecht) betroffen ist. Steht fest, daß Art. 4 GG berührt ist, stellt sich auf der Ebene des Eingriffs und der Eingriffsrechtfertigung die Frage, inwieweit der Staat bei der Verabschiedung gesetzlicher Regelungen dem Gebot der weltanschaulichreligiösen Neutralität ausreichende Beachtung geschenkt hat. Dabei gilt es sich nochmals zu vergegenwärtigen, daß zunächst in einem ersten Schritt zu klären ist, inwieweit einzelne Veranstaltungen bildungsmäßig christlicher Gemeinschaftsschulen,1 das Durchführen von Schulgebeten, Schulandachten oder das Aufhängen von Kruzifixen in den Klassenzimmern die Religions- oder Weltanschauungsfreiheit des einzelnen berühren, bevor in einem zweiten Schritt untersucht werden kann, inwieweit die dahinterstehenden staatlichen Anordnungen mit der staatlichen Neutralitätspflicht in Einklang stehen. In Rechtsprechung und Literatur wird oft nicht eindeutig zwischen diesen beiden Problemkreisen unterschieden, so daß es zu einer bisweilen nur schwer nachvollziehbaren Vermengung der Religionsfreiheit von Schülern und Eltern einerseits mit dem staatlichen Erziehungsauftrag und dem Aspekt der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates an1 Vgl. dazu oben S. 101 ff.

264 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

dererseits kommt. Neben der Religions- und Weltanschauungsfreiheit erweist sich jedoch gerade das Verständnis der staatlichen Neutralitätspflicht in der ersten Fallgruppe als weichenstellend für den Ausgang zahlreicher Entscheidungen. Dementsprechend wird sich ein eigener Abschnitt dieses Kapitels mit den hierzu vertretenen Positionen2 näher auseinandersetzen und sie zu einem abschließenden Ergebnis führen. Eine zweite Gruppierung, die religiös motivierte Freistellungsbegehren von schulischen Veranstaltungen betrifft, hat demgegenüber allein Fragen der Religionsfreiheit zum Gegenstand. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates spielt hier insofern keine Rolle, als die staatlichen Maßnahmen für sich genommen neutral sind, die Kinder bzw. ihre Eltern jedoch aufgrund ihrer individuellen religiösen oder weltanschaulichen Einstellungen eine Freistellung von bestimmten schulischen Veranstaltungen oder bestimmten Schultagen begehren. Bei diesen Fallgestaltungen kommt der Reichweite der Religions- und Weltanschauungsfreiheit entscheidende Bedeutung zu. Insbesondere vor dem Hintergrund der wachsenden religiösen und weltanschaulichen Vielfalt besteht ein verstärktes Bedürfnis, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG klarere Konturen zu geben. In allen Fallgestaltungen steht den individuellen Grundrechten der aus dem staatlichen Aufsichtsrecht des Art. 7 Abs. 1 GG abgeleitete staatliche Bildungsund Erziehungsauftrag gegenüber. An den damit verbundenen staatlichen Vorgaben nehmen die Schüler letztlich Anstoß, sie berühren ihre Freiheitsrechte, in den hier relevanten Konstellationen regelmäßig ihre Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Dementsprechend ist das Augenmerk auch auf die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 GG zu richten. Dabei wird sich zeigen, daß die in Rechtsprechung und Literatur zu Art. 7 Abs. 1 GG vertretenen Positionen deutliche Parallelen zur Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte aufweisen. 3 Die folgende Darstellung richtet sich zunächst auf eine Auseinandersetzung mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, bevor auf die staatliche Neutralitätspflicht und den Inhalt des Aufsichtsbegriffs übergegangen wird.

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 G G Die folgenden Ausführungen beziehen sich allein auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit, nicht auch auf die Gewissensfreiheit. 4 Zwar garantiert Art. 4 Abs. 1 GG neben der Religions- und Weltanschauungsfreiheit auch die Gewissens2 Vgl. dazu bereits oben S. 107 ff. 3 Vgl. dazu oben S. 214 ff. 4

Lediglich an zwei, besonders gekennzeichneten Stellen erfolgt eine kurze Betrachtung der Gewissensfreiheit.

§15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

265

freiheit, doch ist allgemein anerkannt, daß diese trotz ihrer wechselseitigen Beziehungen zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein eigenständiges Grundrecht darstellt. 5 Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit soll es ausgeklammert bleiben. Dem bereits skizzierten Zuschnitt der Arbeit entsprechend6 konzentriert sich die Auseinandersetzung zudem nur auf die individuelle, nicht hingegen auf die kollektive Seite der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheinen Dogmatik und Probleme des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als weitestgehend geklärt. Eine nähere Betrachtung dieser Rechtsprechung offenbart jedoch erstaunliche Unschärfen und eine beträchtliche Anzahl an ungeklärten Prämissen. Sie betreffen vor allem den grundsätzlichen Anwendungsbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, der von der Scheu gekennzeichnet ist, die Begriffe Religion und Weltanschauung näher zu konkretisieren. Hinzu kommt, daß sich das Bundesverfassungsgericht seit dem 24. Band nicht mehr näher mit der einheitlichen Schutzbereichsauslegung auseinandergesetzt, seit dem 32. Band das weite Schutzbereichsverständnis und die Schrankenproblematik des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht mehr hinterfragt hat.7 Auf Schutzbereichsebene wird der einheitliche und weite Schutzbereich ebenso selbstverständlich unterstellt wie auf der Schrankenebene die Beschränkbarkeit allein durch kollidierendes Verfassungsrecht. Dieser Befund ist umso erstaunlicher, als einzelne durchaus kritische Stimmen zu vernehmen sind.8 Auch ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG weder auf Schutzbereichs- noch auf Schrankenebene derart zwingend, daß sie keiner weiteren Begründung und Auseinandersetzung bedürfte. Gleichwohl folgt die überwiegende Mehrheit des Schrifttums ohne größeren Begründungsaufwand im wesentlichen den vom Bundesverfassungsgericht vorgezeichneten Wegen.9

A. Die Schutzbereichsebene Vor einer detaillierteren Auseinandersetzung mit den Schranken der Religionsfreiheit gilt es zunächst den Anwendungsbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit näher zu umgrenzen und einen Blick auf die Reichweite der einzelnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG verbürgten Garantien zu werfen.

5 Vgl. Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 33 (50); v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 24; Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 34; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 35. 6 Vgl. dazu oben S. 31 ff. 7 BVerfGE 24 236 (245 f.); BVerfGE 32, 98 (106 f.) 8 Vgl. dazu die Ausführungen S. 47 ff. und S. 53 ff. 9 Siehe dazu S. 44 ff. und S. 53 f.; vgl. zur neu aufgekommenen Diskussion allerdings unten Nachtrag S. 347 ff.

266 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

I. Eingrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Die Frage nach dem grundsätzlichen Anwendungsbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht weder gestellt noch erörtert. Eine wesentliche Ursache dafür mag darin liegen, daß es in keiner der bisherigen Entscheidungen maßgebend darauf ankam, inwieweit sich hinter den angefochtenen Symbolen, Verhaltensweisen oder gestellten Forderungen tatsächlich eine Religion bzw. Weltanschauung verbarg. Bislang wandten sich die Betroffenen entweder gegen eindeutig auf christliche Religionen zurückzuführende Symbole bzw. Verhaltensweisen oder sie begehrten unter Berufung auf eine der christlichen Religionen oder den Islam eine Freistellung von bestimmten schulischen Verpflichtungen. Die Zunahme der religiösen und weltanschaulichen Vielfalt sowie die Probleme, die sich aus dem Aufkommen verschiedener, dem abendländischen Kulturkreis fremder geistiger Strömungen ergeben, führen jedoch gerade im schulischen Bereich zwangsläufig zu Fallgestaltungen, bei denen der Nachweis der Zugehörigkeit eines Gebots bzw. einer Forderung zu einer Religion oder Weltanschauung Schwierigkeiten bereiten kann. Angesichts dieses Befundes bedarf in zunehmendem Maße der Klärung, unter welchen Voraussetzungen ein Gedankensystem als Religion oder Weltanschauung zu qualifizieren ist. Die Notwendigkeit, den Begriffen Religion und Weltanschauung klarere Konturen zu verschaffen, zeigt sich auch an der Unsicherheit und teilweisen dogmatischen Ratlosigkeit im Umgang mit den sog. Jugendsekten. So ist zwar das grundsätzlich Bestreben zu spüren, nicht jeder Jugendreligion oder Sekte den Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zukommen zu lassen, doch bleibt oftmals unklar, an welcher dogmatischen Stelle das Problem anzugehen ist. Ein wesentlicher Faktor für diese Unsicherheit liegt in der Zurückhaltung sowohl der Rechtsprechung als auch weiter Teile des Schrifttums, den grundsätzlichen Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG näher zu konkretisieren. Bevor aber die Frage gestellt wird, in welchem Umfang Art. 4 Abs. 1 und 2 GG neben dem Innehaben eines Glaubens auch das Bekunden einer Religion oder Weltanschauung sowie das religiös oder weltanschaulich geleitete Handeln gewährleistet (Gewährleistungsgehalt10), muß der Anwendungsbereich des Grundrechts bestimmt und geklärt sein, ob überhaupt eine Religion oder Weltanschauung vorliegt (Anwendungsbereich11). Erst nachdem diese Frage positiv beantwortet wurde, kann weitergehend untersucht werden, in welchem Umfang Art. 4 GG Religionen und Weltanschauungen Schutz gewährt. In Rechtsprechung und Lehre wird dem Anwendungsbereich des Grundrechts - konkret der Definition der Begriffe Religion und Weltanschauung - meist keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Ausführlichere Darstellungen finden sich 10 Näher dazu unten S. 277 ff. 11 Näher dazu unten S. 266 ff.

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

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erst zum Gewährleistungsgehalt und zu einzelnen Garantien des Art. 4 GG. 1 2 Teilweise wird lapidar darauf verwiesen, daß es dem religiös und weltanschaulich neutralen Staat verwehrt sei, den Religions- und Weltanschauungsbegriff näher zu definieren; auf diesem Wege wird eine vertieftere Auseinandersetzung mit dieser Problematik umgangen.13 Der Verweis auf die religiöse und weltanschauliche Neutralität des Staates ist zwar insoweit zutreffend, als der Gewährleistungsgehalt von Art. 4 GG nicht durch eine begriffliche Festlegung ausgehöhlt und neue religiöse Strömungen nicht durch die Festlegung der Begrifflichkeiten auf einen bestimmten status quo ausgeklammert werden dürfen. 14 Die Grundrechte - nicht zuletzt Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - zeichnen sich in ihrer klassischen Ausgestaltung gerade auch dadurch aus, daß sie sich im Gegensatz zu den oft detaillierteren Regelungen des einfachen Rechts auf wenige grundlegende Aussagen beschränken, die keinen bestimmten zeitgeschichtlichen Zustand fixieren, sondern offen für neuartige Entwicklungen und Strömungen sind. Die offenen und bisweilen lapidaren Formulierungen ermöglichen es, den grundrechtlichen Schutz auch auf gegenwärtig noch unbekannte Entwicklungen zu erstrecken. 15 Aus diesem Grund werden Versuche, den Anwendungsbereich von Grundrechten - auch von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - auf die zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes bekannten Umstände zu reduzieren, der Funktion von Grundrechten nicht gerecht. 16 Diese Erkenntnis darf jedoch nicht zu einem vollkommenen Verzicht auf jede Umgrenzung führen. Wie bei jedem anderen Grundrecht ist es auch für Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unumgänglich zu bestimmen, wann sein Schutz greift. Das Recht würde seinen Regelungsanspruch weitgehend verlieren, wenn es dem einzelnen überlassen bliebe, darüber zu entscheiden, wann der Schutz des Grundrechts einsetzt.17 Auch das Bundesverfassungsgericht entnimmt Art. 4 GG kein staatliches Definitionsverbot zur Umgrenzung der Begriffe Religion und Weltanschauung,18 obwohl es selbst keinen Beitrag zur Konkretisierung der bei12

Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 38 ff. 13 In diesem Sinne Preuß, GG, Art. 4 Rdnr. 12. 14 Franz, DVB1. 1987, 727; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 14; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 511; Scholz, NVwZ 1992, 1152 . 15

Grimm, Verfassung, in: ders. Die Zukunft der Verfassung, 11 (16); Hesse, Verfassung, in: HdbVerfG, § 1 Rdnr. 16, 22 ff. 16 So wird unter Verweis auf die historischen Gegebenheiten zur Zeit der Schaffung des Grundgesetzes von Isensee (Essener Gespräche 19 (1985), 142 [144]) ein europazentristischer, von Hamel (Grundrechte I V / 1 , S. 79) ein ausschließlich christlich geprägter Religionsbegriff vertreten. 17 In diesem Sinne auch Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 14; v. Münch, in: v. Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 18. Gegen jegliche Art von Definition der beiden Begriffe sprechen sich Preuß (in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 13) sowie Morlok (in: Dreier [Hrsg.], GG, Art. 4 Rdnr. 42) aus. Allerdings bleibt bei ihnen unklar, wie sie eine Begrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG praktisch durchführen wollen. Denn ohne ein alternatives Begrenzungsmoment hätte die begriffliche Öffnung zur Folge, daß jeder, der vorgibt, seiner Religion oder Weltanschauung gemäß zu reden oder zu handeln, in den Schutz des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einzubeziehen wäre.

268 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

den Begriffe leistet. Der hier vorgelegte Versuch einer Eingrenzung richtet sich in Auseinandersetzung mit den Definitionsansätzen des Schrifttums auf die Frage, worin der eigene, von den anderen grundgesetzlichen Garantien abgrenzbare Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG besteht.

1. Anwendungsbereich der Religions- und Weltanschauungsfreiheit

Alle Versuche einer Eingrenzung müssen sich zunächst mit der Schwierigkeit auseinandersetzen, den weit gefaßten Weltanschauungsbegriff mit Konturen zu versehen. Der Religionsbegriff weist demgegenüber vergleichsweise klare Grenzen auf. Mit der ganz überwiegenden Meinung in Rechtsprechung19 und Literatur 2 0 ist davon auszugehen, daß der Begriff der Religion eine mit der Person des Menschen verbundene Gewißheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel menschlichen Lebens kennzeichnet, der eine den Menschen überschreitende und umgreifende - „transzendente" - Wirklichkeit zugrundeliegt. Der Begriff der Religion steht dabei namentlich für Gedankensysteme, die eine Gottesvorstellung und/oder einen Jenseitsbezug aufweisen.21 Problematischer ist die Eingrenzung des Weltanschauungsbegriffs. Ungeachtet vereinzelter Einschränkungsversuche qualifiziert die überwiegende Mehrheit des Schrifttums jedes Gedankensystem, das sich auf die Welt als Ganze bzw. eine Sinndeutung der Welt im Ganzen bezieht, als Weltanschauung. Diese weite Definition hat zur Folge, daß nicht nur große Teile der Philosophie, sondern auch auf das Weltganze bezogene wissenschaftliche Erkenntnistheorien als Weltanschauung angesehen werden 2 2 Geradezu uferlos wird die Weite des Weltanschauungsbegriffs, wenn nicht nur die Weltanschauung als Ganze, sondern auch jede aus der Weltanschauung ableitbare Einzelaussage als Weltanschauung erfaßt und geschützt sein soll. 23 Ob ein derart weites Verständnis der Weltanschauung der Grundkonzeption 18 BVerfGE 24, 236 (247 f.), wo das Verfassungsgericht feststellt, daß „der religiös-neutrale Staat grundsätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen, nicht konfessionell oder weltanschaulich gebundenen Gesichtspunkten zu interpretieren" habe. 19 BVerfGE 32, 98 (107); 90, 112 (115); vgl. auch BVerwGE 37, 344 (363); 61, 152 (156); BAG NJW 1996, 143 (146). 20 Vgl. u. a. Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 66; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 17; v. Münch, in: v. Münch /Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 19; Preuß, in: AlternativKommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 15.

21 Vgl. zu den verschiedenen Ansätzen in den Vereinigten Staaten, den Begriff der „Religion" näher einzugrenzen, oben S. 149 ff. 22 Vgl. dazu die Ausführungen bei Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14. Dazu auch oben S. 35 ff. 23 So insbesondere Bleckmann, Staatsrecht II, § 25 Rdnr. 23. Vgl. dazu oben S. 36 f.

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

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von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG entspricht, muß letztlich im Wege der Auslegung ermittelt werden. a) Auslegung des Weltanschauungsbegriffs aa) Methodischer

Ausgangspunkt

Die Auslegung von Verfassungsnormen sieht sich - im Gegensatz zur Auslegung des einfachen Rechts - mit der besonderen Schwierigkeit konfrontiert, daß der Wortlaut die einzelnen Garantien nur grob umreißt und lediglich einen Rahmen absteckt, aus dem sich kaum konkrete Aussagen herleiten lassen.24 Besteht im Schrifttum Einigkeit über diese besondere Ausgangslage, die die Interpretation des Verfassungsrechts mit sich bringt, schwindet der Konsens, sobald es um Rückschlüsse geht, die es aus dieser Erkenntnis zu ziehen gilt. 2 5 Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß die ganz überwiegende Mehrheit der Autoren - mit unterschiedlicher Erweiterung oder Präzisierung - auf die von Savigny begründeten vier Kriterien zurückgreift: 26 den Wortlaut, die Systematik, die Entstehungsgeschichte und das Telos der Norm. 27 Auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stützt sich - ohne nähere Begründung - im wesentlichen auf diese vier Kriterien. 28 Angesichts dieser weitgehenden Grundübereinstimmung im Bereich der Verfassungsinterpretation werden die klassischen Auslegungskriterien auch der vorliegenden Untersuchung zugrundegelegt,29 sofern sich ihnen Erkenntnisse für die jeweils aufgeworfene Fragestellung entnehmen lassen. Da Wortlaut und Entstehungsgeschichte für den Begriff der Weltanschauung nur wenig ergiebig sind, 30 konzentriert sich die Darstellung vor allem auf systematische in Verbindung mit teleologischen Erwägungen. 24 Vgl. dazu u. a. Böckenförde, Rechtsgewinnung, S. 197.

NJW 1974, 1529; ders., NJW 1976, (2089) 2091; Kriele,

25

Besonders umstritten ist insbesondere die Frage, inwieweit das topische Denken mit in die Auslegung der Verfassungsnormen einbezogen werden muß - vgl. dazu Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (59 ff.) Häberle, JZ 1975, 297 ff.; Kriele, Rechtsgewinnung, S. 132 ff.; Hesse, Verfassungsrecht, Rdnr. 66 ff.; kritisch dazu insbesondere Böckenförde, NJW 1976, 2089 (2091 ff.). 2 6 Savigny, Römisches Recht, Bd. I, S. 213 f. 27 So beispielsweise bei Ehmke, VVDStRL 20 (1961) 53 (59); Kriele, Rechtsgewinnung, S. 84; Müller, Juristische Methodik, S. 160 ff. 2 « BVerfGE 11, 126 (130); 50, 177 (194); 57, 250 (262). 29

Dabei ist eine eindeutige Unterscheidung zwischen der Entstehungsgeschichte und dem Telos einer (Verfassungs-)Norm nicht immer möglich. Vielfach ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Norm zugleich ein deutliches Indiz für den mit der Norm verfolgten Regelungszweck. Es darf daher nicht verwundern, wenn die zu den beiden Punkten getroffenen Aussagen Überschneidungen aufweisen. 30 Im Schrifttum finden sich hierzu keine Ausführungen. Allerdings werden - sieht man einmal von der Abgrenzung zum Religionsbegriff ab - auch keine weitergehenden systematischen Überlegungen angestellt. Vgl. dazu nur Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67;

270 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht bb) Systematische Überlegungen

Im Wege der systematischen Auslegung gilt es zu ermitteln, worin die Besonderheit der in Art. 4 GG verankerten Garantien im Verhältnis zu den anderen grundgesetzlichen Gewährleistungen besteht und inwieweit sich daraus Rückschlüsse für das Verständnis des Weltanschauungsbegriffs ziehen lassen. Zugespitzt geht es um die Frage, inwieweit der Weltanschauung bei einer weiten Definition im grundgesetzlichen System überhaupt noch ein eigener Stellenwert zukommt, der sich von anderen im Grundgesetz niedergelegten Garantien abhebt. Das Grundgesetz garantiert - je nach Beschränkungsmöglichkeit mit unterschiedlicher Intensität - in Art. 4 Abs. 1 GG die Gewissensfreiheit, in Art. 5 Abs. 1 GG die Meinungsfreiheit sowie in Art. 5 Abs. 3 GG die Wissenschaftsfreiheit, die allesamt Bezüge zum Schutz von Weltanschauungen aufweisen können. Auch wenn Überschneidungen zwischen einzelnen grundgesetzlichen Gewährleistungsgehalten nicht auszuschließen sind, muß doch jedes Grundrecht einen eigenen, von anderen grundrechtlichen Garantien abgrenz- und unterscheidbaren Anwendungsbereich besitzen, wenn die Systematik der Verfassung nicht von vornherein (partiell) leerlaufen soll. Um so mehr besteht Anlaß, näher zu untersuchen, was die Weltanschauungsfreiheit gegenüber den genannten anderen Garantien kennzeichnet. Mögliche Anknüpfungspunkte ergeben sich aus den Umschreibungsversuchen des Schrifttums, wobei insbesondere darauf zu achten ist, ob eine Abgrenzung zu der in Art. 5 Abs. 1 GG garantierten Meinungsfreiheit gelingt. (1) Abgrenzung mittels der Bezugnahme auf die „Welt als Ganze" Legt man die nahezu von allen Autoren geteilte - lediglich von einigen noch weiter präzisierte bzw. näher eingegrenzte - Umschreibung der Weltanschauung als ein Gedankensystem zugrunde, das sich auf die „Welt als Ganze" bezieht, liegt bei unbefangenem Verständnis die Erwartung nahe, daß es auf eine umfassende Erörterung der einzelnen, die Welt ausmachenden und sie beeinflussenden Faktoren ankommen soll. Dabei mag der Mensch eine zentrale Stellung einnehmen, doch darf sich die Darstellung nicht allein auf den Menschen reduzieren, wenn ein umfassendes Bild von der Welt gewonnen werden soll. Maßgebend sind die Beziehungen des Menschen zu seiner gesamten - auch nichtmenschlichen Umwelt sowie die Beziehungen der zahlreichen Umweltfaktoren untereinander. Nimmt man daher die Bezugnahme auf die „Welt als Ganze" als Kernelement der Weltanschauung ernst, erstaunt es, wenn im Schrifttum Philosophien wie der Marxismus 31 und wissenschaftliche Theorien wie der Ordoliberalismus, die PsychoanaKokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 18; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 35; Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein /Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 18; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 94. 3i Vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67; Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 18.

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lyse und der Darwinismus als Weltanschauungen bezeichnet werden. 32 Die Mehrheit dieser Theorien zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie nicht die Welt als Ganze zum Gegenstand haben, sondern sich auf die Stellung des Menschen in der Welt oder auf dessen Beziehung zu seiner mitmenschlichen Umwelt konzentrieren. Weder der Ordoliberalismus noch die Psychoanalyse oder der Darwinismus weisen in ihren Ansätzen eine Erklärung der Welt als Ganze auf. Sie beschränken sich auf einen bestimmten Teilaspekt, der zwar mehr oder weniger umfassend beleuchtet wird, aber kein gesamtheitliches Weltbild ergibt. Tatsächlich scheint es den meisten Autoren nicht darum zu gehen, ein im oben dargestellten Verständnis in jeder Hinsicht umfassendes Konzept zur Weltsicht zu fordern. Sie verlangen vielmehr vergleichsweise vage, daß ein in sich geschlossenes Gedankensystem vorliegt, das zumindest in einem Teilaspekt den Versuch unternimmt, eine umfassendere Antwort auf bestimmte Problembereiche zu geben. Ein Unterschied zur Meinungsfreiheit ist - durch die geforderte Komplexität der Stellungnahme - aber nur noch solange gegeben, wie nicht auch Einzelaussagen zum Weltganzen als Weltanschauung geschützt werden. 33 Daraus läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß zur Einstufung als Weltanschauung jedenfalls mehr gehört als die bloße Existenz einer Einzelaussage. Es bedarf eines komplexeren, über Einzelaussagen hinausgehenden Gedankensystems.34 Ist auf diese Weise eine Abgrenzung zur Meinungsfreiheit möglich, verbleiben Schwierigkeiten bei der Abgrenzung zur Wissenschaftsfreiheit. Die ganz überwiegende Zahl der wissenschaftlichen Erkenntnistheorien, aber auch einige Philosophien genießen aufgrund der systematischen Erklärung bestimmter Teilaspekte der Welt zugleich den Schutz von Art. 5 Abs. 3 GG. 35 Auf den ersten Blick dürften Gedankenmodelle wie die Psychoanalyse oder der Darwinismus eher mit dem Begriff der Wissenschaft als jenem der Weltanschauung in Verbindung gebracht werden. Eine derart großflächige, den Schutzbereich der Grundrechte tendenziell nivellierende Überschneidung von Weltanschauung und Wissenschaft kann vom Verfassungsgeber aber nicht gewollt sein und ist ein Indiz dafür, daß die bisherige Umschreibung des Weltanschauungsbegriffs zu weit geht. Um so mehr gilt es zu untersuchen, ob und inwieweit der Weltanschauungsbegriff unter Rückgriff auf die im Schrifttum vorfindlichen Präzisierungsversuche klarere Konturen gewinnen kann.

32

Dazu nur Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 14. So vor allem Bleckmann, StaatsR II, § 25, Rdnr. 23. Davon zu unterscheiden ist die Frage, inwieweit einzelne, aus der Weltanschauung sich ergebende Aussagen im Rahmen der weltanschaulichen Bekenntnisfreiheit geschützt werden müssen. 34 Zu den Schwierigkeiten, die sich für die Abgrenzung der Weltanschauungsfreiheit von der Meinungsfreiheit ergeben, wenn jede aus einem komplexen Gedankensystem ableitbare Einzelaussage zugleich als Weltanschauung eingestuft wird, auch Bleckmann, StaatsR II, § 25, Rdnr. 23. 3 5 Vgl. Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 18; Bleckmann, Staatsrecht II, § 25 Rdnr. 23. 33

272 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

(2) Rückgriff auf Präzisierungsversuche des Schrifttums Jene Autoren, die die Umschreibung der Weltanschauung als Gedankensystem mit Bezug auf die „Welt als Ganze" für wenig präzise halten, erkennen nur solche Gedankensysteme als Weltanschauung an, die eine wertende Stellungnahme zum Weltganzen enthalten,36 aus denen sich bestimmte Verhaltensanforderungen ergeben 37 , die einen metaphysischen Bezug besitzen38 oder eine ähnliche Breite und Geschlossenheit aufweisen wie die im abendländischen Kulturkreis anerkannten Religionen.39 Bei näherer Betrachtung erweisen sich diese Elemente jedoch als nicht sonderlich ergiebig, um jene Charakteristika zu benennen, die der Weltanschauungsfreiheit im Vergleich zu den anderen grundgesetzlichen Garantien zukommen. Das Erfordernis eines metaphysischen Elements, das sich dem Erfahrbaren entzieht,40 bringt weder eine zusätzliche Abgrenzung zur Meinungs- noch zur Wissenschaftsfreiheit. Meinungen enthalten häufig Stellungnahmen, die sich der Erfahrung entziehen. Ebenso können Wissenschaften metaphysische Elemente aufweisen. Bemüht sich eine Wissenschaft darum, durch Bildung von Gruppen oder sonstigen Kategorien die Welt verständlich und erklärbar zu machen, entzieht sie sich mit ihrer Klassifizierung oft der Erfahrbarkeit, in vielen Fällen reicht sie ins Metaphysische hinein. Ebenso wenig hilfreich ist die Anforderung, daß die Weltanschauung eine ähnliche Geschlossenheit und Breite aufweisen müsse wie die im christlichen Abendland anerkannten Religionen. Letztlich ist diese Umschreibung nur eine bessere Bezeichnung für die sich bereits aus der (mißglückten) Formulierung von der „Welt als Ganzen" ergebende Forderung, eine Weltanschauung könne nur dann angenommen werden, wenn ein Gedankensystem eine gewisse Komplexität von ineinandergreifenden und aufeinander bezugnehmenden Aussagen besitzt und damit deutlich mehr darstellt als eine bloße Einzelaussage. Auch aus dem bloßen Verweis auf eine wertende Stellungnahme zum Weltganzen lassen sich keine weiteren Erkenntnisse zur Besonderheit der Weltanschauung gegenüber den anderen Garantien entnehmen, zumal jede Meinung als Kernelement ein wertendes Moment in sich trägt. Aus den präzisierenden Ausführungen im Schrifttum lassen sich danach keine zusätzlichen Erkenntnisse gewinnen, die eine Abgrenzung der Weltanschauungsfreiheit von anderen Grundrechten erleichtern würden. Die Einordnung der Weltanschauung in das Gesamtsystem des Grundgesetzes ist insofern wenig zufriedenstellend. Um so mehr besteht Anlaß, die Besonderheiten der Weltanschauung ge36 In diesem Sinne Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 18. 37 Vgl. dazu Bleckmann, Staatsrecht II, § 25 Rdnr. 20 ff. 38 So Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67. 39 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 67; ebenso Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 18. 40 Der Begriff der Metaphysik ist - nicht zuletzt aufgrund der langen Begriffsgeschichte äußerst vielschichtig. Im vorliegenden Fall wird er (vereinfachend) als Bezeichnung für alles Nichterfahrbare verwendet.

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genüber den anderen grundgesetzlichen Gewährleistungen näher zu untersuchen. Aufschluß verspricht dabei vor allem die Frage, inwieweit sich aus den anderen beiden in Art. 4 GG gewährleisteten Freiheiten - der Religions- und der Gewissensfreiheit - Rückschlüsse auf das Verständnis der Weltanschauungsfreiheit ziehen lassen. Dabei soll die Frage, in welchem Umfang die einzelnen Freiheiten geschützt werden, an dieser Stelle noch zurücktreten. 41 (3) Vergleich der Weltanschauungsmit der Religions- und Gewissensfreiheit Der Bereich der Religion wird - dem klassischen Verständnis und dem zuvor Ausgeführten entsprechend - wesentlich durch ein Element der Transzendenz gekennzeichnet. Religion trägt etwas Übersinnliches in sich und entzieht sich dadurch dem rational Faßbaren. Dieses nicht beweisbare übersinnliche Element des Glaubens führt dazu, daß der einzelne die Aussagen und (Verhaltens-)Anforderungen der Religion als für sich bindend und verpflichtend erfährt, ohne sich wegen des übersinnlichen Moments rational damit auseinandersetzen zu können. Das Handeln entgegen den unbedingten Anforderungen der Religion führt zu einer ernsten, besonders gearteten Konfliktlage. Ist eine abschließende Definition des Gewissensbegriffs wegen des absoluten, Wandlungen ausschließenden Charakters einer solchen Definition ebensowenig möglich wie beim Religions- und Weltanschauungsbegriff, hat sich die Rechtsprechung des Bundesverwaltungs- und des Bundesverfassungsgerichts insbesondere im Zusammenhang mit den Kriegsdienstverweigerungsfällen gleichwohl näher mit dem Begriff des Gewissens befassen müssen. Sie ist dabei zu einer Umschreibung gelangt, die im wesentlichen von der herrschenden Lehre geteilt wird: „Als eine Gewissensentscheidung ist somit jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut" und „Böse" orientierte Entscheidung anzusehen, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte" 4 2 Enger ist die Umschreibung Böckenfördes, dem zufolge von einer Gewissensentscheidung nur dann gesprochen werden kann, wenn durch den Zwang zu einem bestimmten Verhalten die Identitätswahrung des einzelnen gefährdet i s t 4 3 Die Unterschiede im einzelnen können hier dahinstehen. Entscheidend ist, daß beide Definitionsansätze zu dem Ergebnis gelangen, die Gewissensentscheidung müsse für den einzelnen derart verpflichtend sein, daß bei Zuwiderhandlung die Grund41

Zum Schutzumfang der Religions- und Weltanschauungsfreiheit unten S. 277 ff. BVerfGE 12, 45 (55); 48, 127 (173); BVerwGE 79, 24 (26 f.). Herzog, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 125; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4 Rdnr. 41; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 57; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 25; Preuß, in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 38. 43 Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 33 (67). 42

18 Rathke

274 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

läge der Persönlichkeit beeinträchtigt ist. Der vom Gewissen eingeforderten, vom einzelnen nur bedingt rational faßbaren und nicht steuerbaren Verpflichtung für oder gegen eine bestimmte Handlung kommt eine zentrale Bedeutung zu. Der systematische Vergleich mit den anderen, neben der Weltanschauung in Art. 4 GG gewährleisteten Freiheiten legt den Schluß nahe, daß Art. 4 GG insgesamt einer spezifischen Gefährdungslage gilt, die sich aus einer besonders grundlegenden Bindung der Persönlichkeit durch geistige Einflüsse ergibt, gegen die der einzelne nicht ohne ernste Gefährdung seiner Persönlichkeit handeln kann. Art. 4 GG will dem einzelnen gerade dann einen besonderen Schutz zuteil werden lassen, wenn dieser sich entweder aufgrund seiner Religion, seiner Weltanschauung oder seines ihn verpflichtenden Gewissens einer ganz besonderen Bindung ausgesetzt sieht, der er nicht ohne Beeinträchtigung seiner Persönlichkeit entkommen kann. Durch diesen Aspekt einer spezifischen Bindung unterscheidet sich Art. 4 GG auch von den sonstigen grundgesetzlichen Gewährleistungen. Weder bei der Meinungs- noch bei der Wissenschaftsfreiheit wird der einzelne durch einen vergleichbaren Zwang geleitet. Auch in anderen Fällen mag es dem einzelnen wichtig sein, seine Meinung kundzugeben oder wissenschaftliche Erkenntnisse über den Ablauf bestimmter Geschehnisse in der Welt zu gewinnen, doch sind diese Handlungen nicht mit einem bindenden und unbedingt verpflichtenden Moment versehen. Wie die Religion und das Gewissen muß auch die Weltanschauung durch ein besonderes, den einzelnen verpflichtendes Moment gekennzeichnet sein, um vom spezifischen Schutz des Art. 4 GG erfaßt zu werden. Bei der Beantwortung der Folgefrage, woraus sich bei der Weltanschauung dieses besondere verpflichtende Moment ergibt, ist es angesichts der gesonderten Gewährleistung der Gewissensfreiheit von vornherein ausgeschlossen, die Weltanschauung ausschließlich aus dem Gewissen herzuleiten. Die Verpflichtung muß ihre Ursache in einer über das Gewissen des einzelnen hinausgehenden Komponente finden. Bei der Religion liegt diese Verpflichtung in dem transzendenten Element, d. h. in dem Glauben an bestimmte übersinnliche Gegebenheiten und in den damit verbundenen Verhaltensanforderungen. Ähnlich wie die Religion muß sich auch die Weltanschauung durch ein dem Einfluß des einzelnen entzogenes verpflichtendes Moment auszeichnen, dessen Nichtbeachtung zu persönlichkeitsgefährdenden Konsequenzen führt. Die Erkenntnis, daß die Weltanschauung ein für den einzelnen verpflichtendes Moment aufweisen muß, führt zu dem Schluß, daß die bloße Existenz eines zusammenhängenden Gedankengerüstes für die Annahme einer Weltanschauung nicht ausreicht. Aus dem Gedankengefüge müssen sich bestimmte Gebote ergeben, die vom einzelnen ein gewisses Verhalten abverlangen. Daß auch die Weltanschauung mehr sein muß als die bloße Möglichkeit, an ein bestimmtes Gedankengerüst zu glauben, zeigt ein erneuter Vergleich mit den anderen Freiheiten des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. Ohne daß damit die Reichweite der Garantien im einzelnen festgelegt wäre, besteht kein Zweifel, daß sowohl die Religions- und Gewissensfreiheit als

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auch die Weltanschauungsfreiheit über das sog. forum internum der Gedankenfreiheit hinaus bestimmte Verhaltensweisen unter ihren besonderen Schutz stellen. Hält man sich die Kernelemente zusammenfassend vor Augen, ergibt sich, daß der Weltanschauung - in Abgrenzung zur Meinungsfreiheit - keine bloße Einzelaussage, sondern ein komplexes Gedankengerüst zugrundeliegen muß. Hinzu kommt, daß sich aus diesem Gedankengerüst für den einzelnen bestimmte Gebzw. Verbote ergeben müssen, auf deren Existenz er keinen Einfluß besitzt und bei deren Nichtbeachtung ihm bestimmte, seine Persönlichkeit gefährdende Konsequenzen drohen. Diese stärker konturierte Umschreibung der Weltanschauungsfreiheit führt dazu, daß wissenschaftliche Erkenntnistheorien und große Teile der Philosophie nicht als Weltanschauung im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG qualifiziert werden können. Wissenschaftliche Erkenntnistheorien bilden zwar regelmäßig komplexe Gedankengerüste, haben aber oftmals rein beschreibenden bzw. erklärenden Charakter. Sie stellen für den einzelnen im Regelfall keine Ge- oder Verbote auf und zeichnen sich nicht durch ein dem Einfluß des einzelnen entzogenes verpflichtendes Moment aus. Ähnlich sieht es bei der ganz überwiegenden Zahl der Philosophien aus. Etliche unter ihnen besitzen zwar ein ethisches Moment und begründen bestimmte Handlungspflichten, doch hat der einzelne bei Nichtbeachtung mit keinen außerhalb seines Einflußbereichs liegenden Konsequenzen zu rechnen. Zwar kann der einzelne sein Leben an einer bestimmten Philosophie ausrichten, so daß diese Philosophie in seinem Leben eine zentrale Stellung einnimmt, die alles prägt. Dennoch fehlen diesen Philosophien im Regelfall die Unbedingtheit der Verhaltensanforderung und die persönlichkeitsgefährdenden Folgen, denen sich der einzelne bei Nichtbeachtung der Verhaltensanforderung ausgesetzt sieht. Wer sein Leben an einer bestimmten Philosophie ausrichtet, ist damit nicht ohne weiteres schutzlos gestellt. Ihm stehen andere Grundrechte zur Seite. Wesentliche Aspekte einzelner Philosophien mit den daraus folgenden Verhaltensweisen können in den Schutzbereich der Gewissensfreiheit, andere in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit fallen. Im übrigen können das Recht auf freie Meinungsäußerung in Art. 5 Abs. 1 GG und das Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG greifen. 44 b) Zwischenbilanz Die systematische Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zeigt im Ergebnis, daß der von der herrschenden Ansicht favorisierte weite Weltanschauungsbegriff zu einer Auflösung der Grenzen zwischen der Weltanschauungsfreiheit und anderen Grundrechten, insbesondere der Meinungs- und der Wissenschaftsfreiheit, führt und nicht mehr erkennen läßt, warum der Weltanschauung ein eigenständiger qualifizierter Schutz zukommen soll. Der hier vorgeschlagene Ansatz vermeidet diese Schwächen, indem er als Weltanschauung nur Gedankensysteme anerkennt, 44

1

Zu den Schranken der Religions- und Weltanschauungsfreiheit unten S. 287 ff.

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die für den einzelnen Verhaltensanforderungen begründen, die von ihm nicht beeinflußt werden können. Auf der Grundlage dieses enger gefaßten Weltanschauungsverständnisses lassen sich großflächige Überschneidungen mit anderen Grundrechten vermeiden. Insbesondere wird verständlich, warum der Weltanschauung - neben der Religion und dem Gewissen - in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ein eigenständiger Schutz zuerkannt wird. Damit sind zwar Überschneidungen nicht völlig ausgeschlossen, doch werden flächendeckende Schnittstellen wie bei dem von der herrschenden Meinung favorisierten Weltanschauungsbegriff vermieden. Im Gegensatz zur herrschenden Ansicht ist der Anwendungsbereich von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nach dem hier vertretenen restriktiveren Verständnis des Weltanschauungsbegriffs deutlich enger gefaßt. Dieses Ergebnis vermittelt auf den ersten Blick den (falschen) Eindruck, als ob die Schwierigkeiten, die sich im Umgang mit Art. 4 GG ergeben, durch eine enge Auslegung des Schutzbereichs gelöst werden sollen. Der vorliegende Ansatz enthält jedoch keineswegs ein grundsätzliches Plädoyer für eine enge Schutzbereichsinterpretation. Viele Konfliktlagen lassen sich im Gegenteil erst auf Schrankenebene angemessen thematisieren und lösen.45 Im Gegensatz zur Schutzbereichsebene, die ohne weitere Abschichtung im Sinne einer Entweder-Oder-Entscheidung eine Einbeziehung in den oder Ausgrenzung aus dem Schutzbereich erlaubt, ermöglicht die Anwendung vor allem des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Schrankenebene eine vielschichtigere und damit detailliertere Prüfung. Mit Blick auf die Weltanschauungsfreiheit ist allein deshalb eine restriktivere Handhabung angezeigt, weil ansonsten die Konturen einzelner grundgesetzlicher Garantien - der Weltanschauungs-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit - zu verschwimmen drohen. Nur eine restriktivere, systematische Zusammenhänge berücksichtigende Auslegung ist in der Lage, der Weltanschauungsfreiheit gegenüber den anderen Grundrechten eine Qualifizierung zukommen zu lassen, die ihren gesonderten Schutz rechtfertigt und erklärt.

2. Umfang der Glaubensfreiheit

Der Begriff des Glaubens wird traditionellerweise mit dem Begriff des religiösen Glaubens verbunden. Dies hat mit Blick auf die historische Entwicklung durchaus seine Berechtigung. Im abendländischen Kulturkreis wurde zunächst nur die auf eine - im Regelfall christliche oder jüdische - Religion bezogene Weltsicht mit dem Begriff des Glaubens belegt. Dementsprechend wurde in den ersten Verfassungen bei Verwendung des Glaubensbegriffs stets nur der religiöse Glaube in Bezug genommen und unter besonderen Schutz gestellt. Als Folge dieser Entwicklung bezeichnet auch heute noch die ganz herrschende Meinung im verfassungsrechtlichen Schrifttum mit dem Glaubensbegriff nur den religiösen Glau45

Vgl. dazu bereits oben S. 44 f.

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277

ben. 46 Allerdings wird dieser Glaubensbegriff weit verstanden und bezieht sich keinesfalls nur auf die christliche bzw. jüdische Religion. 47 Gleichwohl hat das auf den religiösen Glauben beschränkte Verständnis - nach hier vertretener Auffassung - unter dem Grundgesetz keine Berechtigung mehr. Erstmalig in der deutschen Verfassungsgeschichte wurde mit dem Grundgesetz auf individueller Seite neben der Religion auch die Weltanschauung verankert und ihr ein eigenes Gewicht beigemessen.48 Ein Rückgriff auf das überkommene Glaubensverständnis scheidet angesichts dieser, durch das Grundgesetz neu geschaffenen Situation aus. In Art. 4 Abs. 1 GG ist der Glaubensbegriff explizit nicht auf den religiösen Glauben reduziert, sondern umfaßt daneben den weltanschaulichen Glauben 4 9 Beide sind gleichermaßen durch ihren besonderen verpflichtenden Charakter, die Unbedingtheit der Verhaltensanforderung sowie die persönlichkeitsgefährdenden Konsequenzen gekennzeichnet, die im Falle ihrer Nichtbeachtung drohen.

II. Umfang der einzelnen Gewährleistungen Steht fest, daß es sich im konkreten Fall um eine Religion oder Weltanschauung handelt, kann die Folgefrage gestellt werden, in welchem Umfang diese durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt wird. Dieser Aspekt soll im folgenden näher beleuchtet werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begreift die Absätze 1 und 2 des Artikel 4 GG mit allen ihren Gewährleistungsschichten als einheitliches Grundrecht. 50 Während das Bundesverfassungsgericht keine Abgrenzung zwischen den einzelnen Gewährleistungen vornimmt und keine von ihnen für allumfassend hält, geht die herrschende Ansicht im Schrifttum davon aus, daß sich aus der Glaubensfreiheit nicht nur das Recht herleiten läßt, einen Glauben zu haben oder nicht zu haben, sondern auch das Recht, eine Religion oder Weltanschauung zu bekunden und demgemäß zu leben und zu handeln.51 Gegen diese undifferenzierte Betrachtung des Schutzbereichs wenden sich Teile des Schrift46 So Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 16; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 19; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 32. 47 Was im einzelnen vom Glaubensbegriff umfaßt wird, hängt vom Verständnis des Religionsbegriffs ab. Wie oben bereits dargestellt, versteht die herrschende Meinung unter „Religion" jedes Gedankensystem mit transzendentem Bezug. 48 Mit Blick auf die kollektive Seite sah bereits Art. 137 Abs. 7 WRV eine Gleichstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften vor. 49 In diesem Sinne auch Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 3. 50 BVerGE 24, 236 (245); 32, 98 (106 f.); 69, 1 (33 f.); vgl. dazu bereits oben S. 38 ff. 51 So Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 4 Rdnr. 7 m.w.N; v. Münch, in: v. Münch /Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 22 m. w. N. sowie die Ausführungen oben S. 44 f. Inwieweit sich der Gewährleistung der Bekenntnisfreiheit oder der Freiheit der Religionsausübung mit Blick auf die kollektive Religionsausübung ein eigenständiger Garantiegehalt entnehmen läßt, soll hier außer Betracht bleiben.

278 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

turns mit dem Versuch, den einzelnen Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG eine eigene Bedeutung im Sinne eines eigenständigen Gewährleistungsgehalts zu geben. 52 Von diesen beiden Ansätzen setzt sich vornehmlich Zippelius ab, der den Gewährleistungsgehalt der Absätze 1 und 2 betont eng auslegt.53 7. Gewährleistungen

der Glaubensfreiheit

a) Kritik an der herkömmlichen Konzeption Im ersten Kapitel wurde bereits darauf hingewiesen, daß die vom Bundesverfassungsgericht und der überwiegenden Meinung im Schrifttum vertretene einheitliche Betrachtung der Absätze 1 und 2 von Art. 4 GG zu einem nicht unerheblichen Anteil von Zweckmäßigkeitserwägungen geprägt ist. Sie soll verhindern, daß Ungenauigkeiten im Wortlaut des Art. 4 GG zu Unterschieden im Schutzumfang zwischen Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit führen. 54 Dieses Ziel kann jedoch nicht den Blick darauf verstellen, daß die Vereinheitlichung des Schutzbereichs eine Konturenlosigkeit der einzelnen Gewährleistungen von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nach sich zieht. Ob der Gewährleistungsgehalt von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG dem weiten Verständnis des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre entspricht, gilt es im folgenden durch Auslegung zu ermitteln.

b) Ermittlung des Gewährleistungsgehalts Bei unbefangener Betrachtung des Wortlauts unterscheidet Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bezogen auf die Religions- und Weltanschauungsfreiheit drei verschiedene Stufen: die Glaubensfreiheit, die Bekenntnisfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung. Dieser Wortlaut, der die einzelnen Freiheiten ausdrücklich benennt, spricht - auf den ersten Blick - gegen eine Unterordnung der letzten beiden Garantien unter den „Oberbegriff' der Glaubensfreiheit. Auch das Wort „Glauben" impliziert zunächst nichts anderes als die bloße Existenz eines Glaubens. Es enthält keinen Hinweis auf darüber hinausgehende Aktivitäten. Die systematische Anordnung der einzelnen Garantien innerhalb von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG legt ein gleichrangiges Verhältnis der einzelnen Gewährleistungen nahe. Zum einen ist die Glaubensfreiheit mit der Bekenntnisfreiheit durch das Wort „und" verbunden, was gegen eine Unter- oder Überordnung der einen unter oder über die andere Garantie spricht. Zum anderen ist der Religionsaus52 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 66 f., 82 f.; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 23 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 3 f. Näher dazu oben S. 47 ff. 53

Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 103; vgl. auch die Ausführungen oben S. 49 f. 54 Vgl. hierzu die Ausführungen oben S. 38 ff.

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Übung ein eigener Absatz gewidmet. Diese systematische Stellung ergibt nur wenig Sinn, wenn die Freiheit der Religionsausübung der Glaubensfreiheit untergeordnet wird. Im Herrenchiemseer-Entwurf war die Religionsfreiheit in Art. 6 verankert. 55 Im Laufe der folgenden Beratungen im Parlamentarischen Rat wurde die Fassung des Herrenchiemseer-Entwurfs wesentlich erweitert. Nach der ersten Lesung im Parlamentarischen Rat wurde die überarbeitete Fassung Thoma zur Kommentierung vorgelegt. 56 In seiner „Kritischen Würdigung" des Grundrechtskatalogs merkte dieser mit Blick auf die inzwischen in Art. 7 verankerte Religionsfreiheit einen Punkt an, der näheren Aufschluß über das Verständnis der Glaubensfreiheit liefert. Thoma führt aus, daß die im ersten Absatz gewährleistete Glaubensfreiheit gleichsam kraft Natur der Sache unantastbar und es daher weitaus wichtiger sei, die Bekenntnisfreiheit im ersten Absatz der Religionsfreiheit festzuschreiben. Erst das offene Bekenntnis für eine Religion oder Weltanschauung bedürfe aufgrund der Berührung mit der Außenwelt des besonderen Schutzes.57 Diesen Ausführungen läßt sich entnehmen, daß Thoma von einem auf das forum internum beschränkten Verständnis der Glaubensfreiheit ausging. Ansonsten hätte er nicht zu der Schlußfolgerung gelangen können, daß die Glaubensfreiheit ohnehin unantastbar sei. Aus anderen Aussagen der Mitglieder des Grundsatz-Ausschusses lassen sich derart eindeutige Aussagen zwar nicht ohne weiteres gewinnen. Dennoch herrschte auch hier der Tendenz nach ein enges Verständnis der Glaubensfreiheit vor. Teilweise sorgen nur unglücklich gewählte Formulierungen oder in unterschiedlichen Zusammenhängen benutzte, aber gleich lautende Begriffe für Unklarheiten, wie dies die Aussagen Süsterhenns beispielhaft zeigen. Dieser formuliert: „Wir gehen zunächst davon aus, daß die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses unverletztlich ist. Hier sind innere Tatbestände gegeben. Dazu kommt nun noch das Bekenntnis des religiösen und weltanschaulichen Glaubens. Schließlich kommt die Religionsausübung dazu". 58 Von der 55

Art. 6 des Herrenchiemseer-Entwurfes lautete: (1) Glaube, Gewissen und Überzeugung sind frei. (2) Der Staat gewährleistet die ungestörte Religionsausübung. 56 Die Fassung des Grundrechtsteils zum Zeitpunkt der ersten Lesung findet sich in den Drucksachen des Pari. Rats Nr. 143. Die Religionsfreiheit hatte im damaligen Stadium als Art. 7 folgenden Wortlaut: (1) Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung ist unverletzlich. (2) Die ungestörte Religionsausübung wird im Rahmen der allgemeinen Gesetze gewährleistet. (3) Niemand darf gezwungen werden, an einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder religiösen Übung teilzunehmen oder eine religiöse Eidesformel zu benutzen. (4) Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft darf nur gefragt werden, wenn davon Rechte und Pflichten abhängen oder wenn eine gesetzlich angeordnete statistische Erhebung es erfordert. 57 Thoma, Drucksachen des Pari. Rat Nr. 244 1 (6). 58 Süsterhenn, Stenoprotokoll zur 24. Sitzung des Grundsatzausschusses, 1 (4 f.).

280 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Formulierung her wenig geglückt ist hier die Nennung des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses auf der Seite der inneren Tatsachen, zeichnet sich das Bekenntnis doch bereits vom Wort her dadurch aus, daß es über das forum internum hinausgeht. Trotz dieses mißglückten Gebrauchs des Wortes „Bekenntnis" steht jedoch auch hier außer Zweifel, daß zwischen dem Schutz des eigentlichen Glaubens auf der einen Seite, dem Bekenntnis und der Ausübung des Glaubens auf der anderen unterschieden wird. Zunächst ist nur von der inneren Seite - dem forum internum - die Rede. Aus der Überleitung zum folgenden Satz - der Verwendung des Wortes „dazu" - wird aber klar, daß mit der Bekenntnisfreiheit und der Freiheit der Religionsausübung über die inneren Tatbestände hinausgehende Bereiche gewährleistet werden sollen. Die Ergebnisse der Interpretation sprechen dafür, die Glaubensfreiheit eng auszulegen und die Gewährleistungen im Sinne des forum internum auf die Freiheit zu beschränken, sich einen Glauben zu bilden und diesen innezuhaben bzw. keinen Glauben zu bilden und zu besitzen. Eine solche enge Auslegung der Glaubensfreiheit wird von einer beachtlichen Zahl von Autoren befürwortet, wenn auch regelmäßig ohne detailliertere Auseinandersetzung und Begründung. 59

2. Gewährleistungen

der Bekenntnisfreiheit

Die Bekenntnisfreiheit bezieht sich nach ihrem ausdrücklichen Wortlaut sowohl auf das religiöse als auch auf das weltanschauliche Bekenntnis. Unbestritten ist, daß unter „Bekenntnis" das Verkünden, d. h. die Kundgabe einer Religion oder Weltanschauung, zu verstehen ist. Dieser Punkt bedarf keiner näheren Erörterung. Eine bedeutende Zahl von Autoren im Schrifttum sehen jedoch nicht nur das Verkünden, sondern darüber hinaus das gesamte religiös und weltanschaulich geleitete Leben und Handeln als von der Bekenntnisfreiheit erfaßt an. 60 Die Grenzen zur Religionsausübungsfreiheit verschwimmen. Auch hier gilt es im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob und inwiefern ein solches weites Verständnis der Bekenntnisfreiheit gerechtfertigt ist. Das Wort „Bekennen" beschränkt sich im gängigen Sprachgebrauch auf einen kommunikativen Akt und stellt ein synonym für Begriffe wie „Zeugnis ablegen", „offen zugeben", „offen eintreten" oder „eingestehen" dar. Das Wort enthält keinen Hinweis auf Handlungen, die über diesen kommunikativen Rahmen hinausgehen. Entscheidend ist, daß die Überzeugung über das forum internum nach außen hin deutlich gemacht wird. Die Zusammenschau der im ersten Absatz von Art. 4 GG gewährleisteten Bekenntnisfreiheit mit der im zweiten Absatz gewährleisteten Religionsausübungs59

Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 47 ff. So beispielsweise Starck, in: v. Mangoldt /Klein /Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 3. Siehe dazu auch die Ausführungen oben S. 47 ff. 60

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

281

freiheit zeigt, daß der Begriff der „Ausübung" für die Gewährleistung von Handlungen, die über den kommunikativen Bereich hinausgehen, besser geeignet ist. Hinzu kommt, daß die Gewährleistung der Religionsausübung weitgehend leer liefe, wenn das gesamte religiöse und weltanschaulich geleitete Leben und Handeln bereits von der Bekenntnisfreiheit erfaßt wäre. Systematische Erwägungen sprechen daher dafür, unter „Bekenntnis" nur den eigentlichen Akt der Kundgabe zu verstehen. Die bei der Auslegung der Glaubensfreiheit bereits zum Teil zitierten Ausführungen des Abgeordneten Süsterhenn im Parlamentarischen Rat lassen darüber hinaus Schlüsse auf das entstehungsgeschichtliche Verständnis der Bekenntnisfreiheit zu. Im Anschluß an die bereits zitierte Aussage, daß neben die inneren Tatsachen das Bekenntnis und schließlich die Religionsausübung treten, 61 führt Süsterhenn weiter aus: „Sie (die Religionsausübung) ist mehr als bloßes Bekenntnis, sondern drückt sich in Kulthandlungen, Liturgie usw. aus ( . . . )". Diese Passage verdeutlicht, daß das Bekenntnis von der Religionsausübung unterschieden werden und etwas qualitativ anderes bezeichnen sollte als die Religionsausübung. Der Begriff des Bekenntnisses war gerade nicht als Oberbegriff für das gesamte religiös oder weltanschaulich geprägte Handeln konzipiert. Die Auslegungskriterien ergeben sowohl für sich genommen als auch in der Zusammenschau, daß die Bekenntnisfreiheit nicht jedes glaubensgeleitete Leben und Handeln umfaßt, sondern sich allein auf kommunikative Handlungen beschränkt. Sie bildet insofern einen Sonderfall der in Art. 5 Abs. 1 GG garantierten Meinungsfreiheit. 62

3. Gewährleistungen

der Religionsausübungsfreiheit

Allgemein anerkannt ist, daß die Religionsausübungsfreiheit alle religiösen Kulthandlungen sowie das Recht zum Befolgen der religiösen Bräuche umfaßt. 63 Fraglich und näherer Untersuchung bedürftig ist, ob und inwieweit darüber hinaus - wie vom Bundesverfassungsgericht in der Rumpelkammer-Entscheidung64 angenommen - auch jedes religiös oder weltanschaulich geleitete Handeln von der Religionsausübungsfreiheit geschützt wird. Bevor jedoch dieser Frage näher nachgegangen wird, soll zunächst geklärt werden, ob und inwieweit Art. 4 Abs. 2 GG neben der Religionsausübungsfreiheit auch die freie Ausübung der Weltanschau61 Vgl. dazu oben S. 279. 62 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 82 f. 63 Vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 101; Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 32; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 41; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 102 f. In diesem Sinne auch BVerfGE 24, 236 (246). 64 BVerfGE 24, 236 ff.

282 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

ung umfaßt. Auch hier ist der Rückgriff auf die klassischen Auslegungskriterien aufschlußreich.

a) Einbeziehung der Weltanschauung in Art. 4 Abs. 2 GG Der Wortlaut von Art. 4 Abs. 2 GG ist eindeutig. Er bezieht sich nur auf die Religionsausübung. Von einer freien Ausübung von Weltanschauungen ist nicht die Rede. Systematische Erwägungen sprechen demgegenüber jedoch für eine Erfassung auch von Weltanschauungen. Sowohl die in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Glaubensfreiheit als auch die Bekenntnisfreiheit beziehen sich gleichermaßen auf Religion und Weltanschauung. Dies legt die Vermutung nahe, daß auch für die Modalität der Ausübung kein davon abweichender Gewährleistungsumfang gelten soll. Diese Vermutung wird bestärkt, wenn der Blick auf die anderen im Grundgesetz verankerten Garantien fällt, die auf Religion und Weltanschauung Bezug nehmen. Der über Art. 140 GG inkorporierte Art. 137 Abs. 7 WRV sieht vor, daß „Weltanschauungsgesellschaften" den „Religionsgesellschaften" gleichgestellt werden. Zwar wurden in der Weimarer Verfassung Religion und Weltanschauung nicht in jeder Hinsicht gleich behandelt. Art. 135 WRV garantierte nur die volle Glaubensund Gewissensfreiheit, wobei sich die Glaubensfreiheit lediglich auf den religiösen, nicht hingegen auf den weltanschaulichen Glauben bezog. Eine Gleichstellung war nur im Rahmen der religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften vorgesehen. Über zahlreiche Abgrenzungsschwierigkeiten hinaus zeigte sich aber bald, daß eine Gleichstellung auf der Ebene der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften kaum möglich ist, wenn nicht auch dem einzelnen ein ausreichender Schutz seiner individuellen Weltanschauung gewährleistet wird. Drohen dem einzelnen aufgrund seiner Weltanschauung staatliche Repressalien, werden mittelbar stets auch die Weltanschauungsgemeinschaften geschwächt. Die in Art. 137 Abs. 7 WRV vorgesehene Gleichstellung stünde weitgehend auf dem Papier und könnte auf dem Umweg über die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft letztlich ausgehöhlt werden. Die Aufnahme der individuellen Weltanschauungsfreiheit in Art. 4 GG kann vor diesem Hintergrund als Signal gedeutet werden, Diskrepanzen im Verhältnis von Religion und Weltanschauung auf der individuellen Seite und ihrer Gleichstellung über Art. 137 Abs. 7 WRV auf der kollektiven Seite zu vermeiden. Systematische Überlegungen legen danach eine Gleichstellung von Religion und Weltanschauung auch bei der Gewährleistung der Ausübungsfreiheit nahe. Ausschlaggebend dafür, daß neben der Religionsausübungsfreiheit auch die freie Ausübung der Weltanschauung gewährleistet ist, sind jedoch vor allem teleologische Erwägungen. Zweck von Art. 4 GG ist es, jene Besonderheiten angemessen zu schützen, die sich aus dem Glauben an eine Religion oder Weltanschauung, dem verpflichtenden Charakter und der Unbedingtheit der Verhaltensanforderungen sowie den spezifischen persönlichkeitsgefährdenden Folgen einer Nichtbeach-

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

283

tung ergeben.65 Diesem Zweck liefe es zuwider, wenn die Ausübung der Weltanschauung vom Schutz ausgenommen wäre. Nur eine gleichberechtigte Stellung der Weltanschauungsausübung steht mit dem Zweck und der Schutzrichtung von Art. 4 Abs. 1 GG in Einklang. Das Ergebnis der Auslegung spricht für eine Ausdehnung der Ausübungsfreiheit auf die Weltanschauung.66 Letztlich dürfte gerade das Fehlen ihrer ausdrücklichen Gewährleistung in Art. 4 Abs. 2 GG dazu geführt haben, daß sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch weite Teile des Schrifttums nach anderen Wegen gesucht haben, um eine Einbeziehung der Weltanschauungsausübung in den Schutz des Art. 4 GG zu erreichen. Auf der einen Seite wird versucht, den Glaubensbegriff als Oberbegriff zu konzipieren und ihm alle Modalitäten bis hin zum religiös und weltanschaulich geleiteten Handeln zuzuordnen 6 7 Auf der anderen Seite wird zwar eine solche weite Auslegung des Glaubensbegriffs abgelehnt, zugleich aber die Bekenntnisfreiheit zum Oberbegriff für das gesamte nach außen tretende Handeln und damit auch für die Religionsausübung erklärt. 68 Beide Interpretationen haben zur Folge, daß Art. 4 Abs. 2 GG keine eigene Bedeutung zukommt und damit weitgehend leerläuft. Die verunglückte, enge Fassung von Absatz 2 muß danach als wesentliche Ursache für die weitgehende dogmatische Konturenlosigkeit von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Rechtsprechung und Schrifttum angesehen werden. Eine Präzisierung des Verfassungstextes durch ausdrückliche Einbeziehung auch der Weltanschauungsausübung in den Schutz des Art. 4 Abs. 2 GG wäre - unabhängig von dem oben gefundenen Auslegungsergebnis - sinnvoll und wünschenswert. b) Gewährleistungsgehalt der Religionsund Weltanschauungsfreiheit Nach allgemeiner Ansicht schützt die Ausübungsfreiheit die zur Religion oder Weltanschauung gehörenden Kulthandlungen sowie die jeweiligen religiösen oder weltanschaulichen Bräuche. Umstritten ist, inwieweit die Ausübungsfreiheit darüber hinausgehende Handlungen in ihren Schutz einbezieht. Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Rumpelkammer-Entscheidung69 darüber hinaus jedes religiös oder weltanschaulich geleitete Handeln unter Schutz. Weder aus dem Wortlaut noch aus der Systematik von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG lassen sich dazu jedoch klare Erkenntnisse gewinnen. Auch die Entstehungsgeschichte erweist sich als wenig hilfreich; im Rahmen der Beratungen des Parlamentarischen Rates wurde stets nur auf die Kulthandlungen als spezifische Gewährleistungen der Aus65 V g l . d a z u o b e n S. 2 7 5 ff.

66 67 68 69

Im Ergebnis ähnlich Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 101. Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 35 und S. 44 f. Vgl. dazu die Erläuterungen oben S. 47 ff. BVerfGE 24, 236 ff.

284 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Übungsfreiheit verwiesen. 70 Nähere Erkenntnisse verspricht allein der Rückgriff auf teleologische Erwägungen, die jedoch - durch den Vergleich vor allem mit der Meinungs- und der Wissenschaftsfreiheit - (grundrechts-)systematische Bezüge aufweisen. 71 Bei der Begriffsbestimmung von Religion und Weltanschauung72 wurde herausgearbeitet, daß die Eigenart von Art. 4 GG darin besteht, dem besonderen verpflichtenden Charakter, der Unbedingtheit der Verhaltensanforderung und den spezifischen persönlichkeitsgefährdenden Folgen einer Nichtbeachtung der Religion bzw. Weltanschauung Rechnung zu tragen. Daraus folgt ohne weiteres, daß die zur jeweiligen Religion bzw. Weltanschauung gehörenden Kulthandlungen und sonstigen Bräuche geschützt sind. Hinzu kommt, daß alle sonstigen aus der Religion bzw. Weltanschauung ableitbaren Handlungspflichten dem besonderen Schutz der Ausübungsfreiheit unterstehen, sofern sie an dem besonderen verpflichtenden Charakter und der Unbedingtheit als Glaubensanforderung teilhaben. Allerdings sind (nur) alle unmittelbar aus dem Glauben sich ergebenden Handlungspflichten erfaßt. Der Gefahr, daß das Grundrecht des Art. 4 GG zu einem zweiten Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit verkommt, kann allein dadurch begegnet werden, daß die nur mittelbar, mit bloßer Reflexwirkung auf die Religionsausübung sich auswirkenden Handlungen vom Schutz des Art. 4 GG ausgenommen bleiben. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG werden auf die eigentlichen glaubensspezifischen Gewährleistungen beschränkt.

c) Exkurs: Auswirkungen der Konzeption auf die Gewissensfreiheit Der Anlage der vorliegenden Arbeit entsprechend gilt die Untersuchung zwar allein der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die Problematik der Gewissensfreiheit soll ausgeklammert bleiben. Im vorliegenden Zusammenhang muß die Gewissensfreiheit jedoch ausnahmsweise in die Betrachtung einbezogen werden, um sicherzustellen, daß die vorgeschlagene Konzeption der Religions- und Weltanschauungsfreiheit im Hinblick auf die Gewährleistung der Gewissensfreiheit nicht zu unbilligen Ergebnissen führt. An anderer Stelle ist bereits betont worden, daß der Ansatz der herrschenden Meinung, dem zufolge die Glaubensfreiheit die anderen Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG umfaßt, zu einem erheblichen Teil von Zweckmäßigkeitserwägungen geleitet wird. 73 Diese weite Auslegung führt - entgegen dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - zu einer undifferenzierten Behandlung der Religions70

Drucksachen des Parlamentarischen Rates Nr. 303 (vom 23. 11. 48), 1. 1 Vgl. dazu oben S. 270 ff. 72 Vgl. oben S. 268 ff. 73 Vgl. dazu oben S. 35 und S. 44 f. 7

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

285

und Weltanschauungsfreiheit. Ein weiterer Grund für die extensive und undifferenzierte Interpretation wird mit Blick auf die Gewissensfreiheit deutlich. Soll das Gewissen im gleichen Umfang wie eine Religion oder Weltanschauung geschützt werden, scheint dieses Ziel nur dann erreichbar, wenn entweder keine Differenzierung zwischen den einzelnen Garantien vorgenommen und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG als einheitliches Grundrecht konzipiert oder aber die Gewissensfreiheit zu einem „Obergrundrecht" deklariert wird, das das gesamte gewissensgeleitete Handeln umfaßt. Beide Wege führen im Ergebnis dazu, daß alle Gewährleistungen der Religions· und Weltanschauungsfreiheit - der Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung zu haben, zu bilden, zu äußern und dementsprechend zu handeln - im selben Umfang auch für die Gewissensfreiheit gelten. Lehnt man mit der vorliegenden Arbeit - wegen der drohenden Konturenlosigkeit und den Schwierigkeiten einer exakten Bestimmung der Reichweite des Schutzbereichs - ein einheitliches Schutzbereichsverständnis ab und nimmt man statt dessen drei voneinander abgrenzbare Garantien mit ihren jeweiligen Gewährleistungen an, stellt sich die Frage, welche Folgewirkungen diese Konzeption für die Gewissensfreiheit entfaltet. Zöge man die unmittelbare Parallele zur Glaubensfreiheit, die sich nach dem der Arbeit zugrundeliegenden Verständnis allein auf die Gewährleistung des forum internum - das Recht, einen Glauben zu bilden und innezuhaben bzw. keinen Glauben zu bilden und innezuhaben - erstreckt, wäre die Gewissensfreiheit ebenfalls auf diesen Bereich beschränkt. Es fragt sich, ob ein derart enges Verständnis der Gewissensfreiheit tatsächlich intendiert war oder ob - und auf welchem dogmatischen Weg - sich diese nicht auch auf das Bekenntnis und die Ausübung erstrekken muß. 74

aa) Reichweite der Gewissensfreiheit

Der Begriff des Gewissens läßt von seinem Wortlaut her ebensowenig wie der Begriff des Glaubens eine Auslegung zu, die bestimmte gewissensgeleitete Verhaltensweisen von vornherein einbezieht. Was die Systematik anbetrifft, so finden sich in Art. 4 GG an zwei Stellen Aussagen zur Gewissensfreiheit: Im ersten Absatz wird generell die Gewissensfreiheit garantiert, im dritten Absatz das Recht zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Aus der gesonderten Statuierung des Kriegsdienstverweigerungsrechts aus Gewissensgründen können unter systematischen Gesichtspunkten auf den ersten Blick zwei einander widersprechende Ergebnisse hergeleitet werden. Zum einen könnte daraus der Schluß gezogen werden, daß sich der Schutz des Art. 4 GG im Grundsatz allein auf das forum internum der Gewissensfreiheit erstreckt und daneben nur ein Sonderfall der Gewissensausübung, nämlich das Recht zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen, garantiert ist. Zum anderen könnte aus der gesonderten Gewährleistung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen aber auch der Schluß 74 Grundlegend zur Gewissensfreiheit Böckenförde,

VVDStRL 28 (1970), 33 ff.

286 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

gezogen werden, daß mit der gesonderten Regelung nur ein besonders heikler Einzelfall, der bei der Entstehung von Art. 4 GG Gegenstand vielzähliger Diskussionen gewesen war, eine ausdrückliche Absicherung erfahren sollte, im übrigen das Recht auf Bekenntnis und Ausübung des Gewissens aber bereits in den Absätzen 1 und 2 enthalten ist. 75 Für eine bloße Hervorhebung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung spricht, daß das Charakteristikum von Art. 4 GG in Abgrenzung zu den anderen grundgesetzlichen Bestimmungen gerade (auch) darin besteht, bestimmten Verhaltensweisen, die aus einer qualifizierten Verpflichtungssituation hervorgehen, besonderen Schutz zukommen zu lassen.76 Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob diese Verpflichtung einer Religion, einer Weltanschauung oder dem Gewissen entspringt, da die Gefährdungslage stets die gleiche ist. Daß dieser Schutz sich nicht ausschließlich auf das forum internum bezieht, zeigen die Absätze 1 und 2, die die vor allem für die Religionsfreiheit typische Bekenntnis- und Ausübungsfreiheit ausdrücklich nennen. Die systematische Gegenüberstellung mit der Meinungs- und der Wissenschaftsfreiheit 77 zeigt, daß sich der Schutz der Bekenntnis- und Ausübungsfreiheit auf alle Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG erstrecken muß, da Religion, Weltanschauung und Gewissen aufgrund der Unbedingtheit der Anforderungen eine vergleichbare Gefährdungslage mit sich bringen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß Art. 4 Abs. 3 GG einen geschichtlich wie politisch schwierigen Sonderfall ausdrücklich regelt, ansonsten aber das Gewissensbekenntnis bereits von Art. 4 Abs. 1 GG, die Gewissensausübung von Art. 4 Abs. 2 GG geschützt ist. Für dieses Ergebnis spricht auch der Zweck von Art. 4 GG, allen jenen Verhaltensweisen, die aus einer qualifizierten - religiösen, weltanschaulichen oder gewissensmäßigen - Verpflichtung heraus entstehen, einen besonderen Schutz zukommen zu lassen. Diesem Zweck entspricht nur eine Auslegung von Art. 4 GG, die das Gewissensbekenntnis in den Schutz des Absatzes 1 und die Gewissensausübung in den Schutz des Absatzes 2 einbezieht. bb) Folgerungen

Art. 4 GG schützt danach nicht nur das forum internum der Gewissensfreiheit, sondern wie die Religions- und die Weltanschauungsfreiheit auch das Bekenntnis und die Ausübung. Mit Blick auf den Schutzumfang des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unterscheidet sich der hier vorgestellte Ansatz damit nur teilweise von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der Ansicht der herrschenden Lehre. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß nicht pauschal jedes nur irgendwie (mittelbar) glaubens- und gewissensgeleitete Handeln dem Schutz von 75 Die Kontroversen um die Aufnahme des Kriegsdienstverweigerungsrechts in das Grundgesetz hat Matz, (JöR 1 [1951]. S. 76 f.) zusammenfassend dargestellt. ™ Vgl. dazu oben S. 268 ff., 275 f. 77

Dazu oben S. 270 ff.

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

287

Art. 4 Abs. 1 und 2 GG unterstellt wird. Geschützt sind neben dem Innehaben nur das Äußern sowie alle unmittelbar aus dem Glauben und Gewissen sich ergebenden Handlungspflichten. Diese Konkretisierung führt zu einer stärkeren Konturierung des Schutzbereichs durch Präzisierung der einzelnen Gewährleistungen und dürfte im Regelfall eine klarere Aussage über die Einbeziehung in bzw. Ausgrenzung aus dem Schutzbereich von Art. 4 GG ermöglichen.

B. Die Schrankenproblematik des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Die Frage nach der Beschränkbarkeit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit erlangt Bedeutung, wenn die religiösen oder weltanschaulichen Ansichten aus dem forum internum heraustreten. Erst die Berührung mit der Außenwelt gibt Anlaß für mögliche Kollisionen mit staatlichen Interessen oder den Interessen Dritter. Eine Einschränkung auf der Ebene des forum internum steht - zumal außer dem Ausnahmefall der Gehirnwäsche keine weiteren Anwendungsfälle denkbar sind regelmäßig nicht zur Diskussion.78 Die Problematik der Schrankenregelung konzentriert sich daher auf das religiös bzw. weltanschaulich geleitete Verhalten. Die Frage nach der Einschränkbarkeit dieses Verhaltens ist zu keinem Zeitpunkt Gegenstand einer besonders intensiven Diskussion gewesen.79 Zwar wurde die Problematik in den ersten beiden Jahrzehnten nach Verabschiedung des Grundgesetzes von Seiten des Schrifttums wiederholt aufgeworfen. Seither finden sich jedoch nur noch sporadisch Stimmen, die den vom Bundesverfassungsgericht eingeschlagenen Weg - dem zufolge Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden kann - kritisch hinterfragen. Die scheinbare Vernachlässigung der Schrankenproblematik vermittelt den Eindruck, als ob der vom Bundesverfassungsgericht vorgezeichnete Weg inzwischen auf nahezu uneingeschränkte Anerkennung stößt. Um so mehr gilt es den Blick auf jene Stimmen im Schrifttum zu richten, die abweichende und differenzierte Lösungsansätze vertreten. Im ersten Kapitel sind bereits die drei grundsätzlich gangbaren Wege aufgezeigt worden, die zur Beschränkung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG herangezogen werden: 80 (1) Die ganz überwiegende Meinung im Schrifttum folgt dem Bundesverfassungsgericht und sieht im kollidierenden Verfassungsrecht die einzig zulässige Beschränkungsmöglichkeit. (2) Daneben wird in der Literatur vereinzelt die Übertragung der Schranken anderer Grundrechte, insbesondere der Schranken der allgemeinen Gesetze des Art. 5 Abs. 2 GG sowie - in modifizierter Form - des Art. 2 78

Zu diesem Ergebnis gelangen auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 8 und Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301 (306). 79 Vgl. zur neu aufgekommenen Diskussion unten Nachtrag S. 349 ff. 80 Nähere Ausführungen zur Begründung der vom Bundesverfassungsgericht sowie vom Schrifttum herangezogenen Schranken oben S. 50 ff.

288 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Abs. 1 GG, herangezogen. (3) Zuletzt greifen einige Autoren für eine Beschränkung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auf die über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierte Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV zurück. Die einzelnen Vorschläge verdienen kritische Betrachtung.

I. Ablehnung einer Übertragung der Schrankenregelung anderer Grundrechte Von den drei zur Beschränkung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG beschrittenen Wegen ist die (analoge) Übertragung von Schranken anderer Grundrechte von vornherein abzulehnen. Der gegen diesen Beschränkungsversuch sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch von der herrschenden Ansicht im Schrifttum vorgebrachte Einwand der Schrankenspezialität ist zutreffend und überzeugend.81 Das Grundrechtssystem, das durch eine Schrankenregelung mit graduellen Unterschieden bewußt eine Abstufung der Eingriffsmöglichkeiten in den Schutzbereich vorsieht, würde aus den Angeln gehoben, wenn die Schranken eines Grundrechts auf andere, schrankenlos gewährleistete Grundrechte übertragen werden könnten. Eine Ausdehnung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG scheitert aber auch aus einem weiteren Grund: Die gegenüber der allgemeinen Handlungsfreiheit spezielleren Einzelgarantien würden in ihrer Stellung und Funktion von vornherein grundlegend relativiert, wenn die - auch modifizierte - Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 1 GG ohne weiteres auf andere Grundrechte übertragen werden dürfte. Nach alledem scheidet eine Erstreckung der Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ebenso aus wie die Übertragung der Schranken der oftmals als „Auffanggrundrecht" bezeichneten allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Sofern eine im Grundgesetz statuierte Schrankenregelung zur Beschränkung der individuellen Religionsfreiheit überhaupt in Betracht kommt, kann dies nur die vom Wortlaut her einschlägige Regelung des - über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten - Art. 136 Abs. 1 WRV sein, die sich ausdrücklich auf die Religions(ausübungs)freiheit bezieht.82

II. Die Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV Während aus den angegebenen Gründen verständlich ist, daß von einer Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG überwiegend abgesehen wird, ist weit weniger nachvollziehbar, warum die Regelung des 81 Gegen eine derartige Übertragung der Schranken anderer Grundrechte auf Art. 4 GG sprechen sich u. a. aus: Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 86; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 89; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 53; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 7, 45. 82 Um die Lesbarkeit zu erleichtern, wird im folgenden darauf verzichtet, die Überleitungsvorschrift des Art. 140 GG stets von neuem (mit) zu zitieren.

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

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Art. 136 Abs. 1 WRV in der Schrankendiskussion - insbesondere der letzten drei Jahrzehnte - ein Schattendasein fristet. Im Gegensatz zu anderen Versuchen einer Schrankenübertragung steht Art. 136 Abs. 1 WRV in einer eindeutigen Beziehung zum Gewährleistungsgehalt des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und statuiert bei unbefangener Betrachtung des Wortlauts eine ausdrückliche Schranke zumindest für die Religionsausübung. Die Durchsicht der Kommentarliteratur zeigt, daß eine beachtliche Zahl an Kommentatoren von Art. 4 GG und Art. 136 ff. WRV - mehr oder weniger deutlich ausgesprochen - zu dem Ergebnis gelangt, Art. 136 Abs. 1 WRV könne zumindest der in Art. 4 Abs. 2 GG gewährleisteten Religionsausübung Schranken setzen.83 Überraschend ist, daß diese Stimmen der Kommentarliteratur im übrigen Schrifttum kaum Entsprechung finden. Die ganz überwiegende Mehrheit der Autoren setzt sich in den Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewidmeten Schriften nicht eingehender mit der Schrankenproblematik auseinander, sondern folgt ohne weitere Diskussion der vom Bundesverfassungsgericht gezogenen Linie, die Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke nicht anerkennt. 84 Im übrigen sind auch jene Autoren, die sich mit der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV befassen, in ihren Ausführungen eher zurückhaltend. Im Regelfall wird Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke nur knapp abgehandelt. In den meisten Fällen fehlt eine Auseinandersetzung mit der herrschenden, vom Bundesverfassungsgericht mitgetragenen Ansicht. 85 Hinzu kommt, daß einige Kommentatoren zwar der Tendenz nach Art. 136 Abs. 1 WRV als Schrankenregelung des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG anerkennen, jedoch vor einem eindeutigen Bekenntnis zu dieser Schranke zurückschrecken und das Ergebnis durch relativierende Formulierungen zu entschärfen suchen. So taucht beispielsweise bei Zippelius gleich zu Beginn seiner Ausführungen zu Art. 136 Abs. 1 WRV das der Gewinnung letztendlicher Klarheit eher hinderliche Wort „wohl" auf: „Wohl aber können auf Grund des Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV Beschränkungen der Religionsfreiheit stattfinden". Ähnlich äußert sich v. Campenhausen, der sich dafür ausspricht, „den Vorrang der staatsbürgerlichen Pflichten vor der Religionsausübung wenigstens im Grundsatz auch weiterhin anzuerken-

83 Vgl. v. Campenhausen, in: HdStR, § 136 Rdnr. 82; Ehlers, in: Sachs, GG, Art. 140 Rdnr. 4; ders., in: Sachs, GG , Art. 140-Art. 136 WRV Rdnr. 4; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4 Rdnr. 17; Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46 ff. Anders hingegen Kokott, in: Sachs, GG, Art. 4 Rdnr. 58 ff.; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 53. 84 So beispielsweise Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301 (305 ff.); Steiner, JuS, 1982, 157 (162 f.). 85 Ohne Auseinandersetzung mit der herrschenden Meinung befürworten u. a. Starck (in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46) und Stolleis (JuS 1974, 770 [773 f.]) eine Übertragung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG. 86 v. Campenhausen, in: HdStR, Art. 4 Rdnr. 82; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 89. 19 Rathke

290 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Die Wahl vager Formulierungen ist offenbar Ausdruck einer großen Unsicherheit im Umgang mit der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV. Eine Ursache dafür mag in der Widersprüchlichkeit begründet liegen, die sich aus der im Parlamentarischen Rat vorgenommenen Streichung der - im damaligen Art. 7 Abs. 2 vorgesehenen - Schrankenregelung einerseits und der Existenz der ins Grundgesetz inkorporierten Bestimmung des Art. 136 Abs. 1 WRV andererseits ergibt. 87 Bevor im weiteren Art. 136 Abs. 1 WRV näher analysiert wird, sollen zunächst die Argumentationslinien sowohl der Gegner als auch der Befürworter einer Übertragung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ins Gedächtnis gerufen werden.

1. Kritiker einer Übertragung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 Abs. 1 und2GG

Vom Bundesverfassungsgericht und weiten Teilen des Schrifttums wird geltend gemacht, die Regelung des Art. 136 Abs. 1 WRV sei angesichts der unter dem Grundgesetz gewandelten Bedeutung der Religionsfreiheit von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG „überlagert" worden. Als entscheidendes Argument wird angeführt, daß die Religionsfreiheit unter dem Grundgesetz - im Gegensatz zu Art. 135 WRV, der die Religionsfreiheit unter den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze stellte - vorbehaltlos gewährleistet werden sollte. Damit sei eine Schranke wie die des Art. 136 Abs. 1 WRV nicht zu vereinbaren. 88

2. Befürworter einer Übertragung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 Abs. 1 undlGG

Jene Autoren, die eine Übertragung der Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG befürworten, verweisen im Regelfall lapidar darauf, daß Art. 136 WRV durch die Inkorporierung über Art. 140 GG voll gültiges und gleichrangiges Verfassungsrecht geworden sei, damit neben Art. 4 Abs. 1 und 2 GG trete und diesen ergänze. 89 Starck führt seine Argumentation darüber hinaus zu der These, das Fehlen einer Schrankenregelung in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG könne überhaupt nicht anders erklärt werden als mit der Übernahme der Schrankenregelung der Weimarer Verfassung in das Grundgesetz.90 87

Die im Parlamentarischen Rat gestrichene Schrankenregelung des seinerzeitigen Art. 7 Abs. 2 lautete: „Die ungestörte Religionsausübung wird im Rahmen der allgemeinen Gesetze gewährleistet". Zur Entwicklung der grundgesetzlichen Garantie der Religions- und Weltanschauungsfreiheit sowie zum vollständigen Wortlaut des Art. 7 oben S. 279 f. 88 Vgl. zu dieser Argumentation ausführlich oben S. 50 ff. S9 Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46; Stolleis, JuS 1974, 770 (773 f.); in diesem Sinne wohl auch v. Campenhausen, in: HdStR, Art. 4 Rdnr. 82. 90 Starck, in: v. Mangoldt /Klein /Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46.

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

291

3. Auslegung der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV

Die entgegengesetzten Argumentationslinien legen es nahe, Art. 136 Abs. 1 WRV näher zu untersuchen und durch Auslegung zu ermitteln, inwieweit die vorgebrachten Argumente tragfähig sind und überzeugen können. Der Wortlaut von Art. 136 Abs. 1 WRV, dem zufolge die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt werden, formuliert ohne Zweifel eine Schranke für die in Art. 4 Abs. 2 GG garantierte Religionsausübung. Aus der Systematik des Grundgesetzes ergeben sich hingegen für die zu untersuchende Fragestellung widersprüchliche Indizien. Zunächst einmal weist Art. 4 Abs. 1 und 2 GG keine explizite Schrankenregelung auf. Es entsteht bei bloßer Lektüre des Grundrechtsteils des Grundgesetzes der Eindruck eines vorbehaltlos gewährleisteten, nur durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränkbaren Grundrechts. Die Art. 4 GG möglicherweise beschränkende Regelung des Art. 136 Abs. 1 WRV steht vom Grundrechtsteil räumlich weit getrennt im Zusammenhang mit den anderen, über Art. 140 GG in das Grundgesetz inkorporierten Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung, die sich überwiegend mit der kollektiven Seite der Religions- und Weltanschauungsfreiheit befassen. Vielfach wird bereits aus der getrennten Stellung von Art. 136 Abs. 1 WRV und Art. 4 Abs. 1 und 2 GG der Schluß gezogen, Art. 136 Abs. 1 WRV scheide als Schrankenregelung für Art. 4 GG aus.91 Als zusätzliches Argument wird angeführt, ein Grundrecht könne nicht von einer außerhalb des Grundrechtsteils statuierten Schranke begrenzt werden 9 2 Diesen systematischen Erwägungen steht die zu Recht von den Befürwortern der Schrankenregelung hervorgehobene Tatsache gegenüber, daß die Regelungen des Art. 136 ff. WRV durch die Inkorporierung über Art. 140 GG vollgültiges Verfassungsrecht geworden sind. Sie treten damit nach allen dogmatischen Lehren gleichrangig neben die anderen grundgesetzlichen Bestimmungen. Angesichts dieses Befundes verdient die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, nach der Art. 136 Abs. 1 WRV durch den vorbehaltlos gewährleisteten Art. 4 Abs. 1 und 2 GG überlagert werde, berechtigterweise Kritik. 93 Noch weniger schlüssig erscheint 91

So unter anderem die Argumentation von Fehlau, JuS 1993, 441 (445) und Müller-Volbehr, DÖV 1995, 301 (307). 92 So Fehlau, JuS 1993, 441 (445). In diesem Sinne - unter zusätzlichem Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte - auch Böckenförde, VVDStRL 28 (1970), 33 (145 f.) 93 Fehlau versucht die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zu retten, indem er argumentiert, daß das Verfassungsgericht durchaus von der Gleichrangigkeit der beiden Vorschriften ausgegangen und der Eindruck eines Stufenverhältnisses nur durch die wenig geglückte Wahl des Wortes „Überlagerung" aufgekommen sei. Laut Fehlau gelangt das Bundesverfassungsgericht mittels teleologischer Interpretation zu dem genannten Ergebnis (JuS 1993, 441 [445 f.]). Dieser Rettungsversuch Fehlaus ist aller Ehren wert, entspricht aber nicht dem Gedankengang des Bundesverfassungsgerichts, das sich im vorliegenden Kontext deutlich von systematischen und nicht von teleologischen Erwägungen hat leiten lassen. Dar19*

292 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

diese Argumentation, wenn man berücksichtigt, daß das Verfassungsgericht in anderen, auf der Grundlage von inkorporierten Bestimmungen der Weimarer Verfassung ergangenen Entscheidungen ausdrücklich deren Gleichrangigkeit mit den übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes betont. Der Argumentationslinie entsprechend ist in diesem Zusammenhang vom „organischen Ganzen" aller grundgesetzlichen Regelungen die Rede.94 Stimmt auch das Bundesverfassungsgericht der Auffassung zu, daß allen im Grundgesetz verankerten und in das Grundgesetz inkorporierten Garantien dieselbe Bedeutung beizumessen ist, müssen alle jene Argumente, die auf die räumliche Trennung des Art. 136 Abs. 1 WRV vom Grundrechtsteil abstellen, an Bedeutung verlieren. Art. 136 Abs. 1 WRV kann bei der Anwendung und Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht unberücksichtigt bleiben.95 Besitzen zwei gleichrangige Vorschriften einen sich in Teilen überschneidenden Regelungsgegenstand, sind beide Vorschriften unter wechselseitiger Beachtung der jeweils anderen Vorschrift auszulegen. Danach kann Art. 4 Abs. 1 und 2 GG nicht ohne Rücksicht auf Art. 136 Abs. 1 WRV und Art. 136 Abs. 1 WRV nicht ohne Blick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG interpretiert werden. Wie die Systematik vermittelt auch die Entstehungsgeschichte zunächst widersprüchliche Erkenntnisse. Während der Herrenchiemseer-Entwurf noch keine Schrankenregelung für die Religionsfreiheit enthielt, sahen spätere Fassungen - etwa die Fassung, die der ersten Lesung im Parlamentarischen Rat zugrundelag eine ausdrückliche Schrankenregelung vor. 96 Diese wurde erst nach langer Diskussion in der 24. Sitzung des Grundsatzausschusses vom 23. November 1948 gestrichen.97 Die Gründe, die zu dieser Streichung führten, sind unterschiedlicher Art und zeigen, daß eine vorbehaltlose Gewährleistung des Art. 4 GG trotz der Streichung der Schrankenregelung keineswegs allseits intendiert war. Dabei sind zwei Argumente besonders aufschlußreich: Zum einen wird angeführt, daß auf eine gesonderte Schrankenregelung in Art. 4 Abs. 1 GG deshalb verzichtet werden könne, weil die Schranke des Art. 2 Abs. 1 GG (Endfassung) 98 auch auf Art. 4 GG Anwendung finde. 99 Zum anderen wird betont, daß die Gewährleistungen des über hinaus ist keineswegs sicher, daß das Ergebnis des Bundesverfassungsgerichts durch teleologische Auslegung gerechtfertigt werden kann. 94 So unter anderem in BVerfGE 19, 206 (219); 19, 226 (236); 53, 366 (400). 95 In diesem Sinne auch Ehlers, in: Sachs, GG, Art. 140 Rdnr. 4; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46 ff. 96 Art. 7 Abs. 2, der der ersten Lesung im Parlamentarischen Rat zugrundelag, lautete: „Die ungestörte Religionsausübung wird im Rahmen der allgemeinen Gesetze gewährleistet". 97 Drucksachen des Parlamentarischen Rats Nr. 308, 1 (2 f.). Die Streichung der Schranke war neben der Verankerung der Kriegsdienstverweigerung der umstrittenste Punkt bei den Beratungen des heutigen Art. 4 GG. 98 Sowohl dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG als auch der Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung" lag zunächst allerdings ein wesentlich engeres Verständnis als heute zugrunde. Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 53 f. 99 So u. a. Süsterhenn, Drucksachen des Parlamentarischen Rates Nr. 308, 1 (2).

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

293

Art. 4 GG ohnehin unter dem Vorbehalt der in den elementaren Bestimmungen des Straf-, Polizei- und Ordnungsrecht verankerten Rechte Dritter stünden. Letztere Argumentation geht zwar über die Frage einer Schrankenregelung hinaus, da sie bereits zu einer immanenten Beschränkung des Schutzbereichs führt; sie ließ jedoch bei zahlreichen Abgeordneten eine ausdrückliche Schrankenregelung entbehrlich erscheinen. 100 Diese Argumente zeigen, daß die Streichung der ausdrücklichen Schrankenregelung nicht ohne weiteres mit einer vorbehaltlosen Gewährleistung der Religionsfreiheit verbunden wurde. Auch teleologische Erwägungen sprechen dafür, daß die Religionsausübungsfreiheit nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bezweckt zwar über den Schutz des forum internum hinaus auch den Schutz des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sowie der entsprechenden Ausübung. Die Erreichung dieses Zwecks hängt jedoch nicht wesentlich davon ab, daß Art. 4 GG vorbehaltlos gewährleistet wird. Gegen diese Annahme sprechen vor allem zwei Argumente: Zum einen die Erfahrungen mit dem strukturell in mancher Hinsicht vergleichbaren Grundrecht auf Meinungsfreiheit, zum anderen die Verankerung einer Schrankenregelung in der entsprechenden Gewährleistung der EMRK: Der Meinungsfreiheit wird im demokratischen Staat - ebenso wie der Religionsund Weitanschauungsfreiheit - eine zentrale Rolle beigemessen. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Meinungsfreiheit als eines der „vornehmsten Menschenrechte überhaupt" 101 und als konstituierend für ein freiheitlich-demokratisches Gemeinwesen.102 Trotz dieser herausragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit wird sie nicht schrankenlos gewährleistet, sondern unterliegt den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG, vor allem der Schranke der allgemeinen Gesetze. Gerade bei der Meinungsfreiheit zeigt sich, daß die Existenz einer Schrankenregelung nicht zum Bedeutungsverlust der Gewährleistung führen muß, sofern mit dem Bundesverfassungsgericht und ihm folgend der Literatur die Schranke der allgemeinen Gesetze durch die sog. Wechselwirkungslehre ergänzt wird. Allgemeine Gesetze dürfen die Meinungsfreiheit danach nur einschränken, wenn sie nicht speziell auf bestimmte Meinungen Zugriff nehmen und im Rahmen einer Abwägung der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts ausreichend Rechnung tragen. 103 Eine vergleichbare Konstruktion ermöglicht es ohne weiteres, die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV ernst zu nehmen, ohne den Gewährleistungsgehalt von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG auszuhöhlen. Ein weiteres Indiz dafür, daß die Religionsfreiheit als zentrales Grundrecht durchaus mit einer Schrankenregelung versehen sein kann, ergibt sich aus Art. 9 100

Die Auffassung, daß (auch) Art. 4 GG immanenten Schranken unterliegt, ist auch in späteren Jahren immer wieder vertreten worden. Vgl. u. a. Häberle, DÖV 1969, 385 (387); Kriele, JA 1984, 629 (630); Obermayer, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 140 Rdnr. 63. ιοί BVerfGE 7, 198(208). 102 BVerfGE 7, 198 (208); 20, 162 (174); 62, 230 (247); 76, 196 (208 f.). 103 Zur Wechselwirkungslehre BVerfGE 7, 198 (208); 66, 116 (150); 71, 206 (214).

294 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

EMRK. Die in Absatz 1 gewährte Religions- und Weltanschauungsfreiheit unterliegt in Absatz 2 einer ausdrücklichen Schrankenregelung, die im wesentlichen der Schranke der allgemeinen Gesetze in Art. 5 Abs. 2 GG entspricht. 104 Dies legt den Schluß nahe, daß die Bedeutung eines Grundrechts nicht ohne weiteres davon abhängt, ob es vorbehaltlos gewährleistet wird oder nicht, sondern von der konkreten Ausgestaltung der Schrankenregelung und dem Ausmaß an möglichen Schutzbereichsbeschränkungen. Um so mehr ist es angezeigt, die ausdrücklich vorgesehene Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV ernst zu nehmen. Die Auslegung spricht nach alledem dafür, daß Art. 136 Abs. 1 WRV als Schrankenregelung bei Art. 4 GG nicht unberücksichtigt bleiben kann. Damit ist freilich noch keine Antwort auf die Frage gegeben, ob neben der Religionsausübung auch die Ausübung der Weltanschauung dieser Beschränkung unterliegt und inwieweit sich die Beschränkung auch auf die Bekenntnisfreiheit erstreckt. 4. Reichweite der Schrankenregelung

a) Einbeziehung der Weltanschauungsausübung Nach dem Wortlaut des Art. 136 Abs. 1 WRV erstreckt sich die Schranke nur auf die Religionsausübung. Die Ausdehnung der Schranke auch auf die Ausübung der Weltanschauung kann jedoch - unter Rückgriff auf bereits vorgebrachte Argumente - bejaht werden. Im Gegensatz zu Art. 135 WRV nimmt das Grundgesetz keine Differenzierung zwischen der Religions- und der Weltanschauungsfreiheit vor, sondern läßt beiden einen identischen Schutz zukommen. 105 Dementsprechend muß die aus der Weimarer Verfassung stammende Schrankenregelung, die sich aufgrund der damals alleinigen Absicherung der Religionsfreiheit nur auf die Religionsausübung beziehen konnte, angesichts der unter dem Grundgesetz gewandelten Situation auf die Ausübung der Weltanschauung ausgedehnt werden. 106 104 Art. 9 Abs. 2 EMRK lautet: „Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit darf nicht Gegenstand anderer als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind." Vgl. dazu Blum, Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK, S. 1 ff. 105 Zur ausführlichen Herleitung der Gleichsetzung von Religion und Weltanschauung unter dem Grundgesetz oben S. 268 ff. 106 Von den Vertretern des Schrifttums, die Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke der Religionsfreiheit akzeptieren, befürworten namentlich Preuß (in: Alternativ-Kommentar, GG, Art. 4 Rdnr. 29 f.) und Starck (in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 48) eine Ausdehnung der Schranke auf die Weltanschauungsfreiheit, während v. Campenhausen (in: HbStR, § 136, Rdnr. 82) und Ehlers (in: Sachs, GG , Art. 140 Rdnr. 4) die Frage offen lassen. Zippelius hält sich an den Wortlaut des Art. 136 Abs. 1 WRV und erstreckt die Schranke nur auf die Religionsfreiheit. Dies entspricht seiner engen Interpretation des Art. 4 GG, nach der sich die Ausübungsfreiheit - getreu dem Wortlaut - nur auf die Religion, nicht aber auf die Weltanschauung bezieht.

§15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

295

b) Einbeziehung des gesamten forum externum Steht nach den vorstehenden Ausführungen fest, daß Art. 136 Abs. 1 WRV sowohl der Religions- als auch der Weltanschauungsausübung Schranken setzt, bleibt die Frage, ob sich Art. 136 Abs. 1 WRV über die Ausübungsfreiheit hinaus auch auf die Bekenntnisfreiheit - und damit den gesamten Bereich des forum externum - erstreckt. Der Wortlaut des Art. 136 Abs. 1 WRV läßt keine Zweifel daran, daß nur der Ausübung, nicht auch dem Bekenntnis Schranken gesetzt werden. Art. 136 Abs. 1 WRV ist jedoch mit Blick auf Art. 135 WRV zu interpretieren, der die Religionsfreiheit in der Weimarer Verfassung garantierte. Art. 135 WRV gewährleistete in Satz 1 die Glaubens- und Gewissensfreiheit, in Satz 2 die Freiheit der Religionsausübung. Die Bekenntnisfreiheit erfuhr keine eigene Erwähnung, so daß sich auch in der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV eine gesonderte Bezugnahme auf die Bekenntnisfreiheit erübrigte. 107 Gleichwohl nimmt Art. 135 WRV eine Gegenüberstellung von Glaubens- und Gewissensfreiheit einerseits und Religionsausübungsfreiheit andererseits vor - und damit eine Trennung zwischen dem forum internum und dem forum externum. 108 Verkörpert die Religionsausübung in Art. 135 S. 2 WRV den Bereich des forum externum, bezieht sich die Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV auf eben diesen Bereich. Hinter der Regelung des Art. 136 Abs. 1 WRV steht der Zweck, das gesamte nach außen tretende, über den zumeist unproblematischen Bereich des forum internum hinausgehende religiös motivierte Verhalten bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen. Überträgt man diesen Zweck - die Beschränkung des forum externum - auf die Verfassungslage unter dem Grundgesetz, setzt die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV nicht nur der Ausübungsfreiheit, sondern auch der Bekenntnisfreiheit Grenzen. 109 Eine vorbehaltlose Gewährleistung der Bekenntnisfreiheit widerspräche dem Zweck von Art. 136 Abs. 1 WRV. 1 1 0

c) Folgen für das Verständnis von Art. 136 Abs. 1 WRV Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen bezieht sich die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV sowohl auf die religiöse als auch auf die weltanschauliche Bekenntnis- und Ausübungsfreiheit. Die Schrankenregelung des Art. 136 107

Die Bekenntnisfreiheit wurde nach verbreiteter Ansicht unter der Weimarer Verfassung vom Recht auf freie Meinungsäußerung umfaßt; vgl. Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 135 Anm. 4. 108 Vgl. d a z u di e Ausführungen von Anschütz, in: ders., Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 135 Anm. 4 f. 109 Ebenso unterwirft Starck (in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 48) neben der Ausübung auch das Bekenntnis der Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV. no Damit ähnelt die jetzige Rechtslage in gewisser Weise jener unter der Weimarer Verfassung, nach der die Bekenntnisfreiheit - durch die Einbeziehung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit - ebenfalls der Schranke der allgemeinen Gesetze unterlag.

296 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Abs. 1 WRV ist von ihrer Formulierung und Zwecksetzung her, vor allem aber aufgrund des systematischen Zusammenhangs von Art. 136 Abs. 1 und Art. 135 S. 3 WRV als qualifizierter Vorbehalt der allgemeinen Gesetze im Sinne des heutigen Art. 5 Abs. 2 GG zu verstehen. 111 Dabei gilt es zu beachten, daß das Grundgesetz - wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat - eine organische Einheit verkörpert und die Schrankenregelung des Art. 136 Abs. 1 WRV nicht beziehungslos neben den Garantien des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG steht. Die beiden Vorschriften stehen in einem wechselseitigen Bezug, so daß die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV nicht ohne Rücksicht auf die wertsetzende Bedeutung von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Anwendung finden kann. Dementsprechend ist unter Anwendung der zu Art. 5 Abs. 2 GG entwickelten Wechselwirkungslehre stets zu ermitteln, ob bei den Beschränkungen der Bekenntnis- oder Ausübungsfreiheit der wertsetzenden Bedeutung der betroffenen Garantien ausreichend Rechnung getragen wurde. 112 Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die einzelnen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG niedergelegten Garantien unterschiedlich weitreichenden Einschränkungen unterliegen. Ähnlich wie bei Art. 12 Abs. 1 GG besteht ein Stufengefälle: Je weiter das religiös oder weltanschaulich motivierte Verhalten aus dem forum internum hinaustritt, um so mehr Berührungspunkte mit Dritten und um so mehr Konfliktpotential trägt es in sich. Dementsprechend sind Beschränkungen um so eher zulässig, je weiter der Bereich des forum internum verlassen wird. Während die Glaubensfreiheit als forum internum keinen Einschränkungen unterliegt, sind Bekenntnis- und Ausübungsfreiheit in unterschiedlicher und zur Ausübungsfreiheit hin zunehmender Intensität Beschränkungen unterworfen. Unterliegt die Schranke der allgemeinen Gesetze der Wechselwirkungslehre und werden gesteigerte Rechtfertigungsanforderungen gestellt, je weiter sich die Maßnahme dem Kernbereich der Glaubensfreiheit nähert, führt die vorgestellte Konzeption - trotz der Existenz eines ausdrücklichen Schrankenvorbehalts - im Regelfall zu ähnlichen Ergebnissen wie der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre. Eine explizite Schrankenregelung bringt jedoch in jedem Fall den Vorteil größerer Rechtsklarheit mit sich. 113 Sie vermeidet von vornherein 111

Entscheidend für diese Auslegung ist insbesondere der systematische Zusammenhang, der unter der Weimarer Verfassung zwischen Art. 136 Abs. 1 WRV und Art. 135 S. 3 WRV bestand. Vgl. dazu die weitergehenden Ausführungen oben S. 55 ff. 112 Alle Autoren, die für die Anwendung des Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG plädieren, sprechen sich für eine Übertragung des Wechselwirkungsgedankens auf Art. 136 Abs. 1 WRV aus; vgl. nur v. Campenhausen, in: HbStR, § 136 Rdnr. 421; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 89. Nicht so eindeutig, aber im Ergebnis wohl übereinstimmend, Ehlers, in: Sachs, GG , Art. 140 Rdnr. 4. 113 In diesem Sinne auch Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 46 und Fehlau fJuS 1993, 441 [446]), der sich allerdings nicht für Art. 136 Abs. 1 WRV als Schranke ausspricht, sondern generell die Statuierung einer ausdrücklichen Schrankenregelung für wünschenswert hält; a.A. Μ iiiler-Volbehr (DÖV 1995, 301 [309]), der einen expliziten Gesetzesvorbehalt nicht als Gewinn betrachtet.

§ 15 Die individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG

297

den falschen Eindruck, daß die Religions- und Weltanschauungsfreiheit das gesamte, nur irgendwie glaubensgeleitete Handeln vorbehaltlos gewährleisten würde. Gerade in einem so sensiblen Bereich ist eine Klarstellung wichtig. Sie beugt Mißverständnissen vor, die dadurch entstehen, daß das gesamte glaubensgeleitete Handeln als schrankenlos gewährleistet erscheint, obwohl dies in der Sache nicht zutrifft. d) Auswirkungen der Schrankenproblematik auf die Gewissensfreiheit Auch auf der Schrankenebene stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die hier vertretene Konzeption auf die Gewissensfreiheit hat. Entscheidend ist, inwieweit die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV neben der Weltanschauungsfreiheit auch auf die Gewissensfreiheit übertragen werden kann. Daß sich dem Wortlaut keine Einbeziehung der Gewissensfreiheit entnehmen läßt, liegt auf der Hand. Art. 136 Abs. 1 WRV kann jedoch - wie bereits erwähnt - nicht losgelöst von Art. 4 GG gelesen werden. Art. 4 GG gewährleistet neben der Religions- und der Weltanschauungsfreiheit auch die Gewissensfreiheit, die allesamt vom Bilden und Innehaben über das Bekenntnis bis hin zur Ausübung reichen. Religion, Weltanschauung und Gewissen stehen gleichrangig nebeneinander, keiner der Freiheiten wird ein größeres oder geringeres Gewicht beigemessen als den beiden anderen Freiheiten. Ist demnach auf Schutzbereichsebene unter systematischen Gesichtspunkten eine Gleichstellung der einzelnen Freiheiten gewollt, liegt dies auch für die Schrankenebene nahe. Die Systematik spricht dafür, die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV auch auf die Gewissensfreiheit zu übertragen. Gleiches gilt für den Zweck der Regelung. Der ursprüngliche Zweck von Art. 136 Abs. 1 WRV war zum einen die wiederholende Bekräftigung des bereits in Art. 135 S. 3 WRV statuierten Vorbehalts der allgemeinen Gesetze, zum anderen der Vorgriff auf das in Art. 136 Abs. 2 WRV formulierte Gebot, die Ausübung der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte unabhängig vom religiösen Bekenntnis zu garantieren. Die gebotene Zusammenschau mit Art. 4 GG zeigt jedoch, daß Zweck des Art. 136 Abs. 1 WRV unter dem Grundgesetz nicht allein die Beschränkung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit sein kann. Unter der Weimarer Verfassung wurden weder die Weltanschauung noch das Gewissen in dem Maße garantiert, wie dies unter dem Grundgesetz der Fall ist. Art. 135 WRV nennt zwar die Gewissensfreiheit, ihr kam aber neben der Religionsfreiheit keine eigene Bedeutung zu. 1 1 4 Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß der Gewissensfreiheit weder in Art. 135 S. 3 WRV noch in Art. 136 Abs. 1 WRV eine explizite Schranke gesetzt wurde. Mangels eigenständiger Bedeutung der Gewissensfreiheit konnte die alleinige Beschränkung der Religionsfreiheit ausreichen. Gleichwohl war es maßgebender Zweck des Art. 136 Abs. 1 WRV, das 114 Vgl. dazu bereits oben S. 295.

298 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

nach außen, ins forum externum tretende (religiöse) Verhalten nicht vorbehaltlos zu gewähren. Überträgt man die mit Art. 136 Abs. 1 WRV verfolgte Intention auf die unter dem Grundgesetz geltende Verfassungslage, kann - insbesondere angesichts der Gleichrangigkeit der Garantien - nicht nur das religiös und weltanschaulich geprägte Verhalten der Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV unterliegen. Das gewissensgeleitete Verhalten muß gleichermaßen dem Vorbehalt des Art. 136 Abs. 1 WRV unterstellt sein. Die Auslegung führt danach insgesamt zu dem Ergebnis, daß auch das gewissensgeleitete Verhalten der Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV unterliegt. Nur eine einheitliche Beschränkung der drei Garantien - Religion, Weltanschauung und Gewissen - entspricht der Intention der Verfassung.

§ 16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates Die Darstellung der weltanschaulich-religiösen Neutralität im ersten Kapitel 115 hat ergeben, daß die Religions- und Weltanschauungsfreiheit des einzelnen tatsächlich nur dann hinreichend gewährleistet werden kann, wenn mit ihr die Verpflichtung des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität einhergeht. 116 Der scheinbare Konsens im Grundsätzlichen schwindet jedoch, sobald die konkrete Interpretation der staatlichen Neutralitätspflicht und die daraus zu ziehenden Folgerungen in Rede stehen. Während alle Seiten sich darüber einig sind, daß der Staat den einzelnen nicht aufgrund seiner religiösen oder weltanschaulichen Ansichten bevorzugen oder benachteiligen darf, besteht keine Einigkeit darüber, inwieweit der Staat weltanschauliche oder religiöse Elemente in seinen eigenen Bereich integrieren darf. Auf der einen Seite wird von einer grundsätzlichen Trennung zwischen staatlichem und weltanschaulichem Bereich gesprochen, die Berührungen bis auf die - eng auszulegenden - grundgesetzlich statuierten Ausnahmen in Art. 7 Abs. 3 GG und Art. 137 Abs. 3 WRV ausschließen soll. Auf der anderen Seite werden in mehrfacher Hinsicht Kooperationen zwischen den beiden Bereichen für zulässig erachtet. Im ersten Kapitel wurde bereits hervorgehoben, daß Verständnis und Konzeption der weltanschaulich-religiösen Neutralität maßgeblich vom jeweils vertretenen Staatsverständnis beeinflußt werden. 117 Die Vertreter einer grundsätzlichen Trennung von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich gehen von einer im Grundsatz strengen Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft aus, die nur ausnahmsweise in den verfassungsrechtlich ausdrücklich vorgesehenen Fällen aufgehoben werden kann. Auf der Gegenseite stehen die Verfechter einer 115 V g l . o b e n S. 5 7 ff. 116

So u.a Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 19; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 121. in Vgl. oben S. 61 ff.

§ 16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates

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zwangsläufigen Verschränkung von Staat und Gesellschaft, die zu einer Vielzahl von (unvermeidbaren) Gemengelagen führen soll. Ohne im Rahmen der vorliegenden Untersuchung näher auf die einzelnen Vorverständnisse eingehen zu können, bedarf es einer (kurzen) Verortung der eigenen Position als Grundlage für die weiteren Überlegungen. Der Arbeit liegt die Annahme zugrunde, daß eine strikte Gegenüberstellung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich dem Wesen des modernen Staates nicht entspricht. Die vielfältigen Verschränkungen und Verflechtungen sind zu offensichtlich, als daß von einer klaren und strikten Trennung ausgegangen werden könnte. Trotz der Annahme einer grundsätzlichen Verflechtung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich ist die Stellung des einzelnen und seiner Rechte jedoch unterschiedlich stark, da der Grad der Trennung bzw. Verschränkung in den konkreten Konstellationen verschieden ausfallen kann. Böckenförde stellt in diesem Zusammenhang zu recht heraus, daß mindestens zwei Bereiche voneinander zu unterscheiden sind: Der ursprüngliche hoheitliche Bereich, zu dem Legislative, Exekutive und Judikative zählen auf der einen Seite, auf der anderen der Bereich ursprünglich gesellschaftlicher Aufgaben, die der Staat zwar in seine Obhut genommen hat, die jedoch weiterhin den „Charakter sozialer Gebilde" tragen. 118 In dem zuletzt genannten Bereich besteht ein Schnittfeld eigener Art, in dem staatliche und gesellschaftliche Interessen miteinander verwoben sind. Die sich daraus ergebenden Besonderheiten führen dazu, daß es dem einzelnen nicht verwehrt sein kann, seine Rechte und Eigenarten in diesen staatlichen Bereich hineinzutragen. Dem Staat obliegt die Pflicht, ausreichenden Raum für die angemessene Entfaltung der entsprechenden Freiheitsrechte zur Verfügung zu stellen, ohne dabei seine eigenen Bindungen zu vernachlässigen. Für die Ansicht Krügers, nach der sich der einzelne mit Eintritt in den staatlichen Bereich seiner Eigenarten entledigt, 119 verbleibt danach in diesen Bereichen ebensowenig Raum wie für jene Vertreter im Schrifttum, die von einer strikten Trennung des gesellschaftlichen vom staatlichen Bereich ausgehen.120 Übernimmt der Staat gesellschaftliche Aufgabenfelder, werden daraus zwar staatliche Aufgaben. Diesen Aufgaben kommt jedoch eine andere Qualität zu als den Aufgaben im originär hoheitlichen Bereich. Aus der Annahme einer Gemengelage zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Bereich kann allerdings nicht ohne weiteres auf die Zulässigkeit einer weitgehenden Kooperation von staatlichem und religiös-weltanschaulichem Bereich geschlossen werden. Ein solcher Schluß ist alles andere als zwingend. Die Feststellung, daß der einzelne seine Rechte mit in die vom Staat übernommenen, ursprünglich gesellschaftlichen Aufgabenfelder einbringen darf und der Staat einen Raum für die Entfaltung zu schaffen hat, besagt noch nichts für die weitergehende Frage, π« Böckenförde, DÖV 1974, 253 (255). 119 Vgl. hierzu Krüger, Allgemeines Staatsrecht, S. 160. Krügers Ansicht entspricht im übrigen auch nicht der inzwischen in Rechtsprechung und Schrifttum ganz überwiegend anerkannten Geltung der Grundrechte in den sog. besonderen Gewaltverhältnissen. ι 2 0 In diesem Sinne vor allem Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 284.

300 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

inwieweit der Staat selbst für die Integration weltanschaulich-religiöser Elemente in den staatlichen Bereich aktiv Sorge tragen darf. Die Beantwortung dieser Frage ist in weitem Maße verfassungsrechtlich vorgeprägt. Für sie ist entscheidend, ob die Verfassung von einer grundsätzlichen Trennung beider Bereiche ausgeht, die nur in ausdrücklich statuierten, eng begrenzten Ausnahmefällen eine aktive staatliche Integration weltanschaulicher oder religiöser Elemente in den staatlichen Bereich zuläßt, oder ob von Verfassungs wegen auch darüber hinausgehende Kooperationsmöglichkeiten zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich möglich sind.

A. Aussagen des Grundgesetzes zum Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich I. Die einschlägigen Vorschriften Anhaltspunkte dafür, welche Position das Grundgesetz zum Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich einnimmt, lassen sich vor allem den - über Art. 140 GG in die Verfassung inkorporierten - Art. 137 Abs. 1, 136 Abs. 4 und Art. 137 Abs. 6 WRV sowie Art. 7 Abs. 3 und 5 GG entnehmen.

1. Art. 137 Abs. 1 WRV

Eine zentrale Stellung bei der Beantwortung der Frage zum Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich kommt Art. 137 Abs. 1 WRV zu. Diese Vorschrift verbietet die Errichtung einer Staatskirche, sie untersagt dem Staat, sich zu einem bestimmten Glauben zu bekennen. Insofern steht Art. 137 Abs. 1 WRV in einem engen Zusammenhang mit Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, da sich die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG niedergelegte individuelle Religionsund Weltanschauungsfreiheit nur dann uneingeschränkt entfalten kann, wenn der Staat allen Glaubensrichtungen gegenüber eine neutrale Position wahrt. Ein wesentlicher Schritt zur Verwirklichung dieser Freiheit ist das Verbot der Errichtung einer Staatskirche. Nur wenn der Staat sich keinen bestimmten Glauben zu eigen machen darf, ist eine vom Staat unabhängige, gleichberechtigte und freie Entfaltung aller Glaubensrichtungen gewährleistet. Ist es dem Staat nicht möglich, sich zu einem bestimmten Glauben zu bekennen, ist es ihm im Grundsatz auch verwehrt, aktiv weltanschauliche oder religiöse Elemente in seinen Bereich zu integrieren.

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2. Art. 136 Abs. 4 WRV Art. 136 Abs. 4 WRV verkörpert auf den ersten Blick ebenfalls eine Regelung, die eine Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich fordert. Sie untersagt dem Staat, den einzelnen dazu zu zwingen, an einer kirchlichen oder anderweitigen religiösen Übung teilzunehmen oder eine religiöse Eidesform zu benutzen. Gleichwohl wird die Vorschrift teilweise auch für die gegenteilige Ansicht ins Feld geführt, daß dem Staat die Veranstaltung religiöser Übungen zumindest solange gestattet sei, wie er die Freiwilligkeit der Teilnahme sicherstellt. Wenn niemand zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer religiösen Übung gezwungen werden dürfe, setze das voraus, daß religiöse Übungen grundsätzlich staatlich veranstaltet werden dürfen, weil das Verbot, den einzelnen zur Teilnahme zu zwingen, nur dem Staat gegenüber einen Sinn habe. Dies spreche für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit religiöser Übungen in staatlichen Einrichtungen. 121 Eine solche Interpretation geht jedoch über den Inhalt des Art. 136 Abs. 4 WRV hinaus. Aus der Tatsache, daß es dem Staat verboten ist, den einzelnen unter Einsatz von Zwangsmitteln zur Teilnahme an religiösen Übungen zu verpflichten, läßt sich nicht ohne weiteres der Umkehrschluß ziehen, daß derartige Übungen ohne den Einsatz von Zwang erlaubt seien. Es ist durchaus denkbar, daß der Staat seinen Machtapparat dazu einsetzt, den einzelnen zur Teilnahme an einer bestimmten, nicht vom Staat, sondern von einer religiösen Gruppierung organisierten religiösen Veranstaltung zu verpflichten. Ist aber der vermeintliche Umkehrschluß nicht zwingend, kann aus der Vorschrift auch nicht ohne weiteres ein Recht zur staatlichen Veranstaltung religiöser Übungen hergeleitet werden. Das Verbot, den staatlichen Machtapparat im weltanschaulich-religiösen Bereich einzusetzen, ist im Gegenteil ein weiteres Indiz für die geforderte Trennung beider Bereiche. 3. Art. 137 Abs. 6 WRV

Die Regelung des Art. 137 Abs. 6 WRV gewährleistet die staatliche Erhebung von Steuern, die den Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaften zufließen, sofern diese Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. 122 Die Vorschrift sieht anerkanntermaßen eine Kooperation von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich vor, 1 2 3 die jedoch von der Systematik her als Ausnahme konzipiert ist und sich nur entstehungsgeschichtlich erklären läßt. 124 •21 So Hesse, ZevKR 25 (1980), 239 (244). 122 Art. 137 Abs. 6 WRV spricht nur von der staatlichen Steuererhebung zugunsten von Religionsgemeinschaften. Eine Gleichstellung der Weltanschauungsgemeinschaften erfolgt jedoch über Art. 137 Abs. 7 WRV. !23 v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/ Klein/ v. Campenhausen, Bonner GG, Art. 140 Rdnr. 189 ff. m. w. N.; allgemein zur Verfassungsmäßigkeit der Kirchensteuer, Rüfner, NJW 1971, 15 ff.

302 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht 4. Art 7 Abs. 3 GG

Art. 7 Abs. 3 GG ermöglicht es dem Staat, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften Religionsunterricht vorzusehen, sofern es sich nicht um bekenntnisfreie Schulen handelt. Die Vorschrift richtet sich danach - begrenzt auf den Bereich des Religionsunterrichts - ebenfalls auf eine Kooperation zwischen dem staatlichen und dem weltanschaulich-religiösen Sektor. Sie gewährt den Religionsgemeinschaften unter bestimmten, vom Staat vorgegebenen Voraussetzungen Zugang zu den öffentlichen Schulen.

5. Art. 7 Abs. 5 GG Die Vorschrift des Art. 7 Abs. 5 GG legt eine Kooperation zwischen dem staatlichen und dem weltanschaulich-religiösen Bereich erst auf den zweiten Blick nahe. Absatz 5 sieht vor, daß private Volksschulen in Form von Bekenntnis- oder Weltanschauungsschulen nur dann zuzulassen sind, wenn eine entsprechende öffentliche Schule in der Gemeinde nicht existiert. Diese Zulassungsvoraussetzung wäre sinnwidrig, wenn dem Staat nicht zugleich das Recht zustünde, derartige Schulen als öffentliche Schulen zu betreiben. 125 Daß sich die staatliche Berechtigung zur Errichtung öffentlicher Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen nur indirekt aus den Vorschriften über die Zulassung von Privatschulen ergibt, mag unter systematischen Gesichtspunkten nicht sonderlich geglückt erscheinen. Daraus darf jedoch nicht der Schluß gezogen werden, Art. 7 Abs. 5 GG enthielte überhaupt keinen Hinweis auf eine Kooperation zwischen dem staatlichen und dem weltanschaulich-religiösen Bereich. 126 Die Vorschrift sieht - begrenzt auf den Fall der Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen - eine solche Verschränkung vor.

II. Folgerungen für das Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich unter dem Grundgesetz Die Durchsicht der einzelnen Vorschriften zeigt, daß Art. 137 Abs. 1 WRV das kategorische Verbot einer Staatskirche und damit zugleich das Verbot einer Identifizierung des Staates mit einem bestimmten Glauben ausspricht. Demgegenüber beziehen sich Art. 137 Abs. 6 WRV sowie Art. 7 Abs. 3 und 5 GG auf konkrete 124 Zur Entstehungsgeschichte nur v. Campenhausen, in: v. Mangoldt/Klein/v. Campenhausen, Bonner GG, Art. 140 Rdnr. 183 ff., 188. 125 Davon zu trennen ist die weitergehende Frage, inwieweit es dem Staat erlaubt ist, in einem Schulbezirk ausschließlich eine oder mehrere solcher Schulen zu errichten. 126 So aber Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 278.

§ 16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates

303

Einzelfälle und haben - im Gegensatz zu Art. 137 Abs. 1 WRV - einen punktuellen Regelungsgehalt. Dieser Befund läßt erkennen, daß das Grundgesetz von einer grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich ausgeht und nur ausnahmsweise eine Kooperation zwischen diesen beiden Bereichen vorsieht. Die ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehenen Kooperationsmöglichkeiten zwischen den beiden Sektoren sind als Ausnahmeregelungen konzipiert; sie sind daher eng auszulegen und dürfen grundsätzlich nicht auf andere Bereiche übertragen werden. 1. Ablehnung einer laizistischen Konzeption

Die Annahme einer grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich sieht sich rasch dem Vorwurf ausgesetzt, sie plädiere für einen mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbarenden Laizismus. 127 Eine solche Unterstellung ist im Rahmen der Auseinandersetzung um die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates nichts Ungewöhnliches. Sie spiegelt die Mittel wider, die in dieser Auseinandersetzung eingesetzt werden, um durch Überspitzung die gegnerische Position bloßzustellen und als vermeintlich verfassungswidrig zu brandmarken. 128 Besonders anschaulich wird dieses Reaktionsmuster, wenn man sich die Diskussion um den Kruzifix-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vor Augen führt. Ein entscheidender Grund für die aufgeladene Atmosphäre der Auseinandersetzung um die weltanschaulich-religiöse Neutralität liegt darin, daß die Befürwortung einer grundsätzlichen Trennung von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich oft vorschnell mit der Ausklammerung aller weltanschaulichen und religiösen Elemente aus dem staatlichen Bereich - einschließlich der vom Staat in seinen Aufgabenbereich übernommenen sozialen Gebilde - gleichgesetzt wird. Diese Fehlvorstellung wird teilweise auch dadurch genährt, daß einzelne Autoren, die sich für eine Trennung des staatlichen vom weltanschaulichreligiösen Bereich aussprechen, von einer strikten Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft ausgehen und es generell für unzulässig halten, gesellschaftliche Elemente - zu denen auch die Religion oder Weltanschauung des einzelnen gezählt werden - in den staatlichen Bereich einzubringen. 129 Vor diesem Hintergrund werden - je nachdem, welches Verständnis von weltanschaulich-religiöser Neutralität dem Grundgesetz zugrundegelegt wird - weitreichende Konsequenzen für das gesamte Verhältnis von Staat und Gesellschaft befürchtet. 127 So unter anderem Hofmann, (3357).

DVB1. 1967, 439 (441) und Link, NJW 1995, 3353

128 Einen Eindruck vermittelt in dieser Hinsicht das zweite Kapitel der vorliegenden Untersuchung. Dort wird anhand der unterschiedlichen Reaktionen des Schrifttums auf die einzelnen Rechtsprechungsentscheidungen deutlich, daß es sich nicht nur um eine kontrovers diskutierte, sondern insgesamt stark angespannte und aufgeheizte Thematik handelt. Die vorgebrachten Argumente zeichnen sich nicht immer durch Sachlichkeit, sondern durch einen hohen Grad an Emotionalität aus. 1 29 So etwa Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 284.

304 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Der Vorwurf, die grundsätzliche Trennung von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich komme einer laizistischen Staatskonzeption gleich, geht jedoch fehl. Die Annahme einer grundsätzlichen Trennung bedeutet keineswegs, daß die einzelnen gesellschaftlichen Kräfte ihre religiösen oder weltanschaulichen Vorstellungen nicht mehr in den staatlichen oder staatlich geprägten Bereich hineintragen dürften. Sie können dies insbesondere dort tun, wo der Staat ursprünglich gesellschaftliche Belange in seinen Aufgabenbereich übernommen hat. Entscheidend ist stets, daß der Staat sich die religiösen oder weltanschaulichen Elemente nicht zu eigen machen und sich nicht mit ihnen identifizieren darf. Im übrigen entbehrt der Vorwurf des Laizismus unter dem Grundgesetz bereits insofern der Grundlage, als die in Art. 137 Abs. 6 WRV, Art. 7 Abs. 3 und 5 GG ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen einer Kooperation zwischen staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich einer laizistischen Konzeption entgegenstehen.

2. Keine rigorose Ausklammerung aller weltanschaulich-religiösen Elemente aus dem staatlichen Bereich

Auch der gängige Vorwurf, die grundsätzliche Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich führe zu einer Ausklammerung aller weltanschaulich-religiösen Elemente aus dem staatlichen Bereich, entbehrt bei genauerer Betrachtung der Grundlage. Er differenziert ebenfalls nicht ausreichend zwischen der Frage, ob und inwieweit der einzelne und die gesellschaftlichen Kräfte religiöse oder weltanschauliche Elemente in den staatlichen Bereich hineintragen dürfen, und der weitergehenden Frage, ob sich der Staat diese Elemente zu eigen machen und sich mit ihnen identifizieren darf. Als hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang ein Blick auf die amerikanische Rechtslage. Im dritten Kapitel wurde dargelegt, daß in den Vereinigten Staaten mit der Establishment Clause zwar eine strikte Trennung von Staat und Kirche vorgesehen ist, zugleich aber nicht alle religiösen oder weltanschaulichen Elemente aus dem staatlichen Bereich ausgeschlossen sind. 130 Die Entscheidungen des Supreme Court verdeutlichen, daß es nicht um eine pauschale Verbannung religiös-weltanschaulicher Elemente aus dem staatlichen Bereich geht, sondern um die Frage, wer als Initiator und Garant hinter den religiösen bzw. weltanschaulichen Handlungen steht. Ginge es allein um die kategorische Ausklammerung solcher Elemente aus dem staatlichen Sektor, hätten die Gerichte alle Entscheidungen, in denen es um die Verfassungsmäßigkeit bestimmter religiöser Übungen oder Symbole an öffentlichen Schulen ging, mit dem schlichten Verweis auf die Establishment-Clause - das Verbot der Integration weltanschaulicher oder religiöser Elemente in den staatlichen Bereich - treffen können. Daß im Gegenteil stets eine ausführliche Auseinandersetzung mit den betreffenden Belangen vorgenommen wird, ist ein Beleg dafür, daß die Problematik differenzierter beurteilt wird. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die - auch in 130 Eingehend dazu oben S. 152 ff.

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Deutschland bekannte und gelegentlich zitierte - Entscheidung Engel v. Vitale 131, die sich mit der Frage befaßte, ob und inwieweit die gesetzliche Anordnung eines allmorgendlichen überkonfessionellen Schulgebets mit der Verfassung zu vereinbaren ist. Der Supreme Court setzt sich eingehend mit dem Sachverhalt auseinander und kommt am Ende zu keinem einstimmigen Ergebnis. 132 Bezeichnend ist auch, daß alle Vorinstanzen das Abhalten des Schulgebets für zulässig hielten, während der Supreme Court letztlich zu dem Ergebnis gelangt, daß ein staatlich angeordnetes Schulgebet einen Verstoß gegen die Establishment Clause begründet. In einer ähnlichen Entscheidung, in Wallace ν. Jaffree, räumt der Supreme Court den Schülern ausdrücklich die Möglichkeit ein, freiwillig für sich oder zusammen mit anderen in den staatlichen Schulen zu beten, solange dies zu keinen Störungen des Unterrichtsablaufs führt. Das in der Establishmen Clause niedergelegte Trennungsgebot von Staat und Kirche verwehre es dem Staat nur, selbst religiöse Übungen zu veranlassen oder zu veranstalten. 133 Die grundsätzliche Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich führt damit in der Rechtsprechung des Supreme Court nicht zu einer rigorosen Ausklammerung aller weltanschaulichen oder religiösen Momente aus dem staatlichen Sektor. Der einzelne kann in den Schulen seinen religiösen oder weltanschaulichen Pflichten nachkommen. Diese sind lediglich aus Gründen des ordnungsgemäßen Anstaltsablaufs hinsichtlich Ort und Zeit der Ausübung gewissen Einschränkungen unterworfen.

3. Keine staatliche Indifferenz dem weltanschaulich-religiösen

gegenüber Bereich

Die Annahme einer grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich vermittelt häufig den Eindruck, als ob sie mit der staatlichen Verpflichtung zur Indifferenz allen religiösen oder weltanschaulichen Elementen gegenüber einhergehe. Die Wurzeln für diese Schlußfolgerung dürften auch hier bei jenen Autoren zu suchen sein, die ein Staatsverständnis fordern, in dem es zu einer strikten Gegenüberstellung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich kommt. Dem Staat soll danach die Verpflichtung obliegen, allen der Gesellschaft zuzuordnenden Bereichen gegenüber Distanz und Indifferenz zu wahren. Abgesehen davon, daß eine so strikte Trennung von Staat und Gesellschaft 131 370 U.S. 421 ff. (1962). Näher zu dieser Entscheidung oben S. 181 ff. 132 Justice Steward (370 U.S. 421, 445 ff. [1962]) nimmt in seiner abweichenden Meinung eine Verletzung der Establishment Clause nur an, wenn durch die gesetzliche Anordnung eine bestimmte Religion bevorzugt wird. Einen derartigen Sachverhalt sieht er aufgrund der Überkonfessionalität des Gebets nicht als gegeben an. Seines Erachtens ist das Gebet Ausdruck der geschichtlich gewachsenen tiefen religiösen Verwurzelung der amerikanischen Gesellschaft. 133 Vgl. dazu die explizite Aussage von Justice O'Connor in Wallace ν. Jaffree, 472 U.S. 38, 67(1985). 20 Rathke

306 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

den modernen Staat nicht angemessen zu erfassen vermag, 134 kann aus der Befürwortung einer grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich nicht ohne weiteres auf die staatliche Verpflichtung zur Indifferenz geschlossen werden. Eine derartige staatliche Indifferenz wäre mit einem demokratischen Staatswesen, in dem wechselseitige Beziehungen zwischen dem Staat und seinen Bürgern bestehen, nicht zu vereinbaren. 135 Im demokratisch verfaßten Gemeinwesen tragen die Bürger über den politischen Prozeß unweigerlich weltanschauliche und religiöse Elemente in den Staat hinein. 136 Hinzu kommt, daß eine völlige Indifferenz einem Staat, der seinen Bürgern die Religionsfreiheit garantiert, nicht entspricht. Der Religionsfreiheit zur vollen Wirksamkeit verhelfen kann der Staat nur, wenn er dafür Sorge trägt, daß allen Religionen und Weltanschauungen ein ausreichender Entfaltungsspielraum zukommt. Ohne sich mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung identifizieren zu dürfen, ist der Staat gehalten, den Bürgern einen ausreichenden Raum für die Ausübung ihrer grundgesetzlich gewährleisteten Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu sichern. Dabei unterliegt er allerdings der Pflicht zur Gleichbehandlung. Diese staatliche Pflicht zur Gleichbehandlung sollte freilich nicht mit dem immer wieder gebrauchten Stichwort der „Parität" begründet werden. Wegen der historischen Prägung des Paritätsbegriffs, der ursprünglich nur die Gleichbehandlung aller christlichen Glaubensrichtungen forderte, sollte im Gegenteil von der Verwendung des Begriffs nach Möglichkeit Abstand genommen werden. 137 Unter dem Grundgesetz ist die staatliche Verpflichtung zur Gleichbehandlung der einzelnen Religionen und Weltanschauungen auf Art. 3 Abs. 1 und 3 GG zu stützen. 138 Danach unterliegt der Staat nicht einer strikten schematischen Gleichbehandlungspflicht. Sachlich gerechtfertigte Differenzierungen, beispielsweise im Hinblick auf die Größe der religiösen bzw. weltanschaulichen Gruppierung, sind auch unter der Ägide des Gleichheitssatzes zulässig. 139 Daß der Staat trotz der grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich nicht zur Indifferenz verpflichtet ist und ihm eine solche Indifferenz wegen der daraus resultierenden negativen Konsequenzen für die individuelle Religionsfreiheit unter Umständen sogar verwehrt ist, bedeutet 134 Dazu bereits oben S. 63 f. 1 35 So auch Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 21. 1 36 Vgl. dazu Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 21 und Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 20 ff. Weitergehende Ausführungen oben S. 61 f. 1 37 Ausführliche Hinweise zur Entwicklung des Paritätsbegriffs finden sich bei Obermayer, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 140 Rdnr. 87. In diesem Sinne auch Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 140 Rdnr. 47 f. 138 Ebenso Goerlich, NVwZ 1998, 819 (821); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 140 Rdnr. 48; Obermayer, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 140 Rdnr. 87. 139 So auch v. Campenhausen, in: Listi/Pirson (Hrsg.), HdbStKirchR, Bd. 1, S. 76; Hemmrich, in: v. Münch, GG, Art. 140 Rdnr. 5; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 124; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 29.

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nicht, daß der Staat sich aktiv für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung einsetzen darf. Das Bereithalten eines Raumes, in dem sich die Religions- und Weltanschauungsfreiheit des einzelnen verwirklichen kann, stellt etwas qualitativ anderes dar als eine aktive Förderung oder Behinderung einer bestimmten Religion oder Weltanschauung. Hier ist der Staat wegen der Neutralitätspflicht zu strikter Zurückhaltung verpflichtet. Erneut erweist sich ein Blick auf die amerikanische Rechtslage als hilfreich. Trotz der im Grundsatz strikten Trennung von Staat und Kirche ist es dem Staat auch in den Vereinigten Staaten nicht verwehrt, sich mit dem weltanschaulich-religiösen Bereich zu befassen. 140 Der Supreme Court erkannte früh, daß Spannungen zwischen der Establishment Clause - dem strikten Trennungsgebot - und der Free Exercise Clause - der Garantie der individuellen Religionsfreiheit - unvermeidbar sind. Dies gilt insbesondere in jenen Fällen, in denen die strikte Einhaltung der Establishment Clause keinen Raum mehr für die Entfaltung der individuellen Religionsfreiheit beläßt. Da eine solche Aushöhlung der Free Exercise Clause mit der Verfassung nicht zu vereinbaren wäre, erkennt der Supreme Court dem Staat in diesen Fällen nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht zu, für einen angemessenen Ausgleich zwischen Establishment Clause und Free Exercise Clause zu sorgen. Nach ersten zurückhaltenden Versuchen, das Spannungsverhältnis der beiden Klauseln angemessen zu lösen, haben sich im Laufe der Rechtsprechung mit dem Bereich der geforderten Anpassung, dem Bereich der erlaubten Anpassung und dem Bereich der verbotenen Anpassung an die individuelle Religionsfreiheit drei Kategorien herausgebildet, mit denen dem Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich angemessen Rechnung getragen werden kann. 141 Dem Staat, der der Garantie der Religionsfreiheit Rechnung tragen muß, kann es danach trotz der grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich nicht verwehrt sein, sich mit dem weltanschaulich-religiösen Sektor zu befassen. In einigen Fällen ist der Staat im Gegenteil verpflichtet, einen ausreichenden Raum für die angemessene Entfaltung der individuellen Religionsfreiheit zu schaffen. Der Staat unterliegt allerdings auch hier der Bindung, keine Religion oder Weltanschauung zu bevorzu-

B. Weltanschaulich-religiöse Neutralität als materiell-rechtliche Schranke staatlichen Handelns Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates ist anerkanntermaßen ein objektives Verfassungsprinzip, 143 aus dem sich kein subjektives, vom einzelnen 140 Vgl. oben S. 152. 141 Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 152. 142 Renck, JuS 1989, 451 (453). 143 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 4 Rdnr. 4; Mikat, in: HdbVerfR, S. 1065; v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 5; Scheuner, in: HdbStKirchR I, 20*

308 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

einklagbares Recht herleiten läßt. Auch der objektiv-rechtliche Gehalt des Neutralitätsgebots muß jedoch bei der Ausgestaltung der Rechtsordnung als bindende Vorgabe berücksichtigt werden. 144 Insofern überrascht nicht, daß das staatliche Neutralitätsgebot auch in der Rechtsprechung immer wieder Bedeutung erlangt hat. 145 Die dogmatische Verortung des Prinzips ist allerdings alles andere als klar. Der Rechtsprechung - auch des Bundesverfassungsgerichts - läßt sich meist nur entnehmen, daß das Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität staatliches Handeln begrenzen kann. Bisweilen wird es freischwebend wie ein grundrechtsgleiches Recht geprüft, ohne daß die dogmatische Stellung und die Funktion deutlich werden. Der Sache nach handelt es sich beim Gebot weltanschaulich-religiöser Neutralität um eine Beschränkung, die für den Staat vor allem dann gilt, wenn er dem in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG garantierten Grundrechtsgebrauch Grenzen zieht. Systematisch und funktionell ist das Neutralitätsgebot eine verfassungsrechtliche (Rechtfertigungs-)Anforderung, die von der staatlichen Gewalt bei Eingriffen in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu beachten ist. Grundrechtsdogmatisch läßt sich insofern auch von einer „Schranken-Schranke" sprechen. Ein Gesetz, das Art. 4 Abs. 1 und 2 GG einschränkt, ist danach nur verfassungsgemäß, wenn es mit der staatlichen Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität in Einklang steht. Das Prinzip bildet insofern eine materiell-rechtliche Schranke für das gesamte staatliche Handeln im weltanschaulich-religiös relevanten Bereich. Für den schulischen Bereich folgt daraus, daß gesetzliche Regelungen, die die Religions- und Weltanschauungsfreiheit betreffen und das Schulwesen näher ausgestalten, nur dann verfassungsgemäß sind, wenn sie nicht gegen die objektive Schranke des Neutralitätsgebots verstoßen.

C. Weltanschaulich-religiöse Neutralität im schulischen Bereich Das Neutralitätsgebot gilt im schulischen Bereich nicht unbegrenzt, da das Grundgesetz hier explizit Kooperationsmöglichkeiten zwischen dem staatlichen und dem weltanschaulich-religiösen Sektor vorsieht. So ermächtigt Art. 7 Abs. 3 GG den Staat dazu, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften Religionsunterricht zu erteilen, sofern es sich nicht um bekenntnisfreie Schulen handelt. Aus Art. 7 Abs. 5 GG läßt sich darüber hinaus die staatliche S. 50 ff.; Schiaich, Neutralität, S. 132 ff., 154 ff.,192 ff.; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Bonner GG, Art. 4 Rdnr. 12; Zippelius, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 4 Rdnr. 18 ff. - Für die Rechtsprechung BVerfGE 10, 59 (85); 19, 206 (216); 24, 236 (246); 32, 98

(106).

144 Allgemein dazu nur Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 ff. m. w. N.; speziell für die weltanschaulich-religiöse Neutralität Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 120. 145

Vgl. die Darstellung der Rechtsprechung oben S. 106 ff.

§ 16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates

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Befugnis zum Betreiben öffentlicher Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen herleiten. Diese im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehenen Kooperationsmöglichkeiten werfen die Frage auf, wo - unter Zugrundelegung der grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich - die Grenze zwischen einer zulässigen und einer unzulässigen, staatlich veranlaßten Integration weltanschaulich-religiöser Elemente in den Schulbereich verläuft. Den Fallgestaltungen der Rechtsprechung entsprechend gilt es das Augenmerk vor allem auf drei Bereiche zu richten: (1) die staatliche Errichtung von Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen, (2) die staatliche Veranstaltung von religiösen und/oder weltanschaulichen Übungen sowie (3) das Aufhängen von weltanschaulichen und/ oder religiösen Symbolen in öffentlichen Schulen. Dabei wird sich zeigen, ob und inwieweit das hier vertretene Konzept eines Zusammenspiels von Trennungsgebot und Ausnahmen im schulischen Bereich im Ergebnis mit der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung konform geht.

I. Staatliche Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen Die Beantwortung der Frage, inwieweit Bekenntnis- oder Weltanschauungsschulen als öffentliche Schulen mit dem Gebot der Trennung von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich zu vereinbaren sind, bereitet insofern keine Schwierigkeiten, als Art. 7 Abs. 5 GG eine ausdrückliche Ausnahme vom Trennungsgebot statuiert. Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen werden grundsätzlich auch als öffentliche Schulen anerkannt. 146 Eine Verschränkung von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich ist danach ausnahmsweise zulässig.

II. Staatlich veranstaltete religiöse und/oder weltanschauliche Übungen Nach dem bisher Ausgeführten ist allein die Frage nach der Zulässigkeit staatlich veranstalteter religiöser und / oder weltanschaulicher Übungen umstritten. Insbesondere staatlich veranstaltete Schulgebete bzw. -andachten werden regelmäßig im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gebot der Trennung von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich problematisiert. Demgegenüber ist es den einzelnen Schülern aufgrund der von ihnen in den schulischen Bereich hineingetragenen individuellen Religions- und Weltanschauungsfreiheit nicht verwehrt, allein oder zusammen mit anderen ihren religiösen oder weltanschaulichen Bedürfnissen nachzugehen, solange daraus keine Störungen für den ordnungsgemäßen Unter146 Vgl. z u r Begründung, warum Art. 7 Abs. 5 GG als Ausnahme vom grundsätzlichen Trennungsgebot zu betrachten ist, oben S. 302; a.A. Fischer, Trennung von Staat und Kirche, S. 278.

310 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

richtsablauf entstehen. Im Regelfall müssen derartige Übungen vor Unterrichtsbeginn oder in den Pausen abgehalten werden. Die Schulen sind nicht daran gehindert, den Schülern zum Abhalten ihrer religiösen oder weltanschaulichen Übungen entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Ein derartiges staatliches Entgegenkommen ist mit Blick auf die Neutralitätsverpflichtung unbedenklich, da der Staat in diesem Fall nur der ihm obliegenden Pflicht nachkommt, innerhalb seines Bereichs einen ausreichenden Entfaltungsraum für die Ausübung der individuellen Freiheitsrechte zu schaffen. Der Staat ist jedoch verpflichtet, allen religiösen bzw. weltanschaulichen Gruppierungen vergleichbare Möglichkeiten einzuräumen. Nur durch Gleichbehandlung aller Gruppierungen wird er seiner Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität gerecht. Jede sachlich nicht zu rechtfertigende Differenzierung führt zu einer Identifizierung mit bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Inhalten, die dem Staat verwehrt ist. Im übrigen bestehen auch keine Einwände, wenn sich Lehrer an derartigen Übungen beteiligen, sofern sie dies nicht in ihrer Funktion als Lehrer tun. Außerhalb des Unterrichts steht ihnen ebenso wie den Schülern das Recht zu, sich zu ihrem Glauben zu bekennen und diesen auszuüben.

7. Vorliegen einer staatlichen Veranstaltung

Die Zulässigkeit von religiösen und/oder weltanschaulichen Übungen im schulischen Bereich begegnet danach nur dann Bedenken, wenn es sich um eine staatliche Veranstaltung handelt. Daher bedarf der Klärung, wann im Bereich der Schule überhaupt von einer staatlichen Veranstaltung auszugehen ist.

a) Gesetzliche Anordnung von weltanschaulichen und/oder religiösen Übungen Das Vorliegen einer staatlichen Veranstaltung ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn weltanschauliche und/oder religiöse Übungen gesetzlich angeordnet werden. Hier tritt der Staat durch die Ausübung seiner legislativen Gewalt unmittelbar in Erscheinung und legt Verpflichtungen fest, die allein ihm zuzuordnen sind.

b) Anordnungen des Schulleiters Daneben handelt es sich auch um eine staatliche Veranstaltung, wenn der Schulleiter weltanschauliche und/oder religiöse Übungen anordnet. 147 Der Schulleiter 147

Auch das Bundesverfassungsgericht stellt im Zusammenhang mit seiner Schulgebetsentscheidung ausdrücklich fest, daß das Abhalten von Gebeten nicht von der Schulleitung angeordnet werden darf. Die Schulleitung sei lediglich dazu befugt, dahingehende Empfehlungen auszusprechen (BVerfGE 52, 223 [239]). Nach hier vertretener Auffassung ist aller-

§16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates

311

ist Teil der Schulverwaltung. Er gehört dem administrativen Bereich an, über den er unmittelbar mit dem Staat verbunden ist. 1 4 8 Trifft er Anordnungen, die den weltanschaulich-religiösen Bereich betreffen, sind diese als staatliche zu qualifizieren.

c) Vom Lehrer während der offiziellen Unterrichtszeit durchgeführte weltanschauliche und/oder religiöse Übungen Problematisch ist das Veranstalten von weltanschaulich und/oder religiösen Übungen - außerhalb des Religionsunterrichts - unter Anleitung eines Lehrers während der offiziellen Unterrichtszeit. Im Gegensatz zum Schulleiter übt der Lehrer keine ausschließlich administrative Tätigkeit aus, sondern nimmt eine Mittlerstellung zwischen dem gesellschaftlichen und dem staatlichen Bereich ein. Zwar besitzt der Lehrer bei der Gestaltung des Unterrichts Freiräume, da ihm eine begrenzte Auswahl zwischen verschiedenen Unterrichtsthemen und -materialien zusteht und ihm noch größere Freiräume bei der konkreten Unterrichtsgestaltung zugestanden werden. Dennoch ist es der Staat, der den Rahmen für die schulische Erziehung absteckt, Vorgaben für die zu erreichenden Ziele setzt, deren Einhaltung kontrolliert und - soweit erforderlich - entsprechende Maßnahmen treffen kann. Dem staatlichen Interesse an der Erziehung seiner (zukünftigen) Bürger verleiht das Grundgesetz dadurch Nachdruck, daß es dem Staat über Art. 7 Abs. 1 GG die Aufsicht über das gesamte Schulwesen zuerkennt. Die Bedeutung, die dem Staat bei der schulischen Erziehung beigemessen wird, zeigt sich auch darin, daß ihm das Grundgesetz nicht nur die Aufsicht über ein privat organisiertes Schulwesen zugesteht, sondern öffentliche Schulen vorsieht, denen gegenüber den privaten Schulen eine bevorzugte Stellung eingeräumt wird. Hinter allen diesen Regelungen steht das Interesse des Staates, bei der Erziehung der Kinder für eine gewisse Einheitlichkeit und Gleichwertigkeit zu sorgen. Damit der Staat im erzieherischen Bereich eine eigene Leistung anbieten kann, muß er sich Personen bedienen, die nach seinen Rahmenvorgaben tätig werden und die dem Staat wichtigen erzieherischen Belange verfolgen. Diese Funktion erfüllen Lehrer. Diese agieren an der Nahtstelle zum gesellschaftlichen Bereich und sind aufgrund der ihnen zustehenden Freiräume nicht völlig in den administrativen Bereich eingegliedert. Die Freiräume, die bei der Unterrichtsgestaltung unvermeidlich sind, stellen aufgrund der Eigenart der unterrichtenden und erzieherischen Tätigkeit etwas qualitativ anderes dar als die im Verwaltungsbereich anerkannten Ermessensspielräume. Die Funktion der Lehrer ist daher auch eine andere als die eines bloßen Organwalters der Schule. Böckenförde weist zu Recht darauf hin, daß der Lehrer in keine der gängigen verwaltungsrechtlichen Kategorien eindings auch eine solche Empfehlung problematisch und grundsätzlich nicht zulässig, wenn sie sich auf bestimmte Religionen oder Weltanschauungen bezieht. 148 Die Zurechnung des Schulleiters zum staatlichen Bereich wird allgemein anerkannt; vgl. beispielsweise Böckenförde, DÖV 1974, 253 (255).

312 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

geordnet werden kann, sondern etwas Eigenes darstellt, für das erst noch eine Bezeichnung geschaffen werden muß. 149 Am ehesten ließe sich von einem mit gewissen Freiheiten versehenen staatlichen Interessen Vertreter sprechen. Das Gesamtbild spricht jedoch dafür, daß Lehrer dem staatlichen Bereich näher stehen als dem gesellschaftlichen. Ein erstes - wenn auch nicht zwingendes - Indiz für die Zuordnung der Lehrertätigkeit zum staatlichen Bereich ist die traditionelle Verbeamtung der Lehrer an öffentlichen Schulen. Bereits in der Weimarer Verfassung wurde in Art. 143 Abs. 3 W R V 1 5 0 festgelegt, daß die Lehrer an öffentlichen Schulen die Rechte und Pflichten von Staatsbeamten besitzen.151 Mit der Verbeamtung übernimmt der Staat gewisse Fürsorgepflichten, vom Lehrer werden als Gegenleistung bestimmte Treuepflichten gefordert. Insofern kann die Verbeamtung als Hinweis dafür gesehen werden, daß der Lehrer dem staatlichen Sektor näher steht als dem gesellschaftlichen. Aber auch dann, wenn Lehrer - bislang ausnahmsweise - nicht verbeamtet, sondern als Angestellte tätig sind, besteht ein vergleichbares Näheverhältnis zum Staat. In vielfacher Hinsicht ist das „Dienstund Treueverhältnis" der Angestellten des öffentlichen Dienstes dem der Beamten angeglichen.152 Entscheidend ist jedoch das spezifische Interesse des Staates an einer geordneten, seine Belange berücksichtigenden schulischen Erziehung. Dieses Interesse ist durch (Rahmen-)Vorgaben für den Unterricht und besondere Kontrollmöglichkeiten gesichert, die sich gegebenenfalls auch auf die Lehrer erstrecken. Dieser besondere staatliche Zugriff rechtfertigt es, die von Lehrern während der Unterrichtszeit vorgenommenen Handlungen dem staatlichen Bereich zuzurechnen und sie den staatlichen Bindungen zu unterstellen. 2. Vereinbarkeit von staatlich veranstalteten weltanschaulichen und/oder religiösen Übungen im Schulbereich mit dem Grundsatz der weltanschaulich-religiösen Neutralität

Steht fest, daß es sich im konkreten Fall um eine staatliche Veranstaltung im Schulbereich handelt, stellt sich die weitere Frage, inwieweit die Einbeziehung 149 Böckenförde, DÖV 1974, 253 (255), insbesondere Fußn. 17. Böckenförde zieht daraus den Schluß, daß der Lehrer zwar amtlich aber doch individuell handle. Das Klassengebet unter Anleitung und Aufsicht des Lehrers soll nur Ausdruck des individuellen Handelns sein und damit verfassungsrechtlich keine Schwierigkeiten bereiten. Dieser Schlußfolgerung Böckenfördes kann - wie im weiteren noch zu sehen sein wird - in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Der Lehrer ist Bindungen unterworfen, die ihn daran hindern, während der Unterrichtszeit in der Klasse ein Gebet abzuhalten. 150

Art. 143 Abs. 3 WRV lautet: „Die Lehrer an öffentlichen Schulen haben die Rechte und Pflichten der Staatsbeamten". 151 Dazu Heckel/Avenarius, Schulrechtskunde, S. 206 m. w. N. 152 Dazu Battis, Recht des öffentlichen Dienstes, in: Achterberg / Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Band 1, Rdnr. 230 f.; Kopp, Öffentliches Dienstrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rdnr. 24; Kunig, Das Recht des öffentlichen Dienstes, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rdnr. 191.

§ 16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates

313

weltanschaulich-religiöser Elemente in den staatlichen Bereich mit der Neutralitätspflicht zu vereinbaren ist. Dabei gilt es nach Schultypen zu differenzieren. Art. 7 Abs. 5 GG gestattet dem Staat ausdrücklich die Errichtung von Bekenntnis· und Weltanschauungsschulen, die sich dadurch auszeichnen, daß der gesamte Unterricht an den Grundsätzen einer Religion oder Weltanschauung ausgerichtet wird. Der Einfluß religiöser oder weltanschaulicher Elemente im Unterricht ist insofern ausdrücklich erwünscht. Dementsprechend ist es an Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen ausnahmsweise zulässig, staatlich veranlaßte religiöse oder weltanschauliche Übungen abzuhalten. Schwieriger ist diese Frage für die Gemeinschaftsschulen zu beantworten. Die Gemeinschaftsschule findet sich in zwei Ausprägungen, als bekenntnisneutrale Gemeinschaftsschule und als (bildungsmäßig) christliche Gemeinschaftsschule. 153 Während an der christlichen Gemeinschaftsschule religiöse Elemente im Rahmen des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach vermittelt werden dürfen, werden an der bekenntnisneutralen Schule alle religiösen oder weltanschaulichen Inhalte - einschließlich des Religionsunterrichts - von vornherein ausgeklammert. Dementsprechend stellt sich an diesen Schulen gar nicht erst die Frage nach der Vereinbarkeit derartiger Übungen mit der staatlichen NeutralitätsVerpflichtung. Die Problematik beschränkt sich auf die Zulässigkeit religiös-weltanschaulicher Übungen an christlichen Gemeinschaftsschulen. In der Literatur finden sich im wesentlichen zwei Argumentationslinien, die das Ziel verfolgen, jedenfalls die Zulässigkeit religiöser Übungen an (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschulen zu begründen: Zum einen wird allgemein auf die Verfassungsmäßigkeit der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule verwiesen, zum anderen sollen religiöse Übungen als Annex zu Art. 7 Abs. 3 GG verfassungsgemäß sein. Beide Herleitungen können weder in der Begründung noch im Ergebnis überzeugen.

a) Herleitung aus der Verfassungsmäßigkeit der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule Große Teile des Schrifttums unternehmen den Versuch, aus der vom Bundesverfassungsgericht wiederholt anerkannten Verfassungsmäßigkeit der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule 154 auch die Zulässigkeit der staatlichen Veranstaltung von religiösen Übungen an diesen Schulen herzuleiten. 155 Stehe die christliche Gemeinschaftsschule mit der staatlichen Neutralitätspflicht in Einklang, so die Argumentation, könne für das Schulgebet nichts anderes gelten. Einer christ153 Die üblicherweise sonst noch zu den Gemeinschaftsschulen gezählte sog. bekenntnismäßig christliche Gemeinschaftsschule ist der Sache nach eine Bekenntnisschule. Näher dazu oben S. 94 f. 154 Vgl. BVerfGE 41, 29 ff.; 41, 65 ff.; 41, 88 ff. Dazu bereits oben S. 101 ff. 155 Vgl. _ im Zusammenhang mit den Schulgebetsentscheidungen - die Ausführungen von Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 Rdnr. 121 m. w. N.

314 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

liehen Gemeinschaftsschule dürfe nicht verwehrt sein, religiöse Übungen anzubieten, durch die gerade die Christlichkeit der Schule zum Ausdruck komme. An den christlichen Gemeinschaftsschulen müsse der Staat daher die Integration religiöser Elemente gerade nicht auf den Religionsunterricht begrenzen. Der staatlichen Neutralitätspflicht soll ausreichend Rechnung getragen sein, wenn der Staat die Freiwilligkeit der Teilnahme an diesen religiösen Veranstaltungen garantiert und zumutbare Ausweichmöglichkeiten zur Verfügung stellt. 156 Die skizzierte Argumentation überzeugt nicht. Sie basiert auf einem Fehlverständnis der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Zulässigkeit der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschulen. Den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lassen sich keine Anhaltspunkte für die Zulässigkeit einer Integration religiöser Elemente in den Schulunterricht entnehmen. Das Bundesverfassungsgericht hebt vielmehr hervor, daß eine christliche Gemeinschaftsschule nur dann zur Regelschule erklärt bzw. als einzige Schule im Schulbezirk errichtet werden darf, wenn sie ihren Unterricht nicht an den christlichen Bekenntnissen, sondern allein am „säkularisierten" christlichen Kultur- und Bildungserbe ausrichtet. Außerhalb des Religionsunterrichts darf an christlichen Gemeinschaftsschulen kein bekenntnisgeleiteter Unterricht stattfinden. Aus der verfassungsrechtlichen Anerkennung der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule, die sich auf das christliche Kultur- und Bildungserbe beschränken muß, ergeben sich danach keine Anhaltspunkte für die Zulässigkeit staatlich veranstalteter religiöser Übungen an diesen Schulen.

b) Religiöse Übungen als Annex zu Art. 7 Abs. 3 GG Daneben wird die Verfassungsmäßigkeit staatlich veranstalteter religiöser Übungen an christlichen Gemeinschaftsschulen bisweilen auch als Annex zu Art. 7 Abs. 3 GG konzipiert. Die Argumentation richtet sich darauf, daß es nicht möglich sei, eine Schule, an der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist, sämtlicher religiöser Elemente zu entkleiden. 157 Daher müsse auch die Veranstaltung religiöser Übungen an christlichen Gemeinschaftsschulen zulässig sein. Dieser Argumentation ist entgegenzuhalten, daß das Grundgesetz von einer grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich ausgeht. Lediglich die ausdrücklich im Grundgesetz genannten Ausnahmen lassen Verbindungen zwischen den beiden Bereichen zu. Greift - wie bei der staatlichen Veranstaltung von Schulgebeten außerhalb des Religionsunterrichts - keine der ausdrücklich genannten Ausnahmen, kann das Fehlen nicht einfach durch die Annahme von Annexen überbrückt werden. Eine Ausdehnung der ausdrücklich im 156 So beispielsweise Feuchte/Daliinger, DÖV 1967, 361 (364 ff.); Keim, Schule und Religion, S. 92; Maunz, in: FS für Faller, 175 (184 ff.). 157 Dieser Weg wird namentlich von Hofmann (DVB1. 1967,439 [440]) beschritten.

§16 Reichweite der weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates

315

Grundgesetz vorgesehenen Durchbrechungen auf nicht geregelte Sachverhalte würde das dem Grundgesetz zugrundeliegende System der grundsätzlichen Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich unterlaufen. Eine Grenzziehung wäre kaum noch möglich. Die bisherigen Ausführungen führen im Gegenteil zu dem Schluß, daß auch an (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschulen für staatlich veranstaltete Schulgebete oder Schulandachten im Rahmen des ordentlichen Unterrichts kein Raum bleibt. Derartige Übungen sind im Rahmen des regulären Schulunterrichts mit Ausnahme des Religionsunterrichts - an (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschulen nicht gestattet. Weltanschauliche und religiöse Bezüge dürfen nur in Form objektiver Darstellungen im Rahmen der Wissensvermittlung in den Unterricht einfließen. Zulässig sind lediglich von den Schülern außerhalb des Unterrichts durchgeführte religiöse oder weltanschauliche Übungen, sofern damit keine Störungen für den Schulbetrieb und den ordnungsgemäßen Unterrichtsablauf einhergehen.

I I I . Weltanschaulich-religiöse Symbole an den Wänden der Schule Die Ausführungen zur Zulässigkeit staatlich veranstalteter weltanschaulicher und /oder religiöser Übungen zeichnen den Weg für die Beantwortung der weiteren Frage vor, inwieweit das Aufhängen weltanschaulicher oder religiöser Symbole an den Wänden von Klassenzimmern mit der staatlichen Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität zu vereinbaren ist. Im Ausgangspunkt ist unbestritten, daß die Schule eine öffentliche Institution ist und allen staatlichen Bindungen - einschließlich der Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität - unterliegt. Das Aufhängen religiöser und/oder weltanschaulicher Symbole an den Wänden von Klassenzimmern stellt eine Verbindung zwischen dem staatlichen und dem weltanschaulich-religiösen Bereich her. Eine derartige Verknüpfung der Bereiche ist angesichts der geforderten grundsätzlichen Trennung nur dann verfassungsgemäß, wenn sich dem Grundgesetz eine Ausnahme entnehmen läßt.

1. Differenzierung

nach Schultypen

Da das Grundgesetz dem Staat ausdrücklich die Errichtung staatlicher Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen gestattet,158 ist es an diesen Schulen ohne weitere Begründung zulässig, die dem jeweiligen Glauben entsprechenden religiösen oder weltanschaulichen Symbole zu verwenden und gegebenenfalls auch an den Wänden der Klassenzimmer aufzuhängen. Ebenso unbestritten ist, daß an bekenntnisneutralen Gemeinschaftsschulen von der Verwendung religiöse Dazu oben S. 308 ff.

316 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

ser und/oder weltanschaulicher Symbole Abstand genommen werden muß. Problematisch sind daher - erneut - nur die (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschulen. Wie bei der staatlichen Veranstaltung von weltanschaulichen und / oder religiösen Übungen läßt sich dem Grundgesetz auch mit Blick auf die Verwendung weltanschaulich-religiöser Symbole im staatlichen Bereich keine explizite Regelung entnehmen. Die Herleitung der Zulässigkeit solcher Symbole aus der verfassungsgerichtlichen Anerkennung der christlichen Gemeinschaftsschule oder als Annex zu Art. 7 Abs. 3 GG scheidet ebenso aus wie bei der staatlichen Veranstaltung weltanschaulich-religiöser Übungen. Die Christlichkeit der Schule darf sich - wie gesehen - außerhalb des Religionsunterrichts nur auf die Vermittlung der christlichen Kultur- und Bildungs werte und gerade nicht auf die christlichen Glaubensinhalte beziehen, so daß sich daraus keine Berechtigung zur Verwendung weltanschaulicher oder religiöser Symbole entnehmen läßt. Art. 7 Abs. 3 GG ist als Ausnahmeregelung eng auszulegen und kann nicht auf andere Sachverhalte übertragen werden. Da das Grundgesetz den Staat im übrigen an keiner Stelle zum Aufhängen weltanschaulicher und/oder religiöser Symbole ermächtigt, greift die Verpflichtung zur weltanschaulich-religiösen Neutralität. Die staatliche Verwendung solcher Symbole an (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschulen ist nicht zulässig.

2. Schulkreuze als Beispiel

Die Diskussion um das Schulkreuz ist bereits an anderer Stelle dargestellt und kritisch beleuchtet worden. 159 Im vorliegenden Zusammenhang bedarf erneut der Betonung, daß das Kreuz ein religiöses Symbol darstellt. Alle anderweitigen Deutungsversuche, die - je nach Unterricht - von einem Wandel des Kreuzes von einem Kultur- zu einem religiösen Symbol ausgehen oder das Kreuz im schulischen Bereich auf ein bloßes Kultursymbol reduzieren wollen, überzeugen nicht. Gerade die Schärfe der Auseinandersetzung um die Verbannung des Kreuzes aus den Klassenzimmern ist Beleg dafür, daß das Kreuz mehr darstellt und darstellen muß als ein bloßes, seines Bekenntnischarakters entleertes Symbol des christlichabendländischen Kulturkreises. Es ist kaum anzunehmen, daß die Diskussion um ein in dieser Weise reduziertes Kultursymbol die Gemüter in der bekannten Weise erregt hätte. Stellt das Kreuz ein religiöses Symbol dar, ist die Beurteilung seiner Verwendung an staatlichen - insbesondere schulischen - Wänden vorgezeichnet. Wie beim Schulgebet160 ist es auch bei der Frage des Schulkreuzes nicht möglich, eine Durchbrechung der dem Staat obliegenden grundsätzlichen Trennung des staatli159 Dazu oben S. 122 ff. 160 Vgl. dazu oben S. 309 ff.

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

317

chen vom weltanschaulich-religiösen Bereich aus der verfassungsgerichtlichen Anerkennung der (bildungsmäßig) christlichen Gemeinschaftsschule oder als Annex zu Art. 7 Abs. 3 GG herzuleiten. 161 Auch der Vorschlag, der Staat solle zur Wahrung seiner Neutralität die Symbole aller einschlägigen religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen in den Klassenzimmern aufhängen, 162 überzeugt im Ergebnis nicht. Hängt der Staat in den Klassenzimmern nicht nur ein bestimmtes religiöses Symbol, sondern alle einschlägigen religiösen und weltanschaulichen Symbole auf, vermeidet er zwar den Eindruck, sich mit einer bestimmten Religion in besonderem Maße zu identifizieren. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß ihm nicht nur die Identifizierung mit einer bestimmten Religion oder Weltanschauung untersagt ist, sondern er darüber hinaus von allen nicht ausdrücklich im Grundgesetz vorgesehenen Verbindungen mit dem weltanschaulich-religiösen Bereich Abstand nehmen muß, um der verfassungsrechtlichen Neutralitätspflicht Rechnung zu tragen. Schulkreuze dürfen daher ebenso wie sonstige religiöse oder weltanschauliche Symbole nicht an den Wänden (bildungsmäßig) christlicher Gemeinschaftsschulen aufgehängt werden. 163

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 G G Kann der weite Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG spätestens nach den verfassungsrechtlichen Wandlungen und der Auflösung der Rechtsfigur des besonderen Gewaltverhältnisses als überholt angesehen werden, 164 ist damit die Auseinandersetzung um den Aufsichtsbegriff keineswegs beendet. Die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 GG ist im Gegenteil - auch unter Zugrundelegung eines engen Aufsichtsbegriffs - nach wie vor alles andere als geklärt. Unterschiede bestehen vor allem in der Zuordnung der inneren schulischen Angelegenheiten zum eigenen staatlichen oder zum fremden Bereich. Dabei bleibt regelmäßig offen, ob und inwieweit Art. 7 Abs. 1 GG einen „fremden" Bereich voraussetzt, über den die Aufsicht ausgeübt 161 Für die Herleitung als Annex aus Art. 7 Abs. 3 GG aber Hofmann, DVB1. 1967, 439 (440). 162 So der Vorschlag von Müller-Volbehr, JZ 1995, 996 (1000). 163 Leider trifft das Bundesverfassungsgericht in seinem Kruzifix-Beschluß keine völlig eindeutige Aussage. Obwohl der Tenor der Entscheidung und die Leitsätze - zu Recht - dafür sprechen, daß das Aufhängen von Kreuzen in Schulen generell als Verstoß gegen die staatliche Neutralitätspflicht zu werten ist, wird bezweifelt, ob das Verfassungsgericht eine derart globale Aussage treffen wollte. Teilweise wird die Entscheidung dahingehend interpretiert, daß das Verfassungsgericht das Aufhängen von Kreuzen nur bei Widerspruch eines Schülers und dann auch nur begrenzt auf dessen Klassenzimmer für unzulässig halte. In diesem Sinne versteht namentlich der BayVGH die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts; vgl. BayVGH BayVBl. 1996, 26 (27). 164 Vgl. oben S. 313 ff.

318 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

wird, oder ob die besondere Aufsichtsbefugnis des Art. 7 Abs. 1 GG auch im eigenen staatlichen Bereich greift. Letztlich ist nicht geklärt, welche Schulen in welcher Intensität einer Aufsicht durch die staatliche Verwaltung unterliegen. Differenzen verbleiben vor allem bei der Frage, inwieweit die inneren Schulangelegenheiten auf die Exekutive übertragen werden können, welche Bereiche in diesem Zusammenhang wesentlich sind und welche daher vom Gesetzgeber selbst geregelt werden müssen. Insgesamt zeigt sich, daß die Auseinandersetzung um den Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG und die Reichweite der staatlichen Regelungsbefugnisse im schulischen Bereich eng mit der weitergehenden Frage verwoben sind, ob und inwieweit es zur Aufrechterhaltung moderner demokratischer Verfassungsstaaten unerläßlich ist, durch schulische Erziehung bestimmte Werte zu vermitteln. Diese Frage steht in unmittelbarer Verbindung mit der Liberalismus-KommunitarismusDebatte 165 und bezieht aus den entsprechenden Vorverständnissen entscheidende Impulse.

A. Enges Aufsichtsverständnis der herrschenden Meinung Die herrschende Meinung zählt die privaten und die nichtstaatlichen öffentlichen Schulen, die in der Trägerschaft einer Selbstverwaltungskörperschaft stehen, zum fremden Bereich, der der Aufsicht nach Art. 7 Abs. 1 GG unterliegt. Über die nichtstaatlichen öffentlichen Schulen wird dem Staat im Bereich der äußeren Angelegenheiten die Rechtsaufsicht zugestanden, im Bereich der inneren Schulangelegenheiten die Fachaufsicht, die jedoch im Unterrichtsbereich aufgrund der pädagogischen Freiheit der Lehrer nur in eingeschränkterem Maß ausgeübt werden soll. Die Schulen in privater Trägerschaft unterliegen nach überwiegender Ansicht nicht nur im Bereich der äußeren, sondern im Regelfall auch im Bereich der inneren Schulangelegenheiten einer bloßen Rechtsaufsicht. 166

B. Abweichendes Aufsichtsverständnis im Schrifttum Im Gegensatz zu dem skizzierten Aufsichtsverständnis geht eine kleinere Zahl von Autoren vor allem seit den siebziger Jahren davon aus, daß dem Staat nicht nur im Bereich der äußeren, sondern auch im Bereich der inneren Schulangelegenheiten gegenüber allen Schulen allein die Befugnis zur Rechtsaufsicht zusteht. 167 165 Vgl. zu dieser Debatte und ihrem Einfluß auf die verschiedenen Erziehungskonzepte oben S. 214 ff. 16 6 Vgl. dazu die Ausführungen oben S. 94 ff. Zur Kritik sogleich unten S. 319 ff.

§17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

319

Dahinter steht die Annahme, daß der Staat angesichts der gesellschaftlichen Pluralität gar nicht in der Lage sei, den Bereich der inneren Schulangelegenheiten angemessen zu regeln und zu beaufsichtigen. Diese Aufgabe könne nur von der Gesellschaft zufriedenstellend wahrgenommen werden. Voraussetzung dafür sei jedoch, daß der Staat nicht durch gezielte Weisungen Einfluß auf die Entwicklung der inneren Angelegenheiten nehmen dürfe. 168 Nicht immer kommt jedoch klar zum Ausdruck, ob tatsächlich der gesamte Bereich der inneren Schulangelegenheiten auf die Gesellschaft übertragen werden oder ob sich der Staat nur aus bestimmten Bereichen zurückziehen soll. Der Blick wird meist nicht auf den gesamten Bereich der inneren Schulangelegenheiten gerichtet, sondern auf einen - wenngleich überaus wichtigen - Ausschnitt aus diesem Bereich, nämlich die inhaltliche Gestaltung des Schulunterrichts. Dem Staat wird die Befugnis bestritten, in diesem Bereich konkrete Vorgaben zu treffen. Dies sei eine Aufgabe der Gesellschaft, die allein die gesellschaftliche Pluralität in der Schule abbilden und gewährleisten könne. Daher soll jedenfalls der Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung weitestgehend auf die Gesellschaft übertragen und die Aufsicht des Staates dementsprechend auf eine bloße Rechtsaufsicht beschränkt werden. 169

C. Kritik des engen Aufsichtsbegriffs Die unterschiedlichen Auslegungen des engen Aufsichtsbegriffs legen es nahe, diesen näher zu betrachten und den Regelungsgehalt von Art. 7 Abs. 1 GG weiter zu konkretisieren.

I. Begriffsklärung Obwohl die Begriffe der Rechts- und Fachaufsicht einen fremden, der beaufsichtigenden Instanz gegenüberstehenden Bereich nahelegen, über den die Befugnis zur Rechts- und - bei besonderer gesetzlicher Anordnung - zur Fachaufsicht aus167

Dies kommt besonders deutlich bei Jach (Staatliches Schulsystem, S. 245) zum Ausdruck; vgl. aber auch Ladeur, RdJB 1991, 263 ff. 168 Vgl. Jach, Staatliches Schulsystem, S. 238 ff. 169 Ohne Rückbezüge zum Aufsichtsbegriff herzustellen, geht Stein (Selbstentfaltung, S. 59 ff.) davon aus, daß zwar die inhaltliche Unterrichtsgestaltung aus dem staatlichen Verwaltungsbereich ausgegliedert werden müsse, daß jedoch der organisatorische Bereich - zu dem er u. a. die äußeren Voraussetzungen des Unterrichts, die fachliche Gliederung der Schularten und die Dauer der Schulausbildung zählt - aus Gründen der Einheitlichkeit des Schulwesens weiterhin der staatlichen Verwaltung unterliege. Leider findet sich weder bei Jach (Staatliches Schulsystem) noch bei Ladeur (RdJB 1991, 263 ff.) eine solche ausdrückliche Differenzierung zwischen dem inhaltlichen und dem organisatorischen Bereich. Beide setzen sich schwerpunktmäßig mit der Zuständigkeit für die inhaltliche Gestaltung des Schulunterrichts auseinander, gehen aber nicht näher auf die übrigen zur Seite der inneren Schulangelegenheiten zählenden Faktoren ein.

320 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

geübt wird, findet sich der Begriff der Fachaufsicht - wie im ersten Kapitel angedeutet - häufig auch zur Bezeichnung der Aufsicht im eigenen staatlichen Bereich. 170 Diese Ausdehnung des Begriffs der Fachaufsicht über den fremden Bereich hinaus zieht viele Unklarheiten nach sich und ist Ursache für unnötige Mißverständnisse. Auch wenn die verwaltungsinterne Kontrolle aufgrund der Möglichkeit zu gezielten Weisungen jener der Fachaufsicht in gewisser Hinsicht gleicht, dürfen die qualitativen Unterschiede zwischen der staatlichen Aufsicht über den eigenen und der Aufsicht über einen fremden Bereich nicht durch Vereinheitlichung der Begriffe nivelliert und geleugnet werden. Der Begriff der Fachaufsicht sollte daher ausschließlich im Zusammenhang mit der Aufsicht über einen fremden Bereich Verwendung finden. Im eigenen Bereich sollte von verwaltungsinterner Kontrolle gesprochen werden. Auch wenn die Begriffe der Rechts- und Fachaufsicht auf diese Weise für die staatliche Aufsicht über einen fremden Bereich reserviert werden und für den eigenen staatlichen Bereich auf den Begriff der verwaltungsinternen Kontrolle zurückgegriffen wird, bleibt allerdings die Frage bestehen, welche Bereiche dem eigenen und welche dem fremden Bereich zuzuordnen und wie die Aufsichtsbefugnisse im einzelnen auszugestalten sind.

II. Zuordnung der schulischen Angelegenheiten zum eigenen oder fremden Bereich und korrespondierende Aufsichtsbefugnisse Die Aufspaltung der schulischen Aufgaben in äußere und innere Schulangelegenheiten soll auch im folgenden beibehalten werden. 171 Die Differenzierung ist im Bereich der Schulaufsicht nach wie vor sinnvoll, da sie eine auf die einzelnen Schultypen bezogene Abschichtung der Aufsichts- und Kontrollbefugnisse ermöglicht. Bei den inneren Schulangelegenheiten wird der Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung wegen seiner besonderen Eigenart einer vertieften Betrachtung unterzogen. 172

7. Äußere Schulangelegenheiten

Über die Zuordnung der äußeren Schulangelegenheiten besteht weitgehende Einigkeit. 173 Die in der Trägerschaft der Länder stehenden Schulen werden zum eigenen staatlichen Bereich gezählt, die in der Trägerschaft von Selbstverwal170 Siehe dazu nur Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 22 Rdnr. 35, der zur Beschreibung der verwaltungsinternen Aufsicht den Begriff der Fachaufsicht verwendet. 171 Zur Abgrenzung der äußeren von den inneren Schulangelegenheiten S. 66 ff. 172 Vgl. unten S. 324 ff. 173

Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), GG Art. 7 Rdnr. 47; Heckel, Schulverwaltung, in: Peters, Kommunale Wissenschaft, S. 132; Hemmrich, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), Art. 7 Rdnr. 10;

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

321

tungskörperschaften stehenden Schulen werden hingegen ebenso wie die Privatschulen dem fremden Bereich zugerechnet. Daraus folgt nach der oben vorgenommenen Einteilung, daß die von den Ländern getragenen Schulen der üblichen, verwaltungsinternen Kontrolle unterliegen und nicht von Art. 7 Abs. 1 GG erfaßt werden. Bei den übrigen, privaten oder von Selbstverwaltungskörperschaften getragenen Schulen beschränkt sich das Aufsichtsrecht des Art. 7 Abs. 1 GG auf die Rechtsaufsicht. Diese Zuordnung ist angesichts der in Art. 28 Abs. 2 GG abgesicherten Eigenrechte der kommunalen Körperschaften sowie der besonderen, in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG verankerten Rechte der Privatschulen konsequent und in der Sache zutreffend.

2. Innere Schulangelegenheiten

Umstrittener ist die Zuordnung der inneren Schulangelegenheiten. Dies ist insofern nicht überraschend, als zum Bereich der inneren Schulangelegenheiten auch die Frage der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zählt. Berücksichtigt man die Erkenntnisse aus der philosophisch-politischen Debatte zur Wertevermittlung und den Erziehungstheorien 174, kommt gerade der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung maßgebende Bedeutung zu. An dieser Stelle wird entschieden, ob im Rahmen des schulischen Prozesses bestimmte Werte vermittelt werden dürfen und welche Werte dies gegebenenfalls sind. Da trotz der teilweisen Annäherung der republikanischen, der liberalistischen und der demokratischen Erziehungstheorien weiterhin beträchtliche Unterschiede bestehen, erstaunt es nicht, daß auch die Einordnung der inneren Schulangelegenheiten im Rahmen von Art. 7 Abs. 1 GG von erheblichen Differenzen gekennzeichnet ist. 1 7 5 a) Herrschende Meinung Die Mehrheit der Autoren im Schrifttum geht davon aus, daß die Frage der inneren Schulangelegenheiten unabhängig von der Frage der Schulträgerschaft zu beantworten ist und - abgesehen von eventuellen sektoralen Beteiligungsrechten von Eltern, Schülern und Lehrern - allein in den Händen des Staates liegt, 1 7 6 sofern nicht eine Ausnahmeregelung etwas anderes vorsieht. Entscheidend ist, daß die Gestaltung der inneren Schulangelegenheiten als Sache der staatlichen Verwaltung angesehen wird, der - unter Beachtung des Gesetzesvorbehalts und namentMaunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 7 Rdnr. 21 d und 66; Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 256; Peters, Der Städtetag 1952, 99 (101); ders., Erziehung, in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte, Band I V / 1, S. 410. 174 Vgl. oben S. 237 ff. 175 Nähere Ausführungen zur Vereinbarkeit der verschiedenen philosophischen Erziehungstheorien mit dem Grundgesetz oben S. 252 ff. 176 Vgl. S. 92. 21 Rathke

322 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

lieh der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - die Anwendung und Ausfüllung der gesetzlichen Regelungen obliegen soll. In der Sache wird, was die Festlegung der Bildungsinhalte anbetrifft, eine weitgehende Übertragung auf die Exekutive für zulässig erachtet. Angesichts dieses klaren Bestrebens, der staatlichen Verwaltung den nahezu vollständigen Einfluß über die inneren Schulangelegenheiten zu sichern, wäre es konsequent, diese Materie dem eigenen staatlichen Bereich zuzuordnen. Die herrschende Meinung im Schrifttum verfährt jedoch nicht so. Entgegen dem eigenen Ausgangspunkt werden die inneren Schulangelegenheiten nicht nur der Privatschulen, sondern auch der öffentlichen Schulen, die in der Trägerschaft einer Selbstverwaltungskörperschaft stehen, zum fremden Bereich gezählt. Diese Zuordnung führt zwangsläufig zu Unstimmigkeiten. Denn werden die inneren Schulangelegenheiten zum fremden Bereich gerechnet, müßten die staatlichen Aufsichtsbefugnisse konsequenterweise auf eine bloße Rechtsaufsicht beschränkt sein, die Befugnis zur Fachaufsicht bestünde nur in Sonderfällen nach ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung. 177 Dieser Schluß wird jedoch nicht gezogen. Trotz der Zuordnung zum fremden Bereich sollen die inneren Schulangelegenheiten der nichtstaatlichen öffentlichen Schulen einer - nur partiell zurückgenommenen - Fachaufsicht unterliegen. Gerade diese Festlegung zeigt, daß die inneren Schulangelegenheiten der Schulen, die in der Trägerschaft einer Selbstverwaltungskörperschaft stehen, nur terminologisch dem fremden Bereich zugeordnet, in der Sache aber wie der eigene staatliche Bereich behandelt werden. Das angestrebte Ergebnis führt letztlich zu einer (gesetzlich nicht ausdrücklich angeordneten) Fachaufsicht über einen fremden Bereich und damit zu dogmatischen Unstimmigkeiten.

b) Abweichende Stimmen im Schrifttum Jene Autoren, die Aufsichtsbefugnisse auf die Rechtsaufsicht beschränken und den gesellschaftlichen Einfluß auf die inhaltliche Unterrichtsgestaltung stärken wollen, 178 ordnen jedenfalls die inhaltliche Unterrichtsgestaltung dem fremden Bereich zu und reduzieren den Einfluß der staatlichen Verwaltung insoweit auf eine Rechtsaufsicht. Ob über die inhaltliche Unterrichtsgestaltung hinaus der gesamte Bereich der inneren Schulangelegenheiten einschließlich der organisatorischen Angelegenheiten zum fremden Bereich gezählt werden soll, läßt sich den Stellungnahmen im Schrifttum nicht eindeutig entnehmen.

177 Vgl. oben S. 83 ff., 89. Im Gegensatz zu den inneren werden die äußeren Schulangelegenheiten von der herrschenden Meinung - wegen der zu beachtenden Selbstverwaltungsrechte der Schulträger - von vornherein nur einer Rechtmäßigkeitskontrolle unterstellt. 178 Dazu bereits oben S. 81 ff., 87 ff. mit Verweis auf Jach, Staatliches Schulsystem, S. 246 und Ladeur, RdJB 1991, 263 (269); vgl. auch Stein, Selbstentfaltung, S. 59.

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

323

c) Zugrundeliegende Vorverständnisse Die verschiedenen Konzepte, die sich im Schrifttum finden, unterscheiden sich danach vor allem in der Zuordnung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung an jenen Schulen, die in der Trägerschaft einer Selbstverwaltungskörperschaft stehen, zum eigenen oder zum fremden Bereich. 179 Während die Mehrheit der Autoren zwar von einem fremden Bereich spricht, die inhaltliche Unterrichtsgestaltung aber der Sache nach zum eigenen staatlichen Bereich zählt und der Fachaufsicht unterstellt, 180 ordnet eine kleinere Gruppe von Autoren die inhaltliche Unterrichtsgestaltung dem fremden Bereich zu, der nur einer Rechtsaufsicht unterliegen soll. 1 8 1 Daß sich die beiden Lager gerade in der Frage der Zuordnung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zum eigenen oder fremden Bereich unterscheiden, ist nicht weiter erstaunlich, wenn man sich den Zusammenhang vor Augen führt, der zwischen der Auseinandersetzung um den Aufsichtsbegriff und der philosophisch-politischen Grundlagendebatte besteht.182 Die auf den Erziehungsprozeß konkretisierte Debatte beschäftigt sich im wesentlichen mit der Frage, welche Rolle dem Staat bei der Ausgestaltung der schulischen Erziehung zukommen soll. Damit verbunden sind unterschiedliche Konzepte zu der Frage, ob und inwieweit es zur Aufrechterhaltung eines demokratischen Verfassungsstaates erforderlich ist, daß dieser Staat gezielt bestimmte Werte vermittelt. Je nachdem, ob die jeweiligen Autoren bewußt oder unbewußt - im Ausgangspunkt ein republikanisches oder liberalistisches bzw. demokratisches Erziehungsmodell befürworten, sprechen sie sich für eine stärkere oder zurückhaltendere Position des Staates im Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung aus. 183 Dementsprechend werden erstere der Tendenz nach eher für eine Einbeziehung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zum eigenen staatlichen Bereich plädieren. Denn nur wenn die inhaltliche Unterrichtsgestaltung dem staatlichen Bereich zugeordnet wird, besitzt der Staat weitreichende Einflußmöglichkeiten. Liberalistische bzw. demokratische Erziehungsmodelle werden die inhaltliche Unterrichtsgestaltung demgegenüber eher dem gesellschaftlichen Bereich zuordnen und den staatlichen Bereich zurückzudrängen suchen. Insofern ist es naheliegend, daß sich die mit den jeweiligen Konzepten (bewußt oder unbewußt) verbundenen Vorverständnisse auch bei der Diskussion um die Reichweite der staatlichen Aufsichtsbefugnisse fortsetzen und auswirken. Daher sollen im Folgenden die jeweiligen Argumentationslinien näher in den Blick genommen werden. 179 Die inhaltliche Unterrichtsgestaltung an den Schulen in privater Trägerschaft wird aufgrund der Sonderregelung in Art. 7 Abs. 4 und 5 GG übereinstimmend und zu Recht dem fremden Bereich zugerechnet; vgl. dazu oben S. 80 f.

180 V g l . o b e n S. 8 6 f.

181 Dazu oben S. 87 ff. 182 Vgl. zu dieser Debatte oben S. 214 ff. 183 Eine eingehendere Darstellung zur Rolle des Staates in den einzelnen Erziehungstheorien findet sich oben S. 237 ff. 21*

324 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

III. Allgemeine Anerkennung einer Sonderstellung des Unterrichtsbereichs Trotz der skizzierten Unterschiede stimmen alle Autoren darin überein, daß dem inhaltlichen Schulunterricht eine Sonderstellung zukommt. Der Unterrichtsbereich bildet ein spezifisches, in dieser Weise einzigartiges Schnittfeld zwischen staatlichem und gesellschaftlichem Bereich. In ihm kommt es zu einer besonderen, dem übrigen Verwaltungsbereich unbekannten Verknüpfung zwischen Staat und Gesellschaft. Diese Sonderstellung des Unterrichts findet ihren Ausdruck zwar in einer gewissen Rücknahme des staatlichen Aufsichtsrechts. Die Mehrheit der Autoren unterstellt den Unterrichtsbereich unter Berufung auf die pädagogische Eigenverantwortung der Schule und die pädagogische Freiheit der Lehrer einer eingeschränkten „Fachaufsicht", die jedoch immer noch einen starken Einfluß der staatlichen Verwaltung sichert. Insbesondere beläßt es die herrschende Meinung bei der Sonderstellung des unmittelbaren Schulunterrichts. Die inhaltliche Gestaltungsbefugnis soll gerade nicht aus der Hand gegeben, sondern weiterhin dem Einfluß der staatlichen Verwaltung unterstellt werden. Abweichende Stimmen im Schrifttum gehen demgegenüber einen Schritt weiter und nehmen - wie dargelegt - jedenfalls die inhaltliche Unterrichtsgestaltung aus dem Bereich der staatlichen Schulverwaltung heraus und unterstellen sie einer bloßen Rechtsaufsicht des Staates.184 Die in diesem Zusammenhang vorgebrachten Argumente lassen sich danach bündeln, wie stark die Rolle des Staates einerseits bzw. der Gesellschaft andererseits gewichtet wird.

1. Dominierende Rolle des Staates

Für die Vertreter eines traditionellen Verständnisses vom Verhältnis von Staat und Gesellschaft ist die Vorstellung entscheidend, daß die Aufrechterhaltung eines demokratischen Staatswesens verlange, die Kinder als die zukünftigen Bürger des Staates mit einem Grundbestand an Werten vertraut zu machen, die die Gesellschaft tragen. Nur eine gewisse Einheitlichkeit in der Erziehung könne den für ein demokratisches Staatswesen notwendigen Zusammenhalt herstellen. 185 Der im Grundsatz einheitlichen Regelung der inneren Schulangelegenheiten durch die staatliche Verwaltung wird eine integrative Wirkung zugesprochen. 186 Diese Argumentation zeigt deutliche Einflüsse moderner republikanischer Denkweise. Ein Grundbestand an gemeinsam geteilten Werten wird als Garant für die Identifikation des einzelnen mit und seine Partizipation am Staatswesen und damit als 184 So insbesondere Stein, Selbstentfaltung, S. 58. In diese Richtung auch Jach, Staatliches Schulsystem S. 245; vgl. dazu oben S. 322. 185 Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 257; Evers, Erziehungsziele, S. 58. 186 Oppermann, Kulturverwaltungsrecht, S. 256 f.; v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 24.

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

325

Schlüssel für den Fortbestand eines jeden demokratischen Verfassungsstaates angesehen.187 Einige Autoren erkennen zwar an, daß die moderne plurale Gesellschaft kein einheitliches Bildungsideal mehr kennt und es dementsprechend große Schwierigkeiten bereitet, gemeinsame Werte zu finden, die der schulischen Erziehung zugrundegelegt werden können. Gleichwohl halten sie die Übertragung der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts auf die Gesellschaft für keine gangbare Alternative. Aufgrund der gesellschaftlichen Wertepluralität wird im Gegenteil dem Staat eine Schlüsselfunktion zugesprochen. Nur er soll die Fähigkeit besitzen, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ansichten über die schulische Erziehung der Kinder zu vermitteln und einen Lehrplan zu entwerfen, der den verschiedenen Interessen gerecht wird. 1 8 8 Das Vorverständnis vom Verhältnis von Staat und Gesellschaft führt dazu, daß selbst dort, wo liberalistische Ansätze in die Betrachtung einbezogen werden, diese im Ergebnis nicht durchschlagen. Zwar wird die Wertevielfalt anerkannt und zugestanden, daß ihre Einbeziehung in den schulischen Prozeß unausweichlich ist. Da jedoch nur dem Staat die Befähigung zugesprochen wird, für einen angemessenen Ausgleich zwischen den verschiedenen widerstreitenden Interessen zu sorgen, setzt sich im Ergebnis das republikanische Vorverständnis durch. Der Staat allein soll die Gewähr dafür bieten können, daß die Gesellschaft - und das aus ihr hervorgegangene Staatswesen - trotz der vorhandenen Wertepluralität nicht zerfällt. 189 Als weiteres Argument für eine dominierende Rolle des Staates bei der Unterrichtsgestaltung findet sich der Gedanke, daß die Mobilität und Flexibilität der modernen Gesellschaft es erforderten, Kinder mit einem einheitlichen Grundstandard an Kenntnissen und Fähigkeiten auszustatten. Dieser Grundstandard könne nur garantiert werden, wenn neben gewissen organisatorischen Vorkehrungen auch konkrete Erziehungsinhalte vorgegeben werden. 190 2. Maßgebender Einfluß der Gesellschaft

Jene Stimmen im Schrifttum, die aus der nicht mehr negierbaren gesellschaftlichen Wertepluralität den Schluß ziehen, daß der Staat zur Vorgabe konkreter Werte nicht (mehr) berechtigt sei, wollen diese Aufgabe möglichst weitgehend aus dem Bereich der staatlichen Schulverwaltung herauslösen und auf die Gesellschaft übertragen. Allein der Gesellschaft wird danach die Befähigung zuerkannt, für eine ausreichende Repräsentanz der unterschiedlichen in der Gesellschaft vorfindlichen Werte zu sorgen. Der Einfluß liberalistischen Gedankengutes auf diese Ar187 Allgemeine Ausführungen zum Republikanismus finden sich oben S. 233 ff. Zu den daraus folgenden Konkretisierungen für die schulische Erziehung S. 291 ff. 188 Vgl. v. Campenhausen, Erziehungsauftrag, S. 24 ff. 189

Zum republikanischen Vorverständnis oben S. 245 ff. !90 So insbesondere Oppermann , Kulturverwaltungsrecht, S. 256 f.; Evers, VVDStRL 23 (1966), 147 (149).

326 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

gumentation liegt auf der Hand. 191 Insbesondere die Betonung der gesellschaftlichen Seite mit der damit einhergehenden Zurückdrängung des Staates ist ein wesentlicher Aspekt liberalistischer Denkweise. Die verfassungsrechtlichen Gründe, die für eine möglichst weitgehende Ausklammerung des Staates aus der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung angeführt werden, variieren jedoch. Zum einen wird auf grundrechtliche Garantien zurückgegriffen, zum anderen auf Gehalte des Demokratie- und Sozialstaatsprinzips.

a) Herleitung aus den Grundrechten Zur Begründung für die Zurückdrängung des staatlichen Einflusses auf die inhaltliche Unterrichtsgestaltung werden vor allem zwei Grundrechte in Bezug genommen: Art. 2 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 3 GG.

aa)Art.

2 Abs. 1 GG

Der Rückgriff auf das in Art. 2 Abs. 1 GG verankerte Selbstentfaltungsrecht findet sich namentlich bei Stein, 192 der diesem Recht zwei Komponenten entnimmt: das Entfaltungsrecht und das Autonomierecht. Wahrend das Entfaltungsrecht die Möglichkeit garantieren soll, überhaupt eine Persönlichkeit zu entfalten, soll das Autonomierecht die Befugnis sichern, die Art und Weise der Persönlichkeitsentfaltung autonom zu bestimmen.193 Die Schule betrachtet Stein als Institution, die um der Selbstentfaltung des Kindes willen existiert. Ein staatliches Schulwesen sei daher nur dann mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, wenn es den Kindern das Ausleben ihrer individuellen Fähigkeiten und Neigungen ermögliche. 194 Die optimale Entfaltung der jeweiligen Fähigkeiten und Neigungen gebiete es, den Kindern eine möglichst große Ideenvielfalt in ideologisch neutraler Weise zu präsentieren. 195 Der Staat sei nicht die richtige Instanz, um diese ideologische Neutralität zu gewährleisten. Dementsprechend plädiert Stein dafür, jedenfalls die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts - insbesondere das Aufstellen von Bildungsplänen und Prüfungsrichtlinien - aus dem Bereich der staatlichen Verwaltung herauszunehmen. Ein freiheitliches Schulsystem setze voraus, daß die inhaltliche Gestaltung des Schulwesens in Form von Selbstverwaltungs191

Teilweise sind den Ansätzen der betreffenden Autoren auch Elemente des demokratischen Erziehungsgedankens zu entnehmen. Diese Elemente sollen hier jedoch nicht gesondert herausgestellt werden, da es in erster Linie darum geht, Tendenzen aufzuzeigen. Allgemein zu dieser Strömung innerhalb der philosophisch-politischen Grundlagendiskussion oben S. 219 ff., 239 ff. 192 Stein, Selbstentfaltung, S. 20 ff. 193 Stein, Selbstentfaltung, S. 20 ff.; 32 f. 194 Stein, Selbstentfaltung, S. 37 ff. 195 Stein, Selbstentfaltung, S. 53 ff.

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

327

angelegenheiten wahrgenommen werde. Damit soll eine Beteiligung des Staates nicht ausgeschlossen sein. Ihm soll jedoch keine dominierende Stellung zukommen dürfen. 196 bb) Art 5 Abs. 3 GG

Wie Stein mißt auch Perschel der Selbstentfaltung des Kindes eine zentrale Rolle zu. Allerdings geht er - im Gegensatz zu Stein - von der Annahme aus, daß der Selbstentfaltung des Kindes nur dann vollauf Rechnung getragen werden könne, wenn auch dem Lehrer ein eigener, vom Staat losgelöster Entfaltungsraum zur Verfügung steht. 197 Diese für die Freiheitlichkeit des Schulsystems elementare pädagogische Freiheit des Lehrers sieht Perschel in Art. 5 Abs. 3 GG garantiert, dem er neben der Garantie der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit eine eigenständige Lehrfreiheit entnimmt. 198 Die darin enthaltene Garantie solle verhindern, daß die inhaltliche Unterrichtsgestaltung durch staatliche Lehrpläne bis ins Detail hinein festgeschrieben wird. Die Lehrpläne dürften nicht mehr als Grundentscheidungen treffen und müßten dem einzelnen Lehrer - insbesondere hinsichtlich Didaktik und Unterrichtsmethode - einen großen Ausgestaltungsspielraum belassen. 199 Die Hauptaufgabe des Staates soll nach Auffassung Perschels (nur) darin bestehen, über die in Art. 7 Abs. 1 GG verankerte Schulaufsicht dafür Sorge zu tragen, daß der Unterricht tatsächlich auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes ausgerichtet ist. 2 0 0 b) Herleitung aus dem Demokratieund Sozialstaatsgebot Namentlich Jach stützt die Loslösung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung aus der staatlichen Schulverwaltung auf das Demokratie- und Sozialstaatsgebot. Aus diesen beiden Strukturprinzipien heraus soll der Staat dazu verpflichtet sein, den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einen ausreichenden Entfaltungsspielraum zu gewährleisten. Angesichts eines fehlenden einheitlichen Bildungsideals könne nicht der Staat selbst Bildungsziele aufstellen, sondern müsse sich darauf beschränken, ein Schulsystem bereitzustellen, in dem sich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Wertvorstellungen angemessen verwirklichen können. 201 Es könne nicht angehen, daß sich die gesellschaftlichen Einflußmöglichkeiten auf die Gestaltung des Schulwesens - abgesehen von den periodisch stattfindenden demo!96 197 198 199 200

Stein, Selbstentfaltung, S. 58. Perschel, DÖV 1970, 34 (38). Perschel, DÖV 1970, 34 (37). Perschel, DÖV 1970, 34 (39). Perschel, DÖV 1970, 34 (39).

201 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 230 f.; ders., Schulvielfalt, S. 28 f. und 80 ff.

328 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

kratischen Wahlen - auf die subjektiven Abwehrrechte von Eltern und Schülern reduzieren. Den einzelnen gesellschaftlichen Wertvorstellungen könne nur dann angemessen Rechnung getragen werden, wenn die gesellschaftlichen Kräfte in die inhaltliche Gestaltung des Schulwesens einbezogen werden. 202 IV. Kritik und Neuorientierung Aus Art. 7 Abs. 1 GG lassen sich keine Hinweise für die nähere Ausgestaltung des Schulwesens und damit auch nicht für die Zuordnung der einzelnen Schulangelegenheiten zum eigenen oder fremden Bereich entnehmen. Insofern ist es folgerichtig, wenn im Schrifttum nach anderen verfassungsrechtlichen Indizien für die Zuordnung insbesondere der inhaltlichen Gestaltung des Schulunterrichts zum staatlichen oder zum gesellschaftlichen Bereich gesucht wird. Dabei ist unbestritten, daß die Grundrechte ebenso wie die Strukturprinzipien auch bei der inhaltlichen Gestaltung des Schulunterrichts ihre Beachtung einfordern. Fraglich erscheint allerdings, ob den Grundrechten oder den Strukturprinzipien eine klare Zuordnung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zum staatlichen oder gesellschaftlichen Bereich entnommen werden kann.

1. Selbstentfaltung des Kindes

So richtig es ist, daß bei der Gestaltung des Schulunterrichts Raum für die Selbstentfaltung des Kindes verbleiben muß und ein vom Staat bis ins Detail, ohne Rücksicht auf die Kinderentwicklung vorgegebener Unterrichtsablauf damit nicht zu vereinbaren wäre, so unzutreffend ist die Annahme, daß Kinder selbst die Verantwortung für die inhaltliche Gestaltung des Schulunterrichts übernehmen oder ihrem Verhalten konkrete Maßstäbe für die Unterrichtsgestaltung entnommen werden könnten. Die Prämisse, daß Kinder bereits in ihren ersten Schuljahren eine vollauf entwickelte Persönlichkeit besitzen, die sie dazu befähigt, die Richtung ihrer schulischen Erziehung eigenverantwortlich zu bestimmen bzw. Maßstäbe für diese Erziehung vorzugeben, widerspricht allen Erfahrungen. Die Persönlichkeit eines Kindes kristallisiert sich im Laufe des Erziehungsprozesses mit zunehmendem Alter heraus. Zunächst einmal muß Kindern im Wege des erzieherischen Prozesses eine gewisse Grundlage an Werten vermittelt werden, die ihnen die Identitätsfindung überhaupt erst ermöglicht. 203 Daher trifft die Schlußfolgerung, daß jede vom Staat im Unterrichtsbereich vorgenommene Beeinflussung das Selbstentfaltungsrecht des Kindes verletze, 204 in dieser Pauschalität nicht zu. Art. 2 Abs. 1 202 Jach, Staatliches Schulsystem, S. 237 f.; ders., Schulvielfalt, S. 28 und 80. °3 In diesem Sinne auch Jach, Staatliches Schulsystem, S. 136 f. Sehr weit hingegen Wimmer (DVB1. 1968, 126 f.), der es als gesellschaftliche Pflicht ansieht, die Individualität des Kindes mit den Ansichten und Wertmaßstäben zu prägen, in die der einzelne hineingeboren wird. 2

§17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

329

GG läßt sich kein klares Indiz für die Zuordnung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zum gesellschaftlichen Bereich entnehmen.

2. Pädagogische Freiheit

Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, daß der Selbstentfaltung von Kindern nur angemessen Rechnung getragen werden kann, wenn auch den Lehrern bei der Unterrichtsgestaltung gewisse Freiräume zustehen, die ihnen eine flexible Reaktion auf die jeweiligen Gegebenheiten ermöglichen. Derartige Freiräume der Lehrer werden im Hinblick auf die Art und Weise der Unterrichtsgestaltung ohne weiteres anerkannt. Zu Recht wird die Absicherung dieser pädagogischen Freiheit des Lehrers in Art. 5 Abs. 3 GG jedoch weitgehend abgelehnt. Art. 5 Abs. 3 GG schützt nach ganz überwiegender und zutreffender Ansicht nur die wissenschaftliche Lehre. 205 In den unteren Schulklassen weist der Schulunterricht keinerlei wissenschaftliche Züge auf, so daß jedenfalls hier eine Berufung auf Art. 5 Abs. 3 GG ausscheidet. In den höheren Schulklassen kann teilweise von wissenschaftlicher Arbeit gesprochen und der Schule nicht von vornherein jede wissenschaftliche Betätigung abgesprochen werden. Auch diese zunehmend wissenschaftlichere Betätigung in den höheren Klassen unterliegt jedoch nicht dem Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG. Dieses Ergebnis folgt zwar nicht unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 GG, ergibt sich jedoch aus historischen und systematischen Erwägungen. Historisch gesehen wurde die Tätigkeit der Lehrer zu keiner Zeit unter besonderen Schutz gestellt. Insbesondere die Systematik des Grundgesetzes verdeutlicht darüber hinaus, daß eine Übertragung der Lehrfreiheit auf den Schulunterricht nicht gewollt war. Nicht Art. 5 Abs. 3 GG, sondern Art. 7 GG gibt den Rahmen für die Regelung der schulischen Angelegenheiten vor. Dieser greift den Gedanken der Lehrfreiheit für den schulischen Bereich gerade nicht auf. Sowohl die ältere Praxis als auch die Systematik des Grundgesetzes sprechen gegen eine Einbeziehung der Lehrfreiheit des Lehrers in den Schutz von Art. 5 Abs. 3 GG. 2 0 6 Ein zusätzliches Indiz für die Zuordnung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zum gesellschaftlichen Bereich läßt sich daraus nicht entnehmen.

204 So Stein, Selbstentfaltung, S. 20 ff. 205 Vgl. v. Münch, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rdnr. 69; Ossenbühl, DVB1. 1982, S. 1960; Stern, Staatsrecht I, S. 815. Die Rechtsprechung hat sich bislang nur sporadisch mit dieser Frage auseinandergesetzt. Vgl. dazu insbesondere BVerwG BayVBl. 1956, 247 (248). 206 Zu diesem Ergebnis kommen auch Kollatz, DÖV 1970, 594 f.; Jarass, in: Jarass/ Pieroth, Art. 5 Rdnr. 77; v. Münch, DVB1. 1964, 789 (793); Ossenbühl, DVB1. 1982, 1157 (1160); Scholz, Art. 5 Rdnr. 107; Starck, Art. 5 Rdnr. 228. In diesem Sinne auch die Rechtsprechung, vgl. u. a. BVerwG BayVBl. 1956, 247 (248). Anders hingegen Perschel, DÖV 1970, 34 (37 ff.); Staff, DÖV 1969, 627 (628 ff.).

330 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht 3. Sozialstaats- und Demokratie gebot

Im Gegensatz zur Ableitung einer festen Zuordnung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung aus den grundrechtlichen Positionen übt der Rückgriff auf die Strukturprinzipien des Grundgesetzes auf den ersten Blick eine gewisse Faszination aus. Angesichts der in der Gesellschaft vorfindlichen Wertevielfalt scheint die Forderung berechtigt, daß sich diese Wertevielfalt - jedenfalls bis zu einem gewissen Grad - auch in der Unterrichtsgestaltung widerspiegeln muß. Allerdings erweist sich der Rückgriff auf das Sozialstaatsprinzip rasch als wenig tauglich. Das Sozialstaatsgebot richtet sich als Staatszielbestimmung primär an den Gesetzgeber. Dessen Aufgabe ist es, dem Prinzip im Rahmen der Gesetzgebung zur Geltung zu verhelfen. Im Gegensatz zum Demokratieprinzip gestaltet das Sozialstaatsprinzip nicht eine bestimmte institutionelle Ordnung, sondern setzt diese voraus. 207 Auch dem Demokratieprinzip lassen sich keine klaren Aussagen über die Zuordnung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zum staatlichen oder zum gesellschaftlichen Bereich entnehmen. Das in Art. 20 Abs. 2 GG festgelegte Demokratiegebot beschreibt eine Staats- und Regierungsform und ist damit ein Organisationsprinzip für die Innehabung und Ausübung der Staatsgewalt 2 0 8 Ihm kann kein allgemeines Gebot der Demokratisierung der gesamten Gesellschaft entnommen werden. 209 Entsprechend dem repräsentativen Konzept des Grundgesetzes übt das Volk die unmittelbare Staatsgewalt gem. Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG (nur) in Form von Wahlen und Abstimmungen aus. Im übrigen wird die Staatsgewalt von Repräsentativorganen - allen voran den Parlamenten - wahrgenommen, auf die alle staatlichen Entscheidungen rückführbar sein müssen.210 Andere Beteiligungsformen als Wahlen und Abstimmungen sind nach dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Dem Demokratiegebot lassen sich daher keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß eine Einbeziehung der am schulischen Prozeß Beteiligten im Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zwingend geboten ist. 207 Vgl. u. a. Stern, Staatsrecht I, § 21 III 3 m. w. N.; Zacher, Das soziale Staatsziel, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Band I, § 25 Rdnr. 108 m. w. N. So auch die Rechtsprechung, BVerfGE 8, 274 (329); 22, 180 (204); 36, 73 (84); 50, 57 (108); BVerwGE 23, 304 (306). Im Zusammenhang mit dem schulischen Bereich stellt dies ausdrücklich Richter (Bildungsverfassungsrecht, S. 247) fest. Anders hingegen Perschel (RdJB 1969, 33 [38 ff.]), der aus dem Sozialstaatsgebot die „demokratische Sozialität", die demokratische Selbstbestimmung der Gesellschaft herleitet. Er übernimmt die von Ridder geprägte Formel vom „gesellschaftsdemokratisierenden Effekt des Sozialstaatsgebots". Für ihn ergibt sich daraus, daß im schulischen Bereich zwingend eine Mitbestimmung und -entscheidung der Schüler, Eltern und Lehrer gewährleistet sein muß. 208 Vgl. Böckenforde, Demokratie, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Band I, § 22 Rdnr. 9; Geis, Schulische Partizipationsregelungen, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 31 (39 f.). 209 So auch Geis, Schulische Partizipationsregelungen, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 31 (39 f.). 210 Dazu Hufen, Schulische Selbstgestaltung, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 51 (56 f.). Siehe auch BVerfGE 83, 60 (73); 93, 37 (68).

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331

4. Sachspezifische Notwendigkeit einer Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte

Die Notwendigkeit einer Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte in die inhaltliche Unterrichtsgestaltung und die entsprechende Zurückdrängung des Einflusses der staatlichen Verwaltung läßt sich letztlich nur aus den sachspezifischen Besonderheiten des schulischen Unterrichts heraus begründen. Die Eigenart dieses Bereichs besteht darin, daß er in enger Verknüpfung mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten soll. Prägendes Merkmal demokratischer Gesellschaften westlicher Prägung ist die - im Rahmen verfassungsrechtlicher Vorgaben - gelebte Offenheit und Pluralität sowie der Umgang mit dieser Pluralität. Wachsende kulturelle, vielfach religiös bedingte Unterschiede führen dazu, daß sich die Gesellschaft in zunehmendem Maße ausdifferenziert. 211 Sollen diese Pluralität, die Vielfalt und der Umgang mit ihr angemessen an die Kinder als künftige eigenständige Mitglieder der Gesellschaft vermittelt werden, muß sich die Gesellschaft mit allen ihren Facetten im Schulunterricht wiederfinden. Das Abstimmen der schulischen Erziehung auf die gesellschaftlichen Bedürfnisse ist freilich seit jeher eine wesentliche Aufgabe der schulischen Erziehung gewesen.212 Der Idee und der Gründung von Schulen lag der auch heute noch aktuelle Gedanke zugrunde, daß das Elternhaus aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung nicht mehr in der Lage ist, die Kinder selbst ausreichend zu unterrichten und auf das vielschichtige Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Während die Erziehung der Kinder zunächst auf freiwilliger Basis im Regelfall an privaten, ganz überwiegend in konfessioneller Trägerschaft stehenden Schulen erfolgte, erkannte der Staat allmählich das Potential, das eine staatliche Erziehung der Kinder in sich trägt. 213 Seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 kristallisierte sich unter Rückgriff auf liberale Vorstellungen eine Erziehung der Kinder zum Staatsbürger heraus. 214 Der Staat machte es sich zur Aufgabe, allen Bürgern an staatlichen Schulen ein Mindestmaß an Erziehung zu gewähren. Wenngleich ein deutlicher Unterschied in der Erziehung der Kinder an niederen und höheren Schulen zu verzeichnen war, sollten die Bürger auch an den niederen Schulen eine Erziehung erlangen, die ihnen die nötigen Kenntnisse und 211 Die Flut an Literatur, die sich mit dem Verhältnis von Politik und Religion sowie dem Phänomen der sog. „multikulturellen Gesellschaft" befaßt, ist - wie immer man den Prozeß terminologisch benennt - ein deutliches Symptom für diese Entwicklung. Vgl. nur Bielefeldt/Heitmeyer (Hrsg.), Politisierte Religion. 212 In diesem Sinne auch Bothe, VVDStRL 54 (1995), 7 (16) und Dittmann, VVDStRL 54 (1995), 47 (58). Allgemein zum Einfluß des Zeitgeistes auf die Schule Würtenberger, Zeitgeist, S. 132 ff. 213 Dazu Hamann, Geschichte des Schulwesens, S. 112 f.; speziell zur Entwicklung der preußischen Unterrichts Verwaltung (1717-1800) Heinemann, Schule, S. 1 ff. 214 Vgl. dazu die Ausführungen bei Kuhlemann, Niedere Schulen, in: Berg, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 179 (182 f.).

332 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Fähigkeiten zum Leben in einer bürgerlichen Gesellschaft vermittelte. 215 Gleichwohl behielt - zumindest zunächst - die religiöse neben der nationalen Bildung einen wichtigen Stellenwert. 216 Bis zur Weimarer Zeit bestand keine Schul-, sondern lediglich eine Unterrichtspflicht. Eine Schule war danach nur dann zu besuchen, wenn das Mindestmaß an Erziehung der Kinder nicht durch häuslichen Unterricht in ausreichender Weise gewährleistet werden konnte. 217 Mangels ausreichender privater Unterrichtsmöglichkeiten besuchte ein Großteil der Kinder fortan jedoch staatliche Schulen, was ihnen durch die Errichtung eines flächendekkenden öffentlichen Volksschulwesens ermöglicht wurde 2 1 8 So wandelte sich die ursprünglich gesellschaftliche Aufgabe zunehmend zu einer auch staatlichen. Solange die Gesellschaft, die in ihr vorfindlichen Werte und das daraus abgeleitete Bildungsideal vergleichsweise homogen waren, konnte die staatliche Verwaltung neben den organisatorischen Voraussetzungen auch die inhaltliche Unterrichtsgestaltung regeln, ohne die gesellschaftlichen Gegebenheiten - und die Vorbereitung der Kinder auf die Anforderungen dieser Gesellschaft - wesentlich zu verkürzen. Konflikte waren von vornherein auf ein Minimum begrenzt. Die wachsende Ausdifferenzierung der Gesellschaft und die zunehmende Wertevielfalt haben jedoch dazu geführt, daß der Staat alleine immer weniger in der Lage ist, die nötige Pluralität im schulischen Unterricht abzubilden und damit eine angemessene Vorbereitung der Schüler auf die Gesellschaft zu gewährleisten. Selbst unter Beachtung des Gesetzesvorbehalts sowie der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die staatliche (Schul-)Verwaltung aufgrund der Eigenarten des Sachbereichs - wie auch in anderen Bereichen, in denen die plurale Zusammensetzung der entscheidenden Instanz wesentliche Voraussetzung für die Legitimität der Entscheidung ist 2 1 9 - nicht (mehr) gewährleisten, daß sich 215 So Hamann, Geschichte des Schulwesens, S. 111; Heinemann, „Bildung" in Staatshand, in: Baumgart, Bildungspolitik, 150 (177); Kuhlemann, Niedere Schulen, in: Berg, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 179 (183). 216 Vgl. Hamann, Geschichte des Schulwesens, S. 108; Kuhlemann, Niedere Schulen, in: Berg, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 179 (183). 217 Vgl. Heckel/Avernarius, Schulrechtskunde, S. 311 f. In der Weimarer Zeit wurde die Verpflichtung zum Schulbesuch in Art. 145 WRV verfassungsrechtlich verankert. Zur Schulpflichtthematik siehe die Ausführungen oben S. 133 ff. 218 Vgl. zur Entwicklung der Volksschule im Kaiserreich Kuhlemann, Niedere Schulen, in: Berg, Handbuch der Bildungsgeschichte, S. 179 (192 ff.). 219 Ein besonders markantes Beispiel ist die Indizierung jugendgefährdender Schriften nach §§ 1 ff. GjS, deren Legitimität maßgebend auf der pluralen Zusammensetzung der Bundesprüfstelle (§§ 8 ff. GjS) beruht. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt ausdrücklich, daß die Beteiligung von Vertretern gesellschaftlicher Gruppen unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt ist, daß Entscheidungen, die die Presse- und Kunstfreiheit betreffen, möglichst in einer gewissen Staatsferne und aufgrund einer pluralistischen Meinungsbildung ergehen sollen; BVerfGE 83, 130 (150); vgl. dazu auch Schreyer, Pluralistische Entscheidungsgremien, S. 1 ff. - Eine weitere Parallele besteht zu den Rundfunkräten, in denen die bedeutsamen Gruppen der Gesellschaft repräsentiert sind (vgl. z. B. Art. 6 Abs. 2 und 3 des Bay. RundfunkG). Auch sie sollen ein ausgewogenes Meinungsspektrum im Interesse der Rundfunkfreiheit gewähr-

§ 17 Inhalt und Funktion des Aufsichtsbegriffs in Art. 7 Abs. 1 GG

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die Vielfalt der Gesellschaft angemessen in der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung wiederfindet. 220 Die Einbeziehung von Sachverstand, auf dessen Grundlage die Verwaltung entscheidet, reicht hierfür nicht aus, da es nicht allein um wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern auch um weitende Entscheidungen über die Ausgewogenheit der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung geht. Die dafür nötige Pluralität kann die Verwaltung nicht garantieren. Auch die Parlamente, die aufgrund ihrer Zusammensetzung für diese Pluralität stehen, können von ihrer Funktion und den Besonderheiten des parlamentarischen Verfahrens her nicht mehr als allgemeine Richtwerte sowie organisatorische und verfahrensmäßige Vorgaben liefern, nicht aber flexibel die nötigen konkreten Unterrichtsinhalte festlegen. 221 Insofern liegt die Übertragung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung auf demokratisch legitimierte, pluralistisch besetzte Gremien nahe, 222 die die zu berücksichtigenden Interessen und Belange angemessen repräsentieren und am ehesten die Gewähr dafür bieten, daß die schulische Erziehung den gesellschaftlichen Anforderungen entspricht. 223 Im vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, daß der Staat zwar durch Vorgabe von Erziehungszielen, eines organisatorischen Rahmens und der Verfahrensvoraussetzungen die Einheitlichkeit der schulischen Ausbildung garantieren kann, die konkrete inhaltliche Gestaltung des Unterrichts aber aufgrund der sachspezifischen Besonderheiten dem gesellschaftlichen Bereich vorbehalten muß. Verkürzt gesprochen garantiert der Staat die grundsätzliche Homogenität der schulischen Ausbildung, die Gesellschaft liefert die konkreten Inhalte. Auf diese Weise ist es auch möglich, kulturellen Besonderheiten - je nach gesellschaftlicher Zusammensetzung - flexibler Rechnung zu tragen. 224 Soweit die Zuordnung zum eigenen oder fremden Bereich in Rede steht, wäre die konkrete inhaltliche Unterrichtsgestaltung durch pluralistisch besetzte Gremien zum gesellschaftlichen und damit fremden Bereich zu zählen. Die Gremienarbeit und ihr Ergebnis könnten von der staatlichen Verwaltung nur auf die Einhaltung der rechtlichen Vorgaben - insbesondere der verfahrensmäßigen Anforderungen, der Vereinbarkeit mit den Erziehungszielen und der Übereinstimmung mit der Verfassung - kontrolliert werden. Insoweit wäre die Aufsicht auf eine Rechtsaufsicht beschränkt. Im organisatorischen Bereich der inneren Schulangelegenheiten stellt sich eine derartige spezifische Notwendigkeit zur Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte leisten. Insofern geht es um „Rundfunkkontrolle der gesellschaftlich relevanten Kräfte" (vgl. BVerfGE 83, 238 [334]; BVerfG DVB1. 1996, 97 [98]). 220 Näher dazu sogleich unten S. 337 ff. 221 Vgl. dazu sogleich unten S. 338 ff. 222 Vgl. zu Parallelen in den Vereinigten Staaten oben S. 177 ff. 223 Weitere Ausführungen zu diesen Gremien, ihrer Funktion und ihrer Zusammensetzung unten S. 337 ff. Dort auch zu der Frage, welche Entscheidungen vom Staat zu treffen bzw. den Gremien zu überlassen sind. 22 4 Vgl. dazu unten S. 337 ff.

334 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

nicht. Hier geht es nicht um einen besonderen Schnittbereich von Staat und Gesellschaft mit einer ganz eigenen Dynamik, sondern um Aspekte, die die Schule als Verwaltungsbehörde betreffen. Dieser Bereich unterliegt der üblichen verwaltungsinternen Kontrolle. Da auch die verwaltende Tätigkeit der Schule - wie etwa das Aufstellen der Hausordnung - Auswirkungen auf die am schulischen Prozeß Beteiligten - Schüler und Eltern - entfalten kann, können den Beteiligten entsprechende Mitwirkungsrechte eingeräumt werden. Der Staat ist hierzu jedoch nicht verpflichtet. Werden Eltern und Schülern nicht nur Mitwirkungsrechte im Vorfeld einer Entscheidung, sondern Entscheidungsbefugnisse eingeräumt, muß aber sichergestellt werden, daß die Entscheidungen die erforderliche demokratische Legitimation aufweisen. 225 Diesem Aspekt kommt insofern Bedeutung zu, als Eltern und Schüler - selbst wenn sie in schulische Gremien gewählt wurden - keine ausreichende demokratische Legitimation besitzen. 226 Nach dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes sind nur solche Entscheidungen demokratisch legitimiert, die auf das Volk als Ganzes zurückgeführt werden können. Teile der Gesellschaft - unabhängig davon, wie groß die jeweiligen Gruppen sind - besitzen diese Legitimation nicht. 227 Im schulischen Bereich sind allein der Schulleiter und die Lehrer aufgrund ihrer Ernennung durch den zuständigen Minister, der wiederum dem Parlament verantwortlich ist, (mittelbar) demokratisch legitimiert. Die Stimmverhältnisse zwischen Eltern, Schülern, Lehrern und der Schulleitung müssen daher so verteilt sein, daß Lehrer und Schulleitung nicht überstimmt werden können.

§ 18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse im schulischen Bereich Die Frage nach der Reichweite des Aufsichtsrechts ist eng mit der Frage nach der Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse im schulischen Bereich verbunden. Bis in die siebziger Jahre hinein wurde nicht zwischen der Reichweite des Aufsichtsrechts und der gesetzgeberischen Regelungsbefugnis unter225

Wird Eltern und Schülern lediglich die Möglichkeit zur Beratung, Empfehlung oder Stellungnahme eingeräumt, ist dies unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation unproblematisch. In diesen Fällen wird die Letztentscheidung allein von Schulleitung und Lehrern getroffen, die über die notwendige demokratische Legitimation verfügen. Vgl. zur Problematik der Partizipation von Eltern, Schülern und Lehrern im Schulbereich die aufschlußreichen und differenzierten Ausführungen bei Geis, Schulische Partizipationsregelungen, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 31 ff. und Hufen, Schulische Selbstgestaltung, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 51 ff. 226 Hufen, Schulische Selbstgestaltung, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 51 (57). 227 Böckenförde, Demokratie, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Band I, § 22 Rdnr. 29; Geis, Schulische Partizipationsregelungen, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 31 (40).

§18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse

335

schieden. Aufgrund der Einbeziehung der Schulen in das besondere Gewaltverhältnis hielt sich der Gesetzgeber bei der Regelung dieses Bereichs weitgehend zurück und überließ ihn der Exekutive zur mehr oder weniger freien Ausgestaltung. Bewegung in den zunächst vor allem durch Verwaltungsvorschriften geregelten Schulbereich kam erst mit der vom Bundesverfassungsgericht erzwungenen Preisgabe des Instituts des besonderen Gewaltverhältnisses. 228 Seither hat der Schulbereich seine frühere Sonderstellung verloren und unterliegt - wie jeder andere Verwaltungsbereich - bis zur Grenze der verfassungsrechtlich abgesicherten Rechte der uneingeschränkten gesetzgeberischen Gestaltungsbefugnis. 229 Im Schulbereich kommt hinzu, daß der Gesetzgeber aufgrund der Regelungen des Art. 7 Abs. 4 und 5 GG besonderen Bindungen unterliegt, die zur Unterscheidung zwischen den Schulen in öffentlicher und jenen in privater Trägerschaft zwingen. Mit Blick auf die Schulen in privater Trägerschaft werden der gesetzgeberischen Gestaltungsbefugnis durch Art. 7 Abs. 4 und 5 GG sowohl im Bereich der äußeren als auch im Bereich der inneren Schulangelegenheiten Grenzen gesetzt. Es entspricht allgemeiner Überzeugung, daß der Charakter der Privatschulen nur aufrechterhalten und eine Aushöhlung der grundgesetzlichen Privatschulgarantie nur vermieden werden kann, wenn es der Gesetzgeber im Privatschulbereich bei Rahmenvorgaben beläßt und die nähere Ausgestaltung den einzelnen Privatschulen überläßt. Den Privatschulen stehen danach vergleichsweise große Freiräume bei der organisatorischen, insbesondere aber bei der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zu 2 3 0 Bei den Schulen in der Trägerschaft der Kommunen und Kreise hat der Gesetzgeber bei seinen Regelungen darüber hinaus im Bereich der äußeren Schulangelegenheiten die in Art. 28 Abs. 2 GG verankerten Selbstverwaltungsrechte der Träger zu beachten.

A. Grundsätzlich volle gesetzgeberische Regelungsbefugnis Angesichts dieses auf den ersten Blick klaren Befundes setzt sich die große Mehrheit der Autoren mit der grundsätzlichen Regelungsbefugnis des Gesetzgebers im schulischen Bereich nicht näher auseinander. Die Frage, inwieweit die inhaltliche Unterrichtsgestaltung überhaupt durch den Staat - sei es durch unmittelbare Regelungen des Gesetzgebers, sei es durch mittelbare der Exekutive - vor228 Vgl. dazu oben S. 70 ff. 229 Die Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat allerdings dazu geführt, daß dem Gesetzgeber nicht nur das Recht zusteht, sondern ihm auch die Pflicht obliegt, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. 230 Auf weitere Einzelheiten zur Reichweite der gesetzgeberischen Befugnisse hinsichtlich der Schulen in privater Trägerschaft soll im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Schulen in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft.

336 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

genommen werden darf, wird gar nicht erst aufgeworfen. So wird der Eindruck vermittelt, als ob an der grundsätzlichen Regelungsbefugnis des Staates im schulischen Bereich keinerlei Zweifel bestehen könnten. Die Diskussion fängt erst auf der nachfolgenden Ebene bei der Frage an, inwieweit die inhaltliche Unterrichtsgestaltung grundsätzlich vom Gesetzgeber selbst wahrzunehmen ist oder nicht die Möglichkeit besteht, es bei der gesetzgeberischen Vorgabe von Grundzügen zu belassen und die konkrete inhaltliche Ausformung auf die Exekutive zu übertragen. Letztlich geht es dabei um die Auseinandersetzung, was als wesentlich anzusehen und daher zwingend vom Gesetzgeber selbst zu regeln ist und was unter Beachtung des Art. 80 Abs. 1 GG auf die Exekutive verlagert werden darf.

B. Zweifel an einer uneingeschränkten gesetzgeberischen Regelungsbefugnis Trotz dieses scheinbar eindeutigen Ergebnisses bezweifeln einige Autoren die unbeschränkte Befugnis (auch) des Gesetzgebers jedenfalls im Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung. Wie schon beim Aufsichtsbegriff 231 zeigt sich hier erneut die Sonderstellung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung. Je nachdem, ob die Autoren eher ein republikanisches oder ein liberalistisches Erziehungsmodell voraussetzen, gestehen sie auch dem Gesetzgeber unterschiedlich weitreichende Regelungsbefugnisse zu. 2 3 2 Daß die gesetzgeberische Regelungsbefugnis beschränkt sein soll, wird entweder aus dem Recht des Kindes auf freie Selbstentfaltung oder aus dem Demokratie- und Sozialstaatsgebot hergeleitet. Die Argumente, die bereits im Zusammenhang mit der Frage vorgebracht wurden, ob die inhaltliche Unterrichtsgestaltung eher zum eigenen staatlichen oder zum fremden Bereich zu zählen ist, 2 3 3 tauchen auch hier wieder auf. Sie werden als Begründung dafür herangezogen, daß sich der Staat - und damit auch der Gesetzgeber - weitgehend aus dem Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zurückziehen müsse. Das Tätigwerden des Gesetzgebers soll sich auf die Vorgabe eines Handlungsrahmens beschränken (müssen), der sicherstellt, daß die Ansichten der einzelnen am Erziehungsprozeß Beteiligten ausreichende Beachtung finden. 234 Die Auseinandersetzung um den Aufsichtsbegriff des Art. 7 Abs. 1 GG hat jedoch gezeigt, daß die vorgebrachten Argumente im Ergebnis nicht überzeugen, da sie entweder einem zu 231 Vgl. dazu oben S. 324 ff. 232 Während die herrschende Meinung die inhaltliche Ausgestaltung des Unterrichts durch den Gesetzgeber für selbstverständlich erachtet, um eine gewisse Einheitlichkeit der schulischen Erziehung mit Blick auf die zu vermittelnden Werte zu gewährleisten, sehen einige Autoren in einer einheitlichen Schulerziehung und Wertevermittlung tendenziell eine die Wertevielfalt unterdrückende und damit dem Wesen der pluralistischen Gesellschaft widersprechende Konzeption. 233 Vgl. oben S. 326 ff. 234 Dazu Jack, Staatliches Schulsystem, S. 235 f.; ders., Schulvielfalt, S. 28 f. und 80 ff.

§ 18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse

337

weitgehenden Verständnis vom Selbstentfaltungsrecht des Kindes oder einem stark gesellschaftsbezogenen, über das Konzept des Grundgesetzes hinausgehenden Demokratie- und Sozialstaatsverständnis verhaftet sind. 235 Trotz der unbefriedigenden Antworten ist die zugrundeliegende Frage, ob der Staat selbst den gesamten Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung angemessen zu regeln vermag, jedoch berechtigt und verdient nähere Betrachtung.

C. Teilweise Übertragung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung auf demokratisch legitimierte Gremien Entgegen der gängigen Praxis, die sich bei der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung meist sogleich der Frage zuwendet, was - angefangen von den Bildungszielen bis hin zu den einzelnen Lehrplänen - vom Gesetzgeber zwingend selbst zu regeln ist bzw. auf die Verwaltung übertragen werden darf, gilt es sich zunächst die Eigenarten des Sachbereichs zu vergegenwärtigen. 236 Erst die sachbereichsspezifischen Besonderheiten können Aufschluß darüber geben, ob und inwieweit der Gesetzgeber den betreffenden Bereich überhaupt angemessen zu regeln vermag. Im Gegensatz zu anderen schulischen Bereichen - den äußeren Schulangelegenheiten sowie den innerschulischen organisatorischen Maßnahmen - kommt es bei der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zu einer atypischen, dem übrigen (traditionellen) Verwaltungsbereich fremden Verbindung zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Belangen. Im Bereich der äußeren Schulangelegenheiten trifft der Gesetzgeber - je nach Trägerschaft der Schule - Maßnahmen im eigenen Verwaltungsbereich oder gegenüber einer Selbstverwaltungskörperschaft, der gegenüber er den bekannten Beschränkungen aus Art. 28 Abs. 2 GG unterliegt. Im Bereich der inneren Schulangelegenheiten verkörpern die organisatorischen Maßnahmen die übliche Verwaltungstätigkeit des Staates, der insoweit der Gesellschaft gegenübersteht und diesen Bereich ohne weiteres näher zu regeln vermag. Bei der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung handelt es sich demgegenüber um einen Bereich, in dem es zu einer besonderen Gemengelage von staatlichen und gesellschaftlichen Einflüssen kommt. In der spezifischen Überschneidung beider Bereiche spiegelt sich die Eigenart der Institution Schule. Trotz der Tatsache, daß die öffentliche Schule (auch) Teil der staatlichen Verwaltung ist, kann die inhaltliche Unterrichtsgestaltung nicht wie jede beliebige andere Verwaltungsaufgabe behandelt werden. Der eigentliche und entscheidende Berührungspunkt der einzelnen Gesellschaftsmitglieder mit der Institution Schule ist der Unterricht. Würde der Unterricht ohne Einfluß der Gesellschaft und ohne Rücksicht auf die gesellschaftlichen 235 V g l . d a z u o b e n S. 3 2 8 ff.

236 Vgl. zu den Besonderheiten des Sachbereichs oben S. 324 ff. 22 Rathke

338 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

Gegebenheiten geregelt, wäre es der Schule nicht möglich, einer ihrer wesentlichsten Aufgaben - der Vorbereitung der Schüler auf die Gesellschaft - angemessen nachzukommen.237 Wesentliches Merkmal der Gesellschaften westlich-demokratischer Prägung ist die im Rahmen von Verfassungen geübte Offenheit und Pluralität sowie der - die Bedingungen dieser Gesellschaft wahrende - Umgang mit dieser Pluralität. Sollen diese Pluralität und der angemessene Umgang mit ihr an die zukünftigen Gesellschaftsmitglieder weitervermittelt werden, müssen sie sich in der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung der Schulen wiederfinden. Damit stellt sich die Frage, welche Instanz am ehesten geeignet ist, die geforderte Pluralität im schulischen Unterricht abzubilden und dadurch eine angemessene Vorbereitung der Kinder auf die Gesellschaft zu gewährleisten. Erhebliche Zweifel bestehen daran, daß die Schulverwaltung alleine geeignet und in der Lage ist, die relevanten Belange und Interessen zu bündeln 238 und das Gesamtspektrum der gesellschaftlichen Entwicklung für Lehr- und Lernzwecke angemessen zu reduzieren. Nicht zuletzt das Beispiel der Rundfunkräte 239 zeigt, daß die Verwaltung für sich genommen nicht die geeignete Instanz sein kann, um die für eine Entscheidung über (noch) tolerable, zu vermittelnde oder nicht zu vermittelnde Inhalte nötige Offenheit und Pluralität zu gewährleisten. Der Gesetzgeber, der die erforderliche Pluralität sicherstellen könnte, ist von den Einzelheiten und Feinheiten der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung zu weit entfernt, als daß er mehr festlegen könnte als allgemeine Unterrichtsziele und einen organisatorischen Rahmen. Der Aufwand und die Länge parlamentarischer Verfahren lassen sie zudem wenig geeignet erscheinen, die inhaltliche Unterrichtsgestaltung detaillierter zu regeln und zugleich den steten und flexiblen Anschluß an die gesellschaftliche Entwicklung zu sichern. Als geeigneter Weg, eine flexible und ausgewogene, die jeweilige gesellschaftliche Vorprägung besser berücksichtigende inhaltliche Unterrichtsgestaltung zu gewährleisten, bietet sich deren Übertragung auf demokratisch legitimierte und pluralistisch besetzte Gremien an. Durch die Festlegung und gegebenenfalls flexibel zu ergänzende Zusammensetzung der Gremien kann dafür Sorge getragen werden, daß die einzelnen Interessen und Belange angemessen repräsentiert werden. Die Gremien sollten auf Länderebene angesiedelt sein und den Spitzen der jeweiligen Schulverwaltung zuarbeiten. 240 Im Gegensatz zu den Landesparlamenten besitzen 237 Detailliertere Ausführungen zur Aufgabe der Schule finden sich im Rahmen der Darstellung des Aufsichtsbegriffs oben S. 324 ff. 238 Die zu berücksichtigenden Interessen sind nicht nur jene des Staates, der Kinder und der Eltern, sondern auch jene der Vertreter der wichtigsten kulturellen Gruppen, der Wirtschaft, der Berufsverbände, Universitäten etc. 239 Vgl. z. B. Art. 6 Abs. 2 und 3 des Bay. RundfunkG. Näher zur binnenpluralistischen Struktur des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 I, II Rdnr. 258 ff. mit zahlr. weit. Nachw. 240 Eine Ansiedlung der Gremien auf kommunaler Ebene, wie dies in den Vereinigten Staaten üblich ist (vgl. dazu oben S. 177 ff.), erscheint in Deutschland wenig sinnvoll, da es an einer entsprechenden Tradition fehlt und die Gefahr einer Zersplitterung der Unterrichtsgehalte zu groß wäre.

§18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse

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auf Landesebene anzusiedelnde demokratisch legitimierte Gremien den Vorteil, auf Fragen der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung spezialisiert zu sein und dadurch in diesem spezifischen Sachbereich rascher, effektiver und gezielter arbeiten zu können als die Parlamente. Im Vergleich zur Schulverwaltung sind sie besser geeignet, gesellschaftliche Pluralität abzubilden und in die inhaltliche Unterrichtsgestaltung einzubringen. Sie erscheinen danach als die am besten geeignete Instanz, um zugleich gesellschaftliche Pluralität, neuere Entwicklungen und wissenschaftlichen Sachverstand in die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts einfließen zu lassen. Der in jüngerer Zeit wiederholt gemachte Vorschlag, die inhaltliche Unterrichtsgestaltung - innerhalb eines vom Gesetzgeber grob vorgegebenen Rahmens - auf die Schulen bzw. lokale Gremien vor Ort zu übertragen, 241 erscheint demgegenüber wenig ratsam, zumal er zahlreiche Probleme aufwirft. Zwar brächte eine Verlagerung der Entscheidung über die inhaltliche Unterrichtsgestaltung auf die Schulen vor Ort die Möglichkeit mit sich, in besonderem Maße auf die lokalen Besonderheiten einzugehen. Dieses Ergebnis kann jedoch zu einem guten und ausreichenden Teil auch mit einem Gremium auf Landesebene erzielt werden. Durch die Zusammensetzung des Gremiums aus Vertretern des Staates sowie verschiedenster gesellschaftlicher Gruppen können mehrere Konzepte parallel ausgearbeitet werden, die entsprechend den lokalen Gegebenheiten zum Einsatz kommen. Je nach Bevölkerungsstruktur, Anteil ausländischer Schüler und kultureller Zusammensetzung bestünde dann die Möglichkeit, unterschiedliche Schwerpunkte zu setzen. Durch die Repräsentanz der unterschiedlichen kulturellen Gruppen im Gremium könnte dafür Sorge getragen werden, daß deren Vorstellungen über die inhaltliche Ausrichtung des Schulunterrichts in den Prozeß eingebracht werden. Hinzu kommt, daß ein Gremium auf Landesebene bessere Gewähr für die Qualität der getroffenen Entscheidungen bietet. Bei der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts geht es zwar auch, aber nicht allein darum, die Interessen von Schülern und Eltern zu berücksichtigen. Repräsentanten der Arbeitswelt und anderer gesellschaftlicher Felder müßten in den Gremien ebenso vertreten sein wie wissenschaftliche Fachkräfte, um den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Anforderungen bereits in der Schule angemessen Rechnung tragen zu können. Qualifizierte Leute für die Mitarbeit in einem Gremium sind jedoch eher auf Landesebene zu gewinnen als vor Ort für jede einzelne Schule. Ein nicht zu vernachlässigendes Argument für die Verankerung der Gremien auf Landesebene ist darüber hinaus das Erfordernis einer ausreichenden demokratischen Legitimation der Gremienentscheidungen. Auf Landesebene können die Gremienmitglieder über die Ernennung durch den für den Schulbereich zuständigen Minister mittelbar demokratisch legi241 Diese Ansicht hat vor allem durch den 1995 erschienenen Bericht der Bildungskommission NRW (Zukunft der Bildung - Schule der Zukunft) neue Impulse bekommen. Siehe dazu auch Jenkner, Schulverfassung, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 1(13 ff.).

22*

340 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

timiert werden. 242 In den Schulen vor Ort haben hingegen im Regelfall nur die Schulleitung und die Lehrer über die Ernennung durch den zuständigen Minister eine (mittelbare) demokratische Legitimation. Eltern und Schüler sind - selbst wenn sie in schulische Gremien gewählt wurden - auf dieser Ebene ebensowenig demokratisch legitimiert wie andere Repräsentanten der gesellschaftlichen Gruppen oder der wissenschaftlichen Fachwelt. 243 Eine Ernennung sämtlicher Gremienmitglieder aller lokalen Schulen durch den Minister ist faktisch nicht realisierbar. Vor diesem Hintergrund ist eine ausreichende (mittelbare) demokratische Legitimation in den Schulen und Schulgremien vor Ort nur möglich, wenn entweder die Schulleitung die Mehrheit in den entscheidenden Gremien stellt oder die Gremienentscheidungen in vollem Umfang der Fachaufsicht der Schulverwaltung unterliegen. Beide Wege sind nicht gangbar, wenn nicht das Ziel einer Pluralisierung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung durch Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte von vornherein aufgegeben werden soll. Eine Dominanz der Schulleitung und der Lehrer widerspräche der Grundidee einer ausgewogenen Repräsentanz der vielfältigen gesellschaftlichen Interessen. Eine Kontrolle durch die Fachaufsicht würde eben jene Pluralität, die durch die Beteiligung verschiedenster Repräsentanten an der inhaltlichen Gestaltung des Schulunterrichts gewährleistet werden soll, zunichte machen. Schließlich darf auch nicht unbeachtet bleiben, daß die weitgehende Übertragung der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung auf die Schulen und Schulgremien vor Ort die Gefahr einer Zersplitterung des Schulwesens in sich birgt. Zwar sollen Schulen durchaus die Möglichkeit haben, lokalen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Die einzelnen Schulen dürfen sich aber auch in der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung nicht so weit voneinander unterscheiden, daß den Schülern ein Schulwechsel kaum noch möglich ist. Die Wahrscheinlichkeit, daß Eltern ihr gesamtes Berufsleben an einem Ort verbringen, sinkt zunehmend. Ein Schulwesen, daß den Anforderungen einer modernen Gesellschaft Rechnung tragen soll, muß auch diesen Gesichtspunkt berücksichtigen. Dementsprechend sollte eine gewisse Einheitlichkeit nicht nur in der organisatorischen, sondern auch in der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung gewährleistet sein. 244 Demokratisch legitimierte, pluralistisch besetzte Gremien auf Landesebene, die der Spitze der jeweiligen Schul Verwaltung zuarbeiten, scheinen dafür am besten geeignet. Die bundesweite Abstimmung und Anerkennung könnte nach dem bewährten Muster zwischen den Ländern vorgenommen werden.

242

Nähere Ausführungen zur demokratischen Legitimation unten S. 341 f. Vgl. zur fehlenden demokratischen Legitimation von Eltern und Schülern die Ausführungen oben S. 334. 244 Auf diesen Gesichtspunkt weist auch Hufen (Schulische Selbstgestaltung, in: Jach / Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 51 [56 f.]) hin. 243

§ 18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse

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D. Aufgabenverteilung zwischen Gesetzgeber, Gremium und Schulverwaltung Die Erkenntnis, daß der Gesetzgeber selbst die inhaltliche Unterrichtsgestaltung nicht umfassend regeln kann und - abgesehen von den allgemeinen Zielen - auf Gremien delegieren sollte, enthebt ihn nicht der Verpflichtung, die Gremienarbeit soweit wie möglich näher auszugestalten. Insbesondere obliegt ihm die Aufgabe, die demokratische Legitimation, die pluralistische Besetzung des Gremiums und die wesentlichen Grundzüge des Verfahrens sicherzustellen. 245 I. Demokratische Legitimation des Gremiums Die Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf ein pluralistisch besetztes Gremium ist nach wie vor keine Alltäglichkeit. Werden Aufgaben auf Gremien übertragen, besitzen diese im Regelfall nur beratende Funktion. Die letztliche Entscheidung wird vom Parlament selbst oder der mittelbar demokratisch legitimierten Verwaltung getroffen, so daß der Aspekt der demokratischen Legitimation im Regelfall keine Schwierigkeiten bereitet. 246 Im Bereich der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung verbietet es die Eigenart der zu regelnden Materie jedoch, nur die Vorarbeit auf ein Gremium zu übertragen, die Endentscheidung aber beim Parlament oder der Schulverwaltung zu belassen. Das parlamentarische Verfahren ist aufgrund seiner Länge, des Aufwandes und der gesamten Ausgestaltung nicht geeignet, über Einzelheiten der inhaltlichen Unterrichtsgestaltung und deren flexible Anpassung an gesellschaftliche Entwicklungen zu entscheiden.247 Aber auch die Verwaltung ist aufgrund der sachspezifischen Besonderheiten zur Letztentscheidung nach dem Gremium nicht berufen. Das Gremium verkörpert gerade die verschiedenen, bei der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts zusammenfließenden Interessen, die in dieser Vielfalt und mit diesem Sachverstand in der Schulverwaltung nicht vertreten sind. Würde die Letztentscheidung der Verwaltung obliegen, führte dies wieder zur Verkürzung eben jener Pluralität, zur deren Wahrung das Gremium gerade geschaffen wurde. Dessen spezifischer Funktion stünde es entgegen, wenn die Schulverwaltung entschiede, ob die vom Gremium unterbreiteten Vorschläge zur inhaltlichen Unterrichtsgestaltung den gesellschaftlichen Anforderungen entsprechen. Damit die demokratische Legitimation des Gremiums ge245

Zu den vom Bundesverfassungsgericht gestellten Anforderungen BVerfGE 83, 130 ff. Das Paradebeispiel eines nur beratenden Gremiums ist die in §§ 4, 5 GenTG vorgesehene Zentrale Kommission für die Biologische Sicherheit (ZKBS); dazu Hirsch/SchmidtDidczuhn, Gentechnikgesetz, §§4 und 5; Wahl, Gentechnikgesetz, in: Landmann/ Rohmer, Umweltrecht, Band 3, §§ 4 und 5. Allgemein zur Problematik der Einbeziehung von externem Sachverstand in Verwaltungsentscheidungen, Brohm, Sachverständige Beratung des Staates, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdbStR, Band II, S. 207 ff.; Di Fabio, VerwArch. 81 (1990), 193 ff. 24 7 Vgl. dazu bereits oben S. 338. 246

342 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

währleistet ist, sind die Gremienmitglieder von dem für den Schulbereich zuständigen Minister zu ernennen. Der Minister vermittelt als Mitglied einer dem Parlament verantwortlichen Regierung die notwendige demokratische Legitimation in Form einer ununterbrochenen Legitimationskette.248

II. Regelung der Gremienzusammensetzung und des Verfahrens Neben der gesetzlichen Absicherung der demokratischen Legitimation des Gremiums besteht eine weitere wesentliche Aufgabe des Gesetzgebers in der Festlegung der Gremienzusammensetzung sowie des Verfahrensablaufs der Gremienarbeit. 249 Dabei obliegt dem Landesgesetzgeber die Pflicht, die wesentlichen Fragen der Zusammensetzung selbst zu regeln. Darüber hinaus muß er vorgeben, wie die einzelnen Repräsentanten innerhalb der einzubeziehenden Gruppen zu ermitteln sind. Die Verfahrensregelungen müssen zum Ziel haben, daß in dem Auswahlverfahren die in den beteiligten Kreisen vertretenen Auffassungen möglichst vollständig erfaßt werden. 250 Durch die gesetzliche Vorgabe der Gremienzusammensetzung sowie des Verfahrens, wie die einzelnen Vertreter innerhalb der einzubeziehenden Gruppen zu ermitteln sind, wird sichergestellt, daß alle am schulischen Prozeß beteiligten und interessierten gesellschaftlichen Kräfte angemessen repräsentiert werden. Auf diese Weise wird dafür Sorge getragen, daß nicht nur die dominierenden gesellschaftlichen Kräfte zu Wort kommen, sondern auch den Interessen von Minderheiten die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Dadurch können relevante kulturelle Strömungen von vornherein in den Entscheidungsprozeß über die inhaltliche Unterrichtsgestaltung einbezogen werden. Über die gesetzlich festzulegenden Verfahrensregeln ist zudem zu gewährleisten, daß der Prozeß bis zur Entscheidungsfindung nach demokratischen Regeln verläuft. Dabei ist auch dem Gedanken des Minderheitenschutzes Rechnung zu tragen. Durch die Ausgestaltung des Verfahrens - über Quoren und qualifizierte Mehrheiten - muß garantiert werden, daß Minderheitsauffassungen nicht ohne weiteres überstimmt werden können. 251 Aufgrund der Bedeutung des Verfahrens sind auch diese Regelungen an den Grundrechten - im vorliegenden Zusammenhang insbesondere an Art. 4 Abs. 1 und 2 GG - zu messen. 248 In der Mutzenbacher-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, daß die Ernennung durch den Minister zur Vermittlung demokratischer Legitimation ausreicht; vgl. BVerfGE 83, 130 (149). 249 Vgl. BVerfGE 83, 130 (149). Zu den Anforderungen an die Zusammensetzung der Rundfunkräte nur Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 I, II Rdnr. 260 mit zahlr. weit. Nachw. 2 50 So auch BVerfGE 83, 130 (153). 2

51 Vgl. BVerfGE 83, 130 (152 f.).

§ 18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse

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III. Vorgabe von Bildungszielen Über die Regelung der Gremienzusammensetzung und des Verfahrens hinaus ist der Gesetzgeber unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeit aufgerufen, allgemeine Bildungs- und Erziehungsziele für die inhaltliche Unterrichtsgestaltung vorzugeben. 252 Im Gegensatz zur konkreten inhaltlichen Unterrichtsgestaltung, für die das parlamentarische Verfahren keinen geeigneten Entscheidungsmechanismus darstellt, geht es bei der Vorgabe von Bildungszielen nicht um detaillierte Aussagen zu einzelnen Unterrichtsinhalten, sondern um allgemeine Richtpunkte, innerhalb deren dem Gremium bei der konkreten inhaltlichen Unterrichtsgestaltung ein weiter Ausgestaltungsspielraum verbleibt. Allgemeine Bildungs- und Erziehungsziele sind aufgrund ihrer Abstraktheit weniger dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen und bedürfen im Unterschied zu den konkreten Unterrichtsinhalten keiner ständigen Korrektur, mit der das parlamentarische Verfahren überfordert wäre. In allen Bundesländern haben sich die Parlamente auf bestimmte allgemeine Bildungsziele geeinigt und diese als Leitbild der schulischen Erziehung in den Landesverfassungen oder den jeweiligen Schulgesetzen niedergelegt. 253 Auch die Festlegung der allgemeinen Erziehungsziele muß den Grundrechten, namentlich Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, sowie der staatlichen Neutralitätspflicht Rechnung tragen.

E. Privatschulen als Alternative? Mit Blick auf Zuschnitt und Umfang der Arbeit wurde auf eine detaillierte Auseinandersetzung mit den Schulen in privater Trägerschaft verzichtet. Lediglich im Zusammenhang mit dem Aufsichtsrecht des Art. 7 Abs. 1 GG sowie bei der Reichweite der gesetzgeberischen Befugnisse im Schulbereich wurden die Regelungen zu den Privatschulen als Vergleichsmaßstab herangezogen. 254 Ohne auf die rechtliche Ausgestaltung der Privatschulen näher einzugehen, soll abschließend die Frage aufgeworfen werden, inwieweit ein Privatschulkonzept eine Alternative zum öffentlichen Schulwesen darstellen könnte. Dabei ist erneut ein vergleichender Blick auf die Rechtslage in den Vereinigten Staaten255 aufschlußreich. 252

Zu den Auswirkungen der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auf den Schulbereich Staupe, Parlamentsvorbehalt und Delegationsbefugnis. 253 Eine Verankerung bereits in der Landesverfassung findet sich in Baden-Württemberg (Art. 11), Bayern (Art. 128), Brandenburg (Art. 28), Bremen (Art. 26 f.), Hessen (Art. 55), Mecklenburg-Vorpommern (Art. 15 Abs. 3), Nordrhein-Westfalen (Art. 7), Rheinland-Pfalz (Art. 27 f.), Saarland (Art. 26 ff.), Sachsen (Art. 101 Abs. 1), Sachsen-Anhalt (Art. 27 Abs. 2) und Thüringen (22). In Berlin (§ 1), Niedersachsen (§ 2), Hamburg (§ 2) und Schleswig-Holstein (§ 4) finden sich entsprechende Regelungen in den Schulgesetzen. 2 54 Dazu oben S. 77 ff. und S. 83 ff. 255

Vgl. zum Schulrecht in den Vereinigten Staaten oben S. 177 ff.

344 5. Kap.: Das öffentliche Schulwesen zwischen Religionsfreiheit und Aufsichtsrecht

In den Vereinigten Staaten ist die Frage nach der Rolle der Privatschulen in einem demokratischen Staatswesen von grundlegender Bedeutung. Da die amerikanische Bundesverfassung keine Aussagen zur Gestaltung des Schulwesens trifft, erlangt die Frage erhebliche Bedeutung, ob es einem demokratischen Staatswesen eher entspricht, die schulische Erziehung der Kinder im Wege eines privaten, eines öffentlichen oder eines dualen Schulwesens zu ermöglichen. 256 In jüngeren Jahren wurde vor allem diskutiert, ob nicht über die Vergabe von Bildungsgutscheinen - dem sog. voucher system - allen Eltern die Möglichkeit eröffnet werden sollte, ihre Kinder auf eine ihnen passend erscheinende Schule - sei es eine öffentliche oder private - zu schicken, 257 ohne dabei finanziell überfordert zu werden. Auf diese Weise könnten die Eltern von vornherein durch Auswahl einer bestimmten Schule die von ihnen gewünschten kulturellen und religiösen Schwerpunkte für ihre Kinder setzen. Aus der Vielzahl der Stimmen in dieser Auseinandersetzung stechen auch hier die Argumente Gutmanns hervor. Gutmann geht davon aus, daß die Existenz eines Privatschulwesens in einem demokratischen Staat eine Selbstverständlichkeit ist, nichtsdestoweniger aber das öffentliche Schulwesen favorisiert werden muß. Ihrer Ansicht nach verlangt die Erziehung der Kinder zur Demokratie die Auseinandersetzung mit einer möglichst großen Vielfalt an Weiten und Ansichten. Eine solche Konfrontation der Kinder mit möglichst unterschiedlichen Werten und Ansichten sei aber nur an öffentlichen Schulen gewährleistet, da Privatschulen zu stark an bestimmten Werten - im Regelfall an religiösen Konzepten - ausgerichtet seien. Damit gehe die Gefahr einher, daß bestimmte Werte einseitig betont und andere herabgesetzt werden, was einer demokratischen Gesellschaft der Tendenz nach abträglich sei. 258 In Deutschland kommt der Frage nach der Rolle der Privatschulen angesichts der verfassungsrechtlichen Vorgaben in Art. 7 GG keine mit den Vereinigten Staaten vergleichbare Bedeutung zu. Art. 7 GG setzt die Existenz eines öffentlichen Schulwesens voraus, ermöglicht daneben jedoch die Errichtung von Privatschulen. Während die Schwerpunktsetzung im öffentlichen Schulwesen lange weitgehend kritiklos vermerkt wurde, wird in jüngerer Zeit zunehmend gefordert, die Privatschulen nicht zuletzt durch eine Veränderung der Finanzierungspraxis - beispielsweise durch die Vergabe von Bildungsgutscheinen259 - zu stärken. Unter Hinweis 256 Vgl. dazu die Ausführungen bei Gutmann, Democratic Education, S. 115 ff. 257 Genauere Ausführungen zu dem Bildungsgutscheinsystem bei Coons/Sugerman, Education by Choice, S. 133 ff.; Friedman, Role of Government in Education, in: Solo, Public Interest, S. 123 ff.; ders., Capitalism, S. 85 ff. 258 Gutmann, Democratic Education, S. 115 ff. m. w. N.; siehe zum Ganzen auch die Ausführungen von Coleman/ Hoffer, Public and Private Schools, S. 3 ff.; 259 Vgl. zu diesem Gedanken die Ausführungen bei M. Maurer, Der Bildungsgutschein; ders., Bildungsgutschein, in: Jach/Jenkner (Hrsg.), Autonomie der staatlichen Schulen, 189 ff. m. w. N. - Siehe auch die Ausführungen zum System von Bildungsgutscheinen im amerikanischen Recht oben S. 241 f. sowie die daran anknüpfende Kritik von Gutmann, Democratic Education, S. 65 ff.

§ 18 Reichweite der gesetzgeberischen Regelungsbefugnisse

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auf die positiven Erfahrungen anderer Länder 260 wird darauf verwiesen, daß der Ausbau und die Ausdifferenzierung der Privatschulen erheblich zur Pluralisierung des Schulwesens beitragen könnten. Wenngleich Privatschulen in der Tat durch die Erprobung neuer Schulformen und Unterrichtsmethoden eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für die Fortentwicklung des Schulwesens haben und zu einer - dem demokratischen Staat zuträglichen - Vielfalt führen können, sollten die Errungenschaften und die Vorteile eines öffentlichen Schulwesens jedoch nicht vorschnell verabschiedet werden. Privatschulen haben aller Erfahrung nach die Tendenz, sich bestimmten Leitmotiven zu verschreiben, an denen der Unterricht ausgerichtet wird. Dadurch spricht die einzelne Privatschule immer nur einen bestimmten Teil der Bevölkerung an, der sich in der Schule mit ihrer speziellen Ausprägung repräsentiert sieht. Auf die gesamte Gesellschaft gesehen mag dies - eine ausreichende Anzahl unterschiedlicher Privatschulen vorausgesetzt - zu einer weitgehenden Pluralität des Schulwesens führen. Für den einzelnen Schüler hingegen ist die Gesamtgesellschaft mit allen ihren Facetten und Eigenarten nur in den öffentlichen Schulen zu finden. Nur sie können aufgrund ihres Grundansatzes die gesamte Pluralität der Gesellschaft widerspiegeln und dem einzelnen Schüler das ganze Spektrum sowie die Fähigkeit vermitteln, mit dieser Pluralität umzugehen. Dies verlangt freilich, daß der Staat der Gesellschaft ein öffentliches Schulwesen zur Verfügung stellt, das sich an den gesellschaftlichen Gegebenheiten ausrichtet und die in der Gesellschaft vorfindlichen Ansichten und Werte ausgewogen in den Unterricht einbezieht. Nur so besteht die Möglichkeit, daß sich Eltern und Kinder unterschiedlicher Herkunft und Prägung mit dem schulischen Unterricht identifizieren können und eine Abwanderung an Privatschulen vermieden wird.

260 Jach (RdJB 1990, 300 [305]) mit Verweis auf die Niederlande und Ungarn; Hufen (Schulische Selbstgestaltung, in: Jach/Jenkner [Hrsg.], Autonomie der staatlichen Schulen, 51 [73]) ebenfalls mit Verweis auf die Niederlande.

Nachtrag Anlaß und Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung war der allgemeine Befund einer stetig wachsenden Pluralisierung der Gesellschaft, die eine Zunahme von Kollisionslagen zwischen der Religionsfreiheit und anderen durch die Rechtsordnung geschützten Rechtsgütern nach sich zieht. Dieser Befund ist seither nicht nur durch die höchstrichterliche Rechtsprechung vielfach bestätigt worden, sondern hat auch zu der generellen Feststellung geführt, daß „die allgemeine Rechtsordnung unter einen bislang so nicht gekannten verfassungsrechtlichen Druck" geraten sei.1 Die damit verbundenen Problemkreise haben auch nach Fertigstellung der Arbeit ein umfangreiches Schrifttum zum Verhältnis von Staat und Religion,2 zur Dogmatik der Religionsfreiheit 3 sowie zu Konzeption und Inhalt des staatlichen Neutralitätsgebotes4 nach sich gezogen. Nicht zuletzt die Auseinandersetzung um das Kopftuch der Lehrerin in der Schule hat gezeigt, daß in diesem größeren Zusammenhang gerade das Verhältnis von Religion und öffentlichem Schulwesen von ungebrochener Aktualität ist. Die Frage, ob und inwieweit das Tragen eines Kopftuchs im Schulunterricht durch eine Lehrerin mit der Verfassung zu vereinbaren ist,5 betrifft zwar nicht unmittelbar die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung, in deren Zentrum das Verhältnis der individuellen Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern (nicht hingegen jenes der Lehrerinnen und Lehrer) zum staatlichen Erziehungsauftrag steht. Die teilweise in der Form eines Glaubenskrieges geführte Auseinandersetzung hat jedoch - wie die anderen Fälle im Schnittbereich von Staat und Religion - allgemeinere Überlegungen zur Religionsfreiheit und insbesondere zur staatlichen Neutralitätspflicht nach sich gezogen, die auch für die vorliegende Untersuchung von Bedeutung sind. Sowohl die Rechtsprechung als auch das Schrifttum liefern zudem erneut reiches ι Schock, in: FS für Hollerbach, S. 149 (150). 2 Vgl. nur Hillgruber, DVB1. 1999, 1155 ff.; ders., JZ 1999, 538 ff.; Brenner, in: VVDStRL 59 (2000), S. 264 ff.; Robbers, in: VVDStRL 59 (2000), S. 231 ff.; Starck, JZ 2000, 1 ff.; Haratsch/Janz/Rademacher/Schmahl/Weiß (Hrsg.), Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 2001; Maurer, in: FS für Brohm, S. 455 ff.; Hassemer, Religiöse Toleranz im Rechtsstaat, 2004. 3 Höfling, in: FS für Rüfner, S. 329 ff. 4 Dazu aus neuerer Zeit insbesondere Britz, JZ 2000, 1127 ff.; Holzke, NVwZ 2002, 903 ff.; Renck, DÖV 2002, 56 ff. sowie die umfassende theoretische Grundlegung bei Huster, Die ethische Neutralität des Staates (2002). 5 BVerfG NJW 2003, 3111 ff.; BVerwG NJW 2002, 3344 ff.; vgl. auch VGH Bad.-Württ. NJW 2001, 2899 ff.; VG Stuttgart NVwZ 2000, 959 ff.; OVG Lüneburg NVwZ-RR 2002, 658 ff.; VG Lüneburg NJW 2001, 767 ff.

Nachtrag

347

Anschauungsmaterial für die These,6 daß die Diskussion ganz allgemein in erheblichem Umfang durch Vorverständnisse geprägt ist, die zwar selten offen gelegt werden, gleichwohl aber beinahe mit Zwangsläufigkeit bestimmte Ergebnisse nach sich ziehen. Die folgenden Ausführungen zeichnen die neuere Entwicklung in knappen Zügen nach, sofern sie die Erträge der vorliegenden Untersuchung ergänzen können. Bereiche, in denen - wie etwa bei den Schultypen des Grundgesetzes - keine wesentlichen Neuerungen zu verzeichnen sind, werden nicht näher angesprochen.7 Sind Entwicklungslinien und Argumentationsstränge bereits im Hauptteil der Untersuchung dargelegt worden, wird auf die entsprechenden Stellen der Untersuchung verwiesen.

A. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen Die Kollisionslagen zwischen individueller Religionsfreiheit und anderen durch die Rechtsordnung geschützten Gütern, die sich durch die stetig fortschreitende Pluralisierung der Gesellschaft ergeben, haben sich auch nach Fertigstellung der Untersuchung in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts niedergeschlagen. In der jüngeren Vergangenheit hat sich die höchstrichterliche Rechtsprechung namentlich mit staatlichen Warnungen vor Religionsgemeinschaften, 8 dem Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin im Schulunterricht 9 und dem Schächten von Tieren 10 befassen müssen. Die damit verbundenen verfassungsrechtlichen Probleme haben zu ausgesprochen umfangrei6 Zu dieser These oben S. 214 ff. 7

Auch der rechtsvergleichende Teil ist gegenüber der Ursprungsfassung nicht weiter ergänzt worden. Ein Vergleich der Religionsfreiheit in Deutschland und den USA findet sich in jüngerer Zeit bei Fülbier, Die Religionsfreiheit in der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika unter spezieller Berücksichtigung der jeweiligen Methodik der Verfassungsinterpretation, 2003. 8 BVerfG NJW 2002, 2626 ff.; vgl. auch BVerwG NJW 1991, 1770 ff., BVerwG NVwZ 1994, 162 ff.; OVG Hamburg NVwZ 1995, 498 ff.; BayVGH NVwZ 1995, 502 ff.; OVG NW NVwZ 1997, 302 ff.; VGH Bad.-Württ. NJW 1997, 754 ff. 9 BVerfG NJW 2003, 3111 ff.; BVerwG NJW 2002, 3344 ff.; vgl. auch VGH Bad.-Württ. NJW 2001, 2899 ff.; VG Stuttgart NVwZ 2000, 959 ff.; VG Lüneburg NJW 2001, 767 ff.; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 2002, 658 ff.; aus der kaum noch überschaubaren Literatur (je mit weit. Nachw.) nur Goerlich, NJW 1999, 2929 ff.; Böckenförde, NJW 2001, 723 ff.; Oebbecke, in: FS für Rüfner, S. 593 ff.; Ipsen, NVwZ 2003, 1210 ff.; Sacksofsky, NJW 2003, 3297 ff.; Robbers, RdJB 2003, 11 ff.; Hufen, NVwZ 2004, 575 ff.; Ρ of alla, NJW 2004, 1218 ff. - Zur Vereinbarkeit mit der EMRK vgl. EGMR NJW 2001, 2871; zu Art. 9 EMRK Goerlich, NJW 2001, 2862 ff., Sahlfeld, Aspekte der Religionsfreiheit, 2004. 10 BVerfG NJW 2002, 663 ff.; BVerwG NJW 2001, 1225 ff.; OVG Hamburg NVwZ 1994, 592 ff. - Aus dem Schrifttum zum Verbot des Schächtens nur Kästner, JZ 2002, 491 ff.; Oebbecke, NVwZ 2002, 302 ff.; Hain/Unruh, DÖV 2003, 147 ff.; Höfling, in: FS für Rüfner, 2003, S. 329 ff. je mit weit Nachw.

348

Nachtrag

chen Reaktionen im Schrifttum geführt. Die Entscheidungen und das damit in Zusammenhang stehende Schrifttum haben allgemeinere Aussagen mit sich gebracht, die der Dogmatik der Religionsfreiheit gelten, einige bereits zuvor zu verzeichnende Tendenzen verstärken und daher auch im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung sind. Vor allem im Schrifttum ist das immer deutlichere Bedürfnis zu spüren, angesichts der religiösen Pluralisierung und dem dadurch entstandenen verfassungsrechtlichen Druck über „ein juristisch exakte(re)s Verständnis von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG" und die damit verbundenen Fragestellungen nachzudenken. 11

I. Individuelle Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Was die individuelle Religionsfreiheit anbetrifft, so haben sich die in der vorliegenden Untersuchung skizzierten Tendenzen zu einer Neuorientierung der Dogmatik vor allem in zwei Bereichen deutlich verstärkt: Zum einen mit Blick auf die Kritik an dem namentlich vom Bundesverfassungsgericht vertretenen einheitlichen Verständnis des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, zum anderen mit Blick auf die Schrankendogmatik der Religionsfreiheit.

1. Schutzbereich und Trennungslehre

Das vom Bundesverfassungsgericht und Teilen des Schrifttums angenommene einheitliche und weite Verständnis des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, das die im Verfassungstext und der Verfassungssystematik zum Ausdruck gebrachten Differenzierungen schlichtweg übergeht, wird immer häufiger - und sehr viel vehementer noch als zum Zeitpunkt des Entstehens der vorliegenden Untersuchung - kritisiert. 12 In der Folge wird die Frage, ob entgegen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht doch aus triftigen rechtsdogmatischen Gründen mehrere Grundrechte anzunehmen seien, immer häufiger bejaht. Als grundrechtsdogmatische Neukonzeption, die Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wieder verfassungsrechtlich handhabbar machen soll, wird - dem Anliegen der vorliegenden Untersuchung entsprechend13 - eine Konturierung des Schutzbereichs vorgeschlagen, die Verfassungstext und Verfassungssystematik ernst nimmt. Von den fünf Grundrechten, die sich Art. 4 GG entnehmen lassen, sollen für den hier interessierenden Bereich die Freiheit des Glaubens, des religiösen Bekenntnisses und der ungestör11 Exemplarisch Schoch, in: FS für Hollerbach, 149 (153). 12 Kästner, JZ 1998, 974 ff.; Muckel, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 3 ff.; Ehlers, ZevKR 44 (1999), 533 (535 ff.); Janz/Rademacher, NVwZ 1999, 706 (708 ff.); Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 9 ff., 33, 55; Schoch, in: FS für Hollerbach, S. 149 (155 ff.); Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 376 ff.; Pauly/Pagel, NVwZ 2002, 441 (444), je mit zahlr. weit. Nachw. 13 Vgl. oben S. 265 ff.

Nachtrag

349

ten Religionsausübung klar voneinander getrennt werden. 14 Nach wie vor wenig Aufmerksamkeit wird allerdings der Frage geschenkt, ob und inwieweit Weltanschauungen in diese differenzierten Freiheiten einbezogen werden und wie der Begriff der Weltanschauung näher zu präzisieren ist. 15 Im Übrigen sind die Argumente, die für ein differenzierteres Verständnis sprechen und auch in der aktuellen Diskussion angeführt werden, bereits genannt worden 16 und bedürfen keiner Wiederholung. Letztlich führt eine Neukonturierung der Schutzbereiche von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zu einer „wünschenswerte(n) grundrechtliche(n) Normalität", 17 da klargestellt wird, daß für verschiedene Lebenssachverhalte je eigene Grundrechte zur Verfügung stehen, nicht aber ein allgemeines Grundrecht auf glaubensgerechte Lebensverhältnisse. Nur durch klare Trennung der Schutzbereiche läßt sich auch die nötige Abgrenzung zu den Schutzbereichen anderer Grundrechte angemessen bewältigen.18 Die Gegenüberstellung von einheitlichem Verständnis und Trennungslehre bei Art. 4 Abs. 1 und 2 GG bestätigt im Übrigen die Annahme, daß sich ein einheitliches Verständnis nur solange als herrschend behaupten konnte, wie das glaubensund gewissensgeleitete Verhalten vor allem auf den engeren Bereich der bekannten und vertrauten christlichen Religionsgemeinschaften bezogen war und dementsprechend vergleichsweise wenige Konflikte und Kollisionen hervorrief. In dem Maße, in dem neue, tendenziell fremdere, konflikt- und kollisionsträchtigere Religionen und Sekten die gesellschaftliche Realität prägen, gerät auch die Vereinheitlichungsthese unter Druck. Wie sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu dem neuen, mittlerweile im Schrifttum wohl herrschenden Trend verhalten wird, läßt sich im jetzigen Stadium der Entwicklung schwer sagen. Bislang hat sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung noch nicht eingehend mit neuen und tendenziell fremderen Religionen und Sekten auseinander setzen müssen. Ob es vor dem veränderten gesellschaftlichen Hintergrund an dem einheitlichen Verständnis festhalten wird, ist nach wie vor offen.

2. Schrankendogmatik

der Religionsfreiheit

Die Frage, wie die Schranken der Religionsfreiheit zu bestimmen sind, hat in den vergangenen Jahren zu einer sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum intensiv geführten Diskussion geführt, deren Abschluß bislang nicht absehbar ist. 19 Im Zuge dieser Diskussion hat sich die bereits zuvor in der Kom14 Muckel, in: Friauf/ Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 9; Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 9 ff., 33, 55; Schoch, in: FS für Hollerbach, S. 149 (155 ff.); Pauly/Pagel, NVwZ 2002, 441 (444), je mit weit. Nachw. 15 Näher dazu oben S. 269 ff. 16 Vgl. oben S. 265 ff., 277 ff. 17 Schoch, in: FS für Hollerbach, S. 149 (158). is Dazu bereits oben S. 270 ff.

350

Nachtrag

mentarliteratur zu verzeichnende Tendenz,20 Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV entgegen der auf die „Überlagerungsthese" gestützten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Schranke der Religionsfreiheit anzuerkennen, in weiten Teilen des Schrifttums erheblich verstärkt. 21 Auch die Rechtsprechung setzt teilweise dazu an, dem Bundesverfassungsgericht in diesem Punkt die Gefolgschaft aufzukündigen: In seinem Urteil zum Schächten geht das Bundesverwaltungsgericht unter Abkehr von der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts davon aus, daß die Religionsfreiheit durch Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV unter einen geschriebenen Gesetzesvorbehalt gestellt werde. 22 Bislang nicht abschließend geklärt ist unter den Anhängern von Art. 140 GG i.V.m. 136 Abs. 1 WRV als kodifizierter Grundrechtsschranke jedoch, ob sich der Schrankentatbestand lediglich auf die Religionsausübungsfreiheit 23 oder darüber hinaus auch auf die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit bezieht 24 Auch die Reichweite der Erstrekkung auf die Weltanschauungsfreiheit ist bislang nicht eindeutig geklärt. 25 Eine neuere Auffassung im Schrifttum unternimmt den Versuch, zwischen der Position des Bundesverfassungsgerichts, die Art. 136 WRV als von Art. 4 Abs. 1 GG „überlagert" ansieht, und der mittlerweile wohl herrschenden Lehre, die Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV als kodifizierte Grundrechtsschranke anerkennt, zu vermitteln. Die Religionsausübungsfreiheit soll insofern einer differenzierten Schrankensystematik unterworfen werden, als die verfassungsimmanenten Schranken dort zu Anwendung kommen sollen, wo es um traditionelle Kulthandlungen geht, im Übrigen soll jedoch die Schranke des Art. 136 Abs. 1 WRV greifen. Die Formulierung „Ausübung der Religionsfreiheit" soll insoweit eine partielle teleologische Reduktion erfahren. 26 Die dogmatischen Gründe, die für Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV als Grundrechtsschranke und eine Erstreckung dieser Schranke auf die weltanschaulich-religiöse Glaubens- und Bekenntnis- sowie die Gewissensfreiheit sprechen, 19 Eingehend nachgezeichnet wird der Diskussionsstand von Fischer/Groß, 932 ff. 20 Dazu oben S. 55 ff.

DÖV 2003,

21 Vgl. nur Kästner, JZ 1998, 974 (982); Schoch, in: FS für Hollerbach, S. 149 (163 ff.); Muckel, in: Friauf/ Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 4 Rdnr. 47 ff.; ders., Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 224 ff.; Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 46 ff. je mit zahlr. weit. Nachw. 22 BVerwGE 112,227(231). 23 So namentlich Schoch, in: FS für Hollerbach, 149 (165). 24 So die These oben S. 294 ff.; in diesem Sinne auch Muckel, Religiöse Freiheit und staatliche Letztentscheidung, S. 230 ff.; Kästner, JZ 1998, 974 (982); Starck, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Bd. I, Art. 4 Rdnr. 80; Mager, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 48. 25 Näher dazu oben S. 55 ff., 294 f. 26 Vgl. Magen, in: Umbach/Clemens, GG, Bd. II, Art. 140 Rdnr. 43 f.; dazu Fischer/ Groß, DÖV 2003, 932 (934).

Nachtrag

351

sind bereits näher dargelegt worden 27 und sollen hier nicht wiederholt werden. Wird mit der Einheit der Verfassung auch auf Schrankenebene wirklich Ernst gemacht, führt kein Weg daran vorbei, den geschriebenen Gesetzesvorbehalt in Art. 136 Abs. 1 WRV anzuerkennen. Dagegen spricht auch nicht das wiederholt vorgebrachte Argument, der Rückgriff auf Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV führe in den meisten Fällen zu keinen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweichenden Ergebnissen.28 Dabei wird übersehen, daß eine ausdrückliche und klare Schrankenregelung nicht nur einen Zugewinn an juristischer Rationalität bei der Entscheidungsfindung, sondern auch verbesserte Möglichkeiten einer gesetzlichen Steuerung von Kollisionslagen mit sich bringt. Darüber hinaus könnte der verbreiteten Sorge, Grundrechtsträger nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG könnten sich den Anforderungen der allgemeinen Rechtsordnung entziehen, mit einer klaren Aussage begegnet werden. Bietet die Grundrechtsdogmatik Möglichkeiten dafür, den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft mit rechtlichen Mitteln stimmig zu begegnen, sollten diese auch genutzt werden. 29 Angesichts der Offenheit der Diskussion läßt sich die weitere Entwicklung allerdings auch hier nur schwer vorhersagen. Die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Lehre, nach der die Religionsfreiheit nur den verfassungsimmanenten Schranken unterliegt, ist auch im neueren Schrifttum durchaus präsent. 30 Obwohl in der Literatur zunehmend klärende Worte aus Karlsruhe gefordert werden, um die nötige Rechtssicherheit im Bereich der Religionsfreiheit zu gewährleisten, 31 ist alles andere als klar, ob das Bundesverfassungsgericht an seiner Auslegung festhält oder nicht doch die Heranziehung von Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV als kodifizierter Grundrechtsschranke in Betracht zieht. Gerade angesichts der neuen Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft sollte aber wenigstens in der Rechtsprechung größere Einigkeit nicht nur über die Bestimmung des Tatbestands, sondern vor allem auch der Schranken von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG herrschen.

II. Weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates Die neuere Entwicklung bestätigt den Befund, 32 daß Kern der Gesamtproblematik zum Verhältnis von Religion und Staat, insbesondere aber zum Verhältnis von 27 Vgl. oben S. 291 ff. 28 Aus neuerer Zeit Jeand'Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, Rdnr. 126. 29 Zu allen diesen Argumenten zusammenfassend Schoch, in: FS für Hollerbach, 149 (166 f. mit Fußn. 119). 30 Vgl. nur Fischer/Groß, DÖV 2003, 932 ff.; Maurer, in: ZevKR 49 (2004), 311 ff., Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 89 ff.; Kokott, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 4 Rdnr. 110 ff., je mit weit. Nachw. 31 Kästner, JZ 2002, 491 (493); Fischer/Groß,

DÖV 2003, 932 (939).

352

Nachtrag

individueller Religionsfreiheit und staatlichem Erziehungsauftrag, die „weithin ungeliebte, kaum untersuchte und rechtspraktisch stark mißachtete religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates"33 ist. Insofern erscheint es konsequent, daß das staatliche Neutralitätsgebot in der neueren Diskussion immer häufiger einer näheren Betrachtung unterzogen wird. Eine geradezu überbordende Literatur zur Problematik des Neutralitätsgebots hat namentlich die Frage mit sich gebracht, ob und inwieweit eine Lehrerin im Unterricht ein Kopftuch tragen darf. 34 Hält man sich die Aussagen in der Rechtsprechung und in weiten Teilen der Literatur näher vor Augen, tragen sie in vielen Fällen allerdings nur wenig zur Klärung des Neutralitätsgebotes bei, das über die skizzierten, in weitem Maße den jeweiligen Vorverständnissen verhafteten Argumentationsstränge hinausgeht.35 Die praktischen Konsequenzen werden je nach Vorverständnis nach wie vor höchst unterschiedlich gezogen. Angesichts des Befundes, daß das Postulat einer weltanschaulich-religiösen Neutralität des Staates zwar verbal allgemein anerkannt scheint, bei näherem Hinsehen unter Neutralität aber höchst Unterschiedliches verstanden wird und die Ableitung der verschiedenen Auffassungen aus dem Grundgesetz nicht immer zweifelsfrei ist, wird teilweise für eine Aufgabe des staatlichen Neutralitätsgebots als eines allgemeinen Rechtsprinzips plädiert. 36 Stattdessen sollen (allein) die Sachaussagen der Religionsverfassung des Grundgesetzes in den Vordergrund gerückt werden. 37 Mittlerweile hat allerdings Huster eine umfangreiche Untersuchung zur staatlichen Neutralität vorgelegt, die die verschiedenen Diskussionslinien klar strukturiert, eine theoretische Grundlegung des Neutralitätsgrundsatzes liefert und dem Grundgesetz im Ergebnis einen Neutralitätsliberalismus als innere Basis entnimmt, 38 dem auch die vorliegende Untersuchung nahe steht. Der allgemeinere Grundsatz der „ethischen Neutralität des Staates" wird dabei nicht nur auf das Religionsverfassungsrecht, sondern auch auf das verfassungsrechtliche Verhältnis des Staates zu anderen Kultursektoren - insbesondere Wissenschaft und Kunst bezogen. Einem mittlerweile weit verbreiteten Sprachgebrauch folgend wird 32 Vgl. oben S. 57 ff., 298 ff. 33 Czermak, in: FS für Rüfner, S. 79 (90). 34 Speziell aus der Perspektive des Neutralitätsgebotes BVerfG NJW 2003, 3111 (3112 ff.); BVerwG NJW 2002, 3344 ff.; VGH Mannheim NJW 2001, 2899; VG Stuttgart NVwZ 2000, 959 ff.; aus dem Schrifttum nur Kästner, in: FS für Heckel, S. 359 ff.; Halfmann, NVwZ 2000, 862 ff.; Janz/Rademacher, NVwZ 1999, 706 ff.; dies., JuS 2001, 440 ff.; Böckenförde, NJW 2001, 723 ff.; Mückl, Der Staat 40 (2001), 96 ff.; Maurer, in: FS für Brohm, S. 455 (469); Huster, in: FS für Tsatsos, S. 215 ff.; Michael, JZ 2003, 256 ff.; Morlok/Krüper, NJW 2003, 1020 f.; Heinig/Morlok, JZ 2003, III (780); Baer/Wrase, JuS 2003, 1162 ff.; Neureither, ZRP 2003, 465 ff.; Czermak, NVwZ 2004, 943 ff. 35 Vgl. oben S. 57 ff. 36 So dezidiert Holzke, NVwZ 2002, 903 (912 f.) mit Erwiderung Czermak, NVwZ 2003, 949 ff. 37 Vgl. Holzke, NVwZ 2002, 903 (912 f.). 38 Huster, Die ethische Neutralität des Staates (2002).

Nachtrag

353

„ethisch" mit „die Konzeption eines guten, gelungenen Lebens betreffend" gleichgesetzt. Der ethisch neutrale Staat soll nicht wertblind, sondern vielmehr ein Staat sein, der angesichts der höchst unterschiedlichen Vorstellungen seiner Bürger darüber, was ein gutes und gelungenes Leben ausmacht, eine friedliche und gerechte Ordnung gerade dadurch gewährleistet, daß er sich diesen unterschiedlichen Vorstellungen gegenüber neutral verhält. Diese Untersuchung und einige neuere Beiträge 39 zeigen, daß das Neutralitätsgebot durchaus rechtlich geformt und als sinnvolle rechtliche Grenze an staatliches Handeln im weltanschaulich-religiösen Bereich herangetragen werden kann. Dies gilt vor allem in dem Maße, in dem die verfassungsrechtlich geforderte Neutralität des Staates auf der Grundlage eines liberalen Rechts- und Staatsverständnisses nicht als „Wirkungsneutralität", sondern als „Begründungsneutralität" konzipiert wird. 40 Entscheidend sind danach nicht die Auswirkungen staatlichen Handelns auf Anhänger unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Konzeptionen des Guten, maßgebend ist vielmehr die Neutralität in den Begründungen.

III. Schule und Staatsaufsicht Auch im neueren Schrifttum ist die Reformdiskussion über die Gestalt der Schule und die Reichweite der Staatsaufsicht über die Schule in verschiedener Hinsicht aufgegriffen und insbesondere auf die inneren Schulangelegenheiten41 bezogen worden. 42 Dabei ist erneut deutlich geworden, daß die allgemeine Feststellung, aus dem Begriff der Schulaufsicht heraus sei Schule insgesamt nach Art. 7 GG Sache des Staates, das Geschehen in der staatlich verantworteten Schule nicht angemessen erfassen und die nötige systematische Bewertung nicht ersetzen kann 4 3 Letztlich schwankt die moderne Debatte nach wie vor zwischen zwei Polen, die auch schon die vorliegende Untersuchung eingefaßt haben.44 Auf der einen Seite besteht weitgehende Einigkeit, daß bei aller Auseinandersetzung um die Autonomie der staatlichen Schule und das Ausmaß der verfassungsrechtlich möglichen (und gebotenen) Selbstgestaltung „die mit Schulpflicht bewehrte Schule jedenfalls nach geltendem Recht immer als Teil der staatlichen Verwaltung aufzufassen ist". 45 Da und solange Schule keine Selbstverwaltungseinheit im um39 Vgl. etwa Czermak, NVwZ 2003, 949 ff. 40

So vor allem Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 355 ff. Zur Terminologie oben S. 66 ff. 42 Thiel, Der Erziehungsauftrag des Staates in der Schule, S. 43 ff., 86 ff.; Rux, Die pädagogische Freiheit des Lehrers, S. 27 ff.; Wißmann, Pädagogische Freiheit als Rechtsbegriff, S. 31 ff., 42 ff. 43 Besonders deutlich Wißmann, Pädagogische Freiheit als Rechtsbegriff, S. 42 ff. 41

44

Vgl. oben S. 65 ff., 317 ff. Vgl. nur Wissmann, Pädagogische Freiheit als Rechtsbegriff, S. 42 f. mit zahlr. weit. Nachw. 45

23 Rathke

354

Nachtrag

fassenden Sinn darstellt, soll eine Beschränkung des Staatseinflusses auf eine Staatsaufsicht im Sinne einer bloßen Rechtskontrolle nicht möglich sein. Auf der anderen Seite muß als Ertrag der neueren verwaltungsrechtlichen Diskussion festgehalten werden, daß der klassische Dualismus46 von Staatsaufsicht über fremde, selbstverwaltete Angelegenheiten (der mittelbaren Staatsverwaltung) und dienstlicher Leitung über eigene Angelegenheiten (der unmittelbaren Staatsverwaltung) als Differenzierung nicht mehr ausreicht 47 Die damit verbundene Vorstellung einer grundsätzlich uneingeschränkten Einwirkungsmöglichkeit der höheren Ebene innerhalb der hierarchischen Verwaltung ist in ihrer Reinform überholt. Neue Formen der öffentlichen Aufgabenwahrnehmung zeigen vielmehr in unzähligen Facetten, daß auch innerhalb der öffentlichen Verwaltung Aufgaben verselbständigt werden und einzelne Teilbereiche vergleichsweise unabhängig agieren können. Der Begriff der Schulaufsicht in Art. 7 Abs. 1 GG ist für solche Entwicklungen grundsätzlich offen 4 8 Das unter dem Stichwort der„Budgetierung" diskutierte und vielfach praktizierte Beispiel zeigt, daß auch im schulischen Bereich eine Dezentralisierung von Verantwortlichkeiten innerhalb einer Verwaltungseinheit möglich ist. Das Aufsichtsverständnis kann und sollte dieser Entwicklung durch Wandlung hin zu einer „Steuerungsaufsicht" Rechnung tragen, 49 die den Grundsatz der unmittelbar öffentlichen Schule als Teil der staatlichen Verwaltung nicht leugnet, zugleich aber den vielfältigen Steuerungsmöglichkeiten des Staates50 konstruktiv begegnet.

B. Spannungsfeld von staatlichem Erziehungsauftrag und individueller Religionsfreiheit Obwohl aussagekräftige Statistiken nach wie vor fehlen, nehmen die Konfliktfälle im Spannungsfeld von religiöser Vielfalt und staatlichem Erziehungsauftrag stetig zu. Selbst die höchstrichterliche Rechtsprechung geht von dem Befund aus, daß „die kulturelle, ethnische und religiöse Vielfalt in Deutschland inzwischen auch das Leben in der Schule prägt" 5 1 Vor allem in Städten mit hohem Einwandereranteil steigt allem Anschein nach die Zahl der Eltern, die ihre Kinder und insbesondere ihre Töchter aus religiösen Gründen vom Sport- oder Biologieunterricht abmelden oder nicht an Klassenfahrten teilnehmen lassen wollen. 52 Die meisten 46

Näher dazu Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, S. 478 f. Dazu und zum Folgenden zusammenfassend nur Wissmann, Pädagogische Freiheit als Rechtsbegriff, S. 44; umfassend zur Diskussion über die Staatsaufsicht Kahl, Die Staatsaufsicht, 2000; zur neueren Entwicklung auch Schuppen, DÖV 1998, 831 ff. 48 Engere Grenzen, die noch in stärkerem Maße dem traditionellen Verständnis der Staatsaufsicht verhaftet sind, zieht allerdings bislang das Landesverfassungsrecht. 49 Zum Begriff der „Steuerungsaufsicht" Schuppen, DÖV 1998, 831 (832 ff.); vgl. auch Lange, RdJB 1999, 423 ff. (426 ff.) 47

50

Vgl. dazu die typisierende Zusammenfassung bei Schuppert, DÖV 1998, 831 ff. 51 BVerwG NJW 2002, 3344 (3345).

Nachtrag

355

der Fälle bewegen sich in jenem rechtlichen Rahmen, der mit der vorliegenden Untersuchung nachgezeichnet wurde 53 und hier keiner Wiederholung bedarf. Gleichwohl haben einige Entscheidungen der Rechtsprechung neue Akzente gesetzt, die kurz aufgegriffen und beleuchtet werden sollen. Dies gilt insbesondere für die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Kopftuch der Lehrerin in der Schule, die trotz der im Vordergrund stehenden Stellung der Lehrerin auch Aussagen zum Verhältnis von staatlichem Erziehungsauftrag und religiöser Stellung der Schüler trifft. 54 Hinzu kommen die Folgeentscheidungen zur KruzifixEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts sowie eine Entscheidung des OVG Münster zur Befreiung von einer Klassenfahrt aus religiösen Gründen.

I. Tragen eines Kopftuchs im staatlichen Schuldienst Das vom Bundesverfassungsgericht 55 zu beurteilende Verbot, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, betrifft trotz seiner schwerpunktmäßigen Bedeutung für die Stellung des Lehrers in der staatlichen Schule auch generell das zulässige Ausmaß religiöser Bezüge in der Schule und enthält daher auch für den vorliegenden Untersuchungsrahmen aufschlußreiche Aussagen. Die Verfassungsbeschwerde, der das Einstellungsbegehren einer angehenden Lehrerin in den Schuldienst des Landes Baden-Württemberg zugrunde lag, richtete sich gegen die von den Verwaltungsgerichten 56 bestätigte Entscheidung des Oberschulamts Stuttgart, die Berufung in ein Beamtenverhältnis auf Probe als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen mit der Begründung abzulehnen, der Bewerberin fehle wegen der erklärten Absicht, in Schule und Unterricht ein Kopftuch zu tragen, die für das Amt erforderliche Eignung. Die daran anknüpfende Diskussion hat nicht nur die Gerichte beschäftigt, sondern auch zu einem umfangreichen Schrifttum geführt, 57 52 Vgl. Leffers, Spiegel online 2004, www.spiegel.de/unispiegel/studium/0,1518,282744,00. html 53 Dazu oben S. 106 ff. 54 Auf die Darstellung der instanzgerichtlichen Entscheidungen wird an dieser Stelle verzichtet; vgl. dazu VG Stuttgart NVwZ 2000, 959 ff.; VGH Bad.-Württ. NJW 2001, 2899 ff.; BVerwG NJW 2002, 3344 ff. 55 BVerfG NJW 2003, 3111 ff. 56 VG Stuttgart NVwZ 2000, 959 ff.; VGH Bad.-Württ. NJW 2001, 2899 ff.; BVerwG NJW 2002, 3344 ff.; vgl. auch VG Lüneburg NJW 2001, 767 ff.; OVG Lüneburg NVwZ-RR 2002, 658 ff.; zur Vereinbarkeit mit der EMRK vgl. EGMR NJW 2001, 2871. - Vgl. zur Anfertigung eines Passfotos mit Kopftuch zum Zweck der Abschiebung (in den Iran) VGH München NVwZ 2000, 952 ff. sowie Breuer, NVwZ 2002, 950 ff. 57 Vgl. nur Debus, Kriü 1999, 430 ff.; dies., NVwZ 2001, 1355 ff.; Goerlich, NJW 1999, 2929 ff.; Zuck, NJW 1999, 2948 f.; Halfmann, NVwZ 2000, 862 ff.; Böckenförde, NJW 2001, 723 ff.; Oebbecke, in: FS für Rüfner, S. 593 ff.; Ipsen, NVwZ 2003, 1210 ff.; Sacksofsky, NJW 2003, 3297 ff.; Robbers, RdJB 2003, 11 ff.; Bertrams, DVB1. 2003, 1225 ff.; Neureither, ZRP 2003, 465 ff.; Hufen, NVwZ 2004, 575 ff.; Pofalla, NJW 2004, 1218 ff., Isensee, FAZ v. 8. 6. 2004, S. 11 je mit zahlr. weit. Nachw.

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das die verschiedenen Positionen und Vorverständnisse nochmals besonders deutlich hervortreten läßt. 58 Das Bundesverfassungsgericht sieht durch die Konstellation mehrere verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen betroffen: Während das Tragen eines Kopftuchs durch eine Lehrerin in Schule und Unterricht unter den Schutzbereich der Glaubensfreiheit falle, träten dazu der staatliche Erziehungsauftrag, die Verfassungsgüter des elterlichen Erziehungsrechts und die negative Glaubensfreiheit der Schulkinder in Widerstreit. Die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität sei nicht im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen. Dies gelte insbesondere auch für den Bereich der Pflichtschule. Bei der Gestaltung der öffentlichen Schule seien christliche Bezüge nicht schlechthin verboten; die Schule müsse aber auch für andere weltanschauliche und religiöse Inhalte und Werte offen sein. In dieser Offenheit bewahre der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität. 59 Trage eine Lehrerin in Schule und Unterricht ein Kopftuch, nehme sie nicht nur die Freiheit in Anspruch, ihre Glaubensüberzeugungen zu zeigen; berührt werde auch die negative Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler, nämlich kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fernzubleiben. Allerdings gebe es, so das Bundesverfassungsgericht, in einer Gesellschaft mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen kein Recht darauf, von Bekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen eines fremden Glaubens verschont zu bleiben. Aufgrund der umfassenden Gestaltungsfreiheit der Länder im Schulwesen sei es letztlich deren Aufgabe, in dem unvermeidbaren Spannungsverhältnis zwischen positiver Glaubensfreiheit eines Lehrers einerseits und der staatlichen Pflicht zu weltanschaulich-religiöser Neutralität, dem staatlichen Erziehungsauftrag, dem Erziehungsrecht der Eltern sowie der negativen Glaubensfreiheit der Schüler andererseits eine für alle zumutbare Lösung zu suchen. Dabei dürften Schultraditionen ebenso Berücksichtigung finden wie die konfessionelle Zusammensetzung der Bevölkerung und ihre mehr oder weniger starke religiöse Verwurzelung. 60 Bringen Lehrkräfte religiöse oder weltanschauliche Bezüge in Schule und Unterricht ein, soll dies den in Neutralität zu erbringenden staatlichen Erziehungsauftrag, das elterliche Erziehungsrecht und die negative Glaubensfreiheit der Schüler beeinträchtigen können, da es zumindest möglich sei, daß dadurch Schulkinder beeinflußt, Konflikte mit Eltern ausgelöst, der Schulfrieden gestört und damit die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags in der Schule gefährdet werde. Auch die Bekleidung von Lehrern, die als religiös motiviert verstanden werden kann, könne so wirken. Zwar soll die staatliche Duldung einer religiös motivierten Kleidung von Lehrern in Schule und Unterricht, die diese aufgrund individueller Ent58

Dazu oben S. 214 ff. sowie zusammenfassend unten C. (S. 361 ff.). 59 BVerfG NJW 2003, 3111 (3113). 60 BVerfG NJW 2003, 3111 (3114 f.).

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Scheidung tragen, nicht mit einer staatlichen Anordnung gleichgesetzt werden können, religiöse Symbole in der Schule anzubringen. Der Staat mache mit der Hinnahme einer bestimmten Bekleidung einer einzelnen Lehrkraft diese Aussage nicht schon dadurch zu seiner eigenen und müsse sie sich auch nicht als von ihm beabsichtigt zurechnen lassen.61 Gleichwohl könne ein von einer Lehrerin aus religiösen Gründen getragenes Kopftuch deshalb besonders intensiv wirken, weil die Schüler für die gesamte Dauer des Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des Unterrichtsgeschehens stehenden Lehrerin ohne Ausweichmöglichkeit konfrontiert seien. Mangels gesicherter (empirischer) Erkenntnisse über die Auswirkungen auf die religiöse Orientierung von Schulkindern soll es sich jedoch lediglich um abstrakte Gefahren handeln. Sollte bereits die bloße Möglichkeit einer Gefahrdung oder eines Konflikts aufgrund des Auftretens einer Lehrkraft und nicht deren konkretes Verhalten als Verletzung beamtenrechtlicher Pflichten oder als Eignungsmangel gewertet werden, sei dafür eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage erforderlich. 62 Da das Bundesverfassungsgericht die in Baden-Württemberg seinerzeit geltende beamten- und schulrechtliche Gesetzeslage für nicht ausreichend hielt, hatte die Verfassungsbeschwerde letztlich Erfolg. Zugleich betont das Gericht jedoch in seiner Entscheidung, daß es dem zuständigen Landesgesetzgeber freistehe, die bislang fehlende gesetzliche Grundlage zu schaffen. Mit diesem offenen Ergebnis ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vielfach kommentiert und mit Argumenten kritisiert worden, die von Fragen der Gewaltenteilung und des Beamtenrechts bis hin zur Stellung des Beamten im demokratischen Staat reichen 6 3 Im vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, daß die verfassungsrechtliche Grundsatzfrage nach der staatlichen Neutralität im Bildungs- und Erziehungsraum Schule nicht beantwortet worden ist. Trotz einiger Präzisierungen im Detail bleibt die Entscheidung gegenüber den vergleichsweise inhaltsreicheren Aussagen des Schulkreuz-Beschlusses64 zurück. Zwar ist es der Tendenz nach zweifellos richtig, die Bedeutung des politischen Prozesses in diesem Bereich hervorzuheben und die Gesetzgebungsaufgabe der Länder zu stärken. Gleichwohl wäre es angezeigt gewesen, den im Schulkreuz-Beschluß gezogenen verfassungsrechtlichen Rahmen, der dem Staat eine deutliche Zurückhaltung auferlegt, 65 auch auf Lehrer an öffentlichen Schulen und die von diesen getragene religiös motivierte Bekleidung zu übertragen. 66

61 BVerfG NJW 2003, 3111 (3114). 62 BVerfG NJW 2003, 3111 (3115 ff.). 63 Besonders aufschlußreich ist in dieser Hinsicht bereits das Sondervotum der Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff, BVerfG NJW 2003, 3111 (3117 ff.).; vgl. darüber hinaus; Oebbecke, in: FS für Rüfner, S. 593 ff.; Ipsen, NVwZ 2003, 1210 ff.; Sacksofsky, NJW 2003, 3297 ff.; Robbers, RdJB 2003, 11 ff.; Bertrams, DVB1. 2003, 1225 ff.; Hufen, NVwZ 2004, 575 ff.; Pofalla, NJW 2004, 1218 ff., Isensee, FAZ v. 8. 6. 2004, S. 11 je mit weit. Nachw. 64 Vgl. oben S. 122 ff. 65 Dazu oben S. 123 ff. 66 Näher dazu oben S. 315 ff.

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Nachtrag

II. Kruzifix in der Schule Die relativ klaren Aussagen der Schulkreuz-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts,67 die sich mittelfristig als Grundlage für ein besseres Verständnis des Neutralitätsgrundsatzes erweisen könnten 6 8 sind vom bayerischen Gesetzgeber bei seiner Reaktion auf die Entscheidung in Art. 7 Erziehungs- und Unterrichtsgesetz (BayEUG) bekanntlich in wesentlichen Punkten unberücksichtigt geblieben. Dennoch ist die bayerische Regelung zum Schulkreuz nicht nur vom Bayerischen Verfassungsgerichtshof, 69 sondern auch vom Bundesverwaltungsgericht - wenn auch nur im Wege verfassungskonformer Auslegung - gehalten worden. 70 Art. 7 Abs. 3 BayEUG sieht vor, in Klassenräumen der Volksschulen Kreuze anzubringen. Flankiert wird diese Regelung durch eine Widerspruchsmöglichkeit, die auf ernsthaften und einsehbaren Gründen des Glaubens oder der Weltanschauung beruhen muß und den widerstreitenden Grundrechtspositionen Rechnung tragen soll. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hatte diese Regelung im wesentlichen deshalb mit dem Grundrecht der Bekenntnisfreiheit nach Art. 107 Bay Verf. für vereinbar erachtet, 71 weil die vorgesehene Konfliktlösung die Unausweichlichkeit und damit die Zwangssituation entfallen lasse, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung beanstandet hatte.72 Das Bundesverwaltungsgericht folgt dieser Entscheidung im Ergebnis, nimmt jedoch eine umfangreiche verfassungskonforme Auslegung vor und fordert zugleich auch eine verfassungskonforme Handhabung der Widerspruchsregelung ein. So soll die Widerspruchsregelung verfassungskonform dahingehend ausgelegt werden müssen, daß sich die Widersprechenden letztlich stets durchsetzen müssen, wenn sie sich auf ernsthafte und einsehbare Gründe stützen, eine Einigung nicht zustande kommt und andere zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten nicht bestehen. Für die Annahme ernsthafter und einsehbarer Gründe der Weltanschauung oder des Glaubens soll es ausreichen müssen, wenn aus den Darlegungen der Eltern deutlich wird, daß sie Atheisten sind und /oder es aus antireligiösen Gründen heraus für unzumutbar erachten, daß ihr Kind in der Erziehung religiösen Einflüssen ausgesetzt werde. Schließlich soll die Widerspruchsregelung verfassungskonform dahingehend gehandhabt werden müssen, daß vorhersehbare Konflikte wegen der Anbringung des Kreuzes möglichst von vornherein vermieden und notfalls schon bei 67 BVerfGE 93, 1 ff., dazu oben S. 123 ff. 68 So auch Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 127 ff.; Czermak, in: FS für Rüfner, S. 79 (101). 69 BayVerfGH NJW 1997, 3157 ff.; zum Anspruch eines Lehrers auf Entfernung von Kreuzen aus Klassenzimmern in Volksschulen BayVerfGH 2002, 1000 ff. 70 BVerwGE 109, 40 ff. 71 BayVerfGH NJW 1997, 3157 ff.; vgl. zur Kritik nur Renck, NJW 1999, 994; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 243 ff.; Jeand'Heur/Korioth, Grundzüge des Staatskirchenrechts, S. 84 (96 ff.); Czermak, in: FS für Rüfner, S. 79 (101) je mit weit. Nachw. Näher dazu oben S. 1 ff.

Nachtrag

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der Klasseneinteilung berücksichtigt werden. Der Schulleiter soll während des gesamten Verfahrens zu äußerster Diskretion verpflichtet sein. Daß das Bundesverwaltungsgericht - von dogmatischen Ungenauigkeiten abgesehen - offenbar Vorbehalte gegenüber dem selbst gefundenen Ergebnis hegt, zeigen die vergleichsweise offenen Ausführungen zur Vereinbarkeit der Widerspruchsregelung mit dem Neutralitätsgebot. 73 Denn auch nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts sollen mit dem (vorsorgenden) Neutralitätsgebot am ehesten Lösungen vereinbar sein, die schon zu einer Konfliktvermeidung beitragen, etwa indem sie Konflikten von vornherein die Grundlage entziehen oder aber für die Betroffenen eine „Garantie der Freiwilligkeit" enthalten. Auf eine solche vorsorgende Neutralität ist die Widerspruchsregelung aber gerade nicht (vorrangig) angelegt. Mit der vom Gesetzgeber zur Regel erhobenen Anbringung der Kreuze wird zunächst auf der ersten Stufe zwischen Personen mit gegensätzlichen Auffassungen ein Konflikt hervorgerufen, für den das Gesetz dann erst auf einer zweiten Stufe eine nachträgliche Konfliktlösung bereithält. Der Nachteil der Widerspruchslösung liegt damit vor allem darin, daß diejenigen, die das Kreuz nicht wünschen, mit dem erkennbar werdenden Verlangen nach seiner Entfernung Gefahr laufen aus dem Blickwinkel der andersdenkenden Mehrheit in die Rolle von „Unruhestiftern" zu geraten, die eine Veränderung bestehender Zustände anstreben. Auf diese Weise, so das Bundesverwaltungsgericht, könne es dazu kommen, daß die friedliche Koexistenz gegensätzlicher religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen im Streit um die Beseitigung des Kreuzes eher gefährdet denn gewährleistet werde. 74 Gleichwohl soll „in Würdigung aller Umstände" die Widerspruchsregelung rechtmäßig sein, da kein Modell ersichtlich sei, „das nach dem Neutralitätsgebot eindeutig den Vorzug verdiente". 75 Die Erläuterung dieser Aussage gleicht allerdings mehr einer Behauptung als einer überzeugend nachvollziehbaren Begründung. Mit dieser Argumentation legt die Entscheidung im Gegenteil die Vermutung nahe, daß die bayerische Regelung mit allen nur möglichen Mitteln gehalten und die Auseinandersetzung um das bayerische Schulkreuz zu einem Ende geführt werden sollte. 76

III. Befreiung von einer Klassenfahrt aus religiösen Gründen Dem Fall des OVG Münster zur Befreiung von einer Klassenfahrt aus religiösen Gründen 77 lag das Begehren einer muslimischen Schülerin der 10. Klasse zugrunde, den Schulleiter durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, sie von der 73 74 75 76 77

BVerwG NJW 1999, 3063 (3065 f.). BVerwG NJW 1999, 3063 (3065 f.). BVerwG NJW 1999, 3063 (3065 f.). Vgl. zu dieser Vermutung nur Czermak, in: FS für Rüfner, S. 79 (101). OVG Münster NJW 2003, 1754 f.

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Nachtrag

Teilnahme an einer Klassenfahrt zu befreien. Zur Begründung trug sie unter Vorlage eines Gutachtens eines islamischen Zentrums vor, ihr Glaube verbiete es ihr, ohne Begleitung eines „Mahram" (eines nahen männlichen Verwandten) an einer Klassenfahrt mit Übernachtung außerhalb des Elternhauses teilzunehmen. Das VG Aachen als Vorinstanz 78 hatte - ausgehend von dem Gebot, einen Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz zwischen Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und dem staatlichen Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) herzustellen - die begehrte einstweilige Anordnung mit der Begründung abgelehnt, der die 9. Klasse besuchende Bruder der Schülerin könne diese mit Billigung der Schule begleiten, so daß eine für die Schülerin zumutbare Möglichkeit bestehe, ihrer religiösen Überzeugung auch bei Teilnahme an der Klassenfahrt Rechnung zu tragen. Nachdem die Schülerin im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemacht hatte, daß ihr Bruder oder ein anderer männlicher Verwandter nicht als Begleiter zur Verfügung stünden, wies das OVG die Beschwerde der Schülerin zurück; zugleich sah es jedoch keine Notwendigkeit zum Erlaß einer einstweiligen Anordnung, da die Schülerin wegen Erkrankung i. S. d. § 9 Abs. 1 ASchONRW an der Teilnahme an der Klassenfahrt verhindert sei. 79 Das OVG Münster folgt der vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Auffassung, daß Art. 4 Abs. 1 und 2 GG vorbehaltlos ein einheitliches Grundrecht der Glaubens- und Religions(ausübungs-)freiheit garantiere, so daß Eingriffe nur verfassungsimmanent im Hinblick auf die Grundrechte Dritter oder andere Werte mit Verfassungsrang gerechtfertigt werden könnten. Diese Argumentationslinie konkretisiert das OVG Münster, indem es hervorhebt, daß denkbare Konfliktlösungen von vornherein nicht als schulorganisatorische Abhilfemaßnahmen in Betracht kämen, wenn sie zum (zeitweiligen) Zerbrechen der Familie einer Schülerin führen würden. Nach bisheriger gefestigter Rechtsprechung hätte danach die Möglichkeit einer Unterrichtsbefreiung erwogen werden müssen. Anders als das Bundesverwaltungsgericht, das beim Fehlen glaubenskonfliktvermeidender zumutbarer organisatorischer Maßnahmen grundsätzlich eine Befreiung vom Unterricht in Betracht zieht, 80 sieht das OVG Münster diesen Weg jedoch nicht für eröffnet an, sondern geht stattdessen davon aus, daß aufgrund der zugrundeliegenden (psychischen) Konfliktlage auch ein Fall der krankheitsbedingten Schulversäumnis vorliegen könne. Als zentral läßt sich der Entscheidung damit die Aussage entnehmen, daß religiöse Gründe, die ein bestimmtes Verhalten nahe legen, nicht ausschließlich im Rahmen eines Befreiungsantrags relevant werden, sondern zu einer (ipso iure) dispensauslösenden Krankheit führen können.81 Da die Ausführungen des Gerichts zum Krankheitswert der schülerischen Religiosität im konkreten Fall jedoch weitgehend auf Spekulationen beruhen, werden die Grenzen zwischen Krankheit und Glaubensfreiheit verwischt. Solange keine eindeutige, durch ärztliche 78 VG Aachen NJW 2003, 3191 ff. 79 OVG Münster NJW 2003, 1754 f. so BVerwGE 94, 82, 83 f.; vgl. oben S. 136 ff. 8i OVG Münster, NJW 2003, 1754 f.; vgl. Rixen, NJW 2003, 1712 (1713 ff.) mit eingehender Kritik an der Entscheidung.

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Gutachten abgesicherte Unterrichtsverhinderung wegen (psychischer) Krankheit vorliegt, ist schulrechtlich der Rückgriff auf die Regeln der Unterrichtsbefreiung der korrekte Weg. Dieser erfordert allerdings die bekannte Abwägung zwischen Art. 7 Abs. 1 GG sowie Art. 4 Abs. 1 und 2 GG (sowie ggf. Art. 6 Abs. 2 GG) und das damit verbundene, mitunter aufwendige „Spiel von Grund und Gegengrund". 82 Ein Ausweichen auf die scheinbar leichter begründbare Unterrichtsverhinderung wegen (psychischer) Krankheit ist demgegenüber keine dogmatisch tragfähige Alternative.

C. Vorverständnisse Erst jüngst hat Czermak erneut festgestellt, daß die Frage, inwieweit staatliche schulische Maßnahmen auf die Erziehung der Schüler Einfluß nehmen dürfen, ebenso viel diskutiert wie bisher wenig geklärt sei. Viele Abhandlungen zu Fragen der Erziehungsziele und Lehrpläne, ja der „Wertedebatte" überhaupt ließen den Leser, der zu den Kriterien der Abgrenzung von zulässiger und unzulässiger schulischer Wertevermittlung Konkretes erfahren wolle, ratlos zurück. Dem entspreche die Schwammigkeit und dogmatische Ungereimtheit gerichtlicher Entscheidungen, die für Fragen von religiös-weltanschaulicher Bedeutung beinahe typisch seien.84 Diese Feststellung, so ist zu vermuten, wird auf absehbare Zeit aktuell bleiben. Gründe dafür sind nicht zuletzt jene vielfältigen, oft nicht bewußt gemachten oder gar offen gelegten Verständnisebenen, die in der Diskussion eine Rolle spielen und für einzelne Positionen maßgebend sind. Sowohl die neuere Rechtsprechung als auch das neuere Schrifttum zum Verhältnis von Religion und Staat zeigen in eindrucksvoller Weise, daß die jeweils vertretenen Auffassungen in enger, kaum zu trennender Verbindung mit bestimmten Staats- und Gesellschaftsbildern sowie entsprechenden Vorverständnissen stehen. Nach wie vor ist im Schrifttum vielfach die deutliche Sorge zu spüren, daß die grundsätzliche (nicht strikte) Trennung des staatlichen vom weltanschaulich-religiösen Bereich die vollständige Ausklammerung aller religiösen Elemente aus dem staatlichen Bereich nach sich ziehen würde. Umso mehr bestand und besteht Anlaß, die philosophische Grundlagendiskussion in die Betrachtung einzubeziehen,85 um auf diese Weise genauer nachzeichnen zu können, welche Vorverständnisse für die jeweiligen Positionen prägend sind. Gerade für die Frage der staatlichen Wertevermittlung im Rahmen der schulischen Erziehung sind diese Vorverständnisse oft von ausschlaggebender Bedeutung. Denn baut der Zusammenhalt der Gesellschaft auf gewissen Gemeinsamkeiten in Form von allen geteilten moralischen Werten auf, kann es der öffentli82 Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 469; Rixen, NJW 2003, 1712 (1714). 83 So auch Rixen, NJW 2003, 1712 (1714 f.) 84 Czermak, in: FS für Rüfner, S. 79 (92 f.). Eine eingehende Untersuchung liefert mittlerweile allerdings Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 250 ff. 85 Näher dazu oben S. 214 ff.

Nachtrag

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chen Schule nicht verwehrt sein, diese Werte auch der schulischen Erziehung zugrunde zu legen. Entstehen umgekehrt Probleme daraus, daß die von der Schule vermittelten Werte in einer pluralistischen Gesellschaft nicht von allen Schülern (bzw. deren Eltern) geteilt werden, erhebt sich die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit Werte vom Staat überhaupt legitimer Weise vermittelt werden dürfen. Die vor diesem Hintergrund maßgebenden Verbindungslinien zwischen der Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte, der Verfassungstheorie und der Verfassungsinterpretation sind in jüngerer Zeit wiederholt hervorgehoben, 86 in der allgemeineren Diskussion aber bislang nur wenig rezipiert worden. Sie gehen in weiten Teilen mit dem Anliegen der vorliegenden Untersuchung konform, die verschiedenen Einflußlinien offen zu legen, sie für das Verständnis der vertretenen Positionen zu nutzen und für die Diskussion um das Verhältnis von individuellen Freiheiten und staatlicher Ordnung, vor allem aber die Kollisionslagen zwischen individueller Religionsfreiheit und staatlichem Erziehungsauftrag fruchtbar zu machen. Dazu besteht umso mehr Anlaß, als die Auswirkungen der jeweiligen Vorverständnisse gerade für die rechtliche Regelung der schulischen Erziehung nach wie vor kaum diskutiert werden. 87 Gerade für die Frage, inwieweit staatliche schulische Maßnahmen auf Erziehung und Unterrichtung der Schüler inhaltlich Einfluß nehmen dürfen, sind sie jedoch durchweg entscheidend. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden. 88

86

Brugger, in: ders./Huster (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, S. 109 ff.; ders., AöR 123 (1998), 337 ff.; ders., Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes; ders., KritV 2001, 149 ff.; ders., Der Staat 42 (2003), 77 ff.; Huster, in: Brugger/ders. (Hrsg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, S. 69 ff.; ders., Die ethische Neutralität des Staates. 87 Czermak, in: FS für Rüfner, S. 79 (92 f.). 88

Vgl. oben S. 214 ff., 237 ff.

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Sachregister Allgemeine Handlungsfreiheit 53 f., 288 - Schranken 53 f., 288 Aufsicht - Begriff 27 ff., 66 ff., 317 ff. Aufsichtsrecht des Staates über das Schulwesen 27 ff., 65 ff., 317 ff., 353 ff. - begriffliche Vorklärungen 66 ff. - enges AufsichtsVerständnis 76 f., 80 ff., 318 ff. - Rahmenbedingungen 68 ff. - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 90 f. - Sonderstellung des Unterrichtsbereichs 324 ff. - unter dem Grundgesetz 76 ff. - unter der Weimarer Verfassung 74 ff. - weites Aufsichtsverständnis 74 ff., 78 ff., 83 ff. Befreiung - vom Schulunterricht 136 ff., 309 ff., 359 ff. - Freistellung an bestimmten Schultagen 136 ff. - Klassenfahrt 359 ff. - Schulsport 137 ff. Bekenntnisfreiheit 38 ff., 280 ff. - Gewährleistungen 280 ff. Bekenntnisschule 92 ff. - Verfassungsmäßigkeit 97 ff. Besonderes Gewaltverhältnis 70 ff. - Bedeutung für das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen 68 ff. Bildungsgutscheine 241 f., 344 Bildungsziele 343 Christentum - und Grundgesetz 95 ff., 101 ff. Christliche Gemeinschaftsschule 101 ff. Compelling Interest Test 163 ff., 167

Demokratie 330 f., 343 f. - und Gremienentscheidungen 343 f. - und schulischer Unterricht 330 f. Endorsement Test 157, 161 Entanglement Test 157 Establishment Clause 152 ff. Erziehungsauftrag des Staates 21 ff., 65 ff., 354 ff. - Konflikte mit der individuellen Religionsfreiheit 21 ff., 106 ff., 354 ff. Erziehungskonzepte 237 ff. - Democratic Education 248 ff. - kommunitaristische 243 ff. - liberale 239 ff. - republikanische 245 ff. - Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz 252 ff. - Vereinbarkeit mit der amerikanischen Verfassung 260 ff. Free Exercise Clause 161 ff. - Compelling Interest Test 163 ff., 167 - Entwicklung 162 f. Freistellung vom Schulunterricht 136 ff., 309 ff., 359 ff. - Befreiung vom Schulsport 137 ff. - Freistellung an bestimmten Schultagen 136 ff. - Klassenfahrten 359 ff. Gemeinschaftsschule 94 f. - christliche 101 ff. - Verfassungsmäßigkeit 101 ff. Gerechtigkeitstheorien 215 ff., 225 ff. Gesetzesvorbehalt 68 ff. - Bedeutung für das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen 68 ff. Gewissensfreiheit 264 f., 273 ff., 284 ff., 297 ff. Glaubensfreiheit 24 ff., 34 ff., 149 ff., 264 ff., 348 ff.

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Sachregister

-

Anwendungsbereich 266 ff. Begriff 35 ff., 268 ff. Gewährleistungen 38 ff., 277 ff. in den Vereinigten Staaten 149 ff. individuelle 34 ff., 264 ff., 348 ff. Reichweite 276 ff. Schranken 50 ff., 287 ff., 349 f. - Schranken der Weimarer Verfassung 51 f., 55 ff., 288 ff., 349 ff. - Übertragung der Schrankenregelungen anderer Grundrechte 50 ff., 53 ff., 288 - Schutzbereich 38 ff., 265 ff., 348 f. Gremien - Demokratische Legitimation 341 ff. - Einbeziehung in die inhaltliche Unterrichtsgestaltung 337 ff., 341 ff. - Zusammensetzung 342 f. Grundgesetz - als organisatorisches Rahmengerüst 64 - als Weitesystem 64 f. - Menschenbild des Grundgesetzes 64 f. - Schultypen 92 ff. Grundwertediskussion 253 ff. - Ableitbarkeit von Erziehungszielen 257 ff. Homogenität - durch Erziehung 243 ff. - gesellschaftliche 225 ff., 254 ff. - sozialethische 225 ff., 254 ff. Integration - durch schulische Erziehung 21 ff., 237 ff. Interpretation - Verfassungsinterpretation 263 ff., 289 ff., 287 ff. Judicial self-restraint 147 f. Kommunitarismus 215 ff., 225 ff. - Erziehungskonzept 243 ff. Kopftuch - in der Schule 308 ff., 315, 355 ff. Kruzifix - in der Schule 122 ff., 316 ff., 358 ff. Laizismus 303 f. Lemon Test 155 ff., 160 f. - Entanglement Test 157 ff.

- Kritik 160 f. - Secular Effect 156 f. - Secular Purpose 156 Liberalismus 218 - Erziehungskonzept 239 ff. - politischer 228 ff. - wertegeladener 231 ff. Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte 215 ff. - Auswirkungen auf die Schulrechtsprechung des Supreme Court 261 ff. Meinungsfreiheit - Abgrenzung zur Weltanschauungsfreiheit 270 ff. - Schrankenübertragung auf Art. 4 GG 50 f., 54 f., 288 Menschenbild - des Grundgesetzes 64 f. Neutralität, weltanschaulich-religiöse 26 f., 57 ff., 298 ff., 351 ff. - Abhängigkeit vom Staats- und Verfassungsverständnis 61 ff. - Befreiung vom Schulunterricht aus religiösen Gründen 359 ff. - Differenzierung nach Schultypen 315 f. - Herleitung 57 ff., 300 ff. - in den Vereinigten Staaten 168 ff. - im schulischen Bereich 106 ff., 308 ff., 312 ff. - Kopftuch 308 ff., 315, 355 ff. - Kruzifix 122 ff., 316 ff., 358 ff. - Schranke für staatliches Handeln 307 f. - Schulandacht 107 ff. - Schulgebet 107 ff., 180 ff. - Schulkreuz 122 ff., 316 ff., 358 ff. - Strict Separation-Theorie 169 - Trennungsthese 59 ff., 62 f. - Vorverständnisse 61 ff., 361 ff. Politische Philosophie 29 ff., 214 ff. - Bedeutung für die schulische Erziehung 29 ff., 237 ff., 252 ff. - Erziehungstheorien 237 ff. - Kommunitarismus 215 ff., 225 ff. - Liberalismus 218

Sachregister - Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte 215 ff. - Republikanismus 233 ff. Rechtsvergleichung 28 ff., 145 f. Released Time Programme 191 ff. Religionsausübungsfreiheit 38 ff., 281 ff. - Einbeziehung der Weltanschauungsausübung 282 f. - Gewährleistungen 281 ff. Religionsbegriff 35 ff., 170 ff. - in den Vereinigten Staaten 170 ff. Religion Freedom Restoration Act 164 ff. Religionsfreiheit 24 ff., 34 ff., 149 ff., 264 ff., 348 ff. - Anwendungsbereich 266 ff. - Begriff 35 ff., 268 ff. - Gewährleistungen 25 f., 38 ff., 277 ff. - in den Vereinigten Staaten 149 ff. - individuelle 34 ff., 264 ff., 348 ff. - Reichweite 276 ff. - Schranken 50 ff., 287 ff.. 349 f. - Schranken der Weimarer Verfassung 25, 51 f., 55 ff., 288 ff., 349 ff. - Übertragung der Schrankenregelungen anderer Grundrechte 50 ff., 53 ff., 288 - Schutzbereich 38 ff., 265 ff., 348 f. Republikanismus - Bedeutung 233 ff. - Erziehungskonzept 245 ff. Schulandacht 107 ff. Schulangelegenheiten - Aufgabenteilung zwischen Staat und Gesellschaft 324 ff., 341 ff. - äußere 320 f. - Einbeziehung demokratisch legitimierter Gremien 337 ff., 341 ff. - innere 321 ff. - Reichweite der staatlichen Regelungsbefugnisse 334 ff. - Vorgabe von Bildungszielen 343 ff. - Vorverständnisse 323 f. Schulaufsicht 27 ff., 65 ff., 317 ff., 353 ff. - begriffliche Vorklärungen 66 ff. - enges Aufsichtsverständnis 76 f., 80 ff., 318 ff. - Rahmenbedingungen 68 ff. 25 Rathke

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- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 90 f. - Sonderstellung des Unterrichtsbereichs 324 ff. - unter dem Grundgesetz 76 ff. - unter der Weimarer Verfassung 74 ff. - weites Aufsichtsverständnis 74 ff., 78 ff., 83 ff. Schule 21 ff., 92 ff., 106 ff., 334 ff. - Bekenntnisschule 92 ff., 309 - Gemeinschaftsschule 94 f. - christliche 101 ff. - in den Vereinigten Staaten 145 ff., 177 ff. - Darstellung der Evolutionslehre 198 ff. - Nutzung der Schule für religiöse Zwekke 196 ff. - Schulpflicht 178 f. - Unterrichtsmaterial 203 ff. - Verfassungsrechtliche Absicherung 177 f. - Zehn Gebote im Klassenzimmer 189 ff. - Privatschule 343 ff. - Weltanschauungsschule 94, 309 Schulgebet 107 ff., 180 ff. Schulischer Erziehungsauftrag 21 ff., 92 ff., 106 ff. Schulkreuz 122 ff., 316 ff., 358 ff. Schulpflicht 21, 133 ff. - in den USA 178 f. - verfassungsrechtliche Verankerung 133 ff. Schulsport - Befreiung 137 ff. - koedukativer 139 ff., 141 ff. - Schwimmunterricht 139 ff. Schultypen - Bekenntnisschule 92 ff. - Verfassungsmäßigkeit 97 ff. - Gemeinschaftsschule 94 f. - christliche 101 ff. - Verfassungsmäßigkeit 101 ff. - Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz 96 f. - Weltanschauungsschule 94 Schulunterricht - Einbeziehung demokratisch legitimierter Gremien 337 ff., 341 ff. - Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte 331 ff. - Einfluss der Gesellschaft 325 ff. - Einfluss des Staates 324 f.

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Sachregister

- Freistellung von Schülern 136 ff., 309 ff., 359 ff. - Befreiung vom Schulsport 137 ff. - Freistellung an bestimmten Schultagen 136 ff. - Pädagogische Freiheit 329 f. - Selbstentfaltung des Kindes 328 Sozialstaatsprinzip 330 - Bedeutung für die schulische Unterrichtsgestaltung 330 f. Staat und Gesellschaft - Verhältnis im schulischen Bereich 325 f., 331 ff. Staatsaufsicht über das Schulwesen siehe Schulaufsicht Toleranzgebot 59 ff., 302 ff. Unterricht, schulischer - Einbeziehung demokratisch legitimierter Gremien 337 ff., 341 ff. - Einbeziehung gesellschaftlicher Kräfte 331 ff. - Einfluss der Gesellschaft 325 ff. - Einfluss des Staates 324 f. - Freistellung von Schülern 136 ff., 309 ff., 359 ff. - Befreiung vom Schulsport 137 ff. - Freistellung an bestimmten Schultagen 136 ff. - Pädagogische Freiheit 329 f. - Selbstentfaltung des Kindes 328 USA - Grundrechte 148 f. - Neutralitätsgebot 168 ff. - Strict Separation-Theorie 169 - Released Time Programme 191 ff. - Religion Freedom Restoration Act 164 ff. - Religionsbegriff 170 ff. - Religionsfreiheit 149 ff. - Compelling Interest Test 163 ff., 167 - Endorsement Test 157, 161 - Entanglement Test 157 - Establishment Clause 152 ff. - Free Exercise Clause 161 ff. - Lemon Test 155 ff., 160 f. - Schulen in den USA 177 ff. - Schulgebet 180 ff.

- Darstellung der Evolutionslehre 198 ff. - Nutzung der Schule für religiöse Zwekke 196 ff. - Schulpflicht 178 f. - Unterrichtsmaterial 203 ff. - Verfassungsrechtliche Absicherung 177 f. - Zehn Gebote im Klassenzimmer 189 ff. - Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit 146 ff. Vereinigte Staaten - Grundrechte 148 f. - Neutralitätsgebot 168 ff. - Strict Separation-Theorie 169 - Released Time Programme 191 ff. - Religion Freedom Restoration Act 164 ff. - Religionsbegriff 170 ff. - Religionsfreiheit 149 ff. - Compelling Interest Test 163 ff., 167 - Endorsement Test 157, 161 - Entanglement Test 157 - Establishment Clause 152 ff. - Free Exercise Clause 161 ff. - Lemon Test 155 ff., 160 f. - Schulen in den USA 177 ff. - Schulgebet 180 ff. - Darstellung der Evolutionslehre 198 ff. - Nutzung der Schule für religiöse Zwekke 196 ff. - Schulpflicht 178 f. - Unterrichtsmaterial 203 ff. - Verfassungsrechtliche Absicherung 177 f. - Zehn Gebote im Klassenzimmer 189 ff. - Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit 146 ff. Verfassungsgerichtsbarkeit - in den USA 146 ff. Vorbehalt des Gesetzes 68 ff. - Bedeutung für das staatliche Aufsichtsrecht über das Schulwesen 68 ff. Weltanschaulich-religiöse Neutralität 26 f., 57ff., 298ff., 351 ff. - Abhängigkeit vom Staats- und Verfassungsverständnis 61 ff. - Befreiung vom Schulunterricht aus religiösen Gründen 359 ff. - Differenzierung nach Schultypen 315 f.

Sachregister Herleitung 57 ff., 300 ff. im schulischen Bereich 106 ff., 308 ff., 312 ff. in den Vereinigten Staaten 168 ff. Kopftuch 308 ff., 315, 355 ff. Kruzifix 122 ff., 316 ff., 358 ff. Schranke für staatliches Handeln 307 f. Schulandacht 107 ff. Schulgebet 107 ff., 180 ff. Schulkreuz 122 ff., 316 ff., 358 ff. Strict Separation-Theorie 169 Trennungsthese 59 ff., 62 f. Verhältnis von staatlichem und weltanschaulich-religiösem Bereich 302 ff. Vorverständnisse 61 ff., 361 ff.

Weimarer Verfassung 51 f., 55 ff., 288 ff. Weltanschauung - Begriff 35 ff., 269 ff. Weltanschauungsfreiheit 34 ff., 268 ff. - Freiheit der Ausübung 282 f. - Vergleich mit der Religions- und Gewissensfreiheit 273 ff. Weltanschauungsschule 94 Wertevermittlung - schulische 252 ff., 308 ff., 334 ff. Wertordnung - des Grundgesetzes 64 f. Wissenschaftsfreiheit - Abgrenzung zur Weltanschauungsfreiheit 270 ff.