Edititonen - Wandel und Wirkung 9783484295254, 9783110938876

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German Pages 255 [256] Year 2007

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Edititonen - Wandel und Wirkung
 9783484295254, 9783110938876

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B E I H E F T E

ZU

editio H e r a u s g e g e b e n v o n WINFRIED WOESLER

Band 25

Editionen - Wandel und Wirkung Herausgegeben von Annette Seil

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2007

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-29525-4

ISSN 0939-5946

© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter G m b H & Co. K G http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck und Einband: Laupp & Göbel G m b H , Nehren

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin

1

Volker Gerhardt Erschließung und Sicherung des kulturellen Erbes. Zur Aktualität des Forschungsprogramms der Akademien

3

Maria Burger Albertus Magnus und die Editio Coloniensis

11

Loris Sturlese Die historisch-kritische Edition der Werke Meister Eckharts. Neue Interpretationen, neue Handschriften - neue Editionsprinzipien?

33

Sten Ebbesen Corpus Philosophorum Danicorum

45

Rudolf Schiejfer Die Erschließung der historischen Quellen des Mittelalters: alte Probleme und neue Entwicklungen

55

Stefan Lorenz „Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind". Leibniz-Renaissancen und ihre editorischen Reflexe

65

Philip Beeley Edition und Rezeption. Zur Rolle der Akademie-Ausgabe in der gegenwärtigen Diskussion zur Philosophie des G. W. Leibniz in den angelsächsischen Ländern

93

Tanja Gloyna Edition - Neuedition: die drei Critiken Immanuel Kants in der Akademie-Ausgabe. Eine Baubeschreibung

109

Jacqueline Karl Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand" denkt. Die Arbeitsweise Kants als ein Kriterium für die Neuedition des Opus postumum

127

VI

Ursula Caflisch-Schnetzler Die historisch-kritische Edition der Werke Johann Caspar Lavaters, vorgestellt am Beispiel der frühen Werke

145

Winfried Woesler Germanistische Editionen im Spannungsfeld der deutschen Teilung. Unter besonderer Berücksichtigung der Schiller-Nationalausgabe und der beiden Heine-Ausgaben

167

Gerald Hubmann Von der Politik zur Philologie: Die Marx-Engels-Gesamtausgabe

187

Wilhelm Baumgartner, Thomas Binder, Andrea Reimherr Schritte zur elektronischen Edition des Werkes von Franz Brentano Ein Arbeitsbericht

203

Ullrich Melle Die Husserl-Edition, ihre Wirkungsgeschichte und die Rezeption des Nachlasses. Stadien einer Wechselwirkung

221

Klaus Prätor Topologie und Navigation. Zur Bewegung in elektronischen Editionen

239

Vorwort der Herausgeberin

Sowohl durch ihren wissenschaftlichen Wert als auch durch ihre kulturelle und politische Bedeutung sind Editionen philosophischer und literarischer Werke ein wesentlicher Bestandteil des akademischen und geistigen Lebens. Ihre Wirkung reicht weit über eine fachspezifische Rezeption und über die jeweiligen Landesgrenzen hinaus. Da Editionen in einer historischen Situation entstehen, sind sie zugleich Ausdruck bestimmter wissenschaftlicher und politischer Ansichten. Auch ein editionsphilologischer oder technischer Wandel geht mit der Entwicklung der Editionen einher. So können sich auch innerhalb der Laufzeit eines Projektes Konzeptionsänderungen der Editionen ergeben. In den letzten Jahren hat die Möglichkeit der Digitalisierung die editorische Praxis sowie den Gebrauch und die Rezeption von Editionen erheblich verändert. Der vorliegende Band enthält Beiträge, die den Wandel und die Wirkung von Editionen anhand bestimmter Editionsprojekte dokumentieren. Behandelt wurden diese Themen auf einer Tagung der,.Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen" (AGphE), die 1973 als Zusammenschluß philosophischer Editionsunternehmen gegründet wurde, um den Erfahrungsaustausch von Editorinnen und Editoren auf verschiedene Weise zu fördern. Eine Aufgabe der AGphE besteht in der Durchführung von Tagungen mit editionsrelevanten Themen. So fand vom 21. bis zum 23. Februar 2005 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn eine Tagung in Verbindung mit dem Albertus-Magnus-Institut statt. Eine Sektion der Tagung reflektierte in einer Podiumsdiskussion Gegenwart und Zukunft der Editionen. Als Vertreter von Editionsunternehmen diskutierten Andreas Arndt (Berlin) und Hans Gerhard Senger (Köln) mit Thomas Wiemer (Bonn) als Vertreter der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter der Moderation von Walter Jaeschke (Bochum), dem Sprecher der AGphE, Uber das neue Hochschulrahmengesetz, die Situation der Editionen in ihrem Fach und Veränderungen innerhalb der Projekte. Die Zukunft der Editionen ist durch die finanziell angespannte Lage teilweise bedroht, und so gilt es gerade in dieser Zeit auf die Unverzichtbarkeit der Editionen hinzuweisen und sich für die Weiterführung derselben einzusetzen. Ein Engagement für die Benutzung historischer Editionen ist von den Wissenschaftlern in der Öffentlichkeit und in der Lehre gefordert. Schließlich resümierten die Editoren, daß nur eine personelle Kontinuität eine qualitativ hochwertige und zügige Erstellung von Editionen garantieren kann. Alle Referate der Tagung sind - bis auf eine Ausnahme - im vorliegenden Band dokumentiert. Die Themen der Beiträge eröffnen sowohl eine aktuelle Perspektive auf die kulturelle, gesellschaftliche und wissenschaftliche Bedeutung von Editionen und geisteswissenschaftlicher Forschung im allgemeinen als auch auf zukunftsweisende

2 technische Möglichkeiten bei der Erstellung und Nutzung von Editionen. Als sinnvolle Anordnung der Beiträge zu den einzelnen Editionen ergibt sich die Chronologie der edierten Autoren. Die vorgestellten Editionsprojekte beginnen also im Mittelalter und führen bis in das zwanzigste Jahrhundert. Diese Darstellungen gewähren einerseits neue Einblicke in die sich verändernden Editionstechniken und Editionsprinzipien der einzelnen Editionen. Durch die Aufarbeitung der Geschichte der Editionsprojekte zeigt sich andererseits exemplarisch, wie Editionsgeschichte stets mit politischer Geschichte verbunden ist. Die historische Situation nimmt Einfluß auf die Edition, gleichzeitig beeinflußt die Edition das wissenschaftliche und kulturelle Denken der Zeit. In manchen Beiträgen wird gezeigt, wie konzeptionelle und philologische Neuerungen innerhalb eines Editionsprojekts sogar zu einem veränderten Bild und somit zu einer veränderten Rezeption eines Autors führen können. In diesem spannungsreichen Verhältnis bewegen sich die Texte des vorliegenden Sammelbandes und vermitteln so einen Eindruck von der historischen, politischen, philologischen und philosophischen Bedeutung sich wandelnder und vor allem wirkender Editionen. Ein solches Tagungsprojekt ist nur mit finanzieller Unterstützung durchzuführen. Bedanken möchten wir uns bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Tagung großzügig unterstützt hat. Die Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Marc-Aeilko Aris und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Albertus-Magnus-Institut hat wesentlich zum Erfolg der Tagung beigetragen. Ihnen allen sowie dem Direktor des AlbertusMagnus-Instituts, Prof. Dr. Dr. h.c. Ludger Honnefelder, sei ein herzlicher Dank ausgesprochen. Dr. Andris Breitling danke ich vielmals für die Hilfe bei der technischen Erstellung des Manuskripts. Für die Aufnahme des Sammelbandes in die Beihefte zu editio möchte ich herzlich dem Herausgeber der Reihe Prof. Dr. Winfried Woesler danken.

Bochum, im Frühjahr 2006

Annette Seil

Volker Gerhardt

Erschließung und Sicherung des kulturellen Erbes Zur Aktualität des Forschungsprogramms der Akademien

1. Man weiß nur wenig. Das Akademienprogramm ist das größte deutsche Forschungsprogramm in den Geisteswissenschaften. Aber wer weiß das schon? Selbst erfahrene Professoren, kundige Journalisten und omnipräsente Administratoren blicken fragend zurück, wenn sie hören, daß die Sorge um die Zukunft der Geisteswissenschaften in Deutschland auch auf dieses Programm gerichtet ist. Deshalb muß man ausdrücklich sagen, daß sich hinter dem unscheinbaren Namen eines der vielseitigsten und ertragreichsten Arbeitsgebiete der deutschen Wissenschaft verbirgt. Was wußte ich denn selbst, ehe ich damit im Nebenamt einer Nebentätigkeit zu tun bekam? Kaum mehr als die Tatsache, daß die Akademien die kritische Edition der Werke großer deutscher Philosophen betreiben. Wer sich mit Immanuel Kant beschäftigt, der hat auch mit der Akademie-Ausgabe seiner Werke zu tun, die seit 1903 von der Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird. Sie ist die überall auf der Welt benutzte Standardedition, auch wenn noch nicht alle Vorlesungen erschienen sind. Für die Werke von Leibniz, Fichte, Schelling und Hegel gilt das gleiche. Fichte steht kurz vor dem Abschluß, bei den anderen wird man darauf noch einige Jahre warten müssen. Die Gesamtausgabe Ludwig Feuerbachs hingegen konnte in diesem Jahr vollendet werden. Noch als Student kaufte ich mir die bis dahin erschienenen Werke Feuerbachs in der Ausgabe der Akademie der Wissenschaften der DDR. Die blauen Bände waren für die günstig eingetauschten Ostmark in den Ostberliner Buchhandlungen billig zu haben. Als interessiertem Zeitungsleser war mir auch nicht entgangen, daß die Münchner Akademie sich die Riesenaufgabe einer Gesamtausgabe der Werke von Max Weber aufgeladen hatte, daß die Mainzer Akademie eine auf mehr als tausend Kommentar- und Noten-Bände angelegte Gesamtedition der deutschen Komponisten betreut und daß es der aus den Ruinen der DDR-Akademie neu begründeten BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften Mitte der neunziger Jahre gelungen war, ein nur mit der christlichen Bibelforschung vergleichbares wissenschaftliches Großprojekt des realexistierenden Sozialismus, die staatsoffizielle MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe vom ideologischen Ballast zu befreien, um sie nunmehr auf solider wissenschaftlicher Grundlage in weltweiter Kooperation zu Ende zu führen. 2. Ein hartnäckiges Vorurteil. Viel mehr wußte ich nicht, als ich 1998 in die Berliner Akademie berufen wurde. Dort aber hörte ich umgehend von den ominösen „Langzeitvorhaben", die einfach nicht enden wollen und die einer modernen, auf öffentlich

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Volker

Gerhardt

wirksame interdisziplinäre Projekte ausgerichteten Akademie nur hinderlich sind. Man brauchte in den Räumen am Gendarmenmarkt nur „Langzeitvorhaben" zu sagen, und schon hatte man die Lacher auf seiner Seite. Wer lachte, war der Überzeugung, daß sich die Produktivität einer Wissenschaft im Drei-Jahres-Rhythmus zeigt und nur dort sein kann, wo die Einwerbung großer Mittel gelingt. Wer das für richtig hält, erhebt die Förderpraxis der Naturwissenschaften zur Norm für alle anderen und verwechselt den Finanzdurchlauf eines Projekts mit dem szientifischen Ertrag. Daß im zeitlichen Ablauf ein äußeres Kriterium liegt, auf das man unter den Bedingungen öffentlicher Finanzierung angewiesen ist, muß gar nicht bestritten werden. Tatsächlich arbeiten die Naturwissenschaften durchaus erfolgreich nach diesem Modell, und die Sozialwissenschaften tun es ihnen nach. Für ihr Informationsund Beratungsangebot finden sich zahlreiche private und öffentliche Auftraggeber. Die Geisteswissenschaften hingegen dümpeln mit ihren Langzeitvorhaben vor sich hin und lassen wertvolle Steuergelder in ihren Zettelkästen versickern. Folglich dürfen sie sich nicht wundern, daß ihnen die gesellschaftliche Anerkennung entzogen wird. - Das war die Auffassung selbst bei angesehenen Vertretern der Akademie, und sie bestimmt das öffentliche Urteil bis auf den heutigen Tag. Mir war sofort klar, daß dies entweder ein Ausfluß der Ahnungslosigkeit oder ein Mittel fachpolitischer Kriegsführung war. Denn wer auch nur weiß, wie mühevoll und aufwendig die kritische Gesamtausgabe eines einzigen Denkers ist, der kann nicht davon ausgehen, daß sich ein solches Vorhaben in drei, in zehn oder auch nur in zwanzig Jahren bewältigen läßt. Wer daher eine längere Laufzeit in ein Argument gegen die Geisteswissenschaften ummünzt, der muß verschweigen, daß auch die Natur- und Sozialwissenschaften nicht ohne Langzeitvorhaben auskommen. 3. Dauer als Vorwurf. Man stelle sich vor, was eine meteorologische Beobachtungsstation, ein Weltraum-Teleskop oder ein Teilchenbeschleuniger an Erkenntnissen erbrächte, wenn der Projektrahmen auf drei Jahre eingeschränkt wäre! Das internationale Humangenomprojekt war, als es 1990 begann, auf 25 bis 30 Jahre angesetzt. Damals konnte noch niemand wissen, daß die computergestützten Rechenverfahren den 99-prozentigen Abschluß schon nach 14 Jahren erlauben. Auf ganze Wissenschaften wie die Astronomie, die Geologie, die Epidemiologie oder die Humangenetik müßten wir verzichten, wenn wir kurze Laufzeiten als den primären Ausweis der Wissenschaftlichkeit ansehen müßten. Darwin hätte die Beagle gar nicht erst besteigen dürfen, wenn er ein guter Naturwissenschaftler hätte werden wollen. Wer das vergißt, um aus der Langfristigkeit einen Vorwurf gegen die Geisteswissenschaften zu machen, der betreibt eine durchsichtige Interessenpolitik im Dienste einer anders arbeitenden Teildisziplin, oder er empfiehlt sehenden Auges die Kurzatmigkeit als langfristige Forschungsstrategie. 4. Eine kluge Empfehlung des Wissenschaftsrats. Wissenschaftspolitisch ist die Strategie der üblen Nachrede, so hoffe ich, endlich ausgestanden. Der Wissenschaftsrat hat den Akademien in seiner Stellungnahme vom Mai 2004 bescheinigt, daß sie in ihrem Forschungsprogramm einen unverzichtbaren Beitrag zur Erschließung, Siehe-

Erschließung

und Sicherung des kulturellen

Erbes

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rung und Darstellung des kulturellen Erbes leisten, und er hat sie in seinen Empfehlungen zum Verfahren der weiteren Förderung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Max Planck-Gesellschaft gleichgestellt. Im Vergleich mit den 1,3 Milliarden der DFG und den 963 Millionen der MPG klingt das zwar ein wenig kurios, denn dem Akademienprogramm stehen an Zuschüssen von Bund und Ländern nur 42 Millionen Euro zur Verfügung. Sehen wir jedoch den sachlichen Umfang des Programms, seinen Beitrag zur Gewährleistung der Arbeit in allen Wissenschaften, seine Bedeutung für die Herkunft und die Bestände unserer Sprachen und seine unerhört vielfältigen Erträge zur Vergegenwärtigung der Bauelemente unserer Kultur, dann ist der Vergleich mit den großen Institutionen der Wissenschaftsförderung alles andere als unangemessen. Was aus den geringfügigen Mitteln der öffentlichen Förderung in Verbindung mit den Vorleistungen der Akademien und mit einer beachtlichen Summe an zusätzlich eingeworbenen Mitteln1 gemacht wird, ist nicht nur beachtlich, sondern imposant. 5. Eine auf Dauer gestellte Sensation. Ich mache es kurz: Zwölf deutschsprachige Wörterbücher, darunter der Grimm, das Deutsche Rechtswörterbuch, das Historische Wörterbuch der Philosophie, das Handwörterbuch der musikalischen Terminologie, das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche Wörterbuch, vergegenwärtigen uns die allgemeinsprachlichen und einige fachsprachliche Bestände unserer Kultur. Wenn auch eine Enzyklopädie des Märchens oder ein Wörterbuch der deutschen Winzersprache darunter ist, führt das zwar gelegentlich zu einem entweder nachsichtigen oder verächtlichen Schmunzeln. Dazu haben aber nur die Biertrinker einen guten Grund, und natürlich jene, die Märchen für bloße Märchen halten. Außerdem haben wir sechzehn fremdsprachige Wörterbücher, insbesondere zu den antiken Sprachen, einschließlich des Altägyptischen und des Sanskrit, aber auch des Tibetanischen und des Altfranzösischen, dazu Lexika zu Polybios und Augustinus, also zu den sprachmächtigen Vermittlern zwischen der antiken und der modernen Welt. Den größten Block bilden die dreiundfünfzig Vorhaben zur Geschichte, zur Archäologie und zur Kunstgeschichte. Sie reichen von den ersten Papyrusfunden, über Hethitische Keilschrifttexte, die Felsbilder am Karakorum Highway, über die Monumenta Germaniae Historica bis zu der, mit modernsten Mitteln arbeitenden, Dokumentation der mittelalterlichen Glasmalerei oder aller antiken Werke, von denen die Renaissance Kenntnis hatte: dem Census. Hinzu kommen weitere acht Vorhaben zur Inschriften- und Namensforschung. Es folgen an die vierzig Editionen zur Philosophie, Theologie, zu den Literaturund Sprachwissenschaften sowie zu den älteren Naturwissenschaften, neunzehn musikwissenschaftliche Projekte, darunter die bereits erwähnten Gesamtausgaben von Bach über Gluck, Haydn, Mozart, Schumann und Wagner bis hin zu Schönberg.

Der sogenannte Drittmittelanteil liegt zwischen 30 und 35 % der von Bund und Ländern aufgebrachten Fördersumme.

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Volker

Gerhardt

Und am Ende haben wir noch neunzehn Vorhaben im Grenzbereich zwischen Natur- und Geisteswissenschaften mit der Gletscher- oder der Talsperren-Forschung, der Weltkarte tektonischer Spannungen oder den Frühwarnsystemen für globale Umweltveränderungen. Im ganzen kommen wir auf 162 Vorhaben mit über zweihundert Arbeitsstellen vornehmlich in der Bundesrepublik. Die Zahlen erwähne ich nur, damit erkennbar ist, daß die Forschungsleistung tatsächlich als imposant bezeichnet werden kann. Sehe ich auf die Vielfalt und die Forschungsdichte, kann ich die Arbeit in den sogenannten Langzeitvorhaben nur als eine sich fortsetzende Sensation ansehen. 6. Die verkannten Akademien. Was versetzt die Akademien in die Lage, eine solche Leistung zu erbringen? Wie kann man mit etwas mehr als 500 Wissenschaftlern jährlich durchschnittlich 350 Bücher produzieren, mehr als fünfzig Archive komplettieren, Forschungsergebnisse elektronisch sowohl auf neue Weise visualisieren wie auch kommunizieren, älteste Schriftstücke konservieren, Spezialisten ausbilden, Feldforschung betreiben, und neben alledem den hohen Aufwand an internationaler Kooperation mit zahlreichen eigenen Kongressen und Symposien organisieren? Die Antwort ist einfach: Weil die Akademien mit ihren großen personellen Ressourcen an freiwillig und kostenlos tätigen Wissenschaftlern hinter diesen Projekten stehen. Es ist keineswegs so, daß die Akademiemitglieder nur gelegentlich zusammenkommen, um sich wechselseitig Vorträge zu halten. Das ist zwar eine wichtige (und dummerweise unterschätzte) Aufgabe; schließlich bewahren die Akademien noch etwas von dem, was den deutschen Universitäten gerade definitiv ausgetrieben wird. In den Akademien gibt es den freien, von Sach- und Sparzwängen entlasteten Diskurs über die großen Probleme der Wissenschaft. Hier hat die moderne Gesellschaft noch einen jener wenigen Freiräume des Fragens und Denkens, die sie braucht, um ihrer Zukunft nicht mit einem auf den Tachometer fixierten Blick entgegen zu rasen. In der institutionalisierten Muße liegt der von allen Programmen und Prioritäten, Kennziffern und Clustern unabhängige Wert der Akademien. Doch im Akademienprogramm zeigt sich die versammelte Exzellenz immer auch von einer anderen Seite: Aus bloßem Erkenntnisinteresse (wenn auch mit dem Wunsch nach Anerkennung der eigenen Leistung) wird von den Akademiemitgliedern ein schier unglaublicher forschungspraktischer Arbeitseinsatz erbracht. Als Projektleiter oder Kommissionsmitglied, als Autor, Editor oder Evaluator investieren sie unzählige Arbeitsstunden in ihre Projekte, ohne daß hierfür auch nur ein Euro zu Buche schlägt. Dieser Geist des Akademienprogramms teilt sich auch den angestellten Mitarbeitern mit. Wenn man im Evaluationsbericht für den Thesaurus Linguae Graecae (dem Homer-Lexikon) liest, daß von den ehemals fünf Mitarbeitern aus Gründen der 1996 beschlossenen Einsparungen fiir das ganze Programm jetzt nur noch zwei tätig sind, der personelle Verlust aber dadurch kompensiert wird, daß die pensionierten Mitarbeiter unverändert tätig sind, dann ist das kennzeichnend für das Ethos, mit dem hier gearbeitet wird.

Erschließung und Sicherung des kulturellen Erbes

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7. Kritische Revision. Das Akademienprogramm ist ein Solitär - nicht nur in der deutschen Forschungslandschaft. Die großen Akademien anderer Länder haben zwar ebenfalls eigene Vorhaben, mit denen die deutschen Vorhaben zumeist durch Kooperationen verbunden sind. Aber ein vergleichbares Programm haben sie nicht. Das ist eine Besonderheit der deutschen Tradition, dessen historische Pointe darin liegt, daß es die ersten Berliner Akademievorhaben, die Inscriptiones Graecae und das Corpus Inscriptionum Latinarum aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts waren, mit denen die Projektforschung weltweit überhaupt erst ihren Anfang nahm. Es läßt sich zeigen, daß die zur gleichen Zeit aufsteigenden Naturwissenschaften durch den Weg, den die Altphilologen, die Althistoriker, die Rechtshistoriker und die historisch-kritischen Theologen entdeckt und ausgebaut haben, überhaupt erst auf die Idee ihrer Projektforschung gekommen sind. Hier sieht man, was wir am Geist haben: Ihm fällt immer wieder etwas Neues ein. Doch man darf sich nicht auf das Lob beschränken. Der Wissenschaftsrat hat berechtigte Einwände gegen die derzeitige Organisation der Vorhaben vorgetragen. Er wünscht eine stärkere Öffnung, eine verbesserte Evaluation und eine erkennbare Verzahnung der Vorhaben mit dem, was von der DFG und von anderen Forschungsträgern finanziert wird. Für jene Vorhaben, die nicht nur auf lange Zeit, sondern auf Dauer angelegt sind, werden neue Finanzierungsformen angemahnt. Schließlich verlangt der Wissenschaftsrat zu Recht, daß die unselige „Sitzlandfinanzierung" ein Ende hat. Der Föderalismus wird zur Fessel, wenn jedes Bundesland nur dann etwas zahlt, wenn das Geld - durch den Bundeszuschuß verdoppelt - innerhalb der eigenen Grenzen ausgegeben wird. Durch die Empfehlung unserer höchsten wissenschaftlichen Evaluationsinstanz sind Bund und Länder in der Pflicht. Man kann gespannt sein, ob die Ergebnisse der Beratungen in der „Föderalismuskommission" einen Weg aufzeigen, der eine innovative Forschungsförderung erlaubt. 8. Aufbruch in den Akademien. Was den Beitrag der Akademien angeht, so müßte es ihnen ein Leichtes sein, den Empfehlungen des Wissenschaftsrates nachzukommen. Sie bemühen sich schon seit Jahren darum, die Laufzeiten ihrer Vorhaben zu verringern, deren Bewertung zu objektivieren, den Einsatz der Datenverarbeitung zu steigern und die Erneuerungsrate zu erhöhen. Es gibt ständig Ideen für neue Vorhaben, die sich nicht in der maximalen DFG-Förderzeit von zwölf Jahren bewältigen lassen. Man braucht nur an die noch immer ausstehende deutsch-amerikanische Edition der Werke von Hannah Arendt oder an die durch jüngste Funde mögliche Erschließung altchinesischer Rechtsquellen zu denken. Die interkulturelle Erforschung der Ursprünge des Menschenrechts steht ebenso an wie die Bioethik, die immer noch keinen angemessenen Platz in der deutschen Forschungslandschaft gefunden hat. Und sicher ist, daß wir langfristige Forschungsvorhaben zur vergleichenden Religionswissenschaft benötigen. Einen angemessenen Platz haben sie wohl nur im Akademienprogramm. Da die Natur- und Sozialwissenschaften über effektive Fördersysteme verfügen, die Geisteswissenschaften aber mit vergleichsweise geringen Forschungsmitteln aus-

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Volker Gerhardt

kommen müssen, liegt es nahe, das Akademienprogramm auf die klassischen Aufgaben der kulturellen Selbsterschließung des Geistes zu konzentrieren. Es hat sich, so könnte man mit einer Anleihe bei den Ökonomen sagen, primär mit der Infrastruktur unseres Wissens und unseres Könnens zu befassen. Richtig ist allerdings auch, daß die Abgrenzung von Geist, Gesellschaft und Natur wohl niemals mit absoluter Sicherheit gelingt. Ja, für die Selbsteinschätzung der menschlichen Kultur ist kaum etwas wichtiger, als die Erkenntnis der Übergänge von Natur in Kultur und Geist. Deshalb sollte sich das Akademienprogramm für Grenzfragen offen halten. Interdisziplinarität vorausgesetzt, muß es sich immer auch mit jenen Problemen befassen, in denen Physik oder Biologie, Medizin oder Ökonomie, Geologie oder Ökologie Elementarbestände des menschlichen Selbstverständnisses zum Thema machen. 9. Der Geist regt sich schon im geringsten Anspruch. Das Akademienprogramm kann sich auf die Geisteswissenschaften konzentrieren, weil sie offen, vielfältig, weitläufig und allemal unverzichtbar sind. Ein Jahr der Geisteswissenschaften, wie es 2007 begangen werden soll, könnte 365 Tage lang immer etwas Neues bieten. Trotzdem werden die Spezialisten des Geistes derzeit so stiefmütterlich behandelt, daß sie sich selbst fragen müssen, was sie falsch gemacht haben, um derart weit ins forschungspolitische Abseits zu geraten. Dabei hätten gerade die Geisteswissenschaften es wirklich leicht, auch einem vermeintlich geistfernen Politiker klar zu machen, was er ihnen verdankt, worin er selber auf sie rechnet und wozu er sie künftig benötigt. Selbst wenn er keine Bücher lesen, keine Konzerte hören, keine Theater besuchen, keine Filme sehen und keinen Fernseher mehr anschalten möchte, selbst wenn ihm egal sein sollte, wie die Speisekarten in den Restaurants geschrieben und die Briefe seiner Mitarbeiter verfaßt sind: Ihm wird daran liegen, daß wenigstens seine eigenen Kinder (sofern er sie nicht heimlich in die Schweiz oder nach England schickt) gut ausgebildet werden, daß die Korrekturprogramme seines Computers verläßlich arbeiten und daß der „Standort" Deutschland weiterhin als attraktiv gelten kann. Gesetzt, er will nicht mehr als das, dann bemüht er bereits den Geist - seinen eigenen und den anderer. Selbst hinter dem geringsten Anspruch steht die unendlich tiefe und unvorstellbar breite Leistung unserer Kultur, die aus dem sprachlich und handwerklich vermittelten Geist erwächst und die sich wiederum nur durch den Geist erschließen läßt. Und dazu braucht selbst ein geistig anspruchsloser Politiker leistungsfähige Geisteswissenschaften. Da man in Deutschland vermutlich keinen verantwortlichen Politiker trifft, der sich geistig derart bescheiden geben möchte, dürfte sich für die Geisteswissenschaften sogar noch etwas mehr als das Notwendige erreichen lassen. Ein kleiner Überschuß an Raum, Zeit oder Geld hat dem Geist noch nie geschadet. In anderen Ländern, wie zum Beispiel den USA, Japan, Südkorea, auch in Italien und Frankreich sowie in den ehemaligen Ostblockländern hat man das längst begriffen. Dort werden die Humanities nachdrücklich gefördert. Dort weiß man auch die historische und systematische Leistung der deutschen Philosophie, Philologie und

Erschließung

und Sicherung

des kulturellen

Erbes

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Theologie zu schätzen. Und obgleich die Studenten und Gelehrten in großer Zahl nach Deutschland kommen, um hier die literarischen und epistemischen Leistungen des 18., 19. und auch noch des frühen 20. Jahrhunderts aus der Nähe kennen zu lernen, hören wir auf, diese Disziplinen zu fördern. Wir geben das preis, was andere mit Recht als unseren einzigartigen Vorzug schätzen. 10. Falsche Oppositionen. Das Nachlassen der geisteswissenschaftlichen Kräfte erlebt man mit besonderer Bitterkeit, wenn einem einer jener zahlreichen chinesischen Studenten gegenüber steht, die derzeit nach Deutschland strömen. Sie kommen mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem Institut, an dem fünfzig oder sechzig Philosophen allein mit der Aufarbeitung der westlichen Philosophien beschäftigt sind. Nun sind sie hier, um Kant oder Fichte, Schelling oder Hegel genauer kennen zu lernen, und müssen sich sagen lassen, daß selbst an der Humboldt-Universität, wo das Gros dieser Denker gelehrt oder studiert hat, nur ein einziger Professor zur Beschäftigung mit diesen Größen berufen ist. Wohlgemerkt: Einer für alle. Der damit nur illustrierte Schwund kommt einer Demontage gleich. Statt mit dem Pfund zu wuchern, das uns durch keine Managementfehler im In- oder Ausland mehr abgenommen werden kann, fallen wir einer Parteilichkeit zum Opfer, die längst überwunden sein sollte: Wir glauben noch immer, die Naturwissenschaften hätten eine privilegierte Beziehung zur Realität und gestehen ihnen zu, allein über die Produktivität einer Ökonomie und die Loyalität in einer Demokratie zu entscheiden. Das ist ein Irrtum, an dem die Geisteswissenschaften dann ihren Anteil haben, wenn sie meinen, sie könnten die Naturwissenschaften auf das „Erklären" einschränken, um sich selbst das „Verstehen" vorzubehalten. Verstehen und Erklären werden auf beiden Seiten benötigt. Denn das eine ist ohne das andere gar nicht möglich. Folglich kann sich die Wissenschaft nur in der Einheit ihrer Disziplinen entwickeln. Auch wenn verständlich ist, warum man sich im 19. Jahrhundert die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nach Analogie des Nationalstaatsprinzips erklärte, hat man heute festzustellen, daß sich die Wissenschaften nicht nach Art von Territorien aufteilen lassen, um wie Nationalstaaten gegeneinander anzutreten. Sie gehören in Problemstellung, Methode und Zielsetzung zusammen. Deshalb können und müssen sie auch dort gefördert werden, wo sie einem speziellen Erkenntnisinteresse folgen. Aber auch im ganzen zeigt sich die Einheit: Wenn wir vergessen, die Geisteswissenschaften ernst zu nehmen, werden wir bald nicht mehr wissen, was wir an den Naturwissenschaften haben.

Maria Burger

Albertus Magnus und die Editio Coloniensis

„Scripsit autem Albertus ..." Mit diesen Worten leitet Heinrich von Herford in seinem Anfang des 14. Jahrhunderts verfaßten Chronicon die ausführliche Auflistung der von Albert dem Großen verfaßten Werke ein.1 Dieses Werkverzeichnis hat seinen Ursprung vermutlich in einer sehr bald nach Alberts Tod (1280) anzusetzenden Legenda, aus der im 15. Jahrhundert noch Petrus von Preußen für seine Lebensbeschreibung Alberts schöpft. Offensichtlich ist das Bestreben, Albertus Magnus bereits unmittelbar nach seinem Tode, noch im 13. Jahrhundert, als den Autor eines Schriftcorpus zu präsentieren. Wenn sein Biograph Petrus von Preußen zudem hinter jedem Titel vermerkt, ob er das entsprechende Werk auch mit eigenen Augen gesehen hat, so ist hier neben Vollständigkeit auch Korrektheit der Angaben intendiert.2 Das Problem von Falschzuschreibungen ist bereits erkannt. Diese mittelalterlichen Werkverzeichnisse sind grundlegend wichtig noch für die Vorarbeiten einer kritischen Edition der Werke Alberts im 20. Jahrhundert.3

Albertus Magnus: Leben und Werk Um 1200 wurde Albert in Lauingen an der Donau geboren. Im Jahre 1223 oder 1229 trat er in Padua in den Dominikanerorden ein und wurde unmittelbar in seine Heimat, nach Deutschland geschickt - und zwar nach Köln, damals die größte Stadt in August Potthast (ed.): Liber de rebus memorabilioribus sive chronicon. Göttingen 1859, S. 202. Vgl. auch Heribert Christian Scheeben: Les ecrits d'Albert le Grand d'apres les catalogues. In: Revue thomiste 36, 1931, S. 260-292, S. 275. Bernhard Geyer: Der alte Katalog der Werke des hl. Albertus Magnus. In: Miscellanea Giovanni Mercati vol. 2. Rom 1946 (Studi e testi. 122), S. 3 9 8 ^ 1 3 , S. 400. Heinrich Denifle: Quellen zur Gelehrtengeschichte des Predigerordens im 13. und 14. Jahrhundert. In: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2, 1886, S.165-248, n.85, S. 236. - Petrus von Preussen schöpfte darüber hinaus noch aus einer später zu datierenden Legenda Colonienis. Die Differenzen einzelner tradierter Tabulae können hier ausgeklammert bleiben, werden in den genannten Titeln aber ausführlich beschrieben. 2

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Petrus de Prussia: Vita B. Alberti Doctoris Magni. Köln 1487 (Altera vice cum libello De adhaerendo Deo: Antwerpen 1621), c.43, S. 298f.: „Et licet non sit impossibile ipsum fecisse hos omnes, solent tarnen quandoque attribui libri doctoribus qui ipsorum non sunt; ideo volui notare signanter quos vidi, vel quos habemus in nostro Conventu Coloniensi, ne alicui dubium super his oriatur." Vgl. Scheeben 1931 (Anm. 1), S. 288. Vgl. Geyer 1946 (Anm. 1), S. 398: „Eine möglichst vollständige Zusammenstellung der echten Schriften unter Aussonderung der zweifelhaften und unechten ist für eine neue Gesamtausgabe der Werke des Hl. Albertus Magnus eine unerlässliche Vorbedingung. [...] Bei diesen litterargeschichtlichen Forschungen hat der alte Katalog der Werke Alberts eine wichtige Rolle gespielt, indem er auf bis dahin unbekannte Werke die Aufmerksamkeit lenkte und in den Echtheitsfragen als altes Zeugnis Beachtung erheischte."

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Maria

Burger

Deutschland. Nach seinem Noviziat wirkte Albert bald als Lektor in den Ordensstudien in Hildesheim, Freiberg, Regensburg und Straßburg. Anfang der vierziger Jahre kam er an die Universität Paris, promovierte 1245 zum Doktor der Theologie und übernahm einen der Lehrstühle. 1248 wurde er der erste Leiter des neu errichteten Generalstudiums der Dominikaner in Köln. Im Jahre 1254 mußte Albert seine langjährige Lehrtätigkeit unterbrechen, da er zum Provinzial der Teutonia gewählt worden war, ein Amt, das er drei Jahre innehatte. Anfang 1260 wurde er von Papst Alexander IV. zum Bischof von Regensburg bestellt, wo er in kaum zwei Jahren finanziell wie personell schwierige Verhältnisse regelte. Es folgte eine kurze Zeit als Kreuzzugsprediger, ein Aufenthalt in Würzburg und Straßburg, bevor er 1270 schließlich nach Köln zurückkehrte. Am 15. November 1280 starb Albert in Köln. Aus der Zeit seiner Pariser Lehrtätigkeit sind uns die ersten großen Werke Alberts überliefert, die zum einen aus dem Unterrichtsbetrieb entstanden, zum anderen aber auch seine weitreichenden Interessen dokumentieren. Neben dem Sentenzenkommentar, dem theologischen Pflichtwerk, ist hier die umfassende Summa de creaturis zu nennen, deren zweiter Teil, der Traktat De homine, die erste umfassende Anthropologie darstellt. Am Generalstudium in Köln kann Albert zwei große Kommentarzyklen beginnen. Es sind dies zum einen seine Kommentare zum Gesamtwerk des PseudoDionysius Areopagita, dem neuplatonisch gebildeten Theologen des 5. Jahrhunderts. Zum anderen startet er das ungeheure Unternehmen, das gesamte aristotelische Schrifttum zu kommentieren und es darüber hinaus um Schriften zu ergänzen, die nach Alberts Auffassung in diesem Wissenschaftssystem fehlen - sei es, daß sie verloren sind, sei es, daß sie von Aristoteles nicht geschrieben wurden. Kann er die Dionysius-Kommentare in Köln abschließen, so beschäftigen ihn die AristotelesKommentare über 20 Jahre. Darüber hinaus schrieb Albert mehrere große Bibelkommentare, unter anderem zu den vier Evangelien. Und an seinem Lebensende wagte er sich noch an das Unternehmen einer theologischen Summe, die aber unvollendet blieb. 71 Werke soll die Gesamtausgabe einmal umfassen, die auf 40 Bände verteilt werden. Abgesehen von dem enormen Umfang dieses Lebenswerkes bleibt zu vermerken, daß Albert darin in herausragender Weise das Wissen seiner Zeit verarbeitete und auch entlegenste Quellen heranzog. Editio Lugdunensis Sind in der handschriftlichen Textüberlieferung in einem Codex maximal einige Werke des Doctor universalis zusammengestellt und bieten auch die Frühdrucke jeweils Einzelwerke, so ist es das Verdienst der Dominikaner, im 17. Jahrhundert erstmals eine Gesamtausgabe der Werke Alberts des Großen konzipiert und weitgehend auch realisiert zu haben.4 Mit Auftrag des Generalkapitels der Dominikaner von 1644 be-

Zu den Hintergründen vgl. Gilles-Gerard Meersseman: Die neue Kölner (1951) und die erste Lyoner (1651) Gesamtausgabe der Werke Alberts des Großen. In: Divus Thomas. Jahrbuch fiir Philosophie und spekulative Theologie (3. Serie) 30, 1952, S. 102-114. S. 107-114. Die Informationen schöpft er aus

Albertus Magnus und die Editio

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stellte der Ordensmeister Thomas Turco die Editorengruppe unter Leitung von Petrus Jammy und überwachte den Druck. Die Gesamtausgabe wurde auf 25 Bände berechnet, von denen aber nur 21 erschienen. Der Grund hierfür waren Streitigkeiten mit der Lyoner Druckerei, die schon nach Erscheinen der ersten Bände im Jahre 1648 ausbrachen. 1651 wurde der Druck eingestellt, obwohl die Editorengruppe offensichtlich noch bis 1654 arbeitete. Das von ihnen gefertigte Manuskript der noch fehlenden Bände ist verschollen. - Bemerkenswert für dieses Projekt ist es, daß die Korrespondenz belegt, in welchem Umfang europäische Bibliotheken nach Handschriften der Werke Alberts durchsucht wurden. Leider ist diese Korrespondenz unvollständig erhalten; so fehlt der im Verlauf der Jahre aktualisierte Katalog der Werke Alberts.5 Er wurde aber vermutlich von Jacobus Quetif und Jacobus Echard 1719 bei der Zusammenstellung der Werke Alberts für die Scriptores Ordinis Praedicatorum noch verwendet.6 Wenngleich die Editio Lugdunensis unabgeschlossen blieb und die handschriftlichen Vorlagen leider zum Teil schlecht waren, so wurde hier doch in wenigen Jahren eine beachtliche editorische Leistung vollbracht. Meersseman vermerkt positiv die gelungenen Konjekturen bei verderbter Textüberlieferung, die er für Alberts EthikKommentar im einzelnen überprüfte.7 Aus meiner eigenen Editionserfahrung kann ich dies für den Text von Alberts Kommentar Super Dionysium De ecclesiastica hierarchia bestätigen. Leider lag Jammy die fehlerhafteste der heute bekannten Handschriften vor, Roma, Bibliotheca Apostolica Vaticana, Barberini lat. 718.8 Viele Sonderlesarten aber auch Auslassungen der Druckausgabe erklären sich eindeutig aus dieser Vorlage. Soweit möglich, wurden die Fehler durch geschickte Konjekturen berichtigt.

Editio Parisiensis 1890-99 besorgten Auguste und Emile Borgnet einen Nachdruck der Editio Lugdunensis bei Vives in Paris. In der Einleitung bieten sie das dreigliedrige Werkverzeichnis von Quetif / Echard: Der Editionsplan der gedruckten Editio Lugdunensis wird vorgelegt (XXXIII-LIII); in einer zweiten Liste werden Werke genannt, die durch die Werkkataloge von Ludwig von Valladolid (1414) und Laurentius Pignon (1412) belegt sind (LIV-LIX); schließlich findet sich noch ein Auszug aus dem Werkverzeichnis, das dem Lyoner Editionsprojekt zugrunde lag (LIX-LXV). Ergänzt sind diese

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der Korrespondenz zwischen Ordensgeneral und Editoren (Ordensarchiv) und den Kapitelsbeschlüssen (Acta capitulorum generalium ordinis praedicatorum Vol. VII: Ab anno 1629 usque ad annum 1656. Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum Historica XII). Vgl. Meersseman 1952 (Anm. 4), S. 114. Jacobus Quetif, Jacobus Echard: Scriptores Ordinis Praedicatorum. Vol. 1, Paris 1719, S. 171-183. Vgl. Meersseman 1952 (Anm. 4), S. 107. Mit diesem Hinweis tritt Meersseman der sehr abschätzigen Wertung der Ausgabe von Jammy durch Bernhard Geyer in der Praefatio zur Editio Coloniensis entgegen. Diese Vorlage ließ sich aus der Probekollation zu Super Dionysium De ecclesiastica hierarchia ermitteln; die Handschrift wird aber auch in der erwähnten Korrespondenz um die Editio Lugdunensis genannt: „Curo exscribi hie Alberti Magni codices manuscriptos ex Barberina: [...] divi Dionysii Coelestem hierarchiam, [...]"; und in einem späteren Brief: „Nostrum cum aliis exscriptis in Politico et Dionysium exemplaribus post pascha transmittam." (Zitiert nach Meersseman 1952 (Anm. 4), S . I I lf.).

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Listen durch Angaben darüber, wo das jeweilige Werk Albert zugeschrieben wird und ob Handschriften oder Drucke des Werkes bekannt sind; auch diese Hinweise stammen schon von Quetif / Echard. Diese Werkverzeichnisse haben jedoch keine ergänzende Funktion für den Umfang der Ausgabe gefunden. Zu dieser Pariser Edition vermerkt Wilhelm Kübel: „Überdies haben die Herausgeber die Zuverlässigkeit des Textes noch dadurch vermindert, daß sie die Bibelstellen nach der Sixto-Clementina sowie Zitate aus den Vätern veränderten und schwierige Stellen durch willkürliche Konjekturen zu bessern versuchten."9 Neben der Editio Parisienis gab es wiederum nur Einzelausgaben. Zu nennen sind De vegetabilibus, ediert 1867 von Karl Jessen und Ernst Meyer10, De animalibus, in zwei Bänden 1916 und 1920 ediert von Hermann Stadler11, und schließlich als Erstdruck der Kommentar zum Buch lob, ediert 1904 von Melchior Weiß.12 Diese Ausgaben sind erstmals kritisch auf der Basis mehrerer verfügbarer Handschriften erstellt. De animalibus kommt dabei eine besondere Stellung zu, ist dieses Werk doch nach dem Kölner Autograph ediert. Trotz mancher Mängel, die diesen Ausgaben sicher noch anhaften13, war nun der Weg gewiesen zu einer anderen, wissenschaftlich verantworteten Textgestalt. Vorgeschichte des Albertus-Magnus-Instituts 14 Im Jahre 1931 erfolgte die Heiligsprechung Alberts des Großen. Im Verfahrensverlauf waren immer wieder Stimmen laut geworden, die die Unzulänglichkeit der Werkausgaben für die Beurteilung seines Denkens beklagten und das Bedürfnis nach einer kritischen Ausgabe aufzeigten. Das Anliegen machte sich schließlich Heribert Christian Scheeben, einstmals Angehöriger des Dominikaner-Ordens, in besonderer Weise zu eigen. Dabei suchte er zunächst Kontakt zum Istituto Storico der Dominikaner in Rom, von wo aus die ,Albertcausa' bei der Heiligsprechungskongregation betrieben wurde. Die Tatsache, daß im Jahre des 650. Todestages Alberts die Generalversammlung der Görresgesellschaft in Köln tagen würde, erkannte Scheeben als eine herausragende Gelegenheit, das Anliegen einer Werkausgabe voranzutreiben. Er legte dem

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Wilhelm Kübel: Artikel „Borgnet". In: Lexikon fiir Theologie und Kirche (2. Aufl.) II, 1958. Sp. 608. Albertus Magnus: De vegetabilibus libri VII. Historiae naturalis pars XVIII. Edd. Karl Jessen, Ernst Meyer, Berlin 1867 (Unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1982). Albertus Magnus: De animalibus Libri XXVI. Ed. Hermann Stadler (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters. Texte und Untersuchungen. 15.16), Münster 1916, 1920. Albertus Magnus: Commentarii in lob. Additamentum ad Opera Omnia Beati Alberti. Primum ex quinque codicibus edidit Melchior Weiß, Freiburg 1904. Vgl. die kritischen Anmerkungen zur Edition des lobkommentars bei Michael Faulhaber: Rezension. Melchior Weiß: B. Alberti Magni O. Praed. Commentarii in lob. Additamentum ad opera omnia Β. Alberti. In: Biblische Zeitschrift 3, 1905, S. 191-192. Eine zusammenfassende Würdigung der Arbeit des Albertus-Magnus-Instituts wurde anläßlich seines 70jährigen Bestehens vorgelegt von Henryk Anzulewicz: Zur kritischen Ausgabe der Werke des Albertus Magnus. In: Anuario de Historia de la Iglesia 11, 2002, S. 417-422.

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Präsidenten der Gesellschaft einen sechsseitigen Entwurf für das Projekt vor und empfahl die wissenschaftliche Ehrung Alberts durch einen Vortrag.15 Vom Präsidenten der Görres-Gesellschaft, Prof. Heinrich Finke, wurde die AlbertAusgabe als ein Prestige-Projekt erkannt. Wenngleich wohl von Anfang an klar war, daß die finanziellen Mittel der Gesellschaft allein dessen Umsetzung nicht erlauben würden, war man willens, sich die Herausgabe zu sichern - mochte deren Realisierung auch in der Ferne liegen.16 Die von Scheeben bereits initiierte enge Kooperation mit den Dominikanern schien dagegen dem deutsch-nationalen Charakter eines solchen Projektes zu widersprechen. So wurde in die Vorbereitungen für die Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Köln die Albert-Ehrung wie auch der Anstoß zu einer Werkausgabe zwar aufgenommen. Dies geschah jedoch nicht in dem Geiste, in dem es von Scheeben angeregt worden war: Der von ihm vorgeschlagene, und eigenmächtig bereits eingeladene, Festredner Pater Gabriel Thery wurde entschieden abgelehnt.17 Durch sehr rasche Kommunikation innerhalb der Gesellschaft konnte statt dessen Artur Schneider zu einem Vortrag über Albert gewonnen werden. Dies erzeugte erhebliche Verstimmung in römischen Kreisen bis hin zu Kardinal Frühwirth, der als ehemaliger Generalmagister der Dominikaner mit der Heiligsprechung Alberts befaßt war. Dieser Situation begegnete man mit Verweis auf ein bereits festliegendes Programm.18 Auf der Generalversammlung der Görres-Gesellschaft in Köln im September 1930 wurde der Beschluß zu einer neuen kritischen Ausgabe der Werke des Albertus Magnus gefaßt. Das Thema wurde in der philosophischen Sektion diskutiert, nicht ohne auf den ungeheuren Umfang des Schrifttums wie auch auf die noch unerschlossene Handschriftenlage hinzuweisen. Eine Kommission, bestehend aus Martin Grabmann, Adolf Dyroff, Artur Schneider, Bernhard Geyer und Franz Pelster sollte die mögliche Umsetzung dieses Planes prüfen. Gegenüber den anwesenden Dominikanern Pater Gabriel Thery und Pater Angelus Walz wurde Kooperationsbereitschaft signalisiert. In derselben Sitzung wurde auch ein Appell an den Papst um Vollzug der Heiligsprechung Alberts verlesen.19 Ein Jahr später konnte die Gesellschaft berichten, daß die Kommission ihre Arbeit noch während der Generalversammlung in Köln aufgenommen hatte. Es sollte möglichst rasch ein Editionsplan aufgestellt werden, in dem die

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Historisches Archiv des Erzbistums Köln (AEK), Akten der Görresgesellschaft (GG) n.186: Briefe und Denkschrift von Scheeben, Mai 1930. AEK GG n.186: Brief von Finke an Prälat Kirsch (3. Juli 1930): „[...] Wir setzen an die Spitze aller Sektionsvorträge eine halbstündige Ehrung fiir Albertus Magnus, in dem Professor Schneider kurz zusammenfassend über das Gesamtwerk Alberts berichtet und dann unsere Vorschläge betreffend Edition seiner Werke - die ja in weiter Ferne liegen kann - berichtet." AEK GG n.186: Brief von Finke an Prälat Kirsch (3. Juli 1930): „[...] Kein Mensch wird wünschen, dass ein Franzose über unseren deutschen Albert bei uns redet, über den wir selbst Redner haben." AEK GG n.186: Brief von Finke an Prof. Schneider (3. Juli 1930) mit Bezugnahme auf einen Brief von Pater Angelus Walz an die Görresgesellschaft: „[...] Er [Walz] droht darin mit einer feierlichen formellen Bitte, den Pater Thery zu nehmen. Ich habe die Antwort an Dyroff gesandt und ihn gebeten, sie Ihnen auch zu überschicken. Sie ersehen daraus, dass ich durch die Bemerkung des unabänderlichen Programms ihm den Weg abgeschnitten habe." Jahresbericht der Görres-Gesellschaft 1929/1930, erstattet vom Generalsekretär Arthur Allgeier, Köln 1931, S. 60f.

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noch unveröffentlichten Werke Alberts Vorrang genießen würden. Pater Walz hatte sich bereit erklärt, für die ersten Arbeiten Geld verfügbar zu machen. Scheeben regte darüber hinaus die Gründung einer Albertus-Magnus-Gesellschaft an. Joseph Koch (Breslau) erhielt schließlich den Auftrag, unmittelbar mit den Bibliotheksrecherchen zu beginnen. In besonderer Weise wurde das Unternehmen vom Kölner Kardinal Joseph Schulte gefördert, der Räume für eine Zentrale der Edition in Köln zur Verfügung stellen wollte.20 So schien ein sehr großes Projekt erstaunlich schnell auf den Weg zu kommen. Jedoch wird in demselben Bericht auf erste Schwierigkeiten hingewiesen: ,3estanden so zu Beginn des neuen Jahres bereits alle Voraussetzungen, daß unser in Köln gegebenes Wort eingelöst werden konnte, so wurde ebensoviel Sorge darauf gerichtet, das Zusammenarbeiten mit Gelehrten aus dem Dominikanerorden in die Wege zu leiten. Angesichts des internationalen Charakters des Unternehmens war allen Beteiligten daran von Anfang an außerordentlich viel gelegen. Nach dieser Seite taten sich aber Schwierigkeiten auf, die wir nicht erwartet hatten."21 Was war geschehen? Berichtet wird uns, daß Bestrebungen im Jstituto Storico Santa Sabina' der Dominikaner in Rom dahin gingen, eigenständig die Werkausgabe zu erstellen. Vorarbeiten von Pater Meersseman lagen vor, Editionen waren bereits vergeben. Mit dem Kölner Institut sollte lediglich eine gewisse Kooperation bestehen. Der Jahresbericht der Görres-Gesellschaft gibt einen Briefwechsel zwischen Prof. Arthur Allgeier, dem Generalsekretär der Gesellschaft, und dem Dominikanerorden wieder. Daraus geht hervor, daß offenbar Aufgaben sowohl von der Görres-Gesellschaft wie auch vom Orden verteilt worden waren. Pater Thery verweist darauf, er habe zu edierende Werke Mitbrüdern anvertraut, die inzwischen von der Gesellschaft anderweitig vergeben wurden. Er habe die Herausgabe eines Bulletin vorgeschlagen, das nun von der Gesellschaft geplant werde. Für die Zukunft plädiert er, wie zuvor schon Scheeben, für die Gründung einer Albertus-Gesellschaft zur Koordination der Aufgaben. „Bei dieser Sachlage war eine Beschlußfassung in München unmöglich"22 ist das Fazit. Dennoch erfolgte in Köln mit der Ernennung von Heinrich Ostlender zum geschäftsführenden Sekretär am 4. August 193123 formell die Gründung des AlbertusMagnus-Instituts, das in Räumen des alten Kölner Priesterseminars, dem jetzigen Generalvikariat, unter Leitung von Prof. Bernhard Geyer die Arbeit an der Edition aufnahm. 24 Ohne ausdrücklichen Auftrag arbeitete auch Scheeben im Institut mit. Prof. Geyer wurde mit weiterem Kontakt zu den Dominikanern betraut. Im Tätigkeitsbericht der Görres-Gesellschaft 1931/32 wird die Werkausgabe noch einmal erwähnt

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Jahresbericht der Görres-Gesellschaft 1930/1931, erstattet vom Generalsekretär Arthur Allgeier, Köln 1932, S.14ff. Ebd. S.16. Die bereits zitierte Korrespondenz vermittelt den Eindruck, daß der internationale Charakter des Unternehmens eher dem Prestige der Görresgesellschaft diente. Ebd. S.22. Die Ernennungsurkunde ist das einzige offizielle Dokument über die Gründung des Instituts, vgl. AEK CR I 10.9,1. Vgl. hierzu den Bericht von Bernhard Geyer auf der 45. Generalversammlung im September 1931 in Passau, ebd. S.70.

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mit dem Hinweis, daß die zur Verfügung gestellten Mittel an das Albertus-MagnusInstitut übergeben wurden.25 Was war zwischenzeitlich geschehen? Bernhard Geyer vermerkt in seinen persönlichen Aufzeichnungen zur Geschichte des Albertus-Magnus-Instituts, daß bei einem ersten Treffen der von der Görres-Gesellschaft eingesetzten Kommission im Januar 1931 sich bereits abzeichnete, daß außer ihm niemand bereit wäre, aktiv an der Albert-Ausgabe mitzuwirken. „[...] alle hatten wie bei der Einladung zum Gastmahl im Evangelium eine andere Entschuldigung."26 Das Protokoll dieses Treffens belegt, daß es der Görres-Gesellschaft einerseits klar darum ging, sich das Projekt weder von den Dominikanern noch von Kölner Kreisen ,entwinden' zu lassen, daß andererseits weder die Finanzierungsfrage noch die konkrete Mitarbeit der Kommissionsmitglieder zufriedenstellend gelöst werden konnte.27 Für Geyer war von diesem Zeitpunkt an klar, daß die Albert-Ausgabe in erster Linie seine Angelegenheit sein würde. So kam es seinen Plänen entgegen, daß Kardinal Schulte mit der Umwandlung der Albertus-Magnus-Akademie28 in das AlbertusMagnus-Institut den institutionellen Rahmen für die Edition geschaffen hatte. Zum Leiter des Institutes bestellt, überzeugte Geyer den Kardinal davon, daß eine Zusammenarbeit mit der Görres-Gesellschaft unmöglich sei, da ein solches Editions-Projekt nicht von zwei Institutionen geleitet werden könne.29 Sowohl in Gesprächen mit dem 25

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Jahresbericht der Görres-Gesellschaft 1931/1932, erstattet vom Generalsekretär Arthur Allgeier, Köln 1933, S. 13. Bernhard Geyer: Die Anfänge der neuen Albertus-Magnus-Ausgabe (Mit einem Anhang und Anmerkungen versehen von Henryk Anzulewicz) [unveröffentlicht]. AEK GG n.186: Protokoll der vorbereitenden Kommissionssitzung zur Herausgabe der Werke des seligen Albertus Magnus am 5. Januar 1931 in Freiburg im Br. Die , Albertus-Magnus-Akademie' war 1922 auf Anregung von Kardinal Joseph Schulte durch die deutschen Bischöfe mit Förderung des Apostolischen Stuhles in Köln als Katholisches Institut für Philosophie gegründet worden. Ihr Leiter wurde Gottlieb Söhngen. Wie aus unveröffentlichten Notizen hervorgeht, erwies sich die Akademie von Anfang an als verfehlt. Es bestand kein Bedarf nach einem solchen Institut außerhalb der Universität. Die Gründung des ,Albertus-Magnus-Instituts' bot die Möglichkeit, dieses fehlgelaufene Projekt diskret umzuwidmen. Zur Akademie vgl. Wladislaus Switalski: Denkschrift über die Gründung und Einrichtung des zu Köln geplanten Katholischen Institutes fiir Philosophie, das zu Ehren des großen Kölner Lehrers Albertus Magnus den Namen .Albertus-Magnus-Akademie' erhalten soll. In: Veröffentlichungen des Katholischen Institutes fur Philosophie Albertus-MagnusAkademie zu Köln. Hrsg. von der Albertus-Magnus-Akademie zu Köln, 1; Heft 1, Münster 1923, S. 5 12. Bernhard Geyer: Autobiographie [unveröffentlicht]: „Die Weiterentwicklung des Instituts war zunächst mit großen Schwierigkeiten verknüpft. An der Edition waren neben dem Institut beteiligt die Görresgesellschaft, die das Werk als ihre Sache betrachtete u. deshalb auch einen gewissen Einfluß auf das Institut beanspruchte. Die Voraussetzung dabei war gewesen, daß nur sie die wissenschaftlichen Kräfte zur Verfügung stellen könnte. Bei einer Zusammenkunft der Mitglieder der Kommission im Hause von Prof. Finke stellte ich dann fest, daß kein Mitglied zur Mitarbeit bereit war. Bei einer Vorstandsitzung in München war ich im Auftrage des Kardinals zugegen u. konnte der Gesellschaft einen höheren Geldbeitrag des Kard. in Aussicht stellen. Es stellte sich aber immer klarer heraus, daß eine Zusammenarbeit von Institut u. Görresges nicht möglich war. So willigte dann der Kard. in meinen Vorschlag der völligen Lostrennung des Inst, von der Görresges. ein u. beauftragte mich, mit Prof. Finke darüber zu sprechen, ohne daß es zu einem Streitfall käme. Da Finke in Rom im Campo Santo sich aufhielt, fuhr ich sogleich dorthin. Es war nicht leicht, F. von der Notwendigkeit der Trennung zu überzeugen. Die Albertusausgabe sollte eine der großen Leistungen der Görresges. werden. Aber der große Historiker war leicht davon zu überzeugen, daß für ein so großes Unternehmen der G.-Ges. die Kräfte u. Mittel fehlten. Ich müsse aber mit dem Generalsekretär Professor (AT) Allgeier Freiburg sprechen u. seine Einwillli-

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Präsidenten Prof. Finke wie auch anschließend mit Prof. Allgeier, dem Generalsekretär, setzte Geyer durch, daß die Görres-Gesellschaft sich aus dem Projekt zurückzog. Kardinal Schulte unterstützte ihn letztlich darin, bemühte sich aber auch um Vermittlung mit der Görres-Gesellschaft, insbesondere mit Prof. Finke. Zuletzt wurde Geyer von der Gesellschaft noch mit der Aufgabe betraut, mit den Dominikanern eine Verständigung über die Zusammenarbeit herbeizuführen. Nun stellte sich diese Vermittlungs-Mission aber auch als eine Form der Abwicklung heraus. Zunächst zeigte sich Pater Gabriel Thery durchaus bereit, die Gesamtleitung des Projektes durch das Kölner Albertus-Magnus-Institut anzuerkennen. Er selber war schon einige Zeit mit der Edition des noch ungedruckten Kommentars Super Dionysium De divinis nominibus befaßt. Zugleich machte er den Vorschlag, den Druck der Ausgabe der Vatikanischen Druckerei zu übergeben. Heribert Christian Scheeben war es, der dieses Ansinnen durch einen heftigen Brief an Thery zurückwies. 30 Vor allem seine darin vorgebrachten Anschuldigungen gegen den Präfekten der Vatikanischen Bibliothek Giovanni Mercati, sich der Ausgabe bemächtigen zu wollen, mußten als Affront aufgenommen werden. 31 Wenn Geyer gegenüber Kardinal Schulte betont, daß dieser Brief ohne sein Wissen geschrieben sei32, so war er doch gleichwohl zufrieden mit dem Ergebnis, daß sich der Dominkanerorden aus der Edition zurückzog. 33 Als Editoren wurden später Dominikaner noch tätig. Der eigentliche Initiator der AlbertEdition, Heribert Christian Scheeben, wurde nach dieser Brief-Affäre durch Kardinal Schulte persönlich von der Mitarbeit ausgeschlossen. 34 Auch zu späteren Zeitpunkten gab es nochmals Erwägungen, das Albertus-Magnus-Institut in eine andere Trägerschaft zu überführen, die aber über eine kurze Kor-

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gung einholen, dann wolle er zustimmen. Auch hier stieß ich zunächst auf harten Widerstand. Aber schließlich mußte auch er einsehen, daß der G.-G nichts anderes übrig blieb als zuzustimmen." Bernhard Geyer: Die Anfänge [unveröffentlicht]: „Es hat mir einige Mühe gekostet, den beteiligten Persönlichkeiten klar zu machen, daß die Ausgabe verantwortlich von 2 Instanzen gemacht werden könne. [...] Nach der Rückkehr machte ich dem Kardinal klar, daß eine Zusammenarbeit mit der Görres-Gesellschaft unmöglich sei und dies der Gesellschaft möglichst bald mitgeteilt würde. [...] Damit war die Görres-Gesellschaft endgültig ausgeschaltet." Die Briefvorlage mit Datum 16. März 1932 ist im Albertus-Magnus-Institut erhalten. In einem an Geyer gerichteten Schreiben präzisiert er, daß er hinter Mercati die Societas Jesu mit Kardinal Ehrle vermutet, die die Albert-Ausgabe als Konkurrenz zur Leonina zu übernehmen wünschten. Es mag dahingestellt bleiben, ob Geyer von Scheebens Aktion nichts wußte. Dieser betont in seinem Brief an Thery, er spreche „im Namen vom Professor". In einem Brief an Geyer fuhrt er anschließend aus, er habe Thiry in dieser Angelegenheit „die Hölle gut heiß gemacht". Geyer wiederum vermerkt in seinen Aufzeichnungen, daß durch eine unerwartete Fügung das Problem der Beteiligung des Dominikanerordens beseitigt wurde. - Um dem Institut nicht zu schaden, schien es jedoch geboten, seine Unkenntnis gegenüber Kardinal Schulte zum Ausdruck zu bringen. Ein zweites Mal wurde Thery aus einem Projekt gedrängt, als er mit M. R. Klibansky 1934 eine Edition der lateinischen Werke Meister Eckharts plante. Die Nationalsozialisten in Deutschland verhinderten diese Edition, vgl. Etienne Gilson: In memoriam R. P. Gabriel Thery OP (1891-1959). In: Archives d'histoire doctrinale et litteraire du Moyen Age 26, 1959, S. 7-10, S. 9. Kardinal Schulte teilt dies persönlich in einem handgeschriebenen Brief vom 24. April 1932 Pater Thery mit (erhalten in Archives de la Province Dominicaine de France, Acte V-5 Thery). Für die Mitteilung dieses Briefes aus dem Pariser Archiv danke ich dem Archivar Pater Michel Albaric OP sowie Pater Walter Senner OP.

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respondenz nicht hinaus gelangten. 35 Was mochte Geyer bewogen haben, sich in dieser Weise von allen wie auch immer geplanten Unterstützungen unabhängig zu machen und ein solch großes Projekt in alleiniger Initiative bewältigen zu wollen?

Exkurs: Mediävistische Großprojekte Werfen wir kurz einen Blick auf andere mediävistische Großprojekte, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in Arbeit waren, um die Hintergründe zu verstehen. An erster Stelle ist hier die Neuausgabe der Werke des Thomas von Aquin zu nennen, vorbereitet von der Commissio Leonina. 36 Dieses Unternehmen muß in unmittelbarem Zusammenhang mit der Enzyklika Aeterni Patris Papst Leos XIII. aus dem Jahre 1879 gesehen werden, die die thomanische Lehre als Norm für die theologisch-philosophische Ausbildung festschrieb. Nach einer ersten Editions-Phase, in der die Aristoteles-Kommentare vorbereitet und zum Teil auch gedruckt wurden37, drängte Papst Leo XIII. darauf, vorrangig die beiden Summen des heiligen Thomas zu edieren: eine gewaltige Aufgabe. Für die Edition der Summa theologiae wurde gemäß päpstlicher Anweisung die sogenannte ,Editio Piana' aus dem 16. Jahrhundert zugrunde gelegt. Zusätzlich wurden sieben Handschriften der Bibliotheca Vaticana kollationiert. Clemens Baeumker vermerkte hierzu: „Für völlig unzureichend wird man freilich diese Beschränkung auf sieben Handschriften einer einzigen Bibliothek ansehen müssen, [...] Und wie kann man einen Scholastiker herausgeben, ohne sich in Paris, dem Orte der lebendigsten Entwickelung der scholastischen Wissenschaft, von der die dortigen Bibliotheken noch heute die reichsten Dokumente - auch für Thomas von Aquin aufbewahren, allseitig umgesehen zu haben."38 Die Editoren begründen dies in den

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Zu nennen sind hier das Ersuchen des Provinzials der Dominikaner, Laurentius Siemer, die AlbertAusgabe durch Dominikaner ausführen zu lassen, wobei er für Geyer eine Mitgliedschaft im Dritten Orden vorsah (Briefwechsel um den Jahreswechsel 1943/44). In seinen eigenen Aufzeichnungen stellt Siemer dies in einer Weise dar, die Groothuis zu der Annahme verleitet, die Albert-Ausgabe sei in Walberberg angesiedelt gewesen; vgl. Rainer Maria Groothuis: Im Dienste einer überstaatlichen Macht. Die deutschen Dominikaner unter der NS-Diktatur. Münster 2002, S. 207, 370. - Außerdem gab es eine Initiative von Prof. Josef Koch, das Albertus-Magnus-Institut in das neu zu gründende Thomas-Institut der Universität Köln zu integrieren (Sommer 1949). - Schließlich bot das Pontifical Institute in Toronto nach den Kriegszerstörungen in Deutschland die Drucklegung und damit verbunden die Übernahme des gesamten Projektes nach Toronto an (Brief vom 3. April 1948 an Kardinal Frings). Alle diese Anfragen wies Geyer vehement zurück.

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Zur Kritik an den frühen Bänden der Editio Leonina vgl. Ludwig Hödl: Die Geschichte der ,Editio Leonina' der Werke des Thomas von Aquin und die Geschichte der mediävistischen Textkritik. In: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte (Kolloquium der DFG, Bonn 1973). Boppard 1978, S. 7 6 - 7 8 . Es kann hier nur am Rande darauf verwiesen werden, daß der erste Teil des ersten Bandes der Editio Leonina (Sancti Thomae Aquinatis Opera Omnia iussu Leonis XIII P.M. edita. Bd. 1: Commentaria in Aristotelis libros Peri hermeneias et posteriorum analyticorum cum synopsibus et annotationibus. Hrsg. von Zigliara, Thomas Mariae, Rom 1882) inzwischen eine vollständige Neubearbeitung gefunden hat: Sancti Thomae de Aquino Opera Omnia iussu Leonis XIII P. M. edita. Bd. 1,1: Expositio libri peryermenias. Editio altera retractata, Rom/Paris 1989. Clemens Baeumker: Jahresbericht über die abendländische Philosophie. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 5, 1892, S. 113-138, S. 557-577, S. 120-127; nachgedruckt in: Studien und Charakteristiken zur Geschichte der Philosophie insbesondere des Mittelalters. Gesammelte Vorträge und Aufsätze von Clemens Baeumker. Hrsg. von Martin Grabman (Beiträge zur Geschichte der Philosophie im Mit-

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Prolegomena: „Weshalb wir, da uns nicht mehr an Zeit zu Gebote stand oder gegeben wurde, neben den Vaticanischen Codices andere, die als besser bekannt sind, zu konsultieren, in dieser Sache genug getan zu haben scheinen, wenn wir von der vollkommeneren Ausgabe, die einstmals besorgt werden möge, wenigstens eine Probe gegeben haben."39 Und so sollte der über vier Jahrhunderte vertraute Thomas-Text nicht ohne Not verändert, sondern nur korrigiert werden. Damit aber wird die soeben geleistete Arbeit als bereits überholt gewertet. - Gravierender noch wirkt es sich aus, daß die Editoren das kollationierte Material letztlich nicht zur Textkonstitution nutzten. Baeumker führt gleich für Quaestio I eine Fülle von Beispielen an, in denen gegen den handschriftlichen Befund der ,Editio Piana' gefolgt wurde - zum Schaden für den Text, wie er meint. Seine Kritik blieb nicht ohne Antwort. Clement Suermondt, der für die Edition der Summa contra gentiles ganz andere Maßstäbe setzte, rechtfertigte nachträglich die Methode und verwies darauf, daß der Zeitdruck bei der Erstellung der Edition aus päpstlicher Autorität erfolgte und somit den Editoren nicht zur Last gelegt werden könne, daß andererseits die schmale Handschriftenbasis einen stärkeren Eingriff gegenüber der vierhundertjährigen Texttradition der ,Editio Piana' nicht rechtfertige.40 Voll des Lobes zeigte Baeumker sich dagegen für die etwa zur gleichen Zeit erschienene Edition der Werke des Franziskaners Bonaventura, wurde hier doch auf breiter Handschriftenbasis gearbeitet. Innerhalb von 20 Jahren wurde diese Ausgabe von den Franziskanern in Quaracchi bei Florenz erstellt. Wir lesen bei Baeumker hierzu: „Die Textherstellung ist eine musterhafte. Sie ist grundsätzlich auf die in ihren Verwandtschaftsverhältnissen genau untersuchten und richtig bewerteten Hss gestutzt. Von den Lesarten werden nur die eigentlichen Varianten mitgeteilt, nicht auch, wie sich aus der Vergleichung des am Schlüsse der Prolegomena gebotenen Faksimile

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telalter 25,1-2), Münster 1927, S. 101-139, S. 117. Aufgrund des Nachdrucks der Rezension in den Beiträgen nimmt dazu Stellung Clement Suermondt: Le texte Leonin de la Ia pars de S. Thomas. Sa revision future et la critique de Baeumker. In: Melanges Mandonnet. Etudes d'histoire litteraire et doctrinale du moyen äge, t.l (Bibliotheque Thomiste 13), Paris 1930, S. 19-50. Er verweist darauf, daß die meisten sich in ihrer Kritik an der Ausgabe allein auf Baeumker stützen, ohne sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Praefatio in Summam theologicam S. Thomae aquinatis, Editio Leonina, t.IV, p.XIII: „Qua de causa, cum nec plus temporis nobis suppeteret, nec datum esset, praeter Vaticanos codices, alios meliores notae consulere, satis in hac re fecisse videbimur, si perfectioris, quae aliquando curari possit, specimen saltern dederimus." Hintergrund für den Zeitdruck ist das Drängen von Papst Leo XIII., der die beiden Summen so rasch wie möglich ediert sehen wollte. Gegen Baeumker gerichtet formuliert Suermondt: „La plus faible autorite de ce genre, une simple coincidence de ces quelque manuscrits contre la Piana suffit ä lui faire changer un texte appuye par quatre siecles de tradition; changer autant que possible le texte traditionnel parait etre son but, plutöt que de remonter pour chaque mot jusqu'ä la vraie Ιεςοη authentique." (Suermondt 1930 (Anm. 38), S.29). Er druckt schließlich in seinem Beitrag noch eine ausführliche Rückweisung der Rezension Baeumkers durch Constant Suermondt ab, die dieser zu seinen Lebzeiten nicht mehr in den Druck gebracht hatte (ebd. S. 31^13). Wenngleich manches an Baeumkers Kritik hier sicher zu recht zurückgewiesen wird, so scheint doch eine starke Tendenz zu bestehen, den Text der ,Editio Piana' zu rechtfertigen. Die Verwendung zweier Vatikanischer Handschriften etwa wird dadurch begründet, daß sie den gedruckten Text stützen; zu einer Stelle, an der Baeumker bemängelt, daß gegen die Handschriften entschieden wurde, heißt es: „Der hl. Thomas könnte es mit voller Genauigkeit geschrieben haben, und Β hätte keinen .Fehler' verspürt, wenn nicht eine Variante verzeichnet gewesen wäre." (Ebd. S.36).

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[...] sofort ergibt, auch die in scholastischen Manuskripten meist zahllosen kleineren Umstellungen, Auslassungen, Schreibfehler, falschen Auflösungen von Kompendien u. dgl."41 Pater Fidelis a Fanna, der Leiter der Kommission, hatte zur Vorbereitung der Ausgabe 400 Bibliotheken besucht und 40.000 Handschriften beschrieben.42 Für das erste Buch des Sentenzenkommentars wurden von 53 beschriebenen Handschriften 35 kollationiert. Dennoch äußerte sich Franz Ehrle kritischer als Baeumker zu diesem Projekt: „Es wurde nämlich im großen Ganzen der Text der sixtinischen Ausgabe adoptiert, jedoch so, daß derselbe Stelle für Stelle mit den gesammelten Lesarten verglichen wurde. Wo immer eine dieser Lesarten dem sixtinischen Texte vorzuziehen war, wurde sie an der Stelle der ausgemerzten sixtinischen Lesart eingesetzt, so daß der sixtinische Text gewissermaßen nur den Hintergrund bildet für den wie ein Mosaikbild aus den besten Varianten zusammengesetzten neuen Text."43 Dieses Verfahren sei von dem Ziel bestimmt, einen leicht lesbaren Text für die Ordensschule vorzulegen. Schärfer kritisierte Ehrle die Interpretation des Textes, wie sie sich in den Scholien der Ausgabe findet.44 Ohne diese beiden Editionen und vor allem die weitere Entwicklung der Leonina eigens würdigen zu können, zeichnet sich doch deutlich genug die Tendenz ab, überkommene Lesegewohnheiten nur sparsam zu korrigieren und die scholastische Tradition ganz auf den Kirchenlehrer Thomas von Aquin hinführen zu lassen. Ähnliche Erwartungen hegte mancher sicher auch für die in Aussicht genommene Albert-Ausgabe.

Die Anfänge der Editio Coloniensis Bernhard Geyer, seit 1927 Professor für Dogmatik, Dogmengeschichte und Patrologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, fühlte sich einer anderen Editionsmethode verpflichtet. Als Schüler von Clemens Baeumker hatte er sich schon sehr früh mit der Geschichte der Scholastik beschäftigt. In diesem Zusammenhang stieß er auf die Sententiae divinitatis des Petrus Abaelardus, deren Edition er für

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Baeumker 1892/1927 (Anm. 38), S. 123. Diese von Ehrle kritisierte zu positive Sichtweise der Bonaventura-Edition mag in der freundschaftlichen Verbundenheit mit dem Editor Ignatius Jeiler begründet liegen; vgl. Martin Grabmann: Clemens Baeumker und die Erforschung der Geschichte der mittelalterlichen Philosophie. In: Studien und Charakteristiken zur Geschichte der Philosophie insbesondere des Mittelalters. Gesammelte Vorträge und Aufsätze von Clemens Baeumker. Hrsg. von Martin Grabmann (Beiträge zur Geschichte der Philosophie im Mittelalter 25,1-2), Münster 1927, S. 1-38. S.5. Vgl. Wolfgang Kluxen: Die geschichtliche Erforschung der mittelalterlichen Philosophie und die Neuscholastik. In: Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts, Band 2. Rückgriff auf scholastisches Erbe. Hrsg. von Emerich Coreth u. a., Graz/Wien/Köln 1988, S. 362-389, S. 366. Franz Ehrle: Die neue Schule des hl. Bonaventura. In: Stimmen aus Maria Laach 25, 1883, S. 15-28. S. 28.

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Vgl. Franz Ehrle: Rezension S. Bonaventurae Opera omnia. In: Zeitschrift für Katholische Theologie 8, 1884, S. 413^126.

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seine Dissertation vorbereitete.45 Nach einer ersten Lehrtätigkeit in Breslau46 erhielt Geyer, wohl mit Unterstützung durch Kardinal Schulte, den Ruf nach Bonn. Zuvor hatte er sich erfolgreich für das Projekt einer Edition der Werke Anselms von Canterbury eingesetzt. Ganz im Geiste Baeumkers bereitete er in dieser Zeit die Edition einiger Quaestiones aus der Summa theologiae des Thomas von Aquin vor.47 Clemens Baeumker, den wir als scharfen Kritiker der ersten Bände der Editio Leonina kennenlernten, war wohl einer der ersten, die sich um eine rein historisch-philologische Erforschung bemühten, und er widmete sich zeit seines Lebens der Edition auch weniger bekannter Texte des 12. und 13. Jahrhunderts. Seine Sichtweise war nicht die theologische oder neuscholastische, von den Prinzipien aus Aeterni patris bestimmte, sondern von der antiken Philosophie kommend suchte er die Voraussetzungen neuzeitlichen Denkens zu erhellen.48 In dieser Perspektive wollte Geyer nun die neue Albert-Ausgabe sehen. Es mochte ihn bewogen haben, alle möglichen Einflußnahmen von Anfang an klar auszuschalten. Die erste und vordringlichste Aufgabe des neu gegründeten Instituts bestand also darin, das handschriftliche Material der Werke Alberts so vollständig wie möglich zu erfassen. Zu diesem Zwecke konnten zum einen bereits vorliegende Handschriftenkataloge gesichtet werden. Geyer verweist auf die vorzüglichen Bestände der Bonner Universitätsbibliothek. Sodann erfolgten umfangreiche Bibliotheksreisen im In- und Ausland. Um auch die anonyme Überlieferung der Werke möglichst vollständig zu erfassen, war für die Bibliotheksrecherchen zuvor ein Initienverzeichnis angelegt worden. Ein sorgfältiges Itinerar läßt uns heute noch die einzelnen Stationen dieser Forschungsjahre nachvollziehen. Bis zum Jahre 1940 waren 742 Bibliotheken von Geyer, Meersseman und Ostlender ausgewertet worden. Für die über 70 zu edierenden Werke Alberts konnten in den ersten 20 Jahren, also bis zum Erscheinen des ersten Bandes der ,Editio Coloniensis', rund 1900 handschriftliche Zeugen festgestellt und beschrieben werden, also fast doppelt so viele wie von Melchior Weiß 190549 verzeichnet.50 Die hier über Jahre hin zusammengetragenen Informationen wurden erst in den achtziger Jahren von Winfried Fauser im Repertorium der handschriftlichen Überlieferung publiziert51 und in mehreren Nachlieferungen ergänzt52.

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Geyer berichtet in seiner unveröffentlichten Autobiographie, daß die Annahme der Dissertation an der Universität Bonn schließlich abgelehnt wurde, so daß er die Arbeit bei Franz Diekamp in Münster einreichte. Nach Breslau folgte ihm als Schüler der spätere Sekretär des Albertus-Magnus-Instituts Heinrich Ostlender. Thomas von Aquin, Quaestiones de trinitate divina. Summa de theologia 1.1 q. 27-32. Hrsg. von Bernhard Geyer, Bonn 1934 (Florilegium Patristicum 37). Vgl. Kluxen 1988 (Anm. 42), S. 369. Melchior Weiß: Primordia novae bibliographiae B. Alberti Magni. Freising 1898 (2., durchgesehene und verbesserte Auflage Paris 1905). Vgl. hierzu die Ausführungen von Heinrich Ostlender: Die neue Kölner Gesamtausgabe der Werke Alberts des Großen. In: Seelsorgehilfe 5, 1953, S. 93-96. Winfried Fauser: Codices Manuscripti Operum Alberti Magni. Pars I: Opera Genuina. Münster 1982 (Alberti Magni Opera Omnia. Tomus Subsidiarius I). Winfried Fauser: Albertus-Magnus-Handschriften. 1. Fortsetzung. In: Bulletin de philosophie medievale 24, 1982, S. 115-129. 2. Fortsetzung. In: Bulletin de philosophie medievale 25, 1983, S. 100-120.

Albertus Magnus und die Editio

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Aus dem umfangreichen Material mußte in Abgleichung mit alten Werkverzeichnissen eine Scheidung vorgenommen werden zwischen authentischen und nicht-authentischen Albert-Werken. Aus der Liste der als echt anzusehenden Werke wurde schließlich der Conspectus für die ,Editio Coloniensis' erarbeitet. In ihm sind die zu edierenden Werke in eine systematische Ordnung gebracht und auf 40 Bände verteilt. Für jedes einzelne Werk ist bei der Edition Echtheit, Überlieferung und Chronologie noch einmal gesondert zu klären. Verantwortlich für die Einzel-Editionen zeichnen die jeweiligen Editoren. Dem Institut kam es zu, die Richtlinien zu erstellen, die Materialien bereitzustellen und die Koordination der Projekte vorzunehmen. Im Jahre 1940 werden insgesamt 40 Mitarbeiter der Edition genannt. Die wenigsten von ihnen haben das übernommene Projekt tatsächlich zu Ende führen können. Die Unbilden des zweiten Weltkrieges brachten dem Unternehmen große Rückschläge. Die Räume im Generalvikariat in Köln wurden zerstört, ein Teil der Bibliothek vernichtet. In Kloster Steinfeld in der Eifel wurden die verbliebenen Materialien ausgelagert. Meersseman verweist darauf, daß das Manuskript der von ihm vorbereiteten Edition des Ethikkommentars 1941 zerstört wurde.53 Von Seiten des Aschendorff-Verlages galt es 1943 zu beklagen, daß kriegsbedingte Bestimmungen über die Papierbewirtschaftung eine Drucklegung nicht gestatteten; im Oktober 1944 verbrannten beim Bombenangriff auf das Münsteraner Verlagshaus die dort vom Albertus-Magnus-Institut bereits eingelagerten Papierbestände. Die erneute Papierbeschaffung wie auch die von fehlenden Drucktypen gestaltete sich nach dem Krieg höchst schwierig. Schließlich kehrten Editoren aus dem Krieg nicht mehr zurück oder erhielten unter veränderten Bedingungen ganz neue Aufgaben. So sehr diese Rückschläge einerseits zu bedauern sind, so war doch auf diese Weise Zeit gewonnen, weiter nach Textzeugen zu suchen. Die Editionsrichtlinien wurden, so berichtet Geyer, mehrfach verbessert. Zudem konnte die ,Editio Coloniensis' auf andere Projekte und deren Erfolg wie auch deren Probleme schauen - nicht zum eigenen Schaden. Nach Aufenthalt in verschiedenen Übergangsquartieren zog das Albertus-MagnusInstitut 1954 schließlich nach Bonn in Räume des Collegium Albertinum, wo es auch heute noch beherbergt ist. ratio edendi Schauen wir uns nun die ,Editio Coloniensis' an. Welche Ergebnisse hat sie vorzuweisen? 1951 - und damit genau 300 Jahre nach der ersten Gesamtausgabe - erscheint der erste Band der ,Editio Coloniensis'. Es ist nach dem Conspectus Band 28, das bislang ungedruckte Werk De bono. War es doch Ziel des Editionsplanes, zu-

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3. Fortsetzung. In: Bulletin de philosophie medievale 26, 1984, S. 127-151. 4. Fortsetzung. In: Bulletin de philosophie medievale 27, 1985, S. 110-151. Meersseman 1952 (Anm. 4), S. 102 Anm. 2: „Das Manuscript des Ethikkommentars, das wir selbst für den Druck fertiggestellt hatten, und das zum Teil bereits gesetzt war, wurde 1941 zerstört." Einige Korrekturbögen des bereits gesetzten Teils sind bis heute im Albertus-Magnus-Institut erhalten.

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nächst jene Werke vorzulegen, die in den älteren Gesamtausgaben nicht enthalten sind, sowie jene, für die das Autograph Alberts erhalten ist. Editoren sind neben dem Institutsleiter Bernhard Geyer: Heinrich Kühle, Karl Feckes und Wilhelm Kübel. Dieser Band ist insofern von besonderer Bedeutung, als Praefatio und Prolegomena das Programm für das gesamte Editionsprojekt festschreiben. Die Richtlinien werden in diesem Band erstmals und exemplarisch angewendet. Zahlreiche Rezensionen würdigen diesen Auftakt der neuen Edition. Weitgehende Anerkennung findet die ratio edendi. Der Text von De bono wird mit fünf von elf bekannten Textzeugen konstituiert, ohne daß einfachhin der vermeintlich besten Handschrift gefolgt wird. Eine hohe Zahl an Konjekturen wird gerechtfertigt durch den unabgeschlossenen Charakter der Schrift, so daß Fehler schon im Autograph Alberts vermutet werden müssen. Als Kriterium für die Qualität einer Handschrift gibt Geyer die Zuverlässigkeit in wörtlichen Zitaten an. Wäre eine Abweichung vom korrekten Wortlaut genuin, so hätten spätere Abschreiber den Text nach Vorlagen korrigieren müssen. Dies wiederum sei bei der mangelnden Verfügbarkeit von Büchern im Mittelalter unwahrscheinlich.54 Ausdrücklich setzt sich Artur Michael Landgraf mit dieser Regel auseinander, verweist er doch darauf, daß sich eine gewisse ,Quellenkritik' schon im 13. Jahrhundert nachweisen lasse, daß andererseits Abweichungen in der Zitation durchaus auch auf Albert zurückgehen könnten.55 Für die Apparatgestaltung gilt, daß nur aussagekräftige Lesarten vermerkt werden. Einen Überblick Uber die Qualität der Handschriften ermöglicht die Auflistung aller Varianten für den ersten Artikel des Traktates.56 Dies wird von den Rezensenten weitgehend positiv gewürdigt.57 Ludger Meier konfrontiert die Vorgehensweise dagegen mit anderen möglichen Editionsformen:

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Prolegomena in librum Alberti Magni De bono, Ed. Colon. 28, S. XVII: „Valor codicum eorumque combinationum ad textum constituendum ex hac potissimum regula a nobis demonstratus est: Si variae lectiones inveniuntur in aliquo textu verbotenus ab Alberto citato, ea lectio quae cum textu originali consentit, vera et genuina haben debet. Si enim discrepans lectio esset genuina, oporteret, ut lectio originalis postea a scriba quodam in textum introducta esset ad textum corrigendum. Quod quamvis aliquando in quibusdam locis fieri possit, tarnen non ad omnes locos referri potest, quia difficillimum fiiit ea aetate libros adhibitos conferre neque ullius viri docti tum interfuit hunc laborem criticum suscipere. Quare generaliter tenendum est lectionem cum libro citato consentientem genuinam esse. Quae regula normam quandam obiectivam praebet ad diiudicandum valorem codicum et familiarum codicum." Bereits in einer Rezension der Summa Halensis hatte Geyer dieses Prinzip formuliert; Berhard Geyer: Der IV. Band der Summa des Alexander Halensis. In: Franziskanische Studien 31, 1949, S. 1 - 1 4 , S. 2.

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Rezensionen zu S. Alberti Magni Opera omnia t.XXVIII: De bono, Münster 1951. Artur Michael Landgraf. In: Münchener Theologische Zeitschrift 3, 1952, S. 425f. Ebenso: Clemens Vansteenkiste: In: Laval theologique et philosophique 7, 1951, S. 202-212. Prolegomena S. XVIII: „In apparatu lectiones codicum tantum graviores posuimus, quippe quae ad reconstruendum textum vel valorem codicum diiudicandum alicuius momenti esse possint. In primo tarnen articulo omnes omnium codicum lectiones praebuimus, ut ex iis indoles codicum eorumque coniunctio dignosci possit." Vgl. Rezension zu S. Alberti Magni Opera omnia t.XXVIII: De bono, Münster 1951: Fernand van Steenberghen. In: Revue d'histoire ecclesiastique 48, 1953, S.294-296. Victorin Doucet: In: Archivum Franciscanum Historicum 44, 1951, S. 460-464. Alfons Hufnagel. In: Tübinger Theologische Quartalschrift 132, 1952, S. 105-107. Odo Lottin: In: Bulletin de Theologie ancienne et medievale 6, 1952, S.433. Franz Pelster: In: Scholastik 27, 1952, S. 243-245.

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„Was soll denn überhaupt ediert werden?", so fragt er. „Etwa die ,mens auctoris'? Die kennt Gott allein. Oder das Autograph Alberts? Das haben wir nicht. Oder eine dem Autograph möglichst nahestehende Fassung? [...] Oder eine im Laufe langer Jahrzehnte purgierte und geglättete Gebrauchsform des Werkes, sozusagen eine mittelalterliche ,editio emendata'?" Er folgert: „Letzteren Weg haben die Editores beschritten."58 Damit würde hier ähnlich wie bei den anderen Großprojekten dem ,textus receptus' Vorrang eingeräumt. Bemängelt wird von ihm ferner die Beschreibung der Handschriften. Daraus resultiert unter anderem eine ungenügende Würdigung von Korrekturstufen.59 „Falls die Herausgeber sich entschließen könnten, die Handschriftenbeschreibungen etwas ausführlicher zu gestalten, so würde dereinst nach Abschluß der Edition in ihren Bänden eine erschöpfende ,Codicographia Albertina' vorliegen, welche der zukünftigen Albertusforschung das umständliche Zurückgreifen auf Kataloge und Einzelpublikationen erübrigte."60 Eine gewisse Kritik erfährt auch der Quellenapparat. Zum einen sei es bedauerlich, daß nur explizite Zitate nachgewiesen wurden, zum anderen wird die Verwendung der Ausgaben gerügt.61 Geyer verweist allerdings in den Prolegomena ausdrücklich darauf, daß die lateinischen Übersetzungen griechischer Autoren, etwa Aristoteles und Dionysius Areopagita, erst im Rahmen der Edition von Alberts Kommentaren zu diesen Werken geklärt werden können, weshalb die Referenzen auf die einschlägigen griechischen Ausgaben gehen.62 Wird die Enthaltsamkeit der Darstellung in Prolegomena und Apparaten weitgehend gelobt, so findet sie bei Johannes Perrier entschiedene Ablehnung. Vor allem die Handschriftenbeschreibung und die Kriterien für die Auswahl der Handschriften seien unbefriedigend.63 Meersseman schreibt dagegen zusammenfassend: „Nirgendwo haben wir Pfuscherei vorgefunden, wie das bei gewissen, sich überstürzenden Editoren vorkommt, die der falschen Überzeugung sind, kein Mensch hätte die Geduld, sie zu kontrollieren."64

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Rezension zu S. Alberti Magni Opera omnia t.XXVIII: De bono, Münster 1951: Ludger Meier. In: Wissenschaft und Weisheit 15, 1952, S. 137-140. S.138. Seine Kritik gab Anstoß zu einer längeren Korrespondenz mit den Editoren. Der letzte Traktat von De bono „De iustitia speciali" wird nur von der Handschrift Oxford, Merlon College 283 überliefert. Diese Handschrift hat aber eine Korrekturhand, was darauf hinweist, daß es eine weitere Vorlage für diesen Traktat gegeben haben sollte. Ebd. Rezension zu S. Alberti Magni Opera omnia t.XXVIII: De bono, Münster 1951: Erhard Wolfram Platzeck. In: Antonianum 28, 1953, S. 346f. Doucet 1951 (Anm. 57). Prolegomena S .XIX: „Ad translationem Latinam, qua Albertus usus est, generaliter non remittimus, quia in Commentariis Alberti super opera Dionysii earn aliqualiter secundum codices manuscriptos correctam edemus, ..." S. XX: „Sed translatio, qua Albertus in pluribus operibus Aristotelis usus est, quae vetustior vocatur, ut distinguatur a translatione Guilelmi Moerbeke, nondum typis impressa est, [...] In commentariis Alberti super scripta Aristotelis translationem Latinam, qua Albertus usus est, addemus [...]" Rezension zu S. Alberti Magni Opera omnia t.XXVIII: De bono, Münster 1951: Johannes Perrier. In: Bulletinthomistet.8 (24-30 e annees), 1947-1953, S. 1139-1141. Meersseman 1952 (Anm. 4), S. 104.

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Bereits 1952 konnte der zweite Band der ,Editio Coloniensis' präsentiert werden Alberts Kommentar zu Jesaja, ediert von Ferdinand Siepmann, und die Fragmente zu Jeremia und Ezechiel, ediert von Heinrich Ostlender. Die Rezensionen gehen nicht mehr in Breite auf die Ausgabe als solche ein, würdigen aber auch diesen Band insgesamt sehr wohlwollend. Kritisch äußert sich Ludger Meier Uber nicht erforderliche Konjekturen einerseits und das Vermerken unwesentlicher Varianten andererseits. Kritisiert wird, nicht nur von ihm, ferner, daß die Korrekturhände der Handschrift Leipzig UB 500 nicht ausgewertet wurden.65 Von besonderer Bedeutung ist es, daß mit diesem Band eine gründliche Untersuchung des von Albert verwendeten Bibeltextes einherging, die durchweg, vor allem aber auch von Exegeten66, sehr begrüßt wurde. 1960 und 1964 erschienen als fünfter und sechster Band in der fortlaufenden Zählung der Metaphysikkommentar Alberts, von Geyer selbst fertiggestellt. Immerhin liegt für diesen Text mit Palatino Lat. 977 ein Zeuge vor, der angibt, vom Autograph Alberts abgeschrieben zu sein. Für den kommentierten Aristoteles-Text wurde die translatio media rekonstruiert. Louis Jacques Bataillon vermerkt hierzu, die gewollte Enthaltsamkeit in den Prolegomena lasse den Benutzer der Ausgabe leider hungrig. So bemängelt er vor allem, daß jene Handschrift, die vom Autograph genommen ist, stärker in ihrem Eigenwert hätte gewürdigt werden müssen.67 1971 erschien als neunter Band De caelo et mundo, ediert von Paul Hoßfeld nach dem Wiener Albert-Autograph. Es ist keine Neuigkeit, daß auch Autographen Fehler beinhalten, Schreibfehler, sprachliche und sachliche Irrtümer. Diese wurden von Hoßfeld auf der Grundlage der weiteren handschriftlichen Überlieferung korrigiert, wobei er unter 34 Codices zwei als dem Autograph besonders nahestehend ausmachen konnte. Von den Rezensenten wird dieses Verfahren weitgehend positiv vermerkt. Auch hier meldet sich Bataillon zu Wort.68 Undurchschaubar sei es ihm, welche der in den Prolegomena aufgelisteten Handschriften denn tatsächlich eingesehen wurden. Wenn auch nicht alle für die Texterstellung herangezogen werden könnten, so sei es doch nicht zu rechtfertigen, einige einfachhin nicht zur Kenntnis zu nehmen. Dies aber lasse die Handschriftenbeschreibung vermuten. Bataillon selber macht schließlich einen Vorschlag für eine andere Klassifizierung der Handschriften. Entscheidend für eine Edition nach dem Autograph sei es jedoch, daß jede Variante einer anderen Handschrift, so gut sie auch vermeintliche Fehler des Autographs korrigiert, 65

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Rezension zu S. Alberti Magni Opera omnia t.XIX: Super Isaiam, Münster 1952: Ludger Meier. In: Wissenschaft und Weisheit 17, 1954, S. 71. Auffällig viele Rezensionen sind in Bibeltheologischen Zeitschriften erschienen, wobei es anachronistisch anmutet, wenn der historisch-exegetische Wert von Alberts Jesaja-Auslegung bemängelt wird; vgl. J. Hofbauer: In: Zeitschrift für Katholische Theologie 76, 1954, S. 357. Louis Jacques Bataillon: In: Revue des Sciences philosophiques et theologiques 46, 1962, S 537: „Comme pour d'autres volumes de la serie, la sobriete voulu de l'introduction laisse quelque peu sur leur faim les lecteurs qui aimeraient comparer plus en detail la situation de la tradition manuscrite des ceuvres d'Albert avec celle d'autres ouvrages contemporains." Bis in die Formulierung greift Bataillon hier die von Vansteenkiste formulierte Kritik an De bono auf (Anm. 55) S. 203: „C'est ici croyons-nous que I'editeur a exagere la sobriete jusqu'ä l'avarice." Louis Jacques Bataillon: In: Revue des Sciences philosophiques et theologiques 56, 1972, S. 492-501. S. 496^198.

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nie mehr Wert habe als die Konjektur eines Editors. Das Plädoyer Bataillons geht hier eindeutig dahin, Albert seine stilistischen und grammatikalischen Eigenheiten zu belassen und sie nicht ohne Not zu korrigieren. Hier wird nun auch erstmals schärfer, als dies in früheren Rezensionen angeklungen war, die normalisierte Graphie hinterfragt, die den Eindruck des Albert-Autographs natürlich nicht adäquat wiederzugeben vermag. Im Literaturbericht von 1986 nimmt Bataillon den 1980 erschienenen Band V/2 der ,Editio Coloniensis' (De natura loci, De causis proprietatum elementorum und De generatione), ediert von Paul Hoßfeld, zum Anlaß, allgemein Kritik an der AlbertAusgabe zu formulieren. Geyer sei ein exzellenter Historiker gewesen, aber ein weniger guter Philologe; die Normen, die er erließ, schaden der Edition, und es sei höchste Zeit, sie zu ändern. 69 So bemängelt Bataillon vor allem, wie schon in früheren Rezensionen, die viel zu kurzen Einleitungen, aus denen die Gewichtung der Handschriften nicht hinreichend deutlich wird. Viele Namen und Ausgaben wären noch zu nennen, begleitet von zahlreichen Rezensionen. 70 Pauschal kann gesagt werden, daß die einzelnen Bände der Edition, von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten gestaltet, trotz der vereinheitlichenden Regelungen des Institutes auch sehr unterschiedlich bewertet wurden. Über die Jahre hin wurden viele Forscher mit Editionsprojekten betraut, doch vergleichsweise wenige führten die Arbeit bis zum Druck. So kam es immer wieder vor, daß angefangene Projekte von anderen Editoren übernommen werden mußten, was sich grundsätzlich als ein schwieriges Unterfangen darstellt. Am kontinuierlichsten blieb die Arbeit der festen Mitarbeiter des Institutes. Zu nennen sind vor allem Wilhelm Kübel, Paul Simon, Paul Hoßfeld, Heinrich Ostlender.

Weitere Entwicklung und Ausblick Nach dem Tod von Bernhard Geyer im April 1974 übernahm dessen langjähriger Mitarbeiter Wilhelm Kübel die Leitung des Instituts. Ganz im Geiste Geyers führte er die Arbeit über zwanzig Jahre hin weiter, bis zu seinem Tod im September 1994 arbeitete er selbst an der Edition. Im Juni 1995 wurde Ludger Honnefelder zum neuen Direktor des Albertus-Magnus-Instituts bestellt. Gemeinsam mit ihm nahm Mechthild Dreyer die Arbeit als stellvertretende Direktorin auf. Diese Position ist seit 2000 durch MarcAeilko Aris besetzt. Der Wechsel in der Leitung sollte mit einer tiefgreifenden Reor-

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Louis Jacques Bataillon: Bulletin d'histoire des doctrines medievales. Le Xllle siecle. In: Revue des Sciences philosophiques et theologiques 70, 1986, S. 255-270, S. 261: „Bernhard Geyer, excellent historien mais moins bon philologue a donne des normes qui nuisent Γ edition et qu'il est grand temps de changer." Mit bemerkenswerter Sorgfalt begleitet Clemens Vansteenkiste die gesamte Albert-Edition mit seinen Rezensionen in Angelicum. Die detaillierten Anmerkungen zur Textkritik und Ergänzungen zum Quellapparat haben schon fast monographischen Charakter. Gleichsam eine abschließende Würdigung dieser Editorengeneration finden wir in der Besprechung der vier 1993 erschienenen Bände durch Walter Senner. In: Zeitschrift fur Kirchengeschichte 107, 1996, S. 275-280. Es wird hier die inhaltlich nun schon bekannte Kritik geübt, zugleich aber der Blick auf Ansätze zu einer methodischen Veränderung gelenkt.

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ganisation des Institutes einhergehen. Welche Punkte beinhaltete dies? Zunächst wurden zeitlich gestaffelt mehrere bis dahin vakant gebliebene Editorenstellen neu besetzt. Damit ist die Voraussetzung dafür geschaffen, daß künftig die Editionsprojekte nicht mehr an externe Forscher vergeben werden, sondern von den hauptamtlichen Mitarbeitern vor Ort erstellt werden sollen. Unbenommen bleibt dabei das Einwerben von Drittmitteln für eine breitere Personalbasis. Die Erforschung, Aneignung und Verbreitung des Denkens Alberts des Großen wurde als zweiter Schwerpunkt der Institutsarbeit definiert. Zur Seite gestellt ist der Editionsarbeit der Mitarbeiter ein wissenschaftlicher Beirat, der die der Ausgabe zugrundeliegenden Regeln zu verantworten hat, sowie die laufenden Projekte betreut und berät. Die Editionsarbeit soll weiterhin, Geyers Leitsatz gemäß, von der Ökonomie der Kräfte bestimmt sein und zugleich modernen Standards entsprechen. Ziel ist die Erstellung eines gesicherten philosophisch-theologischen Lesetextes, der am Ideal einer Leithandschriftedition ausgerichtet sein soll. Die Editionsrichtlinien wurden bereits in der Frühzeit des Albertus-Magnus-Instituts formuliert und erfuhren im Laufe der Jahre Veränderungen und Ergänzungen. Grundsätzlich hielt Geyer fest: „Die eigentliche und wichtigste Aufgabe einer Edition ist die Herstellung des richtigen Textes, d. h. eines solchen, der dem ursprünglichen des Verfassers möglichst nahe kommt. Bei der großen Verschiedenheit der Überlieferung der Schriften Alberts und ihres Karakters muß sich auch die Methode der Textherstellung verschieden gestalten und ist jeweils in den Prolegomena zu den einzelnen Schriften genau darzulegen." Leitlinie für die Formulierung der Richtlinien dürfte Otto Stählins ,Editionstechnik' gewesen sein, die den auch heute noch in vielen Punkten gültigen Standard formuliert.71 So schreibt er schon im Jahre 1909: „Ausgaben sind nicht das Ziel der philologischen Wissenschaft sondern gehören nur zu den Mitteln um das Ziel zu erreichen. Sie wollen der Aufgabe dieser Wissenschaft, der allseitigen Erforschung des klassischen Altertums, dienen. An diesem Zweck, den die Ausgaben haben, müssen sich auch die Forderungen orientieren, die nach Form und Inhalt an die Ausgaben zu stellen sind. Sie sollen als zuverlässige Diener dem Forscher, in dessen Dienste sie stehen, möglichst viel Arbeit abnehmen und die Arbeit, die dieser selbst zu leisten hat, möglichst erleichtern und bequem machen."72 Diese Richtlinien wurden in wesentlichen Punkten beibehalten. Typographisch soll das Erscheinungsbild der Edition nicht verändert werden. Als einschneidende Änderung kann aber vermerkt werden, daß der Druck heute nicht mehr im Bleisatz erfolgt, sondern daß die Arbeit der Editoren auch die Erstellung von Postscript-Dateien umfaßt. Das ausgefeilte System von aufeinander verweisenden Manuskriptseiten und Kateikarten wird abgelöst von Dateien, die alle Auszeichnungen für Apparate und

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Otto Stählin: Editionstechnik. Ratschläge für die Anlage textkritischer Ausgaben. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 12, 1909, S. 393-433. Sehr modern mutet seine Notiz zu den Einleitungen an: „Was zwingt uns dazu, Vorreden und Apparat immer noch lateinisch abzufassen? Da Lateinisch nicht mehr die Gelehrtensprache ist, sind lateinische Praefationes ein veralteter Rest aus einer vergangenen Periode unserer Wissenschaft. Wer wissenschaftlich arbeiten will, muß heutzutage Deutsch verstehen, so gut wie Englisch und Französisch." Ebd. S.397.

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Hervorhebungen enthalten. Die aufwendige Korrektur von Druckbögen ist abgelöst durch den Kampf mit den Tücken von Satzprogrammen. Eine weitere Änderung greift gleichermaßen die Kritik der Rezensenten, aber auch heutige Standards auf: Den Prolegomena wird deutlich mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Die gesamte handschriftliche Tradition ist zu sichten und zu beschreiben. Auf der Basis von Probekollationen, von denen ein Beispiel im Anhang an die Prolegomena präsentiert wird, ist eine stemmatische Bewertung der Überlieferungslage vorzunehmen. Daraus werden die für die Texterstellung relevanten Handschriften erhoben. Die lateinische Rechtschreibung wird normalisiert, was aber nicht mehr für die Varianten gilt. Maßgebend ist die sogenannte moderne lateinische Rechtschreibung nach Georges und Brambach. Einige Ausnahmen für besondere mittelalterliche Wörter werden eigens in den Richtlinien aufgeführt. Zur Interpunktion heißt es: Sie sei sparsam und sinngemäß, mit vielen selbständigen Sätzen. Der Variantenapparat ist grundsätzlich negativ; Abweichungen von dieser Regel sind in den Prolegomena zu begründen. Als wichtige Ergänzung hierzu wurde für die neuen Bände ein Siglenapparat eingeführt, der für jede Seite angibt, welche Handschriften zur Textkonstitution herangezogen wurden.73 Wie von Anfang an wird den Kommentarwerken Alberts jeweils eine Fassung des von ihm kommentierten Textes beigegeben, die sich an neueren Editionen dieser Werke orientiert, aber zum Teil auch auf handschriftlicher Basis erstellt oder korrigiert wird. Die hieraus resultierenden Varianten werden in einem eigenen Apparat geboten. Hieß es in den ersten Richtlinien noch: Seiten- und Spaltenübergänge einer Handschrift werden nur in ganz besonderen Fällen angegeben, so werden neuerdings diese Übergänge zumindest für die bei der Textkonstitution wichtigste Handschrift durchgehend vermerkt. Was die Quellenlage angeht, so vermerkte Geyer in den alten Richtlinien: „Der Nachweis der Zitate, der ausdrücklichen und der stillschweigenden, der bestimmten und der allgemeinen, ist eine besonders schwierige und zeitraubende Aufgabe des Editors. Bei Albert ganz besonders, weil er die wissenschaftliche Literatur seiner Zeit wie kein anderer Scholastiker kannte und zitierte." Ist bei der Verifizierung der ausdrücklichen Zitate Vollständigkeit anzustreben, so hieß es weiter: „Was den Nachweisder von Albert benutzten, aber nicht zitierten Quellen anlangt, so haben wir uns darin eine gewisse Zurückhaltung auferlegt, da wir mit der Ausgabe der weiteren Forschung nicht vorgreifen, sondern für sie die Voraussetzung schaffen wollten."74 Inzwischen stehen weit mehr Quellenwerke in zuverlässigen Ausgaben zur Verfügung als dies zur Zeit der Abfassung der ersten Richtlinien der Fall war. Darüber hinaus erleichtern elektronische Datenbanken die Recherche. Schließlich bilden die bereits edierten Albert-Werke schon einen erheblichen Fundus an nachgewiesenen Zitaten. 73

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Wenn Clement Suermondt in seinen Erläuterungen zur Textkritik betont, daß der Apparat der , Editio Leonina' immer positiv sei, was eine verläßlichere Verwendung garantiere, so richtet sich dies genau gegen die Unsicherheit über die jeweils verwendeten Textzeugen. Vgl. Suermondt 1930 (Anm. 38), S. 27. Albertus-Magnus-Institut, Richtlinien fiir die Albertausgabe, 1. Fassung (unveröffentlicht).

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Dennoch bleibt für einen Autor wie Albert auch heute zu vermerken, daß die von ihm benutzte Literatur alle diese Möglichkeiten noch einmal sprengt. Nach wie vor fehlen für zahlreiche Zitate oder Anspielungen auf zeitgenössische Lehrmeinungen gedruckte Ausgaben, so daß sie nur aus handschriftlichen Vorlagen nachgewiesen werden können. Der Zeitaufwand hierfür ist erheblich. Hier ist nun wieder nach der Ökonomie zu fragen. 300 Jahre waren verstrichen, bis die erste Gesamtausgabe von Jammy durch eine neue, historisch-kritische Ausgabe abgelöst werden sollte. Angesichts von Zeit und Kosten, die in ein solches Großprojekt fließen, ist es kaum zu erwarten, daß vor Ablauf mindestens derselben Frist je ein solches Unternehmen noch einmal gestartet werden wird. Das bedeutet aber zugleich, daß die derzeit in Arbeit befindliche Gesamtausgabe vielen Forschergenerationen als Grundlage dienen soll. Können wir uns angesichts einer solchen Perspektive übertriebene Sparsamkeit leisten? Wer, wenn nicht die heutigen Editoren, soll die Lücken auffüllen, die eine begrenzte Ausgabe aufweist? Wenn Geyer noch formulierte, er wolle künftiger Forschung nicht vorgreifen, so ist diese Forschung heute längst in Gang, sei es durch Rezeption der schon erschienenen Bände der ,Editio Coloniensis', sei es durch die wissenschaftliche Bearbeitung des zeitgeschichtlichen Hintergrundes für Alberts Werk. Gerade angesichts der enormen Kosten, die solch ein Jahrhundertprojekt verschlingt, ist die Verantwortung um so größer, eine Ausgabe vorzulegen, die sich als epochal erweist. Sollte sie in allzu naher Zukunft überholt sein, wäre das Unternehmen seinem Anspruch nicht gerecht geworden. Die wirklich ökonomische Edition ist die, die sich nicht selbst schon als unvollkommen präsentiert. Gleichwohl kann Vollständigkeit hier nicht den unkritischen Abdruck alles Vorfindlichen bedeuten. Der heutige technische Stand digitaler Reproduktion von mittelalterlichen Handschriften läßt erwarten, daß diese Textzeugen immer breiteren Kreisen zugänglich werden. Konnten aufwendige Bibliotheksreisen zunächst durch die Bestellung von Mikrofilmen ersetzt werden (deren Qualität die Autopsie nicht immer zu ersetzen vermochte), so werden vielleicht bald schon hochwertige digitale Abbildungen im Internet überall auf der Welt zur Verfügung stehen. Wer jede noch so unbedeutende Variante und Verschreibung eines Textzeugen prüfen will, dem sei der so vermittelte Zugang zu den Handschriften angeraten. Aufgabe einer historisch-kritischen Edition dagegen muß, was die Texterstellung und die Gestaltung des Variantenapparates anbelangt, die verantwortete Auswahl sein. Das intensive Studium der Überlieferungslage erst befähigt zu dieser Scheidung zwischen aussagekräftigen und wertlosen Varianten, zwischen singulären Verschreibern und die Überlieferung prägenden Fehlern. Dies ist von den Editoren zu leisten. ,,Der Geist lebt vom Buchstaben"75 überschrieb Wolfgang Kluxen ein Plädoyer für Texteditionen als Träger geschichtlicher Kontinuität der Philosophie. Hier kommt die Sorge um den Text als Text in den Blick. Denn nur als geschriebener Text konnte Philosophie ihre geschichtliche Kontinuität begründen. In diesem Sinne muß sich

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Wolfgang Kluxen: Der Geist lebt vom Buchstaben. Über Texte und Texteditionen als Träger geschichtlicher Kontinuität der Philosophie. In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5, 1980, S. 7 - 1 9 .

Albertus Magnus und die Editio Coloniensis

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auch ein editorisches Großprojekt wie die Editio Coloniensis der Bewahrung der Tradition verpflichtet wissen, zur der wir uns nur dann in ein Verhältnis setzen können, wenn sie uns in ihrer Individualität begegnet. Diese gilt es in jedem Projekt ernst zu nehmen.

Loris Sturlese

Die historisch-kritische Edition der Werke Meister Eckharts Neue Interpretationen, neue Handschriften - neue Editionsprinzipien?

Die Edition der lateinischen und deutschen Werke Meister Eckharts,1 die hier zur Diskussion gestellt werden soll, steht in der Mediävistik seit dem Jahre 1936 zur Debatte und kann heute auf sämtliche Widersprüche der deutschen Geistesgeschichte des letzten Jahrhunderts zurückblicken. Die Edition begann im Schatten von Alfred Rosenbergs „Mythus des 20. Jahrhunderts",2 sie wurde jedoch von Gelehrten verwirklicht, die die deutschnationale Interpretation Eckharts in Frage stellten und eine mutige Antwort wagten.3 Sie überlebte die deutsche Katastrophe und wurde in der bundesrepublikanischen Ära weitergeführt. Sie erfuhr danach die Entdeckung neuer Handschriften, den Wandel der philologischen Kriterien und die Erneuerung der Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Siebzig Jahre nach ihrem Beginn ist die Meister Eckhart-Edition ein Stück deutscher Geistesgeschichte. In den letzten siebzig Jahren ist viel auf dem Gebiet der Editions-Philologie philosophischer Texte passiert. Ich nenne nur einige Stichworte: überlieferungsgeschichtliche Editionsmethode,4 die sogenannte new philology, elektronische Textbearbeitung, internet und die Möglichkeit hypertextueller Editionen.5

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Meister Eckhart. Die deutschen und die lateinischen Werke. Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Die deutschen Werke. Hrsg. von Josef Quint und Georg Steer. [DW] Die lateinischen Werke. Hrsg. von Ernst Benz, Karl Christ, Bruno Decker, Bernhard Geyer, Josef Koch, Heribert Fischer, Erich Seeberg, Loris Sturlese, Albert Zimmermann [LW]). Stuttgart 1936 ff. Vgl. Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit. München 1930, S. 217-273. Zu den Auseinandersetzungen um Rosenbergs nazionalsozialistische Deutung Eckharts vgl. Ingeborg Degenhardt: Studien zum Wandel des Eckhartbildes (Studien zur Problemgeschichte der antiken und mittelalterlichen Philosophie 3). Leiden 1967, S. 261-276. Studien zum Mythus des XX. Jahrhunderts (Kirchlicher Anzeiger ftir die Erzdiözese Köln. Amtliche Beilage). Köln 1934. Der Eckhart gewidmete Teil dieser anonym erschienenen „Studien" zeigt eine bemerkenswerte wissenschaftliche Kompetenz. Eine ähnliche Schrift kam im nachfolgenden Jahr von reformierter Seite: Walter Künneth: Antwort auf den Mythus. Die Entscheidung zwischen dem nordischen Mythus und dem biblischen Christus. Berlin 1935. Der Eckhart-Abschnitt (S. 160-164) hängt stark von den Thesen der katholischen Forschung ab, die damals die lateinischen Schriften und die „scholastischen" Grundlagen von Eckharts Denken privilegierte, und versucht hiermit, die auf den deutschen Texten basierende Deutung Erich Seebergs zu relativieren (S. 161). Vgl. Werner Williams-Krapp: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), S. 1-21. Vgl. auch Georg Steer: Textgeschichtliche Edition. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh (Texte und Textgeschichte 19). Tübingen 1985, S. 37-52. Zum ganzen Fragekomplex vgl. auf der homepage der „Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen", Bibliographie zur Editionswissenschaft, http://www.agphe.dgphil.de

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Die Eckhart-Edition hat sich im Laufe der Jahre mit allen diesen Erneuerungsversuchen konfrontieren müssen. Und dies in doppelter Hinsicht, da beide Abteilungen der Edition - die deutschen und die lateinischen Werke - von Anfang an ganz verschiedene Materialien zu bearbeiten hatten und daher verschiedene Methoden entwickeln mußten. So ist die Eckhart-Edition eine Art Vergrößerungsglas, durch das die Probleme zweier Textphilologien beobachtet werden können. Es dürfte sich lohnen, erneut einen Blick in dieses Glas zu werfen. Denn die Vergangenheit bietet nicht nur Fehler, aus denen man bekanntlich lernen sollte, sondern sie zeigt uns auch Orientierungspunkte und Lösungen, die man in Erinnerung behalten muß, damit man nicht alles immer wieder von vorne beginnt. Die Schrift 6 rät zwar demjenigen, der die Pflugschar führt, nicht zurückzuschauen - nemo mittens manum suam in aratrum et aspiciens retro ...-, aber auch der emsigste Pflüger sollte immer wieder mal einen Blick auf den ganzen Acker werfen, um sich zu vergewissern, daß seine Furchen gerade und ordentlich sind. *

Die Eckhart-Ausgabe ist ein Modell einer „historisch-kritischen Edition". 7 1. Die Edition basiert auf der vollständigen Kollation der handschriftlichen Zeugnisse. Wie man sehen wird, unterscheiden sich hierbei die Abteilung Die lateinischen Werke (im Folgenden: LW) und die Abteilung Die deutschen Werke (im Folgenden: DW) nicht in methodischer Hinsicht, obwohl sich die Qualität der lateinischen Materialien sehr von denjenigen der deutschen unterschiedet. 2. Der Text wird kritisch rekonstruiert. Man erhebt den Anspruch, den Text zu edieren, so wie der Verfasser - Eckhart - ihn konzipiert hat, was weittragende Konsequenzen im Hinblick auf die deutschen Werke hat. 8 3. Die Phasen der Entstehung des Textes werden, wenn es möglich ist, ausführlich dokumentiert. Dies ist besonders bei den Lateinischen Werken der Fall.9 4. Der konstituierte Text wird dahingehend kommentiert, daß man versucht, die zitierten Quellen nachzuweisen und Parallelstellen aufzuzeigen, die den Text stützen und sein Verständnis erleichtern. 5. Eine deutsche Übersetzung wird beigegeben. Diese fünf Punkte sind heute noch ganz aktuell. Besonders innovativ war die Idee der Übersetzung. Diese wurde damals als das Spezifikum der Ausgabe propagiert, und zwar nicht ohne einen politischen Unterton („Eckhart [...] dem deutschen Volk zugänglich zu machen"). 10 Sie behält heute noch ihre Gültigkeit.

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Lukas 9,62. Darlegung der Editionsprinzipien von Josef Koch: Zur Einfuhrung. In: LW III, S. VIII-XXXI. Vgl. Georg Steer: Echtheit und Authentizität der Predigten Meister Eckharts. Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer kritischen Edition. In: Germanistik - Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. Berlin/New York 1985, Bd. 2. S. 41-50. Vgl. bes. LW I, S. 35-101, mit der Rekonstruktion der ersten Fassung des Opus tripartitum (hrsg. von Konrad Weiß). Vgl. Erich Seeberg: [Vorwort], In: LW III, S. VII.

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Es handelt sich eigentlich um Kriterien, die an der alten positivistischen Methode orientiert sind, die damals im Vergleich zum Forschungsstand in der Editionstechnik einen wichtigen Schritt nach vorne machte. Denn die Eckhart-Edition hatte eine Vorgeschichte, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reicht. *

Als in den 1930er Jahren Quint und die Germanisten einerseits," Klibansky und Thery andererseits12 den ersten Plan einer deutschen und lateinischen Gesamtausgabe Eckharts entwarfen, war die philologische Arbeit zum eckhartschen Text seit Jahrzehnten im Gang. Die ersten wissenschaftlichen Arbeiten hatte der bekannte Germanist Franz Pfeiffer geleistet. 1857 erschien als zweiter Band der Deutschen Mystiker des 14. Jahrhunderts eine Sammlung von Predigten, Sprüchen und Traktaten Meister Eckharts.13 45 Handschriften hatte Pfeiffer im Rahmen seiner heuristischen Arbeiten gefunden. l e i der enthielt der Band nur summarische Angaben zur handschriftlichen Dokumentation und zu den Editionskriterien - vor allem gab es weder einen Variantenapparat noch einen Quellenkommentar. Als Hauptproblem der Edition erwies sich aber sofort die Frage nach der Echtheit der edierten Materialien, die Pfeiffer nach unklaren Prinzipien ausgewählt hatte.14 Germanisten wie Spamer und Pahnke beteiligten sich an der Diskussion. Die Aufgabe, in der deutschen Eckhart-Überlieferung Klarheit zu schaffen, übernahm schließlich Josef Quint, der 1932 eine fast tausendseitige Dissertation veröffentlichte und systematische heuristische Arbeiten durchführte.15 Dies war die Situation am Vorabend der Gründung der großen Eckhart-Edition im Lager der Germanisten. Wenn die Wiederentdeckung der deutschen Werke mit dem Namen Pfeiffers verbunden ist, so erfolgte die Wiederentdeckung der lateinischen Werke durch H. S. Denifle. 1880 fand Denifle in der Amploniana in Erfurt einen Sammelband mit wichtigen Teilen des Opus tripartitum, cod. F 181.16 Einige Jahre später, als die Teiledition seines Fundes in den Druckfahnen vorlag, brachte er die umfangreichste Sammlung des lateinischen Eckhartwerks ans Licht - eine Handschrift, die wahrscheinlich im

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Grundlegend zur Geschichte der Eckhart-Edition, besonders der germanistischen Seite des Unternehmens vgl. Georg Steer: Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann. Tübingen 2002, S. 209-302. Magistri Eckardi Opera Latina. Auspiciis Institut! Sanctae Sabinae ad codicum fidem edita. I: Super oratione dominica. Ed. Raymond Klibansky. Leipzig 1934. Editionsplan auf dem Umschlag, S. IV. Franz Pfeiffer: Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts. II: Meister Eckhart. Leipzig 1957 (ND Aalen 1962). Vgl. Steer 2002 (Anm. 11), S. 210-212. Josef Quint: Die Überlieferung der deutschen Predigten Meister Eckeharts. Textkritisch untersucht. Bonn 1932. Heinrich Suso Denifle: Meister Eckeharts lateinische Schriften und die Grundanschauung seiner Lehre. In: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2 (1886), S. 417-615.

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Auftrage des Nicolaus von Kues hergestellt wurde und sich heute noch in der Kueser Hospital-Bibliothek befindet, cod. cusanus 21.17 In den folgenden Jahrzehnten erweiterte sich der Handschriftenbestand. Es wurde zunächst eine neue Eckhart-Sammlung in Trier gefunden, sodann Einzeltexte - vorwiegend quaestiones disputatae - in Universitätshandschriften (Avignon, Vatikan usf.), schließlich ein Exemplar des Johanneskommentars in Berlin.18 Eine besondere Erwähnung verdient die sogenannte Rechtfertigungsschrift,19 die in einem Sammelcodex in Soest identifiziert wurde und sich als fundamental für die Lösung der Echtheitsfrage der deutschen Predigten erwies - doch zu diesem Thema später. *

Die erste Reflexion über eine Gesamtausgabe der lateinischen Werke ging offensichtlich von der wichtigen Cusanus-Hs. aus. Dies ist insofern verständlich, als die erste strukturelle Editionsplanung von Raymond Klibansky zu Papier gebracht wurde, und Klibansky kam aus der Cusanus-Forschung. Sein Entwurf stammt aus dem Jahr 1934 und steht auf der Rückseite des ersten Heftes der Neuausgabe, das Super oratione dominica enthält und im Verlag Meiner erschien.20 Aber auch die konkurrierende Ausgabe, die 1934 von Seeberg, Koch, Quint und anderen „Theologen und Philologen beider Konfessionen"21 (für eine dritte, diejenige des Juden Klibansky, war damals kein Platz mehr vorgesehen) in Gang gebracht wurde und 1936 den ersten Faszikel mit dem Johanneskommentar veröffentlichte, hatte keine andere Struktur. Man könnte sogar den Verdacht hegen, daß sich die interkonfessionelle bzw. bikonfessionelle Forschergruppe den Plan Klibanskys - dessen Ausgabe nach drei Heften zum Schweigen gebracht wurde - ohne Weiteres und in aller Eile aneignete. Zuzugeben ist aber auch, daß es sehr schwierig gewesen wäre, sich der Faszination des Codex Cusanus zu entziehen. Dieser Codex bot tatsächtlich eine Art „Gesamtausgabe" des lateinischen Werks von Eckhart. Codex Cusanus 21 ist eine Prachthandschrift, die ausschließlich dem Werk Eckharts gewidmet ist.22 Von einem professionellen Schreiber 1444 redigiert, vereinigt er das ganze uns bekannte lateinische Werk Eckharts, wenn man von einigen Quaestiones absieht, die er jedenfalls nicht zu veröf-

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Heinrich Suso Denifle: Das Cusanische Exemplar lateinischer Schriften Eckeharts in Cues. In: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 2 (1886), S. 673-687. Nikiaus Largier: Bibliographie zu Meister Eckhart (Dokimion 9). Freiburg/Schweiz 1989, S. 18-21. Augustinus Daniels: Eine lateinische Rechtfertigungsschrift des Meister Eckhart (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 23/5). Münster i. W. 1923. Gabrier Thery: Edition critique des pieces relatives au proces d'Eckhart contenues dans le manuscrit 33b de la Bibliotheque de Soest. In: Archives d'Histoire Doctrinale et Litteraire du Moyen Age 1 (1926), S. 129-268. Kritische Edition im Rahmen der Eckhart-Ausgabe: Mag. Echardi Responsio ad articulos sibi impositos de scriptis et dictis suis. Hrsg. von Loris Sturlese, LW V. Stuttgart 2000, S. 241-520. Vgl. Anm. 12. Erich Seeberg: [Vorwort]. In: LW III S. VI: „Die deutsche Ausgabe der gesamten Werke des Meister Eckhart ist das Ergebnis wissenschaftlicher Gemeinschaftsarbeit, zu der sich Theologen und Philologen beider Konfessionen, alte und junge, zusammengefunden haben". Kurzbeschreibung der Hs. in: LW III, S. IX-X. Eine Beschreibung der lateinischen Handschriften der Werke Eckharts bleibt ein wichtiges Desiderat der Foschung. Zu den deutschen Werken s. Anm. 24.

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fentlichen beabsichtigte und die uns in den Kollegnachschriften seiner Pariser Zuhörer erhalten geblieben sind. Der Codex Cusanus enthält nicht nur de facto das Gesamtwerk Eckharts. Er bietet auch die Schriften in einer Anordnung, die eindeutig systematische Züge aufweist. Betrachten wir die Makrostruktur des Codex. Er enthält folgende Werke: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Inhaltsverzeichnis zu den Vorreden zum Opus tripartitum Inhaltsverzeichnis zum I. Genesiskommentar Vorreden zum Opus tripartitum I. Genesiskommentar Vorrede zum II. Genesiskommentar Inhaltsverzeichnis zum II. Genesiskommentar II. Genesiskommentar Inhaltsverzeichnis zum Exoduskommentar Exoduskommentar Inhaltsverzeichnis zum Sapientiakommentar Sapientiakommentar Articuli condemnati istius doctoris Sermones et lectiones super Ecclesiastici cap. 24 Inhaltsverzeichnis zum Johanneskommentar Johanneskommentar Super oratione dominica Sermones Tabula sermonum

Die restlichen Hss. überliefern Segmente, etwa Β Johanneskommentar, Τ Texte 1 bis 9, Ε Texte 1 bis 5, 8 bis 13.23 Es stellt sich nun die Frage: Welche Anordnung spiegelt der Codex Cusanus wider? Haben wir es mit einer Ausgabe letzter Hand Eckharts zu tun? Eine Antwort bietet die Literatur nicht, und eine Reflexion in diesem Sinne wurde längere Zeit deshalb verhindert, weil man davon überzeugt war, das Werk Eckharts sei viel umfangreicher gewesen und man habe nur mit Trümmern eines viel größeren Gebäudes zu tun (was heute noch behauptet wird). In textkritischer Hinsicht kam der Hs. C allerdings eine besondere Bedeutung zu, denn 1.) überlieferte sie allein die lateinischen Predigten (14 des Gesamtopus); 2.) überlieferte sie als zweite Hs. jeweils mit Ε oder Β die Bibelkommentare, wobei 3.) nur seltener eine dritte Hs. Τ vorhanden war. Es stellte sich bald bei den Kollationierungsarbeiten heraus, daß die Amplonianische Handschrift eine frühe Fassung des Opus Eckharts bot, doch hierzu später. Halten wir als Ergebnis fest: Der Plan der Ausgabe, die Makrostruktur der lateinischen Werke übernahm in toto die Systematik der Cusanischen Handschrift. Was moderne Herausgeber oft mühevoll in ein System zu bringen versuchen (man denke an die Ausgabe des Albertus Magnus: Philosophie - Logik, Physik, Himmel, Seele, Ethik, 23

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Metaphysik, dann Theologie - Sentenzenkommentar, Bibelkommentare, Summen ...), fanden die Eckharteditoren bereits handschriftlich bezeugt. Sie Ubernahmen dies ohne Diskussion und sparten sich dabei viele Sitzungen und viel Arbeit. *

Wenden wir uns den deutschen Werken zu, so ist das Gegenteil zu dem festzustellen, was wir bisher gesehen haben. Hier hatte man weder ein mehr oder weniger redigiertes und autorisiertes Exemplar noch Spuren, geschweige denn Teile, eines solchen. Und die Ausgabe Pfeiffers hatte gezeigt, wie unsicher das Prinzip der Kontextualität der Überlieferung für die Lösung der Echtheitsfrage war. Außerdem hatte Quint große heuristische Vorarbeiten gemacht und eine Art Explosion der Überlieferung konstatiert.24 Es ist bekannt, daß mehr als 300 Hss. Predigten Eckharts überliefern. Es handelt sich zwar meistens um Fragmente, aber diese Zahl - den Ziffern der lateinischen Überlieferung gegenübergestellt - vermittelt einen guten Eindruck davon, wie kompliziert die Lage am Anfang der 30er Jahren erschien. Quint sah seine Rettung in der sogenannten „Rechtfertigungsschrift". Es handelte sich hierbei um ein Dokument, das mit dem Inquisitionsprozeß in Zusammenhang steht, den der Kölner Erzbischof im Jahr 1326 gegen Eckhart eröffnete. Es enthält neben der Verteidigung Eckharts auch etwa 80 Sätze, die die Ankläger aus seinen Predigten entnahmen und dem Gericht als Beweismaterial vorlegten. Da Eckhart diese Sätze als eigene verteidigte, kann man davon ausgehen, daß die Predigten und die Traktate, in denen sie sich befinden, von unbezweifelbarer Echtheit sind. Die Identifizierung dieser Zitate lieferte den Beweis der Echtheit für 16 Predigten.25 Und mit der Edition dieser Predigten begann Quint 1936 den ersten Band der neuen kritischen Ausgabe der deutschen Werke Eckharts. Es blieb noch die restliche Textmasse. Quint verhielt sich dabei konsequent: Als zweiten Block von Predigten edierte er die Texte, die ,,[d]urch Übereinstimmung mit Predigten des Opus sermonum als echt erwiesene Predigten" zu betrachten sind - es waren acht weitere Predigten. Sodann folgte eine dritte Abteilung mit 32 Texten, die „aufgrund der Verbindung durch Rückverweise und beachtliche Textparallelen mit DW I, DW 5 und den lateinischen Werken als echt erwiesene Predigten" sind. Den provisorischen Schluß bot die vierte Abteilung mit Predigten, die „durch Rückverweise auf Textparallelen in DW 2 und aufgrund beachtlicher Übereinstimmungen mit DW 1, DW 2, DW 5 und den lateinischen Werken" als echt erwiesen sind. Als Quint zu Predigt 86 kam, schloß er den III. Band ab. Kurz danach starb er. Wie man sieht, ordnete Quint die Predigten in einer Abfolge, die dem Gesetz der „degressiven Echtheit" bzw. „progressiven Rechtgläubigkeit" entspricht. Dies hatte erhebliche und vielleicht von ihm nicht gerade beabsichtigte Folgen für den Editions24

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Der jetzige Stand (310 Hss.) in Steer 2002 (Anm. 11), S. 211-212. Beeindruckend ist die Kurzbeschreibung des größten Teils der Überlieferungsträger der Werke Eckharts, die neulich Wolfgang Klimanek veröffentlicht hat. Vgl. Verzeichnis der in DW IV benutzten Textzeugen und ihrer Siglen (© 2005) auf der web-site der Meister-Eckhart-Gesellschaft (http://www.meister-eckhart-gesellschaft/de). DW I, S. XIX-XX. Zum Folgenden Steer 2002 (Anm. 11), S. 239-245.

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plan. An die erste Stelle rückten die Predigten, die Materialien für das Inquisitionsverfahren geboten hatten und über die „Responsio" als echte Predigten Eckharts ausgewiesen sind. Somit wurde das Bild Eckharts von Anfang an durch die „anstößigste" Gruppe von Predigten (Quint 1-16) bestimmt, die ihn als „Häretiker" erscheinen lassen. Die ersten sechzehn Predigten gehören in der Tat zu den meistzitierten in der Forschung und haben das Bild Meister Eckharts entscheidend geprägt. Nicht nur das. Welche paradoxe Folgen dieses Echtheitskriterium haben mag, läßt sich gut an der bekannte Eckhart-Sammlung Paradisus anime intelligentis zeigen. Der Paradisus anime intelligentis ist eine Predigt-Sammlung, die in Oxford gefunden und 1919 veröffentlicht wurde.26 Sie enthält 64 Predigten. Genau die Hälfte von diesen, also 32 Texte, sind Predigten, die ausdrücklich Meister Eckhart zugeschrieben werden, die andere Hälfte der Predigten stammt überwiegend aus der Feder von neun anderen Dominikanern, drei Predigten sind auf einen Karmeliter und die vorvorletzte auf einen „barfuzzin lesemeistir" zurückzuführen. Die Predigten werden abwechselnd präsentiert,27 so daß eine Art Kontrapunkt zwischen Eckhart und den anderen Autoren entsteht, wobei sich Eckhart schon mit Rücksicht auf die Anzahl der aufgenommenen Predigten als Protagonist des Buches erweist. Ich habe an einer anderen Stelle gezeigt, daß die Sammlung tatsächlich alle Merkmale eines Buches trägt, sowohl im mittelalterlichen als auch im modernen Sinn: Sie wurde eindeutig nach einem bestimmten Konzept hergestellt, sie hat genaue Zuweisungen, ein Register und eine eigene Struktur. Ein genauerer Blick zeigt, daß die Struktur eindeutig diejenige einer liturgisch angeordneten Sammlung (De tempore und De sanctis) ist, die mit dem ersten Adventssonntag beginnt. Betrachtet man die Sammlung anhand der Echtheitskriterien Quints, so stellt man fest: Da nur wenige von den 32 Eckharttexten in Köln indiziert wurden, gehört der ganze Komplex in die zweifelhaften Eckhartiana. Und in der Tat sind die meisten von diesen Predigten in den letzten, vierten Band der PredigtEdition verbannt worden, wobei man den Zusammenhang dahingehend interpretieren wird, daß nicht alle Texte Eckharts anstößige Sätze enthielten und daß gerade der Paradisus ein Beispiel dafür ist, daß er in der Regel nicht-häretische Predigten hielt genau das Gegenteil, das die Edition Quints suggeriert. Doch die wirklich gravierende Grenze des Quintschen Ansatzes liegt in der liturgischen Dekontextualisierung der von ihm edierten Predigten. Wir haben gesehen, daß der Paradisus eine liturgisch angeordnete Sammlung ist. Da sich die Predigten Eckharts mit den Ansprachen der anderen Prediger regelmäßig abwechseln, ist anzunehmen, daß sie vom Redaktor des Paradisus aus einer größeren Predigtsammlung Eckharts ausgewählt wurden, die wahrscheinlich Eckhart als Autor hatte, da er einmal

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Paradisus anime intelligentis (Paradies des fomuftigen sele). Hrsg. von Philipp Strauch (Deutsche Texte des Mittelalters 30). 2. Aufl. Hrsg. von Nikiaus Largier und Gilbert Foumier, Berlin 1998 ( N D der Ausgabe Berlin 1919). Wichtigste Literatur dort, S. 199-202. Zu folgender Analyse vgl. Loris Sturlese: Hat es ein Corpus der deutschen Predigten Meister Eckharts gegeben? Liturgische Beobachtungen zu aktuellen philosophiehistorischen Fragen. In: Meister Eckhart in Erfurt. Hrsg. von Andreas Speer und Lydia Wegener (Miscellanea Mediaevalia 32). Berlin/New York 2005, S. 393^108.

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von einem buoch spricht, in dem er seine Predigtskizzen eintrug (solche Predigtbücher sind von Predigern späterer Zeit erhalten). 28 Die Predigtanordnung, die sich aus den Quintschen Kriterien ergibt, macht jede liturgische Lektüre von Eckharts Predigtwerk unmöglich: Es genügt den ersten Band der deutschen Werke aus liturgischer Sicht zu lesen, um sich von den perversen Folgen des Prinzips der degressiven Echtheit zu überzeugen. Der Band beginnt mit einer Predigt De tempore für Zinstag nach Invocavit (1. Sonntag der Fastenzeit, Q 1), es folgt eine Predigt De sanctis (15. August, Assumptio; Q 2), dann wieder eine Predigt De sanctis, die aber für zehn Tage davor gilt (5. August, Vincula Petri; Q 3), es folgt De tempore (4. Sonntag nach Ostern; Q 4), dann 1. Sonntag nach Trinitatis (Q 5), es folgt eine Predigt auf Allerseelen (Q 6), sodann Samstag in den Tempora von September (Q 7), dann 29. Juni, Martyrium des Johannes und Paulus (Q 8), es folgt 5. August, hl. Dominicus (Q 9), etc. Dieser schwindelerregende Parcours zeigt letztlich nur eines: Quint betrachtete den liturgischen Kalender für seine Edition als eine akzidentielle Größe. Im ersten Band verschwieg Quint sogar jede Information über den liturgischen Zusammenhang der verschiedenen Predigten. Die Forschung ist bis auf wenige Ausnahmen konsequent diesem Grundsatz Quints gefolgt - mit gravierenden Folgen für die Interpretation. Dieselbe Analyse wird man auch im Hinblick auf die Traktate machen müssen: Alle Traktate, die nicht indiziert wurden, stehen heute noch prinzipiell unter Unechtheitsverdacht. Der entsprechende Band der Edition (DW 5) enthält nur Eckharts Reden, Liber benedictus, Von abegescheidenheit, und wurde bereits 1963 ohne weitere Kommentare für abgeschlossen deklariert. *

Versuchen wir nun ein Fazit, und dies zunächst einmal im Hinblick auf den makrostrukturellen Editionsplan. Jeder Editor weiß, welche gravierenden methodischen Fragen die Planung und Strukturierung einer Gesamtedition aufwirft und welche entscheidende Bedeutung für die Interpretation eines zu edierenden Philosophen die Präsentation seines Gesamtwerks hat. Soll man den Begriff einer historisch-kritischen Edition nicht nur auf die Texte, sondern auch auf die Makrostruktur einer Gesamtausgabe anwenden? Ist ein Gesamtwerk nach einer chronologischen oder nach einer systematischen Makrostruktur zu edieren? Und was tun, wenn der Autor selbst seine eigene „Geschichte" in eine systematische Makrostruktur (etwa: in eine Ausgabe letzter Hand) absichtlich hineingepreßt hat? Wenn wir uns der Makrostruktur der Eckhart-Edition zuwenden, so stellen wir zwei ganz verschiedene Ergebnisse fest: Die Lateinischen Werke entwickeln sich nach einem systematischen Plan, etwa nach dem Modell „Gesamtausgabe",, Ausgabe letzter Hand".

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Die Deutschen Werke ordnen die Materialien nach dem Prinzip der degressiven Authentizität und kommen zu einer totalen Dekontextualisierung der verschiedenen Predigten, sowohl in liturgischer als auch in überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht. Die Folge: Das Bild Eckharts, das uns aus dem Regal mit den zehn Bänden der historisch-kritischen Ausgabe entgegentritt, ist ein zweifaches: dasjenige eines Systematikers in den lateinischen Werken und eines Häretikers in den deutschen Werken. Ich glaube, daß beide Bilder falsch sind. Aber das Bild Eckharts des Systematikers und Eckharts des Häretikers ist genau das Bild, das die Historiographie in den dreißiger Jahren pflegte. Die Makrostruktur der Gesamtausgabe zementierte nur die Vorurteile der damaligen Historiographie. Dies mag als selbstverständlich erscheinen Editionen und Editoren leben nicht in einem geistigen Vakuum. Interessant aber ist die Tatsache, daß die Erneuerung des Eckhart-Bildes aus philologischen und editorischen Neufunden und Neuansätzen in Gang gebracht wurde. *

Philosophische Texte zu edieren bedeutet nicht, Bücher nach einem von Anfang an bestimmten mechanischen Regulativ herzustellen, sondern am Text zu arbeiten und den Text zu erforschen. Langfristige große Editionen haben daher in sich unvermeidlich einen inneren Dynamismus und entwickeln sich oft nach Richtungen, die man bei deren Begründung kaum hätte voraussehen können. Dies war auch der Fall bei der Eckhart-Edition. Die Kollationen der Handschriften zeigten sofort, daß die amplonianische Handschrift ein frühes Stadium der Textabfassung überlieferte und es ermöglichte, zwei Autorfassungen des Opus tripartitum zu rekonstruieren.29 Hier stellte sich eine Frage, die, obwohl sie vor allem die Herausgeber der LW beschäftigt hat, auch eine Relevanz für die DW hatte. Wie hatte man mit Materialien zu verfahren, die eindeutig von verschiedenen Fassungen zeugen? Es war aber um 1980, daß eine neue Phase in der Eckhart-Philologie begann. Es tauchte eine neue Hs. der lateinischen Werke auf, und die Kriterien und die Editionsmethode der deutschen Werke wurden neu überdacht. Die neue Hs. wurde in der Bodleian Library Oxford gefunden, und zwar in derselben Handschriftensammlung, in der sich der Paradisus anime intelligentis befand. Spätere Untersuchungen haben gezeigt, daß beide Handschriften derselben Bibliothek gehört hatten, nämlich dem Zisterzienserkloster Eberbach,30 und daß sie zusammen mit anderen Codices von dem Earl of Arundel gekauft und nach England gebracht wurden.31

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Loris Sturlese: Un nuovo manoscritto delle opere latine di Eckhart e il suo significato per la ricostruzione del testo e della storia dell'Opus tripartitum. In: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 3 2 ( 1 9 8 5 ) , S. 145-154. Nigel Palmer: Zisterzienser und ihre Bücher. Die mittelalterliche Bibliotheksgeschichte von Kloster Eberbach im Rheingau unter besonderer Berücksichtigung der in Oxford und London aufbewahrten Handschriften. Regensburg 1998, S. 124-125. Sturlese 1985 (Anm. 29), S. 146-147.

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Betrachten wir zunächst den Inhalt der Hs. Sie enthält: 1 2 3 4 5 6

Inhaltsverzeichnis zum sog. II. Genesiskommentar sog. II. Genesiskommentar Begriffsregister zum sog. II. Genesiskommentar Vorreden zum Opus tripartitum Inhaltsverzeichnis zum I. Genesiskommentar I. Genesiskommentar

Eine solche Struktur war unbekannt. Sie war aber eine historische Reihenfolge, nämlich diejenige, in der in Köln die inkriminierten Sätze ausgewählt wurden.32 Die Kollation der Texte zeigte viel mehr: Der Text des I. Genesiskommentars ist eine Fassung, die chronologisch zwischen der Erstfassung von Erfurt und der Fassung des Codex Cusanus steht. Der Vergleich von Oxford mit dem Codex Cusanus zeigte, daß letzterer einen redaktionell adaptierten Text bietet und Materialien, die ursprünglich verschieden waren, als eine Einheit zu präsentieren versucht. Erst bei dieser Adaptationsarbeit erhält der sogenannte II. Genesiskommentar, der ursprünglich unabhängig war, seine Stelle nach dem I. Genesiskommentar, und der Redaktor fügt eine Reihe von Querverweisen hinzu, um diese Reihenfolge zu zementieren. Was wir heute aufgrund seiner Stellung innerhalb der Kueser Sammlung II. Gen nennen (weil es unmittelbar nach I. Gen positioniert ist), war eigentlich für Eckhart der Neubeginn eines neuen Unternehmens, ein Liber parabolarum rerum naturalium. Dieses neue Unternehmen blieb freilich auf Gen beschränkt. Aber es war ein unabhängiger Text, und hatte z.Zt. Eckharts auch eine unabhängige Position. Der Schluß: Die Vorlage des Codex Cusanus wurde aufgrund der Materialien von Eckharts Nachlaß konzipiert und strukturiert; diese Struktur ist aber sekundär und keineswegs original. Sie präsentiert sich als eine „Ausgabe letzter Hand", die Hand ist aber nicht diejenige des Meisters, sondern diejenige seiner Schüler, seiner Nachlaßverwalter. Die Forschungen der letzten zwanzig Jahren haben eine Gruppe von Eckhart-Schülern identifizieren können, die trotz der Verurteilung sein Andenken pflegten und sich mit der Verbreitung seiner Handschriften beschäftigten.33 In diesem Milieu entstand die Kueser-Ausgabe und wurde das Bild Eckharts des Systematikers kreiert. Wenn heute die Philosophiehistoriker das Denken Eckharts rekonstruieren, indem sie seine Texte undifferenziert und in völliger Vernachlässigung chronologischer Fragen als einen Steinbruch für die Konstruktion eines einheitlichen Gebäudes benutzen, legitimiert sich diese Operation letztendlich durch die Idee, die die Makrostruktur eines Eckhart-Codex und die große Eckhartedition transportieren. Die Edition ist fast zu Ende. Was ist nun zu machen? Die Makrostruktur der Edition ist nicht mehr zu ändern, aber man kann ζ. B. den textdiachronischen Aspekt der Edition akzentuieren. In diesem Sinne läuft das Projekt einer synoptischen Neuausga32 33

Sturlese 1985 (Anm. 29), S. 153. Loris Sturlese: Die Kölner Eckhartisten. Das Studium generale der deutschen Dominikaner und die Verurteilung der Thesen Meister Eckharts. In: Die Kölner Universität im Mittelalter. Hrsg. von Albert Zimmermann (Miscellanea Mediaevalia 20). Berlin-New York 1989, S. 192-211.

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Edition der Werke Meister

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be der drei Fassungen des Opus tripartitum, die nach der Entdeckung der neuen Handschrift geplant wurde und heute fast abgeschlossen ist. *

Was die Deutschen Werke betrifft, so ist die Edition fast zu Ende, und es ist offensichtlich unmöglich - auch wenn man wollte - die Makrostruktur zu ändern. Im IV. Band hat Georg Steer die textbegründenden Teile sehr ausführlich konzipiert, so daß man wichtige Einblicke in die Überlieferung gewinnen kann. Es bleiben Texte, die sich in der Grauzone der redigierenden Bearbeitung befinden, - in der Grauzone, in der nach Steers Terminologie nicht mehr von 'Echtheit', sondern von 'Authentizität' gesprochen werden muß.34 Hier gilt es, mit diffiziler Arbeit die Wege der Texttradierung zu untersuchen und den Leser darüber zu informieren, welche Texte und welche Textteile auf Eckhart zurückzuführen sind. Nicht mehr zu realisieren ist eine adäquate, historische Strukturierung der Sammlung. Diese hätte nur nach einem Prinzip angeordnet werden können - nach dem liturgischen Jahr. Um das deutsche Werk Eckharts zu rekontextualisieren, sollte man den ganzen Eckhartschen Predigtkomplex nach liturgischen Prinzipien neu veröffentlichen. Dies wird nicht bedeuten, daß auch die jeweils kritisch edierten Texte neu ediert werden müssen, denn sie sind meistens von vorzüglicher Qualität. Vorarbeiten für die Herstellung einer „liturgisch angeordneten Predigtedition" sind jedenfalls schon im Gang. Wie man sieht, gibt es keine Editionen, die aere perennius gelten. Editionen sind eine Voraussetzung für die historische Arbeit der Interpretation, und sie stehen mit dieser Arbeit in einem dialektischen Verhältnis. Will man aus dieser Geschichte - aus der Geschichte der Eckhart Edition - eine Lehre ziehen, dann, wie ich glaube, folgende: Wie jede Forschergeneration ihre eigene Interpretationen entwickeln soll, so sollte auch jede Forschergeneration die Texte, von denen die Interpretationen zehren, erneut edieren. Ist dies nun ein Paradox? Ich glaube nicht. Nicht nur der Geist, sondern auch der Buchstabe ist historisch - und sollte eben historisch betrachtet werden.

34

Steer 1985 (Anm. 8); wichtig auch Steer 2002 (Anm. 11), S. 255-259.

Sten Ebbesen

Corpus Philosophorum Danicorum

Einleitung Als ich neunzehn Jahre alt war, habe ich an der Universität Kopenhagen einen Lehrgang über mittellateinische Poesie besucht. Der Lehrer war ein liebenswürdiger Mann, der Dänisch mit einem deutschen Akzent sprach. Nach der letzten Stunde hat er mir gesagt: „Sie können ja gut Latein, Ebbesen, möchten Sie Mitarbeiter am Corpus Philosophorum Danicorum Medii Aevi werden?", Ja, gewiß", habe ich geantwortet - aber was ist Corpus Philosophorum?" Nach neununddreißig Jahren Mitarbeiterschaft weiß ich so ziemlich, was das ist. In den späten dreißiger Jahren waren zwei neuscholastisch ausgebildete Missionare in Kopenhagen angekommen, um die akademische Jugend nach vierhundertjähriger Apostasie zur Mutterkirche zurückzuführen. Die zwei Jesuiten, Alfred Otto (1903-82) und Heinrich Roos (1904-77), haben 1946 der Gesellschaft für dänische Sprache und Literatur den Plan vorgelegt, ein Corpus Philosophorum Danicorum Medii Aevi (CPhD) zu gründen, in dem alle wissenschaftlichen Schriften gesammelt werden sollten, die im Mittelalter von Dänen geschrieben worden waren. Die Idee war wohl von der belgischen Reihe Les Philosophes Beiges inspiriert und - wie bei den Belgiern wegen der Winzigkeit des Landes und dem daraus folgenden kleinen Bestand von scholastischen Philosophen eher durchführbar als ζ. B. ein Corpus Philosophorum Galliae. Der Vorschlag wurde angenommen, und die beiden Missionare fingen mit der Editionsarbeit an. Im Jahre 1972 wurde die Leitung von einem Dänen, Jan Pinborg (1937-82), übernommen und im Jahre 1982 von mir. Der erste Band erschien 1955, und wir haben bisher 17 Teilbände veröffentlicht. Nummer 18 wird voraussichtlich 2006 erscheinen. Es fehlen ungefähr noch vier Bände, dann kann man die Ausgabe als abgeschlossen betrachten. Obwohl von Deutschen erfunden, war das Projekt von Anfang an als ein dänisches Prestigeprojekt gedacht, und die Druckkosten werden immer noch von der national gesinnten CarlsbergStiftung, dem Eigentümer der Carlsberg- und Tuborg-Brauereien, bezahlt. Die meisten der Ausgaben sind auch von Dänen bearbeitet worden, aber neben Dänen und Deutschen gibt es auch einen Ungarn, zwei Italiener, einen Belgier und eine Französin unter den Herausgebern. Übersicht über das Material Es folgt eine Liste der dänischen Scholastiker und einiger Nicht-Dänen, deren Werke im Corpus erschienen sind oder erscheinen werden:

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Sten Ebbesen

1.

Andreas Sunonis (dänisch: Sunesen). Paris um 1190. Hexaemeron, post M. CI. Gertz ed. S. Ebbesen & L.B. Mortensen, CPhD XI. 1-2, 1985-88. Eine verifizierte summa quaestionum theologiae. Boethius de Dacia. Paris etwa 1270-77. Grammatik: Modi significandi sive Quaestiones super Priscianum maiorem, ed. J. Pinborg & H. Roos, CPhD IV, 1969. Logik: Quaestiones super librum Topicorum, ed. N. J. Green-Pedersen & J. Pinborg, CPhD VI. 1, 1976. Sophismata, ed. S. Ebbesen & I. Rosier-Catach, CPhD IX, in Vorbereitung. Naturphilosophie: Quaestiones de generatione et corruptione, ed. G. Sajo, CPhD V.l, 1972. Quaestiones super libros Physicorum, ed. G. Sajo, CPhD V.2, 1974. Quaestiones super IVm Meteorologicorum, ed. G. Fioravanti, CPhD VIII, 1979. De aeternitate mundi, De somniis, ed. N.J. Green-Pedersen, CPhD VI.2, 1976. Quaestiones super De anima /-//, ed. R. Wielockx, CPhD XIV, in Vorbereitung. Ethik: De summo bono, ed. N.J. Green-Pedersen, CPhD VI.2, 1976. Martinus de Dacia. Paris urn 1270/80. Opera, ed. H. Roos, CPhD II, K0benhavn 1961. Umfaßt (a) sein grammatisches Hauptwerk, Modi Significandi, das bis ins 15. Jahrh. an südeuropäischen Hochschulen verwendet wurde; (b) Quaestiones zur Ars Vetus, d. h. Porphyrs Isagoge, Aristoteles' Kategorien u. Peri hermeneias, Anon. Liber sex principiorum und Manlius Boethius' De topicis differentiis. Johannes de Dacia (.Johannes Primus"). Paris um 1280. Opera, ed. A. Otto, CPhD 1.1-2, 1955. Enthält (a) eine groß angelegte, aber unvollendete, Summa grammatica in Quaestiones gegliedert; (b) ein ebenfalls groß angelegtes und ebenfalls unvollendetes Sophisma De gradibus formarum (ein metaphysisches Problem). Johannes de Dacia (.Johannes Secundus"). Ort und Zeit unsicher. Quaestiones super Priscianum minorem, d. h. Quaestiones zum Syntax-Teil von Priscians Institutiones grammaticae. Noch unediert. Petrus Philomena de Dacia, Bologna/Paris um 1290/1300. Mehrere Werke auf den Gebieten der Arithmetik und der Astronomie: Opera, ed. F. S. Pedersen, CPhD X.l, 1988. Nicolaus Drukken de Dacia. Paris um 1340. Zwei logischen Schriften: (a) Quaestiones supra librum Priorum, ed. N. J. Green-Pedersen; (b) Tractatus de suppositionibus, ed. S. Ebbesen. Beide in CPhD XII, 1997. Thuo de Vibergia. Erfurt um 1438. Zwei metaphysische Werke: (a) Disputata Metaphysicae (d. h. Quaestiones zu Aristoteles' Metaphysik), ed. A. Tabarrroni; (b) Sophisma De gradibus formarum, ed. S. Ebbesen. Beide in CPhD XIII, 1998. Pseudo-Dänen: Simon Dacus, Opera, ed. A. Otto, CPhD III, 1963. Zwei grammatische Schriften aus dem späten 12. Jahrhundert, von verschiedenen Verfassern, deren wohl keiner ein Däne war.

2. 2.1 2.2

2.3

2.4 3.

4.

5.

6.

7.

8.

9. 9.1

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9.2

9.3 9.4

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Incerti auctores, Quaestiones super Sophisticos Elenchos, ed. S. Ebbesen, CPhD VII, 1977. Zwei z.T. identische Werke aus Paris um 1275. Vor der Herausgabe fälschlich dem Boethius de Dacia zugeschrieben. Petri de S. Audomaro, Opera, ed. F.S. Pedersen, CPhD X.2, 1984. Astronomische Werke, in Paris in den 1290er Jahren abgefaßt. Anonymus, Quaestiones super libros Metaphysicorum I-VII, ed. G. Fioravanti, CPhD XIV, in Vorbereitung. Ein ζ. T. von Boethius de Dacia inspiriertes Werk, in Paris in den 1270er Jahren geschrieben.

Wie aus der Liste hervorgeht, umfaßt das Corpus hauptsächlich Werke, die in Paris entstanden sind. Das erste von ihnen ist um 1190 verfaßt worden, das letzte um 1340. Dazwischen gibt es eine Konzentration von Arbeiten aus dem späten 13. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert besuchten die Dänen häufiger deutsche Universitäten als Paris, und es ist typisch für die Periode, daß die einzigen erhaltenen „dänischen" Werke zu Erfurt produziert worden sind. Probleme der Herausgeber Ich werde jetzt einige der Probleme vorführen, die ein solches Projekt wie unser Corpus den Herausgebern bereiten. 1. Das Nationalitätsproblem Wir sollen alle wissenschaftlichen Werke herausgeben, die von Dänen geschrieben wurden, seien sie gut oder schlecht. Glücklicherweise findet sich wirklich Schlechtes kaum im Material. Manches ist sogar von höchster philosophischen Qualität, aber die nationale Zielsetzung bereitet uns Kopfschmerzen, denn wir müssen sowohl genau prüfen, ob ein Werk wirklich dem vermutlichen Autor zugeschrieben werden kann, als auch, ob er wirklich ein Däne gewesen ist. Das war nur in drei Fällen unproblematisch. Andreas Sunesen (ca. 1160-1228), der die theologische Summa schrieb, und Thuo von Viborg (ca. 1405/10-1472), der über Metaphysik schrieb, sind beide Erzbischöfe von Lund gewesen, also Oberhirten der dänischen Kirche. Ihr Lebenslauf ist sicher dokumentiert, und die Zuschreibung der Texte zu ihnen ist auch gut fundiert. Das Leben des Logikers Nicolaus de Dacia (um 1315-56) ist ebenfalls wohl beleuchtet, und die Attributionen sind glaubwürdig. Werke, für die die Handschriften einen Magister Boethius Dacus als Verfasser angeben, sollten eigentlich keine Probleme bereiten, denn Dacus heißt „aus Dänemark". Trotzdem hat man einen kleinen nordischen Krieg um seine Nationalität geführt, denn wir haben keine Auskünfte über den Lebenslauf dieses Boethius, und wenn er dem Predigerorden angehört hätte, könnte er auch ein Schwede gewesen sein, denn die Dominikaner nannten ihre ganze skandinavische Provinz nach dem bedeutsamsten Lande „Dänemark". Etienne Gilson nannte unseren Mann sogar „Boethius von Schweden". Die Herausgeber des dänischen Corpus wollten selbstverständlich ihren

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besten Philosophen nicht an Schweden abtreten, und im Jahre 1962 haben sie den entscheidenden Kampf gewonnen, indem sie darauf hinwiesen, daß seine Werke in den Handschriften immer ,/nagister Boethius" und niemals ,frater Boethius" zugeschrieben werden. Also war er jedenfalls zur Abfassungszeit ein Weltlicher, und in weltlichem Zusammenhang heißt „ D a d a " eindeutig „Dänemark" (und nicht „Rumänien", wie einige glauben). Eigentlich ist es eine Schande, daß eine so belanglose Frage wie die der Nationalität des Boethius die Zeit ernsthafter Forscher in Anspruch nehmen mußte. Interessant ist, daß ein Mann aus der europäischen Peripherie eine bedeutende Kulturpersönlichkeit in Paris geworden ist. Das sagt uns Wesentliches über die europäische Kultur des 13. Jahrhunderts. Aber, ob der Mann aus Dänemark oder aus Schweden kam, ist gleichgültig. Philosophisch gesehen war er ein reines Pariser Erzeugnis.

2. Autoridentifikation Das Nationalitätsproblem ist mit einem anderen verbunden, das auch Editoren von Opera omnia haben. Nur Werke, die mit Sicherheit einer bestimmten Person zugeschrieben werden können, dürfen in die Reihe aufgenommen werden. Die Attributionsfrage nimmt Dimensionen an, die sie nicht verdient. Im Fall Boethius besitzen wir eine mittelalterliche Liste seiner Werke. Manche sind mit Autornamen überliefert, die meisten aber nicht. Man ist versucht, die fehlenden unter den anonymen Schriften seiner Zeit zu suchen, oder sogar Schriften, die mit anderen Autorangaben überliefert sind, dem Boethius zu vindizieren. Die Argumente, derer man sich bedient hat, sind hauptsächlich dreierlei gewesen: 1) Der Text kommt in den Handschriften zusammen mit einer oder mehreren echten Boethiusschriften vor. 2)-3) Der Text ist doktrinal und/oder stilistisch boethianisch. Argumente des ersten Typs sind nicht tauglich. Man hat ihnen aber in den frühen Jahren unseres Projekts Glauben geschenkt und damit Ärger hervorgerufen. Weil er zusammen mit boethianischen Werken überliefert war, wurde ein umfangreicher Kommentar zur Zweiten Analytik transkribiert; dann aber hat man eingesehen, daß er unmöglich von Boethius stammen konnte, und die Ausgabe ist niemals zu Ende geführt worden. Ein Kommentar zu den Sophistischen Widerlegungen entging demselben Schicksal, weil man die Unechtheit so spät erkannte, daß es töricht gewesen wäre, das Resultat mehrjähriger Arbeit in einer Schublade zu begraben. Ähnliche praktische Betrachtungen haben uns auch erlaubt, neben den astronomischen Werken des Dänen Petrus Philomena diejenigen seines zeitgenössischen Fachkollegen Petrus von Saint Omer zu drucken. Denn um die außerordentlich schwierige Attributionsfrage zu lösen, mußte der Herausgeber die Editionen aller den zwei Männern zugeschriebenen Werken vorbereiten. Schließlich wollte man doch nicht die Hälfte der Texte ins Feuer zu werfen, weil ihr Autor ein Franzose war; man hat alles veröffentlicht.

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Es sei auch genannt, daß wir in einem kommenden Band nicht nur zwei größere Texte, sogenannte Sophismata, drucken werden, die zweifelsohne Boethius zugesprochen werden können, sondern auch zwanzig andere, die sicherlich nicht von ihm stammen. Der Grund hierfür ist, daß die boethianischen Sophismata so eng in der Überlieferung mit den anderen zusammenhören, daß es ein schiefes historisches Bild ergäbe, wenn wir sie aus dem Zusammenhang rissen. Zuschreibungen auf der Basis von Stil und Doktrin sollten bei Universitätstexten aus der facultas artium im allgemeinen vermieden werden. Die meisten magistri waren nicht besonders originell, und feinere Stilunterschiede wurden beim Kopieren verwischt. Boethius aber war kein gewöhnlicher Scholastiker. Er hatte einen charakteristischen, energischen und scharfen Stil, und er hatte sehr markante Ansichten, die zu seinen Lebenszeiten so viel Aufmerksamkeit erregten, daß einige dieser Ansichten dem Zorn des Pariser Bischofs in einer berühmten Verurteilung im Jahre 1277 ausgesetzt wurden. Deshalb hat man kein Bedenken, Boethius eine Schrift De Aeternitate mundi zuzuschreiben, obwohl sie in vier der sechs Handschriften anonym ist, und zwei sogar das Opusculum anderen Philosophen zuschreiben. In ähnlicher Weise kann man ihm auch eine anonyme Reihe von Quaestiones zu Aristoteles' De anima zuschreiben. Boethius' Quaestiones zur Physik sind ein komplizierter Fall. Sie sind anonym in einer Handschrift überliefert, die wohl auf Aufzeichnungen eines Studenten basiert. Es fehlen manche der stilistischen Merkmale boethianischer Herkunft, doch vieles ist unverkennbar boethianische Diktion und Doktrin. Mehrere Textstücke, die boethianisch klingen, sind aber mit den Worten Quidam dicunt „Es gibt welche, die sagen" eingeleitet. Die Quaestiones zur Physik sind offenbar nicht ein Werk des Boethius im herkömmlichen Sinne. Was sind sie dann? Wahrscheinlich die Reportation eines Kursus, der von einem Anhänger des Boethius abgehalten wurde, nachdem dessen Ansichten vom Pariser Bischof verdammt worden waren. Der Lehrer hat Boethius' Quaestiones benutzt. Um aber dem bischöflichen Verbot, die Lehre des Boethius auszubreiten, zu umgehen, hat er gezeigt, daß die zentralen boethianischen Passagen nicht aus seiner Feder stammten. Das Ergebnis ist ein Buch, das des Boethius Lehre zur Physik enthält und teilweise auch dessen Formulierungen. Die Herausgeber des Corpus haben beschlossen, daß dies zureichend sei, um den Text im Corpus zu veröffentlichen. Diesem Präzedens folgend werden wir auch bald einen anonymen Kommentar zur Aristotelischen Metaphysik veröffentlichen. Denn es gibt Quaestiones, die sowohl aus stilistischen als auch aus inhaltlichen Gründen von Boethius stammen müssen, obwohl die meisten der darin vorkommenden Quaestiones kaum etwas mit ihm zu tun haben.

3. Die Präfationssprache Die Sprache der Präfationen war drei Jahrzehnte lang ein Problem. Dänisch zu schreiben, wäre zu provinziell. Die ersten Herausgeber waren ja Deutsche, aber hier war die Grenze der dänischen Toleranz. Man konnte nicht zehn Jahre nach der deutschen

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Besetzung das nationale Erbe Dänemarks auf deutsch präsentieren. Das Latein der zwei Jesuiten war nach Ansicht des Professors der Klassischen Philologie, der die Aufsicht über die Arbeit führte, zu schlecht. Englisch schied aus, weil derselbe Professor diese Sprache als vulgär ansah. Übrig blieb nur das noble Französisch, und so kam es, daß dreißig Jahre lang die Herausgeber Präfationen in gutem Dänisch oder Deutsch schrieben, die dann in schlechtes Französisch übersetzt und dann auch so gedruckt wurden. Erst als ich die Leitung der Reihe übernahm, gab der alte Professor seinen Widerstand gegen das vulgäre Englisch auf. Es mag vulgär sein, aber verwendet man Latein, Französisch, Deutsch, Spanisch oder Italienisch, verliert man einige potentielle Leser, und schließlich schreiben wir ja Präfationen, damit sie gelesen werden. 4. Welche Art Edition? Mein Eindruck ist, daß die Gründer des Corpus kaum ein Bewußtsein von dem Problem gehabt haben, das mit der Frage „Welche Art Edition wollen Sie machen?" verbunden ist. Hätte man sie gefragt, hätten sie gewiß „eine kritische" geantwortet, und sie hätten dabei an eine ähnliche Edition wie die Teubner editio maior von Cicero gedacht. Die Gründer des Corpus waren sich dennoch nicht der speziellen Probleme unbewußt, die Texte aus dem arfes-Milieu aufwerfen. Das Einfachste, und doch so Komplizierte ist die „textuelle Identität". Wir haben zum Beispiel zwei sehr verschiedene Versionen eines Sophisma des Boethius. Die eine ist anonym, die andere trägt seinen Namen, und ich glaube, daß die eponyme Version seine Gedanken am treusten wiedergibt, aber sicher kann ich mir dessen nicht sein. Ich habe deshalb beschlossen, die beiden Versionen als verschiedene, obwohl nahe verwandte Texte anzusehen, und ich ediere beide, indem ich immer, wenn der Text der einen Version zerstört ist, die andere als Quelle von wahrscheinlichen Emendationen verwende. Es geht dabei um große Unterschiede, oft handelt es sich aber auch um Kleinigkeiten. Man kopiert einen Klassiker, um dem Leser eine genaue Wiedergabe seiner Worte zu liefern, so daß etwa Cicero in jeder Kopie genau Quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? sagt, und nicht etwa Quamdiu, Catilina, patientiae nostrae abusum facturus es? Der Klassiker wird sowohl wegen seines Stils als auch wegen seiner Gedanken gelesen; also muß der Kopist auch in Kleinigkeiten der Vorlage treu sein; eine Worttransposition wäre ein Fehler. Mit Universitätstexten aus dem Umfeld der aries-Fakultät verhält es sich jedoch anders. Sie dienen der Kommunikation von Argumenten und sind nicht von stilistischer Eleganz. Transpositionen und Synonymvertauschungen, die nichts an der Argumentation des Textes ändern, sind nicht als Fehler anzusehen. Der Kopist ist seiner Vorlage treu, solange er ihre inhaltliche Information beibehält. Er kann ergo durch quare und praedicatur durch potest praedicari ersetzen und noch mehr. Das ist nicht von Belang. Wenn wir zwei Exemplare eines Textes haben, finden wir immer eine große Anzahl solcher Unterschiede.

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Unter diesen Umständen ist es meistens aussichtslos, herausfinden zu wollen, welche von zwei oder mehreren insignifikanten Varianten vom Verfasser bevorzugt worden ist. Wenn nicht ein umfangreicher kritischer Apparat mitgegeben werden soll, worunter das Wichtige unter dem Müll begraben wird, so ist es notwendig, Regeln aufzustellen, welche Lesart in solchen Fällen gewählt wird, die gedruckt werden soll, während man die übrigen der Vergessenheit übergibt, indem man grundsätzlich solche Variation als ohne Belang für die Identität des Textes ansieht. Natürlich muß man dann auch in der Präfation so genau wie möglich beschreiben, welche Typen von Varianten auf diese Weise behandelt werden. Die Väter des Corpus haben vernünftigerweise triviale Varianten aus dem kritischen Apparat verwiesen, aber sie gaben nur dürftige Auskünfte über ihre Arbeitsmethode. Das hat sich in den späteren Bänden geändert, als man immer methodenbewußter wurde.

5. Welches ist das intendierte Publikum? Die Gründer des Corpus haben kaum daran gedacht, daß die Ausgabe auch für ein Publikum konzipiert sein muß. In der Praxis aber haben sie Editionen für Philosophiehistoriker und Wissenschaftsgeschichtler gemacht, und mit wachsendem Methodenbewußtsein sind unsere Bände zielgerichteter geworden. Die ersten Bände bieten dem Leser den Text in einer Rechtschreibung an, die gewissermaßen als mittelalterlich charakterisiert werden kann. Später hat man eine klassische Standardorthographie durchgeführt. Wie man im 13. Jahrhundert buchstabierte ist denjenigen, die sich mit dem Inhalt der Texte beschäftigen, gleichgültig, und den meisten von ihnen ist es ohnehin mühevoll genug, Latein zu lesen. Man kommt ihnen nicht entgegen, indem man sie auch zwingt, mit orthographischen Rätseln zu ringen. Es ist unmöglich, eine Totalität an Information der Quelle beizugeben, denn es gibt keine Vollständigkeit der Informationen. Der Herausgeber muß jeweils auswählen, und welche Auslese er bevorzugt, muß davon abhängen, welchen Rezipienten er bedienen will. Man kann nicht allen Herren gleichzeitig dienen. Um das unsrige Publikum zu bedienen, ist es also wichtig, einen Text zu bieten, der die Begriffe und die Argumentation des Autors klar herausstellt. Deshalb machen wir uns die Mühe, die argumentative Struktur deutlich hervorzuheben, indem wir ζ. B. Argumente auf eine Weise numerieren, die unter anderem zeigt, welche Argumente von welchen beantwortet werden. Wir versuchen auch stark unleserliche Stellen durch Konjektur zu verbessern, und wenn wir eine Lakune festgestellt haben, versuchen wir das Verlorene wiederherzustellen; wenn wir den Wortlaut bis auf einige Details rekonstruieren zu können glauben, setzen wir sogar das Rekonstruierte in den Text, indem wir denken: „Wenn der Autor nicht dies geschrieben hat, hat er etwas geschrieben, das so ähnlich war, daß ein mittelalterlicher Kopist kein Bedenken haben würde, es in unserer Weise wiederzugeben." Konjekturale Eingriffe in die Überlieferung werden natürlich genau in dem kritischen Apparat und mithilfe von kritischen Parenthesen beschrieben. Wir setzen aber keine exegetischen Zusätze in den Text das zu tun ist eine Unsitte!

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6. Kommentar oder nicht? Man könnte sagen: „Wenn Ihr die Philosophie- und Wissenschaftshistoriker bedienen wollt, solltet Ihr doch die Ausgaben mit Übersetzung und Kommentar versehen." Auf Übersetzungen müssen wir aus praktischen Gründen verzichten. Wir sind immer sehr wenige Herausgeber gewesen, und es bleibt uns keine Zeit für die Übersetzung, die zudem in einer Sprache abgefaßt werden muß, die nicht unsere Muttersprache ist. Dänisch versteht ja keiner. Was den Kommentar anbelangt, so besteht unsere Politik darin, keinen solchen dem Text beizufügen, weil für die Ausgaben eine lange Lebenszeit vorgesehen ist 100 Jahre oder noch mehr. Dann darf der Text nicht mit einem Kommentar belastet werden, der wahrscheinlich nach einer Generation veraltet sein wird. Ich habe einmal eine Ausnahme gemacht. Das Hexaemeron des Andreas Sunesen ist ohne Kommentar keinem Leser verständlich. Es handelt sich um ein aus den 1190er Jahren stammendes, 8040 Hexameter langes Resümee einer prosaischen summa quaestionum theologiae. Das Werk ist offensichtlich für Leser geschrieben, denen die Prosaquaestiones schon bekannt waren, so daß sie viele Informationen, die vom Dichter ausgelassen wurden, selbst hinzufügen konnten. Nur ein detaillierter Kommentar kann einem heutigen Leser die Argumentation verständlich machen. Dabei habe ich aber einen großen Fehler gemacht. Es gab schon eine Ausgabe aus dem Jahre 1892, die mit einem hervorragenden Kommentar in lateinischer Sprache versehen war. Es wäre ein Lebenswerk gewesen, ihn durch einen neuen zu ersetzen. Er bedarf nur einiger Korrekturen, kleinerer Zusätze und der Ausfüllung von zwei großen Lücken, denn mein Vorgänger hatte darauf verzichtet, die Abschnitte über die Trinität und die Christologie zu erläutern. Das war eine kluge Strategie, denn im späten 19. Jahrhundert besaß niemand das notwendige Wissen, um es richtig zu machen. In den 1980er Jahren war die Situation aber eine andere. Also habe ich den alten lateinisch abgefaßten Kommentar nachdrucken lassen und durch 67 dicht beschriebene Seiten in derselben Sprache ergänzt. Das war jedoch sinnlos, wie sich gezeigt hat. Der sehr interessante Text Andreas Sunesens und meine sehr interessanten Erläuterungen werden fast niemals benutzt. Diejenigen, die mittelalterliche Theologie, Logik und Semantik erforschen wollen, sind selten bereit, einen außerordentlich schwer verständlichen lateinischen Text zu verwenden, wenn das einzige Hilfsmittel ein lateinischer Kommentar ist. Hätte ich den Kommentar doch in der englischen Sprache geschrieben!

Die Wirkung, oder: Wozu das alles? Das dänische Corpus hat Durchschlagskraft gehabt - manche Bände mehr als andere. Wie gesagt, hat Andreas Sunesen nicht die Aufmerksamkeit erregt, die sein Text an sich verdient, weil von meiner Seite nicht genug getan wurde, um ihn den Interessenten zu eröffnen. Die „sprachlogischen" Texte von Martinus de Dacia, Boethius de Dacia und anderen haben dagegen viele Leser gefunden, insbesondere, weil Jan Pinborg während der Editionsarbeit die ganze Geschichte der mittelalterlichen Sprach-

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theorie untersuchte und das erste seriöse Buch darüber schrieb, das 1967 in deutscher Sprache veröffentlicht wurde und später durch mehrere Aufsätze in deutscher und englischer Sprache ergänzt wurde.1 Nach Pinborg sind bedeutsame, die dänische Tradition weiterführende und ζ. T. korrigierende Studien zu mittelalterlichen Sprachtheorien besonders in Frankreich und Italien erschienen.2 Ähnlich wie Pinborgs Ausgaben der sprachtheoretischen Schriften durch weitere ausgreifende Studien der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, ist meine eigene Ausgabe eines anonymen Quaestio-Kommentars zu Aristoteles' Sophistischen Widerlegungen (Sophistici Elenchi) durch weitergehende - meist englisch geschriebene Studien zur Geschichte der griechischen und lateinischen Kommentarliteratur zu dieser Schrift unterstützt worden, und er ist deshalb viel mehr gelesen worden, als man sonst hätte erwarten können.3 Auf ähnliche Weise ist auch N. J. Green-Pedersen verfahren, der, um Boethius' Quaestiones zur aristotelischen Topik herausgeben zu können, sämtliche mittelalterliche Topik-Kommentare studierte. Seine monumentale, englisch abgefaßte Habilitationsschrift fördert seit zwei Jahrzehnten die Forschung auf vielen Gebieten der Philosophiegeschichte.4 Weil ich die Sophismata des Boethius herauszugeben habe und nur zwei äußerst schlechte Handschriften zur Verfügung habe, habe ich die ganze Sophisma-Literatur des 13. Jahrhunderts untersuchen müssen, um die Konventionen und die Allgemeinplätze dieses bisher wenig bekannten Genres kennenzulernen. Das hat Jahrzehnte gedauert und als Nebenprodukt nicht nur Aufsätze und Ausgaben von mir hervorgebracht, sondern auch Studien von anderen Forschern, und es hat dazu beigetragen, daß ein dreijähriges groß angelegtes Forschungsprojekt „Sophismata" in der Schweiz vor kurzem durchgeführt werden konnte. Binnen eines Jahres hoffe ich in Zusammenarbeit mit einem jüngeren Franzosen, Frederic Goubier, einen Katalog von ungefähr 3000 Sophismata des 13. Jahrhunderts veröffentlichen zu können. Boethius de Dacia ist zweifelsohne der Interessanteste unserer Philosophie. Er hat nicht nur Großes auf dem Gebiet der Sprachtheorie geleistet, er hat eine ganze Philosophie entwickelt, die zu den Höhepunkten des scholastischen Denkens gehören. Forscher aus aller Welt beschäftigen sich mit ihm, indem sie unser Corpus benutzen. Eine mittelalterliche Kurzfassung seines sprachtheoretischen Hauptwerkes ist ins

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Jan Pinborg: Die Entwicklung der Sprachtheorie im Mittelalter. Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters 42.2, Münster 1967. Von den vielen späteren Arbeiten sei genannt Speculative Grammar. In: Ν. Kretzmann, J. Pinborg und N.Kenny: The Cambridge History of Later Medieval Philosophy, Cambridge 1982, S. 254-269. Irene Rosier: La grammaire speculative des Modistes, Lille 1983. Viele spätere Arbeiten von derselben Verfasserin, ζ. Β. I. Rosier-Catach: Modisme. In: S. Ebbesen und R. L. Friedman: Medieval Analyses in Language and Cognition. Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab. Historisk-filosofiske Meddelelser 77, Copenhagen 1999, S. 445-^t81. Costantino Marmo: Semiotica e linguaggio nella scolastica: Parigi, Bologna, Erfurt 1270-1330. Roma 1994. Sten Ebbesen: Commentators and Commentaries on Aristotle's Sophistici Elenchi. Α Study of PostAristotelian Ancient and Medieval Writings on Fallacie. Corpus Latinum Commentariorum in Aristotelem Graecorum VII. 1-3. Leiden 1981. Auch viele frühere und spätere Veröffentlichungen zum Thema. Niels Jörgen Green-Pedersen: The Tradition of the Topics in the Middle Ages. The Commentaries on Aristotle's and Boethius' .Topics'. München / Wien 1984.

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Englische Ubersetzt worden 5 , und von seinen beliebtesten Werken (De summo bono, De aeternitate mundi) gibt es Übersetzungen in verschiedene Sprachen. Niemand kann heute eine Geschichte der Philosophie des 13. Jahrhunderts schreiben, ohne Boethius zu beachten. Im Vaterland des Corpus habe ich vor einigen Jahren eine Geschichte der dänischen Philosophie des Mittelalters veröffentlichen können. 6 Obwohl ich meinen Lesern ehrlich gestehe, daß das Dänischtum in diesem Zusammenhang eigentlich uninteressant ist, hat das Buch doch eine gewisse Aufmerksamkeit erregt und damit dazu verholfen, die scholastische Philosophie, die sonst in Dänemark beinahe unbekannt ist, zu Ehren zu bringen. Es ist alles nicht umsonst gewesen!

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A. Charlene Senape McDermott, tri.: Godfrey of Fontaine's Abridgement of Boethius of Dacia's Modi Significandi sive Quaestiones super Priscianum Maiorem. Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science. Series III - Studies in the History of Linguistics vol. 22. Amsterdam 1980. Sten Ebbesen: Dansk middelalderfilosofi ca. 1 1 7 0 - 1 5 3 6 (= S. Ebbesen und C.H. Koch: Den Danske Filosofis Historie 1). K0benhavn 2002.

Rudolf

Schieffer

Die Erschließung der historischen Quellen des Mittelalters: alte Probleme und neue Entwicklungen1

Nach einer uralten Metapher sind Quellen der Rohstoff des Historikers ebenso wie natürlich des Philosophen, Theologen, Philologen. Was gemeinhin eher trocken daherkommt, stellen wir uns gern als etwas Flüssiges, Lebendiges vor. Quellen muß man erst einmal suchen, man kann ihnen nachgehen, ihr Vorhandensein erschließen und wird sie am Ende hoffentlich finden. Bevor man aus ihnen trinkt, sollte man Quellen kritisch prüfen, denn sie könnten getrübt sein und erst nach der Beseitigung von Verunreinigungen zu den lauteren Quellen werden, die man sich wünscht. Manche Quellen plätschern munter dahin und vereinigen sich bald mit anderen zu einem respektablen Strom, der noch allerhand Weiteres mit sich reißt; andere dagegen treten bloß als dünnes Rinnsal in Erscheinung und versiegen auch wieder, ohne nennenswerte Fruchtbarkeit entfaltet zu haben. Quellen müssen zunächst eingefaßt, ja aufbereitet und reguliert werden, bevor man sich sozusagen fest auf sie verlassen, sie also immer wieder mit berechenbarer Aussicht auf Erfolg ausschöpfen kann. Dabei sind die Geländeverhältnisse ebenso wie die Strömungsrichtung zu bedenken, und es empfiehlt sich, von Zeit zu Zeit nachzuschauen, ob die konstruierte Fassung noch die angemessene ist. In manchen Fällen mag sie sich als geradezu unverwüstlich erweisen, in anderen dagegen stellen sich rasch Reparaturen als erforderlich heraus, wenn nicht gar ein völliger Neubau des Bassins. Der Mühe wert erscheint dies allemal, denn ohne gesicherte Quellen sieht es gemeinhin finster aus, spricht man doch gern sogar von einem „Licht der Quellen" als Voraussetzung der Erkenntnis, dem folgerichtig die Finsternis der Quellenferne oder Quellenleere gegenübersteht, in der nur noch Modelle und Phantasie weiterhelfen. Aus alldem wäre zu lernen, daß der methodenbewußte Quellenforscher vor allem eines nicht sein darf, nämlich wasserscheu.

Öffentlicher Abendvortrag im Rahmen der Internationalen Tagung „Editionen - Wandel und Wirkung", gehalten im Festsaal der Universität Bonn am 21. Februar 2005; die Redeform ist beibehalten. Der Text berührt sich streckenweise mit den folgenden früheren Beiträgen: Rudolf Schieffer: Neuere regionale Urkundenbücher und Regestenwerke. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127, 1991, S. 1-18; ders.: „Die lauteren Quellen des geschichtlichen Lebens" in Vergangenheit und Zukunft. In: Mittelalterforschung nach der Wende 1989. Hrsg. von Michael Borgolte. München 1995 (Historische Zeitschrift. Beiheft 20), S. 239-254; ders.: Die Erschließung des Mittelalters am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica. In: Quelleneditionen und kein Ende? Hrsg. von Lothar Gall und Rudolf Schieffer. München 1999 (Historische Zeitschrift. Beiheft 28), S. 1-15; ders.: Zur derzeitigen Lage der Diplomatik. In: Diplomatische Forschungen in Mitteldeutschland. Hrsg. von Tom Graber. Leipzig 2005 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 12), S. 11-27. Vgl. im übrigen die jährlichen Berichte des Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica in: Deutsches Archiv fiir Erforschung des Mittelalters, zuletzt 61, 2005, S. I-XIV.

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Nun, im wissenschaftlichen Alltag kommt uns der abgegriffene Bildcharakter gar nicht mehr zum Bewußtsein, wenn wir als Quellen Texte der Vergangenheit bezeichnen, die nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen, sondern einer spezifischen Bemühung bedürfen, um, aus der historischen Überlieferung herauspräpariert, ihre Fruchtbarkeit zur Geltung zu bringen. Ihre kritische Bereitstellung in Form von Texteditionen, Regestenwerken oder thematischen Sammlungen erfüllt ein Grundbedürfnis der Zunft und hat seit jeher entscheidend zur Verwissenschaftlichung des Umgangs mit Geschichte beigetragen. Durch große Quellenpublikationen sind ganze Forschungsfelder eröffnet worden, ebenso wie umgekehrt neue Fragen und Ziele der Historiker immer wieder die Aufbereitung der dafür erforderlichen Quellen veranlaßt haben. Die Fülle dessen, was im Laufe vieler Generationen in dieser Hinsicht geleistet wurde, ist beeindruckend, und längst stellt es ein Problem eigener Art dar, einen vollständigen Überblick über das gedruckt zur Verfügung stehende Material zu gewinnen. Und ständig muß man sich mehr einprägen. Allein aus den Jahren seit 2000 erreicht uns beispielsweise aus England die Nachricht von acht weiteren Bänden der English Episcopal Acta des 11.-13. Jahrhunderts, von erneuten Fortschritten beim Anglo-Saxon Chronicle oder von einer Edition des Geschichtsschreibers Symeon von Durham, aus Frankreich eine Neuausgabe der Touler Vita Papst Leos IX. oder der Abschlußband der Ausgabe der Urkunden König Philipp Augusts, aus Belgien neue Bände mit den Weltchroniken Isidors von Sevilla oder Frechulfs von Lisieux, aus Italien die wichtige Edition der ältesten Urkunden des Rechtslebens der Stadt Bologna aus dem 11. Jahrhundert oder die Chartular-Chronik von Santa Sofia in Benevent. Wenn ich daneben unbescheidenerweise die 25 editorischen Publikationen größeren und kleineren Formats erwähnen darf, die die Monumenta Germaniae Historica in den letzten fünf Jahren herausgebracht haben, so seien daraus als besonders prominente Specimina doch die kritische Neubearbeitung der Urkunden der Merowinger und der erste Band der Diplomata Kaiser Friedrichs II., die dreibändige Ausgabe der niederdeutschen Glossen zum Landrecht des Sachsenspiegels aus dem 14. Jahrhundert oder auch die zuvor noch nie im ganzen gedruckte Chronica regum Romanorum des Thomas Ebendorfer von 1451 hervorgehoben. Aber wir sind natürlich nicht die einzigen, die in dieser Hinsicht hierzulande tätig sind, sondern befinden uns in freundlicher Nachbarschaft zum Göttinger Papsturkundenwerk, das seine gedruckte Dokumentation aller Romkontakte deutscher Kirchen vor 1198 neuerdings auf die Bistümer Utrecht, Münster, Osnabrück, Minden, Paderborn und Verden ausweiten konnte, wie auch mit dem Deutschen Historischen Institut in Rom, das soeben sein Repertorium Germanicum, die Aufbereitung sämtlicher Hinweise auf Personen aus dem deutschen Reich in den päpstlichen Registerbänden, für den Zeitraum von 1378 bis 1471 in geschlossener Serie vollendet hat. Ich breche ab, um Sie nicht mit einer noch längeren Aufzählung von Namen und Werken zu ermüden, aber es lag mir daran, Ihnen doch zunächst den Eindruck einer gewissen Fülle an mediävistischen Quellenpublikationen auch in unseren Tagen zu vermitteln. Natürlich kenne ich genug Gegenbeispiele von mühsam sich hinschleppenden, vermutlich nie zum glücklichen Ende gelangenden Projekten, die begreiflicherweise eine abschreckende Wirkung auf die nachwachsenden Adepten unserer

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Zunft ausüben. Alle gelungenen Vorhaben jedoch, von denen sich noch manche mehr hätten benennen lassen, sind geeignet zu zeigen, daß es ihre Bearbeiter verstanden haben, die Schwierigkeiten zu meistern, die seit jeher mit der Aufbereitung von Quellen für die historische Forschung verbunden sind. Ich meine damit nicht die Gebote der kritischen Umsicht und Sorgfalt in allen Details, die doch wohl für jedwedes Bemühen gelten, das wissenschaftlich genannt zu werden wünscht. Die spezifische Problematik erwächst eher daraus, daß der Quellenbearbeiter nicht von einem subjektiven Erkenntnisinteresse, sondern von der objektiven Beschaffenheit der Sache auszugehen hat, die er sich vornimmt. Nicht die hundert interessantesten Diplome eines Herrschers sind zu edieren oder für ein Regestenwerk einzurichten, sondern tunlichst alle nur irgendwie erreichbaren, weil erst dann die methodische Chance des Vergleichs zwischen sämtlichen Stücken genutzt werden kann und die Dokumentation den für viele historische Schlußfolgerungen erforderlichen Grad an Verläßlichkeit erlangt. Entsprechendes gilt von der Prüfung aller Handschriften eines kopial erhaltenen Textes (auch wenn als Konsequenz aus gründlicher Analyse später nicht jede ermittelte Lesart tatsächlich dargeboten wird), es gilt von der geduldigen Reinigung der Überlieferung von entstellenden Fehlern der Abschreiber, es gilt von der gleichmäßig intensiven Kommentierung, die kein ungewöhnliches Wort und keinen unklaren Sachverhalt ausläßt, und es gilt am Ende auch noch von durchdachten Registern, die dem Benutzer den Inhalt und die Eigenart des edierten Textes sozusagen mundgerecht darbieten sollen. Ob die exakten Zentimetermaße einer Originalurkunde, die kleine Unstimmigkeit in ihren Datumsangaben oder die irreguläre Schreibweise eines Ortsnamens, die der Bearbeiter eines Urkundenbuches gewissenhaft ermittelt und festhält, jemals einem künftigen Forscher zum Baustein seiner historischen Argumentation werden wird, ist ganz ungewiß und in sehr vielen Fällen eigentlich unwahrscheinlich, und doch muß dafür penible Sorgfalt aufgewandt werden, weil schon genug Untersuchungen vorgelegt worden sind, in denen scheinbar nebensächliche Details dieser Art plötzlich den Ausschlag für unverhoffte Einsichten gegeben haben. In den Postulaten der Vollständigkeit und der allseitigen Ausgewogenheit der angebotenen Information manifestiert sich der dienende Charakter, der jeder kritischen Bereitstellung von Quellen eigen ist und gern mit der Vokabel „entsagungsvoll" bedacht wird. Nur wenn der Bearbeiter mit sachgerechter Gründlichkeit alle Fragen geklärt hat, die für die Einschätzung des jeweiligen Quellenbestandes von Belang sind, darf ja der spätere Benutzer seiner Ausgabe darauf vertrauen, den Text normalerweise ohne eigene erneute Grundlagenforschung verwerten zu können. In diesem umfassenden Anspruch liegt zweifellos nicht bloß ein fühlbares Hemmnis für die exakte zeitliche Vorausplanung und ein Grund für das gelegentliche Ausufern von Projekten solcher Art, sondern im Extremfall sogar das Risiko des völligen Scheiterns. Im Umgang mit Doktoranden, die sich für kleinere Editionsaufgaben gewinnen ließen, habe ich sowohl erlebt, daß der Vergleich von mehr als 30 Handschriften eines Textes die gemeinsame Abhängigkeit von einem einzigen erhaltenen Exemplar zutage förderte, was die anschließende Textkonstitution dann radikal vereinfachte und beschleunigte, als auch daß bei der Analyse eines offenbar aus wenigen bekannten Vorlagen kompi-

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Herten Chroniktextes ein längeres Teilstück ohne überlieferte Vorlage zum Vorschein kam und die mühsame Kommentierung jeder einzelnen Nachricht erforderlich machte, woran der Kandidat dann gescheitert ist. Worauf man sich einläßt, enthüllt sich in seiner realen Größenordnung bei jeder Ausschöpfung ungehobener Quellenschätze erst im Verlauf der Arbeit selbst und kann positive ebenso wie negative Überraschungen in sich schließen. Insoweit hätte man die zeitlosen Herausforderungen bei der Quellenbearbeitung genauso schon vor hundert Jahren beschreiben können, als diese Form der Geschichtsforschung nach verbreiteter Anschauung in höchster Blüte, jedenfalls aber in selbstverständlicherer Wertschätzung stand als heute. Wenn wir uns fragen, was sich seit den Tagen Theodor Mommsens und Paul Fridolin Kehrs geändert hat, so sind es nicht die methodischen Grundlagen unseres auf Quellen gestützten und damit auf deren optimale Zugänglichkeit angewiesenen Faches, sondern die Prioritäten unserer Arbeitsziele, worin wir aufgehört haben, Kinder des 19. Jahrhunderts zu sein. Im Verhältnis zur ungleich höheren Anzahl derer, die heute in Deutschland an Universitäten, Archiven, Bibliotheken und Schulen ihr Brot als forschende oder vermittelnde Historiker verdienen, ist die Zahl der quellenerschließenden Forschungsvorhaben (und erst recht der fertig gewordenen Publikationen dieser Art) in den letzten hundert Jahren eher zurückgegangen als angewachsen. Anders ausgedrückt: Bei aller grundsätzlichen Anerkennung für die Ergebnisse solcher Arbeit ist die Bereitschaft, sich aus eigenem Bemühen an deren Fortführung zu beteiligen, sicherlich rückläufig und droht angesichts des endlichen Zeitbudgets, mit dem ein jeder von uns auszukommen hat, noch weiter zugunsten anderer lohnender und lockender Aufgaben zu schwinden. Der Beweggründe gibt es genug. Die Sorge vor der schwer beherrschbaren Langwierigkeit spielt dabei eine gehörige Rolle, bietet doch der kurzatmige Wissenschaftsbetrieb von heute mit seinen zahllosen Tagungen, Sammelbänden und Vortragsveranstaltungen reichlich Gelegenheit zu rascheren Publikationserfolgen und einem dementsprechend zügig anwachsenden Schriftenverzeichnis. Dazu kommt, daß man mit der geduldigen Mühe des Edierens oder Verfertigens von Regesten kaum auf nennenswerte Breitenwirkung hoffen kann, wie sie mit anders angelegter gelehrter Arbeit durchaus zu finden ist, denn die gewichtigen Bände, die schließlich zustande kommen, sind nun einmal auf einen begrenzten Kreis von Fachleuten zugeschnitten und mehr zum Nachschlagen als zum Lesen geeignet. Obendrein müssen ihre Urheber fürchten, als Forscherpersönlichkeiten nicht für voll genommen zu werden, leisten sie doch scheinbar ohne sonderliche Originalität nur das, was jeder andere nach den altbekannten Regeln der Editionskunst ebenso zuwege bringen würde, - ein Vorurteil, wie ich gleich hinzufügen möchte, das verkennt, wieviel Spielraum über das rein Handwerkliche hinaus eine anspruchsvolle Editionsaufgabe dem Sprachgefühl, dem Textverständnis, dem Assoziationsvermögen, der Findigkeit ihres Bearbeiters gewährt. Und selbst wenn jemand allen Anforderungen gerecht geworden zu sein meint, droht ihm nicht selten ein ungnädiges Urteil der Fachkritik, weil die Erwartungen an eine gelungene Quellenpublikation mit der Zeit immer weiter in die Höhe geschraubt worden sind und sich anders als im 19. Jahrhundert heute längst nicht mehr in der zuverlässigen Rekonstruktion eines Textes erschöpfen, sondern, mit Recht natürlich,

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auch auf die Verarbeitung der jeweiligen Forschungsgeschichte, die Ausschlachtung der reichlich verfügbar gewordenen Konkordanzen und Nachschlagewerke wie überhaupt das immer breiter gewordene Spektrum absehbarer Benutzerwünsche erstrecken. Da das Bessere bekanntermaßen der Feind des Guten ist, hat der Hang zur Perfektionierung schon manchen Quellenforscher weit vor der Zielgeraden den Mut sinken lassen. Doch auch dies ist nicht das Entscheidende, wenn man sich bewußt zu machen sucht, warum die Vermehrung des kritisch aufbereiteten Quellenbestandes heutzutage Gefahr läuft, zur Sache von immer weniger hochgradigen Spezialisten eher am Rande als im Zentrum der Fachwelt zu werden. Dafür bestimmend ist vielmehr der vorherrschende Eindruck, daß dank dem Fleiß und dem Scharfsinn der Generationen vor uns längst Beträchtliches zur editorischen Erschließung oder doch wenigstens zur regestenmäßigen Erfassung der Quellen für wesentliche Bereiche zumal des frühen und hohen Mittelalters vollbracht worden ist und daß nicht Weniges davon als tatsächlich abschließende Leistungen betrachtet werden darf. Die Gewöhnung an ein hohes Niveau der gedruckt zugänglichen Quellenaufbereitung bringt es mittlerweile mit sich, daß es höchst respektable und produktive Fachkollegen gibt, die sich in ihren Veröffentlichungen ausschließlich auf ediertes Material zu beziehen pflegen und für ihre konkreten Forschungen die elementaren Arbeitstechniken der Paläographie oder der Diplomatik faktisch gar nicht mehr benötigen. Damit werden diese Disziplinen in gewissem Sinne zum Opfer ihrer eigenen Erfolge, denn einerseits belegt die Entwicklung natürlich gerade, daß die Vielzahl der vorliegenden Quellenpublikationen ihren beanspruchten Zweck erfüllt, die historische Forschung auf mannigfache Weise anzuregen und weiterzutreiben. Insofern kann es gar nicht anders sein, als daß sich im Laufe der Generationen der Schwerpunkt von der Präsentation der Befunde zu deren immer tiefer schürfenden Auswertung verlagert. Andererseits ist es nicht unbedenklich, daß im selben Maße, wie immer weitere Bereiche der Überlieferung als abschließend bearbeitet erscheinen, Neigung und Veranlassung schwinden, sich die dazu verwendeten Methoden noch ausdrücklich zu eigen zu machen und auf weitere Quellenkomplexe, die ihrer bedürfen, zu adaptieren. Neuerdings ist sogar, zumindest in Randzonen unseres Faches, eine ziemlich irritierende Leichtfertigkeit etwa in Fälschungsverdikten zu beobachten, die sich um bestimmter Beweisziele willen bedenkenlos über die formalen Aspekte des Materials hinwegsetzt und eigentlich einen Rückfall in vorwissenschaftliche Zeiten bedeutet. Der Wandel der Maßstäbe, der sich natürlich nicht abrupt vollzieht, ist an vielen Symptomen zu erkennen. So meine ich seit längerem zu beobachten, daß selbst in wissenschaftlich durchaus ernstzunehmendem Schrifttum die Beachtung des Gebotes nachläßt, sich bei jedem Quellenbeleg auf die jeweils maßgebliche kritische Edition zu beziehen, und stattdessen Nachweise von deutschen Übersetzungen oder - seit deren elektronischer Erschließung - vermehrt auch aus Mignes durchweg veralteter Patrologia Latina um sich greifen. Der Rückgang der hilfswissenschaftlichen Ausbildung, die man an deutschen Universitäten bei Sparzwängen am ehesten zu opfern geneigt ist, steigert sich mittlerweile mancherorts zur Bereitschaft, ganz auf Lateinkenntnisse beim Geschichtsstudium und damit auf eine ernsthafte Auseinanderset-

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zung mit den Quellen zu verzichten, um keine Einbußen der Studentenzahlen erleiden zu müssen. Sind wir, ungewollt zumindest, auf dem Wege zu einer historischen Mediävistik, die Quellen bloß noch aus gedruckten Büchern (bzw. deren elektronischen Derivaten) kennt und für ihre Debatten hinreichend Stimulanz in der aus den immer gleichen Quellen geschöpften Literatur zu finden glaubt? Unverkennbar jedenfalls macht sich der Zweifel an der Dignität des Bemühens um „neue" Quellen oder die verbesserte Präsentation bekannter Quellen auch dort bemerkbar, wo es bei der Verteilung von Mitteln der Forschungsförderung um die wertende Abwägung zwischen verschiedenen Arbeitsweisen und Erkenntniszielen geht. Da kann es durchaus geschehen, daß in Gutachten hin und her gewendet wird, ob Vorhaben zur Erschließung und Publikation von Quellen nach hinlänglich bewährtem Muster heute eigentlich noch zeitgemäß und notwendig seien oder nicht doch innovativeren, auf thesenhaft sich abzeichnende Ergebnisse ausgerichteten Forschungen das Geld vorenthalten würden. Daß es eher des Historikers Beruf sei, bestimmte Fragen zu stellen und nach bestem Vermögen zu beantworten, als bloß das Material aufzubereiten, damit andere dergleichen tun, ist sichtlich eine geläufige Einschätzung und in dieser alternativen Zuspitzung ebenso wenig von der Hand zu weisen wie der Vorwurf, daß manche an sich hochbedeutende Forscher früherer Generationen allzu leicht die Quellenkritik mit dem historischen Erkennen schlechthin in eins gesetzt hätten. Der Legitimationszwang, der von skeptischen Rückfragen der angedeuteten Art ausgeht, braucht für die traditionsreiche Quellenforschung nicht unbedingt von Übel zu sein, wenn er dazu verhilft, im weiten Feld denkbarer Aufgaben Wesentliches und Dringliches von weniger gut Begründbarem zu unterscheiden, genauer gesagt: die vermeintlich zweckfreie Bemühung bloß um die Überlieferung und die auf bestimmte Inhalte abzielende Projektforschung in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu sehen. Denn an Editionen, Regesten usw. wird selbstverständlich vor allem gebraucht, was den tatsächlich gestellten Fragen der Historiker entspricht, und neue thematische Ansätze sind zumal dann aussichtsreich, wenn das passende Quellenangebot bereitgestellt werden kann. Dieser klärenden, um nicht zu sagen: heilsamen innerfachlichen Funktion des Disputs steht freilich eine recht bedenkliche trivialisierende Breitenwirkung gegenüber, die im maßgeblichen Milieu der deutschen Forschungspolitik zu einer grundsätzlichen Aversion gegen alle Langfristigkeit geisteswissenschaftlicher Grundlagenforschung zu fuhren droht und nicht bloß die Bearbeitung größerer Quellencorpora, sondern auch Wörterbücher, Sachlexika und Bestandsverzeichnisse der verschiedensten Art betrifft. Abgeleitet vom ziemlich kurzfristigen Aktualitäts- und Projektbegriff der naturwissenschaftlichen Forschung, wird immer lauter die Berechtigung (oder zumindest die Berechtigung der öffentlichen Finanzierung) von Jahrzehnte und Generationen übergreifenden Unternehmungen der planmäßigen Quellenerschließung bestritten und ihre beschleunigte Beendigung gefordert, mitunter auch erzwungen. Die Monumenta Germaniae Historica in München sehen sich dank ihrem Rechtsstatus von dieser Entwicklung einstweilen nicht gefährdet, registrieren aber mit Sorge die zunehmenden Pressionen und Einschränkungen, denen das Förderprogramm des Bundes und der Länder Air längerfristige Forschungsvorhaben an den Akademien der

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Wissenschaften ausgesetzt ist, weil dabei gleich mehrere prominente Kooperationsprojekte mit den Monumenta auf dem Spiel stehen. Die massive Reduzierung und zeitweilig gar angedrohte Streichung dieses Förderungsinstruments ist vor allem deshalb eine trübe Aussicht, weil von den mit Lehraufgaben überlasteten und von Mittelkürzungen gebeutelten Universitäten in Deutschland kaum eine stärkere Anstrengung auf dem eher unspektakulären Feld der Quellenforschung zu erwarten ist (von rühmlichen Ausnahmen abgesehen). Gerade darum wäre es dringend geboten, das an den Akademien vorhandene Potential für langfristige Projekte zu stärken oder zumindest zu erhalten, nicht bloß um bestimmte Kontinuitäten zu sichern, sondern um dem auch in dieser Hinsicht zunehmenden Erfordernis der Professionalisierung Rechnung zu tragen. Dabei versteht es sich von selbst, daß es keinen unbeaufsichtigten Kredit für langen Atem geben kann, sondern auf durchdachter Planung und regelmäßigen Leistungs- und Erfolgskontrollen bestanden werden muß. Eine unüberhörbare Rolle in der öffentlichen Diskussion über die weitere Förderungswürdigkeit quellenerschließender Großvorhaben spielt der Hinweis auf die Fortschritte der elektronischen Datenverarbeitung, die solche behäbigen „Riesenschildkröten" viel schneller und preiswerter zum Ziel gelangen lasse. Im raschen Wandel der Informationstechniken, der unseren Alltag bestimmt, muß indes stets die besondere Natur handschriftlicher Überlieferung aus vormoderner Zeit im Auge behalten werden, die sich eben nicht mit derselben Leichtigkeit wie aktuelle Zeitungsseiten verfügbar machen läßt. Sonst erliegt man Fehleinschätzungen wie jener hohe Ministerialbeamte in Bonn, der mir vor einigen Jahren die Frage stellte, ob es im Zeitalter von Telefax und Internet eigentlich noch einen hinreichenden Daseinszweck für das Deutsche Historische Institut in Rom darstelle, Quellen aus Archiv und Bibliothek des Vatikans zu vermitteln. Bei sachgerechterer Betrachtungsweise wird man feststellen können, daß der seit den 90er Jahren abgeschlossene Durchbruch zur elektronischen Herstellung auch kompliziertester Druckwerke die allmähliche Ausgestaltung des späteren Erscheinungsbildes durch den Editor nicht unbedingt erleichtert, aber die anschließende Drucklegung und die Bearbeitung von Registern aller Art fühlbar beschleunigt und vereinfacht hat. Inzwischen stehen die Bestrebungen im Vordergrund, bereits die Ausgangsbasis elektronisch zu gewinnen durch digitalisierte Photos, die dazu angetan sind, den Überlieferungsbefund wesentlich bequemer und kostengünstiger abrufbar zu machen. Allerdings sind solche optischen Wiedergaben so wenig wie die teuren Faksimile-Bände von früher mit einer kritischen Edition gleichzusetzen, für die es unverändert der präzisen Transponierung in ein modernes Schriftbild mit klarer Worttrennung, Interpunktion, Sinnabschnitten und, soweit nötig, auch Fehlerhinweisen bedarf, mithin der elementaren Bemühung, die auch eine herkömmliche Textausgabe erfordert. Darüber hinaus ist zu bedenken, daß sich vornehmlich bei Urkunden das Interesse auf Originale, soweit vorhanden, konzentriert und dort die Kombination von Photo und (aufbereiteter) Transkription nahelegt, während bei anderen Quellengattungen das Nebeneinander von kopialen Überlieferungen in unterschiedlicher Qualität die Regel ist und ein wissenschaftlich brauchbarer Text erst durch die philologische Bearbeitung der divergierenden Lesarten entsteht; die Verabsolutierung einer einzel-

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nen bildlich präsentierten Abschrift wäre, von seltenen Sonderfällen abgesehen, geradezu ein methodischer Rückschritt. Eifrig diskutiert und ausprobiert werden die Möglichkeiten, die Ergebnisse editorischer Beschäftigung mit mittelalterlichen Quellen auch auf elektronischem Wege in Umlauf zu bringen, also auf CD-ROM oder im Internet, sei es zur zeitlichen Überbrückung bis zu einer endgültigen Publikation in Buchform, sei es vollends zum Ersatz für einen gedruckten Band. Die erste Alternative legt sich naturgemäß bei größer dimensionierten Projekten nahe, die über Jahre hin verschiedene Entwicklungsstadien der Textkonstitution oder auch der anwachsenden Sammlung von Einzelstücken durchlaufen und dabei konsequent elektronisch vorangetrieben werden. Da kann es sich empfehlen, bereits mit Zwischenergebnissen hervorzutreten, um Außenstehenden einen gewissen Zugang einzuräumen und gegebenenfalls auch ihr kritisches Benutzerecho auf dem weiteren Weg berücksichtigen zu können. Das mit den Monumenta verbundene Berliner Akademie-Vorhaben der Constitutiones Kaiser Karls IV., das um seines chronologisch konzipierten Publikationsziels willen auf langjährig regional betriebene Materialsammlung angewiesen ist, bis der gesamte Stoff für die noch ausstehenden Bände beisammen ist, hat sich zu dem Versuch einer elektronischen Vorab-Publikation von Teilergebnissen entschlossen, um die Ausbeute seiner Archivforschungen dem Publikum nicht bis zum Abschluß aller Kampagnen vorenthalten zu müssen. 2002 ist eine erste CD-ROM erschienen, die 2005 durch eine wesentlich erweiterte zweite Lieferung ersetzt werden soll. Während hier am Endziel einer konventionellen Veröffentlichung in der 1893 begonnenen Reihe der Constitutiones-Bände festgehalten wird, gibt es mittlerweile auch erste Beispiele von Urkundenpublikationen, die zur Ersparnis von Zeit und Geld auf eine gedruckte Fixierung überhaupt verzichten und ausschließlich als Informationsangebot im Internet in Erscheinung treten. Anders als Wetterberichte, Börsenkurse oder Fahrpläne, die sich heutzutage zunehmend auf elektronischem Wege verbreiten, sind Quelleneditionen indes nicht den zum alsbaldigen Verbrauch bestimmten Gütern zuzurechnen und sollten auch weiterhin ihren Ewigkeitswert bewahren können, was bedeutet, daß die beständige Haltbarkeit und Verwendbarkeit der technischen Geräte ebenso gewährleistet sein müßten wie die Kontinuität der Datenpflege auch über die Lebensspanne des Bearbeiters hinaus. Ob und um welchen Preis diese Bedingungen herzustellen sind, wird erst die Zukunft lehren. Der relativ geringe Aufwand, mit dem künftig jedem, der das möchte, das elektronische Publizieren an sich und damit auch die Verbreitung von (wie auch immer) bearbeiteten Quellen möglich ist, bringt nicht allein, vorerst jedenfalls, eine ziemlich starke Unübersichtlichkeit mit sich, da es noch keine dem herkömmlichen Buchmarkt und Rezensionswesen analogen Wege der Bekanntmachung gibt. Auf mittlere Sicht sind auch die traditionsreichen und erfahrenen Institutionen der Quellenpublikation vor eine ungewohnte und schwer abschätzbare Situation gestellt. Während bisher die Urheber von Editionen, Regestenwerken usw., sofern sie nicht ohnehin im Auftrag von Monumenta Germaniae Historica, Istituto storico italiano per il medio evo, Ecole des chartes oder ähnlichen Einrichtungen arbeiteten, kaum eine Alternative hatten, als ihr Produkt dort zur Buchpublikation in einer ihrer Reihen und nach den damit vorge-

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gebenen Standards anzubieten, muß man demnächst womöglich mit einer ansehnlichen Zahl von elektronischen Privatpublikationen unterschiedlichen Zuschnitts rechnen, darunter gewiß auch unfertigen oder laufend sich verändernden Elaboraten, die sich einer verläßlichen Zitierbarkeit entziehen. Wir sollten rechtzeitig überlegen, was geschehen kann, um der Tendenz zu solchem Wildwuchs entgegenzuwirken. Alle Zukunftserwägungen, gerade auch die besorgten, setzen voraus, daß es auch weiterhin mittelalterliche Quellen gibt, die zu bearbeiten sich lohnt, ja sogar zwingend notwendig ist. Das kann entgegen vordergründigen Klischeevorstellungen, denen man zuweilen begegnet, nur nachdrücklich bejaht werden. Zwar ist der Vorrat an völlig ungedruckten und zugleich wichtigen Texten, bezogen auf die Zeit bis etwa 1200, ziemlich schmal geworden, doch schwillt er vom 13. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert beträchtlich an. Wo sich die Gelegenheit zur erstmaligen Publikation einer solchen Quelle bietet, greifen die Monumenta nach wie vor gerne zu, wie sich aus letzter Zeit an der jüngeren Hildesheimer Briefsammlung des 12. Jahrhunderts, am Brief- und Memorialbuch des Passauer Domdekans Albert Behaim von 1246, an den Necrologien des Mindener Domkapitels aus dem 13. Jahrhundert, an der Kölner Weltchronik bis 1376 oder auch an der Papst- und der Kaiserchronik des Wiener Theologen Thomas Ebendorfer demonstrieren läßt. In allen diesen Fällen besteht der Gewinn für die Forschung natürlich nicht bloß wie zur Zeit der Frühdrucke darin, ein weiteres Stück mittelalterlicher Überlieferung bequem zugänglich gemacht, sondern dies zugleich mit dem Grad an Aufbereitung getan zu haben, der heute geboten ist. Ähnliche Chancen, bisher unpublizierte Quellen gleichsam auf einen Schlag ins volle Blickfeld der Forschung zu rücken, werden auch künftig zu nutzen sein, zumal die Erfahrung älterer wie neuerer Zeit schmerzlich gelehrt hat, daß grundsätzlich der Druck der sicherste Weg bleibt, um Handschriftliches vor dem potentiellen Untergang zu sichern. Aber aufs Ganze gesehen liegt der Schwerpunkt unseres Tuns im sechsten Jahrhundert nach Gutenberg nicht mehr auf Ersteditionen, sondern auf dem geduldigen Bemühen, mittelalterliche Quellen, die bereits irgendwo und irgendwie gedruckt sind, in verbesserter Gestalt neu herauszubringen. Die Veranlassungen dazu sind vielfältig: nachträglich aufgetauchte Handschriften, die Zusammenfiihrung und Echtheitsprüfung verstreuten Materials, eine der Überlieferung gerechter werdende Form der Präsentation, die Darstellung der Vorlagenbenutzung, der Arbeitsweise und der Nachwirkung eines Quellenautors und manches mehr. In diesem Sinne stehen weit oben auf der Desideratenliste der Monumenta die Lücken der Diplomata-Reihe: Ludwig der Fromme, Heinrich V. und sehr vieles nach 1190, aber auch mehrere große Weltchroniken des 11./12. Jahrhunderts (Hermann von Reichenau, Frutolf/Ekkehard, Hugo von Flavigny), die Neubearbeitung der fränkischen Kapitularien, die Fortführung der Concilia vom späten 9. bis ins mittlere 11. Jahrhundert, die Vollendung der Constitutiones Ludwigs des Bayern und Karls IV. sowie gleich mehrere Projekte aus der Briefliteratur des hohen Mittelalters ... Ganz gleich in welcher technischen Gewandung das alles realisiert werden wird, im Kern bleibt die Aufgabe unveränderlich, die uns gestellt ist: Edieren bedeutet morgen wie gestern die möglichst allseitige, vor keiner Schwierigkeit ausweichende Auseinandersetzung mit einem konkreten Ausschnitt der historischen Überlieferung samt

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der form- und zeitgerechten Darbietung der Befunde zur weiteren Auswertung durch die Forschung. Es ist so gesehen in vielen Fällen kein einmaliges und dann erledigtes Geschäft, sondern etwas qualitativ Steigerungsfähiges, wie sich schon an wiederholten Editionen desselben Textes ablesen Iäßt, und stellt im Grunde eine permanente Herausforderung zur Bewässerung, zur Durchfeuchtung der Felder dar, auf denen Historiker ihre Quellen nutzen, also säen und ernten wollen. Die einzelne Edition gelangt, so bleibt stets zu hoffen, früher oder später an ihr Ende; das Edieren selbst bewahrt seine kritische Funktion, solange es überhaupt eine quellenbezogene Geschichtswissenschaft gibt.

Stefan Lorenz

, Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind" Leibniz-Renaissancen und ihre editorischen Reflexe

Für Michael Albrecht [...] alle kleine Stücke, so der Herr von Leibnitz an unzehligen Oertern zerstreuet, was vor Art sie auch seyn mögen, in einen Band zusammen bringen. Es wird dieses, so zu sagen, die Auferstehung eines Leibes seyn, dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind. Alles wird durch diese Vereinigung ein neues Leben gewinnen. (Fontenelle)1 [...] immassen ohnstreitig ist, daß eine besorgte Herausgabe der Schrifften eines so berühmten Mannes, als Hr. Leibnitz, der Dauer nach, dem besten Marmor gleiche. (Ludovici) Damit wir uns aber doch bey der gelehrten Welt nicht in den Argwohn setzen mögten, als ob wir in die Anzahl derer gehöreten, welche nur bloß lediglich durch Versprechungen sich suchen in der gelehrten Welt bekannt zu machen, übrigens sich um die Ausführung ihres Versprechens um so viel weniger bekümmern, je mehr es öffters ihre Kräfte übersteiget [...]. (Ders.)2

I.

Einleitung

Es gibt zwar Darstellungen zu einzelnen Leibniz-Editionen und ihren Herausgebern, aber erst jüngst noch hat ein ausgewiesener Kenner der Materie bilanzieren müssen: „Eine Gesamtdarstellung der Geschichte der Leibniz-Editionen gibt es nicht."3 Auch die vorliegenden Bemerkungen können lediglich Bausteine zu einer solchen Gesamtdarstellung liefern, zumal nicht allein die große historisch-kritische Leibniz-Ausgabe sich bei näherem Blick hinsichtlich der Editionsprinzipien ihrer verschiedenen Reihen keineswegs als ein monolithisches Unternehmen darstellt und überdies ihrer Vollen-

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Beraard Le Bovier de Fontenelle: Lebens-Beschreibung Herrn Gottfried Wilhelm von Leibnitz [...] in Frantzösischer Sprache beschrieben; nunmehr ins Teutsche übersetzet [...]. Amsterdam 1720, S. 77f. Carl Günther Ludovici: Ausführlicher Entwurff einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie [...]. Erster Band. Leipzig 1737, S. 301 u. 291. Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart/Leipzig 1999, S. 17, Anm. 35. Vgl. ders.: Die Leibniz-Editionen in Leipzig. Der Druck der Schriften und Briefe von G. W. Leibniz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Leipziger Kalender. Herausgegeben vom Stadtarchiv Leipzig 1998, S. 69-95, hier S. 82, Anm. 5 mit bibliographischen Hinweisen zu einzelnen einschlägigen Darstellungen.

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dung noch harrt, sondern auch in jüngster Zeit neue Editionsunternehmen, zumal in der englischsprachigen Welt in Angriff genommen worden sind, über deren Positionierung in der vielgestaltigen Landschaft der Leibniz-Editionen - auch Nachdrucke älterer Ausgaben sind für Forschung und Lehre nicht obsolet geworden und daher überaus präsent - nur erste Vermutungen geäußert werden können.4 An dieser Stelle soll zunächst an einige Fakten und Zahlen zu Leibniz' Publikationen und Nachlaß erinnert werden. Weiterhin sollen exemplarisch einige der Editionen der Leibniz'schen Werke zwischen 1720 und 1900 vorgestellt werden, wobei eine gewisse Typologie, auch hinsichtlich der Motive von Leibniz-Editoren und ihrer wissenschaftshistorischen Kontexte, versucht werden soll. II.

Leibniz' Schriften, Briefe und Nachlaß

Wenn Leibniz in einem Brief an Jacob Bernoulli am 15. März 1695 bemerkt: „Scripsi innumera et de innumeris sed edidi pauca et de paucis",5 so reflektiert er das - bis zum Ende seines Lebens nicht ausgeglichene - Verhältnis, um nicht zu sagen: Mißverhältnis zwischen seinen wenigen gedruckten Schriften und der ungeheuren Masse seiner handschriftlich gebliebenen Aufzeichnungen, die er mitunter bis zur Publikationsreife gebracht hatte, deren Veröffentlichung gleichwohl unterblieb. Daher hat auch die vielzitierte Wendung: „Qui me non nisi editis novit, non novit"6 ihre Richtigkeit. Folgt man der bislang vollständigsten Bibliographie der gedruckten Leibniz-Werke von Emile Ravier7, so ergibt sich das folgende Bild: Leibniz hat zwischen 1663, dem Jahr seiner ersten Publikation und seinem Todesjahr 1716 insgesamt 78 selbständige Schriften zum Druck gegeben: eine Zahl, die für sich genommen zunächst beeindruckend wirkt, aber es finden sich darunter zahlreiche Veröffentlichungen von nur wenigen Druckseiten und Gelegenheitsschriften. Im Bereich der Philosophie hat Leibniz lediglich die Essais de Theodicee als einzig größeres Werk veröffentlicht, und seine große Auseinandersetzung mit John Locke, die Nouveaux Essais, wurden erst 1765, also fast fünfzig Jahre nach seinem Tod bekannt,8 der Discours de metaphysique, das erste geschlossene Dokument seiner reifen Metaphysik gar erst 1846.9 Zu seinen Lebzeiten hat Leibniz rund 112 Artikel in gelehrten Zeitschriften erscheinen lassen und etwa 56 Rezensionen geschrieben; 71 seiner Schriften oder Briefe sind in dieser Zeit von Dritten herausgegeben worden. Doch wird man sich dem Urteil Raviers

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Vgl. die Ausführungen von Philip Beeley im vorliegenden Band. G. W. Leibniz: Mathematische Schriften. Hrsg. von C. I. Gerhardt. Band III/l, S. 61. Leibniz an Vincentius Placcius, 21. Februar 1696. Emile Ravier: Bibliographie des CEuvres de Leibniz. Paris 1937 (Neudruck Hildesheim 1966). Ravier listet die Leibniz-Drucke bis 1935 auf. CEuvres philosophiques latines et fran^aises de feu Mr. de Leibnitz, tirees de ses Manuscrits qui se conservent dans la Bibliotheque royale ä Hanovre et publiees par Μ. Rud. Eric Raspe. Avec une Preface de Mr. Kaestner. Hrsg. von Rudolph Erich Raspe. Amsterdam/Leipzig 1765. (Ravier 472). Als Anhang Β zu: Briefwechsel zwischen Leibniz, Arnauld und dem Landgrafen Emst von Hessen.Rheinfels. Hrsg. von C. L. Grotefend. Hannover 1846 (Leibnizens Gesammelte Werke aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover herausgegeben von Heinrich Pertz. Zweite Folge. Philosophie. Erster Band), S. 154-193. (Ravier 586).

,Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind"

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anschließen müssen: „Leibniz ne publia, en somme, rien qui fut essentiel ni de son oeuvre philosophique, ni de son ceuvre historique". 10 In diametralem Gegensatz dazu steht - so bemerkt erst jüngst eine Editorin der Akademie-Ausgabe - „der Umfang seines Nachlasses, der Notizen und Schriften in unterschiedlichem Vollendungsgrad zu fast allen Gebieten des theoretischen und des angewandten Wissens seiner Zeit enthält und zudem seine ausgedehnte Korrespondenz mit etwa 1100 Briefpartnern aus ganz Europa umfasst." 11 Die Niedersächsische Landesbibliothek zu Hannover, die nun auch den Namen Leibniz' trägt, verwahrt ca. 40.000 handschriftliche Einheiten (Schriften, Konzepte, Notizen, Exzerpte, Briefe etc.) auf ca. 150.000 bis 200.000 Blatt von seiner Hand auf.12 Nimmt man dazu noch die zahlreichen Bibliotheken und Archive innerhalb und außerhalb Europas, die Leibniz-Autographen oder Abschriften derselben besitzen, so kommt man auf die beeindruckende, wenn nicht furchteinflößende Zahl von über 50.000 handschriftlichen Leibniz-Einheiten, die das Vermächtnis dieses Polyhistoren bilden und die seit seinem Tod eine beständige Herausforderung an die potentiellen Herausgeber darstellen. Erst die 1901 ins Leben gerufene Akademie-Ausgabe, von der weiter unten die Rede sein wird, hat diese Herausforderung angenommen und versucht, sie umfassend zu bewältigen. Den Zeitgenossen, dem weiteren 18. Jahrhundert und dem 19. Jahrhundert bot sich ein nur fragmentarisches und unzulängliches Bild des großen Denkers und Wissenschaftlers, das sich zwar nach Maßgabe der zunehmenden Editionsbemühungen vervollständigen konnte, aber auch heute noch weit davon entfernt ist, sich in all seinen Facetten zu zeigen. Gleichwohl hinderte die unzulängliche Publikationslage der Werke und Briefe Leibnizens nicht, daß sein Ruhm hell strahlte und er zumal im 19. Jahrhundert zur nationalen Identifikationsfigur avancieren konnte, die - so darf man vermuten - die in politischer Hinsicht nicht erreichte politische Einheit Deutschlands als wissenschaftlicher GesamtHeros (gewissermaßen als Pendant zum poetischen Gesamt-Heros Goethe) kompensieren konnte: Auch davon wird unten die Rede sein. Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, warum der vorliegende Beitrag den Begriff der ,Leibniz-Renaissance' im Titel trägt: Er geht zurück auf den Philosophiehistoriker Max Wundt, der in seinem 1945 veröffentlichten Buch Die deutsche Schul 10 11

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Ravier (Anm. 7), S. 9. Nora Gaedeke: Ein Dinosaurier im Internet - die historisch-kritische Leibnizedition. Vom Nutzen der neuen Medien für ein editorisches Langzeituntemehmen. In: Vom Nutzen des Edirens. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehens des Instituts für Österreichische Geschichtforschung, Wien, 3.-5. Juni 2004. Hrsg. von Brigitte Merta, Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl. Wien 2005, S. 183-196; zum Netz der Leibnizschen Korrespondenz vgl. Nora Gaedeke: Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Les grands intermediaircs culturels de la republique des lettres. Etudes des reseaux des correspondances de XVIe au XVIir siecles. Hrsg. von Christiane Berkvens-Stevelinck et al. Paris 2005, S. 257-306. Vgl. Eduard Bodemann: Die Leibniz-Handschriften der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover. Hannover/Leipzig 1895. Bodemann beschreibt auf 339 Seiten und in 41 thematisch geordneten Sektionen die Handschriften. Bodemann verdanken wir auch die Katalogisierung der in Hannover aufbewahrten Briefe von und an Leibniz: Der Briefwechsel des Gottfried Wilhelm Leibniz in der Königlichen öffentlichen Bibliothek zu Hannover. Hannover 1889. Dass, mit Ergänzungen und Register von Gisela Krönert und Heinrich Lackmann sowie einem Vorwort von Karl-Heinz Weimann. Hildesheim 1966. Die Bodemann-Zählung sowohl der Handschriften (LH) als auch Briefe (LBr) ist die bis heute wissenschaftlich maßgebliche.

Stefan

68 philosophie

im Zeitalter

der

Aufklärung13

Lorenz

an die s u k z e s s i v erfolgende, n ä m l i c h mit

jeder neuen Edition von Leibniz-Texten sich vollziehenden Entdeckung des ,wahren L e i b n i z ' g e g e n E n d e d e s 18. J a h r h u n d e r t s ( u n d i m 19. J a h r h u n d e r t ) e r i n n e r t : [...] daß jetzt allmählich das B i l d d e s großen deutschen D e n k e r s vor d e m B e w u ß t s e i n der Zeit aufstieg und ihr in seiner ganzen T i e f e vertraut wurde, d e s Denkers, der selber außerhalb der S c h u l e stand, und von d e m s i e sich deshalb bisher nur w e n i g e G e d a n k e n angeeignet hatte. [...] [ D i e ] L e i b n i z - R e n a i s s a n c e [...], die sich in der z w e i t e n Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog. S i e ist bisher w e n i g beachtet, und ganz a b w e g i g ist die M e i n u n g , daß Leibniz' Einfluß in dieser Zeit schon allmählich verebbte. In Wahrheit stieg er damals mächtig an, aber er machte sich durch s o v i e l e Kanäle bemerkbar [...]. D e n n der wahre Leibniz war bisher gar nicht richtig bekannt. [...] N u n hing das g e w i ß damit z u s a m m e n , daß Leibniz nur selten d e n systematischen Einheitsgrund seiner G e d a n k e n dargelegt und in A b h a n d l u n g e n und B r i e f e n m e i s t e i n z e l n e Fragen behandelt hatte, ohne s i e anders als h ö c h s t e n s in A n d e u t u n g e n auf ihre letzte Voraussetzungen zurückzuführen. 1 4 D i e G e s c h i c h t e der A n e i g n u n g u n d Interpretation z u m a l der p h i l o s o p h i s c h e n G e d a n k e n L e i b n i z e n s ist aufs E n g s t e verknüpft m i t derjenigen der v e r s c h i e d e n e n Editionsbemühungen,

die die philologischen

R e f l e x e der j e w e i l i g e n

Leibniz-Renaissancen

darstellen: A n d e r s als i m Falle anderer Philosophen konnte Leibniz nicht durch Publikation eines Hauptwerkes unmittelbar wirken. G e w i ß waren einzelne Z ü g e seiner M e taphysik und Erkenntnistheorie bekannt und sind auch rezipiert worden: Jedoch selbst in der W o l f f s c h e n S c h u l e - g e s c h w e i g e d e n n außerhalb ihrer - herrschte hinsichtlich der T h e m e n k o m p l e x e : Substanztheorie ( M o n a d e n k o n z e p t ) 1 5 u n d

Commercium-Pro-

b l e m (praestabilierte H a r m o n i e ) g r o ß e U n e i n h e i t l i c h k e i t . 1 6 E s ist nicht übertrieben,

13 14 15

16

Neudruck Hildesheim/Zürich/New York 1992. Wundt 1945 (Anm. 13), S. 317. Zur Literatur über Wolffs Verhältnis zum Leibniz'schen Monadenkonzept vgl. jetzt Gerhard Biller: Wolff nach Kant. Eine Bibliographie (Christian Wolff: Gesammelte Werke, Abt. III, Bd. 87). Hildesheim/Zürich/New York 2004, S. 237, s. v. monadas - monads, Leibnizian. - Indiz für die Problematik des Monadenkonzeptes ist auch die Tatsache, daß die unter Friedrich II. reformierte, und mit einer eigenen ,classe de philosophie speculative' versehenen - ein Unikum in der damaligen europäischen Akademienlandschaft - Akademie in Berlin als erste Preisfrage für das Jahr 1747 eine Darstellung und Kritik der Monadenlehre verlangte: und der Schrift eines Monadengegners den Preis zuerkannte. Vgl. Adolf Hamack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erster Band Erste Hälfte. Berlin 1900, S. 4 0 2 ^ t 0 3 . Zur Einrichtung einer eigenen Klasse für spekulative Philosophie an der Berliner Akademie vgl. ders.: a.a.O., S. 309-312. - Für einen zeitgenössischen Überblick über die verwickelte Monadendiskussion vgl. Christian Ernst von Windheim: Entwurf einer kurzen Geschichte der Schriften von den Monaden oder Elementen der Körper von den Zeiten Leibnitzens bis auf die itzigen. In: Göttingische Philosophische Bibliothek. Erster Band (1749), Sechstes Stück, S. 4 6 9 506; Zweiter Band (1749), Erstes Stück, S. 4 - 6 4 ; Dritter Band (1750), Viertes Stück, S. 289-309. Vgl. auch die instruktive Einleitung von Laurence L. Bongie. In: Etienne Bonnot de Condillac: Les Monades. Ed. with an introduction and notes. Hrsg. von Laurence L. Bongie. Oxford 1980; dass, frz.: Etienne Bonnot de Condillac: Les monades. Edition etablie et presentee par Laurence L. Bongie. Apparat critique traduit de l'anglais par Frangois Heidsieck avec la collaboration de Frank Pierobon. Grenoble 1994. Bongie ist es gelungen, Condillac als einen der anonymen Teilnehmer am Monadenwettbewerb der Berliner Akademie für 1747 zu identifizieren. Vgl. dazu Lothar Kreimendahl: Condillac und die Monaden. Zu einem neu aufgefundenen Text des Abbes. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 64 (1982), S. 280-288. Vgl. etwa Benno Erdmann: Martin Knutzen und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Wolfischen Schule und insbesondere zur Entwicklungsgeschichte Kants. Leipzig 1876 Neudruck Hildesheim 1973),

„Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich

herum zerstreuet

sind"

69

wenn man sagt, daß Leibniz' Wirkung sich erst nachträglich und aus der Distanz der historischen Wiederentdeckung heraus entfaltet hat: Damit hängt auch zusammen, daß es eine zeitgenössische Leibnizianische Schule im strengen Sinne gar nicht gegeben hat: Es sind nur Einzelgestalten wie etwa Gottlieb Michael Hansch (1683— 1749)17, die sich gegenüber dem Wolffianismus auf genuin Leibnizianische Positionen berufen. Daher spielen im Falle Leibnizens die verschiedenen Editionsunternehmungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert auch in interpretatorischer Hinsicht eine gewichtige Rolle: Die jeweils divergierende18 Sicht auf die Philosophie Leibnizens findet ihren Niederschlag - wie unten darzulegen - auch in den verschiedenen Editionen, denen damit eine die jeweilige Interpretation legitimierende Funktion zukommt.

III.

Leibniz' eigene Publikationspläne

Freilich wissen wir, daß auch Leibniz selbst an die Publikation einzelner seiner Werke oder ganzer Werkgruppen gedacht hat.19 Hier seien exemplarisch nur drei Editionsprojekte genannt. Im Jahr 1692 sandte Leibniz sein Manuskript einer umfänglichen Kritik der Descartschen Principiä20 an den Herausgeber der Histoire des ouvrages des sgavans, H. Basnage de Beauval mit der Bitte, in den Niederlanden einen Verleger zu finden. Die Drucklegung unterblieb, da sich kein Verleger fand und Leibniz zudem später noch Veränderungen am Text vornehmen wollte:21 Erst 1846 hat Gottschalk

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bes. S. 54-97; Gerd Fabian: Beitrag zur Geschichte des Leib-Seele-Problems (Lehre von der prästabilierten Harmonie und vom psychophysischen Parallelismus in der Leibniz-Wolffschen Schule). Langensalza 1925 (Neudruck Hildesheim 1974) und Eric Watkins: The development of physical influx in early eigteenth-century Germany: Gottsched, Knutzen, and Crusius. In: Review of Metaphysics 49 (December 1995), S. 295-339. Hansch hat 1728 eine in der Forschung viel zu wenig beachtete Systematisierung der bisher bekannten philosophischen Positionen Leibniz' vorgelegt: Godofredi Guilielmi Leibnitii Principiä Philosophiae more geometrico demonstrate [...]. Frankfurt/Leipzig 1728. (Ravier 381). Dem Werk sind Auszüge aus dreizehn Briefen Leibniz' an Hansch beigegeben. Briefe Leibnizens an Hansch finden sich separat ediert in: Leibnitii Epistolae ad Diversos. Volumen III. Hrsg. von Christian Kortholt. Leipzig 1738, S. 64-96. (Ravier 407). Zu Hansch vgl. Gabriel Wilhelm Gotten: Das Jetztlebende Gelehrte Europa. Dritter Teil, Zweites Stück. Celle 1739, S. 449^183; Stefan Lorenz: Leibniz und Michael Gottlieb Hansch. Zur Frühgeschichte der Wirkung der .Essais de Theodicee' in Deutschland. In: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß. 18. bis 23. Juli 1994. Vorträge II. Teil. Hannover 1995, S. 206-211; Detlef Döring: Michael Gottlieb Hansch (1683-1749), Ulrich Junius (1670-1726) und der Versuch einer Edition der Werke und Briefe Johannes Keplers. In: Beiträge zur Astronomiegeschichte 2 (1999), S. 80-121, bes. S. 96, Anm. 60. In seiner beeindruckenden Studie: Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik. Halle 1925 (Faksimile-Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) hat Dietrich Mahnke vom Standpunkt der Phänomenologie her - er war Schüler Edmund Husserls - die bis dato konkurrierenden Interpretationsansätze zu vereinen gesucht. Dagegen betont Lorenz Krüger in seiner knappen, aber gehaltvollen Studie: Rationalismus und Entwurf einer universalen Logik bei Leibniz. Frankfurt/M. 1969 die Inkompatibilität von Theoriestücken bei Leibniz. Zu den einzelnen - nicht realisierten - Editionsprojekten vgl. Ravier (Anm. 7), S. 9-12. Der Titel hätte lauten sollen: .Statera Cartesianismi seu Principiorum Cartesii Pars Generalis cum animadversionibus G. G. L. suo loco subjectis, ut post tantas lites tandem aliquando intelligi possit, quantum doctrinae Cartesianae sit tribuendum'. Vgl. Carl Immanuel Gerhards Darstellung der Umstände. In: G. W. Leibniz: Die philosophischen Schriften. Band 4. Hrsg. von Carl Immanuel Gerhard. Berlin 1881, S. 271-272.

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Stefan Lorenz

Eduard Guhrauer den Text unter dem Titel: Leibnitz's Animadversiones ad Cartesii Principia Philosophiae veröffentlicht. 22 Im Vorfeld der Veröffentlichung der Essais de Theodicee23 plante Leibniz die Publikation von philosophisch relevanten Briefwechseln, die er u. a. mit dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels, Arnauld, Bayle und Bossuet geführt hatte.24 Doch auch dies Editionsprojekt blieb unausgeführt: zwar weisen die Handschriften etwa des Briefwechsels mit Arnauld tatsächlich Spuren einer Vorbereitung ihrer Publikation durch Leibniz selbst auf, doch erst 1846 hat C. L. Grotefend Teile des Briefwechsels zwischen Leibniz, Landgraf Ernst und Antoine Arnauld gemeinsam mit dem in diesen Kontext gehörigen Discours de Metaphysique veröffentlicht. 25 Noch in seinen letzten Lebensjahren hat Leibniz daran gedacht, eine Sammlung seiner in den verschiedenen wissenschaftlichen Journalen veröffentlichten Aufsätze herauszugeben, 26 doch auch dies Projekt kam nicht mehr zustande. Am Samstag, dem 14. November 1716, starb Leibniz in Hannover, und es war „ein Glücksfall, daß die im Januar 1717 aus Mißtrauen verfügte Konfiszierung durch seinen Landesherrn uns den Nachlaß eines der größten Geister aller Zeiten geschlossen in Hannover erhalten hat."27

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Ravier 574. Der Text findet sich auch bei Gerhardt (Anm. 5), S. 350-392. Eine Teilübersetzung ins Deutsche: Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übersetzt von A. Buchenau. Durchgesehen und mit Einleitungen und Erläuterungen herausgegeben von Ernst Cassirer. Band I. Hamburg 1966 (' 1904; 2 1924), S. 285-328. Amsterdam: Troyel 1710 (Ravier 67). Leibniz an den Amsterdamer Buchhändler Pierre Humbert, Hannover 107. Zit. nach Ravier (Anm. 7), S. 11, Anm. 5: „Apres cette ouvrage publie [sc. die Theodizee S.L.] je pense donner au public des lettres que j'ai echangees avec M. Arnauld, M. Bayle, un ami de M. Locke [Pierre Coste ? S.L.] , M. l'Eveque de Meaux [Bossuet] et quelques princes et princesses, sur des matieres de philosophie ou de theologie. Sans parier maintenant de plusieurs autres pieces de ma fagon, et particulierement de mes reflexions sur les ouvrages du Pere Malebranche, de M. Locke et de quelques personnes celebres." Leibnizens Gesammelte Werke aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover herausgegeben von Georg Heinrich Pertz. Zweite Folge. Philosophie. Erster Band: Briefwechsel zwischen Leibniz, Arnauld und dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels [...] herausgegeben von C. L. Grotefend. Hannover 1846 (Ravier 586). Der Erstdruck des .Discours de Metaphysique' findet sich hier als Anhang Β auf S. 154-193. Vgl. Leibniz an Nicolas Remond, Wien, 10. Januar 1714. G. W. Leibniz: Die philosophischen Schriften. Band 3. Hrsg. von Carl Immanuel Gerhard. Berlin 1887, S. 607. Eine Sammlung der Leibnizschen Zeitschriftenaufsätze liegt jetzt vor: Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais scientifiques et philosophiques. Les articles publies dans les journaux savants recueillis par Antonio Lamarra et Roberto Palaia. Preface de Heinrich Schepers. Hildesheim/Zürich/New York 2005. 3 Bde. XVII, 1355 S. Heinrich Schepers: Zur Geschichte und Situation der Akademie-Ausgabe von Gottfried Wilhelm Leibniz. In: Wissenschaft und Weltgestaltung. Internationales Symposion zum 350. Geburtstag von Gottfried Wilhelm Leibniz vom 9. Bis 11. April 1996 in Leipzig. Hrsg. von Kurt Nowak und Hans Poser. Hildesheim/Zürich/New York 1999, S. 291-298, hier S. 291; zur Geschichte des Hannoverschen Leibniz-Nachlasses (Bücher und Manuskripte) von 1716 bis heute vgl. James G. O'Hara: ,A chaos of jottings that I do not have the leisure to arrange and mark with headings': Leibniz's manuscript papers and their repository. In: Archives of the Scientific Revolution. The Formation and Exchange of Ideas in Seventeenth-Century Europe. Hrsg. von Michael Hunter. Woodbridge 1998, S. 159-170.

,Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich herum zerstreuet sind"

71

IV. Leibniz-Bibliographien im 18. Jahrhundert Schon bald nach Leibniz' Tod setzen Bemühungen ein, sich einen bibliographischen Überblick zu verschaffen über seine an verstreuten Orten gedruckten Schriften, Aufsätze und Briefe. So ist der ersten deutschen Theodizee-Übersetzung von 172028 als Beilage eine 16-seitige Specification aller Des Seel. Hn. von Leibniz bisher gedruckten Schriften, wie sie nacheinander herausgegeben worden aus der Feder von Johann Georg Eckhart, dem Nachfolger Leibniz' im Amt des Bibliothekars des Kurfürsten von Hannover, beigegeben. Der französische Gelehrte Louis de Jaucourt (1704-1780) 29 setzt seiner TheodizeeAusgabe ('1734; 21747; 31760)30 nicht allein eine umfängliche Leibniz-Biographie voran, sondern auch einen Catalogue chronologique & raisonne de ses Ouvrages, der in der zweiten Auflage von 1747 auf 39 Druckseiten 151 zu Leibniz' Lebzeiten und 10 posthum veröffentlichte Schriften nennt. Im Jahre 1737 kann der Leipziger Professor Carl Günther Ludovici (* 1707)31 in seinem monumentalen Ausführlichen Entwurjf einer vollständigen Historie der Leibnitzischen Philosophie32 bereits 269 bis dato gedruckte Schriften und 47 Rezensionen Leibnizens nennen. Er listet anhand einzelner bekannt gewordener Briefe 147 bürgerliche, gelehrte Korrespondenten Leibnizens auf sowie 9 adelige Korrespondenten beiderlei Geschlechts und schließlich neun Briefe Leibnizens an unbekannte Adressaten.

V.

Gescheiterte Editionsvorhaben des 18. Jahrhunderts

Bevor nun auf tatsächlich zustande gekommene Editionen der Werke Leibnizens eingegangen wird, soll auch ein kurzer Blick auf die gescheiterten Editionsbemühungen des 18. Jahrhunderts erlaubt sein: Auch diese Versuche, denen der Erfolg versagt geblieben ist, stellen gewichtige wissenschaftshistorische Daten dar. Laut Mitteilung der Acta Eruditorum vom Jahre 1718 plante der bereits erwähnte Johann Georg Eckhard die an verschiedenen Orten gedruckten kleinen Schriften Leibnizens in einem Folioband gesammelt herauszugeben: „Scripta ejus minora, quae hactenus sigillatim impressae, uno volumine recudi curabit Eccard."33 Tatsächlich aber hatte Eckhard editorisch weitergehende Pläne, denn er wollte eine dreibändige Leib28

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Essais de Theodicee oder Betrachtung der Gütigkeit Gottes, Der Freiheit des Menschen Und des Ursprungs des Bösen [...]. 2 Bände. Amsterdam 1720 (Ravier 349). Die Specification' am Ende von Band 2, ohne Paginierung. Zu Jaucourt vgl. Jean Haechler: L'Encyclopedie de Diderot et de [...] Jaucourt: Essay biographique sur le Chevalier Louis de Jaucourt. Paris 1995; Philip Blom: Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, D'Alembert, de Jaucourt und die große Enzyklopädie. Frankfurt/M. 2005; Philip Blom: Der Ritter ohne Gesicht: Der Enzyklopädist Louis de Jaucourt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 14. Oktober 2005, Nr. 239, S. 48. Ravier 396; 431; 466. Zu Ludovici vgl. Detlef Döring: Die Philosophie Gottfried Wilhelm Leibniz' und die Leipziger Aufklärung in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Abh. der Sächs. Akad. d. Wiss. Zu Leipzig. Philol.hist. Klass. Band 75. Heft 4). Stuttgart/Leipzig 1999. Leipzig 1737 (ND Hildesheim 1966). Zit. nach: Carl Günther Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Leibnizischen Philosophie. Erster Band. Leipzig 1737 (ND Hildesheim 1966), S. 289, § 260.

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niz-Ausgabe besorgen: „In den ersten soll alles kommen, was er ediret, nach seinen letzten Gedancken, so dabey geschrieben habe habe, corrigiret. Hierinn sollen auch alle pieces kommen, so er denen vielerley journalen inseriret, in den Sprachen, worinnen sie geschrieben. In den andern Tomum will ich setzen lassen alle seine in Msc. liegende noch nicht gedruckten Sachen und nach den Materien rangierte Excerpta seiner Correspondentzen. In den dritten sollen seine schoenen Gedancken und Reden oder ANA, und seine Carmina Latina und Gallica kommen."34 Innerhalb seines Editionsplanes hatte Eckhard also bereits Schriften aus dem Nachlaß vorgesehen, und er erkannte die wissenschaftliche Relevanz des Leibnizschen Briefwechsels, ohne freilich sein Unternehmen verwirklichen zu können. In den Leipziger Gelehrten Zeitungen des Jahres 1723 ließ Daniel Eberhard Baring, Unterbibliothekar bei der Königlichen Bibliothek zu Hannover ankündigen, er werde einen Folianten mit kleinen Schriften Leibnizens (separat Gedrucktes, Zeitschriftenaufsätze, aber auch bislang Ungedrucktes) herausbringen, ergänzt um einen umfänglichen Lebenslauf Leibniz'. 35 Diesem Unternehmen war aber ebensowenig Erfolg beschieden wie dem Plan des Helmstedter Professors und Wolffianers Johann Nikolaus Frobesius (1701-1756), 36 „Leibnitziana scripta varia, edita atque inedita observationibus illustrata in einem Volumine heraus zu geben"37 oder, wie er an anderer Stelle ankündigt,38 Leibnitiana monumenta varia observationibus illustrata herauszugeben, da er wohl „einen ziemlichen Vorrath von Leibnitzischen Brieffen in Manuscripte" besaß.39 Der bereits erwähnte Carl Günther Ludovici40 plante für die Michaelismesse 1731 die Herausgabe eines Bandes Godofredi Guilielmi Leibnitii Opuscula Metaphysica et Logica collecta ac perpetuis Commentariis illustrata als Auftakt einer umfangreicheren Sammlung von Leibnizschen Schriften: Dieses weit gediehene Unternehmen scheiterte jedoch an rechtlichen Auseinandersetzungen mit dem Leipziger Verleger Bernhard Christoph Breitkopf, dem bereits zuvor ein Privileg für eine Leibniz-Ausgabe erteilt worden war, die er mit Hilfe des Arztes und Wolff-Schülers Johann Friedrich Schreiber (1705-1760) zu realisieren gedachte - freilich ebenfalls vergebens.41 Der Professor für Naturkunde und Mathematik in Neufchatel, Louis Bourget (1678-1742) hatte selbst mit Leibniz korrespondiert42 und begann Leibnitiana zu sammeln, um „die kleinen Wercke des Herrn von Leibnitz und seine Brieffe zusammen

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Johann Georg Eckhart. In: Christian Kortholt (Hg.): Leibnitii Epistolae ad diversos. Band 4. Leipzig 1742, S. 117. Vgl. Ludovici (Anm. 33), S. 289f., § 261. Zu Frobesius vgl. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945 (ND Hildesheim, Zürich New York 2 1992), S. 207. So die Ankündigung in den Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen, Jg. 1730, S. 359. Zit. nach Döring 1998 (Anm.3), S. 70. In der Vorrede zu seiner Brevis ac dilucida Systematis Metaphysici α Christ Wolffio editi delineatio (1730). Vgl. Ludovici 1737 (Anm. 33), S. 301, § 268. Vgl. Anm. 31. Alle Details (mit Dokumentenanhang S. 90-95) dieser Affaire bei Döring 1998 (Anm. 3). Vgl. Bodemann 1889 (Anm. 12), S. 24, Nr. 103.

„Auferstehung eines Leibes dessen Glieder wunderbahrlich

herum zerstreuet

sind"

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drucken zu lassen."43 Freilich konnte Bourget seiner angegriffenen Gesundheit wegen seinen Plan nicht umsetzen. Doch überließ er seine Sammlung dem Berliner Gelehrten und Sammler Charles Etienne Jordan (1700-1745), der seine eigenen Planungen zu einer Leibniz-Ausgabe ebenfalls nicht realisieren konnte.44 In der Neuen Vorrede Johann Christoph Gottscheds zu der von ihm besorgten deutschen Übersetzung der Leibnizschen Theodizee (1744) wird sein Vorhaben mitgeteilt, die „sämtlichen Werke des Hrn. von Leibnitz zu sammlen, und in einem guten Folianten drucken zu lassen." Gottsched „habe diesen Vorsatz schon vor zehn und mehr Jahren gehabt [...]. Innerhalb zwei Jahren wird ein volles Jahrhundert, seit des Hrn. von Leibnitz Geburt verflossen sein: und wie schön wäre es nicht, wenn ein wackerer Verleger die Hand dazu böte, daß man diese hundertjährige Andenken auf eine unserm Vaterlande so rühmliche Art feiren könnte!"45 Auch aus diesem Editionsvorhaben wurde nichts. Der Mathematiker und Philosoph Samuel König (1712-1757) - bekannt geworden durch seinen Streit mit Maupertuis um die „Loi de la moindre quantite d'action", für die er die Priorität Leibnizens reklamierte46 - hatte zunächst den Plan, eine Edition des Briefwechsels zwischen Leibniz und Bernoulli herauszugeben; später war es seine Absicht, eine vollständige Ausgabe der mathematischen und philosophischen Werke Leibnizens zu veranstalten.47 Nach einem Forschungsaufenthalt in Hannover, wo König die Papiere Leibniz' durchsieht, läßt er sich - mit der Empfehlung Albrecht von Hallers und des hannoverschen Leibarztes Paul Gottlieb Werlhoff (1699-1767) die mathematischen Manuskripte Leibnizens in die Niederlande, wo er einen Lehr43 44

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Ludovici 1737 (Anm. 33), S. 293 f., § 263. Vgl. Pierre Bovet: Louis Bourget. Son projet d'edition des ceuvres de Leibniz. In: Revue de Theologie et de Philosophie 37 (1904), S. 366-379 und Jens Häseler: Leibniz' Briefe als Sammelgegenstand Aspekte seiner Wirkung im frühen 18. Jahrhundert. In: Leibniz und Europa. VI. Internationaler LeibnizKongreß, Hannover, 18. bis 23. Juli 1994. Vorträge I. Teil. Hrsg. von der Gottfried-Wilhelm-LeibnizGesellschaft e.V. Hannover. Hannover 1994, S. 301-308 sowie Fritz Nagel: Schweizer Beiträge zu Leibniz-Editionen des 18. Jahrhunderts. Die Leibniz-Handschriften von Johann Bernoulli und Jacob Hermann in den Briefwechseln von Bourguet, König, Kortholt undd Kramer. In: Leibniz und Europa. VI. Internationaler Leibniz-Kongreß, Hannover, 18. bis 23. Juli 1994. Vorträge I. Teil. Hrsg. von der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft e.V. Hannover. Hannover 1994, S. 525-533. Johann Christoph Gottsched: Neue Vorrede des Herausgebers. In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Theodicee das ist, Versuch von der Güte Gottes, Freiheit des Menschen, und vom Ursprünge des Bösen. [Hannover und Leipzig 1744; Ravier 421] Nach der 1744 erschienenen, mit Zusätzen und Anmerkungen von Johann Christoph Gottsched ergänzten, vierten Ausgabe herausgegeben, kommentiert und mit einem Anhang versehen von Hubert Horstmann. Berlin 1996, S. 10. Vgl. Helmut Pulte: Das Prinzip der kleinsten Wirkung und die Kraftkonzeptionen der rationalen Mechanik. Eine Untersuchung zur Grundlegungsproblematik bei Leonhard Euler, Pierre Louis Moreau de Maupertuis und Joseph Louis Lagrange. Stuttgart 1989, bes. S. 216-225: Die Maupertuis-KönigKontroverse. Vgl. auch den von Hartmut Hecht herausgegebenen Sammelband: Pierre Louis Moreau de Maupertuis. Eine Bilanz nach 300 Jahren. Berlin 1999. Aus der Reihe von Beiträgen dieses Bandes, die sich mit dem Prinzip der kleinsten Aktion befassen, sei hier nur der Aufsatz von Herbert Breger deshalb hervorgehoben, weil er mit überzeugenden Gründen den von König präsentierten Brief Leibnizens für nicht echt hält: Über den von Samuel König veröffentlichten Brief zum Prinzip der kleinsten Wirkung, S. 363-381. Vgl. hierzu den ausführlichen - Briefe Königs an Albrecht von Haller wiedergebenden - Artikel von Rudolf Wolf: Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz. Band 2. (1859), der vollständig wiedergegeben ist in: Deutsches Biographisches Archiv. Mikrofiche-Edition. Hrsg. von Bernhard Fabian, unter der Leitung und Bearbeitung von Willy Gorzny. München 1982ff., Fiche 683, S. 146-187.

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stuhl innehat, schicken. Nach dem Tod Königs - die von ihm geplante Ausgabe kommt nicht zustande - gelangen die Manuskripte unter abenteuerlichen Umständen wieder zurück nach Hannover.48 Der Blick auf die gescheiterten Bemühungen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, eine größere Leibniz-Ausgabe zustande zu bringen, zeigt, welche hohe Wertschätzung bereits früh Leibnizschen Schriften und Briefen entgegengebracht wurde, aber auch die Schwierigkeiten, mit denen potentielle Editoren zu kämpfen hatten: Nur zum ganz geringen Teil war es möglich, auf den Nachlaß in Hannover zurückzugreifen (ein Gegenbeispiel ist der genannte Samuel König, der unmittelbaren Einblick in den Hannoverschen Nachlaß hatte, der freilich noch nicht durch Findmittel erschlossen war), alle anderen waren darauf angewiesen, auf gedruckte und umlaufende Leibnitiana im Original oder in Abschrift zuzugreifen. Gewiß hat aber auch die jeweilige Ungunst der Umstände eine Rolle beim Scheitern dieser editorischen Pläne gespielt. Aufschlußreich ist auch der Umstand, daß es aus den offiziellen Kreisen der Berliner Akademie der Wissenschaften in Berlin heraus im 18. Jahrhundert keine Anstrengungen gab, eine Edition der Werke ihres Gründers zu veranstalten: Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird sich die Akademie im Zeichen des Historismus dieser Aufgabe stellen.

VI.

Typen von Leibniz-Editionen

In diesem Abschnitt ist keineswegs Vollständigkeit der Darstellung angestrebt: Es soll nicht darum gehen, die gesamte Bibliographie von Ravier in Prosa zu übersetzen. Vielmehr soll versucht werden, signifikante Beispiele für bestimmte (vor allem philosophische) Typen von Leibniz-Editionen anzuführen, die man (grosso modo) auch in eine zeitliche Abfolge vom 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts bringen kann, bis dann das Unternehmen der großen, historisch-kritischen Akademie-Ausgabe begonnen wird, von der im übernächsten Abschnitt gehandelt werden wird. 1. Engagiertes Publizieren: ,Leibnizianer' und Anti-Leibnitianer Eine ganze Reihe der in diesem Abschnitt genannten Editoren haben Leibniz noch persönlich gekannt bzw. haben mit ihm Briefe gewechselt: so auch der Jesuitenpater Bartholomäus des Bosses (1668-1728), dessen Korrespondenz mit Leibniz eine der bedeutendsten Quellen für dessen metaphysisches Denken in seinen letzten Lebensjahren darstellt.49 Er ist freilich nur bedingt als Editor eines Leibnizschen Werkes an-

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Der meines Wissens einzig ausführliche, auch hannoversche Archivalien berücksichtigende Bericht über den Vorgang findet sich an unerwarteter Stelle: Paul Binder - unter Mitarbeit von Hans Immel und Wilhelm Totok: Das Tagebuch des Siebenbürgers Stephan Halmägyi Uber seine Reise nach Deutschland in den Jahren 1752/1753 unter besonderer Berücksichtigung Hannovers und seiner königlichen Bibliothek. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 46/47 (1975), S. 53f., Anm. 103. Bodemann 1889 (Anm. 12), S. 22, Nr. 95. - Eine zweisprachige, kommentierte Ausgabe des Leibnizdes Bosses-Briefwechsels wird dieser Bedeutung entsprechend gegenwärtig im Rahmen des Editionsprojektes „The Yale Leibniz" vorbereitet. Auch eine entsprechende Neubearbeitung des Leibniz-

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zusprechen, doch ist er es, der 1719 eine gewissermaßen „offiziöse" lateinische Übersetzung der Theodizee vorlegt,50, die den leibnizschen metaphysischen Optimismus auch dem des Französischen unkundigen Teil des gelehrten Europas vertraut machen sollte und die praktisch unter den Augen Leibniz' und mit dessen Billigung entstand und für die dieser selbst noch eine Reihe von erläuternden Zusätzen verfaßte." In die Reihen der .engagierten' Herausgeber (bzw. Übersetzer) gehört des Bosses auch deshalb, weil er in einem seiner Übersetzung vorangestellten, umfangreichen Monitum Interpretis nicht allein zahlreiche Auszüge aus Briefen Leibniz' an ihn wiedergibt, sondern auch dartun möchte, daß die Leibnizsche Vorstellung einer ,necessitas moralis (Dei) ad optimum' bereits in der Scholastik bzw. Neoscholastik zu finden ist.52 Ebenfalls unter die .engagierten' Editoren zu zählen ist der Jenaer Philosoph und Rechtsgelehrte Heinrich Köhler (1685-1737), der in der Publikationsgeschichte der Leibnizschen Werke im frühen 18. Jahrhundert eine herausragende Rolle spielt. Köhler hatte in seiner Eigenschaft als Hauslehrer beim Baron von Schreyvogel in Wien Leibniz bei dessen dortigem fast zwei Jahre währenden Aufenthalt (Mitte Dezember 1712 - September 1714) kennen gelernt und engsten Umfang mit ihm gepflogen. 53 Köhler hat nicht allein den Leibnizschen Briefwechsel mit Samuel Clarke herausgegeben 54 , sondern auch die von ihm so bezeichnete Monadologie - allerdings in deutschen Übersetzungen. 55

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Arnauld-Briefwechsels wird in diesem Rahmen erscheinen. Vgl. den Beitrag von Philip Beeley in diesem Band. Gottfried Wilhelm Leibniz: Tentamina Theodicaeae [...]. Ab ipso Auetore emendata et auetior. Frankfurt 1719 (Ravier 344). Die in einer künftigen kritischen Ausgabe der Theodizee innerhalb der Reihe VI der Akademie-Ausgabe neben dem handschriftlichen Material in Hannover (LH I 1; vgl. Bodemann 1895 (Anm. 12), S. 3-4) zu berücksichtigen sein werden. In deutscher Übersetzung sind diese Zusätze auch zugänglich bei Robert Habs. Gottfried Wilhelm Leibniz: Die Theodicee. Nebst den Zusätzen der Desbosse' sehen Übersetzung. Hrsg. von Robert Habs. Leipzig: Reclam o. J. Eine Aufasssung, die durch die Forschungen von Sven K. Knebel bestätigt wird. Vgl. ders.: Necessitas moralis ad optimum. Zum historischen Hintergrund der Wahl der besten aller möglichen Welten. In: Studia Leibnitiana 23 (1991), S. 3-24; Ders.: Necessitas moralis ad optimum. Die früheste Absage an den Optimismus. Eine unveröffentlichte Handschrift Jorge Hemelmans S.J. von 1617. In: Theologie und Philosophie 67 (1992), S. 514-535. Kurt Müller und Gisela Krönert: Leben und Werk von Gottfried Wilhelm Leibniz. Eine Chronik. Frankfurt/M. 1969, S. 247. Dort wird flir diese Information keine Quelle angegeben. Vgl. jedoch Friedrich Christian Baumeister: Exercitatio VII. Memoria Henrici Koehleri. In: Ders.: Exercitationes Academicae et Scholasticae. Leipzig, Görlitz 1741, Exercitatio VII, S. 60-72, bes. S. 66-67. Hier nur Einiges aus dem längeren Bericht des Schülers von Köhler: „Koehlerus petebat Vindobonam, ubi, Leibnitio, qui tum Vindobonae commorabatur, salutato, ita se ad eius amicitiam applicabat, et in eius consuetudinem se ita immergebat, ut prorsus una viveret, nec fere ab isto recederet. [...] Quod ipse, si recte memini, post id tempus, saepius confessus est, seque, affirmavit, in lucro, magnaeque suae felicitatis parte ponere, quod familiariter usus sit Leibnitio, Multis interim, dum Leibnitio affuerat, luculentisque ingenii speciminibus innotuerat illustribus, generosoque natis loco, quibus cum prolixissime commendaretur a Leibnitio, dignus existimabatur, qui liberi Baronis de Schreyvogelii filio, ad exteros commigraturo, morum studiorumque moderator adiungeretur." Merkwürdige Schriften welche [...] zwischen dem Herrn Baron von Leibnitz und dem Herrn D. Clarke über besondere Materien der natürlichen Religion [...] gewechselt [...]. Hrsg. von Heinrich Köhler. Frankfurt/Leipzig 1720 (Ravier 351). Heinrich Köhler: Des Hm. Gottfried Wilhelm Leibnitz [...] Lehr Sätze Uber die Monadologie [...]. Frankfurt/Leipzig 1720 (Ravier 352). Antonio Lamarra: Le traduzioni settecentesche della Monadologie. Christian Wolff e la prima rieezione di Leibniz. In: Ders., Roberto Palaia, Pietro Pimpinella: Le

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Aber auch eine dezidierte Gegnerschaft gegenüber der Leibnizschen Philosophie konnte der Grund sein, Leibnizsche Texte zu publizieren: So veröffentlichte der Tübinger Theologe J. C. Creiling 1722 die lateinische Fassung der Monadologie, um sie Satz für Satz zu widerlegen.56

2. Beginnende historische Distanz Ein bedeutendes Inzitament für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, sich verstärkt und wiederum Leibniz und seiner Philosophie zuzuwenden, dürften ohne Zweifel zwei Editionsunternehmen sein, deren Bedeutung für die zeitgenössische Rezeption (und weit bis ins 19. Jahrhundert hinein) kaum zu Uberschätzen ist: die Edition der (Euvres philosophiques (1765) von Rudolph Erich Raspe57 und die große Sammlung der Opera omnia. Nunc primum collecta (1768) in sechs Bänden, veranstaltet von Louis Dutens.58 Raspes Sammlung machte einer interessierten Öffentlichkeit u. a. zuallererst mit Leibniz' umfassender Auseinandersetzung mit dem Lockeschen Empirismus, den Nouveawc Essais sur l'entendement humain (entstanden 1703-1705) bekannt. So sehr diese Publikation inspirierend auf die Philosophen der Zeit von Lessing59, Herder60, Goethe bis hin zum Deutschen Idealismus61 gewirkt haben mag - was hier im Einzelnen nicht dargestellt werden kann - so sind doch hiervon wiederum nur punktuelle Anregungen für ein je eigenständiges Philosophieren ausgegangen: Schon die Begeisterung des späteren 18. Jahrhunderts für die Philosophie Spinozas hat dafür gesorgt. War doch schon die Vorrede des Göttinger Mathematikers Abraham Gotthelf Kästner

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prime traduzioni della Monodalogie di Leibniz (1720-1721). Introduzione storico-critica, sinossi dei testi, concordanze contrastive. Florenz 2001, S. 1-117.; Ders.: Why in the 17th Century Leibniz's Monadology was translated rather than published? W o l f f s good reasons for a cultural policy. In: Nihil sine ratione. Mensch, Natur und Technik im Wirken von G. W. Leibniz. VII. Internationaler LeibnizKongreß. Berlin, 10. - 1 4 . September 2001. Vorträge 2. Teil. Hrsg. von Hans Poser et al. Berlin 2001, S. 685-692. J. C. Creiling: Principia Philosophiae Autore G. G. Leibnitio in Actis Eruditorum Lipsiae Tom. VIII. Supplementorum Sect. XI. Publicata et Disquisitione Academica ventilata. Tübingen 1722. (Ravier 364). Zur theologischen Opposition im deutschen 18. Jahrhundert gegen die Leibnizsche Philosophie, zumal gegen den metaphysischen Optimismus vgl. Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz' Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland. Stuttgart 1997. (Euvres Philosophiques Latines & Frar^oises de feu M r . e Leibnitz. Tirees de ses manuscrits qui se conservent dans la bibliotheque royale ä Hanovre, et publiees par Mr. Rud. Eric Raspe. Avec une Preface de Mr. Kaestner Professeur en Mathematiques ä Göttingue. Α Amsterdam et ä Leipzig, Chez Jean Schreuder. MDCCLXV. (Ravier 472). Gothofredi Guilielmi Leibnitii [...]. Opera Omnia, Nunc primum collecta, in Classes distributa, praefationibus & indicibus exornata, studio Ludovici Dutens. Genevae, Apud Fratres de Tournes. MDCCLXVIII. 6 Bde. (Ravier 473). Vgl. etwa Monika Fick: Lessing-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2000, S. 444^146: Lessing als Leibnizianer. Vgl. etwa Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie. Ästhetik. Geschichtsphilosophie bei J. G. Herder. Hamburg 1990. Vgl. dazu auch Stefan Lorenz: De mundo optimo. Studien zu Leibniz' Theodizee und ihrer Rezeption in Deutschland. Stuttgart 1997, S. 226-236. Vgl. Guido Zingari: Leibniz, Hegel und der Deutsche Idealismus. Dettelbach 1993. Zum Verhältnis Leibniz-Schleiermacher vgl. Stefan Lorenz: Schleiermachers frühe Fragmente zu Leibniz (1797). Idealistische Kritik am Rationalismus. In: Nihil sine ratione. VII. Internationaler Leibniz-Kongreß. Berlin, 10. - 1 4 . September 2001. Nachtragsband. Hrsg. von Hans Poser et al. Berlin 2002, S. 258-266.

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zur Raspeschen Sammlung zwar von Hochachtung für den Mathematiker Leibniz als dem Erfinder des Infinitesimalkalküls geprägt, aber auch von deutlichen Reserven gegenüber dessen Metaphysik bestimmt.62 Die sechsbändige Ausgabe der Leibniz'sehen Opera omnia, veranstaltet von Louis Dutens (t 1812), sind ein beeindruckendes Monument gelehrten Sammlerfleißes und brauchen hier keiner näheren Betrachtung unterzogen werden: Albert Heinekamp hat ihr eine Studie gewidmet:63 Für sie darf ihr Einfluß bis weit ins 19. Jahrhundert (und für einzelne Stücke bis heute) sprechen und die Tatsache, daß „es aber bisher keinem anderen geglückt ist, eine Ausgabe vorzulegen, die sich in bezug auf Vollständigkeit und Vielseitigkeit der zu berücksichtigenden Themen mit der von Dutens messen könnte."64 Dutens präsentiert die Leibnizschen Texte nach Disziplinen geordnet, aber ohne den Versuch der Herstellung einer inneren Chronologie: Er publiziert bereits Veröffentliches oder Bekanntes, ohne auf den Hannoveraner Nachlaß zurückgreifen zu können. Zwar ist es seine Ausgabe, die auf lange Zeit der gelehrten Welt die einschlägigen Texte Leibniz' zur Verfügung stellen, doch ist sie weit davon entfernt, kritischen Ansprüchen zu genügen: So präsentiert sie etwa nicht nur die sog. Monadologie noch in der nicht von Leibniz stammenden, lateinischen Fassung65 (die französische Originalfassung wird erst 1840 von Erdmann publiziert), sondern auch die Essais de Theodicee nicht in der französischen Originalfassung, sondern in der lateinischen Übersetzung von Johann Ulrich Steinhofer (1739),66 die sich zwar durch zahllose gelehrte Anmerkungen zur zeitgenössischen Rezeptionsgeschichte der Theodizee empfiehlt, aber eben doch nur eine Übersetzung ist. Gleichwohl bleibt die Sammlung Dutens' ein herausragendes Monument der Leibniz-Philologie: Niemand Geringeres als Lessing lobt sie (und beklagt gleichzeitig die deutsche Gleichgültigkeit Leibniz gegenüber): „da Deutschland überhaupt so äußerst nachlässig gewesen, die Bemühungen dieses würdigen Ausländers zu unterstützen. Anstatt daß man sich um die Wette hätte beeifern sollen, ihm mit so vielen ungedruckten Vermehrungen, als sich nur immer auftreiben lassen wollen, an die Hand zu gehen: hat man ihm auch nicht einmal alle bereits gedruckten Aufsätze seines Autors angezeigt."67

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Abraham Gotthelf Kästner: Preface zu den (Euvres (Anm. 57), S. III—VIII. Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Albert Heinekamp: Louis Dutens und seine Ausgabe der ,Opera omnia' von Leibniz. In: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hrsg. von Albert Heinekamp. Stuttgart 1986. (= Studia Leibnitiana Supplementa XXVI), S. 1-28. Heinekamp (Anm. 63), S. 1. Principia philosophiae, autore G.G. Leibnitio. In: Actorum Eruditorum Supplementa VII (1721) sect. XI, S. 500-514. G. G. Leibnitii Tentamina Theodicaeae [...]. Francofurti et Lipsiae. Impensis Christophori Henrici Bergeri. MDCCXXXIX. (Ravier409). Gotthold Ephraim Lessing: Leibniz von den ewigen Strafen (1773). In: Werke. Hrsg von Herbert G. Göpfert. Band VII (Darmstadt 1996), S. 171-197, hier S. 173f.

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3. Beginn der historischen Kritik: die Editionen der Spezialisten Unterdessen machte sich auch auf dem Gebiet der philosophischen Leibniz-Philologie der historische Sinn des 19. Jahrhunderts geltend: Es ging darum, nach entwicklungsgeschichtlichen Kriterien geordnete Editionen vorzulegen, deren Textkonstitution sich überdies an den Originalen und ihrer womöglich kritischen Rekonstruktion zu orientieren hatte. Im Jahre 1840 legte der Rechtshegelianer und Historiker der Philosophie, Johann Eduard Erdmann (1805-1892) 68 die Ausgabe God. Guil. Leibnitii Opera Philosophica quae exstant Latina Gallica Germanica omnia69 vor, die mit der Präsentation ihrer insgesamt 101 Stücke (von 1663-1716) erstmals nicht nur ein chronologisch geschlossenes Bild des Philosophen Leibniz zu präsentieren beabsichtigte, sondern auch Texte erstmals in der Originalsprache brachten: so die sog. Monadologie, die nun im französischen Original zu studieren war. So konnte auch C. L. Grotefend im Jahre 1846 im Rahmen seiner Edition des in philosophischer Hinsicht überaus bedeutsamen Briefwechsels zwischen Leibniz und Antoine Arnauld70 erstmals eine geschlossene Darstellung der reifen Metaphysik Leibnizens, den sog. Discours de Metaphysique (um 1686), drucken.71 Zu den editorischen Großtaten des 19. Jahrhunderts, von denen die Leibniz-Forschung bis heute profitiert, gehören die Leibniz-Editionen von Karl Immanuel Gerhardt (1816-1899), 72 der Leibnizens Mathematische Schriften in 7 Bänden (18491863) und seine Philosophischen Schriften in ebenfalls 7 Bänden (1875-1890) herausgab.73 4. Leibniz-Edition als nationale Aufgabe Am 24. Januar des Jahres 1812 faßte die Akademie der Wissenschaften zu Berlin mit ihrem neuen Statut auch den Beschluß, am 3. Juli eines jeden Jahres zum Gedächtnis an ihren Gründer Gottfried Wilhelm Leibniz eine öffentliche Sitzung abzuhalten.74 Dieser Beschluß in der Zeit der Napoleonischen Kriege kann auch als Versuch und Zeichen gelesen werden, sich mit Leibniz auf eine übergreifende, nationale Identifikationsfigur zu beziehen. Ab 1814 wurde dann der Leibniz-Tag regelmäßig mit einer

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Zu Erdmann vgl. Friedrich Ueberweg: Grandriss der Geschichte der Philosophie. Vierter Teil. Die deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart. Hrsg. von Traugott Konstantin Oesterreich. 13. Aufl. Graz 1951, S. 206. Berolini sumptibus G. Eichleri. MDCCCXL (Ravier 552). Briefwechsel zwischen Leibniz, Arnauld und dem Landgrafen Emst von Hessen-Rheinfels aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover herausgegeben. (= Leibnizens Gesammelte Werke aus den Handschriften der Königlichen Bibliothek zu Hannover herausgegeben von Georg Heinrich Pertz. Zweite Folge. Philosophie. Erster Band.). Hannover 1846. (Ravier 586). A.a.O. (Anm. 70), S. 154-193. Vgl. Heinz-Jürgen Hess: Karl Immanuel Gerhardt. Ein großer Leibniz-Editor. In: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz. Hrsg. von Albert Heinekamp, S. 2 9 64. (Vgl. Anm. 63). Vgl. Ravier 602, 606, 620, 625, 636, 642, 632, 641, 651, 685, 692, 733, 704, 712, 726, 744. Vgl. Statuten der Königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin (24. Januar 1812), § 18. Abgedruckt bei Adolf Harnack: Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Zweiter Band. Urkunden und Actenstücke. Berlin 1900, Nr. 194, S. 367-374, hier S. 369.

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Festrede des jeweiligen Secretars der philosophischen Klasse der Berliner Akademie begangen. Gleichwohl hat die Berliner Akademie keine Versuche gemacht, selbst eine Edition der Werke ihres Gründers zu veranstalten. Als Protagonist einer national motivierten Beschäftigung mit Leibniz darf der hochverdiente Gottschalk Eduard Guhrauer (1809-1854) 75 gelten. Guhrauer hatte bereits 1831 eine Preisaufgabe der philosophischen Fakultät der Universität Breslau gelöst: Laudationem Godofr. Guil. Leibnitii, in qua non tarn philosophiae conditum ab illo systema quam magnum ejus monumentum ad literas, mores, religionem et res civiles Europae respiciatur. Im Jahre 1835 erwarb er in Berlin den Doktortitel mit der Arbeit Leibnitii de unione animae et corporis doctrina. Frucht seiner Forschungen zu Leibnitiana in Hannover und Paris (so gelang es ihm etwa, die von Dutens verloren geglaubte philosophische Erstlingsschrift Leibniz' De principio individui (1663)76 wiederzuentdecken) war nicht allein seine Edition von Leibniz' Deutschefn] Schriften (1838/1840),77 sondern auch seine Einsicht in die Notwendigkeit einer „künftigen kritischen Gesammtausgabe der Werke von Leibnitz" - so der Titel einer Verschriftlichung eines von ihm am 2. April 1840 gehaltenen Vortrages in der „Gesammtsitzung der königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften."78 Schon in seiner Widmungsvorrede zum ersten Band seiner Deutschen Schriften von Leibniz, die an niemand Geringeren als an Karl August Varnhagen von Ense gerichtet ist, berichtet er, daß er sich „meist philosophisch mit Leibnitz [...] beschäftigt hatte" und es bei ihm ursprünglich „auf eine neue Darstellung seines spekulativen Systems abgesehen war." Die völlig mangelhafte Quellenlage zu einem solchen Unterfangen habe ihn aber davon überzeugt, daß zunächst „das allgemeiner gewordene spekulative Interesse an Leibnitz selbst durch eine kritische Revision der bisherigen historischen und literarischen Grundlagen dieser Studien gefördert werden sollte."79 Denn es sei zu beklagen, daß seit Ludovici80 „für Kritik des Leibnitz [...] also ganzer hundert Jahre, kein Schritt vorwärts gethan wurde."81 Zumal - so Guhrauer im letzten Dezennium „vor der zweihundertjährigen Jubelfeier des Geburtstages des großen Leibnitz, des Stolzes der deutschen Nation"82 gehe es nicht an, „uns jetzt aber an die Sammlung, die wir dem Fleiße des Auslandes verdanken" anzuvertrauen (gemeint ist die Ausgabe von Dutens), sondern es gehe darum, eine „künftige, wahre Ge-

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Vgl. den Artikel , Guhrauer' von Hermann Hettner. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Zehnter Band (1879), S. 99-102. Leibnitz's Dissertation De principio individui. Herausgegeben und kritische eingeleitet von Dr. G. E. Guhrauer. Berlin 1837 (Ravier 546). Ravier 548; 554. Vgl. Harnack 1900 (Anm. 74), Dritter Band: Gesammtregister über die in den Schriften der Akademie von 1700-1899 erschienenen wissenschaftlichen Abhandlungen und Festreden. Bearbeitet von Otto Köhnke. Berlin 1900, S. 115. Der Aufsatz erschien unter dem Titel: Ideen zu einer künftigen kritischen Gesammtausgabe der Werke von Leibnitz. In: Deutsche Vierteljahrs Schrift. Erstes Heft. Stuttgart und Tübingen 1841, S. 315-336. Leibnitz's Deutsche Schriften. Erster Band. Hrsg. von Gottschalk Eduard Guhrauer. Berlin 1838, S. VII. Zu Ludovici vgl. o. Anm. 31. Guhrauer, a.a.O., S. VIII. Guhrauer, a.a.O., S. IX f.

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samtausgabe von Leibnitzens Schriften" zu veranstalten, die die folgenden Aufgaben zu lösen hätte: Unterscheidung des Echten vom Unechten, Ersetzung der Uebertragungen in fremde Sprachen durch die Urschriften, methodische Anordnung, Reinigung und Herstellung des Textes von unzähligen Verstümmelungen und Lücken, und [...] Einverleibung einer Menge Schriften, welche wie zerissene Glieder eines Körpers, noch immer zerstreut, ungekannt, ungenossen, umherliegen. Dazu kämen nothwendig kritische, einleitende Abhandlungen nach dem heutigen Standpunkte der Wissenschaft, wo jede bedeutende Schrift oder Gruppe von Schriften in ihr rechtes Licht und ihren Zusammenhang mit dem Organismus des Leibnitzischen Geistes gesetzt würde.83

Eine solche Edition der Werke Leibniz' wäre eine mehr als nur nationale Aufgabe, denn „Ein solcher Geist gehört also mit Fug und Recht heute dem ganzen Deutschland, wie im Allgemeinen, so in den individuellsten Beziehungen zu, ein Geist, um den Europa uns beneiden möge."84 Guhrauer hat auch mit seiner noch heute lesenswerten (und zum Teil nicht überholten) Biographie Leibniz' 85 solche basale Voraussetzungen zu schaffen versucht. Das Programm einer ,künftigen, wahren Gesamtausgabe' der Werke Leibniz' entwirft Guhrauer dann in seinem schon erwähnten Aufsatz Ideen zu einer künftigen kritischen Gesammtausgabe der Werke von Leibniz86 von 1841. Inzitament zu einer solchen Ausgabe müsse der ,.Nationalstolz" sein, der im Falle Leibnizens den Deutschen bisher gefehlt habe: jeder einzelne [sc. einer Nation S.L.], welcher sich im Gefühl des Ganzen weiß, ist gehoben in jedem aus der Gesammtheit hervorgegangenen, die Masse überragenden großen Manne. [...] jedes Monument, daß sie [sc. die Nation S.L.] ihnen setzt, setzt sie sich selbst. Doch hier zeigt sich schon unserm Blick [...], daß das Vaterland Leibnitzens für ihn das Zierende, oder nur das Nothwendige noch nicht gethan hat [...]. Aus Mangel an Nationalstolz, an Nationalgefiihl hat Deutschland in verflossenen Jahrhundert ruhig zugesehen, daß ein Ausländer den ersten Versuch machte, die zerstreuten und verstümmelten Glieder des deutschen Heros [...] in einem Körper zu sammeln. 87

Mit dem genannten „Ausländer" ist natürlich Louis Dutens gemeint, den Guhrauer für seine Bemühungen zwar hoch schätzt: Freilich überwiegen die Mängel der Dutensschen Ausgabe,88 denen auch durch Verbesserungen und Supplementbände nicht würde abgeholfen werden können. „Was" - so befragt Guhrauer die deutsche Nation - „muß geschehen, um die jetzt nicht mehr abzuleugnende Schuld abzutragen? [...] [W]ie kommen wir dahin, jenes Maaß, jene Circumferenz zu trefen, wornach wir in das so verwahrlosete Gebiet

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Guhrauer, a.a.O., S. Xlf. Guhrauer, a.a.O., S. XIV. Gottschalk Eduard Guhrauer: Gottfried Wilhelm Freiherr von Leibnitz. Eine Biographie. 2 Tie. Breslau 1842. 2. erw. Auflage. Breslau 1846. Vgl. Anm. 78. Guhrauer, a.a.O., S. 316f. Zur Guhrauschern Kritik an Dutens vgl. a.a. O., S. 331-334.

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Ordnung bringen mögen? Daß man dahin gelange, eine Ausgabe der Werke des großen Leibnitz aufzustellen, welche der Kenner mit Genugthuung, der Patriot mit Genuß ansehe? Welche geeignet wäre, als eine Hervorbringung jener humanen Wirkungen zu dienen, welche wir uns von dem Geiste, der in Leibnitz's Schriften weht, versprechen dürfen?"89 Die Empfehlungen, die Guhrauer im folgenden ausspricht, lesen sich wie eine Vorwegnahme dessen, was erst die französisch-deutsche Akademie-Ausgabe, von der weiter unten die Rede sein wird, später ab 1901 zu verwirklichen suchen wird. Die von Guhrauer geforderte Ausgabe der Werke Leibniz' hätte zunächst eine chronologische Anordnung aller Stücke zu bieten: „Das Leben Leibnitzens wird einen integrierenden Theil seiner Werke bilden."90 Zu diesem Zweck sei aber dann eine Phase der „kritischen Vorarbeiten" zu durchlaufen, innerhalb deren jedes bekannt gewordene Stück (publiziert oder unpubliziert) ermittelt und in die Chronologie der Entstehung eingeordnet und beschrieben werden müsse: „auf daß es als würdiges Bestandtheil in seine Stelle eintrete." Diese, wie die nachfolgenden, im eigentlichen Sinne editorischen Arbeiten („eine so weitläuftige Arbeit") müssten notwendig von einem Gremium von Gelehrten verschiedener Disziplinen wahrgenommen werden, und zwar „ nach Einem Plane und Einem Geiste [...] nicht das Werk eines Einzelnen [...]; sondern daß Mehrere, Gelehrte von verschiedenen Fächern, von gleichem Eifer für das Objekt beseelt, sich in die Arbeit theilen müßten." Angesichts der übernationalen Bedeutung des Werkes von Leibniz müsse klar sein, daß es sich bei der projektierten Ausgabe „um Stiftung einer ganz Europa interessierenden Monumentalausgabe" handeln müsse, der es „nicht etwa um Befriedigung relativer Bedürfnisse, etwa des Unterrichts" gehen dürfe. Daher seien auch französische Gelehrte („wegen des reichen Bestandtheils französischer Schriften") beizuziehen. „Setzten wir das Material vollständig herbeigeschafft," - so schließt Guhrauer „gesichtet, kritisch bearbeitet und für den Druck bereitet, alsdann wird es Zeit seyn, über die Eintheilung und Anordnung, über Zahl, Stärke, Form der Bände u.s.w. sich zu verständigen." Dies umfassende und zukunftweisende Programm hat Guhrauer 1841 formuliert: Seine Anregungen zu einer Leibniz-Ausgabe sind ohne unmittelbare Resonanz geblieben. Er ist am 5. Januar 1854 im Alter von nur 43 Jahren gestorben, angesichts seiner Verdienste, nicht nur um die Leibniz-Forschung, wird man Hettners Satz: „Nie wird man Leibniz [...] nennen können, ohne Guhrauer's ehrend zu gedenken"91 zustimmen: Ob sich allerdings die Initiatoren und Protagonisten der Akademie-Ausgabe von 1901 im Klaren darüber gewesen sind, daß sie in den philologischen und konzeptionellen Fußstapfen Guhrauers wandelten, dies muß bezweifelt werden. Sollte freilich die historische-kritische Leibniz-Philologie - wo sie denn diesen Namen beansprucht und diesen Anspruch zu erfüllen bemüht ist - ein ,Patrozinium' vergeben wollen: Es

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Guhrauer, a.a.O., S. 334f. Alle folgenden Zitata: Guhrauer, a.a.O., S. 335f. Hettner (Anm. 75), S. 102.

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gebührte ohne Zweifel Gottschalk Eduard Guhrauer, obwohl uns das nationale Pathos, das seine philologisch richtigen Überlegungen umgibt, fremd geworden ist. 5. Edition und Übersetzung als Interpretationslegitimierung Mindestens zwei der noch heute unentbehrlichen bzw. im wissenschaftlichen Gebrauch befindlichen Textsammlungen bzw. Übersetzungen von Werken Leibniz' sind gleichzeitig Dokumente einer ganz bestimmten Interpretation der Leibniz'sehen Philosophie und sollten ursprünglich diese untermauern. Hier ist eine „Trennlinie zwischen einer historischen (philologischen oder hermeneutischen) und einer systematischen Leibnizrezeption nicht zu ziehen." 92 Louis Couturat (1868-1914) hatte in seinem Werk La logique de Leibniz (Paris 1901) die Meinung verfochten, Leibnizens Philosophie sei als eine Art von ,Panlogismus' anzusehen, und daß „Leibnizens Metaphysik einzig und allein auf den Prinzipien der Logik beruht und vollständig daraus hervorgeht." 93 Diese These zu stützen, hatte Couturat eine umfangreiche Sammlung von bis dato unveröffentlichten LeibnizTexten aus dem Hannoveraner Handschriftenbestand publiziert: Diese Sammlung, die Opuscules et fragments inedits de Leibniz• Extraits des manuscrits de la Bibliotheque royale de Hanovre (Paris 1903)94, stellt in Teilen nach wie vor eine wichtige Textgrundlage für die Beschäftigung mit Leibniz' Philosophie dar. Auch Ernst Cassirer war bereits mit einer Monographie zu Leibniz hervorgetreten95, die diesen deutend ebenso in die Vorgeschichte des (Neu-)Kantianismus einzuschreiben suchte, wie dies Paul Natorp mit seiner Platon-Deutung zu tun bemüht war. Aber er [sc. Cassirer] weist [...] mit allem Nachdruck daraufhin, daß sich in Leibniz Scientia generalis eine neue Methodenlehre der schöpferischen Begriffsgestaltung gegen die alte Logik der bloß entwickelnden Begriffsanalyse und in seiner Natur- und Geistesphilosophie der moderne Funktionsbegriff des Werdens gegen den antiken Substansbegriff des Seins immer siegreicher durchringe, und sieht deshalb das eigentliche Wesen und die geschichtliche Bedeutung der Leibnizschen Philosophie einzig und allein in ihrem Piatonismus (nach der Interpretation Lotzes und Natorps [...] oder ihrem Kantianismus, d. h. in der Auffassung der wissenschaftlichen Begriffe als ideeller Relationen, die weder in noch über den phänomenalen Dingen wirklich >sindgelten11 = 10 ω

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Jahrgänge Abbildung: Die sprachliche Verteilung der Beiträge in den Studia Leibnitiana in den Jahren 1969 bis 2002.

III. Der Yale Leibniz und seine Bedeutung für die gegenwärtige Leibniz-Forschung Die regelrechte Blüte der Leibniz-Forschung auf dem nordamerikanischen Kontinent hat den Wunsch nach immer zuverlässigeren Quellen nach sich gezogen. In vieler Hinsicht hat ja die Gerhardt-Ausgabe und die darauf beruhenden Textsammlungen klare Grenzen - zumindest wenn es sich um höhere Studien in den Graduate Schools handelt. An erster Stelle steht dabei das Problem der Sprache. Leibniz hat die meisten seiner Texte auf Latein und Französisch verfaßt, und die Auswahl, die Gerhardt veröffentlicht hat, erscheint nur in der Originalsprache. Die von ihm herausgegebenen Philosophischen Schriften von Leibniz sind außerdem viel zu sehr auf die Metaphysik ausgerichtet,22 die Texte selbst nicht selten unzuverlässig. Da nach und nach auch

22

So sind die aus heutiger Sicht wichtigen Texte zu Characteristica universalis und Scientia generalis bis auf wenige Ausnahmen weitgehend auf die Einleitung zum siebten und letzten Band beschränkt.

Edition und Rezeption

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Bände der beiden von der Leibniz-Forschungsstelle Münster herausgegebenen philosophischen Reihen der Akademie-Ausgäbe (Reihe II: Philosophischer Briefwechsel; Reihe VI: Philosophische Schriften) erschienen sind, war also die Idee schon naheliegend, aus dieser auf Komplettheit abzielenden und zugleich meist zuverlässigen Edition zu schöpfen. Inzwischen ist diese Idee auch in die Tat umgesetzt worden. Unter der Leitung von zwei der gegenwärtig bedeutendsten Leibniz-Forscher in den USA, Daniel Garber und Robert C. Sleigh, Jr. ist das Konzept einer großangelegten Reihe entstanden, die thematisch orientiert Leibniz-Texte im Original mit parallelen englischen Übersetzungen liefern wird. Diese Edition, die bei der Yale University Press erscheint, trägt den ebenso einprägsamen wie schlichten Namen, der Yale Leibniz·23 Obwohl, wie die Hauptherausgeber betonen, sich das Ziel des Yale Leibniz deutlich von dem der Akademie-Ausgabe unterscheidet - es geht ja nicht darum, alles oder gar den größten Teil dessen, was Leibniz' Nachlaß auch an Philosophischem bereithält zu publizieren - , so soll die neue Edition doch soweit wie möglich auf deren Texte zurückgreifen. Soweit wie möglich deshalb - zumindest liegt diese Vermutung nahe weil die von der Leibniz-Forschungsstelle edierten Reihen nicht gerade durch rapides Erscheinen glänzen. Band 1 der Philosophischen Schriften (1663-1672) kam 1930 heraus, Band 2 (1663-1672), der auch die Kommentare zum ersten Band nachlieferte, 1966, Band 3 (1672-1676), der die Zeit von Leibniz' Parisaufenthalt und seinen zwei Besuchen in London umfaßte, 1980, Band 4 (1677-Juni 1690), in dem seine Reise nach Süddeutschland, Wien und Italien als entscheidendes Ereignis fällt und in dem seine reife Metaphysik langsam Gestalt annimmt, 1999. Ein weiterer Band, Band 6, der die Nouveaux Essais und einige thematisch dazu gehörende Stücke enthält, wurde vorgezogen und insofern außerhalb der chronologischen Reihe in Zusammenarbeit zwischen dem französischen Leibniz-Forscher und Malebranche-Herausgeber Andre Robinet und dem damaligen Leiter der Leibniz-Forschungsstelle Heinrich Schepers für den Druck vorbereitet und erschien 1962. Eine derartige Kooperation bei der Erstellung eines Bandes ist bisher eine Ausnahme geblieben24 - obwohl dies ein denkbarer Weg in der Zukunft wäre, die Arbeit an der Edition in Zeiten begrenzter Personalund Finanzressourcen zum Wohl der weltweiten Gemeinde der Leibniz-Forscher zu beschleunigen. Momentan ruht die Bearbeitung der Schriftenreihe; der erste Band des philosophischen Briefwechsels, der bereits 1926 gemäß dem Finanzierungskonzept des damali-

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Bisher erschienen sind: G. W. Leibniz: De summa rerum. Metaphysical Papers, 1675-1676. Hrsg. von George Henry Radcliffe Parkinson. New Haven und London 1992; G. W. Leibniz: The Labyrinth of the Continuum. Writings on the Continuum Problem, 1672-1686. Hrsg. von Richard T. W. Arthur. New Haven/London 2001; G. W. Leibniz: Confessio Philosophi. Papers Concerning the Problem of Evil, 1671-1678. Hrsg. von Robert C. Sleigh, Jr.. New Haven/London 2005. In Vorbereitung sind Ausgaben von Leibniz' Korrespondenz mit Des Bosses (Herausgeber: Brandon Look und Donald Rutherford), mit De Voider (Herausgeber: Paul Lodge), und mit Arnauld (Herausgeber: Stephen Voss). Es gibt allerdings inzwischen einen weiteren Ansatz zur weiteren kooperativen Arbeit an der Edition. Die neugeschaffene achte Reihe, die die naturwissenschaftlich-medizinisch-technischen Schriften zum Druck bringt, wird seit 2001 unter der Aufsicht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Editoren in Berlin, Moskau, St. Petersburg und Paris vorbereitet. Bisher ist kein Band erschienen.

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gen Verlags ohne Kommentare und kritischen Apparat herauskam,25 wird seit Ende der 90er Jahre überarbeitet und soll Anfang des Jahres 2006 in einer völlig überarbeiteten Neuauflage gemäß den jetzigen Editionsprinzipien erscheinen. Zwar haben die Editoren der ersten Auflage Kommentare schon weitgehend vorbereitet und die Lesarten erfaßt, doch der Plan, zu dem der Darmstädter Otto Reichl Verlag damals auch aus Zeitgründen gedrängt hat, den kritischen Apparat nachträglich, genauer erst zum Abschluß einer Reihe zu liefern,26 wurde nie realisiert. Auch die damit zusammenhängende, von der Akademie übernommene Verpflichtung, jedes Jahr einen Band, bei der Erweiterung des Mitarbeiterstabs sogar zwei Bände fertigzustellen, erwies sich schnell als illusorisch.27 Die alten Vorarbeiten zu den Kommentaren und in geringerem Maße auch die zum kritischen Apparat liegen heute noch vor und haben den jetzigen Editoren eine nicht unerhebliche Hilfe bei der Neubearbeitung geboten. Dennoch mußte nicht zuletzt aufgrund der Besonderheiten der jetzt gültigen Editionsprinzipien alles von Neuem bearbeitet werden. Soweit bekannt, soll der Briefwechsel nunmehr durchgehend bis zum Tode Leibnizens im Jahre 1716 fortgesetzt werden, ehe die Arbeit an den gerade von den Leibniz-Forschern ersehnten Bänden der Schriftenreihe wieder aufgenommen wird. Organisatorische Veränderungen, die zu einer Verbesserung der Arbeit fuhren würden, sind nicht in Sicht; unter den jetzigen Bedingungen ist mit einem Abschluß der philosophischen Briefreihe frühestens um 2025, der gesamten Ausgabe um 2050 zu rechnen.28 So ist schon jetzt abzusehen, daß der Yale Leibniz in Zukunft in starkem Maße selbst direkt auf die Leibniz-Handschriften zurückgreifen wird, um die Erfordernisse der in Nordamerika und auch anderswo tätigen Forscher zu erfüllen. Dieser Trend zeichnet sich bereits heute ab. Der nächste Band, der in Kürze erscheinen wird, enthält die in die späte Schaffensperiode fallende Korrespondenz mit dem Jesuiten Bar-

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Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erhielt die Edition keinerlei Zuschuß von Seiten der Akademie und wurde lediglich durch Subskriptionen und das Eigenkapital des Verlags finanziert. Um den erforderlichen Absatz zu erzielen, richteten sich die Bände an ein gebildetes, bibliophiles Publikum, nicht jedoch in erster Linie an Wissenschaftler. Siehe Thomas Seng: Weltanschauung als verlegerische Aufgabe. Der Otto Reichl Verlag 1 9 0 9 - 1 9 5 4 . St. Goar 1994, S. 2 8 1 - 2 9 0 ; Lothar Berthold: Zur Verlagsgeschichte der historisch-kritischen Leibniz-Gesamtausgabe. In: Leibniz: Tradition und Aktualität. V. Internationaler Leibniz-Kongreß. Hannover, 14.-19. November 1988. Vorträge II. Teil. Hrsg. von Albert Heinekamp. Hannover 1989, S. 7 1 - 8 7 . Siehe Leibniz 1923 ff. (Anm. 13) I, 1, S. xxxv. Wie Heinekamp erklärt, wurde bereits 1938 eine Neuordnung der Ausgabe beschlossen, da zu befurchten war, daß sich „die große Zeitspanne zwischen dem Erscheinen der Textbände und der Erläuterungsbände ungünstig auf die Bearbeitung der letzteren auswirken würde". Siehe Albert Heinekamp: [Nachruf auf] Kurt Müller. In: Studia Leibnitiana 16, 1984, S. 1 2 9 - 1 4 2 ; hier S. 133. Als der erste Band mit den neuen, heute noch gültigen Editionsprinzipien 1954 veröffentlicht wurde, sprach man von der Behebung eines oft beklagten Mangels der Ausgabe, „der durch die Verzögerung des Erscheinens der vorgesehenen Erläuterungsbände hervorgerufen wurde". Siehe Leibniz 1923ff. (Anm. 13) I, 5, S. xxiii. Nach dem ursprünglichen Plan sollten diese Bände aber erst später erscheinen. Seng 1994 (Anm. 25), S. 284. Da man damals für die gesamte Ausgabe insgesamt vierzig Bände berechnet hat, ging der Verlagsvertrag mit Reichl von einer Fertigestellung der Edition unter optimalen Bedingungen innerhalb von zwanzig Jahren aus. Heute, achtzig Jahre nach dem Publikationsbeginn, ist nicht einmal die Hälfte der Akademie-Ausgabe veröffentlicht worden. Nach vorsichtiger Schätzung von Heinrich Schepers, der wie kein anderer die zeitaufwendige Natur des Edierens von Leibniz-Handschriften und des Erstellens von druckfertigen Textvorlagen kennt.

Edition und

Rezeption

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tholomaeus Des Bosses. In den kommenden Jahren wird der Yale Leibniz weltweit die Standardausgabe für diese Korrespondenz sein, da ihre Publikation im Rahmen der Akademie-Ausgabe in absehbarer Zeit nicht zu realisieren sein wird. Hätten die Editoren des Yale Leibniz nicht auf diese Weise die Initiative ergriffen, würde die aktuelle Diskussion zum Substanzbegriff, in der die Des Bosses-Korrespondenz eine außerordentlich wichtige Rolle spielt, mit einer unvollkommenen Textbasis arbeiten müssen. Hieraus ergibt sich ein fundamentales Legitimationsproblem für die Akademie-Ausgabe. Geht dieser Trend weiter, so wird die maßgebliche Leibniz-Edition zumindest in philosophischer Hinsicht zunehmend marginalisiert und somit in ihrem Selbstverständnis zumindest teilweise in Frage gestellt. Genau vor einer solchen Entwicklung hat der Wissenschaftsrat in Deutschland vor kurzem gewarnt. Er verwies dabei auf die Gefahr der Monumentalisierung von Langzeitvorhaben. Eine Edition wie die Akademie-Ausgabe ergibt, wie in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats hervorgehoben wurde, nur dann einen Sinn, wenn sie Hand in Hand mit der Forschung geht. Bei den bisher erschienenen Bänden des Yale Leibniz war der Rückgriff auf Leibniz-Handschrifiten nicht notwendig. Man hat sich das chronologische Vorgehen der Akademie-Ausgäbe dadurch zu Nutzen gemacht, daß die bisher in Übersetzungen kaum berücksichtigten Jugendschriften Leibnizens schwerpunktmäßig präsentiert wurden. Dabei steht der Yale Leibniz sehr wohl in der Tradition von Loemker, der seine Sammlung mit einigen Stücken aus Leibniz' Studienzeit in Leipzig wie auch aus seinen frühen Aufenthalten in Frankfurt, Mainz und Paris begonnen hat. Aber durch die Bände der Korrespondenz mit Des Bosses, Arnauld und De Voider wird sich diese Situation ändern; der Yale Leibniz dringt dann in eine Schaffensperiode des Philosophen vor, die von der Akademie-Ausgabe erst in vielen Jahren, wenn die meisten heute aktiven Forscher nicht mehr von ihren Ergebnissen werden profitieren können, vollständig bearbeitet werden soll.

IV.

Die Editionsprinzipien des Yale Leibniz

Die Gestaltung der Bände des Yale Leibniz ist besonders leserfreundlich. Neben einer ausführlichen Einleitung, in der auch die Gründe für die Aufnahme der ausgewählten Stücke genannt werden, gibt es ein fremdsprachiges Glossar (im vor kurzem erschienenen Band Labyrinth of the Continuum beträgt dieser Teil 35 Seiten), ein Wortsowie ein Namensverzeichnis. In zahlreichen Endnoten werden die Texte kommentiert - es wird auf Zusammenhänge auch zwischen verschiedenen Texten und Parallelstellen hingewiesen, heute nicht mehr gängige Termini werden erklärt, Anspielungen aufgelöst und Datierungsfragen bei den meist undatierten Stücken angeschnitten und dabei teilweise gegen die von den Herausgebern der Akademie-Ausgabe angegebenen Datierungsbegründungen argumentiert.29 Dabei scheuen sich die Yale Editoren

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Siehe ζ. B. Arthur 2001 (Anm. 23), S. 415, wo er für ein anderes Datum für das Stück Materiam et motum esse phaenomena tantum, das in Leibniz 1923ff. (Anm. 13) VI. 4, S. 1463 auf den Winter 1682/83 datiert wird, plädiert.

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nicht, sich auf neuere Forschungsergebnisse zu berufen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich deutlich von ihren Münsteraner Kollegen, die gehalten sind, nur die Literatur zu zitieren, die Leibniz zu seinen Lebzeiten hätte selbst lesen können.30 Nur gelegentlich werden Varianten aus dem umfangreichen textkritischen Apparat der Akademie-Ausgabe übernommen und in den Anmerkungen vermerkt. Dann nämlich, wenn die Herausgeber die Streichungen, Korrekturen und dergleichen für philosophisch derart gehaltvoll ansehen, daß sie unmittelbar zum Verständnis von Leibniz' Intentionen beitragen. So wird in dem Stück, dem die Editoren von Band VI, 4 der Akademie-Ausgabe den Titel Defmitiones cogitationesque metaphysicae gegeben haben31 und das Richard Arthur in seinem Kontinuumsband des Yale Leibniz als Metaphysical Definitions and Reflections aufgenommen hat,32 darauf hingewiesen, daß Leibniz die Zeile „cujuslibet corporis partes unum continuum constituunt", übersetzt als „The parts of any body constitute one continuum",33 zunächst durch „and the whole world is one continuum" ergänzt, bevor diese Ergänzung schließlich gestrichen wurde.34 Neben dieser in ihrer Bedeutung sehr auffallenden textkritischen Variante enthält die Akademie-Ausgabe an derselben Stelle mehrere andere, deren Bedeutung zumindest teilweise eher ftir das philologisch als für das philosophisch geschulte Auge erkennbar sein wird. Dafür können die Bände des Yale Leibniz gelegentlich wichtige Ergänzungen liefern. So wird beispielsweise eine korrupte Textstelle in der Druckfassung des genannten Stücks in der Akademie-Ausgabe entdeckt und korrigiert.35 Dennoch bleibt die textkritische Edition auch für den Yale Leibniz maßgebend: Um die Orientierung an der zugrundegelegten Akademie-Ausgabe zu erleichtern, wird zu Beginn jedes Stücks die Nummer innerhalb des korrespondierenden Bandes genannt und links jeweils die Seitenzahl. Soweit es sich um von der Akademie-Ausgabe übernommene Stücke handelt - und dies ist, wie gesagt, bei den bisher erschienenen Bänden ausschließlich der Fall - vollzieht sich beim Yale Leibniz bei der Wiedergabe von Varianten gegenüber den Handschriften gleichsam ein zweifacher Filterprozeß. Denn schon bei der Bearbeitung des kritischen Apparats der Akademie-Ausgäbe werden häufig Varianten bzw. Stufen ignoriert, die aus der Sicht der Editoren lediglich stilistischen Charakters sind. Der Umgang des Yale Leibniz mit Varianten ist bestenfalls ein Kompromiß zwischen dem vollen Verzicht darauf in den üblichen Textsammlungen der Lese- und Studienausgaben und dem detaillierten Apparat der Akademie-Ausgabe. Die Puristen unter den Editoren werden sicherlich immer dem letzteren den Vorzug geben. Aber wir dürfen uns hier keinen Illusionen hingeben. Der von Friedrich Beißner für seine 30

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Ein besonders problematischer Aspekt dieser Praxis liegt darin, daß nicht selten die Ergebnisse der neueren Forschung in den philosophischen Reihen der Akademie-Ausgabe zwar verwertet, die entsprechenden Stellen jedoch nicht zitiert werden. Leibniz 1923ff. (Anm. 13) VI, 4, S. 1393. Das Stück wird auf Sommer 1678 bis Winter 1680/81 datiert. Arthur 2001 (Anm. 23), S. 236/237. Arthur 2001 (Anm. 23), S. 248/249. Arthur 2001 (Anm. 23 ), S. 414. Arthur 2001 (Anm. 23), S. 413. Zu Recht vermutet Arthur, daß dieser Textverlust - einer von mehreren - in der letzten Korrekturphase des Bands VI, 4 der Sämtlichen Schriften entstanden ist.

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Rezeption

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Hölderlin-Ausgabe entworfene Apparat, der die meiste Zeit bei der Erstellung der druckfertigen Texte der Akademie-Ausgabe verschlingt, wird von der weltweiten Gemeinde der Leibniz-Forscher, die wohl schon mit dem Verstehen des meist lateinischen oder französischen Haupttexts genug zu tun hat, kaum wahrgenommen. In der umfangreichen Forschungsliteratur zu Leibniz sucht man meist vergebens nach Zitaten aus dem Apparat oder nach Erkenntnissen, die unmittelbar durch die Lektüre der Varianten gewonnen werden. Dabei dürfte ein Grund für die fehlende Annahme dieses Beiwerks darin bestehen, daß es in seiner Komplexität nicht verstanden wird. Teilweise aus diesem Grunde wurde in letzter Zeit in den philosophischen Reihen besonders bei komplexen Varianten zunehmend auf die Verwendung von Kleindruckpassagen im laufenden Text und nicht darunter zurückgegriffen, um die Übersichtlichkeit zu erhöhen. An dieser Stelle sei ein kleiner Exkurs erlaubt. Als Christoph J. Scriba und der Autor ihre sechsbändige Edition der Korrespondenz des englischen Mathematikers und Theologen John Wallis (1616-1703) begonnen haben, entschieden sie sich für einen kritischen Apparat, der sich an dem der Akademie-Ausgabe von Leibniz orientiert.36 Vor dem Hintergrund der besonders in England verbreiteten sogenannten Formulaic Transcription?1 die anhand von verschiedenen Editionszeichen Korrekturen und Ergänzungen in den Text selbst einbaut, verbanden sie mit diesem Ansatz die Hoffnung, eine weitaus befriedigendere Methode in die angelsächsische Welt einzuführen. Denn beim Bestreben, alle Stufen bei der Entstehung eines Textes wiederzugeben, dürfte aus ihrer Sicht eines nicht vergessen werden: daß der Leser schließlich etwas Lesbares vor sich haben soll. Genau dies wird aber oft durch die Inklusion von editorischen Zeichen, Streichungen, Ergänzungen und dergleichen im Text selbst verhindert. Doch als Michael Hunter, der Herausgeber der neuen Boyle-Ausgabe,der sich wie kaum ein anderer Wissenschaftshistoriker mit Fragen der Editionstechnik befaßt hat und der beileibe kein Befürworter der Formulaic Transcription ist, den ersten Wallis-Band zusammen mit Editionen der Flamsteed- und der Hartlib-Korrespondenz besprach, begrüßte er zwar die Ausführlichkeit, nicht jedoch die Form des Apparats: For instance, though both [sc. Wallis and Flamsteed] sensibly expand standard contractions, the Flamsteed edition could be criticised for its failure to record the page breaks of the original manuscripts, which can be useful for purposes of checking and collation, or for the selectiveness of its record of textual alterations, both of them respects in which the Wallis edition is exemplary (though the method used in recording textual alterations, based on that of the Leibniz edition, is at times somewhat hard to follow). [...] The Wallis edition is also less

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Siehe The Correspondence of John Wallis (1616-1703). Bd. I. Hrsg. von Philip Beeley und Christoph J. Scriba. Oxford 2003, S. xliii-xlvi. Zur Problematik dieser Editionstechnik vgl. Michael Hunter: How to Edit a Seventeenth-Century Manuscript: Principles and Practice. In: The Seventeenth Century 10. 1995, S. 277-310; Karl Schuhmann: Hobbes's Correspondence. In: British Journal for the History of Philosophy 5. 1997, S. 121-149. The Correspondence of Robert Boyle, 1636-1691. 6 Bde. Hrsg. von Michael Hunter, Antonio Clericuzio und Lawrence Μ Principe. London 2001; Michael Hunter und Edward B. Davis: The Works of Robert Boyle. 14 Bde. London 1999-2000.

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helpful to the reader than it might have been in that, unlike the Flamsteed edition, it fails to include translations of letters in Latin.39 Aus der Sicht Hunters - und dies wird in der Praxis bestätigt - ist der von der Akademie-Ausgabe verwendete Apparat alles andere als einfach zu verstehen. Er kritisiert auch das Fehlen von Übersetzungen vor allem der lateinischen Texte in der WallisEdition - eine Aufgabe, die freilich erst zum Abschluß der eigentlichen Editionsarbeit in Angriff genommen werden soll. Dies ist eine Kritik, die heute häufig an die Adresse der Akademie-Ausgabe von Leibniz gerichtet wird. Konnte man früher unter Philosophiestudenten der höheren Semester gute Kenntnisse der französischen und der lateinischen Sprache voraussetzen, so ist dies heute nicht einmal unter Dozenten möglich. Manches Institut in Deutschland hat aus dieser Überlegung heraus seine Subskription zur Akademie-Ausgabe inzwischen storniert. Darüber hinaus sind, wie bereits erwähnt, die meisten Leser heute in anderen Sprachtraditionen aufgewachsen und verfugen auch nicht über gute deutsche Sprachkenntnisse. Dennoch sperrt sich die Edition beharrlich gegen jede Form der Modernisierung mit Hinweis auf die Überzeitlichkeit ihrer editorischen Aufgabe. V.

Edition und Forschung

Gewisse Abhilfe in der Frage der Sprachen schafft der Yale Leibniz mit seinen Parallelübersetzungen, die gleichzeitig den positiven Effekt haben, Leser, die vielleicht nicht von Haus aus gewöhnt sind, mit lateinischen und französischen Texten zu arbeiten, an das Original heranzuführen. Dies ist ein erfreulicher Unterschied auch zu jenen Bänden, die in Deutschland oft als „Studienausgaben" bezeichnet werden und bei bekannten Verlagshäusern erscheinen, in denen dem Studenten ohne entsprechende Sprachkenntnisse oft gleichsam nahegelegt wird, lieber etwas anderes zu tun, als sich mit einem Autor wie Leibniz zu befassen. Auch in anderer Hinsicht erweist sich der Yale Leibniz gegenüber der AkademieAusgabe als den modernen Erfordernissen der Leibniz-Forschung mehr angemessen. Denn obwohl der Schwerpunkt der Yale Reihe nach den Angaben der Hauptherausgeber dem philosophischen Denken von Leibniz gilt, interpretieren sie dieses breit genug, um nicht nur seine Metaphysik und Erkenntnistheorie, sondern auch seine Theologie, Physik und sogar Teile seiner Mathematik mit einzubeziehen. Die aktuelle Diskussion zu Leibniz' Rationalismusbegriff40 bringt die Erkenntnis mit sich, daß der Schlüssel zum Verständnis seines Denkens oft nicht ausschließlich und vielleicht auch nicht primär in jenen Schriften und Briefen zu finden ist, die den philosophischen Reihen zugeordnet sind. Dieses Bedenken lag auch Couturats Forderung nach 39

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Michael Hunter: Whither Editing? In: Studies in History and Philosophy of Science 34. 2003, S. 8 0 5 820; hier S. 81 If. Siehe hierzu Marcelo Dascal: Ex pluribus unum? Patterns in 522+ Texts of Leibniz's Sämtliche Schriften und Briefe VI, 4. In: The Leibniz Review 13. 2003, S. 105-154; Heinrich Schepers, Non alter, sed etiam Leibnitius: Reply to Dascal's Review Ex pluribus unum? In: The Leibniz Review 14. 2004, S. 117-135 sowie die Replik Dascals, Alter et etiam: A Rejoinder to Schepers. In: The Leibniz Review 14. 2004, S. 137-151.

Edition und Rezeption

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einer einheitlichen Edition gegen eine Aufteilung des Leibnizschen (Euvres zugrunde. Insofern diese Reihen heute bestrebt sind, unabhängig von den anderen zu bestehen, wirken sie hier zunehmend forschungshemmend, zumal, wie die Organisatoren einer Konferenz zu Leibniz' Rationalismus, die vor kurzem in Israel stattgefunden hat, beklagen, nur wenige Leibnizforscher alle Ressourcen der verschiedenen Reihen der Akademie-Ausgabe benutzen.41 Wenn in den Bänden des Yale Leibniz das Fehlen von Latein- oder Französischkenntnissen nicht zum Makel stilisiert wird, dann ist dies sicherlich auch teilweise durch unterschiedliche philosophische Traditionen bedingt. Während im englischsprachigen Raum traditionell Wert eher auf die Textanalyse gelegt wird, die sich oft an einem einzigen Text vollziehen kann, wird auf dem europäischen Kontinent eher ein synthetisches Vorgehen bevorzugt, das umfassende Kentnisse des (Euvres und der begrifflichen Eigentümlichkeiten eines Autors verlangt. Das philologische Interesse der Philosophie-Historiker in Ländern wie Deutschland und Italien hat keine Entsprechung in der angelsächsischen Welt. Eine Änderung des Profils der Akademie-Ausgabe in dieser Hinsicht strebt niemand aus dem engeren Kreis der Leibnizforscher an, schon gar nicht jene Editoren des Yale Leibniz, die dankend auf den Fundus der Leibniz-Texte in der maßgeblichen Edition zurückgreifen. Doch es wäre ein Fehler zu glauben, daß beide Traditionen nicht gelegentlich voneinander lernen und profitieren können. So hat neuerdings ein führender amerikanischer Leibniz-Forscher durch die gründliche Analyse des Textes De modo distinguendi phaenomena realia et imaginariis, der zuerst in Gerhardts Philosophischen Schriften und vor kurzem im Band VI, 4 der Akademie-Ausgabe ediert wurde,42 die Vermutung geäußert, daß die letzte Zeile dieses Stücks nicht kontemporär zum restlichen Text entstanden sein könne. Ein genauer Blick auf die Handschrift ließ die Richtigkeit dieser Vermutung bestätigen. Fast unsichtbar für das bloße Auge hat Leibniz die letzte Zeile mit einer anderen Feder geschrieben - die Tinte ist fast zu schwach, um ohne weiteres einen entsprechenden Unterschied festzustellen. Dabei wird eine wichtige Stufe in der Genese seines Denkens über die Begriffe von Körper und Substanz zum Vorschein gebracht, die in vieler Hinsicht mehr aussagt als alles andere, was im kritischen Apparat zu diesem Stück erfaßt wurde. Diese Erkenntnis geht nicht verloren; sie wird freilich jetzt der Neuausgabe einer nordamerikanischen Studienausgabe zugute kommen. Solche Unterschiede werden aber heute generell in der Akademie-Ausgabe nicht mehr vermerkt - aus der Befürchtung heraus, der Interpretation durch die fortlaufende Leibniz-Forschung vorzugreifen. In gewisser Hinsicht ist dies auch verständlich. Die Verwendung einer anderen Feder bedeutet nicht zwangsläufig einen nennenswerten temporalen Unterschied in der Entstehung eines Stücks. Doch indem die Akademie-Ausgabe zu solchen

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Einige Beiträge zu dieser Tagung, die vom 30. Mai bis zum 2. Juni 2005 in Tel Aviv und Jerusalem stattfand, erscheinen demnächst in: Leibniz: What kind of Rationalist? Hrsg. von Marcelo Dascal. Dordrecht. Leibniz 1923ff. (Anm. 13) VI. 4, S. 1498-1504. Dem Text liegt das im Leibniz-Archiv der GottfriedWilhelm-Leibniz-Bibliothek in Hannover befindliche Konzept Leibniz-Handschriften (LH) IV 6. 8b. Bl. 1 - 2 zugrunde.

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Phänomenen schweigt, werden ihren Lesern wichtige Informationen vorenthalten, die womöglich in die Interpretation einfließen könnten. Der völlige Verzicht auf alles, was als Teil einer möglichen Interpretation angesehen werden könnte, bedeutet dann schließlich, daß die Forschung trotz der Existenz einer historisch-kritischen Ausgabe doch nicht auf den Rückgriff auf die Handschriften verzichten kann. Ein anderes Problem, das zur gleichen Konsequenz führt, betrifft den Umgang mit Zeichnungen. In dieser Hinsicht dürfte Leibniz' Auseinandersetzung mit der Frage der körperlichen Konsistenz als Beispiel dienen - eine Frage, die wiederum für die Rekonstruktion der Entwicklung seiner Philosophie von großer Bedeutung ist. In Specimen inventorum de admirandis naturae generalis arcanis,43 einem der Konzepte, die sich um die körperliche Konsistenz drehen und das ebenfalls im Band VI, 4 ediert wurde, ergänzt Leibniz seine schriftlichen Ausführungen durch etliche Zeichnungen. Wie generell in der Akademie-Ausgabe wurden diese Zeichnungen nachgezeichnet und zwischen den gedruckten Textzeilen piaziert, ohne daß man deren ursprüngliche Anordnung auf der Handschrift erkennen kann. Zurecht haben Forscher daraufhingewiesen, daß jede Nachzeichnung eine Interpretation darstellt und daß womöglich wertvolle Erkenntnisse über die wahren Intentionen eines Autors in der Druckfassung verloren gehen.44 Auch hier sehen sie sich gezwungen, trotz der Existenz einer historisch-kritischen Edition auf die Manuskripte zurückzugreifen. Es soll uns sicherlich zu Denken geben, daß die Akademie-Ausgabe, die auch zu dem Zweck konzipiert ist, den Rückgriff auf Leibniz-Handschriften überflüssig zu machen, bei einer solch wichtigen Frage scheitert. Diese beiden Beispiele sind wichtig. Sie sind kennzeichnend für neue Anforderungen, die aus der laufenden Arbeit mit der Edition erwachsen sind. Es wäre ein gravierender Fehler, vor solchen Entwicklungen die Augen verschließen zu wollen. Wir stehen heute vor einer ganz anderen Forschungslandschaft als zum Publikationsbeginn der Akademie-Ausgäbe vor etwa achtzig Jahren, die naturgemäß auch andere Forderungen an wissenschaftliche Editionen in der Philosophie stellt. Der noch in den Anfängen steckende Yale Leibniz ist die editorische Antwort auf ein starkes Forschungsinteresse in den Vereinigten Staaten und anderswo, das angemessenes Material für Studenten in höheren Semestern und professionelle Forscher zur Verfügung gestellt haben will. Die Akademie-Ausgabe wird trotz der langen Zeiträume, die sie für jeden ihrer Bände braucht, ihre führende Position in dieser Forschungslandschaft zweifelsohne behalten und wird sowohl an und für sich als auch über den Mittelweg der vom Yale Leibniz bereitgestellten Themenbände in die englischsprachige Welt hineinwirken. Aber die Editoren der Akademie-Ausgabe können und dürfen sich vor dem Hintergrund der Verschiebung des geographischen und sprachlichen Schwerpunkts der Leibniz-Forschung nicht über die Wünsche und Interessen der LeibnizForscher selbst hinweg setzen. Und daraus ergibt sich schließlich die entscheidende Frage: Was kann die historisch-kritische Edition von Leibniz' Schriften und Briefen 43

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Leibniz 1923ff. (Anm. 13) VI. 4, S. 1615-1630. Dem Text liegt das Konzept LH IV 6, 9, Bl. zugrunde. Dies ist beispielsweise in bezug auf Newton mit großer Deutlichkeit gezeigt worden. Siehe Johannes A. Lohne: The Increasing Corruption of Newton's Diagrams. In: History of Science 6. 67, S. 69-89.

Edition und Rezeption

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von der Forschung und insbesondere von der Erfahrung mit anderen Editionen wie dem Yale Leibniz lernen?45

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Der Autor dankt Gerhard Biller, Stefan Lorenz und Kerstin Steen fiir ihre kritischen Bemerkungen zu diesem Beitrag. Jörg Dieckhoff hat maßgeblich bei der Erstellung der Grafik geholfen.

Tanja Gloyna

Edition - Neuedition: die drei Critiken Immanuel Kants in der Akademie-Ausgabe Eine Baubeschreibung

1.

Die Sanierung eines Palastes

Die Akademie-Ausgabe Kant's gesammelte Schriften ist international als Referenzausgabe für Forschung und Lehre anerkannt. Daß sie eine längere Geschichte hinter sich hat, läßt sich wunderbar an ihren Deckblättern ablesen: Kant's gesammelte Schriften - herausgegeben seit 1900 von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, später von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, von der Akademie der Wissenschaften der DDR und nun von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zu diesem namentlich-politischen Wechsel der Institutionen mit stetem Sitz in Berlin kam, daß sich 1962/63 im Benehmen mit der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin die Göttinger Akademie bereit erklärt hatte, die Betreuung für die Abteilung Vorlesungen zu übernehmen. Trotz der weltweiten Akzeptanz bestehen auch klare Zweifel an der Qualität einzelner Bände. So lautet ein Fazit, das im Vorwort eines Sonderheftes der Kant-Studien über Zustand und Zukunft der Akademie-Ausgabe im Jahr 2000 formuliert ist: „Die Edition ist ein windiger, halb baufälliger Palast, der dringend saniert werden muß."1 Die Sanierungsmaßnahmen in Form der Neuedition vorliegender Bände wurden 2002 eingeleitet, als die Gesamtverantwortlichkeit für die Ausgabe an die BerlinBrandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) ging. Erster Gegenstand der Neuedition waren die Bände XXI und XXII, deren Zustand aufgrund editorischer Unzulänglichkeiten als katastrophal gilt, und damit das unter dem Titel Opus postumum bekannt gewordene Nachlaßwerk des Königsberger Philosophen. Dieser Teil des ,Palastes' wird von Grund auf saniert, indem zunächst eine Neu-Transkription der eher als Arbeitsmanuskript zu bezeichnenden Convolutsammlung unternommen wird.2 Voraussetzung ist die Verfügbarkeit des Autographs, welches sich lange in Privatbesitz befand und 1999 mit Unterstützung des Bundes, der Kulturstiftung der Länder und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius von der Stiftung Preußischer

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Reinhard Brandt: Vorwort. In: Zustand und Zukunft der Akademie-Ausgabe von Kants gesammelten Schriften. Kant-Studien 91, Sonderheft, 2000, S. VI. Siehe dazu den Beitrag von Jacqueline Karl: Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand" denkt. Die Arbeitsweise Kants als ein Kriterium für die Neuedition des Opus postumum. Im vorliegenden Band, S. 127-144.

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Kulturbesitz für die Staatsbibliothek zu Berlin erworben werden konnte.3 Die ZEITStiftung finanzierte auch den Anschub der Neuedition innerhalb der Akademie-Ausgabe, mit der im Frühjahr 2001 begonnen wurde. Wie das auf den Seiten des so genannten Opus postumum entworfene abschließende Werk Kants von zentraler Bedeutung für sein Denken sein sollte, haben die zu Lebzeiten in mehreren Auflagen erschienenen kritischen Hauptwerke Kritik der reinen Vernunft, Kritik der praktischen Vernunft und Kritik der Urteilskraft aufgrund ihrer Wirkung einen unermeßlichen Stellenwert auch für die Geistesgeschichte. Die Neuedition der drei Kritiken, die in den Bänden III bis V der Akademie-Ausgabe vertreten sind, ist daher das zweite Sanierungsvorhaben im ,Palast'. Auch dieses Projekt wäre ohne eine Drittmittelzuwendung der ZEIT-Stiftung nicht realisierbar. So ermöglicht sie u. a. die Koordinierung der Arbeiten, indem sie die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters finanziert. Dies ist notwendig, weil zwei der drei Werke von KantSpezialisten, die nicht an der BBAW beschäftigt sind, herausgegeben werden: Durch Andrea Esser (Marburg) und Jens Timmermann (St Andrews, Schottland) ist das Projekt mit der internationalen Forschung verbunden. In der Projektierungsphase wurden Bandherausgeberverträge geschlossen; hier wird auch Technisches zur Textherstellung festgehalten. Dieses ist zum Zweck eines reibungslosen Arbeitsablaufs mit dem Verlag Walter de Gruyter und dessen Setzerei abgestimmt. Ebenfalls auf Initiative des Vorsitzenden der Kant-Kommission der BBAW und Projektleiters der Neuedition der drei Kritiken, Volker Gerhardt, wurde ein Rahmenvertrag zwischen der BBAW und dem Verlag Walter de Gruyter für alle künftigen Publikationen von Kant's gesammelten Schriften erarbeitet und unterschrieben; den ,Bauplan' für die Neuedition der drei Kritiken, die Editionsrichtlinien, haben die Mitglieder der Kant-Kommission diskutiert und angenommen. Die Richtlinien stehen unter den Grundsätzen der „Einfachheit" sowie von „Konsequenz" und „Transparenz" in der Ausführung und zielen auf eine „benutzerfreundliche historischkritische Ausgabe".4 2.

Der Bauplan

Da es sich um die Teilsanierung eines vorhandenen Gebäudes handelt, muß in der Planung berücksichtigt werden, daß sich die Bände der Neuedition in den Aufbau und das Erscheinungsbild des ,Palastes' einfügen sollen. Zudem müssen die bekannten Mängel behoben werden: Für die Werke-Abteilung von Kant's gesammelten Schriften sind zum einen Qualität und Umfang der ursprünglich geplanten sachlichen Erläuterungen, insbesondere der fehlende Ausweis vieler Zitate,5 zum anderen die vorgenom-

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Immanuel Kant: Opus postumum. Hrsg. von der Kulturstiftung der Länder in Verbindung mit der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. Microficheausgabe. Hrsg. von Tilo Brandis. Einfiihrung von Reinhard Brandt, Berlin 1999. Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III-V, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam). Siehe Gottfried Martin: Mitteilungen zum Kant-Index. In: Kant-Studien 53, 1961/62, S. 121-124.

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mene „Modernisirung"6 von Orthographie, Interpunktion und Sprache anzuführen, die bereits vor ihrer Festlegung kontrovers diskutiert wurde.7 Daß die vorliegenden Bände im Bereich notwendiger Emendationen nicht auf dem heutigen Stand der Forschung sein können, ist evident. Ein weiterer, in den letzten Jahren eingebrachter Punkt ist die geringe unmittelbare Beteiligung Kants an der Drucklegung seiner Schriften, insbesondere bei neuen Auflagen, die nicht genügend in editorische Überlegungen einbezogen wurde.8 Das fehlende Interesse an den Details der Textgeschichte trug nicht nur zur unbefriedigenden Edition einzelner Werke bei,9 es spiegelt sich auch in der nicht vorhandenen Beschreibung von Herkunft und Zustand der jeweils zur Edition herangezogenen Druckexemplare. Im Fall der geringen Mitwirkung Kants an der Drucklegung stößt die Sanierung vorhandener Bände der Akademie-Ausgabe allerdings an eine Grenze, was die Wahl der als Referenztext zu edierenden Auflage betrifft: Die Tatsache, daß die Ausgabe seit einhundert Jahren Grundlage der (Kant-)Forschung ist, fordert unwiderlegbare Argumente, will man eine von den vorliegenden Bänden abweichende Entscheidung treffen. Da für die drei Kritiken solche Argumente nicht gegeben sind, wird dem Edierten Text dieselbe Auflage zugrunde gelegt wie bisher. Anders sieht die Lage bei den als Varianten zu dokumentierenden Textfassungen aus: Hier können, bei entsprechender Begründung in der Textgeschichte, eine oder mehrere unberücksichtigt bleiben.10 Generell ist zum Zweck der Mängelbehebung zu prüfen, ob die Schwachstellen im Bauplan der Ausgabe oder in dessen Umsetzung begründet sind. Hierbei müssen auch der Standpunkt immanenter Kritik verlassen und „Standards"11 herangezogen werden, die sich für historisch-kritische Ausgaben im 20. Jahrhundert gebildet haben; Bezugspunkte sind, neben philosophischen Editionen, theoretische Überlegungen insbesondere der neugermanistischen Editionswissenschaft. Durch die Wirkung, welche die Ausgabe Kant's gesammelte Schriften hatte, ist allerdings eine besondere Situation gegeben: „Die neue Kantausgabe" sei „bestimmt, eine Musterausgabe zu werden für

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.Regeln für die Abteilung der Werke', Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW), dienstliche Akten Kant-Kommission Bestand Preußische Akademie der Wissenschaften (PAW), Sign. II-VIII-155. Diese .Regeln' sind als Anlage abgedruckt bei Gerhard Lehmann: Zur Geschichte der Kantausgabe 1896-1955 (1956), S. 3 - 1 2 . In ders.: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin 1969, .Regeln' nach dem Original paginiert, bes. S. 5f. Vgl. Einleitung in die Abteilung der Werke. In: Kant's gesammelte Schriften (AA). Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., Bd. I, S. 505-517, bes. S. 512f. Siehe Lehmann 1969 (Anm. 6), S.5f. Siehe Werner Stark: Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants, Berlin 1993, S. 85; siehe auch ders.: Zu Kants Mitwirkung an der Drucklegung seiner Schriften. In: Kants Rechtslehre. Hrsg. von Bernd Ludwig, Hamburg 1988, S. 7 - 2 9 . Siehe Stark 1993 (Anm. 8). Zu editorischen Problemfällen, aber auch dem Gelungenen an der Edition siehe die Beiträge zur Werke-Abteilung. In: Brandt 2000 (Anm. 1), S. 17-84. Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III-V, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam). Zum Begriff .Standards' im Kontext historisch-kritischer Editionen siehe ζ. B. Wilhelm G. Jacobs: Textuberlieferung und historisch-kritische Edition - Typen von Editionen. In: Buchstabe und Geist. Zur Überlieferung und Edition philosophischer Texte. Hrsg. von Walter Jaeschke u. a., Hamburg 1987, S. 21-26, bes. S. 26.

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alle ähnlichen Editionen, welche uns das ganze Werk eines Mannes vorführen"12 - mit diesen Worten ist sie 1897 im ersten Band der Kant-Studien der Öffentlichkeit vorgestellt worden; auch wurde von der Kant-Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften dazu aufgefordert, Materialien wie Briefe, Manuskripte oder Handexemplare zur Verfügung zu stellen.13 Als „vollständige, kritische Ausgabe"14 avancierten Kant's gesammelte Schriften tatsächlich zum Vorbild späterer historisch-kritischer Ausgaben, das gilt vor allem für Gesamtausgaben von Autoren aus dem zeitlichen und sachlichen Umfeld Kants: Fichte - Schelling - Hegel.15 Daher kann eine Neuedition von Bänden dieser ,Musterausgabe' nach den Gepflogenheiten moderner historisch-kritischer Ausgaben nur in konservativer Absicht erfolgen, ist doch der Wandel, der mit der Neuedition erzielt werden soll, klar mit der Wirkung der ursprünglichen Edition verbunden. Ziel dieses Rückbezugs ist eine Sanierung von Teilen des ,Palastes' der Kant-Ausgabe mit qualitativ hochwertigen Mitteln, deren Belastbarkeit bzw. Tragfähigkeit mittlerweile erwiesen sind. Werden diese Bausteine und Pläne weiterhin auch andernorts eingesetzt, dürfte dies nicht nur zur Orientierung innerhalb verschiedener Bauten, sondern auch zu einer zügigen Realisierung neuer Projekte beitragen. Da die Entwürfe der Verbindlichkeiten aus den 60er und 70er Jahren stammen,16 wird es allerdings wohl auch angemessen sein, Forderungen zu berücksichtigen, die das 21. Jahrhundert an einen Bau für die Zukunft stellt. Um wiederum den Vergleich zu bemühen: Das Sanierungsvorhaben ,Neuedition der drei Kritiken' beinhaltet auch Modernisierungsmaßnahmen.

3.

Das Fundament: die ,neue Kantausgabe'

An der Konzeption der ,neuen Kantausgabe' waren keineswegs nur Philosophen beteiligt, und auch die späteren Beteiligten lassen sich nicht unter dem Titel einer philosophischen Schulrichtung wie, was vielleicht nahe läge, dem Neukantianismus zusammenfassen.17 Vielmehr handelte es sich bei den frühesten Mitgliedern der KantKommission insbesondere um Germanisten, Altphilologen und Theologen, deren Erfahrungen mit Editionen auf die Konzeption der Kant-Ausgabe gewirkt haben.18

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Mitteilung: Die neue Kantausgabe. In: Kant-Studien 1, 1897, S. 148-149, bes. S. 149. Die Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften für die Herausgabe der Werke Kants. Dilthey. Diels. Stumpf. Vahlen. Weinhold: 1 . - 3 . Zirkular an Zeitungen und Zeitschriften. In: Kant-Studien 1, 1897, S. 150-154. 1. Zirkular an Zeitungen und Zeitschriften. Aufruf 1897 (Anm. 13), S. 150-151, bes. S. 150. So auch der Titel von Wolfhart Henckmann: Fichte - Schelling - Hegel. In: Buchstabe und Geist 1987 (Anm. 11), S. 83-115. Vgl. ferner Wilhelm G. Jacobs und Peter Müller: Editionen philosophischer Werke der Epoche Kants. In: Ebd. S. 191-196. Wegweisend für die Standardisierung war Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 1 ^ 4 . Siehe Lehmann 1956 (Anm. 6), S. 6. Die Mitglieder der Kant-Kommission der BBAW: Reinhard Brandt, Konrad Cramer, Eckart Förster, Volker Gerhardt (Vorsitzender), Carl Friedrich Gethmann, Rolf-Peter Horstmann, Jürgen Mittelstraß, Susan Neiman. Mitglieder der Kant-Kommission bis 1955 siehe Stark 1993 (Anm. 8), S. 273f.; Weiteres zur Geschichte der Kant-Ausgabe ebd. S. 60-89.

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Umso mehr waren die philosophischen Überzeugungen des ersten Vorsitzenden dieser Kommission, Wilhelm Dilthey, prägend. Das gilt vor allem für die WerkeAbteilung, die in seinem Verantwortungsbereich lag, aber streng genommen ist Diltheys Engagement die gesamte Ausgabe zu verdanken, war er es doch, der 1893 mit dem Wunsch einer „Kantausgabe" an das Ministerium herangetreten war, die als „kritische und vollständige Ausgabe der Werke Kants" 1894 auf einer Sitzung der Berliner Akademie beschlossen wurde.19 Diltheys Überzeugungen lassen sich auf einen 1889 gehaltenen Vortrag über Archive für Literatur beziehen, dessen Thema er im Aufsatz Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie näher ausführte.20 Hier nannte Dilthey Kant als Beispiel für die Bedeutsamkeit der Archivierung handschriftlicher Notizen und Nachlässe und verwies auf seine diesbezüglichen Vorarbeiten zur Sichtung und Ordnung des Materials.21 Der Grund für Diltheys Wertschätzung von handschriftlichen Notizen ist folgender: „Pläne, Skizzen, Entwürfe, Briefe: in diesen atmet die Lebendigkeit der Person, so wie Handzeichnungen von derselben mehr verraten als fertige Bilder".22 Die Aufnahme solcher Unterlagen in die ,Musterausgabe' entsprang demnach der Idee der Archivierung; eine für Diltheys philosophisches Anliegen zentrale Sammlung „dauernd fixierte[r] Lebensäußerungen" war als Grundlage von „ A u s l e g u n g oder Interpretation",23 aber auch unter hermeneutischen Ansprüchen konzipiert. So stellte Dilthey im 1902 gezeichneten Vorwort der Kant-Ausgabe fest, der „Plan einer Gesammt-Ausgabe, welche die ganze geistige Hinterlassenschaft Kants umfaßte", sei so dringend erforderlich, da er selbst begriffen habe, „wie vieles mit der Zeit verloren geht oder durch Zerstreuung unerreichbar wird".24 Das „letzte Ziel" aber sei „das geschichtliche Verständniß der Lebensarbeit Kants" unter der Prämisse, einen Autor „.besser zu verstehen, als er sich selbst verstand'". 25 Diese Aufgabe gestatte „nur eine zunehmende Annäherung an eine objektive Lösung"; letztere könne „allein herbeigeführt werden durch das immer wiederholte Aneinanderreihen der geschichtlichen Lage, unter welcher das Denken Kants sich vollzog, mit dem ganzen Material seiner Gedankenarbeit, das uns erhalten ist."26 Für die Ausgabe selbst konnte die Be19

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ABBAW, dienstliche Akten Kant-Kommission, Bestand PAW, Sign. II-VIII-153, Blatt 1. Zu Diltheys Engagement für die Kant-Ausgabe und der Verbindung zu Person und Denken siehe Frithjof Rodi: Dilthey und die Kant-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Einige editions- und lebensgeschichtliche Aspekte. In: Dilthey-Jahrbuch 10, 1996, S. 108-126. Wilhelm Dilthey: Vortrag Archive ßr Literatur, gehalten am 16. Januar 1889 vor der Gesellschaft für deutsche Literatur, zuerst in: Deutsche Rundschau 58, 1889, S. 360-375. In: Wilhelm Dilthey: Gesammelte Schriften (GS) XV, S. 1-16. Ders.: Archive der Litteratur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie, zuerst in: Archiv für Geschichte der Philosophie 2, 1889, S. 343-367. In: ders., GS IV, S. 555-575. Dilthey: GS IV, S. 565-569. Dilthey: GS IV, S. 562. Dilthey: Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen. 6. Die Auslegung oder Interpretation. In: GS VII, S. 217 und 216. Dilthey: Vorwort (1902). In: AA I, S. V-XV, bes. S. VIII. Dilthey: Vorwort AA I, S. IX. Dilthey: Vorwort A A I , S . IX.

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zugnahme von geschichtlicher Lage' und ,Material' aufeinander nichts anderes heißen als Berücksichtigung des historischen Kontextes innerhalb der Edition, und auch das Material war konsequenterweise „entwicklungsgeschichtlich"27 zu präsentieren. Für die Planung der Werke-Abteilung bedeutete das: „chronologische Anordnung" der Texte, deren Weg im „Verzeichniss der Lesarten" einbezogen werden sollte; Einleitung" im Sinn einer Textgeschichte; sachliche Erläuterungen" zu Einzelstellen.28 Darüber hinaus ist der Stellenwert, der dem ,Historischen' in der Kant-Ausgabe zukam, freilich auch im Horizont von Diltheys philosophischem Projekt einer Kritik der historischen Vernunft zu sehen, die sich zu ihrer Geschichte verhalten können muß, um ihre eigenen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen, wofür sie entsprechende Ausgaben als ,Grundlage' der ,Geisteswissenschaft' benötigte: „die Entwicklungsgeschichte der großen Denker", die an einer solchen Ausgabe sichtbar werde, erleuchte wiederum „ihre Systeme" und sei daher „die unentbehrliche Grundlage für das Verständniß der Geschichte des menschlichen Geistes".29 4.

Konkrete Bausteine

Zur Bearbeitung der einzelnen Schriften wurde ein Heftchen mit Regeln für die Abteilung der Werke gedruckt, das sich in modifizierter Form als Teil der Einleitung in die Abteilung der Werke in Band I der Ausgabe findet.30 Dem Anliegen Diltheys entsprechend wird gefordert, eine „Einleitung" zum je Edierten Text solle den „Leser über das in Bezug auf die Schrift vorliegende äussere Thatsachenmaterial unterrichten" und Angaben „über etwaige äussere Veranlassung eines Werkes, über die Geschichte desselben bis zu seinem Abschluss und über die zu Lebzeiten Kants von ihm oder auf seine Veranlassung oder als Nachdrucke erschienenen Neudrucke" machen.31 Wenn also in den vorliegenden Bänden der Werke-Abteilung Einzelheiten der Textgeschichte nicht berücksichtigt sind, liegt das eher an der mangelnden Umsetzung sowie dem zeitgenössischen Forschungsstand als an den Regeln. Daß in den vorliegenden Bänden die Beschreibung „der dem Druck zu Grunde zu legenden" sowie für das Verzeichnis der ,,Variante[n]" heranzuziehenden „Originaldrucke"32 fehlt und somit ein Teil des Editorischen Berichts im engen Sinn, liegt hingegen daran, daß dies in den Regeln nicht berücksichtigt ist. Dementsprechend wurde es in den Richtlinien der Neuedition ergänzt; hier soll der Editorische Bericht, im Hinblick auf den Edierten Text selbst, zudem über sprachliche Eigenheiten und gegebenenfalls auch den Charakter interner Querverweise informieren. Die Richtlinien der Neuedition werden vollständig im ersten neu edierten Band veröffentlicht; innerhalb der einzelnen Editorischen Berichte wird darauf verwiesen. Eine Art Gebrauchsanweisung', die zwischen Edierten Text und Editorischen Bericht gesetzt wird, teilt 27 28 29 30 31 32

Dilthey: Vorwort AA I, S. XIII-IX. Einleitung AA I, S. 507 und 510. Dilthey: Vorwort AA I, S. VIII. Einleitung AA I, S. 505-517; .Regeln' / Lehmann (Anm. 6). Einleitung AA I, S. 510; .Regeln' / Lehmann, S. 3. .Regeln' / Lehmann, S. 2 und 7; vgl. Einleitung AA I, S. 508.

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dem Nutzer in tabellarischer Form die wesentlichen Momente mit. Die ursprünglich geforderte ,Einleitung' folgt dem Editorischen Bericht. Generell ist für alle Beobachtungen, die bei der Arbeit gemacht werden und sich qualitativ oder quantitativ nicht klar dem ,Bauplan' zuzuordnen lassen, ein anderer Publikationsort zu wählen, vorzugsweise die Kant-Studien,33 Für die Forderungen, die aufgrund der Wertschätzung des ,Historischen' an die sachlichen Erläuterungen gestellt wurden, gilt ebenfalls, daß der eingangs bestimmte Mangel eher in der Ausführung als im Entwurf liegt. So heißt es in den Regeln und der Einleitung für die „sachlichen Erläuterungen": „Sie enthalten [...] die für das Verständniss ganz unentbehrlichen Sacherklärungen. Diese bieten vornehmlich die n o t wendigen literarischen Nachweise überall da wo eine Person, eine Schrift u. s. w. genannt oder auf sie angespielt wird."34 Die mangelhafte Umsetzung lag aber nicht nur an einer Nachlässigkeit der Herausgeber, sondern auch am Stand der Quellengeschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts35 oder mit Dilthey gesprochen: am Fehlen .geisteswissenschaftlicher Grundlagen'. Insofern dürfte es, nach deren Entwicklung in den letzten einhundert Jahren, mit der Neuedition möglich sein, diesem Mangel auf dem inzwischen erreichten Niveau der Forschung zu begegnen. Im Rahmen der Neuedition war der Zusatz ,ganz unentbehrlich' Anlaß, den Umfang der vorgesehenen sachlichen Erläuterungen zu begrenzen. Dies geschieht, auch mit Blick auf andere Editionen, zur Vermeidung des Risikos eines nicht zu vollendenden Kommentars sowie ,assoziativer' Bemerkungen, und zwar vor allem durch Negation, d. h. Angabe dessen, was oder wie nicht erläutert wird. Entsprechende Bestimmungen zu sachlichen Erläuterungen sind in einer Anlage zu den Richtlinien der Neuedition formuliert: Klar ausgeschlossen sind demnach die Erläuterung philosophischer Terminologie und Ausführungen zu Begriffs-, Ideen- oder Wirkungsgeschichte sowie ein systematischer Kommentar. Gegenüber den ursprünglichen Regeln ergänzt ist eine sprachhistorische Erläuterung, wenn der zeit- und sprachraum-spezifische Gebrauch von Worten oder Wendungen so weit vom heutigen abweicht, daß es zu Mißverständnissen kommen kann. Das ursprüngliche Feld direkter oder versteckter Zitate, namentlicher oder indirekter Zuordnungen Kants, die Übernahme sachlicher Informationen oder Anekdoten wird durch den Grundsatz: ,Alle Angaben erfolgen nur bei hinreichend gesicherten Bezügen' abgesteckt. Ferner werden die sachlichen Erläuterungen entlastet, indem für Texte und Lehrbücher, die allgemein als Vorlagen für ein Werk gedient haben und daher in der Entstehungsgeschichte genannt werden, Einzelstellennachweise entfallen. Dies gilt, in Verbindung mit dem Ausschluß der Erläute-

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Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III-V, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam). Einleitung AA I, S. 510; .Regeln' / Lehmann (Anm. 6), S. 4. Norbert Hinske: Kantianismus, Kantforschung, Kantphilologie. Überlegungen zur Rezeptionsgeschichte des Kantschen Denkens. In: Neukantianismus. Perspektiven und Probleme. Hrsg. von Ernst Wolfgang Orth und Helmut Holzhey, Würzburg 1994, S. 31-43, bes. S. 40.

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rung philosophischer Terminologie, auch für die Übernahme der lateinischen Begrifflichkeit, die Kant seinen Ausführungen häufig in Klammern hinzufügt.36 Während für die bislang genannten Bausteine die Mängel zumeist durch Rückgriffe auf die ursprüngliche Konzeption behoben werden können, ist dies im philologischen Bereich nicht ohne weiteres möglich: ,in konservativer Absicht' hieße hier, weiterhin das Mittel der ,Modernisirung' von Orthographie, Interpunktion und Sprache anzuwenden. Erklärtes Ziel, zu dem dies fuhren sollte, war es, „der Buntscheckigkeit der alten Drucke"37 entgegenzuwirken und durch „sichere Normen" die „leidigen Incorrectheiten und Unebenheiten", die in erster Linie auf die „Willkür und Flüchtigkeit der verschiedenen Setzer" zurückgeführt wurden, zu vereinheitlichen.38 Dieser Art von Textkritik stand der Anspruch einer Herstellung des Textes [...] mit möglichst treuer Erhaltung des Überlieferten" gegenüber: „Nur wo die Verderbnis des Textes zweifellos war, ist die Emendation der ausgewählten Ausgabe eingetreten."39 Durch diese Verquickung wurde, mit Diltheys Worten, versucht, die „äussere Form von Grammatik" usw. mit der „inneren geschichtlichen Form des Autors" in Übereinstimmung zu bringen: „Der Autor muß ohne jeden Anstoß gelesen aber zugleich in der geschichtlich-persönlichen Form seines Geistes genossen werden"; sonach müsse „alles, was den ruhigen [...] Fluß der Auffassung wirklich stört, rücksichtslos ausgemerzt", dagegen „alles Eigentümliche, welches ohne Störung genossen werden kann, als Hauch und Ausdruck seiner inneren geschichtlichen Form festgehalten werden."40 Der anfängliche Versuch einer „Normirung" auf der Grundlage einer „Untersuchung der handschriftlich für die reifste Zeit genugsam belegten Sprachgewohnheiten", nach denen Kant selbst „auf dieser Höhe, nach den kritischen Hauptwerken noch schöpferisch, vor dem zu Beginn des neuen Jahrhunderts einreissenden Verfall seiner Geisteskräfte die Edition besorgt hätte"41 und nach denen eine Rekonstruktion des vermeintlich von Kant gewollten' Textes hätte erfolgen sollen, mündete aufgrund von Schwierigkeiten in der Entscheidung für die ,Modernisirung'. Diese wurde, so die Regeln, im Sinn preußischer Schulrechtschreibung um 1880 bzw. laut Einleitung in die Abteilung Werke in einer nicht näher bestimmten Angleichung an diese bis hin zum , jetzt üblichen" Gebrauch ausgeführt und, gemäß Diltheys Anspruch, mit Eigentümlichkeiten „bei Kant selbst" vermischt.42 Vorbild nachträglich erzeugter sprachlicher Einheitlichkeit war Goethe, weshalb Dilthey 1894 gefordert hatte: „Was für Goethe in Weimar geschehen", auch für den

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Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III-V, Anlage: Bestimmungen zu sachlichen Erläuterungen, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam). .Regeln' / Lehmann (Anm. 6), S. 4; vgl. Einleitung AA I, S. 511: "buntscheckigsten Schwankungen". Einleitung AA I, S. 512. Einleitung AA I, S. 509. Dilthey am 5.11.1896, zitiert nach dem „Sekretär der Kantausgabe" (S. 338) Paul Menzer: Die KantAusgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften. In: Kant-Studien 49, 1958, S. 337-350, bes. S. 339. .Regeln' / Lehmann (Anm. 6), S. 4; vgl. Einleitung AA I, S. 513-515. .Regeln' / Lehmann (Anm. 6), S. 4; Einleitung AA I, S. 513-515, bes. 515. Zum Verhältnis von .Regeln' und Edition in diesem Punkt siehe Menzer 1958 (Anm. 40), S. 339-340.

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„großen Königsberger Philosophen zu leisten".43 So galt ab 1887 in der Weimarer Goethe-Ausgabe: „Schwankungen und Unebenmäßigkeiten der Schreibung [···] werden thunlist beseitigt"; „maßgebend ist bei schwankender Schreibung die Statistik; wo diese kein klares Ergebnis liefert, [...] wird der im heutigen Gebrauch üblichen Form der Vorzug gegeben."44 Hinzuzufügen ist, daß sich Goethe für eine Normierung seiner Schriften nach dem Regelwerk von Johann Christoph Adelung ausgesprochen hatte.45 Aber selbst wenn Kant tatsächlich ein „reinigendes und ausgleichendes Verfahren gern auf seine [...] Publicationen erstreckt gesehn"46 hätte, dann vermutlich nicht nach den ab 1876 in Preußen eingeführten Normen. Angreifbar wird die ,Modernisirung', die in der Kant-Ausgabe erfolgte, ferner durch ein Argument, welches - mit Gültigkeit für jede Ausgabe - Eduard Zeller bereits während der Erarbeitung der Regeln für die Abteilung Werke genannt hatte und das innerhalb der Ausgabe anonym formuliert wird: „Wir dürfen nicht nach jeweiligem Gutdünken ein paar Störungen wegschaffen oder das Ganze dem vergänglichen Durchschnitt der Gegenwart anpassen, so dass Kants Werke von Zeit zu Zeit umgeschrieben (ja übersetzt) würden".47 Vielmehr sollten sie als „Denkmäler eines Schriftstellers des achtzehnten Jahrhunderts volle Rücksicht auf seinen eigenen Brauch und auf die Gewohnheiten jener sprachlich erst halbvergangenen Zeit erfahren" .48 Um diese Widersprüche zu beheben und zugleich den Standards moderner historisch-kritischer Ausgaben zu folgen, gilt für die Richtlinien der Neuedition lediglich der Grundsatz der Originaltreue. Im Sinn einer Konservierung der sprachlichen Gestalt eines historischen Dokuments heißt das mit größtmöglichem Resistenzfaktor gegen editorische Übergriffe: „Emendationen des Editors an den Vorgaben der Originaldrucke erfolgen nur, wenn diese, gemessen an der Logik und Struktur von Text und Kontext sowie den sprachlichen Gepflogenheiten der Zeit und des Autors, keinen Sinn ergeben. Die editorischen Eingriffe werden im Edierten Text vorgenommen und durch Angabe des ursprünglichen Wortlauts im philologischen Apparat nachgewiesen. Unregelmäßige Schreibweisen bleiben erhalten."49 Die Konzentration auf das Wesentliche, die ursprünglich durch die Normierung ermöglicht werden sollte, ist hier also vollumfänglich die auf das ,Eigene'. Durch die Originaltreue wird auch eine Korrektur der Einschätzung berücksichtigt, die ,Unebenheiten' der Drucke seien auf die .verschiedenen Setzer' zurückzuführen. Angesichts des „Mangel [s] an grossen Kantischen Originalreinschriften"50 war die Edition der Ersten Einleitung in die Kritik der Urteilskraft in Faksimile und Tran43 44

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ABBAW, Bestand PAW (Anm. 19). Bernhard Suphan: Vorbericht. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, Band 1, 1887, S. XVIII-XXV, bes. S. XXI. Dazu auch Ludwig Geiger: Die Weimarer GoetheAusgabe. In: Goethe-Jahrbuch 9, 1888, S. 289-290. Siehe Klaus Kanzog: Einfuhrung in die Editionsphilologie der neueren deutschen Literatur, Berlin 1991, S. 82f.. Einleitung A A I , S . 512. Einleitung AA I, S. 512. Zu Zellers entsprechendem Brief an Dilthey vom 13.11.1899 siehe Lehmann 1969 (Anm. 6), S. 6. Einleitung A A I , S . 512. Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III—V, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam). Einleitung A A I , S. 512.

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skription ein Ansatzpunkt.51 Hier wurde beobachtet, daß die „meisten Eigenheiten der Originaldrucke auf Kant selber" zurückgehen dürften,52 d. h. genau genommen auf das Zusammenwirken seiner Gewohnheiten und derjenigen seiner Abschreiber bei der Erstellung der Vorlage, nach der Verlag und Setzer arbeiteten.53 Auch wenn in diesen Prozeß, der für die Druckschriften maßgeblich war, Weiteres zur Rolle der Amanuenses und Korrektoren einbezogen werden muß,54 ist es also aus Sicht der Kant-Philologie ebenfalls gerechtfertigt, sich in der Neuedition möglichst an die Vorgaben der Drucke zu halten. Und das heißt gleich im Titel: Critik der reinen Vernunft, Critik der practischen Vernunft, Critik der Urtheilskraft. Bei der Herstellung des Textes wurde in den vorliegenden Bänden auch die „textkritische Forschung" anderer Editionen berücksichtigt; so galt es, „alle den Inhalt betreffenden Abweichungen" im „Verzeichniss der Lesarten" zu nennen, dem „Geschichte und Kritik des Textes" an Einzelstellen zufielen und das sowohl Auflagen-Varianten als auch Konjekturen anderer Editionen beinhaltete.55 Die Neuedition dokumentiert, neben Varianten, nur diejenigen Konjekturen anderer, die unter den für die Originaltreue genannten Bedingungen eine inhaltliche Alternative zum Edierten Text darstellen oder in diesen übernommen wurden, wenn es sich dabei nicht um evidenterweise notwendige Emendationen handelt. Eingriffe, die auf ,Modernisirung' zurückzufuhren sind, werden generell nicht verzeichnet.56 Mit dieser Begrenzung des Umfangs textkritischer Anmerkungen wird sowohl der philologische Apparat am unteren Rand einer Druckseite schlank gehalten als auch der Übertragbarkeit des Arguments gegen sprachliche Modernisierung, das Zeller eingebracht hatte, entgegengewirkt: Unter dem Anspruch, sämtliche ,den Inhalt betreffende Abweichungen' zu verzeichnen, wären die Bände der Neuedition unter Umständen bald wieder antiquiert.

5.

Modernisierungsmaßnahmen

Modernisierungsmaßnahmen, die mit der Neuedition der drei Critiken verbunden sind, betreffen nicht nur den Bauabschnitt ,Sprache' innerhalb des ,Palastes' der Kant-Ausgabe, sondern auch Standards moderner historisch-kritischer Ausgaben. Sie verdanken sich, in Entwurf oder Ausführung, vor allem den veränderten technischen Gegebenheiten. So kann mit deren Hilfe die Neuedition der Critik der reinen Vernunft auch etwas leisten, das ursprünglich zwar gewünscht war, aber nicht realisiert werden

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Immanuel Kant: Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft. Faksimile und Transkription. Hrsg. von Norbert Hinske, Wolfgang Müller-Lauter und Michael Theunissen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1965. Genaueres zum Gang der Dinge bei Karl-Heinz Jügelt: Von Königsberg nach Rostock. Die Provenienz der Rostocker Kant-Handschrift. In: biblos (Wien) 40, 1991/4, S. 194-200. Norbert Hinske: Probleme der Kantedition. Erwiderung auf Gerhard Lehmann und Burkhard Tuschling. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 22, 1968, S. 4 0 8 ^ 2 3 , bes. S. 410. Norbert Hinske: Zur Geschichte des Textes. In: Kant 1965 (Anm. 51), bes. S. X-XI. Siehe Stark 1988 (Anm. 8) und ders.: Amanuenses - die engsten Vertrauten des Professors; unveröffentlichtes Manuskript. Einleitung AA I, S. 510-511; bes. 507; 510; vgl. Regeln' / Lehmann (Anm. 6), S. 3; 7. Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III-V, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam).

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konnte, weder in der Akademie-Ausgabe noch in denen, die ihrem Begehren folgten: eine „klare und bequeme Anschauung" derjenigen Textfassungen „zugleich",57 die heute gängigerweise mit ,A'- und ,Β'-Auflage bezeichnet werden und 1781 bzw. 1787 erschienen sind. Diese Darstellungsform betrifft die erste Hälfte der Critik der reinen Vernunft, die Kant für die ,zweite, hin und wieder verbesserte Auflage' 58 zum Teil stark überarbeitet hat. Da in der zweiten Hälfte vorwiegend Textidentität herrscht, wird hier die zweite Auflage als Referenztext ediert; die Varianten der ersten werden im philologischen Apparat nachgewiesen. Damit folgt die Neuedition den vorliegenden Bänden, in denen ,B' als Referenztext vollständig in Band III, ,A' hingegen nur zur Hälfte in Band IV dargeboten wird. Diese Entscheidung für ,B' mag auch an der in der Wer£e-Abteilung herrschenden Tendenz liegen, dem Edierten Text eine Ausgabe ,letzter Hand' zugrunde zu legen. Im konkreten Fall, der für die Forschung von großer Bedeutung war, lassen Stellungnahmen Kants bis hin zum Zusatz ,hin und wieder verbessert' wenig Spielraum für eine Änderung dieser Entscheidung, jedenfalls ist dieser so eng, daß die Mitglieder der Kant-Kommission der BBAW kein unwiderlegbares Argument für ,A' gefunden haben. Ein solches wäre aber, wie gesagt, nötig gewesen, um für die Teilsanierung des ,Palastes' einen anderen Referenztext zu wählen als bisher. Da ,A' textgeschichtlich allerdings sowohl in der anfänglichen Rezeption als auch für spätere Editionen eine selbständige Bedeutung zukommt, werden ,A' und ,B' im Rahmen der ,klaren und bequemen Anschauung zugleich' editorisch gleichbehandelt: Die erste Auflage wird der zweiten gleichberechtigt an die Seite gestellt und dadurch gewissermaßen rehabilitiert. Hingegen wäre es editorisch aufgrund der weitgehenden Textidentität in der zweiten Hälfte der beiden Auflagen der Critik der reinen Vernunft nicht gerechtfertigt, auch hier ,A' und ,B' vollständig zu präsentieren. Bereits im vorliegenden Band IV wurde , A', so die Einleitung in die Abteilung der Werke, „bis zum ersten Hauptstück des zweiten Bandes der transscendentalen Dialectik" abgedruckt, um die „historische Bedeutung" und den ,,selbständige[n] Wert der ersten Fassung dieses Werkes" anzuerkennen. 59 Die Versuche, „sei es auf der Grundlage der ersten oder zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, durch Angabe der Abweichungen unter dem Text und in Supplementen dem Leser die beiden Auflagen zugleich zugänglich zu machen", waren gescheitert, zumindest wurde „die klare und bequeme Anschauung einer der beiden Ausgaben unmöglich."60 Diesen Versuch hatte der zuständige Herausgeber Benno Erdmann, der sich sehr für die Erforschung der Entwicklungsgeschichte Kants einsetzte,61 bereits andernorts unternommen und hierbei Passagen von ,A' bei starker Varianz vollständig an der heute üblichen Stelle des philologischen Apparats im unteren Bereich einer Druckseite präsentiert.62 Auch

57 58 59 60 61 62

Einleitung AA I, S. 509. Titelblatt Critik der reinen Vernunft (1787). Einleitung AA I, S. 509. Einleitung AA I, S. 509. Zu Benno Erdmann siehe Stark 1993 (Anm. 8), S. 67-71. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Benno Erdmann, 5., durchgängig revidierte Auflage, Berlin 1900.

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Tanja Gloyna

wenn spätere in- und ausländische Editionen weitere Versuche einer Zuordnung einzelner Abschnitte unternommen haben,63 ist eine ,klare und bequeme Anschauung' beider Auflagen .zugleich' bislang nicht geglückt. Um mit der Neuedition innerhalb der Akademie-Ausgabe eine editorisch befriedigende Lösung zu bieten, wurde auf die Editionswissenschaft zurückgegriffen: Für die Darstellung textgeschichtlich gleichwertiger Fassungen ist bei ,,wesentliche[r] Varianz", als Alternative zum Druck nacheinander, der Paralleldruck möglich.64 In neugermanistischen Ausgaben hat sich letzterer als „konsequente editorische Umsetzung des Prinzips der Gleichwertigkeit aller Fassungen" bewährt.65 Und auch für die Modernisierungsmaßnahmen an der Darstellung der Critik der reinen Vernunft kommt nur der Paralleldruck in Frage - den Druck nacheinander und somit keine ,klare und bequeme Anschauung zugleich' gibt es ja. Unter textgenetischem Aspekt ist für Paralleldrucke neben Seiten- und Zeilenidentität, die mittels Leerzeichen erzeugt werden, die Darstellung innertextlicher Veränderungen durch Hervorhebungen im Druckbild relevant.66 Bei der Entscheidung, solche Hervorhebungen vorzunehmen oder zugunsten der Integrität der Dokumente nicht, sind weitere Überlegungen textgenetischer Edition einzubeziehen. So wird, allgemein zur Variantendarstellung, im Hinblick auf die Arbeitsweise des Autors für den Kopfarbeiter' ein in der Regel lemmatisierter Stellenapparat bevorzugt sowie für den .Papierarbeiter' ein synoptisches Verfahren, das durch ein „partiturmäßiges Untereinanderschreiben der Veränderungen" gekennzeichnet ist.67 Letzteres eignet sich nicht nur für kompliziert abzubildende Bearbeitungsstufen insbesondere von Verstexten, sondern ist aufgrund seines Wesens, der ,Zusammenschau', schlicht sehr anschaulich und in der Wirkung weniger statisch als ein Einzelstellenapparat. Sofern ein ,Kopfarbeiter' einen Text ,im Kopf weitgehend vorformt und ihn dann zügig niederschreibt und ein ,Papierarbeiter' ihn hingegen ständig durch Sofortkorrekturen und auch späterhin oftmals ändert, so daß der Text ,auf dem Papier' ent-

63

64

65

66 67

Weit bekannt: Raymund Schmidt, zuerst 1926, in der Philosophischen Bibliothek bei Meiner, überarbeitet von Jens Timmermann, Hamburg 1998. Erstmals im Zweifarbendruck: Immanuel Kant. Kritiek von de zuivere rede. Ten geleide, vertaling & annotaties. Jabik Veenbaas & Willem Visser, Amsterdam 2004. Christel Laufer: Von den Texten. In: Vom Umgang mit Editionen. Eine Einführung in Verfahrensweisen und Methoden der Textologie. Hrsg. von Siegfried Scheibe u. a., Berlin 1988, S. 55-84, bes. S.72. Gunter Martens: Neuere Tendenzen in der germanistischen Edition. In: Philosophische Editionen. Erwartungen an sie - Wirkungen durch sie. Hrsg. von Hans Gerhard Senger, Tübingen 1994, S. 71-82, bes. S. 79. Laufer 1988 (Anm. 64). Siegfried Scheibe: Variantendarstellung in Abhängigkeit von der Arbeitsweise des Autors und von der Überlieferung seiner Werke. In: Textgenetische Edition. Hrsg. von Hans Zeller und Gunter Martens, Tübingen 1998, S. 168-176, bes. S. 173. Zu Begriffsbestimmung und Beispielen .synoptischen Verfahrens' siehe Elisabeth Höpker-Herberg: Überlegungen zum synoptischen Verfahren der Variantenverzeichnung. In: Texte und Varianten 1971 (Anm. 16), S. 219-232, bes. S. 219f. Vergleichsweise jung ist ein „synoptischer Text" in der Marburger Büchner-Ausgabe, die darüber hinaus u. a. einen Paralleldruck und einen Emendierten Text bieten kann: Georg Büchner. Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar. Hrsg. von Burghard Dedner und Thomas Michael Mayer. Band 6: Leonce und Lena. Hrsg. von Burghard Dedner u. a., Darmstadt 2003.

Edition - Neuedition:

die drei Critiken Immanuel Kants in der

Akademie-Ausgabe

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steht, ist der Autor Kant angesichts vorhandener Manuskripte als ,Papierarbeiter' zu klassifizieren.68 Daher wird die Idee der ,Synopse' auf den Paralleldruck der beiden Auflagen der Critik der reinen Vernunft übertragen, auch wenn es sich dabei um Drucke handelt. An die Stelle einer partiturmäßigen Zeilensynopse tritt aus Gründen der Lesbarkeit in der Neuedition der Paralleldruck beider Textfassungen auf gegenüberliegenden Buchseiten.69 Insofern erinnert die Darstellungsweise an die mit dem Ausdruck ,Synopse' belegte Spaltenanordnung verschiedener Dokumente in der Theologie, zu deren Zweck Leerzeichen eingesetzt werden.70 Da aber nur eine Zusammenschau die Art und Weise der Überarbeitungen Kants am Text von ,A' bzw. der ,Genese' von ,B' unmittelbar erkennen läßt, werden in der Neuedition der Critik der reinen Vernunft auch die innertextlichen Veränderungen durch Hervorhebungen im Druckbild wiedergegeben, um schließlich einzulösen, was als ,klare und bequeme Anschauung' beider Auflagen .zugleich' in der Akademie-Ausgabe gewünscht war. Die Idee der damit verbundenen textgenetisehen Edition folgt ganz den entwicklungsgeschichtlichen Aspekten, die für die ursprüngliche Konzeption der Kant-Ausgabe so zentral waren. Die Transformation der partiturmäßigen Zeilensynopse in eine rein horizontale Darstellung muß optisch die Möglichkeit zum unmittelbaren Vergleich leisten, was durch die Hervorhebung der innertextlichen Veränderungen erreicht wird. Innertextliche Veränderungen lassen sich nur innerhalb der Abschnitte dokumentieren, die Kant durch Korrekturen am Textmaterial - Streichungen, Ersetzungen, Ergänzungen an der Vorlage ,A' für die Erstellung von ,B' - verbessert' hat. Bei der Neufassung ganzer Absätze macht das keinen Sinn; hier laufen die Textfassungen daher ohne zeilenidentische Darstellung parallel, mögliche Zuordnungen von Absätzen werden berücksichtigt. Um den Leser dennoch unmittelbar auf die generelle Varianz hinzuweisen, werden diese Absätze bzw. Abschnitte optisch hervorgehoben. Dies geschieht in der Art, die auch innerhalb der Abschnitte mit Textidentität und -varianz, welche durch den Einsatz von Leerzeichen seiten- und zeilenidentisch dargestellt werden, die Veränderungen kennzeichnet. Im Sinn der Anschaulichkeit kommen in einer Print-Ausgabe der Einsatz diakritischer Zeichen, von Farbigkeit oder Änderungen im Schriftbild in Frage. Die Kant-

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Zur Typisierung siehe Scheibe 1998 (Aran. 67), S. 172-175. Darüber hinaus ist Kant dem Typus des Prosaschreibers zuzuordnen, der als erstes ein „Grundgefüge" erstellt, um daran Veränderungen und Erweiterungen vorzunehmen; auch zur Alternative desjenigen, der zunächst einen „üppig wuchernden Text" niederschreibt und diesen kürzt, Siegfried Scheibe: Variantendarstellung von Prosawerken bei komplizierter Arbeitsweise und Überlieferung. In: ebd. (Anm. 67), S. 278-293, bes. S. 290f.; zu Versuchen, das synoptische Verfahren auf Prosatexte anzuwenden S. 290-293. Literatur zur Arbeitsweise Kants in den einleitenden Ausführungen von Jacqueline Karl: Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand" denkt. Die Arbeitsweise Kants als ein Kriterium für die Neuedition des Opus postumum, im vorliegenden Band S. 127-144.

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Testseiten, die in Zusammenarbeit mit dem Verlag de Gruyter erstellt wurden, hatten gezeigt, daß sowohl die Anordnung in Spalten als auch übereinander auf einer Seite zu einer schlechteren Lesbarkeit fuhren. Beispielsweise Josef Schmid: Synopse der ersten drei Evangelien unter Beifügung der Johannes-Parallelen, Regensburg 1949 u. ö.

70

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Tanja Gloyna

Kommission entschied sich für letzteres, und hierbei für Kursive, da (Halb-)Fettdruck, Unterstreichungen, Hoch-/Tiefsetzen oder veränderte Schriftgrößen das Erscheinungsbild und den Lesefluß sehr stören. Der Einsatz einer anderen Schrifttype schied aus, weil damit üblicherweise entsprechende Vorgaben des Originals, sei es einer Handschrift, sei es im Druck, wiedergegeben werden.71 Daß Kursive in der Regel für Herausgeberrede verwendet wird, steht keineswegs im Widerspruch zu dem gewählten Verfahren, handelt es sich bei Kennzeichnung der Varianz doch um eine indirekte Mitteilung des Herausgebers innerhalb des Edierten Textes. In dessen Rahmen ist die Verwendung der Kursive zu einem anderen Zweck nicht notwendig, daher ist sie eindeutig belegt. Aufgrund der relativen Gleichwertigkeit beider Textfassungen der Critik der reinen Vernunft wird Kursive auch in beiden eingesetzt. Dies ermöglicht zudem die unabhängige Lektüre einer Fassung ohne Informationsverlust, der sich beim Lesen der ersten Auflage einstellen würde, wenn die Veränderungen nur in der zweiten Auflage markiert wären (oder anders herum). Der unmittelbare optische Hinweis k u r sive' erfüllt also, mitsamt der schnellen Zuordnung der Textveränderungen, auch in diesen Fällen die Funktion eines Variantenverzeichnisses. Mit der Entscheidung für die Kursive als einzige Auszeichnung der Varianz werden allerdings die Möglichkeiten einer synoptischen Darstellung reduziert. Wären auch andere Mittel, wie die zu Beginn des vorhergehenden Absatzes genannten, zugelassen, könnte zwischen den Gründen bzw. Arten der Varianten differenziert werden, was aber auf Kosten der Lesbarkeit ginge. Dies wäre auch bei einer Markierung der unzähligen orthographischen Veränderungen der Fall. Um den Blick auf die inhaltlich relevanten Überarbeitungen nicht zu verstellen, werden diese recht regelmäßigen Abweichungen auch nicht durch Kursive hervorgehoben, sondern im Editorischen Bericht als Beobachtungen zur Sprache mitgeteilt; die Einzelfälle werden allein durch den Paralleldruck dokumentiert. Wie bei der synoptischen Darstellung die Lesbarkeit und damit die angestrebte Benutzerfreundlichkeit der Neuedition berücksichtigt wurden, sind auch bei den Modernisierungsmaßnahmen, die sich hinsichtlich der Standards historisch-kritischer Ausgaben finden, die zu erwartenden Bedürfnisse und Möglichkeiten des Nutzers bedacht. Hinsichtlich der Gegebenheiten und möglichen weiteren Entwicklungen im Bereich elektronischer Editionen hat dies zum Verzicht auf ein Sachregister geführt. Hier sind die Suchfunktionen, die vorliegende Versionen eines .elektronischen Kant' bieten,72 nicht zu übertreffen, wenn sie freilich ohne inhaltliche Gewichtung bleiben, die für eine Auswahl von Sachregistereinträgen erforderlich wäre. Dieser Verzicht auf eine ohnehin umstrittene Möglichkeit historisch-kritischer Ausgaben dürfte aber nicht

71

72

Markantes Beispiel: Friedrich Heinrich Jacobi. Werke. Hrsg. von Klaus Hammacher und Walter Jaeschke, Hamburg 1998 ff. Immanuel Kant: Gesammelte Schriften in elektronischer Form: Institut für Kommunikationsforschung und Phonetik (IKP) der Universität Bonn; siehe auch Karsten Worm: Kant im Kontext II. Komplettausgabe 2003. Werke, Briefwechsel und Nachlaß auf CD-ROM. Volltextretrievalsystem ViewLit Professional (Karsten Worm InfoSoftWare).

Edition - Neuedition: die drei Critiken Immanuel Kants in der

Akademie-Ausgabe

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von Nachteil sein, stellt die Auswahl der Sachregistereinträge doch wohl die subjektivste' Leistung des Editors im ganzen Band dar. Indirekt berücksichtigt werden die Suchfunktionen der neuen Medien auch in den Bestimmungen zu sachlichen Erläuterungen'. Demzufolge werden Hinweise auf Querbezüge einer Textstelle zum dokumentierten Schaffen Kants weitgehend ausgeschlossen, es sei denn, im Edierten Text selbst findet sich eine Art Verweiszeichen, ζ. B. eine Anspielung.73 In einem Punkt haben andere Entwicklungen zu einer von Standards abweichenden Planung geführt: Fremdsprachige Ausdrücke, Wendungen und Zitate werden in sachlichen Erläuterungen übersetzt, wenn sich ihr Sinn nicht eindeutig aus dem Kontext ergibt oder einem Wörterbuch entnehmen läßt; dabei werden zeitgenössische Übersetzungen herangezogen. In die Rubrik .eindeutig aus dem Kontext ergibt' fällt die lateinische Terminologie, die Kant häufig zur Erläuterung seines deutschen Korrelats in Klammern hinzufügt. Nicht übersetzt wird auch die,assimilierte' Fachterminologie wie α priori.74 Mit dieser Regelung werden die zu erwartenden Sprachkenntnisse künftiger deutsch- und fremdsprachiger Nutzer berücksichtigt. Dies ist um so wichtiger, als die Neuedition der drei Critiken innerhalb von Kant's gesammelten Schriften nicht notwendig Grundlage für Textübersetzungen oder Studienausgaben sein wird, die diese Leistung standardgemäß bieten können, denn solche Editionen sind zur Genüge vorhanden. Sicher sind die meisten historisch-kritischen Ausgaben vor das Problem gestellt, daß sie, allein aufgrund ihres Preises, einen begrenzten Nutzerkreis haben. Aber warum soll dieser durch die Konzeption der Ausgabe selbst eingeschränkt werden? Warum soll eine historisch-kritische Ausgabe, die genutzt werden will, auf den „Service"75 der Übersetzung von Stellen, die sich nicht unproblematisch selbständig erschließen lassen, verzichten? Warum soll eine Ausgabe, die heute nicht mehr bedeutungsgleichen Sprachgebrauch erläutert und dadurch zum Verständnis des .Historischen' beiträgt, nicht auch in dieser Hinsicht den Zugang zum Text erleichtern? Liegt die Antwort in der Schwierigkeit einer angemessenen Übersetzung, kann entgegnet werden, daß es doch möglich sein müßte, Spezialliteratur oder Spezialisten für die jeweilige Zeit und Sprache einzubeziehen, was bei den sprachhistorischen Erläuterungen ja ebenfalls erforderlich ist. Eine weitere Art der Übersetzung in der Neuedition der drei Critiken jedenfalls dürfte unbestritten zur internationalen Nutzung beitragen: Die Frakturschrift der vorliegenden Bände wird von einer Antiqua abgelöst.

6.

Prinzipien: Einfachheit, Konsequenz, Transparenz

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß aufgrund historischer Zusammenhänge die ursprüngliche Konzeption der Werke-Abteilung von Kant's gesammelten Schriften im 73 74 75

Bestimmungen zu sachlichen Erläuterungen (vgl. Anm. 36). Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III-V, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam). Zum „Service" der Erschließung von Texten innerhalb historisch-kritischer Ausgaben siehe Hermann Krings: Einfiihrung (zum 3. Internationalen Rundgespräch Tübingen 1983). In: Allgemeine Zeitschrift fUr Philosophie 3,1980, S. 1-6, bes. S. 2.

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Vergleich mit Standards späterer historisch-kritischer Ausgaben gar nicht so schlecht sein kann. Mangelhaft hingegen ist in vielen Teilen die Ausführung des Bauplans, was aber nicht nur am fehlenden guten Willen lag, sondern auch am Stand von Forschung und Technik der Zeit. Insofern kann die Neuedition der drei Critiken ruhigen Gewissens auf ihrem Fundament aufbauen, wenn sie für die Bauausführung auch neue Materialien und Entwicklungen berücksichtigt. Dies führt zu Modernisierungen am Bau, der, bei Erhalt der historischen Substanz, auch auf den Wegen zugänglich sein will, die sich für die Zukunft abzeichnen; denn nur wenn möglichst viele wagen, das Gebäude zu betreten, werden möglichst viele feststellen, worum es sich handelt im gegebenen Fall um Dokumente aus dem 18. Jahrhundert, zu denen eine Distanz besteht, die aber durch die Entschlüsselung des ,Historischen' relativiert wird. Allein so kann, wie von Dilthey entworfen, eine ,Sammlung von Lebensäußerungen', mithin eine .vollständige, kritische' Ausgabe, als „philologisch-kritisch erforschte Entwicklungsgeschichte" zur „Unterlage für die Erkenntnis des Zusammenhanges des philosophischen Denkens" selbst werden und das „geschichtliche Bewußtsein" befördern.76 Für die Beziehung von historischem Zeugnis und Leser heißt dies, daß derjenige, der das Dokument bereitstellt, nicht nur, mit Dilthey, Archivar ist, sondern ebenso sehr ein ,Mittler'. Aus diesem Grund tritt neben die Vermittlung des ,Historischen' das Transparentmachen eignen Handelns, um auch über das Verhältnis von Original und vorliegender Edition aufzuklären. Dies geschieht allgemein in den Editionsrichtlinien und sollte sich darüber hinaus an jeder Stelle der Edition ,selbsterklären'. Insofern ist es wünschenswert, diese Richtlinien nach dem Grundsatz der .Einfachheit', d. h. auch mit interner .Konsequenz', zu verfassen sowie mit letzterer unter dem Kriterium der ,Transparenz' umzusetzen und mitzuteilen - daher stehen die Richtlinien der Neuedition der drei Critiken, wie eingangs erwähnt, unter diesen drei Prinzipien. Bezogen auf das Binnenverhältnis Edition - Neuedition erfordert dies auch, die derzeit vorliegenden Bände III bis V durch Angabe von deren Seitenzahlen zu berücksichtigen, was das Auffinden von Zitaten aus der Forschungsliteratur ermöglicht.77 Da die Neuedition angesichts des präsentierten Sprachmaterials aber ein neuer Bau für das historische Dokument ist und nicht für die vorliegenden Bände von Kant's gesammelten Schriften, muß sie konsequenterweise als Neubau innerhalb des .Palastes' begriffen, als solcher genutzt werden und bestehen. Gleichwohl sollte ihr Bauplan genügend Spielraum lassen, um innerhalb des von ihm gesetzten Rahmens auf besondere Erfordernisse eingehen zu können, die sich aus der Arbeit ergeben. Diese Möglichkeit ist in den Richtlinien selbst verankert, da bei entsprechender Begründung im Editorischen Bericht auch Abweichungen möglich sind: Die Ausgabe bliebe ihren Prinzipien treu, ohne ein starres System zu sein. Dies dürfte aber, wenn überhaupt, nur in dem Fall relevant werden, daß späterhin andere Abschnitte innerhalb der Wierde-Abteilung zu sanieren sind. Vorerst genügt abschließend der Hinweis:

76 77

Dilthey: GS IV, S. 558; 557. Für die Critik der reinen Vernunft entfällt dies wegen der gängigen Zitierweise nach der Originalpaginierung von ,A' und ,B'.

Edition - Neuedition:

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„Die genannten Editionsrichtlinien sowie die Anlagen gelten für die laufenden Arbeiten an der Neuedition der Critik der reinen Vernunft, der Critik der practischen Vernunft und der Critik der Urtheilskraft. Sollten Änderungen oder Ergänzungen notwendig werden, sind diese der Kant-Kommission zum Beschluß vorzulegen."78

78

Kant's gesammelte Schriften, Neuedition Bde. III—V: Schlußbemerkung, Unterlagen Kant-Arbeitsstelle BBAW (Potsdam).

Jacqueline

Karl

Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand" denkt Die Arbeitsweise Kants als ein Kriterium für die Neuedition des Opus

postumum

In Kenntnis des Kantischen Nachlasses charakterisierte Erich Adickes (1866-1928) bereits 1897 den Philosophen Kant als einen Autor, der „sich den richtigen Ausdruck zu erschreiben sucht", der „nicht erst alles im Kopfe fertig konzipiert, Inhalt wie Darstellung, sondern höchstens den Gedankengang im Voraus feststellt, dann aber das Einzelne mit der Feder in der Hand durchdenkt".1 Sie sehen - als ein repräsentatives Beispiel für diese, auch von anderen Forschern2 vertretene Charakterisierung - die Seite 37 aus dem I. Convolut des unter dem Titel Opus postumum bekannt gewordenen Nachlaßwerkes (Abb. 1), an welchem Kant über eine Dekade gearbeitet hat und welches er selbst „sein Hauptwerk, ein Chef d'ceuvre" zu nennen pflegte.3 Bekanntermaßen versuchte Kant in Auseinandersetzung mit seiner eigenen Kritischen Philosophie, einen Übergang von der Metaphysik der Natur zur empirischen Physik zu konzipieren. Der Inhalt des Nachlaßwerkes, seine Bedeutung und die Einordnung in das Gesamtwerk sind nicht Gegenstand meines Beitrages, sondern der Charakter der Kantischen Handschrift selbst: In dem nachgelassenen Manuskript, welches insgesamt 290 lose Bögen und Blätter - zumeist Folio, aber auch kleineren

1

2

3

Erich Adickes: Lose Blätter aus Kants Nachlass. In: Kant-Studien 1, 1897, S. 232-263, S. 240. Adickes verweist des öfteren in der Akademie-Ausgabe (Kant's gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1900ff„ im folgenden unter AA abgekürzt) darauf, z.B.: „das Bedürfniss nach erneuter Vertiefung [...], worauf er dann, wie es seine Gewohnheit war, durch schriftliche Fixirung seiner Überlegungen sich Uber annoch dunkle Punkte Klarheit zu erschreiben suchte" (AA XIV, S. 595); „Die ersten beiden Absätze auf S. 1 sind ohne Zweifel Vorarbeit für eine geplante Veröffentlichung: Kant versucht in ihnen, wie so oft, sich den richtigen Ausdruck zu erschreiben" (AA XV, S. 637). Theodor Haering: Der Duisburg'sche Nachlass und Kants Kritizismus um 1775. Tübingen 1910, S. 4: „Kant pflegte mit der Feder in der Hand zu denken. [...] es sind doch alle diese Nachlaßpapiere, und zwar je älter er wurde desto mehr, ein Beweis dafür, daß er den richtigen Ausdruck auch für solche in Gedanken konzipierte Ideen erst durch immer erneute schriftliche Formulierungen zu finden suchte und fand." - Gerhard Lehmann: Ein Reinschriftfragment zu Kants Abhandlung vom ewigen Frieden. In: Gerhard Lehmann: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants. Berlin 1969, S. 51-66, S. 55: „Kant als Federdenker". Darauf Bezug nehmend Heinz Heimsoeth: Zur Akademieausgabe von Kants gesammelten Schriften. Abschluß und Aufgaben. In: Kant-Studien 49, 1957/58, S. 3 5 1 363, S. 355. Johann Gottfried Hasse: Lezte Aeußerungen Kant's von einem seiner Tischgenossen. 2. Abdruck. Königsberg 1804. In: Der alte Kant. Hasse's Schrift: Letzte Äußerungen Kants und persönliche Notizen aus dem opus postumum. Hrsg. von Artur Buchenau und Gerhard Lehmann. Mit einem Bildnis und einem Faksimile. Berlin/Leipzig 1925, S. 24.

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Jacqueline

Karl

Formats - mit 525 eigenhändig von Kant beschriebenen Seiten enthält, liegt kein fertiges Werk, auch kein Fragment vor, sondern mehrfach synchron und diachron bearbeitete Entwürfe - neben dem sogenannten Oktaventwurf - 13 Entwürfe auf Foliobögen. Das von Kant intendierte Werk ist vielmehr als ein ,Arbeitsmanuskript' zu bezeichnen, es enthält neben reinschriftlichen Texten immer wieder Neuansätze, Überarbeitungen und Streichungen, eingeschobene Texte zu anderen Themen bis hin zu Tagesnotizen und drückt bis in die sprachliche Haltung hinein die Bewegung des Kantischen Denkens aus - wovon die Seite 37 des I. Convoluts zumindest einen visuellen Eindruck geben sollte. Das Opus postumum ist bereits 1936 und 1938 als Bände XXI und XXII der Gesamtausgabe von Kant's gesammelten Schriften von Artur Buchenau und Gerhard Lehmann herausgegeben worden. Diese erste vollständige diplomatische Edition verfährt gänzlich unkritisch und ist deshalb seit langem schweren Einwänden ausgesetzt. Ich möchte an dieser Stelle nur auf die entsprechenden Publikationen insbesondere von Reinhard Brandt und Werner Stark verweisen. 4 Aufgrund der editorischen Unzulänglichkeiten wird jetzt in der Kant-Arbeitsstelle Potsdam, die 2002 an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften neu etabliert wurde, an einer kritischen, wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Edition gearbeitet. Eckart Förster (Baltimore) ist der verantwortliche Herausgeber der Neuedition der Bände XXI und XXII, ich bin mit der Neutranskription des gesamten Manuskriptes beauftragt. Mit den Vorbereitungen dieser Neuedition konnte Dank einer großzügigen Drittmittelzuwendung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, Hamburg, bereits im Frühjahr 2001 begonnen werden. Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft bewilligter Förderungsantrag ermöglichte die Digitalisierung des gesamten Manuskriptes und schuf damit eine Voraussetzung für die gleichfalls geplante elektronische Edition in Verbindung mit den digitalisierten Faksimiles der Handschrift. 5 Von den institutionellen Rahmenbedingungen zurück zum Manuskript selbst. - Ich möchte im folgenden mit Blick auf die Neuedition des Opus postumum einen Vorschlag zur Diskussion stellen, der auf Beobachtungen und Überlegungen aus dem laufenden Arbeitsprozeß heraus beruht und über dessen Umsetzung für die Neuedition noch nicht entschieden ist. In einem ersten Teil werde ich die Arbeitsweise der schriftstellerischen Tätigkeit Kants skizzieren, in einem zweiten Teil anhand einer Seite aus dem Opus postumum exemplarisch die Methode einer genetisch ausgerichteten Strukturanalyse vorstellen, die von der Arbeitsweise des Autors Kant ausgeht und den schrittweisen Nachvollzug des Produktionsprozesses ermöglicht, und abschließend zwei Varianten visuell präsentieren, die sich aus den Ergebnissen der genetischen Strukturanalyse für die Realisierung der Edition ergeben. 4

5

Vgl. Reinhard Brandt: Kants Vorarbeiten zum „Übergang von der Metaphysik der Natur zur Physik". Probleme der Edition. In: Übergang. Untersuchungen zum Spätwerk Immanuel Kants. Hrsg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg. Frankfurt/M. 1991, S. 1-27; Reinhard Brandt: Die „Krause-Papiere". In: Immanuel Kant: Opus postumum. Mikrofiche-Ausgabe. Hrsg. von Tilo Brandis. Berlin 1999, S. 11-28; Wemer Stark: Nachforschungen zu Briefen und Handschriften Immanuel Kants. Berlin 1993. Die digitalisierten Faksimiles des Opus postumum sind in chronologischer und diplomatischer Abfolge auf der Internet-Seite des Akademienvorhabens Kant's gesammelte Schriften der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter http://www.bbaw.de/forschung/kant/op/op.htm verfügbar.

Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand"

I.

denkt

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D i e Arbeitsweise des Autors Kant

Aus dem handschriftlichen Nachlaß, der Korrespondenz und Berichten von Zeitgenossen ist der Kant-Forschung annähernd bekannt, daß die Kantischen Schriften einen mehrstufigen Herstellungsvorgang durchliefen - beginnend mit der Niederschrift von Gedanken und Reflexionen auf den später sogenannten Losen Blättern, mehrfachen Umarbeitungen zu Entwürfen, der Reinschrift und Abschrift bis hin zur Druckvorlage. 6 Aber nicht nur bei der Abfassung seiner Werke hielt Kant eine bestimmte Abfolge einzelner Arbeitsschritte ein. Werner Stark gelangte durch seine Beschäftigung mit Kants handschriftlichem Nachlaß aus den 1780er und 1790er Jahren zu der Auffassung, daß der Autor Kant auch bei seinen schriftlichen Entwürfen oder Vorarbeiten auf Folio-Bögen eine bestimmte Vorgehensweise mit deutlich unterscheidbaren Arbeitsgängen befolgt hat:7 In Orientierung an einem Satzspiegel ist die Folio-Seite deutlich in Grundtext8 und äußere Ränder eingeteilt, wobei die Ränder für nachträgliche Notizen auch die Funktion einer Art Zwischenablage übernehmen konnten. Dabei lassen sich im Nachhinein mindestens drei Arbeitsphasen unterscheiden: In der ersten schrieb Kant den Grundtext, de facto die erste Fassung, bei Freilassung der äußeren Ränder; in einer zweiten Phase wurde der Grundtext stilistisch überarbeitet, und zwar durch korrigierende Interlinear- und Marginalzusätze; und in einer dritten Arbeitsphase überarbeitete Kant die jetzt vorliegende Fassung auf eine mehr inhaltlichen Art durch Eintragung von Reflexionen, Alternativen, mittels senkrechten Durchstreichungen und dergleichen mehr. Diese von Werner Stark gemachten Beobachtungen können für Kants gesamten handschriftlichen Nachlaß der Entwürfe, also einschließlich des Opus postumum, verallgemeinert werden. Abgesehen davon, daß von einem Autor wie Kant eher ein Ar6

7

8

Siehe dazu: Werner Stark: Zu Kants Mitwirkung an der Drucklegung seiner Schriften. In: Bernd Ludwig: Kants Rechtslehre. Mit einer Untersuchung zur Drucklegung Kantischer Schriften von Werner Stark. Hamburg 1988 (Kant-Forschungen. Bd. 2), S. 7 - 2 9 , insbesondere S. 25 f.; ebenso Lehmann 1969 (Anm. 2), S. 56. Wemer Stark, der mich auf diesen Sachverhalt aufmerksam machte und dessen Beobachtungen ich in meine eigene Arbeit am Opus postumum aufnehmen konnte, überließ mir dankenswerterweise auch zwei Typoskripte, in welchen er seine Auffassung differenzierter ausführt und anhand der Strukturanalyse des Krakauer Fragments exemplarisch darlegt: Werner Stark: Kurze historische Erläuterung zum Krakauer Fragment (erschienen in der polnischen Übersetzung des Streit der Fakultäten: Werner Stark: Krotkie wyjasnienie historyczne odnoscie Fragmentu krakowskiego. In: Immanuel Kant: Spor Fakultetöw. Hrsg. und übers, von M. Zelazny. Torun/Lubicz 2003, S. 169-186); Werner Stark: Eine Feder in der Hand des Philosophen. Beobachtungen, Überlegungen und Vorschläge zur Edition Kantischer Handschriften: Das sogenannte Krakauer Fragment. - Die Intention des zweiten Textes reicht weit über den jetzigen Zusammenhang hinaus, weil Stark in diesem Text eine - im Vergleich zur vorliegenden systematisch-chronologischen Anordnung des überlieferten Manuskriptbestandes - angemessenere Verfahrensweise zur Edition des Handschriftlichen Nachlasses in der III. Abteilung der Akademie-Ausgabe vorschlägt. Ich übernehme hier die von Werner Stark eingeführte Terminologie, vgl. dazu auch Erich Adickes: Kants Opus postumum dargestellt und beurteilt. Berlin 1920 (Kant-Studien. Ergänzungsheft 50), S. 36: „Kant hat meistens Foliobogen benutzt, die er mit einem schmalen Rand von etwa zwei Finger Breite versah. Der ursprüngliche Text ist fast durchweg in großer, breiter Schönschrift nach Art der Briefe und der offiziellen Aufzeichnungen (die Kant ζ. B. als Rektor machte) geschrieben, die gleichzeitigen und späteren Zusätze an den Rändern meistens bedeutend flüchtiger."

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beitsstil zu erwarten ist, den er bei seiner schriftstellerischen Tätigkeit entwickelt hat und der sich für ihn bewährt hat, als das Gegenteil, sprechen für die Zulässigkeit dieser Generalisierung die unterschiedlichen Manuskripte selbst.9 II.

Die Methode einer genetischen Strukturanalyse am Beispiel einer Manuskriptseite aus dem Opus postumum

Von der soeben skizzierten Arbeitsweise des Autors Kant ausgehend, werde ich exemplarisch anhand der Seite 5 aus dem IX. Convolut des Opus postumum (Abb. 2) der ersten Seite des 2. Entwurfes: α-ε Übergang, mit Kants Signatur „a Übergang" die Methode einer genetischen Strukturanalyse vorstellen. Bevor ich die Genese der Seite simuliere, sind noch zwei methodische Vorbemerkungen nötig: Neben den oben genannten Arbeitsphasen kommt bei der genetischen Analyse der Manuskriptseite, insbesondere bei der Rekonstruktion der Chronologie der Randzusätze, den sogenannten Stellungsindizien eine entscheidende Bedeutung zu. Bereits Erich Adickes erkannte in den Stellungsindizien ein „äusserst bedeutsame^] Hülfsmittel", das „rein objectiv" sei und „in den meisten Fällen zu absoluter Sicherheit" führe. 10 Eine weitere methodische Regel beachtet eine Eigenart von Kant, die Randzusätze nicht, wie man erwarten könnte, nacheinander von oben nach unten, sondern von unten nach oben auf den frei belassenen Rändern zu notieren." Die genetische Betrachtung einer Seite hat Adickes einmal mit der Arbeit eines Geologen verglichen, man müsse „wie der Geologe bei verwickelten Gesteinsverhältnissen, sich die Frage vorlegen: wie konnte diese Lagerung [von übereinanderliegenden Schichten] zu stände kommen?"12 Machen wir uns also an die Arbeit eines .Geologen'! Sie sehen das Ergebnis der ersten Arbeitsphase (Abb. 3), der Grundtext ist geschrieben und wird auf der nächsten Seite weitergeführt, eindeutig ist die Freilassung der drei äußeren Ränder und die von Kant notierte Signatur „a Übergang". In der zweiten Arbeitsphase wird der Grundtext mittels korrigierender Interlinearund Marginalzusätze stilistisch überarbeitet. Für die Marginalien benutzt Kant in der Regel lange senkrechte Striche als Verweiszeichen, sowohl die Marginalien selbst als auch die entsprechenden Verweiszeichen im Grundtext sind auf der Abbildung 4 her-

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Davon konnte man sich anhand der im Vortrag gezeigten Faksimiles von vier Seiten aus dem Rostocker Manuskript zur Anthropologie in pragmatischer Hinsicht und der vier Seiten des sogenannten Krakauer Fragments überzeugen, auf deren Abdruck aus Platzgründen leider verzichtet werden mußte. Erich Adickes: Einleitung in die Abtheilung des handschriftlichen Nachlasses. In: AA XIV (Anm. 1), S. XV-LXII, S. XXX. - Das Kriterium der Schriftphasen bzw. der handschriftlichen Indizien spielt für das Opus postumum keine Rolle, weil sich Kants Schrift in der Zeit der Niederschrift kaum verändert hat, für die in Frage kommende Zeit zwischen 1796 bis 1803 lassen sich nur zwei Schriftphasen unterscheiden (vgl. ebd., S. XXXV ff). - Davon bleibt selbstverständlich die Unterscheidung zwischen der sogenannten .Schönschrift' des Grundtextes und der eher flüchtigen Konzeptschrift der später sukzessive geschriebenen Randzusätze unberührt. Gerhard Lehmann: Einleitung. In: Immanuel Kant: Opus postumum. Hrsg. von Artur Buchenau und Gerhard Lehmann. In: A4 XXII (Anm. 1), S. 751-789, S. 784. Adickes AA XIV (Anm. 10), S. XXX.

Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand"

denkt

131

vorgehoben. Chronologisch sind die Marginalien vor den Randzusätzen geschrieben, da jene von diesen umschrieben werden müssen. Wie bereits gesagt, überarbeitet Kant in einer dritten Arbeitsphase die jetzt vorliegende Fassung auf eine mehr inhaltliche Art. Dabei benutzt er für Ergänzungen, Alternativen, oder um zusammengehörende Textteile eines Randzusatzes zu verbinden, nicht mehr die langen senkrechten Striche, sondern Zeichen verschiedenster Art. Seine diesbezügliche Phantasie kannte keine Grenzen, angesichts der Vielzahl der Randzusätze sind diese unterschiedlichen Zeichen für eine korrekte Zuordnung einfach nötig. Anhand von Stellungsindizien kann auf unserer Beispielseite die chronologische Abfolge der Randzusätze eindeutig nachgewiesen werden. (Abb. 5) Sie sehen den zuerst notierten Randzusatz la und lb im unteren Randbereich, bestehend aus zwei Teilen, die durch Verweiszeichen miteinander verbunden sind. Der Zusatz 2 ist als nächster geschrieben, weil die letzten Zeilen immer dichter aufeinander folgen, die Schrift gedrängter wird und Kant auf der drittletzten Zeile ein höchst seltenes Sigle für „durchs" benutzt, alles eindeutige Indizien für den nach unten begrenzten Platz durch den bereits schon notierten ersten Zusatz - wie die vergrößerte Wiedergabe des Zusatzes 2 auf dem Faksimile zeigt. (Abb. 6) Den Zusatz 3a und 3b muß Kant als dritten geschrieben haben (wieder Abb. 5), da er für diese Notiz - nach unten - keinen ausreichenden Raum fand und deshalb den Zusatz weiter oben zu Ende führte. Der chronologisch nächste, der vierte Zusatz 4a-4c besteht, wie Sie sehen, aus drei durch Zeichen verbundenen Teilen, und dieser muß nach dem dritten geschrieben sein: Sein zweiter Teil beginnt nach dem zweiten Teil des dritten Zusatzes, der demnach bereits geschrieben war, und findet nach unten - wegen des ersten Textteiles des dritten Zusatzes - nicht ausreichend Platz, so daß Kant im oberen Randbereich weiterschrieb. Für den letzten, den fünften Randzusatz 5a und 5b bleibt nur noch der freie obere Rand, der obere rechte Randbereich und - weil im rechten Randbereich der freie Platz durch den offensichtlich bereits geschriebenen vierten Zusatz begrenzt ist - die einzig noch unbeschriebene Stelle rechts neben der Überschrift für diese letzte Notiz.

III.

Konsequenzen für die Realisierung der Neuedition

Wie läßt sich dieses Ergebnis der genetischen Strukturanalyse in der Anordnung des Textes und der Präsentation der Neuedition insgesamt umsetzen? Ein erster Vorschlag (Abb. 7): Sie sehen in Gegenüberstellung von Faksimile und Transkriptionstext13 in der breiteren Spalte des Textes den Grundtext mit den während des Schreibens eingetragenen Verbesserungen (das Ergebnis der ersten Arbeitsphase), die in den fortlaufenden Transkriptionstext integrierten Marginalien, die in diesem grau hervorgehoben wurden (das Ergebnis der zweiten Arbeitsphase), und die Randzusätze aus der dritten Arbeitsphase, deren Chronologie auf dem Faksimile durch Ziffern - und bei Mehrteiligkeit durch zusätzliche Kleinbuchstaben - kenntlich gemacht ist und die in der rech13

Der wiedergegebene Text ist eine bereits vereinfachte Variante der originären Transkription.

132

Jacqueline

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ten schmaleren Spalte der Transkription entsprechend ihrer Chronologie angeordnet sind. 14 Ist diese Anordnung, insbesondere der Randzusätze, und zwar allein nach dem Kriterium ihrer Genese, schon zureichend und überzeugend? Nein, die Randzusätze sind nämlich nicht von gleicher Bedeutung oder Funktion! Eine Differenzierung ist nicht nur möglich, sondern für das Textverständnis sogar unerläßlich. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, lassen sich folgende Fälle unterscheiden: eine Fortsetzung oder Ergänzung des Grundtextes, eine Ersetzung, eine Alternative, eine abgeschlossene Bemerkung zum Grundtext oder eine selbständige Reflexion. Auf unserer Beispielseite sind zwei Zusätze eindeutig Alternativen, und zwar der chronologisch dritte und vierte Zusatz. Der Zusatz 4a-4c formuliert eine Alternative zum Textabschnitt § 1 des Grundtextes, und der Zusatz 3a-3b eine alternative Weiterfuhrung eines Satzes im § 2. Dieser Textbefund ist jetzt in der Darstellung wie folgt umgesetzt (Abb. 8): Auf dem Faksimile sehen Sie wie bisher den Grundtext, die Marginalien und die selbständigen Randzusätze markiert, neu ist die andere Ziffernfolge der Randzusätze insgesamt, durch welche die beiden Alternativen hervorgehoben werden: Benutzte ich bisher Ziffern und Kleinbuchstaben, um die Chronologie deutlich zu machen, so verwende ich jetzt für die Alternativen, aber nur für diese, Kleinbuchstaben und Ziffern. Das ergibt folgende Bezeichnung: die Alternativen a l - a 3 (vorher 4a-4c) und b l - b 2 (vorher 3a-3b), und zwar in der Abfolge ihrer Zugehörigkeit zum Grundtext, und wie bisher nach ihrer Chronologie die drei übrigen selbständigen Randzusätze l a - l b , 2 und 3a-3b (vorher l a - l b , 2 und 5a-5b). Auf der rechten Seite finden Sie in der linken breiteren Spalte wie bisher den Grundtext mit hervorgehobenen Marginalien, allerdings gibt es in der rechten schmaleren Spalte wesentliche Änderungen der Textanordnung: Die Alternativen werden nicht mehr entsprechend der chronologischer Abfolge angeordnet, sondern sind dem jeweiligen Abschnitt des Grundtextes auf gleicher Höhe gegenübergestellt, gefolgt von den selbständigen Randzusätze in deren chronologischen Abfolge. Sie sehen auf der rechten Seite den Grundtext und die zum § 1 formulierte Alternative a l - a 3 , die eindeutig durch das Verweiszeichen *' dem Grundtext zugeordnet ist und in der Textanordnung auf der entsprechenden Höhe beginnt. Bei dieser Alternative liegt uns ein besonderer Fall der Zeichenverwendung von Kant vor. Er benutzte nämlich für eine Fußnote als solche nicht beliebige, sondern ein ganz bestimmtes Zeichen, und zwar einen Stern, der auch auf dem Faksimile eindeutig zu erkennen sein dürfte (am Ende von a2 und zu Beginn von a3). Für die textliche Anordnung bedeutet dieser Textbefund, daß der dritte Teil der Alternative, also a3, als Fußnote wiederzugeben ist, üblicherweise in einem durch Strich vom Text getrennten unteren Textfeld (Abb. 9, linke Seite). Auf der rechten Seite (Abb. 9) sehen Sie in der rechten Spalte die zweite Alternative, die alternative Wetterführung des Satzes im Grundtext des § 2, deren Zuord-

14

Im Vortrag konnten alle drei Arbeitsphasen in der Gegenüberstellung von Faksimile und Transkription präsentiert und zwischen Grundtext, Marginalien, Randzusätzen und Alternativen (siehe unten) farblich unterschieden werden.

Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand"

denkt

133

nung zu diesem durch das Wort „weil" ersichtlich ist. Es folgen die drei selbständigen Randzusätze, auf dieser Seite der Zusatz l a - l b und 2, auf der nächsten Seite noch der Zusatz 3a-3b. 15 Bevor ich zum Abschluß meines Beitrages komme, möchte ich noch die Frage beantworten, wie in den bisher vorliegenden Editionen des Opus postumum verfahren wurde: Zunächst ergab der Vergleich, daß diese Manuskriptseite in den von mir ausgewerteten einschlägigen Editionen 16 nirgendwo vollständig ediert ist und zweitens die genetische Strukturanalyse in keiner der Editionen zugrunde gelegt wurde. Aus Platzgründen möchte ich nur auf die Akademie-Ausgabe von Buchenau und Lehmann eingehen: In dieser Ausgabe wird nach dem Prinzip verfahren, daß nach dem Grundtext mit eingefügten Marginalien die Zusätze ,νοη oben nach unten', d. h. zuerst aus dem oberen Randbereich, dann dem linken bzw. rechten und dem unteren Bereich abgedruckt sind. Im Fall unserer Beispielseite ist zwar die erste Alternative als zweite Fassung" erkannt, wird aber erst nach dem gesamten Grundtext zwei Seiten später abgedruckt. Zudem war man sich unsicher, ob es sich bei a3 um eine ,£ternanmerkung" handelt, und gab diesen Textteil nicht als Fußnote, sondern als fortlaufenden Text wieder. Die zweite Alternative, die alternative Weiterführung des Satzes im § 2, wird zwar der entsprechenden Stelle im Grundtext korrekt zugeordnet, ist allerdings im Anmerkungsapparat abgedruckt und zudem nicht als solche - als Alternative - , sondern als „längerer s.- Z." [späterer Zusatz] ausgewiesen. 17 Eklatant wird diese nicht korrekte Zuordnung und Bezeichnung ζ. B. in der Kant im Kontext II - Komplettausgabe 2003 auf CD-ROM, die neben den Allotria aus dem Fußnotenapparat nur ca. 70 durchstrichene Textpassagen aufnimmt und in den Textzusammenhang integriert,18 was in unserem Fall dazu führt, daß der Nutzer von der

15

16

17 18

Die letzte Seite mit dem Randzusatz 3a-3b wurde nicht abgedruckt, deren Textanordnung folgt dem Randzusatz 2. - Für die Textanordnung sei an dieser Stelle erwähnt, daß die Breite der Spalten variabel zu denken ist, je nach den Erfordernissen, d. h. dem Vorhandensein von Randzusätzen auf der jeweiligen Manuskriptseite, und daß für die funktional zu unterscheidenden Randzusätze in der rechten Spalte - je nach Vorkommen - Tasten mit sich öffnenden und wieder zu schließenden Textfenstern eingerichtet werden könnten. Darüber hinaus ist eine abschnittsweise Verlinkung zwischen Faksimile und Editionstext mit der Möglichkeit einer Vergrößerung des jeweiligen Abschnitts der Handschrift zu diskutieren, um dem Nutzer die Zuordnung und den Vergleich mit der Handschrift zu erleichtem. In chronologischer Reihenfolge: Ein ungedrucktes Werk von Kant aus seinen letzten Lebensjahren. Als Manuscript hrsg. von Rudolf Reicke. In: Altpreußische Monatsschrift XIX-XXI, 1882-84; Das nachgelassene Werk Immanuel Kant's. Vom Uebergange von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik mit Belegen populär-wissenschaftlich dargestellt. Hrsg. von Albrecht Krause. Frankfurt am Main/Lahr 1888; Immanuel Kant: Opus postumum. Hrsg. von Artur Buchenau und Gerhard Lehmann. In: AA XXI/XXII (Anm. 1). Berlin/Leipzig 1936/38; Emmanuel Kant: Opus postumum. Textes choisis et traduits par Jean Gibelin. Paris 1950; Emmanuel Kant: Opus postumum. Passage des principes metaphysiques de la science de la natura ä la physique. Traduction, presentation et notes par Fran9ois Marty. Paris 1986; Immanuel Kant: Transition de los principios metafi'sicos de la ciencia natural a la fi'sica (Opus postumum). Edicion de Felix Duque. Barcelona 1991; Immanuel Kant: Opus postumum. Edited, with an Introduction and Notes, by Eckart Förster. Cambridge 1993. Buchenau/Lehmann AA XXII (Anm. 1), S. 207, 206. „Kants eigene, wenn auch unvollständige Blattzählungen, die im Fußnotenapparat, ohne dies editorisch wirksam werden zu lassen, vermerkt sind, werden bei den Konvolut- und Blattangaben in unserer Aus-

134

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Karl

Existenz der Alternative 2 überhaupt nichts erfährt und von der Alternative 1 nur den Text, nicht den in der Akademie-Ausgabe zusätzlich gegebenen Hinweis auf eine 2. Fassung und deren Zugehörigkeit zum Beginn des § 1. Es wird deutlich, daß die bislang nicht beachtete genetisch ausgerichtete Strukturanalyse für die Neuedition des Nachlaßwerkes von nicht zu unterschätzender Relevanz ist. Diese Behauptung wird auch von den Ausführungen von Vittorio Mathieu gestützt: In seinem 1989 erschienenen Kants Opus postumum hat Mathieu auf eine Eigenart aufmerksam gemacht, die er die „zellenartigen Struktur des Manuskripts" nannte: 19 Der zusammenhängende Text sei nie über die Grenzen eines einzelnen Bogens bzw. einer einzelnen Seite hinaus geschrieben. Dadurch fällt, nach Mathieu, die Einheit des Gedankens mit der vorgegebenen formalen Einheit des Papiers (eines Bogen, einer Seite) zusammen, so daß der Bogen oder die Seite die synoptische Funktion haben, den jeweiligen Gedankengang geschlossen aufzunehmen. Bei der Transkription bestätigt sich diese These immer wieder: die letzte, die vierte Seite eines Bogens ist, um den Gedanken aufnehmen zu können, in vielen Fällen übervoll geschrieben. Gleichfalls betrifft die von Mathieu beschriebene Eigenart auch die vielfältigen Randzusätze, die nicht einer „Knauserei mit dem Beschreibstoffe" geschuldet sind, wie Julius von Pflugk-Harttung 20 und nach ihm auch andere behaupteten, denn es gibt auch völlig leere Seiten oder Seiten, die nur auf den Rändern beschrieben sind, oder auch Seiten mit wenig Grundtext, auf denen allerdings der Randbereich fast 100% beschrieben ist. Kant hätte anderenorts also sehr wohl Platz für seine nachträglichen Notizen gehabt, d. h. die Randzusätze gehörten zum jeweiligen Grundgedanken der Seite und durften offensichtlich nach der Auffassung Kants nirgendwo anders notiert werden. Von diesem genetischen Zusammenhang der Textteile methodisch auszugehen und den Zusammenhang für den Nutzer in einer nachvollziehbaren Weise zu präsentieren, dafür soll mein Beitrag aus editorischer Sicht ein Vorschlag sein. Das Ziel der Neuedition des Opus postumum kann gerade nicht in einer differenzierten Transkription bzw. einer topographischen oder topologischen Anordnung der Textteile bestehen, ohne Rücksicht auf die Chronologie der Niederschrift oder auf thematische Zusammenhänge der Eintragungen, wie ζ. B. seit 2001 in der IX. Abteilung Der handschriftliche Nachlaß der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken. Was in diesem

19 20

gäbe mit ausgewiesen. Des weiteren wurden ca. 70 ebenfalls in den Fußnotenapparat verbannte, durchstrichene Textpassagen, sofern es sich dabei nicht um reine Textvarianten handelt, nach dem editorischen Vorbild der Bände XIV-XIX und unter Nutzung der Lehmannschen Positionsangaben wieder näher in den Textzusammenhang gerückt (vgl. XXII 205). Bei einem Werk, dessen durchgängiger Entwurfscharakter außer Frage steht, dürften solche wenn auch durchstrichenen Passagen kaum einen minderen Status gegenüber den - soweit undurchstrichen, im Haupttext belassenen - Privatnotizen Kants besitzen. Um den dokumentarischen Zusammenhang zu wahren, sind nunmehr auch die durchgestrichenen, fiir Datierung, biographische Informationen und alle Freunde Lampes interessanten Allotria (vgl. u. a. XXII [XXI sie!] 128f.) in den für diese Ausgabe sichtbaren und die Volltextsuche findbaren Textbereich gehoben." (Editorial. In: Kant im Kontext II - Komplettausgabe 2003. Werke, Briefe und Nachlaß auf CD-ROM. Hrsg. von Karsten Worm - InfoSoftWare. Berlin 2003) Vittorio Mathieu: Kants Opus postumum. Hrsg. von Gerd Held. Frankfurt/Main 1989, S. 61ff. Julius von Pflugk-Harttung: Paläographische Bemerkungen zu Kants nachgelassener Handschrift. In: Archiv fur Geschichte der Philosophie II, 1889, S. 31^14, S. 32 u. ö.

Immanuel Kant - der Autor, der „mit der Feder in der Hand" denkt

135

Fall sinnvoll ist - galt es doch auch editorisch den Mythos von Nietzsches Hauptwerk Vom Willen zur Macht als eine willkürliche Konstruktion zu zerstören würde im Fall des Opus postumum nichts zum Verständnis des Kantischen Nachlaßwerkes beitragen. Abgesehen davon, daß die genetische Strukturanalyse für den Wissenschaftler als Forscher nahezu unzumutbar ist, soll diese Arbeit die Edition leisten - als ihren Beitrag, das von Kant intendierte Werk in seinen vielfältigen diachronen und synchronen Bezügen sichtbar zu machen. Editionen - Wandel und Wirkung - so lautet das Thema unserer Tagung. Die elektronischen Medien bieten heute vielfältig neue Möglichkeiten der Aufbereitung und Darstellung von Texten in einer Edition. Wenn der Text außerdem in Verbindung mit den digitalisierten Faksimiles eines Manuskriptes präsentiert wird, werden darüber hinaus in weit größerem Umfang die Entscheidungen der Editoren nachvollziehbar und einer öffentlichen wissenschaftlichen Bewertung zugänglich. Mit dem Wandel ändert sich auch die Wirkung - die ,gewandelte' Edition könnte in unserem Fall Auswirkungen auf das Verständnis des Philosophen Kant insgesamt haben: Tanja Gloyna hat in ihrem Beitrag Kant als Papieraibeiter bezeichnet,21 man kann auch mit Gerhard Lehmann sagen: Kant ist kein Resultatdenker, sondern wesentlich ein Problemdenker.22 Das heißt nichts anderes, als daß selbst die Druckschriften im strengen Sinn keine fertigen Werke sind, sondern Etappen eines Denkens, das bis zu seinem Ende philosophisch unterwegs blieb. Davon legt das Opus postumum hinreichend und eindrucksvoll Zeugnis ab.

21

22

Tanja Gloyna: Edition - Neuedition: die drei Critiken Immanuel Kants in der Akademie-Ausgabe. Eine Baubeschreibung. Im vorliegenden Band, S. 109-125. Lehmann 1969 (Anm. 2), S. 58: „Zudem ist Kant wesentlich Problem-, nicht Resultatdenker".

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136

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140

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Lavaters Hervorhebungen jeglicher Art (Sperrung, Kursivierung, größere und kleinere Schrift etc.) werden kursiv gesetzt. Eine Ausnahme bildet die Verwendung der Antiqua-Schrifttype, die im Druck in der Type Faltiger wiedergegeben wird.

1)

Die verwendeten Gestaltungsmittel (Sternchen, Balken etc.) werden nur dort übernommen, wo sie klar der Abgrenzung von Sinneinheiten im Text dienen.

m)

Die Seitenzahlen des Originaldrucks (Editio princeps) finden sich am Seitenrand in der ersten Zeile nach dem mit I markierten Seitenwechsel.

Die historisch-kritische

3.

Edition der Werke Johann Caspar

Lavaters

155

Lavaters Anmerkungen Die von Lavater in der Editio princeps für Fußnoten verwendeten verschiedenen Verweiszeichen (Sterne, Kreuze etc.) werden als Sternchen beibehalten.

4.

Textkritischer Apparat Bezug zum Text: Anmerkungsziffer + Lemma] + Textkritische Bemerkung Bsp.:

236 lieber] Β liebster

a)

Textänderungen von der Editio princeps zur zweiten (B) und - falls inhaltlich relevant - zu weiteren Auflagen werden im textkritischen Apparat nachgewiesen (Klammersetzungen sowie neu in den folgenden Auflagen fett und groß gedruckte Wörter und nicht relevante orthographische Änderungen bleiben unberücksichtigt).

b)

Im textkritischen Apparat behalten Nachweise aus späteren Ausgaben deren Orthographie und Interpunktion bei, unter Berücksichtigung der unter Punkt 2 (Textgestaltung) genannten Anpassungen.

c)

Auf die Zusätze und Ergänzungen wird mit Seitenangabe hingewiesen. Anfang und Ende der Zeilen, auf die sich diese Zusätze beziehen, werden im textkritischen Apparat angegeben. Von den Zusätzen und Ergänzungen wird auf den Textapparat zurückverwiesen.

d)

In den Anmerkungen wird bei Seitenhinweisen an erster Stelle auf die Ausgewählten Werke in historisch-kritischer Ausgabe verwiesen; in eckigen Klammern steht zudem die Seitenzahl der Editio princeps. Bsp.:

5.

S. 9-10

[11-12].

Sachapparat In allen Erläuterungen sowie in Einleitungen, Einführungen und Verzeichnissen folgen die Herausgeberinnen und Herausgeber der neuen Rechtschreibung, die in Duden, Band 1 (Rechtschreibung der deutschen Sprache, 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage) festgelegt ist, jedoch in der traditionsbezogenen Version. Das heißt: Überall dort, wo der Duden die hergebrachten Formen zuläßt, werden diese angewendet. Was die Schreibung von ss und sz betrifft, so hält man sich hier an die in der Reform erfolgte Lockerung. Bezug zum Text: Bei Texterläuterungen, bibliographischen oder biographischen Hinweisen sowie bei Bibelstellenangaben:

156

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Caflisch-Schnetzler

Anmerkungsziffer + Erläuterung bzw. bibliographischer oder biographischer Hinweis: Bsp.:

20

Johann Jacob Bodmer.

286 Jes 3,10. Bei Worterklärungen: Anmerkungsziffer + Lemma: Sacherklärung Bsp.:

33

Hornung: Februar.

a)

Zitat- und Stellennachweise stehen im Sachapparat. Die von Lavater benutzte Ausgabe wird - falls nachweisbar - im Sachapparat erwähnt. Nach Möglichkeit wird auch auf eine wissenschaftliche Ausgabe verwiesen.

b)

Zitate werden verifiziert. Inhaltlich relevante Abweichungen werden angegeben. Übersetzungen erscheinen im Originalwortlaut.

c)

Zu Anspielungen Lavaters werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. Anspielungen auf Zitate werden mit vgl. angemerkt.

d)

Bei Hinweisen auf die gedruckten Werke Lavaters werden die Titel nach der Lavater-Bibliographie (JCLW, Bibliographie, Nr. XY) angegeben.

e)

Englische, französische, griechische und lateinische Zitate werden in einer Anmerkung übersetzt und - falls nötig - richtig gestellt (bei Lavater-Übersetzungen werden diese verwendet).

f)

Bibelstellen werden angemerkt, sofern sie aus dem Text zu identifizieren sind. Ist eine Stelle nur angedeutet (verstecktes Zitat), so wird das im Sachapparat mit vgl. festgehalten. Bibelzitate werden restriktiv verifiziert, das heißt, es muß ein deutlicher Sachbezug vorliegen. Gibt Lavater selbst eine Stelle klar an, so wird diese nicht nochmals aufgeführt.

g)

Bibelstellen werden in der Regel nach den von Lavater benutzten deutschen Bibeln verifiziert: nach Biblia sacra (Zürich 1756), Biblia (Zürich 1756) und Die Bibel (Zürich 1772).

h)

Die Abkürzung der biblischen Bücher erfolgt gemäß einem eigens dafür erstellten Verzeichnis (siehe Anhang) nach folgender Zitation: Abkürzung des biblischen Buches, Kapitelangabe, Versangabe.

i)

Bsp.:

Gen 2,18.

Bsp.:

Vgl. Lk 7,14; Apg 9,40; 20,9-12.

Zitate aus ungedruckten Quellen (Briefe, Tagebücher, Abhandlungen etc.) werden diplomatisch getreu wiedergegeben. Lediglich die Groß- und Kleinschrei-

Die historisch-kritische

Edition der Werke Johann Caspar

Lavaters

157

bung wird der heutigen Regelung angepaßt. Die von den Verfassern hervorgehobenen Stellen werden kursiv gesetzt. Gebräuchliche Kürzel werden ausgeschrieben, individuell abgekürzte Formen jedoch belassen. Verdoppelungszeichen werden durch Doppelschreibung wiedergegeben, eindeutige Ligaturen aufgelöst. Alle von den Herausgeberinnen und Herausgebern gemachten Zusätze stehen in eckigen [ ] Klammern. j)

Briefe werden nach folgendem Muster zitiert: Bsp.:

Heinrich Näfan Lavater, 8. September 1768, FA Lav Ms 521, Brief Nr. 194.

k)

Wird im Sachapparat auf Personen Bezug genommen, so bezieht sich die Erläuterung direkt auf die Textstelle.

1)

Bei Erläuterungen zu Personen gilt der Grundsatz: Je bekannter, desto knapper.

m)

Konnte nichts über eine Person eruiert werden, so steht der Vermerk: Nicht eruierbar.

n)

Die Namen der Autoren und Autorinnen werden in den Anmerkungen nur dann aufgeführt und kommentiert, wenn sie im Zusammenhang mit einem zitierten Werk oder aber verändert vorkommen. Sie erscheinen wie die Personen im Apparat ohne Angabe der Lebensdaten. Diese finden sich im Personenregister.

o)

Grundlegende Begriffe (ζ. B. Millennium, Wunder, Freiheit) werden in der Einführung abgehandelt; im Sachapparat genügt ein Hinweis auf die Einfuhrung.

p)

Auf Wörter, deren Bedeutung sich grundlegend gewandelt hat und/oder die heute schwer verständlich sind, wird nach Möglichkeit eingegangen. Helvetismen werden angemerkt und erklärt. Bei Worterklärungen wird das zu erklärende Wort im Anmerkungsapparat recte wiedergegeben. Die Substantive werden dabei in den Nominativ Singular gesetzt und erklärt; alle andern Wörter erscheinen in der im Text vorgegebenen Form. Die Erklärungen erfolgen ohne Angabe der Hilfsmittel; letztere finden im Verzeichnis der Nachschlagewerke Erwähnung.

q)

Bei bibliographischen Angaben wird lediglich der Titel diplomatisch, das Übrige standardisiert nach Schwertner (TRE, Abkürzungsverzeichnis. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage) wiedergegeben.

r)

Kurztitel werden nach der ersten Erwähnung gesetzt. Als Kurztitel wird das sinntragende Wort gewählt. Der vollständige Titel des Werks erscheint im Literaturverzeichnis; Kurztitel sind kursiv gesetzt. Erstnennung: Charles Bonnet: Contemplation de la Nature, Amsterdam 1764. Kurztitel : Charles Bonnet, Contemplation. Bonnet, Contemplation.

158

s)

Ursula

Caflisch-Schnetzler

Kurztitel von Werken stehen im Text des kursiv gedruckten Sachapparates und in der Einleitung und Einführung recte. Bsp.:

Die Contemplation von Charles Bonnet weist...

t)

Die Namen der Verlagsorte sind nach der heutigen Schreibweise wiedergegeben.

u)

Majuskeln und typographische Besonderheiten bei Literaturangaben werden nicht berücksichtigt, sofern es sich nicht um Personen- bzw. Ortsnamen handelt.

v)

Bei Zeitschriften wird außer dem Jahrgang auch das Erscheinungsjahr genannt; dagegen bleibt der Verlagsort unberücksichtigt.

6.

Verzeichnisse und Register

a)

Abkürzungsverzeichnisse

b)

Abbildungsverzeichnis

c)

Bibliographie

d)

Register der erwähnten Werke Johann Caspar Lavaters

e)

Register der erwähnten Autographen

f)

Register der erwähnten Korrespondenzen

g)

Register der nachgewiesenen Bibelstellen

h)

Personenregister (und eventuell Ortsregister)

i)

Worterklärungen

j)

Ausführliches Inhaltsverzeichnis

Die historisch-kritische

Edition der Werke Johann Caspar

Lavaters

159

Umsetzung der Konzeption in die Edition Editions-Beispiele

Beispiel 1:

JCLW, Band II: Aussichten in die Ewigkeit, Zürich 1768-1773/1778

Vorbericht.31 Die nachstehenden Briefe enthalten einige Zurüstungen und Materialien zu einem großen, und beynahe ungeheuern Gebäude, zu dessen glüklicher Vollendung (wenn je eine Vollendung möglich ist) ein Menschenalter kaum, und eines einzigen Menschen Fähigkeit gewiß nicht hinreichend ist; gesezt auch, daß er dieß zu seinem einzigen Geschäfte machen würde. Sie sind ein Theil des Stoffes zu einem Gedichte von dem zukünftigen Leben, und der Kern verschiedener Briefe und Unterredungen, die ich mit Herrn Zimmer-|4|mann hierüber zu wechseln das Glük hatte.32 Dieser würdige und allenthalben tiefsehende Freund, dessen bloßer Namen mir vielleicht schon ein gutes Vorurtheil33 verschaffen kann, ermunterte mich, nebst vielen meiner Freunde in und ausser meinem Vaterlande,34 mehr als einmal,35 einige von den bisher gesammel-

31

Vorbericht.] B V o r b e r i c h t zur ersten Auflage. Dem V o r b e r i c h t z u r e r s t e n A u f l a g e vorangestellt ist die V o r r e d e z u r z w o t e n A u f l a g e : So vieler Verbesserungen auch die zwote Auflage dieser Briefe fähig und bedürftig wäre, so habe ich mich doch nicht entschliessen können, dieselben wirklich einzurücken. Billig würden sich die Besitzer der ersten Ausgabe zu beklagen haben. Lieber will ich alle nöthigen Zusätze und Verbesserungen künftig, wenn das Werk mit Hülfe GOttes vollendet seyn, und GOtt Leben, Kräfte und Müsse verleihen wird, in einem besondern Bändgen zum Gebrauche beyder Auflagen herausgeben; und in der gegenwärtigen Ausgabe unten blos anzeigen, wo (nach meiner itzigen Einsicht) Verbesserungen nöthig sind. Ich will mir damit freylich die Hände nicht gebunden haben, nebst der Verbesserung der Druck- und Schreibfehler, hie und da ein Wörtchen, einen Ausdruck, oder allenfalls auch eine Zeile zu verändern oder einzurücken. Durchaus aber soll keine wesentliche Veränderung zum Nachtheil der ersten Auflage darinn vorkommen. Einige wenige Weglassungen können den Besitzern derselben nicht nachtheilig, und den Käufern der zwoten völlig gleichgültig seyn. Ich habe nun weiter nichts zu sagen, als alle meine Leser zu bitten, diese Briefe mit der strengsten Unparteylichkeit und Wahrheit-Liebe zu lesen. Ich kann mir das Zeugniß geben, daß ich lieber lerne, als lehre . Laßt uns einander redlich und brüderlich auf dem Wege zur Wahrheit, Tugend und Glückseligkeit die Hand bieten, und mit der tiefsten Empfindung der Schwäche unsers Verstands GOtt bitten, daß er uns alle durch sein Wort und seinen Geist in alle Wahrheit leite, auf daß wir die Dinge, die uns von GOtt geschenkt sind, wissen mögen. Zürich, den 30. Jenner 1770. Joh. Caspar Lavater.

32

33 34

35

Vgl. Johann Caspar Lavater an Johann Georg Zimmermann, FA Lav Ms 589b und c / Johann Georg Zimmermann an Johann Caspar Lavater, FA Lav Ms 533. Die mit FA Lav Ms bezeichneten Autographen liegen im Familienarchiv Lavater der Zentralbibliothek Zürich (ZBZ). Vorurtheil: vorausgehendes, vorauseilendes Urteil. Lavater an Johann Georg Zimmermann, 19. September 1767, FA Lav Ms 589c (Mappe Mai bis Dezember 1767), Brief Nr. 16. - Martin Crugot an Lavater, 23. August 1766 und 15. Februar 1767, FA Lav Ms 506, Briefe Nr. 17 und 20. Vgl. Horst Weigelt: Aspekte zu Leben und Werk des Aufklärungstheologen Martin Crugot im Spiegel seiner Korrespondenz mit Johann Kaspar Lavater, in: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 73 (1994), S. 225-311. Johann Georg Zimmermann an Lavater, 5. September 1767, 21. Oktober 1767, Oktober 1767, ohne Datum, 9. Juni 1768, FA Lav Ms 533, Briefe Nr. 140, 142, 143, 145, 167.

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Ursula

Caflisch-Schnetzler

ten Hauptideen dieses Gedichtes dem denkenden Theile des lesenden Publicums vorzulegen, und gleich der Daube Noahs in die Welt auszuschiken, 36 um zusehen, ob bey einer so großen Sündflut von Schriften, 37 etwa noch eine trokene Stelle für ein Werk von diesem Tone übrig geblieben sey. Mein Freund wird es mir verzeihen, wenn ich dieser würdigen Classe von Menschen und Lesern diese unvollkommene abgebrochene Ideen in eben der Gestalt vor Augen lege, in welcher die meisten entworfen, und zu meiner nicht geringen Er|5|munterung, bereits seines Beyfalls 38 gewürdigt worden sind. Ich bitte alle meine Leser, diese Bogen schlechterdings nicht anders, als wie geschriebene originale Briefe an einen Freund anzusehen, 39 dem man auch seine kühnsten und halbreifen Gedanken ohne Bedenklichkeit und Zurükhaltung mitzutheilen gewohnt ist. Ich darf sie um so viel eher bitten, immer genau auf diesem Standpunkt zu bleiben, weil ich wirklich sehr vieles davon auf dieselbe Weise an meinen Freund geschrieben, 40 und auch in denen neuhinzukommenden Stellen, den mir gegen ihn geläufigen natürlichen Ton durchaus, ohne allen Zwang und Künsteley beybehalten habe; und weil ich keinen einzigen dieser Briefe, als ein vollendetes Werk, sondern eigentlich nur in der Absicht herausgebe, um neue Gedanken, nüzliche Urtheile und Zurechtweisungen zum |6| Vortheil des erst in meinem Kopfe schwebenden und auf fliegenden Papieren zerstreuten Gedichtes zu veranlasen und einzuhohlen, damit es vielleicht mit der Zeit zu einer seinem großen Zweke gemäßen Vollkommenheit reife, die es auf meinem Pulte, und in dem kleinen Zirkel meiner kritischen Freunde niemals würde erreichen können. Wie glüklich würde ich mich schäzen, und wie unendlich viel müßte dieß Gedicht, die Welt und ich selbst dabey gewinnen, wenn sich die ernsthaftem Genies, denen etwa diese Briefe in die Hände kommen mögten, gefallen Hessen, mir ihre Urtheile, Beyträge, Belehrungen, Zweifel, und vornemlich ihre eigenen Aussichten in die Ewigkeit, auf irgend eine ihnen unbeschwerliche Weise mitzutheilen, woferne sie mich ihrer Aufmunterungen nicht unwürdig, und ihres Unterrichtes nicht ganz unfähig fänden. Welch eine Menge neuer |7| Aussichten würden sie mir öfnen, und auf wie mannichfaltige Weise diejenigen erheitern und verschönern können, die ich bereits vor Augen habe. Vernünftiger Tadel, Einwürfe von prüfenden Köpfen, denen das Gepräge der Wahrheitsliebe aufgedrükt ist, werden mir viel theurer und viel ermunternder für mich seyn, als alle Lobsprüche.

36 37

38

39

40

Vgl. Gen 8,8-12. Die Liste der Unsterblichkeitsliteratur ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts recht lang. Vgl. dazu: Walter Rehm: Der Todesgedanke in der deutschen Dichtung v o m Mittelalter bis zur Romantik, Halle 1928, S. 251. Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung, Stuttgart 1974, S. 193-195. Johann Georg Zimmermann an Lavater, 18. Juni, 25. Juni, 29. Juni 1768, FA Lav Ms 533, Briefe Nr. 170, 171, 172. Vgl. dazu: Ursula Caflisch-Schnetzler: Lavaters "Aussichten in die Ewigkeit" in Briefen an Johann Georg Zimmermann, in: Alte Löcher - neue Blicke. Zürich im 18. Jahrhundert: Aussen - und Innenperspektiven. Hrsg. von Helmut Holzhey und Simone Zurbuchen, Zürich 1998, S. 203-216. Vom 24. Juni 1768 bis zum 3. Januar 1769, also während der Niederschrift des ersten und des zweiten Bandes der Aussichten in die Ewigkeit, sind keine Briefe Lavaters an Johann Georg Zimmermann nachweisbar.

Die historisch-kritische

Edition der Werke Johann Caspar

Lavaters

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Ich vermisse freylich izo in der deutschen Welt nur gar zu sehr denjenigen ernsthaften kritischen Ton, den man von der Unparteylichkeit und dem ächten philosophischen Geist erwartet, als daß ich nicht manch schiefes, flüchtiges, ungedachtes 41 , cavalierisches 42 , und nach der Schule riechendes Urtheil, und manches kindische Mißverständniß zu besorgen Ursach hätte. 43 Denn es scheint beynahe der unterscheidende 44 Character der deutschen Kunstrichter zu seyn, alles nur auf der Wage des |8| Beyspieles, und nicht auf der Wage des Zwekes abzuwägen; 45 und daher von neuen deutschen Originalwerken, anfangs, ehe sie von der Stimme ihrer und anderer Nationen, zu ihrer wolverdienten Beschämung überschrien werden, nur ein furchtsames, zweydeutiges, hinkendes, oder gar verwerfendes Urtheil zu fällen. Die schülerhafte, auch selbst Männern von Einsicht so liebe Gewohnheit, alles nur zu vergleichen, zu allem nur fremde Originale aufzusuchen, und diese sodann zu allgemeinen Grundsätzen und Prüfsteinen zu erheben, scheint so tief eingewurzelt, und die deutsche Kritik dergestalt gemodelt zu haben, daß sich jeder, der eine neue eigene Bahn betreten, der alle zu seiner Absicht gehörigen unsterblichen Werke des Geistes zwar mit Fleiß studieren, aus allen lernen, aber kein einziges sich zum unbedingten Urbild machen will, jeder, |9| dem die Fesseln aller Schullehrgebäude, in so fern sie als Authorität gelten sollen, schlechterdings unerträglich sind, ganz unfehlbar auf einen Sturm von demüthigenden Lobsprüchen, seichten Declamationen, witzigen Einfällen, lächerlichen Verdrehungen, und krummen Consequenzen gefaßt machen muß. Diese sclavische Beurtheilungsart, ein eben so offenbarer als unverzeihlicher Nationalfehler der Deutschen, thut gerade die entgegengesezte Wirkung von dem, was man durch öffentliche Beurtheilungen der Werke des Geistes und des Geschmakes zu erzielen vorgiebt, indem dadurch manches fruchtbare Genie, so bald es sich entwikelt, zusammengedrükt, und so bald es auffliegen will, zu Boden geschlagen wird; indem allemal ein ganzes Heer von Lesern, die auf alles was in einem beliebten Buche gedrukt ist, so leicht schwören, gleich als von einem |10| Strome fortgerissen, und von der großen Kunst zu lesen, die man sie doch eigentlich lehren will, nicht nur abgeleitet, sondern mit Macht weggeschwemmt, und der Grundsatz ganz vergessen wird, daß gute Schriftsteller das Publicum bilden sollten, und nicht das Publicum sie; daß sie dasselbe sollen lesen lehren, nicht aber das Publicum, sie schreiben. Allein dieser aus vollem Herzen strömenden Anmerkung, die ich mit vielen Beweisen rechtfertigen könnte, ungeachtet, kann ich dennoch vollkommen ruhig seyn, wenn ich meine Augen auf die, auch nicht unbeträchtliche Zahl derjenigen richte, für die ich izt eigentlich schreibe, und deren Urtheil allein mir wichtig ist. Und hier erblike ich auf einmal eine verehrungswürdige Schaar großer Männer, die hin und wieder 46 in der Welt zerstreut sind, um Licht und Wahrheit, Tugend |11| und ernsthaftes Wesen, 41 42 43

44 45 46

ungedachtes: nicht durchdachtes. cavalierisches: oberflächliches. Lavater an Johann Georg Zimmermann, 24. Januar, 7. Juni, 10. Juni 1768, FA Lav Ms 589c, Briefe Nr. 3, 9, 10. Johann Georg Zimmermann an Lavater, 9. Juni, 18. Juni 1768, FA Lav Ms 533, Briefe Nr. 167, 170. unterscheidende: besondere. Ich vermisse ... des Zwekes abzuwägen;] Bd. 4 III. Zusätze und Anmerkungen, S. 8 [21—22], hin und wieder: da und dort.

162

Ursula Caflisch-Schnetzler

W e i s h e i t u n d G l ü k s e l i g k e i t a u s z u b r e i t e n , u n d d i e g l e i c h s a m d i e Depositairs

des ge-

s u n d e n V e r s t a n d e s , d e s g u t e n G e s c h m a k e s , der w a h r e n W e l t w e i s h e i t , u n d der a p o s t o l i s c h e n G o t t e s g e l e h r s a m k e i t z u s e y n s c h e i n e n ; — 47 / 48 ich m e i n e d i e u n s t e r b l i c h e n tinger49, zer56,

Bodmer50, Wegelin51,

Cramer6''!65,

Geßners\ Lambert5*,

Resewiz66,

Klopstok52, u n d Kant59,

Crügot61

47

48

49 50 51 52 53 54 55 56 51 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71

72 13

d i e Spalding60,

u n d Basedov^58,

k a n n t e n V e r f a s s e r der Lebensgeschichte und Vergnügungen72,

u n d Geliert,53

der Beurtheilung

71

Jesu ,

d i e Haller54, Ernesti61,

d i e Herder69,

Bonnet,55

Sak62,

u n d Moses10,

BreiSul-

Jerusalem63, die unbe-

der Betrachtungen

über

Geschäfte

Phädon,73

in der

Klozischen

von Mendelsohns

scheinen; —] Anm. Β Ich lasse die grossen Namen, die in der ersten Ausgabe hier standen, weg, weil ich allen Anlas zur Eifersucht eben so sehr als allen Schein der Schmeicheley oder Parteylichkeit weit entfernen mögte. Es handelt sich bei den Genannten um Personen, die mit Lavater in persönlichem Kontakt standen oder die er besonders verehrte. Johann Jacob Breitinger. Johann Jacob Bodmer. Salomon Gessner. Friedrich Gottlieb Klopstock. Christian Fürchtegott Geliert. Albrecht von Haller. Charles Bonnet. Johann Georg Sulzer. Johann Jacob Wegelin. Johann Heinrich Lambert. Immanuel Kant. Johann Joachim Spalding. Johann August Ernesti. August Friedrich Wilhelm Sack. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem. Cramer] DuV: Seite 11. nach Cramer leset: Michaelis, Kästner, Töllner, Teller. Johann Andreas Cramer. Johann Friedrich Gabriel Resewitz. Martin Crugot. Johann Bernhard Basedow. Johann Gottfried Herder. Moses Mendelssohn. [Johann Jacob Hess]: Geschichte der drei letzten Lebensjahre Jesu. 3 Bde., Zürich 1768-73. - Lavater hatte 1763 beabsichtigt, eine "Lebensgeschichte Jesu" ZU schreiben. Das Projekt kam jedoch nicht zu Stande, vgl. Lavater an Heinrich Hess, 1. November 1763, FA Lav Ms 565, Brief Nr. 159: "Um mich nicht in zu viel Arbeiten zu verflechten, habe ich die Lebensgesch. Jesu, von der Du ja niemand etwas sagen wirst, bis zu dem Anfang des folgenden Jahres verschoben". Vgl. Horst Weigelt (Hg.): Johann Kaspar Lavater. Reisetagebücher (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. VIII, Band 3 und 4), Göttingen 1997, Teil I, S. 8. Der Theologe Johann Jacob Hess war als Berater in eschatologischen Fragen für Lavater äußerst wichtig. Am 26. März 1769 schrieb Lavater bezüglich der Kritik, die die Aussichten erfahren haben, Johann Georg Zimmermann, Lav Ms 589c, Brief Nr. 6: "Herr Heß, der Verf. des Lebens Jesu ist positiv meiner Meynung in der Theorie — aber nicht practisch. Er hält sehr hinter dem Wind, und will immer, es sey noch nicht Zeit, dergleichen Sachen zu sagen. — wann dann? — im ewigen Leben! —" [Anonym]: Betrachtungen Uber Geschaffte und Vergnügungen. 2. Auflage, Leipzig 1769. Moses Mendelssohn: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Gesprächen, Berlin und Stettin 1767. - Vgl. Moses Mendelssohn: Phaedon oder über die Unsterblichkeit der Seele, in: Gesammelte Schriften, Bd. 111.1: Schriften zur Philosophie und Aesthetik, bearbeitet von Fritz Bamberger und Leo Strauss, Stuttgart 1972, S. 5-128.

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Bibliothek74; und noch viele eben so große, wenn gleich nicht so berühmte Köpfe, die inner den Gränzen ihres oder meines Vaterlandes denken. —75 Welch entzükende Aussicht für |12| mich, wenn Männer, wie diese sind, mit76 ihre Beyträge und Zurechtweisungen nicht versagen; wenn alle diese, bekannte und unbekannte, diese Briefe77 als solche ansehen würden, die unmittelbar an sie geschrieben, ihr freymüthiges Urtheil mit dem Ton einer unverdächtigen Aufrichtikeit verlangten. - Sollte ich nicht hoffen dürfen, daß sie alle den großen Zwek eines Werkes einsehen, und mit der innigsten Theilnehmung begünstigen werden, welches sich mit dem Erhabensten unter allem Erhabenen beschäftigt? Und sollte ich mir für die süssen Augenblicke, und die stillen Erhebungen der Seele, die ich durch diese Bogen zu veranlasen hoffe, nicht auch einige belehrende Ermunterungen von diesen großmüthigen Menschenfreunden versprechen dürfen? Ich bitte sie wenigstens, wenn sie mit Lesung derselben fertig sind, 113] diesen Vorbericht noch einmal zu lesen, und zu bedenken, daß es mir gewiß bey meiner Bitte von ganzem Herzen Ernst ist. Geschrieben in Zürich den 10,en des Augusts 1768. Joh. Caspar Lavater, D. g. W.78

Beispiel 2:

JCLW, Band IV: Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst, Leipzig 1771

Vorbericht des Herausgebers. 79 Da itzt empfindsame Schriften,80 und Beyträge zur Geschichte des menschlichen Herzens81 so begierig gelesen werden; so dürfte vielleicht dieses geheime Tagebuch

74

75 76 77 78 19 80

Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften herausgegeben vom Herrn Geheimdenrath Klotz. Band I, im 1. Stück Nr. 13, Halle 1767, S. 124—161. - Vgl. dazu Lavater an Johann Georg Zimmermann, 27. November 1767 (Mappe Mai bis Dezember 1767), Brief Nr. 25: „Klozzens Bibliothek der schönen Wissenschaften hat mir, den Stylus ausgenommen, beßer als alle Journale gefallen, die ich kenne. Moses Phädon ist meisterlich darinn recensirt..." Zur Kritik, die Phädon hinsichtlich der Beweise, der Methode und der Schreibart erfuhr, vgl. Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften. Bd. 3.1, S. XXXII. - ich meine die unsterblichen ... oder meines Vaterlandes denken.—] fehlt B. mit] Β mir. diese Briefe] Β die gegenwärtigen Briefe. D.g.W.: Diener göttlichen Wortes, Eindeutschung von Verbi divini minister (VDM). Georg Joachim Zollikofer. Basierend auf den pietistischen Schriften Philipp Jacob Speners und August Hermann Franckes und den aufgeklärten Einflüssen v. a. aus England (Hutcheson, Hume, Shaftesbury) setzte seit der Mitte des 18. Jahrhundert, besonders aber in den 70iger Jahren eine wahre Flut an empfindsamen Schriften Autobiographien, Tagebücher, Brief- und andere Romane - ein. Vgl. dazu: Hermann Böschenstein: Deutsche Gefühlskultur. Studien zu ihrer dichterischen Gestaltung, Bern 1954: N. Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988.

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Ursula

Caflisch-Schnetzler

auch einige Hoffnung haben, hier und dort bey einem feinen und empfindungsreichen Herzen ein kleines Glück zu machen. So viel ist gewiß, wie es auch von den scharfsichtigem Beobachtern schon oft genug gesagt worden seyn mag, daß eine getreue und umständliche moralische Lebensbeschreibung des gemeinsten und unromanhaftesten Menschen unendlich wichtiger, und zur Verbesserung des Herzens ungleich tauglicher ist, als der sonderbarste und interessanteste Roman. Es giebt immer tausend Menschen, denen die erstere gegen Einen, dem der letztere einen wahren, einen dauerhaften mora-|6|lischen82 Nutzen gewähren kann! Wenige sind berufen, Helden auf dem öffentlichen Schauplatze der Welt, aber alle Helden in der häuslichen Tugend83 zu werden. Es kann dem Leser vollkommen gleichgültig seyn, durch welchen Zufall mir diese Schrift in die Hände gekommen.84 — Genug, daß ich ihn versichern darf, daß es das wahre und ächte Tagebuch eines Mannes ist, dessen erste und letzte Angelegenheit es war, sein Herz genau zu kennen; daß es ein Mann von einer heitern, offenen und

81

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83

84

Lavater schreibt am 4. Juni 1769 an Johann Georg Zimmermann (FA Lav Ms 589c, Nr. [8b]: „Eine Stelle aus den Gefühlen, die Wielanden betrift, hat mich gefreüt." [Christoph Martin Wieland]: Beyträge zur geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. 2 Theile, Leipzig 1770. Vgl. Christoph Martin Wieland: Werke. Fünf Bände, hg. von Fritz Martini und Hans Werner Seiffert, München 1964—1968, Band 3, bearbeitet von Fritz Martini und Reinhard Döhl, S. 197-266 (nur Vorbericht, Erstes und Fünftes Buch abgedruckt!). Wieland wendet sich im im vierten Buch des 2. Teils seiner Beyräge gegen Rousseaus Anspruch, dass die Selbstkenntnis (Plutarchs Spruch über der delphischen Ff orte: Γνώθι σεαυτόν: Lerne dich selbst kennen,) „wichtiger und schwerer sey, als alles was die großen und dicken Bücher der Moralisten enthalten" (Beyträge, Teil 2, S. 5). Und Wieland fährt fort: „Dieser Ausspruch unsers Freundes Jean Jaques ist also, so viel er beym ersten Anblick zu sagen scheint, um nichts weiser, als wenn jemand sagte, der erste Vers des ersten Buchs Mose enthalte unendlichmal mehr Wahrheit als die sämmtlichen Werke aller Naturforscher; weil am Ende doch alles, was uns diese Biedermänner von Himmel und Erde lehren, nur ein sehr kleiner Theil von dem ist, was Himmel und Erde in sich fassen und (wie Shakespeare Hamlet sagt) noch gar viel in beyden ist, wovon sich unsre Philosophen (selbst den Neuesten, dem so viel davon träumt, nicht ausgenommen) wenig träumen lassen." (Beyträge, Teil 2, S. 7) Christian Friedrich Daniel Schubart gab 1775 (in der ZBZ nicht nachweisbar) die Erzählung Zur Geschichte des menschlichen Herzens, Stuttgart 1780. Mezler (Kayser 1, S. 190) heraus. Lavater selbst schrieb bereits 1763 eine Geschichte meines Herzens, worin er versuchte, „die Beobachtungen vom meinem Herzen niederzuschreiben". Vgl. FA Lav Ms 14.1: Tagebuchblätter 1763-1785. 1770 veröffentlichte er dann in Zürich seine Schrift Nachdenken über mich selbst, die mit folgendem Satz beginnt: „Einmal muß ich es doch wissen, wie mein Herz beschaffen ist;" Vgl. Johann Caspar Lavater. Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Band III: Werke 1769-1771, hg. von Martin Ernst Hirzel, Zürich 2002, S. 315-352 (JCLW, Band III). Mit Shaftesburys Lehre des moral sense wird der Mensch befähigt, sich selbst zu reflektieren. Die Aufklärung entdeckt das Gefühl als ein neues Gemütsvermögen, das neben der Vernunft beim Menschen zur Grundlage des moralischen Handelns wird. Zum Begriff des Moralischen Charkters, vgl. Bettina Volz-Tobler: Rebellion im Namen der Tugend. „Der Erinnerer" - Eine Moralische Wochenschrift, Zürich 1765-1767, Zürich 1997, S. 19—257. Der Begriff der Tugend wandelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts. So umfasste der Tugendbegriff der Aufklärung nicht mehr ausschließlich Tüchtigkeit und Tauglichkeit (Weisheit, Klugheit), sondern konzentrierte sich im moralischen Gefühl neu auch auf die ethischen Tugenden. Vgl. Werner Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung, München 1995, S. 415^fl7. Vgl. oben Anm. 1.2.

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nichts weniger als traurigen Gemüthsart, kurz ein Mann war85 — Doch, ich habe mir mit gutem Grunde vorgenommen, kein Wort zu seinem Lobe zu sagen — um ihn auch von dieser Seite nicht kenntlicher zu machen, 86 als es der Zweck dieser Schrift erfordert. Freylich mag dieser liebe Mann an alles in der Welt eher gedacht haben, als daß seine Empfindungen und Beobachtungen einmal unter die Augen des Publikums tre|7|ten sollten; die Nachläßigkeit und Treuherzigkeit, mit der sie geschrieben sind, wird einen jeden leicht davon überzeugen können. Erschrecken würde er, wenn ihm je noch ein gedrucktes Exemplar davon zu Gesichte kommen könnte; aber gewiß würde er auch großmüthig genug seyn, dem Herausgeber eine Freyheit zu verzeihen, die vermuthlich eine sehr wirksame Veranlassung zu den schönsten Empfindungen seyn wird. — Es versteht sich, daß zwar nichts87 in dieses Tagebuch eingeschoben, aber manches aus demselben weggelassen worden, was die Person des Verfassers vielleicht hätte kentlich machen oder Mißdeutungen ausgesetzt seyn können. Man glaubt, dem Publiko durch die Beybehaltung auch derjenigen Stellen, welche eigentlich nicht zu den Beobachtungen seiner Selbst gehören, und entweder Charactere von andern, oder Urtheile von Büchern, oder Stellen, die den Ver-|8|fasser vorzüglich rührten u.s.w. enthalten, nicht beschwerlich zu fallen. Die Vignetten sind nach den Handrissen, die sich im Originale des Tagebuchs, von dem Verfasser selbst gezeichnet, befanden, mit Weglassung weniger gar zu characteristischen Züge verfertiget worden.88/89 Man hat vors erste nur Einen Monat als einen Versuch bekannt zu machen gut gefunden. Sollte man merken, daß diese Schrift die Absichten des Herausgebers erfüllte, so sind noch einige Monate in seinen Händen, die dem christlichen Publiko zu Dienste stehen. 90 85

86

87 88

89 90

Georg Joachim Zollikofer betont die Authentizität des Mannes deshalb so explizit, da damit diese neue introspektive Form geistiger Vermittlung aus der den Frauen vorbehaltenen herzensfrömmigen Pietät losgelöst und als Literatur dem Roman entgegengesetzt werden kann. Johann Caspar Lavater hatte 1768 und 1769 seine ersten beiden Bände der Aussichten in die Ewigkeit, in Briefen an Herrn Joh. Georg Zimmermann in Zürich bey Orell, Geßner, und Comp, herausgegeben. Diese auf vier Bände angelegte utopische Schrift vom Leben nach dem Tod löste bei den Gelehrten eine äußerst heftige Diskussion zur Jenseitsthematik aus und veranlasste den Autor auch zu klaren Stellungnahmen betreffend Glaubensfragen. Gleichzeitig machten die Aussichten in die Ewigkeit Johann Caspar Lavater im deutschsprachigen Europa als Autor bekannt. Vgl. Johann Caspar Lavater. Ausgewählte W e r k e in historisch-kritischer Ausgabe. Band II: Aussichten in die Ewigkeit 1768-1773/78, hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001, S. XVII-XUV (JCLW, Band II). nichts] Einschub in Β Wichtiges Die Vignetten sind nach den Handrissen, die sich im Originale des Tagebuchs, von d e m Verfasser selbst gezeichnet, befanden, mit Weglassung weniger gar zu characteristischen Z ü g e verfertiget worden.] fehlt in Β Weder die originale Handschrift noch die darin enthaltenen Vignetten sind heute nachweisbar. Die Anlage des vorliegenden Tagebuchs zeigt deutlich, dass es sich nicht um einen Teil eines größeren Werkes handelt, sondern von Anfang an auf einen Monat, den ersten des Jahres, konzipiert wurde. Dennoch fragte Georg Joachim Zollikofer bereits am 17. Mai 1771 (FA Lav Ms 535, Nr. 73; vgl. Anm. 1.2), nach Ankündigung der Veröffentlichung des Geheimen Tagebuchs, bei Lavater nach, ob dieser nicht einen zweiten Monat anhängen würde: „ D a das Buch, so wie es ist, gewiß Nutzen schaffen m u ß , so bitte ich Sie sehr, noch einige ähnliche Aufsätze auf eben dieselbe Art, mit derselben Wahl und Billigkeit, zugebrauchen, u. das Publikum mit einem zweyten Monate von diesem Tagebuche zu besehen-

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Caflisch-Schnetzler

Uebrigens wünschen wir unsern Lesern diejenige Redlichkeit, die unsers Verfassers eigentümlichen Character ausmacht: ~ dann wird die Bekanntmachung dieser Schrift keiner weitern Rechtfertigung bedürfen. R.9] im October 1770. A. P. R92

Mit diesem kurzen Einblick in die historisch-kritische Edition der Werke Johann Caspar Lavater, vorgestellt an den frühen Werken, wurde versucht zu zeigen, welcher Wandel sich bei der Herausgabe der Schriften Lavaters vollzogen hat. War ursprünglich noch eine vom Herausgeber persönlich getroffene Textauswahl das Kriterium, so ist nun ein Gremium von Forschern und Forscherinnen verantwortlich, daß bei der Auswahl und der Edition der vollständigen Werke sowohl auf deren Bedeutung als auch auf deren Wirkung und Einordnung geachtet wird Die historisch-kritische Edition der Werke Johann Caspar Lavater übernimmt damit eine Aufgabe, und sie setzt sich gleichzeitig ein Ziel: Die Aufgabe der auf zehn Bände angelegten Edition besteht darin, das Werk Johann Caspar Lavaters der Forschung und einem interessierten Laienpublikum neu zugänglich zu machen. Die Werkauswahl erfolgte nach der Bedeutung der Werke und nach deren Rezeption. Die einzelnen Werke werden als Ganzes historisch eingeordnet und nach den Grundsätzen moderner Textkritik vollständig ediert. Sie erscheinen grundsätzlich von der Bandfolge her chronologisch. Zusätzlich zur Edition werden über die Ergänzungsbände noch nicht veröffentlichte Autographen, Werke Lavaters in komplizierten Formaten und Zusammenstellungen publiziert; die Studienbände zur Edition sind das Organ, das wichtige Forschungsbeiträge zu Johann Caspar Lavater aufnehmen kann. Die Zielsetzung der Edition besteht in der Aufarbeitung des nicht publizierten Nachlasses. Mit der Erschließung von Lavaters dichter Korrespondenz kann ein Teilbereich jenes Beziehungsnetzes der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gezeigt werden, innerhalb dessen die Gelehrtenwelt den Austausch von Gedanken zu zentralen geistigen und geistlichen Themen der Zeit pflegte. Johann Caspar Lavater war mit seinen Werken und seiner Korrespondenz ein wichtiger Knotenpunkt dieses Netzwerks, was mit der historisch-kritischen Edition seiner Werke neu gezeigt werden soll.

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ken." Aus diesem zweiten Monat wurden zwei Jahre später die 1773 publizierten Unveränderte[n] Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst. Obschon der Vorbericht des Herausgebers mit „R." signiert ist, steht dahinter nicht Philipp Erasmus Reich, der Verleger, sondern Georg Johachim Zotlikofer als Herausgeber. Die Erklärung von A. P. R. ist nicht eindeutig. Entweder ist damit a. pr. oder a.p. gemeint, das für anni praesentis (gegenwärtigen Jahres) oder anni prioris, anni praeteriti (vergangenen Jahres) steht. Möglich wäre aber auch A.P für amico posuit (dem Freund zugeeignet) oder sogar A.P.R. für anno partae redemtionis (im Jahre der Erringung der Erlösung, d. h. nach Christo).

Winfried Woesler

Germanistische Editionen im Spannungsfeld der deutschen Teilung Unter besonderer Berücksichtigung der Schiller-Nationalausgabe und der beiden Heine-Ausgaben

Staatliche Gemeinschaften in Europa legitimieren sich auch durch ihre Geschichte. Dazu gehört die Kulturtradition, und diese wird seit der Neuzeit auch durch die nationale Literatur bestimmt.1 Staaten hatten oder haben ein Interesse daran, sich als rechtmäßige Bewahrer des kulturellen Erbes und damit des literarisches Erbes zu präsentieren. Dies geschieht durch Dichter-Jubiläen, Feiern, Denkmäler, Gedenkstätten, Jahrbücher usw. und eben auch durch die Förderung von Editionen. Dabei ist ein Zusammenspiel zu beobachten, der Staat zeigt .offiziell' Interesse an Editionen, ist aber auch auf Editoren angewiesen, die solche Projekte langfristig unterstützen und realisieren. Umgekehrt können - je nachdem, wie demokratisch ein Staat strukturiert ist einzelne Wissenschaftler, aber auch literarische Namensgesellschaften, regionale und weltanschauliche Gruppen die Öffentlichkeit für Editionsprojekte gewinnen. Die Bereitstellung von Einrichtungen, Sachmitteln und men-power erfordert im Bereich der historisch-kritischen Editionen erhebliche finanzielle Mittel. Das war in der DDR im ganzen zentral gesteuert. Dort erhielten - im Gegensatz zum Westen nicht vorwiegend Privatpersonen diese Mittel, sondern Institutionen, besonders die beiden Akademien in Berlin, die Akademie in Halle und die Nationalen Forschungsund Gedenkstätten in Weimar. Ein Weg, dem sich wenigstens damals in der Bundesrepublik die germanistischen Editionen verschlossen, dem sich aber die philosophischen Editionen im Akademienprogramm anschlossen. Wahrscheinlich wird in Zukunft für langfristige germanistische Editionsvorhaben auch nur dieser Weg offen bleiben. Jede große Edition bindet Kapazitäten an sich, und vielleicht ist das auch ihre wesentliche kulturpolitische Funktion, der Kulturgemeinschaft immer wieder nicht nur gesicherte Texte, sondern auch Spezialisten zur Verfügung zu stellen, die sich mit den kanonisierten Autoren von Grund auf beschäftigen. Zugespitzt ausgedrückt: Nicht die Fertigstellung einer Edition ist das Ziel, sondern die Tatsache, daß sich eine Gruppe

Vortrag gehalten auf der „Internationalen Tagung der Arbeitsgemeinschaft philosophischer Editionen [...]. Editionen - Wandel und Wirkung", 21.-23.2.2005 in Bonn. Der Vortragsstil wurde beibehalten. Der Vortragende hat auch persönliche Erfahrung in diesen Rückblick mit einfließen lassen. Dieser Beitrag knüpft an und schreibt nach dreißig Jahren fort: Winfried Woesler: Die Praxis des germanistischen Kommentars in der DDR. In: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Probleme der Kommentierung. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft, Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1975. S. 145-181.

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älterer und jüngerer Wissenschaftler dauerhaft intensiv mit dem Werk eines kanonisierten Autors beschäftigt. Als ich eine Mitarbeiterin der Maxim Gorki-Briefausgabe einmal fragte, was man nach dem Abschluß der Ausgabe vorhabe, sagte sie, dann fangen wir wieder von vorne an. Dabei werden die allgemeine historische Situation, die geistige Grundeinstellung einer Epoche, auch ihre Fragestellungen dazu beitragen, daß mal dieser mal jener Autor aktueller und damit einer historisch-kritischen Ausgabe würdiger erscheint. Wenn nun der Staat selbst anstrebt, das geschichtliche Bewußtsein, die .memoria' und das Selbstverständnis seiner Gesellschaft zu wandeln - und das war in der DDR der Fall - , wird er auch Einfluß auf die Universitäten, die Akademien und - das war damals noch wichtig - auf den literarischen Kanon zu nehmen versuchen. Die Politik kann auf die geistige Schwerpunktsetzung durch den gezielten Einsatz von Finanzhilfen einwirken. Vernachlässigen wir hier den umfassenden Einfluß, den der Staat der DDR auf das Geistesleben, besonders an Schule und Universität nahm, wo man den ,neuen' sozialistischen Menschen erziehen wollte, konzentrieren wir uns statt dessen auf den Buchsektor, die Edition von historischen literarischen Texten. Einmal förderte der ostdeutsche Staat wiederentdeckte, d. h. fast vergessene sozialistische Autoren, deren Namen teilweise im Westen noch nicht einmal bekannt waren. Der Staat nahm dann aber auch Einfluß auf das, was die Bevölkerung aus dem bürgerlichen Kanon lesen sollte, und das konnte in der DDR-Planwirtschaft etwa durch das einfache Mittel der Papierkontingentierung geschehen. Das Flaggschiff der Kanonliteratur sind die historischkritischen Ausgaben, die Leitfunktion für Studien- und Leseausgaben haben sollten. Als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen, fanden sie einen literarischen Kanon vor, der vom Mittelalter bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reichte. Dieser deutsch-nationale Kanon war im Laufe des 19. Jahrhunderts ausgeprägt und neben den europäisch-humanistischen gestellt worden. Dieser Kanon blieb von den Nationalsozialisten im wesentlichen unangetastet. Ja, sie konnten sich durch die besondere Pflege des literarischen Erbes bei der bürgerlichen Schicht einschmeicheln und legitimieren. Ein typisches Schlagwort war damals: „Das Volk der Dichter und Denker". Das literarische Erbe galt es als einen Schatz zu pflegen und zugleich auch hier die Überlegenheit des deutschen Volkes herauszustellen. Unter dieser Perspektive stand die Kulturpflege, wurden Ausgaben geplant. Während man die Literatur der neueren Zeit unter ideologischen Gesichtspunkten kritisch richtete (s. die Bücherverbrennung), blieb der alte Kanon grundsätzlich unangetastet. Man begann aber andere Akzente zu setzen. Die .nationalen' Dichter galt es zu preisen. Insbesondere waren auch Editionen eine Form, die Dichter zu ehren und sich der eigenen Kultur zu vergewissern. Damals wurden die Grundsteine gelegt zu den großen Editionen von Klopstock, Moser, Hölderlin und zu einer Neuedition von Schiller. Insgesamt ist es erstaunlich, wieviel Editionen in den 12 Jahren des 1000jährigen Reiches auf den Weg gebracht wurden. Nach dem Krieg wurde in allen Besatzungszonen der alte Kanon weiter gepflegt. Es kamen aber auch neuere Autoren, die in der Zeit des Nationalsozialismus vernach-

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lässigt oder verboten waren, hinzu, ζ. B. Heinrich und Thomas Mann. Dabei ist hervorzuheben, daß am Anfang in gleicher Weise in Ost und West politisch-konservative und politisch-progressive Autoren gefördert wurden. Es wurde auch einfach ein Nachholbedarf erfüllt. Der alte nationale Kanon wurde jedoch dadurch relativiert, daß sich Deutschland jetzt wieder öffnete und auch anderssprachliche Literaturen besonders des 20. Jahrhunderts zur Kenntnis nahm, zunächst die französische, später im Westen auch die anglo-amerikanische. Im Verlauf des Kalten Krieges grenzten sich die beiden deutschen Staaten grundsätzlich so voneinander ab, daß an gemeinsame geisteswissenschaftliche Projekte nicht zu denken war. Vergleicht man die Situation in der Bundesrepublik mit der in der DDR, so fällt auf den ersten Blick die föderative Demokratie auf der einen Seite und die Parteiherrschaft auf der anderen auf. In der DDR galt es, das Leben und Denken der Menschen zu beeinflussen. Gerade die Kulturpolitik wurde zentral gesteuert. Geprägt war die Situation in der DDR auf dem Editionssektor durch die Konzentration auf zwei Zentren: auf der einen Seite die Akademie in Berlin, die ihre Direktiven direkt vom ZK der SED bekam Editionen waren politische Angelegenheiten - und deren Präsident den Rang eines Ministers hatte, und auf der anderen Seite die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (NFG), die dem Kulturminister unterstanden. Zwischen beiden Zentren entwickelte sich auf dem Editionssektor Rivalität. Wir können davon ausgehen, daß die großen Editionsprojekte der DDR mehrfach auf der Tagesordnung des Ministerrates und des Zentralkomitees standen; die HeineAusgabe war ζ. B. ein Projekt der Partei. Da das politische System von der Mehrheit der Bevölkerung nicht akzeptiert wurde, kam hinzu, daß gerade das geistige Leben in der DDR einem wirksamen Spitzelapparat unterworfen war. Nach sowjetischem Vorbild wurde die Zensur von einer Behörde, also nicht von einzelnen Zensoren ausgeübt. Sie hatte ihre Mitarbeiter in den Institutionen, den Projekten und Verlagen. Jedes Buch, jeder Band wurde mehrfach und von verschiedenen Personen kritisch gegengelesen. Bekanntlich erzeugt die äußere Zensur mit der Zeit auch eine innere. Die Editoren standen unter einem kolossalen Druck, der oft nur vordergründig ein Termindruck war. Der DDR ging es einmal um Gleichberechtigung mit der Bundesrepublik und dann um internationale Anerkennung. Der Ausgangspunkt im Bereich der Kultur war günstig, lagen doch für das internationale Bewußtsein die wichtigsten Stätten deutscher Kultur auf DDR-Territorium: Wittenberg (Luther), Leipzig (Bach) und Weimar (Wieland, Herder, Goethe, Schiller). Und auch fast alle großen historisch-kritischen Editionen hatten ihre Heimat auf dem Boden der DDR bzw. Ostberlins.2 Mehrere waren schon vor dem Nationalsozialismus von der Preußischen Akademie unter dem Aspekt Über den Stand und den Standort aller wichtigen neugermanistischen Editionen bis 1977 unterrichtet gut das „Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller. Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart." Bearbeitet von Waltraut Hagen (Leitung und Gesamtredaktion), Inge Jensen, Edith Nahler, Horst Nahler. Berlin/DDR 1979, München 1979.

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der nationalen Repräsentanz gegründet worden. Deren Nachfolge trat zumindest zunächst die DDR-Politik bewußt an. Einerseits wollte sich die DDR als Hüterin der Kultur der Vergangenheit erweisen und als ihr legitimer Erbe. 1974, zum 25. Jahrestag der SED, war in Weimar ζ. B. auf einem Transparent zu lesen, daß die Ideale der deutschen Klassik in der DDR zum ersten Mal auf deutschem Boden verwirklicht seien. In der DDR wurde das nationale kulturelle „Erbe", ja sogar das preußische, auch dann noch wie selbstverständlich gepflegt, als in der Bundesrepublik spätestens durch die 68er-Bewegung ein entscheidender Bruch sichtbar wurde und schließlich auch ein Verlust der alten historischen Dimensionen eintrat. In der Bundesrepublik gab es zudem keine Dichtergedenkstätte wie in Weimar, keine traditionsreiche Institution für Editionen wie die Akademie in Berlin. Die Bundesrepublik drohte von einem wesentlichen Teil ihrer nationalen kulturellen Wurzeln abgeschnitten zu werden. Auf dem Feld der Editionswissenschaft mußte man ζ. B. feststellen, daß von den Klassikern im engeren Sinne nur die Hölderlin-Ausgabe allein im Westen angesiedelt war. Um in der literarischen Kulturpflege mit Weimar konkurrieren zu können, wurden von der westdeutschen Politik erhebliche Mittel in den Ausbau von Marbach, als dem Geburtsort Schillers, gesteckt. Schwerpunkte des Goethe-Gedenkens waren bzw. wurden im Westen Frankfurt und Düsseldorf. Trotzdem rissen die Verbindungen bei Editionsvorhaben nicht völlig ab. Die Tatsache, daß die Handschriften eines Dichters häufig an Standorten in Ost- und Westdeutschland lagerten, zwang zu minimaler Kooperation. Auch die Spezialisten, ohne die eine große Edition nicht zu machen ist - ich nenne nur beispielsweise die zu Herder und Wieland - , saßen in beiden Staaten. Außerdem litt die DDR zunehmend unter chronischem Devisenmangel, was die Kooperation beim Druck und Vertrieb von Editionen, ζ. B. bei der Leibniz-Ausgabe, begünstigt hat. Zunächst einmal galt in der Bundesrepublik, daß der Literaturkanon des 19. Jahrhunderts das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft überdauerte. Dabei wurden die ,klassischen', als gesellschaftlich stabilisierend empfundenen Autoren zunächst nicht in Frage gestellt. Die Arbeit an der historisch-kritischen Eichendorff-Ausgabe, die während des Nationalsozialismus fast ganz geruht hatte, wurde wieder aufgenommen. Die am meisten aufgeführten Theaterstücke nach 1945 waren Lessings Nathan der Weise und Goethes Iphigenie. Man glaubte gewissermaßen die humanistische Tradition der deutschen Literatur unbelastet von dem, was seit 1933 geschehen war, wieder aufnehmen zu können. Es wurde weiter an Klopstock-, Moser- und Hölderlineditionen gearbeitet. Im Laufe der 60er und 70er Jahre beginnt sich dann die Zahl der historisch-kritischen Ausgaben in der Bundesrepublik erheblich zu erweitern. Es werden große Ausgaben zu Anton Ulrich, Brentano, Heine, Droste, Grabbe, Stifter, Möricke, später auch Hofmannsthal und Büchner grundgelegt. Dabei spielte wiederum die föderale Struktur der Bundesrepublik eine Rolle. Autoren, die neben der nationalen Rolle eine besondere regionale hatten, wurden auch von den betroffenen Bundesländern geför-

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dert. Dabei spielte schließlich auch das Engagement einzelner Wissenschaftler eine viel größere Rolle als in der zentral planenden DDR. Ausgaben wurden und werden im Westen von Regionalpolitikern, speziellen Freundeskreisen und literarischen Namensgesellschaften unterstützt, was insgesamt eine kulturelle Vielfalt garantierte, die demgegenüber in der DDR politisch nicht erwünscht war. Eine große Ausgabe, wie ζ. B. die von Rudolf Steiner, war in der Schweiz allein möglich aufgrund der großen Steinergemeinde; der Staat wurde nicht gebraucht. Im übrigen wurde auch von Kollegen sehr darauf geachtet, daß nicht irgendwo, ζ. B. in Marbach, Frankfurt oder Westberlin, ein neues Zentrum für Editionen entstand. Wichtig waren als initiierende Editoren einzelne Persönlichkeiten, die eine gewisse Durchsetzungskraft mitbringen mußten. War der Herausgeber nicht energisch genug wie der ursprünglich vorgesehene der Büchnerausgabe oder ein Gremium untereinander zerstritten, wie bei der geplanten historisch-kritischen Kleistausgabe, scheiterten die Editionsprojekte. Bei einer politisch gewollten Edition in der DDR hat ein einzelner Editor nicht diese Bedeutung gehabt. Da in der Bundesrepublik im Gegensatz zur DDR die meisten Editoren Hochschullehrer waren, initiierten sie eine Vielzahl von Staatsarbeiten und Dissertationen. Schon von daher war die Entscheidung für eine historisch-kritische Edition zugleich eine Entscheidung für einen Forschungsschwerpunkt, der auch junge Menschen anzog. Es gab sowohl in der DDR wie in der Bundesrepublik zunächst die gemeinsame Auffassung, daß editorische Projekte keine universitären Qualifikationsschriften darstellen konnten. In der Bundesrepublik konnte, auch durch Manfred Windfuhrs, Norbert Oellers' und mein Bemühen, diese ablehnende Haltung schließlich vielfach durchbrochen werden, was wiederum die Integration von Editionsprojekten in die Universitäten stärkte. Das blieb in der DDR bis zum Schluß unmöglich. Meist stützten sich die neugermanistischen Editionen in der Bundesrepublik im Gegensatz zur DDR in viel stärkerem Maße auf wissenschaftliche Mitarbeiter mit Zeitverträgen, d. h. oft auf Doktoranden. Wichtig für das Zustandekommen und die Förderung von Ausgaben war in der Bundesrepublik die Meinung der germanistischen Kollegen, wie sie etwa versammelt waren in der „Germanistischen Kommission" der DFG. Nicht zuletzt spielten und spielen die Verlage eine Rolle. Häufig wählten sie eine Ausgabe als Flaggschiff für ihren Verlag. Auch finanzielle Überlegungen hatten ihr Gewicht. Das Ergebnis dieser nicht-zentralen Planung war zunächst ein Flickenteppich von angefangenen historisch-kritischen Editionen, und in der DDR, in der Ausgaben zügiger voranschritten, spottete man leicht über die vielen vermutlich bleibenden Editionsruinen im Westen. Problematisch war, daß es ζ. B. eine historisch-kritische Ausgabe von der Literatursatire der Droste Perdu gab, aber nicht von Büchners Dantons Tod. Die schließlich nach jahrzehntelanger Diskussion im Westen am meisten favorisierte Lösung war und ist, der weitgehende Verzicht auf weitere Gesamtausgaben, dafür aber Förderung von historisch-kritischen Ausgaben einzelner Werke. So erschienen als Einzelbände ζ. B. 2004 Remarques Im Westen nichts Neues und Lessings Emilia Galotti. Aber das braucht Zeit. Eine weitere Lösung war, das ganze Fach und die interessierte Leserschaft wenigstens mit Studienausgaben zu versorgen, um die

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sich schon die Verlage Hanser, Winkler und im Laufe der Zeit auch Reclam verdient gemacht hatten. Es entstand die Idee der DKV-Ausgaben, von Fachgermanisten beraten, die wichtige deutsche Literatur in gleichmäßig qualitätsvoller Aufmachung anzubieten. Es ist dabei von den jeweiligen Spezialisten Enormes geleistet worden, aber schließlich führten auch wirtschaftliche Überlegungen zu einer drastischen Reduktion des Projekts. Hinzu kam, daß andere Verlage eine Monopolbildung für deutsche kanonisierte Literatur nicht dulden wollten und Paralleleditionen starteten, ein Vorgehen, das in der DDR unmöglich gewesen wäre. Wenn man die Editionen in der DDR betrachtet, muß man zunächst die Zeit berücksichtigen, in der sie konzipiert wurden. Die jeweilige kulturpolitische Phase schlug mit Zeitverzögerung auf die Editionen durch, zumindest auf die Studienausgaben und Volksausgaben. Besonders nach 1956, nach dem Ungarnaufstand und der Lukäcsdebatte, nahm in allen Bereichen der parteipolitische Druck zu. Schließlich wurde unter Hans Günther Thalheim, dem Leiter des „Instituts für deutsche Sprache und Literatur", das Projekt der großen Goethe-Ausgabe (s.u.) eingestellt; immerhin konnten einige in Arbeit befindliche Bände noch abgeschlossen werden. Einschneidend war die Akademie-Reform 1968-71/72, mit der Gründung eines ideologisch ausgerichteten „Zentralinstituts für Literaturgeschichte" unter der Leitung von Werner Mittenzwei, dem auch Anglisten, Romanisten und Slawisten angehörten. Dieses sollte operativ in die Ost-West-Auseinandersetzung eingreifen. Die alten Editionsprojekte wurden schrittweise zugunsten öffentlichkeitswirksamerer - gemeint war: ideologisch relevanterer - Projekte zurückgestellt. Obwohl die philologischen Langzeitunternehmen - neben Editionen auch Wörterbücher - dazu nicht mehr paßten, konnte dennoch im Auftrag des Zentralinstituts das „Handbuch der Editionen" (s. Anm. 2) bearbeitet werden und als ein Ergänzungsband der von Thalheim herausgegebenen großen Literaturgeschichte des Verlags Volk und Wissen erscheinen. Zu unterscheiden ist auch, wenn man von ,den' Editionen in der DDR spricht, um welchen Typ von Edition es sich handelt; Lese- und Studienausgaben waren stärker dem ideologischen Einfluß ausgesetzt als historisch-kritische Ausgaben, bei denen man bei zunehmender Berücksichtigung des Marxismus-Leninismus Verlust an internationaler Reputation befürchtete. Ein besonderer Schwerpunkt war einmal die Pflege des klassischen Erbes. Hier konzentrierten sich die wissenschaftlichen editorischen Bemühungen. Klassik wurde in der DDR nach Lenin neu definiert, als literarische Blütezeit eine Volkes, d. h. für Deutschland 1750-1850. Wie ernst es dabei der SED-Kulturpolitik war, den Volksmassen diese Schätze nahezubringen, konnte man ζ. B. an den fast unzähligen Schulklassen und Gruppen sehen, die durch die Weimarer Literaturmuseen geführt wurden. Auf dem dortigen Marktplatz wurde ζ. B. am Zeitungskiosk auch das Goethe-Jahrbuch angeboten. Die Goethe-Gesellschaft war übrigens die einzige Gesellschaft, die einem deutschen Dichter gewidmet war und noch international - d. h. auch gesamtdeutsch - agieren konnte. Die Tagungen waren die beliebtesten Treffpunkte von ostund westdeutschen Goethe-Freunden und Germanisten.

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Die marxistische Literaturwissenschaft nahm sukzessive Einfluß auf den Kanon. Begründet wurde das 1958 so, man wolle die „von der bürgerlichen Wissenschaft [...] zu Unrecht in den Vordergrund geschobenen Dichtungen ihrer wahren historischen Bedeutung entsprechend"3 relativieren. Die DDR setzte im Laufe der Jahre aber auch eigene Akzente. Die Initiierung neuer historisch-kritischer Ausgaben war auch gedacht als Umgestaltung des Uberlieferten Kanons. Es wurde ζ. B. eine wissenschaftlich anspruchsvolle Forster-Ausgabe, Herwegh-Ausgabe und eine Ausgabe mit Texten des Leipziger Arbeitertheaters begründet. Mithilfe von Ausgaben, die natürlich ihre Spezialisten hatten, sollten neue Traditionen geschaffen werden. Noch deutlicher als bei den wenigen neuen historisch-kritischen Ausgaben zeigt sich bei Studienausgaben, daß die DDR nicht mehr nur die bürgerliche' Literatur pflegen wollte, sondern auch die nach Meinung ihrer Ideologen und Wissenschaftler oft unterschätzte Literatur der deutschen Arbeiterklasse. Als Beispiel nenne ich die Reihe Textausgaben zur frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Aus heutiger Sicht müssen wir freilich diesen Versuch als gescheitert ansehen. Erfolgreicher war dagegen der Versuch, die kulturelle Vergangenheit nun marxistisch zu perspektivieren und diese Sicht zu verbreiten. Einen guten Einblick bietet die Weimarer Bibliothek deutscher Klassiker. Sie hat zunächst das Verdienst, wohlfeile Ausgaben breit gestreut zu haben. Zugleich aber sorgten ideologisch geprägte Einleitungen für eine ,angemessene' Leseweise. Die als fortschrittlich geltenden Epochen der deutschen Geschichte waren besonders stark vertreten. Es gab aus der Zeit der Bauernkriege Bändchen zu Luther, Münzer und Hutten. Das Zeitalter der Aufklärung und der Vormärz wurde in dieser Reihe und auch sonst gepflegt, man denke dabei an die Studienausgaben zu Lessing von Paul Rilla und Weerth von Bruno Kaiser. Bezeichnend ist, daß in der Weimarer Bibliothek die Autoren des poetischen Realismus sehr stark, die der Romantik fast nicht vertreten waren, gemäß dem Verdikt, daß die Romantik eine der Wurzeln des deutschen Irrationalismus und damit des Nationalsozialismus sei. Von der Romantik ließ man im Grunde nur ihre Hinwendung zum Volk gelten, etwa bei der Sammlung und Herausgabe von Volksliedern. Der bürgerliche Realismus wurde in der Perspektive des sozialistischen Realismus gesehen und aufgewertet. Zwei bedeutende Autoren des poetischen Realismus Storm und Fontane erhielten Studien ausgaben mit qualitativ wertvollen Kommentaren, ohne daß wiederum in der Bundesrepublik Vergleichbares erschien. Die Perspektive der zentral gesteuerten Editionspolitik wird an zwei nicht literarischen Autoren, Marx und Engels sichtbar. Hierfür wurden erhebliche Mittel bereit gestellt, die allmählich den historisch-kritischen Ausgaben der Dichter fehlten. Die erste MEGA war infolge der Machtergreifung Hitlers und des stalinistischen Terrors der 30er Jahre, dem mehrere Editoren zum Opfer fielen, ein Torso geblieben. Es wurde dann in den 60er und 70er Jahren mit einem Riesenaufwand eine deutsch-sowjetische MEGA II, verantwortlich war in Deutschland das Zentralkomitee der SED, ins Leben gerufen: Bis zur Wende waren etwa 40 Bände erarbeitet. Philologisch ein-

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Redaktionskollegium der Weimarer Beiträge: Über die Aufgaben der „Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte". In: WB 4, 1958, S. 135.

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wandfirei, wenn nicht gar vorbildlich, im Kommentar teilweise ideologisch blind.4 Die Ausgabe hatte sich philologisch an der Neugermanistik orientiert, insbesondere an der geplanten Akademieausgabe Goethes. Die Ausgabe bekannte sich ζ. B. zur Originaltreue und zum Vollständigkeitsprinzip, was eine wie immer motivierte tendenziöse Auswahl ausschloß. Auf der internationalen Konferenz in Aix-en-Provence 1992, auf der Uber die Fortführung der MEGA II beraten wurde und an der ich teilgenommen habe, konnten im wesentlichen alle Richtlinien beibehalten werden, nur die Kommentarrichtlinien erfuhren eine grundsätzliche Überarbeitung. Eine weitere politisch motivierte Edition wäre sicher eine große Brechtausgabe geworden. Ich erinnere daran: Bei seinem Tod 1956 war Brecht in der Bundesrepublik noch so verpönt, daß es der Augsburger Stadtrat ablehnte, eine Straße nach ihm zu benennen. Also: Eine große Brechtedition wäre sicher ein kulturpolitisches Aushängeschild der DDR geworden. Ein unter dem Gesichtspunkt der genetischen Edition entworfenes Modell einer Brecht-Edition legte Gerhard Seidel in einem Band vor.5 Die Gründe, weshalb die Edition nicht weiterverfolgt wurde, dürften auch in der Lage der Urheberrechte zu suchen sein, die der Suhrkamp Verlag besitzt. Es mag noch anderes dazu gekommen sein: ζ. B. die kritischen Texte, die Brecht infolge des 17. Juni 1953 verfaßte, aber auch die kolossalen Dimensionen der Theaterarbeit Brechts, wo die Vielzahl der Fassungen - auch auf Tonträgern - eine vollständige historischkritische Ausgabe fast unmöglich macht. Zustande kam schließlich seit 1988 eine 30bändige Studienausgabe mit ausführlichem Kommentar, die sog. Berlin-FrankfurterAusgabe, an der Forscher aus beiden Teilen Deutschlands mitwirkten. Ideologischer Schnickschnack war dort nicht zu erwarten. Der erste Band erschien ein Jahr vor der Wende. In einem Exkurs seien einige kleinere, aber bezeichnende Anmerkungen zur Kommentarpraxis in der DDR und zum Gebrauch der deutschen Sprache angefügt, wobei die Leseausgaben mit eingeschlossen werden. Der Kommentar in der DDR nahm in Anspruch, die klassischen Texte für breite Leserschichten, nicht nur für ein Fachpublikum aufzubereiten. Um die Texte verständlicher zu machen, wurden im Herausgebertext heute nicht gebräuchliche Abkürzungen aufgelöst, was manchmal etwas kurios erscheint, wenn ζ. B. „Decbr" in „Dezember" aufgelöst wird. Des weiteren wurden in den Kommentaren alle fremdsprachigen Zitate, Einsprengsel usw. übersetzt. Eine etwas größere Notwendigkeit, Bibelstellen und antike mythologische Anspielungen zu erklären, könnte dem damaligen Bildungssystem der DDR geschuldet sein, heutzutage fehlen die bildungsmäßigen Voraussetzungen wohl in ganz Deutschland. Bei den biblischen Erläuterungen ist gelegentlich eine gewisse ideologische Verrenkung spürbar, wenn ζ. B. eine historische Gestalt wie David als „sagenhafter König" hingestellt wird. Hinzu kam eine 4

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Richard Sperl: „Edition auf hohem Niveau". Zu den Grandsätzen der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). (Berliner Verein zur Förderung der MEGA-Edition e.V. Wissenschaftliche Mitteilungen Heft 5). Gerhard Seidel: Bertolt Brecht. Arbeitsweise und Edition. Das literarische Werk als Prozeß. Stuttgart 1977.

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stärkere Perspektivierung auf die sozialistische Gegenwart hin. Auch historische Ereignisse und Gestalten wurden gelegentlich unter der Perspektive des Historischen Materialismus gesehen. Häufiger als im Westen wurde auf die Bedeutung eines Autors, ζ. B. Lessings, für die Gegenwart und seine Modernität hingewiesen. Weiter fiel auf, daß in den Kommentaren Hinweise auf neuere Sekundärliteratur, insbesondere auf westliche Literatur selten gegeben wurden. Offiziell hieß es, man wolle das schnelle Veralten der Bände verhindern - als wenn eine Edition nicht auch Dokument der Zeit ist, in der sie entsteht - , in Wirklichkeit stand dahinter die Absicht, den Leser nicht auf de facto in den DDR-Bibliotheken nicht vorhandene westliche Literatur aufmerksam zu machen. Insgesamt aber ist anzumerken, daß die DDRGermanistik im Bereich des Kommentars gute Arbeit geleistet hat. Und im Umfeld der historisch-kritischen Ausgaben habe ich weder in Berlin bei der Wieland-Briefausgabe noch in Weimar bei der Heine-Säkularausgabe eine ideologisch verursachte Diskussion um den Kommentar erlebt. Auch zu der sich abzeichnenden Differenzierung des Deutschen in Ost und West, die von Sprachwissenschaftlern inzwischen hinreichend untersucht worden ist, seien einige Hinweise gegeben: 1. Es hatten sich jeweils verschiedene gesellschaftliche, ideologische, politische und bildungsmäßige Wirklichkeiten entwickelt, die auch in den zugehörigen Bezeichnungen ihren Niederschlag fanden. Das spielte aber bei der Behandlung historischer Texte eine geringere Rolle. 2. Regionale sprachliche Eigenheiten wurden zu Sprachunterschieden zwischen beiden Staaten. Während im Westen ζ. B. der „Samstag" so und auch als „Sonnabend" bezeichnet wird, war in der DDR nur die Bezeichnung „Sonnabend" korrekt; ich mußte also in dem von mir eingereichten Manuskript eines HeineBriefbandes den mir geläufigen „Samstag" durchgängig in „Sonnabend" ändern. 3. Daß es auch minimale ideologisch begründete sprachliche Nuancen gab, zeigt die durchgängige Verwendung „u. Z." für „n. Chr." Ein Kuriosum am Rand sei vermerkt: Heine hatte einen Bruder Maximilian, der zeitweise in St. Petersburg als Arzt praktizierte. Und so hatte ich es in meinem Briefband auch geschrieben; ich wurde jedoch dahingehend korrigiert, daß das historische Leningrad in der Sprachregelung der DDR „Petersburg" zu nennen sei, und so mußte ich an mehreren Stellen entgegen der historischen Korrektheit das „Sankt" aus meinem Manuskript streichen. 4. Der Duden (Halle), der konservativ eingestellt war, hielt sich an die juristisch verbindlichen Regeln von 1904, trat in Opposition zum Duden (Mannheim), der nicht mehr normativ vorschreiben wollte, was zu gelten habe, sondern der gerade das in der Sprache sich Wandelnde festhalten wollte und ζ. B. gestattete, daß „trotzdem" nicht nur Hauptsätze einleitete, sondern auch die Konjunktion „obwohl" ersetzen konnte. In der DDR warf man dem Westen vor, daß der Duden (Mannheim) aus geschäftlichen Interessen daran interessiert sei, alle 5 Jahre eine neue, modifizierte Ausgabe herauszubringen.

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Von den theoretischen Arbeiten, die - anfangs häufig, später seltener - in der DDR erschienen, sei nur eine editionspolitisch wichtige herausgegriffen. 1966 erschien in der Zeitschrift forschen und bilden ein Aufsatz der Weimarer Direktoren Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur,6 der sich grundsätzlich mit laufenden Editionen und besonders kritisch mit den neueren Methoden der genetischen Darstellung auseinandersetzte. Deren Editoren wurde vorgeworfen, daß sie ihre Hauptaufgabe, zuverlässig die Texte eines Autors in einem zeitlich überschaubaren Rahmen bereitzustellen und deren Entstehungsgeschichte aufgrund der überlieferten Drucke und Handschriften darzustellen, vernachlässigt hätten. Die komplette Auflistung aller Druck- und Handschriftenvarianten sei das Musterbild eines neuzeitlichen Alexandrinismus. Abgelehnt wird: „Die Annahme eines von gesellschaftlichen Bedingungen und Zwecken unabhängigen Reichs der Kunst".7 Unterstellt wird der zeitgenössischen Editionswissenschaft ein ,,1'art pour l'art - Standpunkt".8 Die neueren Editoren erweiterten den „Umfang der sogenannten Variantenverzeichnung", ohne jeden Ansatz zur Wertung und ohne Erhebliches und Unerhebliches zu unterscheiden. Der Aussagewert werde auf ein Minimum eingeschränkt. Gegeißelt wird - ohne daß der Begriff fällt - die bürgerliche' Philologie. Auch sonst wurde in der DDR deren „Abwendung von echtem historischen Denken und [die] Zuwendung zu sogenannten geisteswissenschaftlichen Positionen" gerügt. Zeitgemäß sei dagegen eine historische Gesamtschau, die natürlich - das ist meine Quintessenz - in richtiger Weise nur der Historische Materialismus leisten kann. Es soll nicht bestritten werden, daß hinter diesem Aufsatz ein wissenschaftliches Anliegen stand. Aber es kommen sicher noch zwei Motive hinzu. Es bestand in der DDR einmal die Befürchtung, daß man aufgrund der viel geringeren Forschungsmittel den Vergleich mit dem Westen auf dem Editionssektor auf die Dauer nicht aushalten könnte. Wichtiger aber war das zweite Motiv: der Kampf um die Ressourcen der DDR selbst. Hier kämpfte Weimar gegen die Berliner Akademie, und man scheute sich nicht, sich ein marxistisches Mäntelchen umzuhängen, um in dieser Gewandung der .bürgerlichen' Akademie Konkurrenz zu machen. De facto diente der Artikel dazu, das fortgeschrittene Berliner Projekt einer historisch-kritischen Ausgabe der Werke Goethes zu Fall zu bringen. Paradoxer Weise trifft das, was als bürgerliche' Editionspraxis kritisiert wurde, nun in vollem Umfang auf die MEGA II zu. Darauf von westdeutschen Kollegen aufmerksam gemacht, blieb man die Antwort schuldig. Hinter vorgehaltener Hand wurde später in der DDR gesagt, einer der Verfasser des Artikels - der andere war verstorben - sei inzwischen gar nicht mehr glücklich über das, was er dort geschrieben habe. Eine öffentliche Distanzierung aber gab es nicht. Es gibt nur wenige große Editionsprojekte, die die deutsche Teilung überstanden und von beiden Staaten gefördert wurden. Es sind die Luther-, Leibniz- und Schiller-Aus6

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Karl-Heinz Hahn und Helmut Holtzhauer: Wissenschaft auf Abwegen? Zur Edition von Werken der neueren deutschen Literatur. In: forschen und bilden. Mitteilungen der NFG Weimar, 1966, S. 2-22. Ebd. S. 12. Ebd.

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gäbe. Während die beiden ersten Projekte eher still weiterexistierten, fiel auf die Schiller-Nationalausgabe eher mal das Rampenlicht, was den beteiligten Forschern keineswegs lieb war, denn das gefährdete die Ausgabe. Von den großen neugermanistischen Editionsprojekten, die kaum oder nicht weitergeführt wurden, sind vor allem zwei zu nennen. Ins Stocken geriet die große Wieland-Ausgabe.9 Bemerkenswert ist, daß Siegfried Scheibe die von Hans Werner Seifert begonnene Ausgabe des Briefwechsels zügig weitergeführt und jetzt fast beendet hat. Dann sei die Jean Paul-Ausgabe erwähnt.10 Ihr erster Band, herausgegeben von Eduard Berend, war 1927 in der Obhut der Preußischen Akademie erschienen. Es folgten bis Kriegsende weitere Bände, doch stets ohne Apparat. Weiter gearbeitet und 1964 abgeschlossen wurde die Abteilung 3 Briefe. Neu in Angriff genommen wurde schon 1947 die sogenannte Leopoldina, Goethes Schriften zur Naturwissenschaft. Vollständige mit Erläuterungen versehene Ausgabe durch die Deutsche Akademie der Naturforscher zu Halle. Begonnen wurde auch eine historisch-kritische Ausgabe der Amtlichen Schriften Goethes, deren erster Band 1950 in Weimar erschien. - Ferner begann 1980 nach langer Vorbereitungszeit in Weimar eine Regestausgabe der Briefe an Goethe zu erscheinen. Schließlich wurde in Weimar eine Erneuerung der Tagebuch- und Briefabteilung der Weimarer Goethe-Ausgabe vorbereitet. Sie wurde als NWA (Neue Weimarer Ausgabe) bezeichnet. Erschienen ist davon aber nichts. Nach der Wende wurde vielmehr mit einer Tagebuch-Ausgabe, herausgegeben von Jochen Golz, neu begonnen, deren erste Bände vorliegen. Weiter erschien ebenfalls in Weimar die Ausgabe der Briefe Herders, von Günter Arnold inzwischen - bis auf die Kommentare - abgeschlossen durch einen vorzüglichen Registerband. Ich erwähne noch einmal die historisch-kritischen Ausgaben, mit denen die DDR den Kanon um progressive Akzente bereichern wollte. Ich hatte die seit 1970 bei der Berliner Akademie bzw. beim Zentralinstitut erscheinende historisch-kritische ForsterAusgabe genannt, die Herwegh-Ausgabe und die Ausgabe von Texten in sozialistischer Tradition, ζ. B. des Leipziger Arbeitertheaters. (Zur Heine-Säkularausgabe, die ebenfalls ab 1970 erschien, s. im folgenden.) Hier sei auf das Schicksal von vier Editionsprojekten in der DDR noch näher eingegangen. 1. Da ist die berühmte Reihe der Deutschen Texte des Mittelalters, DTM. Das Mittelalter galt in der DDR zunehmend - grob gesagt - als Zeit des Feudalismus und die mhd. höfische Literatur als Ausdruck des adligen Überbaus. Mit der Akademiereform wurde die Berliner Akademie verstärkt auf den sozialistischen Aufbau verpflichtet. Die Mediävistik wurde immer kritischer betrachtet und schließlich wurde die Reihe Deutsche Texte des Mittelalters offiziell geschlossen." Sie wurde aber von engagier-

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Hagen/Jensen/Nahler/Nahler 1979 (Anm. 2), S. 585-588. Ebd. S. 318f. Zur Geschichte der DTM siehe das Programmheft der „Internationalen Fachtagung 1.-3. April 2004" der Arbeitsstelle Deutsche Texte des Mittelalters der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Verf. Martin J. Schubert unter Mitarbeit von Anett Brüsemeister. Der entsprechende Tagungsband, besorgt von Martin J. Schubert, erscheint als "Beiheft zu editio" und befindet sich im Druck.

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ten Mitarbeitern der Akademie diskret weitergeführt, so daß weiterhin einige Bände erschienen. Heute floriert die Reihe wieder. Im Westen wurde die Altdeutsche Textbibliothek (ATB) fortgeführt, die der Niemeyer Verlag aus Halle nach Tübingen mitgebracht hatte. Ohne in unzulässige Verallgemeinerungen verfallen zu wollen, kann man doch zwei unterschiedliche Tendenzen beobachten. Die DTM-Reihe stellt aus der Überlieferung einen Codex in den Mittelpunkt und betrachtet dessen Wiedergabe als Hauptaufgabe der Edition. Die ATB-Reihe bemüht sich stärker um die Rekonstruktion eines Werkes, wobei sie eine Normalisierung der Texte eher in Kauf nimmt. Mag sein, daß der literarischen Überhöhung des Mittelalters, die hinter der ATB-Reihe sichtbar wird, in der DTM-Reihe ein stärkeres Dokumentationsinteresse gegenübersteht. Jeder Band ist natürlich einzeln zu bewerten. Die größte Leistung der DTM-Reihe war damals zweifellos die Eneide-Edition Veldekes durch Frings und Schieb, dort wird beides versucht, den Codex wiederzugeben und ihm eine - durchaus umstrittene - Rückübersetzung an die Seite zu stellen. Allerdings reichen die Wurzeln der Veldeke-Edition in die Zeit des Nationalsozialismus zurück, und dem heutigen Benutzer bleibt eine Grundtendenz der Edition nicht verborgen: den Maasländer Veldeke heim ins Reich der deutschen Sprache und Literatur zu holen. 2. Eines der großen Projekte der Berliner Akademie war eine historisch-kritische Goethe-Werkausgabe. Ihr Ziel war, die große Sophien-Ausgabe des 19. Jahrhunderts zumindest teilweise zu ersetzen,12 und zwar dort, wo das alte Prinzip der Wahl des Drucks letzter Hand unberechtigt erschien oder wo auch sonst neue editionswissenschaftliche Prinzipien eine Neubearbeitung erforderten. Neuer „Hauptgrundsatz der Ausg das Zurückgehen auf Textfassungen, an denen G aktiv mitgearbeitet hatte". Hinzu kam eine strenge philologische Revision der Drucke unter dem Aspekt der Druck- bzw. Schreibfehler oder auch der Notwendigkeit von Konjekturen, was aber alles im Apparat angegeben wurde. 14 Bände sind erschienen, zu mehreren fehlen allerdings die Apparatbände; die Ausgabe ist ein Torso geblieben. An die Goethe-Ausgabe knüpften zahlreiche grundsätzliche, teilweise auch kritische Diskussionen Uber die Editionsmethoden von Texten der neueren deutschen Literatur an. Grundsätzliche öffentliche Kritik setzte zu Zeiten Ernst Grumachs, des leitenden Herausgebers, noch nicht ein, zumal auch Frings seine schützende Hand über das Unternehmen hielt. Doch da Grumach ein Westberliner war, war es leicht, die Ausgabe als ,bürgerlich' zu diffamieren. Nach Grumachs Ausscheiden wollte ein Team (Scheibe, Hagen, Praschek u. a.) die Ausgabe weiterfuhren. In dem eben besprochenen Aufsatz von Hahn/Holtzhauer heißt es aber zur Goethe-Ausgabe erst allgemein tadelnd: „Wenn ζ. B. die Akademie-Ausgabe der Werke Goethes noch erklärt, daß Text und Apparat gleichwertig zu behandeln seien, so kommt in Wirklichkeit dem Apparat und seiner Gestaltung das ganze Interesse und der große Aufwand zugute."13 Und das sei - s. o. - „reiner Alexandrinismus". Am Ende wird es noch deutlicher. Im

12 13

Hagen/Jensen/Nahler/Nahler 1979 (Anm. 2), S. 195. Hahn/Holtzhauer 1966 (Anm. 6), S. 21.

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Hinblick auf das Vollständigkeitsprinzip der Variantenverzeichnung heißt es: „Dies alles wird einer wissenschaftlichen Ausgabe und damit dem Leser zugemutet. Das Ergebnis stellt sich dann so dar, wie es Renate Fischer-Lamberg 1960 mit den Überlieferungen und Lesarten zu .Wilhelm Meisters theatralischen Sendung' und 1963 Siegfried Scheibe mit dem Apparatband zu den Epen vorlegten: als wissenschaftliche Fehlinvestition." Man muß diese Sätze zwar vor dem Hintergrund der Rivalität Berlin/Weimar lesen, plante doch Weimar schon damals eine Brief- und Tagebuchedition Goethes. Daß aber auch innere fachliche Diskussionen, ζ. B. die ausformulierten, komplizierten editorischen Grundsätze, als Vorwand für das Scheitern der GoetheWerkausgabe genommen wurden, kann vermutet werden. 3. Mit viel·Geschick ist die Schiller-Nationalausgabe (NA) von den Verantwortlichen aus dem Krieg über die Jahre der deutschen Spaltung gerettet worden.14 Initiiert wurde die Ausgabe in den 30er Jahren von Julius Petersen, der 1940 ihr erster Herausgeber wurde. Im Geleitwort des ersten 1943 erschienenen Bandes der Ausgabe (Gedichte 1776-1799) - das in den nach 1945 gedruckten Nachauflagen nicht mehr enthalten ist - schrieb der damalige Reichserziehungsminister Bernhard Rust, mit der Ausgabe solle „dem deutschen Volk [...] Werk und Erbe Schillers unverkürzt erschlossen und zugänglich gemacht werden." Weiter heißt es: „Es ist von tiefem Sinn, daß gerade Schillers Wesen und Werk in dieser Stunde gegenwärtig gemacht wird. Schillers Dasein ist immer selbstvergessener Einsatz und Kampf für den höchsten Auftrag gewesen, und Leben hieß für ihn: Sterben können für eine Idee! [...] So hohe Idealität, verbunden mit so lauterem und wahrhaftigen Wirklichkeitssinn, mag zugleich wohl berufen sein, die Völker des Abendlandes zu der gemeinsamen Erneuerung der Kultur, Kunst und menschlichen Gesittung zu verbinden, deren Vollendung heute auf den Schlachtfeldern des größten Krieges erstritten wird." Die NA sollte ein monumentalisierendes Denkmal Schillers begründen, ihn in den Rang des deutschen Nationaldichters schlechthin heben, sein Schaffen und Leben in ein positives, mißreißendes Licht stellen und ihn so zum Vorbild des deutschen Volkes machen. Julius Petersen hatte 1939 geäußert, die Edition solle an die Seite der Sophien-Ausgabe von Goethes Werken rücken. Hans-Dietrich Dahnke, 15 der sich mit der Frühzeit der NA beschäftigt hat, betont die „deutlich wahrnehmbare Tendenz, Schiller als Goethe zumindest gleichrangig, wenn nicht gar unter aktuellen politischideologischen Aspekten, denen nämlich des Nationalen, des Heroischen, des Pathetischen, überlegen zu werten".16 Dieses Schillerbild sollte in Einleitungen zu den jeweiligen Bänden der NA fundiert werden. Ein besonderes Gewicht kam daher der Einleitung des ersten Bandes der Ausgabe, bearbeitet von Friedrich Beißner, zu. Diese Einleitung zum lyrischen Werk Schillers reichte Beißner Ende September 1942 beim Verlag ein, dem bereits das

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Im folgenden habe ich dankbar benutzt die schriftliche Ausarbeitung eines in meinem Seminar im SS 2003 gehaltenen Referats von Jessica Kewitz: Die Schiller-Nationalausgabe. Geschichte, Konzeption und editorische Umsetzung. Dieser Ausarbeitung habe ich folgende Zitate entnommen. Hans-Dietrich Dahnke: Friedrich Beissners Einleitung zum ersten Band der Schiller-Nationalausgabe. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 41, 1997, S. 513-548. Ebd., S. 532.

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Manuskript für den ersten Band vorlag. Sie stieß bei dem verantwortlichen Herausgeber der NA Gerhard Fricke und anderen Bandbearbeitern - etwa Paul Böckmann, Reinhard Buch wald und Hans Heinrich Borcherdt - jedoch auf Ablehnung, so daß der Abdruck verhindert wurde. In der Einleitung - 1997 erstmals publiziert durch Dahnke - heißt es über die Lyrik Schillers: Schiller habe seine „Unterlegenheit" gegenüber Goethe im lyrischen Fach gespürt. Zwar seien Schiller „inzwischen [...] auch als Lyriker einige unsterbliche Gedichte gelungen. Dennoch mangelt es ihm auf diesem Feld an Selbstbewusstsein." Bereits diese allgemeinen Wertungen, die sich zum Teil auf Selbstaussagen Schillers stützten, waren mit dem Ziel der Stilisierung Schillers zum großen Meister und starken Kämpfer für seine Ideale nicht zu vereinbaren. Zu sehr transportieren Beißners Worte den Eindruck von Selbstzweifeln des Dichters. Sie boten in ihrer Bescheidenheit zu wenig euphorische Identifikationsmöglichkeiten für den deutschen Leser im Zweiten Weltkrieg. Beißners Äußerungen stehen hier zudem klar der Vorstellung von Petersen, Schiller über Goethe zu erheben, entgegen. Aber so betont Beißner weiter, „es ist freilich ein weiter Weg zur reinen Ausprägung dieses Stils." In bezug auf das Jugendwerk Schillers verweigert Beißner also eine unkritische Heroisierung des Dichters. Die Kritiker Beißners - der bereits oben erwähnte Herausgeber und die damaligen Mitarbeiter der NA - lehnten an seinem Text vor allem diese Distanz und die Negation des postulierten Schillerverständnisses ab.17 Zwar unternahm Beißner durch einige Veränderungen noch den Versuch, seine Einleitung zu retten, doch blieb die Ablehnung bestehen. 1943 erschien der erste Band, nach 1945 erschienen unveränderte Nachdrucke des Textes. Die Bevorzugung Schillers vor dem ,Fürstendiener' Goethe blieb zumindest in den ersten Jahren bei einem großen Teil der DDR-Germanistik erhalten, was letztlich auch Auswirkungen auf die Editionspolitik gehabt haben dürfte. Daß auf diesem brüchigen Fundament in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre gesamtdeutsch weitergebaut werden konnte, ist bewundernswert. In Weimar und Marbach war die Ausgabe weiterhin angesiedelt. 1946 trat der NS-belastete Herausgeber Gerhard Fricke zurück, es folgte als Herausgeber Hermann Schneider. Zur ernsten Krise kam es 1958 als der Vertreter Thüringens Friedrich Stier zurücktrat und infolge dessen auch Schneider: Dieser befürchtete damals, daß die DDR die Nationalausgabe ,jetzt in eigene, wahrscheinlich parteipolitische Regie übernehmen"18 wollte. Man schuf aber einen neuen organisatorischen Rahmen. Die NA wurde ab 1958 von einem acht- bis neunköpfigen Gremium geleitet, dem 4 Vertreter aus Ost und West sowie die Verlegerin ohne Stimmrecht angehörten. Die Ausgabe hatte, solange die zwei deutschen Staaten existierten, immer zwei Herausgeber, beginnend mit Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese. Ab 1978 waren Norbert Oellers und Siegfried Seidel die Herausgeber, ab 1991 übernahm Oellers die alleinige Verantwortung. Er hat nach seinem Lehrer Benno von Wiese diese Funktion übernommen und schließ17 18

Dahnke 1997 (Aran. 15), S. 524. Zur Geschichte des Herausgeberwechsels der NA siehe Norbert Oellers: Die Schiller-Nationalausgabe ein deutsch-deutsches Editionsunternehmen. In: Das Loch in der Mauer. Der innerdeutsche Literaturaustausch. Hrsg. von Mark Lehmstedt und Siegfried Lokatis. Wiesbaden 1997, S. 325-332, hier S. 327.

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lieh nach der Wende zielstrebig fast zu Ende geführt. Dieses deutsch-deutsche Projekt war immer wieder einmal von politischer Seite gefährdet. Ich selbst erlebte mit, wie die Spaltung vorangetrieben wurde, als ein offizieller Schiller-Arbeitskreis für die DDR in Weimar neugegründet wurde, weil DDR-Bürger nicht in der gesamtdeutschen Schillergesellschaft sein durften. Bei der Ausgabe wurde aber nach wie vor diplomatisches Feingefühl gezeigt. Über die Geschichte der NA hat Oellers mehrfach berichtet, u. a. in einem Interview 2001, das im Internet nachzulesen ist.19 Oellers zur Seite gestellt war der Mitherausgeber Seidel, der sowohl Schillerphilologe als auch parteitreuer Wissenschaftler war. Es ist dem Geschick Oellers', aber wohl auch der Bereitschaft Seidels zu verdanken, daß die Kooperation funktionierte und die einzelnen Bände relativ zügig erschienen. Von der DDR-Seite wurde häufig so getan, als sei die NA eine Angelegenheit der DDR. Die Ausgabe wurde ja auch in Weimar gedruckt. Das ging sogar soweit, daß ein offizieller Zeitungsartikel erschien, in dem es hieß, die NA werde nach marxistischen Prinzipien ediert, was wiederum den Protest westdeutscher Bandbearbeiter hervorrief. Die Bände der Ausgabe sind in allen Bereichen sehr unterschiedlich. Es gab keine fixierten Richtlinien, und der Individualität der einzelnen fachlich kompetenten Bandbearbeiter wurde, trotz einer starken Stellung der Redaktion, ein großer Spielraum gewährt. Manche Bände wurden oder werden inzwischen einer Neubearbeitung unterzogen. Sie spiegeln im Laufe ihrer Geschichte eigentlich nicht so sehr die ideologische Auseinandersetzung zwischen Ost und West wider, sondern die Entwicklung der neugermanistischen Editionswissenschaft. Heikler Punkt waren die Kommentare und Vorworte. Gelegentlich wurde nur um den Preis einer Streichung Einigkeit erzielt, denn jeder Band mußte ursprünglich aus Berlin sein Imprimatur erhalten, deutlicher gesprochen: Er wurde zensiert. Die Vorworte wurden schon bald ganz aufgegeben. Karl-Heinz Hahn, der Direktor der Goethe- und Schiller-Archivs, der Seidel übergeordnet war, sagte mir einmal: Wir haben, wenn wir zusammenarbeiten wollen, doch keine andere Wahl, als dem Text so wenig wie möglich hinzuzufügen. Die Ostdeutschen hielten sich streng an diese Vorgaben, der Band mit Wilhelm Teil ist ein Beispiel. Überhaupt ist im Westen wohl zu wenig bekannt, daß die Parteimitglieder in der und um die Ausgabe, insbesondere der Weimarer Generaldirektor Holtzhauer, aber auch Hahn und Seidel, keineswegs nur vorschützten, die Ausgabe müsse die Wünsche der Partei zur Kenntnis nehmen, sondern selbst aktiv das Projekt gegenüber den Ideologen in Berlin verteidigt haben. Oellers berichtet davon, daß die zensierende Funktion schließlich von Berlin an Seidel abgegeben wurde, mit dem ihm - wie gesagt - de facto eine Kooperation möglich wurde. Interessant ist, daß Benno von Wiese, der unterstützt von Helmut Koopmann die Philosophischen Schriften Schillers herausgab, einen so hervorragenden Ruf besaß, daß man sich an die Zensur seiner Kommentare nicht herantraute. Im Westen ist aber m.W. nicht bekannt, welche Auseinandersetzungen es hinter den Kulissen gab und daß anläßlich dieser Bände das Gesamtprojekt auf dem Prüfstand der Partei stand. Letztlich haben die westdeutschen Bandbearbeiter ihre Erläuterungen schon durchset-

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http://www.kritischeAusgabe.de/inter/oellers/htm/

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zen können. Nach der Wende sind dann die Kommentare wieder erheblich angewachsen. 4. Zwei zwischen Ost und West konkurrierende Ausgaben wurden neu ins Leben gerufen: Die Heine-Säkularausgabe und die Düsseldorfer Heine-Ausgabe. Heine war in der Zeit des Nationalsozialismus totgeschwiegen worden. Eine Deutschlehrerin erzählte mir ζ. B. einmal, daß sie den Namen Heines im Germanistikstudium, Ende der dreißiger Jahre, nie gehört habe. Man nannte ihn ja auch Chaim Bückeburg und nannte sein vertrautes Gedicht von der Loreley eine Volksweise. Die DDR fühlte sich schon früh mehr in der Nachfolge der linken Vormärzdichter als die Bundesrepublik, das mochte auch an der Zeitgenossenschaft des jungen Marx liegen, der ja Heine 1843 kennengelernt hatte. Die erste Studienausgabe Heines nach dem Krieg wurde von Hans Kaufmann in der DDR besorgt, deren Lizenzausgabe fand aber in Westdeutschland keine Abnehmer, so daß sie schließlich verramscht werden mußte. 1956 wurde in Weimar zum 100. Todestag die Heine-Säkularausgabe, eine historischkritische Gesamtausgabe der Werke, Briefe und Lebenszeugnisse (HSA) begründet. Erst in den 60er Jahren folgte die Düsseldorfer Ausgabe (DHA) der Werke Heines. Daß es nicht zu einer gemeinsamen Ausgabe kam, hatte mehrere Gründe, zunächst einmal den, daß es auf beiden Seiten Leute gab, die sie nicht wollten; es überwogen dann aber politische Gründe, keine gemeinsame Ausgabe zu veranstalten.20 Die Arbeitsrichtlinien der HSA waren ausgearbeitet und streng, sie dürften das hohe editorische Niveau repräsentieren, das auch für die anderen wissenschaftlichen Ausgaben in der DDR maßgebend war. Ich war der einzige Westdeutsche, der in beiden Heine-Ausgaben Bände arbeitete. Beide Ausgaben wollten wissenschaftlich einwandfrei sein - was ihnen gelang - , trotzdem gibt es fünf größere Differenzen. 1. Die erste betrifft die Anordnung der Prosa-Texte, die Heine selbst im Laufe seines Lebens auf verschiedene Weise zusammenstellte, hier kann man gute Gründe für die unterschiedlichen Positionen anführen. 2. Die zweite betrifft die Textgestaltung, und zwar die von der Zensur verstümmelten Texte. Während man in Düsseldorf der Meinung war, der Autor habe als Künstler das entscheidende Recht an seinem Text, also müsse man auch die Werkstellen, die die Zensur gestrichen habe, wieder in den Edierten Text aufnehmen - wobei diese Passagen in Klammern erschienen. In Weimar argumentierte man, man dürfe die Texte nur so wiedergeben, wie sie damals hatten erscheinen können. Die Urteile der Zeitgenossen über Heine ζ. B. hätten sich nach dem gerichtet, was damals von ihm gelesen wurde. Texte also als Äußerungen eines künstlerischen Individuums versus Produkte einer historischen, gesellschaftlichen Konstellation. Während wir diese Standpunkte heute noch nachvollziehen können, schoß der Düsseldorfer Herausgeber etwas über das Ziel hinaus, als er die damals erschienenen Texte auch von Verlagseigentümlichkeiten usw. reinigen und die ursprüngliche Schreibweise

20

Eine knappe Gegenüberstellung der beiden Editionen findet sich bei Bernd Kortländer: Heine in wechselnder Gestalt. Die beiden historisch-kritischen Heine-Ausgaben. In: Ernst Meister Gesellschaft. Jahrbuch 1998 [1999], S. 21-28.

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Heines restituieren' wollte, was schon damals auch in der Bundesrepublik überwiegend auf Ablehnung stieß. 3. Die dritte Differenz bezieht sich auf den Apparat. Nur die DHA genügt den heutigen Anforderungen an eine historisch-kritische Ausgabe: Sie verzeichnet die Varianten vollzählig. Die Säkularausgabe begnügt sich - in Übereinstimmung mit dem erwähnten Aufsatz Wissenschaft auf Abwegen? - mit einem Auswahlapparat. Dieses Manko wurde in Wirklichkeit aber bei fortschreitender Arbeit dadurch etwas ausgeglichen, daß man von den Bandbearbeitern verlangte, daß sie alle Entstehungsvarianten zumindest entzifferten, bevor sie eine Auswahl trafen. 4. Die vierte große Differenz ist die Behandlung der französischen Texte. Heine schrieb und dichtete deutsch, es gibt nur verschwindend wenige Ausnahmen. Er übernahm aber Texte seiner französischen Übersetzer nicht ohne weiteres, sondern nahm Einfluß, indem er die Übersetzungen überprüfte bzw. veränderte oder sie mit den Übersetzern diskutierte. Er verdeckte dies aber nach außen und wollte von sich durchaus in der Öffentlichkeit das Image des auch französisch schreibenden Dichters entwerfen. Die DHA verweist die Übersetzungen in den Anhang, die HSA gibt den französischen Texten eigene Bände, was mir allenfalls bei einem Band, den Poemes et legendes berechtigt erscheint. Dahinter stand auch ein politisches Interesse. Es ging der DDR um die politische Anerkennung, und man setzte große Hoffnungen auf Frankreich. Es durfte als Erfolg gefeiert werden, daß der CNRS und dessen Verlag gleichberechtigt mit den NFG und dem Berliner Akademieverlag als Herausgeber der Heine-Säkularausgabe firmierten. Aus dieser Edition ergaben sich wissenschaftliche Kontakte zwischen der DDR und Frankreich - was natürlich auch für die DHA galt. 5. Die fünfte Differenz betrifft den Kommentar. Zunächst einmal muß man sagen, daß die damals in Westdeutschland geäußerte Befürchtung, in der DDR werde ein marxistischer' Heine präsentiert, zwar am Anfang nicht ganz von der Hand zu weisen war, dann aber doch nicht eintraf. Schon die Zusammenarbeit mit französischen Germanisten sicherte die Qualität des Editionsprojektes. Die Richtlinien forderten einen knappen, sachbezogenen Kommentar, und dabei blieb es. Genau dieselbe wissenschaftliche Strenge forderte die DHA, aber sie ging den umgekehrten Weg. Ihr Ziel war der sog. ,Vollkommentar'21. Heines politisch engagierte Texte und seine Literaturfehden sind in der Tat nicht zu verstehen, wenn nicht zugleich der zeitgenössische Hintergrund umfassend ausgeleuchtet wird. Hier liegt die entscheidende Leistung der DHA; entstanden ist im Kommentar ein Nachschlagewerk für das geistige und politische Leben der Zeit. Wäre die Weimarer Ausgabe diesem Ziel gefolgt, wären ideologische Konflikte mit den Hochschulvertretern des Historischen Materialismus nicht zu vermeiden gewesen.22

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Manfred Windftihr: Zum Verständnis von Kommentar und Genese. Diskussionsbeitrag. In: editio 5, 1991, S. 173-177. In der Gegenwart werden die Früchte beider Editionen zusammengeführt, s. Christian Liedke: Die digitale Edition im Heinrich-Heine-Portal - Probleme, Prinzipien Perspektiven. In: editio 19, 2005, S. 106120.

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Die DHA löste auch andere Aktivitäten um Heine aus, vor allem die nach vielem Bemühen erfolgte Umbenennung der „Universität Düsseldorf in „Heinrich-HeineUniversität". Auch eine nachhaltige Wirkung ist noch erwähnenswert. Das Entsetzen und die Sprachlosigkeit nach dem Holocaust wurde aufgehellt durch die Erinnerung an den großen Beitrag der Juden zur deutschen Kultur. Das Gespräch mit Juden und Israelis hatte endlich wieder auch einen erfreulichen Gesprächsgegenstand: das Werk Heines, was m.E. eine positive Wirkung der Arbeit an der DHA war. Eine solche Wirkung ging von der HSA nicht aus und konnte auch nicht ausgehen, denn die DDR lehnte ja bis zu ihrem Ende eine Verantwortung für das Schicksal der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus ab. In den Zeiten des Kalten Krieges bestand de facto eine weitgehende, heute kaum mehr vorstellbare Kontaktsperre. Hart war das Reise- und Kontaktverbot besonders für die Bürger der DDR. Aber auch Westdeutsche, die - abgesehen von Todesfällen vor dem Grundlagenvertrag eines der seltenen Visa erhielten, waren lange auf einen einzelnen Bezirk der DDR beschränkt. Argwöhnisch und andauernd beobachteten die Geheimdienste beider Seiten Wissenschaftler, die die innerdeutsche Grenze passierten. Auf dem Gebiet der Editionen wurde trotzdem vielfach versucht, das strenge Westkontaktverbot zu unterlaufen. Sachlich kam dem zu gute, daß in beiden Staaten Editionswissenschaftler zu finden waren, die den Austausch anstrebten. Durch editionswissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften, die ζ. B. durch Sonderdrucke verbreitet wurden, durch Treffen in Ostberlin, durch die seltenen wissenschaftlichen Kongresse, aber etwa auch durch einzelne Bände, welche die editorische Praxis demonstrierten, hielt man Kontakt. Die Diskussionen der Editoren waren auch nach dem Mauerbau nicht abgerissen, man wußte in Ost und West stets, was die Kollegen machten.23 Ganz verbieten ließen sich Westreisen der DDR-Kollegen nicht, wenn die bei den Editionen heranzuziehenden Handschriften im Westen lagen. Was sich im innerdeutschen Verkehr abspielte, war gelegentlich schikanös, manchmal bitter. DDR-Editoren befürchteten ζ. B. anläßlich von Westreisen, die Stasi beobachte sie auch in der Bundesrepublik; ihnen wurden Verhaltensanweisungen, ζ. B. in kein westdeutsches Auto einzusteigen, mit auf den Weg gegeben. Aber es blieb trotz aller praktizierten und nach außen zur Schau getragenen Härte und trotz der dadurch ausgelösten Unsicherheit der Wille zur Zusammenarbeit, diskret vom Gesamtdeutschen Ministerium gefördert, so diskret, daß es zumindest die zuständigen Stellen in der DDR offiziell nicht zur Kenntnis nehmen mußten; sie hatten natürlich ihre Informationen. Im Bereich der Handschriften hielt man Kontakt, der aber auch äußerst diskret sein mußte. Als einmal in Weimar für eine Edition Handschriften Herders aus dem Be-

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Als 1979 ein deutsch-französisches Editionskolloquim in Westberlin stattgefunden hatte, zu dem die eingeladenen DDR-Editoren nicht kommen durften, wollte ich anschließend die handouts der Vorträge und Notizen den Kollegen in Ostberlin bringen. Als man mir an der Grenze die Unterlagen abnahm, weigerte ich mich, nach Ostberlin einzureisen, da meine Reise sinnlos geworden sei. Man sperrte mich daraufhin in einen kleinen fensterlosen Raum mit vergitterter Birne und kopierte, wie ich annehmen darf, die Unterlagen, ehe ich dann schließlich doch mit diesen einreisen durfte.

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stand des in den Westen ausgelagerten Preußischen Kulturbesitzes, den die DDR energisch für sich beanspruchte, gebraucht wurden, reiste eine Persönlichkeit, die der SED angehörte, nach Westberlin und durfte die Handschriften in einer Aktentasche mit über die Grenze nehmen, nachdem sie ihr Wort gegeben hatte, für die korrekte Rückgabe die Verantwortung zu übernehmen. Vor Autographenauktionen sprachen sich - nach anfänglicher Konkurrenz - die Vertreter der öffentlichen Bibliotheken in Ost und West dahingehend ab, daß sie nicht gegeneinander boten. Probleme Handschriften betreffend, die in der DDR gestohlen oder die - zumindest nach dem Recht der DDR - widerrechtlich in die Bundesrepublik geschmuggelt wurden, pflegte man einvernehmlich und ohne die Öffentlichkeit zu informieren, zu lösen, so daß die Arbeit an den Editionen nicht beeinträchtigt wurde. Ein nachhaltiger Versuch, die Kontakte zu verbessern, war die Gründung der internationalen „Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition". Schon vorher hatten mit französischer Beteiligung Kolloquien in Paris (2x), Berlin und Budapest stattgefunden, wobei Frankreich - meist auf deutsche Initiative hin - den internationalen Schirm öffnete, unter dem sich deutsche Editoren aus Ost und West treffen konnten. Wichtig war, daß in der Arbeitsgemeinschaft auch ein Österreicher, Ulrich Müller aus Salzburg, und ein Schweizer, Hans Zeller aus Freiburg, Funktionen übernahmen, denn die Durchführung einer deutsch/deutschen Editorentagung war Jahrzehnte hindurch unmöglich. Aufgrund der gemeinsamen Geschichte, Sprache, Kultur und der Dichter haben aber Editoren beiderseits des Eisernen Vorhangs einen - wenn auch noch so kleinen - Beitrag geleistet, daß trotz des allgemeinen Verbots der Westkontakte für DDR-Bürger das Zusammengehörigkeitsgefühl erhalten blieb.

Gerald Hubmann

Von der Politik zur Philologie: Die Marx-Engels-Gesamtausgabe

Der historische Epochen Wechsel des Jahres 1989 hat der bis dahin politisch-ideologisch dominierten Marx-Engels-Editorik die Chance zum Wandel hin zur philologisch orientierten Forschung geboten. Ich möchte im folgenden in einem ersten Teil meines Beitrages diesen Weg nachzeichnen. Im zweiten Teil werde ich versuchen, die neuen Perspektiven auf das Werk von Marx zu skizzieren, die sich aus der philologischen Wende' der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA2) nach 1990 ergeben. Die Schwierigkeiten im Umgang mit dem (Euvre und dem literarischen Nachlaß von Marx setzen bereits unmittelbar nach seinem Tod ein. Als ein Beispiel dafür soll hier das „Kapital" dienen, das einstige Hauptwerk des Marxismus-Leninismus. Das „Kapital" umfaßt bekanntlich drei Bände. Der erste Band, der den Produktionsprozeß analysiert, ist 1867 zuerst erschienen, dann in zweiter Auflage 1872. Schlägt man aber den zweiten Band, zum Zirkulationsprozeß des Kapitals auf, so fällt das Erscheinungsjahr 1885 ins Auge. Er wurde erst zwei Jahre nach Marxens Tod von Friedrich Engels herausgegeben. Ebenso der dritte Band, desgleichen publiziert nicht von Marx, sondern von Engels im Jahre 1894. Marx selbst hat also nur einen Band des „Kapital" veröffentlicht. Zudem liest man auf der ersten Seite von Engels' Vorwort zu Band zwei, daß ihm durch „die große Zahl der vorhandnen, meist fragmentarischen Bearbeitungen" von Marx die Herausgabe sehr erschwert worden sei.1 Auch für den dritten Band berichtet Engels von großen Schwierigkeiten mit dem Material,2 zumal er, wie aus dem Briefwechsel zu ersehen ist, in keiner Weise über den Stand der Marxschen Arbeit und Gedanken informiert war3. Engels hat seinen Text aus mehreren, zu verschiedenen Zeiten entstandenen Manuskripten von Marx zusammengestellt. So liegen von Marx insgesamt 847 Folioseiten aus den Jahren 1864 bis 1875 vor. Um nur am dritten Band des „Kapital" kursorisch zu illustrieren, wie die Bearbeitung durch

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Friedrich Engels: Vorwort. In: Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band. Hrsg. von Friedrich Engels. (Karl Marx, Friedrich Engels: Werke [im Folgenden: MEW]. Berlin 1963. Bd. 24, S. 7.) Nur ein „äußerst lückenhafter, erster Entwurf' mit „in statu nascendi niedergeschriebenen Gedanken" hätten ihm vorgelegen, berichtet Engels im „Vorwort" zu: Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Hrsg. von Friedrich Engels. Hamburg 1894. (Jetzt in: MEGA2 11/15, S. 6f.) So schreibt Marx bereits am 18. Februar 1866 an Engels, das Manuskript des Kapital sei, „riesig in seiner jetzigen Form, nicht herausgebbar für irgend jemand außer mir, selbst nicht für Dich." (MEW. Bd. 31, S. 178.) Nach dem Tod von Marx war sich Engels zunächst nicht einmal sicher, ob Uberhaupt Manuskripte der ausstehenden Bände überliefert waren, da Marx ihm und seiner Familie „stets den Stand seiner Arbeiten verheimlicht" habe (Engels an P. L. Lawrow, 2. April 1883. In: MEW. Bd. 36, S. 3).

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Engels aussieht:4 Für die ersten drei Unterpunkte des ersten Kapitels liegen von Marx mehr als 200 Seiten Manuskriptbögen vor sowie drei Kapitelanfänge; Engels stellte sie zu 40 Druckseiten zusammen. Auch die Gliederung des dritten Bandes in Kapitel ist von Engels, das vierte Kapitel hat Engels selbst verfaßt, weil er von Marx zu diesem Thema nur eine Überschrift vorgefunden hat und dergleichen mehr. Man kann also sagen: Das Hauptwerk des Marxismus-Leninismus, das „Kapital", existiert als solches - im philologischen Sinne eines abgeschlossenen und autorisierten Opus nicht. Nur einer von drei Bänden liegt von Marx ausgearbeitet vor. Wie weit Marx, insbesondere im dritten Band, der ja den Gesamtprozeß der kapitalistischen Produktion behandelt - inklusive Zusammenbruchthese - , mit der Ausarbeitung wirklich gekommen ist, werden wir erst zukünftig erfahren, wenn in der zweiten Abteilung der MEGA 2 alle Marxschen Manuskripte vollständig ediert vorliegen. Auf diese Frage nach der Authentizität des „Kapital" komme ich unten noch zurück; hier möchte ich zunächst auf den editionsgeschichtlichen Aspekt weiter eingehen. Was nämlich, so kann man fragen, hat Engels bewogen, die unfertigen Marxschen Manuskripte in der eben geschilderten Weise zu kompilieren und als zweiten und dritten Band des „Kapital" herauszugeben? Unredlichkeit wird man Engels sicher nicht vorwerfen können, das dokumentieren die jetzt vorliegenden textkritischen Untersuchungen in der MEGA2 auf eindeutige Weise.5 Engels hat sich während seiner elfjährigen (!) Entzifferungs- und Redaktionsarbeit bemüht, das Beste aus dem Vorgefundenen zu machen, wobei auch in Betracht zu ziehen ist, daß er nicht über ein modernes textkritisches Instrumentarium verfugte - Zeitgenossen wie Werner Sombart etwa hielten sein Vorgehen für viel zu akribisch und waren der Auffassung, eine „sinngemäße Bearbeitung" des Inhalts der Marxschen Manuskripte wäre adäquater gewesen6 - , und Engels hat in den Vorworten der Bände wahrheitsgemäß über die Nachlaßsituation Bericht erstattet. Die Antwort lautet vielmehr: Was es notwendig machte, die Bände zu veröffentlichen, waren politische Erwartungshaltungen. Freund wie Gegner nämlich wollten nach Marx' Tod wissen, wo denn nun die fehlenden Bände des „Kapital" blieben, was denn nun wäre mit dem theoretischen Grundwerk

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Eine detaillierte Darstellung der Überlieferungslage, des Redaktionsprozesses, der Texteingriffe und Textveränderungen durch Engels findet sich jetzt in MEGA 2 11/14 (Karl Marx, Friedrich Engels: Manuskripte und redaktionelle Texte zum dritten Buch des „Kapitals" 1871 bis 1895), S. 3 9 1 ^ 3 1 und S. 457^189, und in MEGA 2 11/15 (Karl Marx: Das Kapital. Dritter Band. Hrsg von Friedrich Engels), S. 917-925. Für Engels' Arbeit am Redaktionsmanuskript des zweiten Bandes des „Kapital" siehe MEGA 2 11/12, S. 497-523 und S. 529-552. Siehe dazu die in Anmerkung vier genannten Belegstellen. Sombarts Beurteilung verdeutlicht die vom heutigen Verständnis völlig abweichende zeitgenössische Auffassung von der Authentizität des Textes: Indem Engels das Manuskriptmaterial in der „ursprünglichsten Form" veröffentlicht habe, sei er „zu gewissenhaft verfahren" und habe er dem „Gesamtcharakter des Werkes sicherlich geschadet." Statt dessen wäre es darauf angekommen, insgesamt „die Grundzüge des Systems herauszuschälen"; und wenn etwa der zentrale „fünfte Abschnitt (Kredit- und Banklehre) der unvollkommenste im Manuskript war, so hätte er ruhig in ein paar Sätzen resümiert werden, in extenso aber, ohne irgendwo dem System Abbruch zu thun, wegbleiben können." Werner Sombart: Zur Kritik des ökonomischen Systems von Karl Marx. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Berlin 1894, H. 4, S. 555-594. Zitate S. 557f.

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des wissenschaftlichen Sozialismus. 7 Diese Texte existierten gar nicht, so wurde bald gemutmaßt. Unter politischen Gesichtspunkten blieb Engels gar nichts anderes übrig, als auf die Existenz der Marxschen Manuskripte hinzuweisen, ihre baldige Publikation anzukündigen, sie schließlich, wie unvollendet auch immer, zu veröffentlichen8 und - und das war folgenschwer - ein möglichst abgeschlossenes Werk zu suggerieren.9 Die politische Funktionalisierung - verbunden mit dem Gedanken der Popularisierung10 - dominierte also bereits bei Engels das Ziel einer authentischen Erschließung des Marxschen Nachlasses. Dies mag aus zeitgenössischer Sicht und angesichts der von Marx und Engels verfolgten politischen Intentionen zwar legitim sein, verstellt aber zugleich den Blick auf die Frage nach dem sachlichen Gehalt und der theoretischen Konsistenz des „Kapital" - eine Frage, die für Marx immer von größter Bedeutung gewesen ist.11

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Spannung herrschte nicht nur in der deutschen Sozialdemokratie, sondern auch im wissenschaftlichen Umfeld und selbst im Ausland: So hatte der italienische Ökonom Achille Loria seit 1883 behauptet, Marx habe zwar eine Fortsetzung des „Kapitals" angekündigt, aber nie vorgehabt, sie auch zu schreiben. Siehe dazu detailliert die Entstehungs- und Uberlieferungsgeschichten in MEGA 2 11/14 (insbes. S. 391-393, S. 4 4 0 - 4 4 3 und S. 4 8 2 ^ 8 5 ) und MEGA 2 11/15 (insbes. S. 930-942). Dabei hat Engels während seiner redaktionellen Arbeit an den Manuskripten die allseits bereits existierenden hohen Erwartungen in sachlicher wie politischer Hinsicht noch zusätzlich geschürt: So schreibt er über Buch drei des „Kapital" am 4. April 1885 an August Bebel: „Es ist ganz ausgezeichnet brillant. Diese Umwälzung der alten Ökonomie ist wirklich unerhört. Erst hierdurch erhält unsre Theorie eine unerschütterliche Basis und wir werden befähigt, nach allen Seiten siegreich Front zu machen." (MEW. Bd. 36, S. 293f.) Auch gegenüber Sorge kündigt er an, der dritte Band werde „wie ein Donnerschlag wirken, weil da die ganze kapitalistische Produktion erst im Zusammenhang behandelt und die ganze offizielle bürgerliche Ökonomie Uber den Haufen geworfen wird." (3. Juni 1885. In: MEW. Bd. 36, S. 324.) So würdigt Engels im Eingangssatz seines „Vorwortes" den dritten Band als „Abschluß des theoretischen Theils" des „Marx'sehen Hauptwerkes", das nunmehr der Öffentlichkeit übergeben werde - ungeachtet des „äußerst lückenhaften" Charakters der von Marx hinterlassenen Manuskripte, Uber den er im weiteren detailliert Bericht erstattet: So sei etwa zu „Abschnitt V, der den verwickeltsten Abschnitt des ganzen Buches behandelt [...], nicht einmal ein Schema [Uberliefert], sondern nur ein Ansatz von Ausarbeitung, der mehr als einmal in einen ungeordneten Haufen von Notizen, Bemerkungen, Materialien in Auszugsform ausläuft." (MEGA 2 11/15, S. 5, 6 und 8.) Das „Kapital" solle als Kampfmittel der Arbeiter, als „piece de resistance" dienen, schreibt Engels an F. Kelley-Wischnewetzky (13./14. August 1886) und spricht sich für die „Herausgabe einer Reihe von Broschüren" aus, „die in populärer Form ,Das Kapital' wiedergäben." (MEW. Bd. 36, S. 504f.; siehe in diesem Sinne auch Engels an F. A. Sorge, 10. März 1887. In: MEW. Bd. 36, S. 624.) Ungeachtet aller sonstigen politischen Zielsetzungen wollte Marx das „Kapital" gerade nicht als politische Kampfschrift verstanden wissen, sondern als Werk, das allein wissenschaftlichen Geltungsansprüchen verpflichtet sei. „Du verstehst, my dear fellow," - schreibt er an Engels - „daß in einem Werke wie meinem, manche shortcomings im Detail existieren müssen. Aber die Komposition, der Zusammenhang, ist ein Triumph der deutschen Wissenschaft, den ein einzelner Deutscher eingestehn kann, da es in no way sein Verdienst ist, vielmehr der Nation gehört. Dies um so erfreulicher, da es sonst die silliest nation unter dem Sonnenlicht." (20. Februar 1866. In: MEW. Bd. 31, S. 183.) Dem Marxschen Selbstverständnis nach handelt es sich bei seinem ökonomischen Planentwurf also um ein Systemkonzept in der Tradition der deutschen Philosophie und Wissenschaft. Dafür spricht auch, daß er in den folgenden Passagen seines Briefes anerkennend neue Untersuchungen von Justus Liebig und dessen Bezugnahme auf Hegel referiert, um dann mit folgendem Satz zu schließen: „I feel proud of the Germans. It is our duty to emancipate this ,deep' people." In diesem Sinn plante Marx seit jeher, seine Kritik der bürgerlichen „Ökonom. Categorien" ganz in der Methodik der deutschen Philosophie durchzuführen: als „Darstellung des Systems u. durch die Darstellung Kritik desselben." (Marx an F. Lassalle, 22. Februar 1858. In: MEGA 2 III/9, S. 72.)

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Auch in den folgenden Jahrzehnten bis 1989 haben die Staatsparteien keinen Zweifel daran zugelassen, daß der Fragment gebliebene Systementwurf des „Kapital" als das (ausgearbeitete) Hauptwerk des Marxismus-Leninismus anzusehen sei. Diese Politisierung galt selbstverständlich nicht nur für den hier als Beispiel gewählten Fall des „Kapital", sondern sie erstreckte sich auf das gesamte (Euvre von Marx (und Engels). 12 Der Primat der Ideologie wurde allerdings auch in Frage gestellt, und zwar bereits zu einem frühen Zeitpunkt. Der Ketzer war David Rjazanov (1870-1938), ein bedeutender russischer Gelehrter, der seit 1907 im deutschen und schweizerischen Exil lebte.13 Als der Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1924 beschloß, eine Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels edieren zu lassen, wurde Rjazanov damit beauftragt, der bereits in den Jahren zuvor, nach der Revolution, eine umfassende Bibliothek und ein Archiv zur europäischen Sozialgeschichte in Moskau eingerichtet hatte. Zwischen 1917 und 1930 hat das Marx-Engels-Institut (MEI) unter seiner Leitung mehr als 450.000 Bücher und Flugschriften sowie 15.000 Originaldokumente und 150.000 Fotokopien - darunter Verfilmungen der Handschriften von Marx und Engels - zusammengetragen. Damit war Rjazanov einerseits der ideale Herausgeber; andererseits aber auch wieder nicht: Rjazanov konzipierte nämlich als Philologe, der er war, eine Marx-Engels-Gesamtausgabe, die auf 40 Bände angelegt wurde, und in der alles von Marx und Engels Überlieferte ediert werden sollte, und zwar in historisch-kritischer Form: 14 „Unsere Ausgabe will vor allem die objektive Grundlage für jede Marx-Engels-Forschung bieten, d. h. die gesamte geistige Hinterlassenschaft Marxens und Engels' in übersichtlicher Anordnung zuverlässig reproduzieren." 15 Was Rjazanov damit ins Leben gerufen hatte, war die erste Marx-EngelsGesamtausgabe, die sogenannte „erste MEGA", die auf 40 Bände in drei Abteilungen konzipiert war. Rjazanov wollte nicht nur die parteipolitisch erwünschten Arbeiten drucken, sondern den vollständigen Nachlaß. Bereits früher hatte er hunderte bislang unbekannter Artikel von Marx und Engels in der amerikanischen bürgerlichen Presse publiziert und sich dafür eingesetzt, auch die Marxschen Entwürfe zum „Kapital" zu publizieren, um „mit dem unmittelbaren Material arbeiten zu können." 16 Nun ging er im Rahmen der MEGA außerdem daran, die philosophischen Frühschriften zu bearbeiten, die die Verwurzelung von Marx in der Philosophie des Deutschen Idealismus 12

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Als weiteres Beispiel für die umgehend einsetzende ideologische Vereinnahmung sei an die von Bebel und Bernstein 1913 herausgegebene, lückenhafte Ausgabe des Briefwechsels zwischen Marx und Engels erinnert, in der das Material aus „propagandistischen Rücksichten" selektiert und zurechtredigiert wurde (Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx 1844 bis 1883. Hrsg von A. Bebel und Ed. Bernstein. 4 Bde. Stuttgart 1913). Siehe dazu jetzt im einzelnen und mit Bezug auf Archivmaterial: MEGA2 III/9, S. 657-666. Zitat S. 664. Siehe: David Rjasanow. Marx-Engels-Forscher, Humanist, Dissident. Hrsg. und mit einem biographischen Essay versehen von Volker Külow und Andre Jaroslawski. Berlin 1993. Siehe außerdem die jüngst veröffentlichten Dokumente in: Stalinismus und das Ende der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe (1931-1941). Berlin, Hamburg 2001 (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge. Sonderband 3). Siehe Siegfried Bahne: Zur Geschichte der ersten Marx/Engels-Gesamtausgabe. In: Arbeiterbewegung und Geschichte. Festschrift fur Shlomo Na'aman zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Peter Harstick, Arno Herzig, Hans Pelger. Trier 1983, S.146-165. (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus Trier. 29.) David Rjazanov: Vorwort zur Gesamtausgabe. In: MEGA1 1/1. Frankfurt a. M. 1927, S. XXII. Rjasanow. Marx-Engels-Forscher (Anm. 13). S. 17 und S. 54-63. Zitat S. 22.

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dokumentieren. Und tatsächlich wurden die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" und die „Deutsche Ideologie" hier erstmals publiziert. Allerdings kam Rjazanov nicht weit. 1927 ist der erste Band der ersten MEGA erschienen, 1930 wurde er aus der Partei ausgeschlossen und zusammen mit seinen Mitarbeitern - zu denen auch Georg Lukäcs gehörte - verbannt.17 Am 21. Januar 1938 wurde Rjazanov wegen Verrat an der Sowjetunion zum Tode verurteilt und hingerichtet. Von der ersten MEGA sind insgesamt elf Bände, darunter auch Briefbände, erschienen, nach Rjazanovs Absetzung unter orthodoxer Leitung, bevor das Unternehmen 1935 endgültig abgebrochen wurde. Wie ging es weiter mit der Publikation des Marxschen Werkes?18 Das Parteiinstitut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der KPdSU nahm die Sache wieder selbst in die Hand und publizierte bis 1966 zwei russische Werkausgaben. Von Bedeutung ist insbesondere die zweite „Socinenija", erschienen zwischen 1954 und 1966 in 39 Bänden plus Ergänzungsbänden. Denn es handelt sich hier um die bis dahin umfassendste Veröffentlichung des literarischen Erbes von Marx und Engels - und diese erschien zuerst in russischer Sprache. Hinzu kommt, was wenig bekannt ist, daß die deutschsprachigen „Marx-Engels-Werke" (MEW genannt), ebenfalls 39-bändig und herausgegeben vom deutschen Institut für Marxismus-Leninismus (IML) beim Zentralkomitee der SED in Inhalt, nach Anlage und Editionsprinzipien auf ebendieser russischen Ausgabe basieren.19 Die zwischen 1956 bis 1968 (also mit jeweils zweijährigem Zeitverzug zur russischen Ausgabe) publizierten Bände der MEW haben eine Gesamtauflage von mehreren Millionen Exemplaren erreicht und sind bis heute in Nutzung. Aus editorischer Perspektive bieten die MEW ein widersprüchliches Bild. Einerseits entspricht die Edition dem Typus einer Studienausgabe mit dem Anspruch, alle abgeschlossenen Werke, Schriften und Artikel, nebst einer Auswahl an Manuskripten und Entwürfen sowie alle Briefe von Marx und Engels zu publizieren. Die MEW enthalten 1700 Schriften, einschließlich einiger bis dato unbekannter Arbeiten, und 4170 Briefe, darunter erstmals auch die Briefe von Marx und Engels an dritte Personen.20 So bietet die Edition einerseits eine vergleichsweise umfassende Textdokumentation. Andererseits aber soll die Ausgabe „das geistige Rüstzeug des Proletariats in seinem Kampf gegen die kapitalistische Sklaverei" liefern, wie es in realsozialistischer Kampfprosa im Vorwort des ersten Bandes heißt. Die MEW sollen mithin der Kanonbildung sozialistischen Gedankengutes dienen und ebendies verhindert eine 17

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Die Säuberungen am Moskauer MEI fanden bereits 1931 statt, was spätere Darstellungen anzweifelbar erscheinen läßt, nach denen die erste MEGA primär ein Opfer der „Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland" geworden ist. Siehe in diesem Sinne beispielsweise Rolf Dlubek: Frühe Initiativen zur Vorbereitung einer neuen MEGA (1955-1958). In: Zur Kritik und Geschichte der MEGA2. Hrsg. von Carl-Erich Vollgraf, Richard Sperl und Rolf Hecker. Hamburg 1992, S. 43-55. Zitat S. 43. (Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2. 1992.) Dazu ausführlich Richard Sperl: Marx-Engels-Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta. Tübingen 2005, S. 329-360. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. (MEW.) Bd. 1-39. Berlin 1956-1968. Ergänzungsbände l ^ t . Berlin 1967-1989. Siehe dazu Sperl: Marx-Engels-Editionen (Anm. 18).

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adäquate Werkpräsentation. Denn zum einen wurden aus diesem Grund Texte selektiert und unterdrückt. Dies betrifft die Unterschlagung sämtlicher an Marx und Engels gerichteter Briefe sowie die Unterdrückung von politischen Schriften wie Marx' „Revelations on the diplomatic history in the 18th century",21 vor allem aber die philosophischen Frühschriften wie die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte", die zunächst weggelassen und erst viele Jahre später, nach Protesten selbst im Ostblock, in einem Ergänzungsband publiziert wurden. Zum zweiten aber, und das ist fast schwerer noch zu gewichten, führen die ideologische Kontamination und politisch motivierte Interpretationsvorgaben in den MEW durchgängig zu einer verfehlten Kommentierung, so daß eine adäquate Situierung der Marx-Engelsschen Texte im historischen Kontext verhindert wird. Ein eher kurioses Beispiel hierfür ist, daß gekränkter russischer Nationalstolz eine angemessene Würdigung der militärwissenschaftlichen Arbeiten von Engels nicht zuließ.22 Die gravierende Bedeutung solcher interpretatorischer Vorgaben soll unten noch am Beispiel der „Deutschen Ideologie" erörtert werden. Der ideologische Umgang mit dem Werk von Marx hatte indessen auch im Westen seine Entsprechung. Denn selbstverständlich ist die Tatsache, daß weder in der Bundesrepublik noch in einem anderen Land - ζ. B. in den Niederlanden, wo große Teile des Marxschen Nachlasses lagern, oder in Großbritannien, wo Marx einen Großteil seiner Lebenszeit verbracht hat - irgend eine Institution eine umfassende und textkritische Marx-Ausgabe begonnen hat, ein eminent politisches Faktum: Marx als „stärkste geistige Kraft des 19. Jahrhunderts" 23 wurde damit im Westen aus einem (wie immer zu definierenden) Kanon der Klassiker ausgegliedert. Außerdem konnte so die MEW-Edition des SED-Regimes auch im Westen zur Standardausgabe avancieren, selbst für die vorzüglich ausgewählte und exzellent kommentierende, seit 1966 wiederholt aufgelegte vierbändige Studienausgabe Iring Fetschers. Auch in der umfangreichsten Edition der Bundesrepublik, der im Cotta-Verlag Anfang der 1960er Jahre erschienenen sechsbändigen Studienausgabe, beklagt der Herausgeber HansJoachim Lieber die „noch immer fehlende Marx-Engels-Gesamtausgabe" und muß seine Textauswahl deshalb auf MEW und die erste MEGA gründen.24 Ansonsten aber verstand sich Liebers Edition als Korrektiv zur ostdeutschen Ausgabe: Wurde im Osten die Einheit des Werkes von Marx und Engels betont, so legt Lieber Wert auf die bewußte Trennung und präsentiert eine reine Marx-Edition, noch dazu fokussiert auf die in den ostdeutschen Ausgaben bis dato noch immer fehlenden politischhistorischen Schriften - wie die oben genannten, in den MEW unterdrückten „Revela-

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Auch die Panslawismus-Studien von Engels wurden nicht aufgenommen. Sie finden sich jetzt in Band 1/14 der MEGA 2 (Berlin 2001). Er habe in seinen Beiträgen zum amerikanischen Konversationslexikon „New American Cyclopaedia" eine „einseitige Beurteilung der Schlacht von Borodino gegeben und, wie in dem Aufsatz .Barclay de Tolly', die Rolle des großen russischen Feldherrn Μ. I. Kutusow herabgesetzt." Der Grund für diese verzerrte Darstellung der „russischen Kriegskunst" wird in „tendenziösen Arbeiten der westeuropäischen Historiker" gesehen, auf die Engels sich stützen mußte. (MEW. Bd. 14, S. XIII und S. 746f.) Werner Blumenberg: Karl Marx in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1962 (u.ö.), S. 7. Karl Marx: Werke, Schriften, Briefe. Hrsg. von Peter Furth und Hans-Joachim Lieber. Stuttgart 19601964. Zitat Bd. I, S. 989.

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tions on the diplomatic history in the 18th century"25 - und auf die philosophischen Frühschriften. Auf diese Weise bewegte sich die Marx-Engels-Edition stets im Spannungsfeld der Politik.26 Währenddessen hat es insbesondere in der DDR immer wieder Bestrebungen gegeben, die von Rjazanov begonnene kritische Gesamtausgabe fortzuführen oder neu zu beginnen. In den sechziger Jahren gelang es, Ulbricht dafür zu gewinnen, „den besten Söhnen des deutschen Volkes",27 wie sie damals dort hießen, ein solches Ehrenmal zu errichten - ja, Ulbricht schrieb in dieser Sache 1964 sogar an Chrustchow.28 Doch Moskau war skeptisch: Es seien die Texte, die man zur Stützung des ideologischen Kanons brauche, bereits publiziert. Überdies untersagte Moskau jede Verwendung des Attributs „kritisch", auch im Titel einer historisch-kritischen Ausgabe und schließlich könne es nicht angehen, daß - bei aller Bedeutung von Marx und Engels die projektierte Gesamtausgabe doppelt so viele Bände umfassen solle wie die Ausgabe der Werke Lenins. Es herrschte Skepsis gegen einen zersetzenden , Akademismus" und einen relativierenden Historismus. Allenfalls wollte man eine politische Studienausgabe zubilligen. Nach über zehnjährigen Verhandlungen kam das deutschsowjetische Renommierprojekt einer neuen ,Marx-Engels-Gesamtausgabe" zustande: 1975 erschien der erste Band der „zweiten" MEGA. Die Ausgabe - die nicht historisch-kritisch heißen durfte, es aber nach den zugrunde liegenden philologischen Editionsprinzipien gleichwohl war - war auf 165 Doppelbände (Edierter Text und Apparat jeweils separat gebunden) angelegt, die in vier Abteilungen unterteilt waren: (I.) (II.) (III.) (IV.)

Werke, Artikel, Entwürfe (35 Bände); Das Kapital und Vorarbeiten (15 Bände); Briefwechsel, der jetzt komplett, mit An-Briefen gedruckt wurde (40 Bände); Exzerpte, weiteres Manuskriptmaterial und Buchmarginalien (75 Bände).

Die bereits im Vorfeld 1972 in einem Probeband öffentlich zur Diskussion gestellten Editionsrichtlinien orientierten sich an modernen neugermanistischen Editionskonzepten und wurden von der Fachwelt in Ost und West positiv aufgenommen.29 Somit erfolgte die Edition nach folgenden Grundsätzen:30

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Dt.: Enthüllungen zur Geschichte der Diplomatie im 18. Jahrhundert. In: Karl Marx: Politische Schriften. Bd. 2. Hrsg von Hans-Joachim Lieber. Stuttgart 1960, S. 727-832. (= Karl Marx: Werke, Schriften, Briefe. Bd. III/2.) Siehe dazu die umfassende Darstellung von Jürgen Rojahn: Edition im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft (Marx/Engels). In: Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Ringvorlesung des Studiengebiets Editionswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Hrsg. von HansGert Roloff. Berlin 1998, S. 133 - 2 0 4 . Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: MEW. Bd. 1., S. IX. Siehe Rolf Dlubek: Frühe Initiativen (Anm. 17); Rolf Dlubek: Die Entstehung der zweiten MarxEngels-Gesamtausgabe im Spannungsfeld von legitimatorischem Auftrag und editorischer Sorgfalt. In: MEGA-Studien. Amsterdam 1994. Η. 1, S. 60-106. Siehe: Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA 2 ). Probeband. Editionsgrundsätze und Probestücke. Berlin 1972. Zur internationalen Resonanz auf den Probeband siehe Dlubek: Die Entstehung der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe (Anm. 28), S. 87-91. Verkürzte Wiedergabe nach Sperl: Marx-Engels-Editionen (Anm. 18), Abschnitt 2.3.

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1. Absolute Vollständigkeit und Originalsprachigkeit. Nur dadurch kann eine wie immer motivierte tendenziöse Auswahl ausgeschlossen werden. Alle überlieferten Fassungen eines Werkes sind als gleichberechtigt zu betrachten. 2. Strikte chronologische Anordnung der Texte innerhalb der Abteilungen. 3. Eigene Textkonstitution mit originalgetreuer Wiedergabe entsprechend den zugrunde liegenden Textzeugen unter Beibehaltung ihrer Orthographie und Interpunktion. Keine Textkontaminationen. Nachweis redaktioneller Eingriffe. 4. Vollständige Darstellung der Textgenese sowohl innerhalb handschriftlicher als auch bei Druckfassungen. (Insbesondere dieses Prinzip mußte gegen den Widerstand der Weimarer Forschungs- und Gedenkstätten, aber auch der russischen Seite durchgesetzt werden, die darauf beharrten, daß „die ,Genesis' der einzelnen Texte zu dokumentieren" nicht Aufgabe einer Edition sein könne.)31 5. Schließlich eine umfassende erläuternde Texterschließung durch Darstellung der Entstehung und Überlieferung, Erläuterungen und Registerapparat. In Berlin und Moskau sowie an universitären Arbeitsgruppen arbeiteten etwa 150 Editoren an der Ausgabe, so daß die MEGA 2 das größte deutsch-sowjetische Gemeinschaftsprojekt auf geisteswissenschaftlichem Gebiet war. Allerdings blieb die Edition weiterhin Parteisache - Herausgeber waren die Institute für Marxismus-Leninismus bei den Zentralkomitees der SED und der KPdSU - und deshalb erfolgte auch diese Edition nicht ohne politische Vorgaben: Nicht nur sollten sich die „Herausgeber [...] von Lenins Ausführungen über die Entstehung, die Herausbildung und die wichtigsten Entwicklungsetappen des Marxismus leiten" lassen32, was in den Bandeinführungen und durch die Kommentierung erfolgte, wo die edierten Texte ihre teleologischen Bezugsrahmen erhielten. Auch andere Teile des Apparates waren pejorativ gehalten, wobei man sich in einer Zwischenbilanz nach dem Erscheinen der ersten zehn Bände sogar noch für eine „Verstärkung der klaren, parteilichen Argumentation im Kommentar" aussprach33. In Sachregistern wurde der Charakter einer historisch-kritischen Ausgabe geradezu verkehrt, wenn es hieß, sie sollten „vor allem alle theoretischen und politischen Begriffe des Marxismus" enthalten34 - anstatt derjenigen der Autoren - und auch die Personenregister dienten der politischen Qualifizierung. Insgesamt gesehen hinderte die parteipolitische Ausrichtung daran, der Kommentierung einen adäquaten Forschungsstand zugrunde zu legen, da nichtmarxistische Arbeiten keine Berücksichtigung fanden. Zudem finden sich politisch motivierte Eingriffe nicht nur in der Kommentierung, sondern auch auf der Ebene der Textdarbietung selbst. Beispielsweise wird das der Ausgabe zugrunde liegende Prinzip der chronologischen Textanordnung bereits im ersten Band schon nicht eingehalten, indem Texte, mit denen „Marx in die theoretische

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Zitiert nach Dlubek: Die Entstehung der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe (Anm. 28), S. 89. Vorwort zur Gesamtausgabe. In: MEGA2 1/1, S. 28*. Erich Kundel, Alexander Malysch: Bilanz und Perspektiven. Ein Bericht der Sekretäre der Redaktionskommission über die Herausgabe der Marx-Engels-Gesamtausgabe nach dem Erscheinen der ersten zehn Bände. In: Marx-Engels-Jahrbuch 4. Berlin 1981, S. 263-305. Zitat S. 290. Kundel, Malysch: Bilanz und Perspektiven. Ebd. S. 291.

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und politische Auseinandersetzung seiner Zeit eingriff' 35 demonstrativ an den Anfang des Bandes gestellt und damit akzentuiert wurden. Im Exzerpt-Band IV/2 sind die früheren Marxschen Studien deutscher Ökonomen (Schütz, List, Oslander) den später entstandenen, aber theoretisch avancierteren Bearbeitungen englischer und französischer Autoren (Smith, Ricardo, Destutt de Tracy) nachgestellt.36 In anderen Fällen wurden die chronologisch-genetische Anordnungen von Manuskripten noch um logisch-systematische Rekonstruktionen von ,Werken' ergänzt.37 Auch die Einrichtung einer eigenen zweiten Abteilung „Das Kapital und Vorarbeiten" korrespondierte der allseits verkündeten Auffassung, daß es sich beim „Kapital" um Marxens „Hauptwerk" handele, ungeachtet seines hier eingangs geschilderten Fragmentcharakters, der dabei unterschlagen wurde.38 In der dritten Abteilung wurden die an Marx und Engels gerichteten Briefe separiert. Bezüglich der Textdarbietung verbesserten die Korrektur sogenannter Sachirrtümer und vereinheitlichende Eingriffe in die Marxsche Schreibweise keineswegs nur die Lesbarkeit der Texte, sondern suggerierten dadurch vielfach final ausgearbeitete Texte von Marx, besonders dort, wo Exzerpte und Manuskriptmaterial publiziert wurden. Schließlich ist daran zu erinnern, daß gelegentlich auch die Edition unliebsamer Texte einfach eingestellt wurde. Eine solche Zensur gab es bei der Edition der Manuskripte von Marx zur polnischen Frage (1863/64) mit ihren rußlandkritischen Passagen, mit deren Edition begonnen worden war, die aber 1981, bedingt durch den erfolgreichen Verlauf der Solidarnosc-Bewegung in Polen, eingestellt werden mußte. Letztendlich also stand auch die historisch-kritische Edition der MEGA 2 unter dem Primat des Politischen. Es war daher klar, daß nach 1989, als die Parteiinstitute in Berlin und Moskau geschlossen wurden, auch die Ausgabe eingestellt wurde. 40 Bände waren bis dahin erschienen, und offensichtlich sollte das Projekt einer Publikation aller Marxschen Schriften in authentischer Form erneut scheitern. Drei Optionen bestanden zu Beginn der 1990er Jahre für die MEGA2: Abbruch der Edition, völliger Neuanfang oder Fortführung auf modifizierter Grundlage. Der Abbruchoption standen zahlreiche Initiativen von Wissenschaftlern, vor allem aus dem Ausland, die zur Weiterführung der Ausgabe aufgerufen hatten, mithin also die Weltgeltung des Marxschen Denkens entgegen. Ein völliger Neuanfang war insofern nicht nötig, als die Begutachtung der Ausgabe unter dem Vorsitz von Dieter Henrich zu

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MEGA 2 I/1,S. 81*. Solche Anordnungsfragen sind keineswegs äußerlicher Art. Dies zeigt in diesem Zusammenhang die interessante Hypothese von Jürgen Rojahn, daß Marx möglicherweise seine ökonomischen Studien im Kontext seiner umfassenden philosophischen Kritik an den „zurückgebliebenen" Deutschen begonnen habe und nicht von Beginn an bereits eine Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft mittels Kritik der politischen Ökonomie im Blick gehabt habe. (Jürgen Rojahn: Die Marxschen Manuskripte aus dem Jahre 1844 in der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: Archiv für Sozialgeschichte. Bd. XXV. Bonn 1985, S. 647-663; hier S. 658.) So im Falle der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" (MEGA2 1/2) und der „Dialektik der Natur" (MEGA 2 1/26). Zwar war auch in der ersten MEGA die Einrichtung einer eigenen „Kapital"-Abteilung vorgesehen, jedoch wurde hier viel zurückhaltender (und zutreffender) von „Marxens ökonomischer Hauptarbeit" gesprochen, der die Abteilung gewidmet sein sollte (MEGA11/1. Vorwort, S. XXV).

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dem Ergebnis kam, daß sie „als Edition auf hohem Niveau erfolgt sei",39 so daß man sich zur Fortführung auf modifizierter Grundlage entschließen konnte. Die Reorganisation der MEGA 2 erfolgte in vier Schritten: 40 Am Anfang stand 1990 die institutionelle Neuordnung mit der Gründung der Internationalen Marx-EngelsStiftung (IMES) mit Sitz in Amsterdam, deren Zweck es ist, „auf rein wissenschaftlicher Grundlage und politisch unabhängig" die Arbeit an der Marx-Engels-Gesamtausgabe fortzuführen, und die seit dem als Herausgeberin der MEGA 2 -Bände fungiert. 41 1992 kam es auf einer internationalen Editoren-Konferenz in Aix-en-Provence zur Neufassung der Editionsrichtlinien, die in ihrem Kern vor allem auf noch strengere Texttreue, exakten Nachweis der verwendeten Forschungsliteratur und strikte weltanschauliche Neutralität in der Kommentierung verpflichtet. 42 In diesem Zusammenhang erfolgte als dritter Schritt die Redimensionierung des Projektes von zuvor 165 auf jetzt 114 Doppelbände. Viertens schließlich kam es zum Verlagswechsel vom parteinahen Dietz Verlag zum Akademie Verlag. Die Editionsarbeiten wurden 1994 mit einem kleinen Mitarbeiterstab an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften wieder aufgenommen. Damit erhielt die MEGA zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Heimstatt an einer deutschen Akademie. Von hier aus wird seit dem die Arbeit von Projektgruppen in Moskau, Amsterdam, Trier, Italien, Dänemark und Japan, wo jeweils einzelne Bände bearbeitet werden, koordiniert. Im Jahr 1998 ist dann der erste nach diesen neuen Editionsprinzipien bearbeitete Band erschienen, der starke Beachtung gefunden hat, und anläßlich dessen „Die Zeit" schrieb: „Die MEGA ist im wahrsten Wortsinne ein Säkularunternehmen, und ihr Anfang, ihr Scheitern und ihr Wiederauferstehen spiegeln geradezu paradigmatisch die geschichtlichen Tragödien des 20. Jahrhunderts wider. Wenn sie [...] abgeschlossen sein wird, werden es ziemlich exakt hundert Jahre gewesen sein, die nötig waren, um das Werk von Marx und Engels der lesenden Öffentlichkeit originalgetreu, das heißt unzensiert, zu erschließen." 43

Seit dem sind weitere neun Bände aus allen Abteilungen der MEGA 2 publiziert worden, die in vierstelliger Auflage weltweite Verbreitung finden; zuletzt wurde im Februar 2005 in Bonn der insgesamt fünfzigste Band der Ausgabe der Öffentlichkeit

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Dieter Henrich: Die Marx-Engels-Gesamtausgabe in der Akademieforschung. In: Akademie-Journal. Mitteilungsblatt der Konferenz der deutschen Akademien der Wissenschaften. 1993. H. 2, S. 20. Siehe Jürgen Rojahn: Und sie bewegt sich doch! Die Fortsetzung der Arbeit an der MEGA unter dem Schirm der IMES. In: MEGA-Studien. Amsterdam 1994. Η. 1, S. 5-31. Zitat aus der Satzung der IMES. Mitgliedsinstitutionen der IMES sind das Internationale Institut für Sozialgeschichte (IISG, Amsterdam), das Historische Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften sowie das Staatliche Russländische Archiv für Sozial- und Politikgeschichte (Moskau). Das Sekretariat befindet sich seit dem Jahr 2000 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die Organisationsstruktur und der jeweils aktuelle Bearbeitungsstand der MEGA 2 sind auf der Homepage detailliert dargestellt. Siehe unter: http://www.bbaw.de/bbaw/Forschung/Forschungsprojekte/mega/de. Das Regelwerk liegt in Buchform vor: Editionsrichtlinien der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Hrsg. von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung. Berlin 1993. Hans-Martin Lohmann: Säkulares Unternehmen. Ein Uberfälliger Akt historischer Gerechtigkeit: die Fortsetzung der Marx-Engels-Gesamtausgabe. In: Die Zeit. 25. Februar 1999, S. 52.

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präsentiert.44 Soviel zur äußeren Geschichte des Werkes von Marx in seinen Editionen. Im zweiten Teil meines Beitrages soll in knapper Form der intellektuelle Ertrag skizziert werden, den die Bände der restituierten MEGA 2 erwarten lassen bzw. bereits erbracht haben. Eingangs sei noch einmal hervorgehoben, daß gerade ihre philologische Substanz es war, die das einstige Politunternehmen der MEGA 2 über den politischen Epochenwechsel hinweg gerettet hat. Insofern war am philologischen Kern der MEGA2 nach 1990 eigentlich wenig zu revidieren, es galt aber, dem Primat der Philologie auch konsequent Geltung zu verschaffen. Neu war demgegenüber die Aufgabe der Entpolitisierung der Edition, insbesondere in der Kommentierung. An die Stelle des früheren, politisch motivierten teleologischen Deutungs- und Editionsimperativs ist nunmehr das Prinzip der konsequenten Historisierung des Marxschen Werkes getreten. Dies meint eine intellektuelle Kontextualisierung, die das Marxsche Denken im Zusammenhang seiner Zeit und ihres Problem- und Fragehorizontes verortet.45 Welche neuen Perspektiven auf das Marxsche Werk sich aus einer solchen Optik ergeben, soll nun anhand einiger Beispiele aus neu erschienenen Bänden illustriert werden. Für die erste, die „Werke"-Abteilung, möchte ich dafür zunächst auf die bereits erwähnte „Deutsche Ideologie" zurückkommen. Die „Deutsche Ideologie" wird in Band 1/5 der MEGA2 nicht mehr wie bisher als geschlossenes Werk ediert. Denn die Textzeugen belegen, daß es weder im Frühjahr noch im Herbst 1845 den Plan eines zweibändigen Werkes „Die deutsche Ideologie" gab. Vielmehr begannen Marx und Engels die Kritik der nachhegelschen Philosophie mit einem Artikel gegen Bruno Bauer, dessen Entwurf aus den überlieferten Originalhandschriften teilweise rekonstruiert werden kann. Erstmals werden deshalb nunmehr - in einer Vorauspublikation bereits jetzt zugänglich46 - die Entwürfe, Notizen und Reinschriften-Fragmente, die in den bisherigen Editionen mit Hypothesen und Interpretationen der Herausgeber zu einem Kapitel „I. Feuerbach" konstituiert worden sind, als selbständige Textzeugen dargeboten und so ediert, wie sie von den Autoren hinterlassen worden sind. Demgegenüber waren frühere Ausgaben zumeist von der politischen Intention geprägt, die systematische Ausformulierung des Historischen Materialismus in der „Deutschen Ideologie" nachzuweisen. So heißt es im Vorwort zur MEW-Ausgabe der „Deutschen Ideologie", Marx und Engels hätten die „Ausarbeitung des historischen Materialis44

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Die Festvorträge von Herfried Münkler („Die Aktualität des Karl Marx - Marx gegen den Marxismus gelesen"), Bertram Schefold (,„Das Kapital' Band 3: Ausgangspunkt von Wegen und Irrwegen des ökonomischen Denkens im 20. Jahrhundert") und Izumi Omura („Der Beitrag japanischer Wissenschaflter zur Fertigstellung der MEGA") sind dokumentiert in: Karl Marx. Neue Perspektiven auf sein Werk. Hrsg. von Beatrix Bouvier. Bonn 2005. (Gesprächskreis Politik und Geschichte im Karl-MarxHaus. H. 2.) Siehe dazu auch: Gerald Hubmann, Herfried Münkler, Manfred Neuhaus: „ . . . e s kömmt drauf an, sie zu verändern". Zur Wiederauftiahme der MEGA. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Berlin 2001. H. 2, S. 299-311. Siehe Karl Marx, Friedrich Engels, Joseph Weydemeyer: Die deutsche Ideologie. Artikel, Druckvorlagen, Entwürfe, Reinschriftenfragmente und Notizen zu I. Feuerbach und II. Sankt Bruno. In: MarxEngels-Jahrbuch 2003. Berlin 2004. Die Publikation sämtlicher Texte der „Deutschen Ideologie" in MEGA 2 1/5 ist fur das Jahr 2008 vorgesehen.

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mus" in der Deutschen Ideologie „beschlossen" und „dessen grundlegende Leitsätze im ersten Abschnitt dieses Werkes zum erstenmal ausführlich dargelegt".47 Es sind aber weder solche Autorintentionen nachweisbar48 noch die Konstitution eines geschlossenen Werkes. Auch wurde das Manuskriptkonvolut von Marx und Engels bekanntlich nicht publiziert, sondern, da nach Aussage von Marx der „Hauptzweck" in der „Selbstverständigung" gelegen hatte, der „nagenden Kritik der Mäuse" überlassen.49 In der MEGA 2 wird deshalb unter ihrem neuen philologischen Paradigma nun nicht mehr arrangiert oder weitergeführt, was durch die Autoren nicht vollendet wurde. Keineswegs aber muß der philologische Zugriff auf das Werk von Marx nur dekonstruktive Züge tragen; er kann durchaus auch rekonstruktiv sein. So konnten im jüngst erschienenen Band 1/14, der die journalistischen Arbeiten von Marx und Engels aus dem Jahr 1855 enthält - es handelt sich um fast 200 Zeitungsartikel, zumeist für die „New York Tribune" verfaßt - , durch detaillierte Autorschaftsanalysen 21 neue Arbeiten von Marx oder Engels identifiziert werden.50 Umgekehrt konnten in anderen Buchausgaben unter ihrem Namen neu abgedruckte journalistische Arbeiten als eindeutig nicht von Marx oder Engels verfaßt falsifiziert werden.51 Das aber heißt: Das Werk selbst erhält durch Editionsphilologie noch immer neue Konturen.52 In der II. Abteilung, ,„Das Kapital' und Vorarbeiten" suggeriert die neue MEGA 2 nicht mehr ein „Hauptwerk", sondern beschränkt sich darauf, die zugrunde liegenden

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Zitate aus dem „Vorwort" der MEW-Ausgabe der „Deutschen Ideologie" (MEW. Bd. 3, S. VI-VIII). In ähnlich zirkulärer Argumentation - denn wie hätten Marx und Engels vorher beschließen können, eine welthistorisch neue Theorie wie den dialektischen und historischen Materialismus auszuarbeiten? werden auch in anderen Bänden die jeweiligen Texte in ihre teleologischen Kontexte eingeordnet. So finden sich ähnliche Formulierungen auch im Vorwort zum ersten Ergänzungsband, in dem 1968 endlich die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" präsentiert wurden; und wie die „Deutsche Ideologie" bereits im Keim die Lehre von der „Diktatur des Proletariats" enthalte (MEW. Bd. 3, S. VIII), so soll umgekehrt „ein richtiges Verstehen der frühen Arbeiten von Marx und Engels" nur möglich sein auf der Grundlage einer ,,genaue[n] Kenntnis des ,Manifests der Kommunistischen Partei', des .Kapitals'" und anderer Grundschriften der marxistischen Bewegung (MEW. Erg.bd. 1, S. VII). Marx spricht lediglich davon, er und Engels hätten begonnen, ihre Ansicht „gegen die ideologische der deutschen Philosophie gemeinschaftlich auszuarbeiten", um mit ihrem „ehemaligen philosophischen Gewissen abzurechnen." (Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Erstes Heft. Vorwort. In: MEGA 2 II/2, S. 102f.) Ebd. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Artikel, Entwürfe. Januar bis Dezember 1855. In: MEGA 2 1/14. Berlin 2001. - Unter inhaltlichen Gesichtspunkten zeigen die journalistischen Arbeiten von Marx eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem parlamentarischen System Großbritanniens, die es für die Forschung erst noch auszuwerten gilt. Siehe Karl Marx, Friedrich Engels: Rußlands Drang nach Westen. Der Krimkrieg und die europäische Geheimdiplomatie im 19. Jahrhundert. Mit einem Nachwort von Lothar Rühl. Zürich 1991. Einige der hier abgedruckten Arbeiten sind nicht von Marx oder Engels verfaßt. Siehe dazu: MEGA 2 1/14, S. 899. Auch in Bezug auf die „Neue Rheinische Zeitung" (1848/49) konnten im Rahmen der Editionsarbeiten an den MEGA 2 -Bänden 1/7—1/9 durch detaillierte Autorschaftsanalysen über die bereits bekannten ca. 420 Beiträge von Marx und Engels hinaus bislang 85 weitere Arbeiten nachgewiesen werden. Dem stehen auch hier Artikel gegenüber, die zwar bislang Marx oder Engels zugeschrieben wurden, von diesen aber nicht verfaßt sind. So konnte beispielsweise jüngst gezeigt werden, daß die 13 Beiträge der Artikelfolge „Affäre Risquons-Tout" (Neue Rheinische Zeitung, 12. August bis 3. September 1848) nicht von Engels, sondern von Georg Weerth verfaßt wurden. (Siehe dazu den Beitrag von F r a n c i s Melis im Marx-Engels-Jahrbuch 2005).

Von der Politik zur Philologie: Die

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Manuskripte von Marx, die Redaktionsmanuskripte von Engels und die Druckfassungen der Bände zwei und drei authentisch zu rekonstruieren und miteinander zu verknüpfen: Durch detaillierte Verzeichnisse kann jeder Textstelle der Druckfassung die entsprechende Marxsche Manuskriptstelle zugeordnet werden, und auch die Zusätze und Textveränderungen durch Friedrich Engels sind in eigenen Aufstellungen erfaßt. Damit wird der Forschung ein Instrument zur Verfügung gestellt, um über den Stand der Ausarbeitung des „Kapital" sachkundig urteilen zu können. Eines aber läßt sich jetzt bereits sagen: Das „Kapital" wird nach der Veröffentlichung in der MEGA 2 - die im kommenden Jahr vollendet sein wird - wohl nicht mehr als geschlossenes dreibändiges Werk angesehen werden können. Der philologische Befund legt vielmehr nahe, statt dessen von einem Fragment gebliebenen Entwurf oder von einem Forschungsmanuskript zu sprechen - wobei vor allem die überlieferten Manuskripte zum dritten Buch den Eindruck erwecken, daß das Marxsche Denken in den 1870er Jahren eine neue Wendung genommen hat: So beschäftigte er sich beispielsweise intensiv mit dem Wachstumspotential der USA und deren Geldmärkten.53 Die bislang fast ausschließlich unveröffentlichten Manuskripte und Exzerpte, die in der IV. Abteilung der MEGA2 publiziert werden, spiegeln insbesondere bei Marx einen enzyklopädischen Ansatz in seinen Studien und Forschungsinteressen. So erschließt der 1999 publizierte Band IV/31 eine intensive Phase naturwissenschaftlicher Studien in den Jahren von 1877 bis 1883. Den größten Raum nehmen dabei Exzerpte und Notizen zur Chemie ein. Auf die chemischen Studien von Marx wurde früher zumeist mit dem Hinweis verwiesen, daß er sich lediglich im Zusammenhang seiner Ökonomie - insbesondere hinsichtlich der Bodenertragstheorie - für die Agrochemie interessiert und in diesem Zusammenhang besonders die Arbeiten von Justus Liebig und James Finlay Weir Johnston rezipiert habe.54 Die jetzt publizierten Materialien aber zeigen eine umfassende Beschäftigung von Marx vor allem mit der Atom- und Molekulartheorie. Dies scheint doch eher auf ein genuines Eigeninteresse an seinerzeit aktuellen naturwissenschaftlichen Theorieentwicklungen bei Marx hinzudeuten. Dafür sprechen auch andere Materialsammlungen, wie die umfangreichen physiologischen Exzerpte aus dem Jahr 1876 und das derzeit in editorischer Bearbeitung befindliche, in der Transkription 1034 Seiten umfassende geologisch-mineralogische Manuskript aus dem Jahr 1878. Auch hier wäre zu fragen, ob die Manuskripte zur Geologie nur dazu dienen, das historisch-materialistische Weltbild auf eine naturevolutionäre

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Siehe dazu den Abschnitt „Besonderes Interesse an der wirtschaftlichen Entwicklung der USA" der Einführung zu MEGA 2 11/14, S. 451-454. Noch 1880 hielt Marx in einem Brief fest, daß „grade in diesem Augenblick gewisse ökonomische Phänomene in ein neues Stadium der Entwicklung getreten sind, also neue Bearbeitung erheischen." (27. Juni 1880, an F. D. Nieuwenhuis. In: MEW. Bd. 34, S. 447.) Aussagen wie diese dokumentieren den nicht abgeschlossenen Forschungsprozeß von Marx und verdeutlichen einmal mehr, wie inadäquat es ist, im Zusammenhang mit dem „Kapital" von einem vollendeten Hauptwerk zu sprechen Die Marxschen Liebig- und Johnston-Exzerpte aus dem Jahr 1851, die fur den ersten Band des „Kapital" und weitere ökonomische Manuskripte herangezogen wurden, sind in Band IV/9 der MEGA 2 abgedruckt.

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Basis zu stellen, oder ob das Marxsche Interesse an der Geologie nicht vielmehr als Indikator eines enzyklopädischen Forschungsansatzes zu werten ist.55 Überdies ist offensichtlich ein Wechsel der methodischen Prämissen zu konstatieren: Selbst wenn man nicht so weit gehen mag wie ein Rezensent des Bandes mit den eben genannten Exzerpten zur Chemie, der die These vertritt, die Chemie habe für Marx nunmehr den Status einer „Leitwissenschaft" übernommen,56 so scheint doch einiges darauf hinzudeuten, daß sich in den naturwissenschaftlichen Studien von Marx eine Abkehr von dialektischen und die Hinwendung zu analytischen Denkmodellen abzeichnet57 - im Unterschied zu Engels übrigens, der an einer dialektischmetaphysischen Interpretation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse immer festgehalten hat.58 Obgleich das „Werk" von Marx, wie immer es aussehen mag, erst noch zu konstituieren bleibt - noch ist nicht einmal die Hälfte der Gesamtausgabe erschienen - , so beginnt sich doch ein neues Marx-Bild abzuzeichnen. Zusammenfassend könnte man sagen, daß das von der bisherigen, politisch intendierten Marx-Edition gezeichnete Bild - Marx primär als sozialrevolutionärer und politökonomischer Autor - vor allem zu eng war. Hinzu kommt, daß es von einer falschen Teleologie geleitet wurde: „Marx wäre eigentlich, wie auf einer Schiene rollend und einem unerklärten Fahrplan folgend, von Erkenntnis zu Erkenntnis geeilt, wobei ihm seine Parteinahme fürs Proletariat als untrüglicher Kompaß gedient habe."59 Demgegenüber erscheint Marx nunmehr eher als einer der letzten Gelehrten mit enzyklopädischem Anspruch - damit in Traditionen der europäischen Aufklärung, aber auch des Systemdenkens des Deutschen Idealismus stehend dessen Werk in weiten Teilen jedoch Fragment geblieben ist, der mithin weniger Lösungen zu bieten hat, der sich aber an den Problemen der Moderne abarbeitet. 55

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Für die letztere Annahme spricht schon die Tatsache, daß schon beim jungen Marx die „Geognosie" als die Wissenschaft auftaucht, welche das „Werden der Erde als einen Proceß, als Selbsterzeugung" darstellt (MEGA 2 1/2, S. 273.) Der geologische Formations-Begriff hat dann weiter als Impuls für den Marxschen Terminus der Gesellschaftsformation gedient: „Wie man bei der Reihenfolge der verschiednen geologischen Formationen nicht an plötzliche, scharf getrennte Perioden glauben muß, so nicht bei der Bildung der verschiednen ökonomischen Gesellschaftsformationen." (MEGA 2 II/3.6, S. 1972.) Noch in seinem Brief an Vera Sassulitsch im Jahr 1881 hat Marx die Analogie erneut aufgegriffen: „Ebenso wie in den geologischen Formationen gibt es auch in den historischen Formationen eine ganze Reihe von primären, sekundären, tertiären etc. Typen" (MEW. Bd. 19. S. 386). Offensichtlich ist es also gerade die enzyklopädische Ausrichtung der Marxschen Studien - und nicht ein ökonomistisch verengter Ansatz die seinen Analysen zu großer Prägnanz und Fruchtbarkeit verholfen hat. Diese Universalität aber kann nur durch eine ideologiefrei dokumentierende, umfassende Gesamtausgabe in den Blick gebracht werden. Michael Engel: Wie gingen Marx und Engels an die Naturwissenschaften heran? In: Nachrichten aus der Chemie. Januar 2001, S. 49. Zu den späten naturwissenschaftlichen Studien von Marx siehe die Einführung in MEGA 2 IV/31, S. 627-650. Siehe dazu die in der „Dialektik der Natur" gesammelten Manuskripte von Engels aus den Jahren 18731882. In: MEGA 2 1/26. In diesem Bild hat Manfred Neuhaus das frühere Marx-Verständnis des real herrschenden Sozialismus zusammengefaßt. (Das MEGA-Unternehmen. Interview mit Prof. Manfred Neuhaus und Dr. Gerald Hubmann. In: Berliner Debatte Initial. 2003. Η. 1, S. 86.) Jürgen Rojahn hat ebendieses teleologische Verständnis bereits 1985 als Ursache für die fehlerhafte Textanordnung in MEGA 2 1/2 herausgearbeitet. Siehe Rojahn: Die Marxschen Manuskripte aus dem Jahre 1844 (Anm. 36), S. 662.

Von der Politik zur Philologie: Die

Marx-Engels-Gesamtausgabe

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In diese Richtung weist jedenfalls die Rezeption der neuen MEGA2-Bände, die große Aufmerksamkeit in Fachpresse und Feuilleton fanden. Die Entpolitisierung der MEGA2 wurde von der „Welt"60 bis zur linken „Tageszeitung" begrüßt, wobei der allgemeine Tenor in etwa lautete wie die Überschrift einer Sonderseite der letzteren: „Philologie und Revolution. Mit Wissenschaftlichkeit zum Erfolg".61 Lediglich Linksaußen, in der , Jungen Welt" wurde in einem doppelseitigen Aufmacher die philologische Wende der MEGA2 als solche kritisiert, da sie, wie es heißt, der politischen „Wirksamkeit auf das höchste abträglich" sei.62 Hier wird weiterhin ein politisch-instrumenteller Umgang mit dem Marxschen Werk gefordert - so, als ob es diesen nicht lange genug gegeben hätte. Auf diese Forderung sei mit einem abschließenden Wort von Marx geantwortet: „Einen Menschen aber, der die Wissenschaft einem nicht aus ihr selbst (wie irrthümlich sie immer sein mag), sondern von aussen, ihr fremden, äusserlichen Interesse entlehnten Standpunkt zu accommodiren sucht, nenne ich ,gemein':™

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Siehe Sven Felix Kellerhoff: Die .Deutsche Ideologie' hat es nie gegeben. Die Marx-Engels-Gesamtausgabe setzt auf Textkritik und räumt mit alten Stilisierungen auf. In: Die Welt. 12. Mai 2004, S. 28. Die Tageszeitung (Tazmag). 14./15. August 2004, S. IV. Autor des Beitrages ist Christian Semler. Uwe-Jens Heuer: Die Umbewertung des Marxschen Denkens. In: Junge Welt. 13. 10. 2004, S. lOf. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie (Manuskript 1861-1863). Teil 3. Theorien über den Mehrwert. Heft XI. In: MEGA II/3.3, S. 771.

Wilhelm Baumgartner, Thomas Binder, Andrea

Reimherr

Schritte zur elektronischen Edition des Werkes von Franz Brentano Ein Arbeitsbericht

1.1. Die Ausgangslage: Annäherung „Wer mich nur aus meinen Schriften kennt, der kennt mich nicht." Franz Brentano (1838-1917) reklamiert dieses Leibniz-Zitat auch für sich und verstellt damit, so will es scheinen, nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern insbesondere auch den Nach geborenen, die sich mit seiner Person und seinem Werk beschäftigen, den Weg zu seiner Kenntnis. Dennoch verbleiben hier .Ausflüchte", wie Brentano selbst gern sagt, zu seiner Kenntnisnahme. Zum ersten sind es glaubhaft scheinende Dokumente, wie Berichte von ihm nahe stehenden Zeitgenossen, die zur Kenntnis seiner Person und seines Werks beitragen und uns über sie indirekt Verständnis von ihm verschaffen.1 Dieser Weg scheint obendrein legitimiert, folgt er doch einem hermeneutischen Wink Brentanos: Zu seinem „Verständnis des Aristoteles" habe ihm vielfach Thomas gedient. Analog darf zweitens gelten, daß Brentanos Meinungen über die von ihm in bestimmter Weise und in bestimmten Kontexten zitierten Autoren eingeholt werden können; denn sein Arbeitsstil ist gekennzeichnet durch die Darstellung und durch eine detaillierte Überprüfung vorliegender Lehren im Hinblick auf ihre Evidenz, auf ihren Wahrheitsgehalt, auf ihre Widerspruchsfreiheit, zumindest aber auf die Wahrscheinlichkeit ihrer Geltung - und durch strikte Zurückweisung, falls die genannten Kriterien nicht erfüllt werden. In einem weiteren, positiven Schritt sucht er dann nach Möglichkeiten, unter welchen Bedingungen vorgebrachte Argumente Gültigkeit beanspruchen dürfen oder wie sie nach sprachkritischer Revision („in unsere Sprache übersetzt") ein korrektes Verständnis ermöglichen. Die Adaption von Brentanos Hinweisen, wie man einen Text lesen solle, dürfen dann getrost auch auf ihn selbst zu seinem Verständnis angewendet werden. Man hüte sich freilich vor Hyper-Hermeneutisierung (siehe Punkt 2. unten). Zum andern bedarf ein Gutteil von Brentanos Texten in ihrer Entwicklung selbst einer philologisch exakten Bearbeitung (siehe 1.2. und 3.3.).

Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. Mit Beiträgen von Carl Stumpf und Edmund Husserl. Hrsg. von Oskar Kraus. München 1919.

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Thomas Binder, Andrea

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Zu seiner Person wird berichtet, er sei sehr vielschichtig gewesen, „zu vielem begabt", wie seine jüngste Schwester sagt. Verbürgt ist seine musische Ader (Gesang, Geigenspiel, Zeichnen), sein besonderes Interesse am Schachspiel bis hin zu seinen Abhandlungen zur Vertheidigung der Spanischen Partie, seine Begabung zu Mathematik und klassischen Sprachen (er beherrschte auch Englisch, Französisch und Italienisch), so daß er seine Autoren im Original gelesen hat, seine poetische „Beanlagung" (er verfaßte das Rätselbuch Änigmatias; schrieb - an den Stil seines Onkels Clemens Brentano und seiner Tante Bettine v. Arnim erinnernde - prosaische Stücke und viele, viele lyrische Gedichte). Sein Lebensweg ist, wie einigermaßen bekannt, in nicht ebenen Bahnen verlaufen: Geprägt von betont katholisch orientiertem Elternhaus und Milieu, wie sein Bruder Lujo (= Ludwig Josef, Nationalökonom und „Kathedersozialist") berichtet, hat er in Würzburg, München, Berlin und Münster Philosophie und Theologie studiert, ist zum Geistlichen geweiht worden, hat jedoch als diplomierter Theologe und promovierter und habilitierter Philosoph die wissenschaftliche Laufbahn an der Universität Würzburg eingeschlagen. Seine dezidierte Stellungnahme gegen die päpstliche „Infallibilität" hat den Konflikt mit seiner Amtskirche anschwellen lassen; er hat sich schließlich von dieser gelöst, hat seinen Priesterrock ausgezogen und seine Professur zurückgegeben. 1874 an die Universität Wien berufen, machte er dort schnell Karriere. Doch als er 1879 aus der Kirche ausgetreten war, um sich 1880 mit Ida Lieben zu vermählen, hat er sich dadurch (das Österreichische Bürgerliche Gesetzbuch untersagte „abgefallenen" Geistlichen eine öffentliche Stellung) in neue Kalamitäten begeben bis hin zum Verlust seiner Professur und entsprechender Einflußsphäre. Für seine gleichwohl zahlreichen wie berühmt gewordenen Schüler (unter ihnen Carl Stumpf, Anton Marty, Georg v. Hertling, Herrmann Schell, Sigmund Freud, Christian v. Ehrenfels, Alexius Meinong, Thomas G. Masaryk, Kasimir Twardowski, Edmund Husserl, Hugo v. Hoffmannsthal) sei er nach deren Meinung auf der einen Seite eine Art Übervater gewesen, der auf ihre eigenständige Entwicklung zuweilen „hemmend" eingewirkt habe (C. Stumpf) wegen „Hineinredigierens" (E. Husserl); andererseits habe er sich, der ständigen Kontakt in persona und durch Korrepondenz suchte, der „Freundschaft in actu" vorlebte, als sehr großzügiger, freigebiger Freund und Beistand in Not (etwa gegenüber H. Schell und Th. Masaryk) erwiesen und „mit vollen Händen" (A. Meinong) gegeben. Man tut wohl gut daran, stehen zu lassen, daß Brentano es sich und andern nicht immer leicht gemacht hat, ihn „kennen" zu lernen. Auch seine Philosophie wird unterschiedlich beschrieben: Einerseits wird sie charakterisiert als „einseitig aristotelisch". Brentano begünstigt diese Sicht auch noch dadurch, daß er Aristoteles gar als Kronzeugen seiner Denkweise heranzieht: „Hat er nicht wesentlich gedacht wie wir?"2 Anderen gilt sie als „mittelalterlich metaphysisch" (Wilhelm Dilthey). Sie wird aber auch als „psychologistisch" bzw. immanentistisch (im Zusammenhang mit seiner Intentionalitätstheorie) beschrieben; als „logi2

Franz Brentano: Wahrheit und Evidenz. Hamburg 1974, S. 88.

Schritte zur elektronischen Edition des Werkes von Franz Brentano

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zistisch" (Wilhelm Wundt im Zusammenhang mit seiner deterministischen Klassifikation der Psychischen Phänomene) und als „reistisch" (Thadeusz Kotarbinski im Zusammenhang mit seiner ,res'-Philosophie). Wieder anderen gilt sie als Proponentin der „Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie" (Wolfgang Stegmüller), da sie die „Phänomenologische Bewegung" eingeleitet habe (Herbert Spiegelberg, Gilbert Ryle), da sie den „terminus a quo der Österreichischen Philosophie" darstelle (Rudolf Haller) und da sie die analytische (i. S. einer nicht-kontinentalen) Philosophie inauguriert habe (Roderick Chisholm). An epitheta ornantia, zugedacht aus unterschiedlichen Perspektiven, fehlt es nicht. Und in der Tat zeichnen sein Werk, seine Nachgelassenen Schriften, sein Briefwechsel, seine sonstigen Aufzeichnungen, einen Mann mit vielen Eigenschaften, eine Person voller ,/einer Sachhingegebenheit" und von „heiligem Ernst" (Husserl) wie auch einen Menschen von (selbst-) ironischer Distanz. Seine zahlreichen Gedichte, oft eingestreut in wissenschaftliche Schriften, geben Zeugnis von herzlicher Zuneigung andern gegenüber, von Witz und auch von seinem gelegentlich „kleinmütigen Ich" (Selbstzuschreibung). Man lasse diese Beschreibungen stehen gemäß einer (von seinem Lehrer Adolf Trendelenburg erborgten) Devise Brentanos, „in den Teilen das Ganze zu sehen". 1.2. Einige Charakteristika der Schriften Für gewöhnlich unterscheidet man das Frühwerk Brentanos von seiner mittleren Schaffensperiode und vom Spätwerk. Brentano selbst sieht dagegen in seinem opus eine „Evolution meines Denkens", die sich auch durchgängig zeigen läßt. Es sei an dieser Stelle erlaubt, metaphysische und psychologische Untersuchungen, partes pro toto, in gebotener Kürze zu präsentieren. Auf die Untersuchungen zur Geschichte der Philosophie, die er in systematischer Absicht als „Philosophie der Geschichte der Philosophie" darstellt, auf die Logik, in der eine „Logik der Prüfung" der Erkenntnis, eine Prüfung der Gedanken und ihres sprachlichen Ausdrucks, die Reduzierbarkeit der Urteile auf Existenzialurteile, die Lehre vom Doppelurteil vorgetragen wird; auf die Ethik, die eine Theorie der „richtigen Bevorzugung" von etwas als ,gut' bzw. ,besser' Erkanntem lehrt; auf die Ästhetik, die die Wahrnehmung und gerechtfertigte Beurteilung von etwas als ,schön' zur Darstellung bringt, soll hier nicht weiter eingegangen werden. Entsprechend der Entwicklung seiner Lehren redigiert Brentano stark in seine Manuskripte hinein, modifiziert sie, fällt sich korrigierend ins Wort, fügt ergänzende Randbemerkungen ein und versieht diese auch noch mit Zusatzbemerkungen, nimmt Streichungen vor, schreibt ganze Passagen neu, „stets der strengste Kritiker in eigener Sache" (Husserl). Und er verwahrt sich streng „gegen die mir unterstellten Albernheiten" vermeintlicher Inkonsistenz: „Nicht ein Wechsel von Überzeugungen hat stattgefunden, sondern nur ein Wechsel von Versuchen [...] Hypothesen." 3

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Franz Brentano: Die Abkehr vom Nichtrealen. Hamburg 1966, S. 201.

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Ein „Wechsel von Versuchen" zeigt sich auch im wissenschaftlichen Perspektivenwechsel: „Nachdem ich einige Jahre ganz Psycholog gewesen bin, freue ich mich, wieder Metaphysiker sein zu dürfen." (Brief an A. Marty, 1905) Diese je „reine Sachhingegebenheit" kann auch als Indiz für Brentanos Bemühen gelesen werden, die psychologische Fragestellung (Analyse des Psychischen/Seelischen, seiner Merkmale und Funktionen' sowie ihres intrinsischen Zusammenhangs) von der „metaphysischen Frage" (Analyse der erkenntnistranszendenten Dinge) sachlich und begrifflich säuberlich zu trennen, um eine Kategorienverwechslung zu vermeiden und eine Unterstellung abzuwehren; denn seine Definition der Psychologie als Wissenschaft von der Seele ist in neuerer Zeit als .metaphysisch', was so viel sagen soll, als durch keine Erfahrung gerechtfertigt, oder gar als .scholastisch' gebrandmarkt worden. Man hat aber doch nur seiner eigenen Unfähigkeit Ausdruck gegeben, der wirklichen Erfahrung analytisch gerecht zu werden. 4

Brentanos Bestreben, ,Metaphysik' als wissenschaftliche Disziplin (wieder) in ihr Recht zu setzen, hebt damit an, positivistische Abwertung und skeptische Einwände auf ihre Valenz hin zu prüfen und kommt zu dem Ergebnis ihrer Unhaltbarkeit bzw. ihres Selbstwiderspruchs. Metaphysik ist für ihn mithin möglich. Um sie als Wissenschaft (als Ontologie natürlicher Dinge und als .natürliche Theologie') auszuweisen, müsse sie, wie jede andere Wissenschaft, methodisch streng verfahren, in Analogie zu den Naturwissenschaften. Da ihre Gegenstände durch „wirkliche Erfahrung", d. h. „innere Wahrnehmung" (intentional, real und evident) zugänglich seien, könnten sie analytisch behandelt werden. Ergebnis einer solchen Analyse des ,Gegebenen' ist dessen analytisches Apriori'. (Kants Synthesis a priori wird als .unnatürlich' zurück gewiesen, da sie zu viel urgiere, was sie nicht beweisen könne; und sein enges Verständnis des analytischen Urteils, wonach dies keinen Erkenntniszugewinn erbringe, wird als falsch verworfen.) - Chisholms Charakteristik von Brentanos Metaphysik als analytische,,.Deskriptive Metaphysik" scheint gerechtfertigt. Brentanos Metaphysikvorlesungen werden gemäß den TEI-XML-Richtlinien zur Publikation gebracht. Als vorbereitender Text („Pilotprojekt") dient Brentanos Gespräch mit Müller und Grossmann über das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. (Darauf gehen wir weiter unten sub Punkt 3.3. näher ein.)

2.

Z u r Editionsgeschichte

Angesichts der Quellenlage haben sich bei der Herausgabe von Schriften Brentanos schon Editoren vergangener Tage reichlich bis redlich Mühe gegeben. Brentano selbst hat wenig publiziert. Neben den Schriften, die seine akademische Karriere markieren, 5 sind das vor allem die den Status eines philosophischen Klassikers einnehmende

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Franz Brentano: Deskriptive Psychologie. H a m b u r g 1982, S. 147. Gemeint sind seine Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden bei Aristoteles und seine Habilitationsschrift Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom nous poietikos.

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Edition des Werkes von Franz

Brentano

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Psychologie vom empirischen Standpunkt (1874), eine Schrift zur Sinnespsychologie und zwei kleinere Monographien zu Aristoteles; das sonstige CEeuvre besteht aus einigen publizierten Vorträgen 6 und Artikeln für Zeitschriften und Zeitungen. Weitaus größer ist allerdings die Zahl der unpublizierten Schriften, die nur dem allerengsten Schüler- und Freundeskreis Brentanos zugänglich waren. Bei seinem Tod 1917 lagen weit mehr als 20.000 Seiten im MS vor, dazu kam noch eine in die Tausende gehende Anzahl von wissenschaftlichen und privaten Briefen. Bei den Werkmanuskripten handelte es sich vor allem um Vorlesungen aus seiner Würzburger und Wiener Zeit und um zahlreiche kleinere Schriften, die Brentano nach seiner Erblindung nach 1905 wechselnden Schreibern diktierte. Alle diese Werkmanuskripte stellen an den Herausgeber hohe Anforderungen: Bei den Vorlesungen bestehen die Schwierigkeiten darin, daß Brentano sie einerseits an vielen Stellen nur in Stichworten ausführte, sie andererseits aber auch immer wieder neu Uberarbeitet und dementsprechend mit Streichungen, Ergänzungen und neuen Formulierungen versehen hat. Bei den Diktaten resultieren die Probleme aus dem Arbeitsprozeß, der immer wieder zu Abbruchen und zu neuen Versuchen zum selben Thema führte. Erste Bemühungen um diesen Nachlaß fanden bereits unmittelbar nach Brentanos Tod durch seinen Sohn J.C.M. Brentano 7 statt, der schließlich Oskar Kraus und Alfred Kastil mit der Herausgabe der Schriften seines Vaters beauftragte. In der zweiten Hälfte des Jahres 1920 begab sich Kraus nach Zürich, um dort mit der systematischen Erfassung und Katalogisierung des Nachlasses zu beginnen. Als J.C.M. Brentano mit Beginn des Jahres 1922 die Schweiz verließ, um in Manchester Physik zu lehren, stimmte er einer Verlegung des Nachlasses nach Innsbruck zu. In Innsbruck wurden die „Kisten mit sämtlichen Manuskripten Brentanos" in einem Banksafe der Creditanstalt hinterlegt. Ein Jahr später reiste Oskar Kraus nach Innsbruck, um die Katalogisierung (vorläufig) abzuschließen und mit Kastil über mögliche Publikationen zu beraten. 8

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Eine detaillierte Bibliographie der Schriften Brentanos (bis 1990) findet sich in der 3. Internationalen Bibliographie zur Österreichischen Philosophie, 4. Amsterdam 1990. Einer dieser Vorträge, Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889), nimmt in der ethischen Literatur ebenfalls eine herausragende Stellung ein. Franz Brentanos einziger Sohn war Physiker, hatte bei Röntgen in München studiert und war u. a. Assistent von Laue gewesen. Zum Zeitpunkt von Brentanos Tod unterrichtete er in Zürich an der Polytechnischen Hochschule. Seine Rolle in der Editionsgeschichte der Schriften seines Vaters ist bisher viel zu wenig gewürdigt worden. Ohne seine Bemühungen hätte es wohl kaum eine Fortsetzung der Editionsarbeiten über die Jahre 1939 und 1945 hinaus gegeben. In den 50er Jahren verfilmten er und seine Frau Sophie in einer ungeheuren persönlichen Arbeitsanstrengung fast den gesamten philosophischen Nachlaß. 1966 schließlich gelang es ihm, diesen Nachlaß samt der wissenschaftlichen Korrespondenz an der Houghton Library der Harvard University unterzubringen. Schon 1921 hatte Oskar Kraus eine 2. Auflage des Ursprungs sittlicher Erkenntnis publiziert, die mit Texten aus dem Nachlaß angereichert worden war. 1922 folgte Alfred Kastils Edition der religionsphilosophischen Schrift Brentanos Die Lehre Jesu und ihre bleibende Bedeutung. Nach Prag zurückgekehrt, startete Kraus eine intensive Tätigkeit als Herausgeber und publizierte Band auf Band: Zunächst in Neuauflage den ersten und zweiten Teil der Psychologie vom empirischen Standpunkt (1924 und 1925), dann die Vier Phasen der Philosophie (1926; ebenfalls erweitert durch Schriften aus dem Nachlaß), einen 3. Band der Psychologie, der unter dem Titel Vom sinnlichen und noetischen Bewußtsein (1928) ausschließlich Nachlaßtexte versammelt, dann Brentanos Wiener Antrittsvorlesung Über die Zukunft der Philosophie (ebenfalls 1928) und schließlich die erkenntnistheoretischen

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1932 wurde schließlich durch eine großzügige Spende von Thomas G. Masaryk, dem Präsidenten der tschechoslowakischen Republik und früherem Brentano-Schüler, die Gründung einer Brentano-Gesellschaft und eines dazugehörigen Archivs in Prag ermöglicht, in das nach und nach die Innsbrucker Bestände transferiert wurden. Im Prager Archiv wurde die bereits in Innsbruck begonnene Transkriptionsarbeit in großem Stil fortgesetzt. Dennoch kam es nur noch zu zwei Publikationen: Kastil edierte aus dem Nachlaß die Kategorienlehre (1933), und Kraus veröffentlichte eine dritte Auflage des Ursprungs sittlicher Erkenntnis. 1938 wurde Kraus von den einmarschierenden Truppen Hitlers ins Exil nach Großbritannien gezwungen, wo er 1942 in London starb. Kastil dagegen verbrachte die Kriegsjahre relativ unbehelligt in Wien und in Brentanos ehemaligem Sommerhaus in Schönbühel, wo er vor allem an Brentanos Ethik-Kolleg und an einer Gesamtdarstellung der Philosophie Brentanos arbeitete. Es war ihm allerdings nicht mehr vergönnt, diese Arbeiten selbst zu publizieren - Kastil starb 1950 in Schönbühel. Er hatte allerdings insoweit vorgesorgt, daß er schon zuvor seine Innsbrucker Schülerin Franziska Mayer-Hillebrand gebeten hatte, die Editionsarbeiten fortzusetzen. 9 Danach kam es zu einer gewissen Zäsur, da die Editionsarbeiten in die Hände von Philosophen übergingen, die Brentano nicht mehr so nahe standen. Worin bestanden nun die Intentionen, die Kraus, Kastil und Mayer-Hillebrand bei ihrer editorischen Arbeit verfolgten, und mit welchen Mitteln versuchten sie sie zu realisieren? Im Vorwort zu Wahrheit und Evidenz nennt Kraus als sein Ziel, „den mannigfach zerstreuten Stoff zu einem möglichst einheitlichen Ganzen zu gestalten". In der Einleitung zum 3. Band der Psychologie vom empirischen Standpunkt schreibt er, daß er es sich zur Richtschnur genommen [habe], die Lehren Brentanos in ihrer definitiven Gestalt zu vereinigen. Da aber Brentano bis zu seinem letzten Atemzuge geforscht und seinen eigenen Aufstellungen gegenüber mit schärfster Kritik vorgegangen ist, finden sich mitunter selbst in zwei zeitlich nahe stehenden Aufsätzen Inkongruenzen. - Ich habe an einigen wenigen

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Abhandlungen Wahrheit und Evidenz (1930). In der Zwischenzeit war auch Alfred Kastil nicht untätig. Neben der Gründung eines Brentano-Archivs an der Universität Innsbruck edierte Kastil aus Brentanos Nachlaß einen Band zur Erkenntnistheorie (Versuch über die Erkenntnis, 1925) und über Brentanos lebenslange Bemühungen zu einem wissenschaftlichen Beweis des Theismus (Vom Dasein Gottes, 1928). Mayer-Hillebrand veröffentlichte sowohl das Ethik-Kolleg (Grundlegung und Außau der Ethik, 1952) als auch Kastils Brentano-Buch (Die Philosophie Franz Brentanos. Eine Einführung in seine Lehre, 1951). In den Jahren 1951 und 1952 übernahm sie dank der Vermittlung des mittlerweile in den USA lehrenden J.C.M. Brentano eine Gastprofessur an der Northwestern University und erstellte gleichzeitig ein neues, bis heute gültiges Verzeichnis des Brentano-Nachlasses. In den Folgejahren widmete sie ihre ganze Energie Brentanos Nachlaß, was zu einer ganzen Reihe von weiteren Veröffentlichungen führte: Religion und Philosophie (1954), Die Lehre vom richtigen Urteil (1956), Grundzüge der Ästhetik (1959), Geschichte der griechischen Philosophie (1963) und schließlich Die Abkehr vom Nichtrealen (1966).

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und immer kenntlich gemachten Stellen durch Textänderungen die Übereinstimmung der verlassenen mit der definitiven Lehre hergestellt.10 Noch wesentlich weiter als Kraus geht Kastil. Eine besonders eindrucksvolle Beschreibung seiner editorischen Arbeit findet sich in der Einleitung zu Vom Dasein Gottes (S. XIV). Um die definitive Gestalt der Lehren Brentanos präsentieren zu können, meint Kastil, einige Gottesbeweise Brentanos umarbeiten zu müssen: Ich habe mich gefragt, wie Brentano sie geführt hätte, falls er selber dazu gekommen wäre, die große Vorlesung zu publizieren, und habe nach gründlichem Studium von allem, was der Nachlaß zu diesen Problemen enthielt, aus Handschriften und Diktaten, aus Briefen und Gesprächen das Reifste zusammengetragen, wovon ich annehmen durfte, daß Brentano selber mit seiner Einfügung an Stelle der abgetragenen Teile des Baues einverstanden gewesen wäre. [...] Die sachlichen Korrekturen beziehen sich immer auf Punkte, wo die spätere Lehre Fortschritte brachte.11 Wie das folgende, abschließende Zitat zeigen soll, wurde die Tradition Kastils durch seine Schülerin F. Mayer-Hillebrand ganz in seinem Sinne fortgeführt. In der Einleitung zur Geschichte der griechischen Philosophie (S. XII) etwa schreibt sie: Dem vorliegenden Band ist [...] der Vorlesungstext Brentanos zugrunde gelegt. Wenn in den Anmerkungen von kleinen Ergänzungen aus dem Kolleg Kastils oder aus Ueberwegs „Geschichte der Philosophie I" gesprochen wird, so handelt es sich um geringfügige Änderungen, einerseits durch Ausführung der im Original zuweilen nur in Schlagworten angedeuteten Gedanken, andererseits durch Hinzufügung von Jahreszahlen, Zitaten u. dgl. Wiederholungen, wie sie in jedem Kolleg vorkommen, wurden ausgelassen. [...] Nur ganz vereinzelt wurden Änderungen vorgenommen, um die Darstellung dem letzten Stand der Lehren Brentanos anzupassen. [...] Einige Male wurden zur Ergänzung Stellen aus anderen Schriften Brentanos herangezogen, was in den Anmerkungen angegeben ist. An dieser Stelle muß allerdings angemerkt werden, daß die Editoren Kraus, Kastil und Mayer-Hillebrand sich von Brentano selbst ermächtigt fühlten, in der oben skizzierten Weise zu verfahren. In einem Brief an Kraus vom Januar 1916 diskutiert Brentano die Sinnhaftigkeit der Publikation seines Nachlasses. Dabei meint er, daß es besser wäre, „wenn etwas geschähe, dem ähnlich, was Etienne Dumont gegenüber Benthams Manuskript getan".12 Brentano bezieht sich hier auf Benthams Theory of Legislation, bei deren Edition Dumont aus verschiedenen Manuskripten unterschied-

10 11

12

Ebd., 3. Aufl. 1974, S. XXVIII. Ein nicht uninteressantes Detail hierzu ist, daß sich in Kraus' erhalten gebliebenen Handexemplar von Vom Dasein Gottes handschriftliche Annotationen finden, die eine Ablehnung dieser Kastilschen Vorgehensweise zeigen. Es lassen sich aber durchaus generelle Differenzen im Vorgehen bei Kraus und Kastil festhalten: Während Kastil einen eigenen Editions- oder besser: Redaktionsstil entwickelt, der es fast völlig unmöglich macht, die Genese der publizierten Schriften bis zu den Originalen zurückzuverfolgen, ist Kraus zwar weitaus weniger manipulativ im Umgang mit den Quellentexten, dafür tobt er sich regelmäßig in den Vorworten aus, in denen vor allem „abtrünnige" Schüler Brentanos gebrandmarkt werden. Einer von ihnen, nämlich Edmund Husserl, mahnt schon früh in einem Brief an Kraus, daß in der Edition der Schriften Brentanos doch eine „gewisse Überzeitlichkeit walten" solle. Der Brief mit dem Vorschlag von Kraus, auf den sich der Komparativ „besser" bezieht, ist leider nicht erhalten geblieben.

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liehen Datums auszuwählen hatte, um das Werk als ein vollendetes Ganzes zu präsentieren. Allerdings ist hier zu ergänzen, daß Dumont Lücken immer mit Texten Benthams füllte, während Kastil und Mayer-Hillebrand sich nicht scheuten, fremde Texte zu verwenden; daß Dumont nur eine Reihe von unvollendeten Entwürfen benutzte, die demselben Endzweck einer Theory of Legislation dienten, während die Brentano-Herausgeber oft völlig heterogenes Material wie Werkmanuskripte, Briefstellen und Gesprächsaufzeichnungen zu einem neuen Text zusammenstellten; und vor allem, daß Bentham die Gelegenheit hatte, die Edition Dumonts selbst zu kommentieren und zu korrigieren, was Brentano nicht möglich war. Und schließlich sollte auch nicht unerwähnt bleiben, daß Bentham tatsächlich ein Systembauer war, was auf Brentano sicher nicht zutrifft. 13 Dennoch ist es schwer zu sagen, wie Brentano auf die Editionen seiner Schüler reagiert hätte. Immerhin war er als ein Vertreter der „katholischen Wissenschaft" auch selbst kein Anhänger der protestantischen Tradition der Textkritik, was durch seinen eigenen Umgang mit dem von ihm verehrten Aristoteles belegt ist, der ihm die scharfe Kritik von Altphilologen wie Eduard Zeller und Theodor Gomperz eintrug. Fassen wir die Kritik also nochmals kurz zusammen. Sie richtet sich gegen drei Aspekte der bis 1968 aus dem Nachlaß edierten Schriften Brentanos. Einmal, was die Aufbereitung der Texte selbst anlangt: Es kommt zu Kompilationen, zu sachlichen Eingriffen zugunsten einer definitiven Lehre, zu Zusätzen aus anderen Quellen; zum andern, was die Auswahl anlangt, etwa die Präferenz der Texte des „reifen", d. h. späten Brentano; zum dritten, was die exklusive Hervorhebung der geistigen Führungsrolle Brentanos in der kontemporären Philosophie betrifft, die zu Lasten der Schüler und Kollegen ausfällt. Bei all dieser Kritik ist allerdings Josef M. Werle völlig recht zu geben, wenn schreibt, daß Kraus, Kastil und Mayer-Hillebrand einen Großteil ihrer intellektuellen Energien, wenn nicht gar ihrer Lebensarbeit in die Edition von Franz Brentanos philosophischen Nachlaß investiert hätten. Der Umfang der von ihnen aus dem Nachlaß publizierten Texte beträgt immerhin ein Mehrfaches aller von Brentano selbst veröffentlichten Schriften. Ohne ihre Editionen, das gilt es [...] festzuhalten, wäre das Denken Brentanos mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem weit größerem Ausmaß aus dem Interessenkreis der philosophisch und philosophiehistorisch orientierten akademischen Welt verschwunden, als es lange Zeit ohnehin der Fall war und in weiten Teilen auch heute noch der Fall ist. 14

13

14

Vgl. hierzu Jan Srzednicki: Remarks concerning the interpretation of the philosophy of Franz Brentano. In: Philosophy and Phenomenological Research, XXII (1961/62), S. 308-316. Dieser Aufsatz formuliert eine scharfe Kritik an Franziska Mayer-Hillebrands Edition von Die Lehre vom richtigen Urteil, die das meiste hier Gesagte schon vorwegnimmt. Josef M. Werle: Bericht: Überlegungen zu einer Neuausgabe der Werke Franz Brentanos. In: Phänomenologische Forschungen 17 (1985), S.143-164, hier S. 144.

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Wie also sieht die editorische Situation heute nach einer fast 100jährigen Editionsgeschichte konkret aus? Nach der oben angesprochenen Zäsur dauerte es noch immer einige Zeit, bis sich unter den Editoren allmählich die Auffassung durchsetzte, daß die Orientierung an den Manuskripten das oberste Ziel zu sein habe. So verwendeten etwa Roderick Chisholm und Stephen Körner in ihrer Edition Raum, Zeit und Kontinuum mehr oder weniger unkritisch die noch von Kastil redigierten Manuskripte. Erst die in den von Rolf George herausgegebenen Schriften Über Aristoteles (Hamburg 1986) abgedruckten Texte und die von Klaus Hedwig herausgegebenen und eingeleiteten beiden Bände Geschichte der mittelalterlichen Philosophie (Hamburg 1980) und Geschichte der Philosophie der Neuzeit (Hamburg 1987) erlauben erstmals eine eindeutige Zuordnung zu den Manuskripten. Die Bestandsaufnahme fällt also einigermaßen ernüchternd aus: Einerseits sind die bisher geleisteten Editionsarbeiten mit wenigen Ausnahmen nicht mehr auf dem gegenwärtigen Stand der Editionswissenschaft; andererseits ist trotz aller geleisteten Arbeit der Nachlaß immer noch nicht vollständig ediert, gerade philosophiehistorisch einflußreiche Vorlesungen fehlen.15 Was für die Neuedition also Not tut, ist, daß sie sich zu gewissenhafter Neutralität und vornehmer Zurückhaltung verpflichtet fühlt, eine Forderung, die angesichts der bisherigen „Sünden" durch eine kompromißlose Orientierung am Autograph als oberstes Prinzip durchzusetzen wäre. Andererseits muß aber natürlich auch auf die Lesbarkeit des edierten Textes Rücksicht genommen werden, eine Aufgabe, die angesichts der schon erwähnten Schwierigkeiten gerade bei wichtigen Manuskripten Brentanos (oftmalige Überarbeitung, unterschiedlich ausgereifter Zustand, zahlreiche redundante Varianten) keine leichte Aufgabe darstellt. Gerade diese höchst unterschiedlichen Anforderungen - Präsentation des Textes in einer möglichst authentischen Form einerseits, Lesbarkeit andererseits (wobei die bisherigen Herausgeber weitgehend den zweiten Weg beschritten) - führten zu der Entscheidung, den Weg einer elektronischen Edition zu beschreiten. 3.

Eine elektronische Brentano-Edition

3.1. Die Wittgenstein-Edition als Vorbild Elektronische Editionen auf dem Gebiet der Philosophie sind noch weitgehend Neuland. Eine der herausragenden Leistungen auf diesem Gebiet ist sicher die nach lOjähriger Entwicklungs- und Transkriptionsarbeit am Wittgenstein Archiv der Universität Bergen entstandene Bergen Electronic Edition (BEE) der Werke Ludwig Wittgensteins, die im Jahre 2002 mit der Unterstützung von Oxford University Press auf 6 CD-Roms publiziert wurde. Diese eignet sich nicht zuletzt deshalb als Vorbild für eine Brentano-Edition, da die Situation bei Wittgenstein hinsichtlich seines Nachlasses, aber auch später hinsichtlich der Editionsgeschichte gewisse Parallelen zu Brentano aufweist: Zwar übertrifft Wittgenstein, was die Zurückhaltung bei Publika15

Diese Bestandaufnahme fällt allerdings noch viel ernüchternder aus, wenn man sich vor Augen hält, daß Werle vor mittlerweile 20 Jahren (!) in dem oben zitierten Aufsatz bereits mehr oder weniger zum selben Schluß kommt.

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tionen betrifft, Brentano sogar noch; der Umfang der bei seinem Tod 1951 vorliegenden Manuskripte entspricht aber durchaus dem Nachlaß Brentanos. Die Publikationen aus dem Nachlaß, beginnend mit den Philosophischen Untersuchungen, erwiesen sich als Zusammenstellung und Kompilationen von Nachlaßmanuskripten nach teilweise problematischen und wenig transparenten Gesichtspunkten.16 Da die Originale von Wittgensteins Manuskripten lange Zeit nicht allgemein zugänglich waren, war sein Werk auch Jahrzehnte nach seinem Tod nicht vollständig und in keiner zuverlässigen Edition bekannt. Mit dem Erscheinen der BEE wurde dieser Zustand beseitigt. Der Wert dieser elektronischen Edition besteht für den Benutzer vor allem in zwei Dingen: Zum einen werden alle Manuskripte Wittgensteins in der Anordnung dem Nachlaßkatalog Georg Henrik von Wrights folgend unter einer integrierenden SoftwareOberfläche zusammengefaßt, die es erlaubt, in allen Dokumenten simultan zu suchen und so leicht Verbindungen herzustellen, die über einen einzelnen Text hinausgehen; was die BEE aber speziell für die Konzeption einer Brentano-Edition so wertvoll macht, ist ihr mehrstufiger Aufbau, der eindrucksvoll zeigt, wie sich komplexes Quellenmaterial transparent aufbereiten läßt. Im Gegensatz zu einer Buchedition, bei der der Editor immer gezwungen ist, neben dem eigentlichen edierten Text alle textkritischen und erläuternden Informationen auf die Ebene einer Einzelseite zu projizieren, ist bei einer elektronischen Edition die Auffächerung in unterschiedliche Ebenen möglich, die sich miteinander verknüpfen und nebeneinander präsentieren lassen. Im Falle der BEE wird das Manuskript Wittgensteins in drei Versionen präsentiert: (i) als digitales Faksimile, (ii) als diplomatische Transkription, und (iii) als normalisierte Transkription. Die Faksimile-Ebene bietet die digitalen Reproduktionen (fast) aller Autographe in einer lesbaren Qualität; die diplomatische Transkription versucht, Wittgensteins Text mit all seinen Eigenheiten (inklusive seiner graphischen Anordnung) so exakt wie möglich wiederzugeben; und die normalisierte Transkription stellt eine Leseversion bereit, die es dem Benutzer ermöglicht, sich auf die inhaltlichen Aspekte zu konzentrieren. Diese Orientierung am Autograph einerseits und die Präsentation eines gut lesbaren Textes andererseits entspricht genau dem, was oben als Grundanforderung für eine Edition der Schriften Brentanos gefordert wurde. Als weitere spezifische Vorteile einer elektronischen Edition, die durch die BEE realisiert werden, soll hier noch kurz die Möglichkeit erwähnt werden, aufgrund der im Vergleich zu einer Druckversion geringeren Kosten Quellenmaterial vollständig publizieren zu können; noch attraktiver ist aber die Möglichkeit von Neuauflagen bzw. updates, die bei gedruckten Editionen ungleich schwieriger sind. In solche updates können auch kritische Rückmeldungen von Benutzern integriert werden, um so eine Art von „lebendem Dokument" zu schaffen. Im Falle der BEE wird genau dies

16

Als ein für die Geschichte der österreichischen Philosophie interessantes Detail am Rande sollte nicht unerwähnt bleiben, daß der als Wittgenstein-Herausgeber bekannt gewordene Rush Rhees ein Schüler von Alfred Kastil war und diesen in den 30er Jahren sowohl in Innsbruck als auch in Wien aufgesucht hat. Dabei kam es auch zu einer gemeinsamen Beschäftigung mit dem Nachlaß Brentanos. So ist gut vorstellbar, daß Rhees in seiner späteren Wittgenstein-Herausgebertätigkeit von Kastils editorischen Methoden beeinflußt wurde. Rhees war auch noch in den 50er Jahren mit J.C.M. Brentano, Georg Katkov und F. Mayer-Hillebrand in Kontakt und war u. a. als Brentano-Übersetzer im Gespräch.

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auch praktiziert: Auf der Website des Wittgenstein-Archivs wird eine Seite bereitgestellt, auf der die BEE-user beispielsweise Transkritionsfehler eintragen können. Hauptproblem einer jeden elektronischen Edition ist nicht so sehr die Haltbarkeit von Datenträgern wie Diskette, Festplatte oder optischen Speichern (CD, DVD und künftige Nachfolger). Auch das ist natürlich nicht unproblematisch, aber immerhin besteht die Möglichkeit, die Gefahren durch Daten-Migration auf die jeweils aktuelle Generation von Speichermedien zu entschärfen. Das Hauptproblem ist vielmehr das Format der Information selbst, das Nachhaltigkeit, universelle Lesbarkeit und Unabhängigkeit von proprietären Lösungen garantieren soll. Versuche, solche Datenformate zu entwickeln, gehen bis in die 60er Jahre zurück, aber der erste echte Standard auf diesen Gebiet wurde erst Anfang der 80er Jahre mit Standard General Markup Language (SGML) geschaffen. Auch die BEE ist in diesem Umfeld angesiedelt, setzt aber auf eine auf Wittgenstein zugeschnittene Sonderlösung, nämlich das von Klaus Huitfeldt am Bergener Wittgenstein Archiv entwickelte Multi Element Code System (MECS). Aus diesem Grund wurde für die Brentano Edition nach einer alternativen Lösung gesucht. Diese Suche wurde dadurch erleichtert, daß SGML inzwischen mit der eXtended Markup Language (XML) einen Nachfolger gefunden hat,17 der sich zu einem stabilen Standard unter den Auszeichnungssprachen entwickelt hat. Es muß hier nicht näher auf XML eingegangen werden, da die Literatur hierzu mittlerweile unübersehbar geworden ist. Nur so viel: XML enthält, formt, benennt und strukturiert Informationen. Das macht es mit in den Text eingebetteten Symbolen, die als Markup bezeichnet werden. Das Markup ist die Menge aller Elemente, mit denen die Textbestandteile ausgezeichnet werden. XML wird deshalb als Markup-Sprache bezeichnet. Um die Sache zu verkomplizieren, muß allerdings vermerkt werden, daß die Auszeichnungssprache XML im strengen Sinne gar keine Auszeichnungssprache ist. Eine Sprache hat ein festgelegtes Vokabular und eine festgelegte Grammatik. XML dagegen definiert selbst keine Elemente, sondern legt statt dessen ein Fundament aus syntaktischen Beschränkungen, anhand derer XML-basierte Sprachen geschaffen werden können. XML ist daher eine Meta-Sprache, die Regeln fur die Erzeugung von Objektsprachen bereitstellt.

3.2. Das Brentano-Projekt auf TEI-XML Grundlage Eine solche Objektsprache hat die Text Encoding Initiative (TEI)18 für den Austausch und die langfristige Bereitstellung einerseits von wissenschaftlichen, speziell von geisteswissenschaftlichen Texten, andererseits aber auch von Quellentexten aus allen

17

18

Die aktuelle Empfehlung wurde 1998 vom World Wide Web Consortium (W3C) veröffentlicht, einer Gruppe von Organisationen, Unternehmen und Einzelpersonen. Die TEI geht zurück auf eine Konferenz am Vassar College (Poughkeepsie, New York) im Jahre 1987, auf der einige Gruppierungen, die führend auf dem Gebiet des Einsatzes von Computertechnologie in den Geisteswissenschaften waren (Association for Computers and the Humanities, Association for Computational Linguistics, Association for Literary and Linguistic Computing) beschlossen, Richtlinien für einen systemunabhängigen Textaustausch zu entwickeln.

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literarischen Bereichen und Epochen geschaffen. Zusammengestellt sind die Elemente und syntaktischen Regeln von TEI-XML in den sog. guidelines, deren aktuelle Version die schlichte Bezeichnung P419 trägt. TEI-XML wird mittlerweile von zahlreichen Projekten in aller Welt unterstützt; von den Projekten im deutschsprachigen Raum seien hier Der junge Goethe in seiner Zeit (Universität München) und Jean Pauls Exzerpthefte (Universität Würzburg) genannt. Auf genau diesen Richtlinien, die in P4 festgehalten sind, soll die Brentano-Edition aufgebaut werden. Von den zahlreichen Elementen zur Auszeichnung von Texten, die P4 bereitstellt, kommt das als TEI light bezeichnete Basis-set, erweitert um Elemente zur Beschreibung von Quellentexten und zur Erstellung von textkritischen Apparaten, zur Anwendung. Neben den allgemeinen, oben diskutierten Vorteilen von elektronischen Editionen sind es vor allem zwei Aspekte, die TEI-XML für die Brentano-Edition besonders attraktiv machen. Zum einen ist das die Integration von UNICODE, die es erlaubt, auch die bei Brentano häufig anzutreffenden altgriechischen Texte und mathematischen Formeln sicher zu repräsentieren. Zum andern sieht die Projekt-Planung vor, die veröffentlichten und nicht-veröffentlichten Werke Brentanos nach dem Vorbild der BEE in mehrere Ebenen aufzugliedern. Hier spielt der XML-Ansatz noch einmal seine ganze Stärke aus: Die Transkription, deren Quellcode in TEI-XML vorliegt, kann durch stylesheets genannte Programme transformiert bzw. weiterverarbeitet werden. Falls also die Transkription ausreichend komplex ist, lassen sich durch die Anwendung von unterschiedlichen stylesheets aus dem Quellcode sowohl diplomatische als auch normalisierte Fassungen eines Textes herstellen. Die Möglichkeiten sind damit aber noch nicht erschöpft. Es ist auch vorgesehen, die Brentano-Edition in Form einer sog. Hybridedition sowohl in elektronischer (auf CD/DVD bzw. online auf einer eigenen Website) als auch in gedruckter Form zu publizieren. Eine mit Hilfe von stylesheets durchgeführte Transformation kann aber nicht nur das für die diplomatische und die normalisierte Fassung vorgesehene im www verwendete Präsentationsformat HTML erzeugen, sondern auch das (leider proprietäre, aber dennoch) universelle pdf-Format, das den direkten Import in Satzprogramme und damit den hochqualitativen Druck ermöglicht. Was ist nun zu den einzelnen Präsentationsebenen zu sagen? i) Das digitale Faksimile: Zumindest in jenen Abteilungen der Edition, die von handschriftlichen Vorlagen ausgehen, ist es geplant, dem edierten Text elektronische Faksimiles zur Seite zu stellen, die eine Überprüfung des edierten Textes durch den Benutzer erlauben. Zu diesem Zweck muß die Qualität der elektronischen Faksimiles hoch genug sein, um alle bedeutungstragenden Informationen bereitstellen zu können. ii) Die diplomatische Transkription: Sie soll die Eigenschaften der handschriftlichen Vorlage mit Hilfe von textkritischen und editorischen Apparaten so genau wie

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Die Guidelines P4 (wobei „P" für „public" steht) sind im w w w unter der Adresse www-tei-c.org frei zugänglich. Die Veröffentlichung von P5, die speziell für die physische Beschreibung von Manuskripten neue Möglichkeiten bereitstellt, steht im Herbst 2 0 0 6 kurz bevor.

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möglich wiedergeben. „Stillschweigende Korrekturen" sind dabei als typisches Merkmal einer traditionellen Buchedition, die alle Informationen auf eine Textebene abzubilden gezwungen ist und deswegen häufig auf Explizitheit verzichten muß, abzulehnen. In einer elektronischen Edition wird die Transkription dagegen versuchen, alle Eigenheiten des Originals abzubilden, also auch die ursprüngliche Orthographie, Irrtümer, Korrekturen etc. Ebenso soll die Positionierung des Textes auf der Unterlage so genau wie möglich abgebildet werden. Viele der letztlich ökonomisch motivierten stillschweigenden „Emendationen" von traditionellen Bucheditionen können so unterbleiben. Auch die Zeilenumbrüche des Originals werden als zusätzliche Information verzeichnet werden. Dieses Vorgehen bietet den Vorteil, die komplexe Struktur der Manuskripte detailliert erfassen zu können und die Genese des Textes sichtbar zu machen. iii) Die normalisierte Transkription: Sie soll einen möglichst lesbaren Text bereitstellen und zu diesem Zweck auf textkritische Apparate weitgehend verzichten. Im Unterschied zur BEE wird es hier Sacherläuterungen geben, die sich aber auf jene Informationen beschränken sollen, die für den zeitgenössischen Leser für das Verständnis der Texte unerläßlich sind. Einen besonderen Hinweis verdienen die Probleme, die sich beim Übergang von der diplomatischen Ebene auf die normalisierte Ebene v. a. dadurch ergeben, daß bei wichtigen Vorlesungs- und Kollegmanuskripten der Text oft nur in Stichworten fixiert ist. Es wird daher überlegt, die normalisierte Transkription in zwei Fassungen herzustellen, eine Fassung, die sich ausschließlich auf den Text Brentanos beschränkt und nur Abkürzungen zu Vollformen ergänzt und offensichtlich fehlende Satzzeichen einfügt; und eine weitergehende Fassung („Lesefassung"), die mit der entsprechenden editorischen Zurückhaltung auf dem Text Brentanos aufbauend vollständige Sätze herstellt. Selbstverständlich bleiben aber alle Eingriffe und Ergänzungen immer als solche erkennbar. iv) Die Druckfassung soll es dem Leser erlauben, den Text in gewohnter Form als Buch in Händen zu halten. In ihrem Aufbau wird die Druckfassung weitgehender der Lesefassung entsprechen. Ebenso wie die Wittgenstein-Edition soll die Brentano-Edition zunächst in erster Linie die Texte aus dem Nachlaß in zuverlässiger Form für die Öffentlichkeit bereitstellen. In dieser ersten Phase soll aus zeitökonomischen Gründen noch kein Versuch einer historisch-kritischen Aufarbeitung gemacht werden: Die Texte sollen zwar textkritisch, aber ohne den Versuch, über den Einzeltext hinausgehend Werkzusammenhänge herzustellen, aufbereitet werden. Ebenfalls einer späteren Projektphase muß die Integration der einzelnen publizierten Texte unter einer gemeinsamen Präsentations- und Retrievalplattform (wie sie folio views für die BEE bereitstellt) vorbehalten bleiben. Die Publikation der einzelnen Nachlaßtexte hat absolute Priorität, aber die Möglichkeiten einer solchen integrierenden Software, die es erlaubt, die einzelnen Texte etwa auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten (topic mapping) zu verknüpfen, würden die Stärken einer elektronischen Brentano-Edition erst voll zum Tragen bringen.

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3.3. Kurzer Überblick über den aktuellen Stand des Brentano-Projektes Die Brentano-Edition wird von einer Kooperation der Forschungsstelle und Dokumentationszentrum für Österreichische Philosophie in Graz, der Franz Brentano Forschung an der Universität Würzburg und dem philosophischen Institut der Universität Salzburg getragen. Unterstützt wird das Projekt von der Franz Brentano Foundation in Boston. Zur Zeit werden zwei Projekte bearbeitet: a. Gespräch mit Müller und Grossmann über das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele Dieses auch als „Pilotprojekt" bezeichnete kleinere Editionsvorhaben dient in erster Linie im Sinne einer Machbarkeits-Studie als Vorbereitung für die Gesamtedition von Brentanos philosophischen Werken: Es soll gezeigt werden, daß eine elektronische Edition auf der Grundlage von TEI-XML durchführbar ist. Die wichtigsten Ergebnisse dieses kurz vor dem Abschluß stehenden Projektes sind zum einen die Anpassung von TEI-XML an die speziellen Erfordernisse des Brentano-Nachlaßes in Form eines Transkriptionshandbuches, zum anderen die Programmierung der stylesheets für die Herstellung der unterschiedlichen Textfassungen; letztere werden in Zusammenarbeit mit dem Department of Culture, Language and Information Technology (AKSIS) der Universität Bergen produziert, die bis vor kurzem eine der drei universitären Hauptstützpunkte der TEI war. Das in Schönbühel im Kastil-Nachlaß aufgefundene, noch unpublizierte Gespräch soll in einem Sonderband der Brentano-Studien gedruckt und auf einer beiliegenden CD-Rom ebenso wie im www publiziert werden. Dieses Gespräch zeichnet sich einmal dadurch aus, daß Brentano hier wie in den Platonischen Dialogen als eine Art Sokrates im Gespräch mit zwei Würzburger Medizinstudenten bei einer gemeinsamen Zugfahrt von Aschaffenburg nach Würzburg auftritt; zum andern verläuft es zeitlich und inhaltlich parallel zur Metaphysik-Vorlesung Brentanos und bietet für diese beispielhafte Hinweise. Ausgangspunkt ist ein .Publikum' des Würzburger Professors Fick, das u. a. vom Gesetz der Wechselwirkung der Naturkräfte' handelte. Fick habe Sprünge und Lücken in dem Gesetz gesehen und offenbar durch apriorische Anleihen schließen wollen. Die beiden Gesprächspartner meinen, dieses Problem mittels mechanischer Erklärung zu lösen. Brentano hingegen versucht im Verlauf des Gesprächs die beiden „Materialisten" durch eine „streng rational" geführte Beweisführung zum Glauben an Gott „zu bekehren". Brentanos Verfahren läuft darauf hinaus, daß das Problem unter Berücksichtigung höherer psychischer Funktionen, dem Gewahrwerden physischer Abläufe durch qualitativ anders gelagerte „psychischer Prozesse", eine Lösung finde. Es müsse ein „geistiges Subjekt im Menschen", angenommen werden, eine „immaterielle Seele", ihre Unsterblichkeit. Die Frage der Entstehung und Wirkung der Naturkräfte, die bei Fick lückenhaft behandelt werde, scheine allein durch die erste notwendige Einwirkung denkbar, durch Gott. - Brentano setzt das Gespräch mit den beiden Studenten übrigens in weiteren privaten Sitzungen fort.

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b. Die Würzburger Metaphysik-Vorlesung Im Rahmen des Plans der Gesamtedition soll zunächst die Würzburger Metaphysik-Vorlesung ediert werden. Diese auch Metaphysikkolleg (Nachlaß-Bezeichnung Μ 96) genannte Vorlesung hat Brentano ab 1868 in Würzburg (und später in Wien) mehrmals angeboten. Es stellt eine zentrale Abhandlung Brentanos dar: Zum einen ist sie eine Weiterentwicklung seiner Dissertation Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden (1862), die den Versuch einer einheitlichen Deduktion der aristotelischen Kategorien vorlegte; zum anderen sind in dem Kolleg wesentliche Ansätze, die Brentano dann weiter ausarbeitet und die für sein Denken charakteristisch sind, hier im Ansatz enthalten. Bestimmte Inhalte und Methodenschritte werden bereits hier explizit thematisiert, wie ζ. B. die Darstellung und „Prüfung" der ontologischen Argumente verschiedener Provenienz sowie die „analytische Beschreibung" ontologischer Strukturen, welche das Teil-Ganzes-Verhältnis nach „physischer", „logischer" und „metaphysischer" Perspektive darstellt und dabei die alte Substanz-Akzidenz-Relation umkehrt in seine Lehre vom „Enthaltensein" der Substanz im Akzidenz, die ihrerseits die ontologische Grundlage und das Muster für die intentionale Verfassung psychischer Akte, dem zentralen Theorem der Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874) abgibt. Die Metaphysik-Vorlesung bietet somit zum einen Einblick in die Schaffensphase des jungen Brentano und in die Genese seiner Hauptthesen; zum anderen zeigt sich hier Brentanos Vorstellung vom Aufbau der Philosophie, vom Verhältnis zu ihren Teildisziplinen und zu den Nachbardisziplinen. Die Bedeutung des Manuskriptes für das Gesamtwerk Brentanos - und das seiner Schule - motiviert dazu, es einem weiteren Kreis zugänglich zu machen. Der Umfang des Manuskriptes beträgt ca. 300 Seiten, wobei die Blätter verschiedene Formate besitzen. Seine Struktur ist sehr komplex, da Brentano die Vorlesung mehrfach gehalten und dazu das Manuskript wiederholt verwendet hat, wobei es immer wieder ergänzt und neu in Lektionen eingeteilt wurde; diese Lektionen wurden dann ebenfalls neu durchnumeriert und mit Randbemerkungen versehen. Für diese Ergänzungen hat Brentano zum Teil unterschiedliche Tinten benutzt, so ζ. B. zwischen 1883 und 1889 lilafarbene Tinte für die Randbemerkungen. Daneben gibt es zahlreiche Parallelstellen. Eine elektronische Edition in der geplanten Form ermöglicht eine Darstellung der Textgenese und gibt somit Einblick in den Schaffensprozeß und Brentanos Arbeitsweise. Technische Grundlage der Edition sind die im Pilotprojekt erarbeiteten Richtlinien, die in der ersten Phase des Projektes den Gegebenheiten der Metaphysik-Vorlesung angepaßt werden: Gefördert wird dieses Projekt zwei Jahre lang durch die Fritz Thyssen Stiftung. Zwei weitere große Projekte wurden bereits in Angriff genommen; zum einen ermöglicht die Unterstützung der Franz Brentano Foundation (Boston) die vollständige Digitalisierung der an der Houghton Library befindlichen wissenschaftlichen Werkmanuskripte Brentanos, während der österreichische Wissenschaftsfond FWF die Mittel für das dreijährige Projekt„Franz Brentanos Erkenntnistheorie in ihrer Wiener Periode" bereitgestellt hat, in dessen Rahmen auch die Edition der letzten und bedeutendsten seiner Wiener Logikvorlesungen geplant ist.

218 4.

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Anhang: Editionsplan 1. Abteilung: Schriften 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

Schriften zur Psychologie Schriften zur experimentellen Psychologie Schriften zur Ethik Schriften zu Aristoteles I Schriften zu Aristoteles II Vorträge Vermischte Aufsätze

2. Abteilung: Nachgelassene Schriften A. Vorlesungsmitschriften Mitschriften von Vorlesungen u. a. von A. Trendelenburg (Metaphysik), F. Clemens (Geschichte der mittelalterlichen Philosophie), E. v. Lasaulx (Geschichte), Boekh (Logik), Urlichs (Metaphysik). B. Vorlesungen 1. Bd. Metaphysikkolleg 2. Bd. Ontologiekolleg 3. Bd. Ausgewählte Fragen aus der Metaphysik. Beweise des Daseins Gottes 4. Bd. Unsterblichkeitskolleg 5. Bd. Logikkolleg I (1878/88) 6. Bd. Logikkolleg II (1884/85) 7. Bd. Ausgewählte Fragen aus Psychologie und Ästhetik (1885/86) 8. Bd. Deskriptive Psychologie (1887/88, 1888/89, 1890/91) 9. Bd. Positivismuskolleg 10. Bd. Ethikkolleg 11. Bd. Geschichte der Philosophie 12. Bd. Gründe wider den Empirismus [Weitere Bde. aus neu entdeckten Nachlässen] C.,Forschungsmanuskripte' 1. Bd. Schriften zur Schachtheorie 2. Bd. Poesie und Prosa 3. Bd. Rätsel 3. Abteilung: Korrespondenz A. Die Brentano-Schule 1. Bd. Carl Stumpf 2. Bd. Anton Marty (2 Teilbände) 3. Bd. Hermann Schell

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4. 5. 6. 7. 8.

Bd. Bd. Bd. Bd. Bd.

Oskar Kraus Alfred Kastil Christian v. Ehrenfels Edmund Husserl; Alexius Meinong Weitere Schüler

B. Familienkorrespondenz 1. Bd. Brentanos Mutter Emilie 2. Bd. Brentanos Bruder Lujo 3. Bd. Die weiteren Geschwister; Verwandtschaft C. Sonstige Korrespondenz 1. Bd. Kollegen 2. Bd. Personen öffentlichen Interesses

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Ullrich Melle

Die Husserl-Edition, ihre Wirkungsgeschichte und die Rezeption des Nachlasses Stadien einer Wechselwirkung

Im Juli 1938 legte der 1911 geborene Franziskanermönch und Priester Herman-Leo Van Breda sein Lizentiatsexamen in Philosophie am Institut Superieur de Philosophie an der Katholischen Universität Leuven mit einer Arbeit über Husserls Philosophie ab. Van Breda interessierte sich für die Möglichkeiten, die Husserls Phänomenologie für eine Erneuerung der Naturphilosophie eröffnete, und er beabsichtigte dieses Interesse in einer Dissertation über Husserls Spätwerk zu verfolgen. Er wollte hierfür Gebrauch machen von unveröffentlichten Manuskripten Husserls. Am 18. August 1938 fuhr Van Breda deshalb nach Freiburg i. Br., wo er am folgenden Tag die Witwe Husserls, Frau Malvine Husserl, im Beisein von Eugen Fink aufsuchte. Husserl selbst war keine vier Monate zuvor, am 27. April 1938, im Alter von 79 Jahren gestorben. Husserls eigene Veröffentlichungen sind nur die sichtbaren Spitzen von gewaltigen Eisbergen in Form von fast ausschließlich stenographisch niedergeschriebenen Manuskripten, deren Gesamtumfang sich auf ungefähr 40.000 Blätter beläuft. Da die von ihm veröffentlichten Schriften überwiegend einleitenden und programmatischen Charakter hatten und es Husserl trotz langjähriger, oft verzweifelter Anstrengungen nicht gelungen war, seine weit verzweigten phänomenologischen Deskriptionen und Analysen in einen kohärenten systematischen Zusammenhang zu bringen und in einer letztgültigen Form zu veröffentlichen, war Husserl selbst bereits um die Zukunft seines literarischen Nachlasses besorgt. Nur aus diesem Nachlaß würde man die reichen Ergebnisse seiner konkret durchgeführten phänomenologischen Forschung kennenlernen, um diese dann korrigieren, verfeinern oder fortführen zu können. Im Blick nicht nur auf die Bewahrung, sondern die Erschließung, Erforschung und Veröffentlichung seiner unveröffentlichten Manuskripte hat Husserl unter Mithilfe von Eugen Fink zwischen 1933 und 1935 seinen Nachlaß selbst bereits geordnet, die Manuskripte signiert und in Mappen verteilt, die Mappen wiederum in thematisch bestimmte Hauptund Untergruppen gegliedert.1 Im März 1935 verhandelte Husserl mit dem Cercle Philosophique de Prague und dem Masao^-Institut wegen der Überbringung seiner Manuskripte nach Prag im Hinblick auf ihre zukünftige Publikation. In erster Linie ging es dabei jedoch, wie Husserl selbst an Roman Ingarden schrieb, um die „Rettung der ungeheuren Manu-

Siehe hierzu Sebastian Luft: Die Archivierung des Husserlschen Nachlasses 1933-1935. In: Husserl Studies 20, 2004, S. 1-23.

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skript-Mengen". Husserl war jüdischer Herkunft, so daß die Manuskripte vor der eventuellen Vernichtung durch die Nazis in Sicherheit gebracht werden mußten. Mit finanzieller Unterstützung des Cercle und dann auch der Rockefeller-Stiftung begann Ludwig Landgrebe in Prag mit der Transkription von stenographischen Manuskripten, die Husserl hierfür nach Prag schickte. Der Nachlaß als ganzes blieb jedoch in Freiburg. Als Van Breda nach Freiburg reiste, war mit dem Tode Husserls die Gefährdung des Nachlasses, aber vor allem auch von Malvine Husserl nur größer geworden. Van Breda faßte den Entschluß zu einer einzigartigen Rettungsaktion. Es gelang ihm sowohl das Vertrauen von Malvine Husserl wie die Bereitschaft von Husserls ehemaligen Assistenten Ludwig Landgrebe und Eugen Fink, um in Leuven die Veröffentlichung von Husserls Manuskripten vorzubereiten, zu gewinnen. In Leuven überzeugte er die verantwortlichen Stellen, vom Präsidenten des Instituts bis zum Rektor der Universität, um die Überbringung des Nachlasses nach Leuven zu ermöglichen. Im September 1938 unterschrieb Malvine Husserl ein Scheindokument, wodurch Van Breda Eigentümer des Nachlasses wurde. Dadurch konnten die Manuskripte im diplomatischen Gepäck der belgischen Botschaft nach Belgien gebracht werden. Am 27. Oktober 1938 erklärte sich die Francqui-Stiftung bereit, die Gehälter von zwei Assistenten für zwei Jahre zu bezahlen. Dieser Tag gilt seitdem als der Geburtstag des HusserlArchivs in Leuven. Im März und April 1939 kamen Fink und Landgrebe nach Leuven, um mit der Transkriptionsarbeit zu beginnen. Schon im Januar und März 1939 wurden von Eugen Fink die ersten Manuskripte aus dem Nachlaß veröffentlicht: „Die Frage nach dem Ursprung der Geometrie als intentional-historisches Problem" in der zweiten Nummer der Revue internationale de Philosophie und „Entwurf einer Vorrede zu den ,Logischen Untersuchungen'" in der ersten Nummer der Tijdschrift voor Filosofie. Von großer Bedeutung für die Phänomenologie im Allgemeinen und die HusserlRezeption im Besonderen erwies sich der Besuch von Merleau-Ponty Anfang April 1939. Sein Interesse galt Manuskripten, die zum zweiten Buch der Ideen, zu Erfahrung und Urteil und zur Äm«-Schrift gehören sowie dem Manuskript „Die Ur-Arche Erde bewegt sich nicht". Schon dieser frühe Forschungsaufenthalt am noch jungen Husserl-Archiv macht deutlich, daß das Archiv unter der Leitung Van Bredas, was die Nachlaßmanuskripte betraf, ohne durch die Familie Husserls daran gehindert zu werden, von Anfang an eine Politik der offenen Tür und offenen Schränke verfolgte: Jeder interessierte Forscher konnte die Manuskripte uneingeschränkt konsultieren. Faktisch natürlich gab es eine Beschränkung durch die stenographische Schrift, da auswärtige Forscher in der Regel nur transkribierte Manuskripte zu lesen im Stande waren. Im Juni 1939 kam Malvine Husserl mit ihrer Haushälterin nach Leuven, um auf ihre Einschiffung nach den U.S.A zu warten. Sie erhielten jedoch keine Visa und mußten bis Kriegsende in Leuven bleiben. Während der deutschen Besetzung versteckte Van Breda sie in den vielen Klöstern in und um Leuven herum. Nach der deutschen Invasion in Belgien mußten Fink und Landgrebe nach Deutschland zurückkehren, so daß die Transkriptionsarbeit bis 1942 zum Erliegen kam. Im Juni 1942

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wurden Stephan Strasser und seine Frau Gertrude Strasser, die beide jüdischer Herkunft waren und nach der Annexion aus Österreich geflüchtet waren, angestellt, um die Transkriptionsarbeit fortzusetzen. Auch sie wurden durch Van Breda vor dem Zugriff durch die Nazis geschützt. Sie transkribierten in verschiedenen Verstecken. Im Februar 1945 veröffentlicht Van Breda erstmals einen kurzen Artikel Uber das Husserl-Archiv in einer niederländischen Zeitschrift, in dem er Uber die Entstehung des Archivs, die Ordnung des Nachlasses und die Arbeit am Nachlaß berichtet.2 Als wichtigste Aufgabe des Archivs bezeichnet er in diesem Text die systematische Transkription der stenographischen Handschriften. Eine solche systematische Transkription muß den Weg ebnen für eine vollständige oder partielle Ausgabe von Husserls opus postumum. Die großen finanziellen Nöte, in denen sich das Archiv zwischen März 1944 und August 1948 befand, hinderten Van Breda nicht daran, zum 1. Januar 1946 zwei neue Mitarbeiter einzustellen: Walter und Marly Biemel. Im Oktober von 1946 besuchte Alfred Schütz das Husserl-Archiv, um Texte über Intersubjektivität zu studieren. Schütz wird später an der New School for Social Research in New York eine führende Rolle in der amerikanischen Husserl-Rezeption spielen. In den vierziger Jahren wurde die amerikanische Husserl-Rezeption jedoch durch Marvin Farber und die von ihm gegründete International Phenomenological Society mit ihrer Zeitschrift Philosophy and Phenomenological Research beherrscht. In der ersten Ausgabe der Zeitschrift hatte Schütz unter dem Titel ,Notizen zur Raumkonstitution" ein spätes Forschungsmanuskript von Husserl herausgegeben. Dem Husserl-Text ging ein Artikel von Marvin Farber mit dem Titel,.Edmund Husserl and the Background of his Philosophy" voran. Am Ende seines Artikels bestimmt Farber als die Zielsetzung der Zeitschrift die Fortsetzung von Husserls Programm einer Philosophie als strenger Wissenschaft. Diese Zielsetzung war gerichtet gegen die Heideggersche Transformation der Phänomenologie. So heißt es bei Farber: „The nominal adoption and misuse of the phenomenological method has already illustrated the dangers of mysticism, one-sided and hence misleading description, dogmatism, and agnosticism."3 Im selben Jahr wie die erste Nummer der Zeitschrift gab Farber einen Band mit Philosophical Essays in Memory of Edmund Husserl heraus. Der Band enthält u. a. Beiträge von den ehemaligen Husserl-Schülern Dorian Cairns, Aron Gurwitsch, Herbert Spiegelberg, Fritz und Felix Kaufmann, Charles Hartshorne, William Ernest Hocking. Ebenfalls mit einem Beitrag ist Husserls Sohn Gerhart Husserl vertreten, und schließlich enthält auch dieser Band ein Nachlassmanuskript von Husserl selbst. Im Jahre 1943 veröffentlicht Farber dann unter dem Titel The Foundation of Phenomenology. Edmund Husserl and the Quest for a Rigorous Science of Philosophy seine eigene umfangreiche Studie über Husserls Philosophie.

2

3

Siehe Herman Leo Van Breda: Het Husserl-archief te Leuven. In: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerte en Psychologie, 38" jaargang, nr. 5, S. 150-155. Marvin Farber: Edmund Husserl and the Background of his Philosophy. In: Philosophy and Phenomenological Research, Volume I, Sept. 1940-June 1941, S. 20.

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Der Grund, warum wir relativ ausführlich auf diese frühe amerikanische HusserlRezeption unter Leitung von Marvin Farber eingegangen sind, besteht darin, daß sich hier eine Art Zentrum der Husserl-Orthodoxie herausbildete, die sich auf namhafte Husserl-Schüler, die aus Europa nach den U.S.A. emigriert waren, und vor allem auch auf Gerhart Husserl stützen konnte und die Van Breda die wissenschaftliche Autorität bezüglich der Veröffentlichung des Nachlasses streitig machte. Eine empfindliche Rolle spielte hierbei die aus den historischen Umständen heraus verständliche Gegnerschaft der deutschen Emigranten gegen Heidegger und seinen großen Einfluß auf die Philosophie. Aufgrund dieser Gegnerschaft begegnete man vor allem auch Fink mit einem gewissen Mißtrauen, und Van Bredas Anstellung des Heidegger-Schülers Walter Biemel wurde ebenfalls als unpassend empfunden. Fink wiederum von seiner Seite war ebenfalls skeptisch, was die Qualifikation von Van Breda und seiner Mitarbeiter betraf, um aus eigener Kraft und Einsicht, den Husserlschen Nachlaß zu edieren. Hierzu bedürfte es der Mitarbeit der ausgewiesenen Husserlexperten in der International Phenomenological Society. Van Breda erklärte daraufhin, daß er sich nicht die Kompetenz anmaße, um mit einer Edition der sogenannten Forschungsmanuskripte Husserls zu beginnen. Der größte Teil des Nachlasses besteht aus solchen, die tagtägliche Gedankenarbeit festhaltenden, nicht zur Veröffentlichung bestimmten Manuskripten. Statt dessen könne man aber mit einer philologisch verantwortlichen Ausgabe der zur Veröffentlichung vorbereiteten oder für den öffentlichen Vortrag bestimmten Manuskripte beginnen. Finks Skepsis dürfte auch darin einen Grund gehabt haben, daß ihm eine bestimmte Form der Edition vor Augen stand, als dessen Modell Landgrebes im Auftrag Husserls unter dem Titel Erfahrung und Urteil veröffentlichte Zusammenstellung von Texten Husserls gelten kann. Husserl hat bereits relativ früh seine Assistenten damit beauftragt, verschiedene, zu einem bestimmten Themenkreis gehörende Manuskripte und Teile von Manuskripten zu einem kohärenten Text zusammenzufügen, um diesen nach einer weiteren Bearbeitung durch ihn selbst zu veröffentlichen. Vor allem Edith Stein und Ludwig Landgrebe haben an solchen Projekten gearbeitet, von denen zu Husserls Lebzeiten nur die von Heidegger herausgegebene, aber eigentlich von Stein redigierten „Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins"4 veröffentlicht wurden. Erfahrung und Urteil erschien erst nach Husserls Tod, und erst in den Gesammelten Werken erschien Edith Steins Bearbeitung des zweiten Buches der Ideen} Auch Fink hatte an einem solchen Projekt gearbeitet, den sog. Bernauer Manuskripten über die Zeit.6 Es ist klar, daß die sowieso äußerst beschränkte Authentizität einer solchen Form der Edition, in dem getrennte Manuskripte und Manuskriptstücke zu einem durchlaufenden Text zusammengefügt werden, von der Autorität des betreffenden Editors in bezug auf seine Kenntnisse der Absichten Husserls abhängt, eine Autorität, die eigentlich nur den nahen Schülern des Meisters zukam. Dadurch,

4 5 6

Siehe Husserliana Bd. X. Siehe Husserliana Bd. IV. Siehe Husserliana Bd. XXXIII.

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und die Rezeption des

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daß Van Breda die Edition der Forschungsmanuskripte zunächst zurückstellte, konnte auch das Problem der Form für eine solche Edition vorerst offenbleiben. Im Sommer 1947 finden zwei wichtige Besuche statt: Im Juli ist Gerhart Husserl und im September Marvin Farber zu Besuch im Husserl-Archiv. Van Breda trifft mit Husserls Sohn eine Übereinkunft über den zukünftigen Status des Archivs, über die beiderseitigen Rechte der Familie und des Archivs sowie über die Ausgabe von Husserls Werk. Was das letztere betrifft, so wird einvernehmlich festgelegt, daß zunächst eine textkritische Ausgabe der von Husserl selbst zur Publikation vorbereiteten Manuskripte sowie von Vorlesungsmanuskripten erfolgen soll. Was die Ausgabe der Forschungsmanuskripte betrifft, will man einem Vorschlag Landgrebes folgen, um an Hand eines thematischen Index die wichtigsten Forschungsmanuskripte zu einem bestimmten Thema in ihrer ursprünglichen Form zu edieren, also auf eine Zusammenfügung von Manuskripten zu einem einheitlichen Text zu verzichten. Über die Gespräche mit Marvin Farber schreibt Van Breda an Frau Husserl, daß bei diesen Gesprächen alle Meinungsverschiedenheiten, die zwischen Farber und ihm bestanden hätten, ausgeräumt wurden. Sie wären sich darin einig gewesen, daß die Transkription und die Ausgabe von Husserls Manuskripten allein unter der Leitung des Leuvener Archivs erfolgen sollte, während die International Phenomenological Society das Organ einer phänomenologischen Schule sein sollte, die auch eine Europäische Abteilung haben müsse. 1950 erscheinen kurz hintereinander im März, April und Juni die ersten drei Bände in der Reihe Husserliana. Gesammelte Werke beim niederländischen Verlag Martinus Nijhoff. Im selben Jahr, am 21. November stirbt Malvine Husserl in Freiburg. Dem ersten Band, der die Cartesianischen Meditationen und ihre Vorlage, die „Pariser Vorträge" befaßt, geht ein Vorwort von Van Breda voran, in dem er die Ausgabe vorstellt, die Textauswahl für die ersten drei Bände begründet und die Editionsprinzipien erläutert. Was das letztere betrifft, so unterstreicht Van Breda den kritischen Charakter der Ausgabe - „nous avons suivi les principes generalement appliques pour toute edition critique en tenant compte pourtant du genre special des manuscripts en question" - allerdings unter Berücksichtigung des besonderen Charakters der Nachlaßmanuskripte. Die unbedingte Texttreue soll aber nicht, so erklärt Van Breda, Ausdruck einer irgendwie gearteten Husserl-Orthodoxie sein. Es ginge bei der Edition keineswegs darum, die Bildung einer Husserl-Schule zu befördern. „Nous avons foi", schreibt Van Breda, „sans doute, dans la valeur reelle du maitre en dans l'importance de son ceuvre. Mais nous tenons ä declarer ici, et de la fagon la plus formelle, que nous ne nous lions aucunement ä la doctrine de Husserl, et que nous nous reservons la plus grande liberte dans la critique de ses theories et dans la determination de notre propre position philosophique."7 Man kann in diesem politischen statement eine Distanzierung vom Programm der International Phenomenological Society lesen, eine Distanzierung, die vermutlich auch im Einfluß und im bestehenden engen Kontakt mit der französischen, der sogenannten existentiellen Phänomenologie, die in Leuven selbst einen bedeutenden Ver7

Husserliana Bd. I, S. XII.

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treter in Gestalt von Alphonse De Waelhens hatte, begründet war. Leuven lag damals wie heute auf dem Kreuzungspunkt philosophischer Einflüsse aus verschiedenen Ländern. Van Breda ging offensichtlich von einem inklusiven Verständnis der phänomenologischen Bewegung aus, und er wollte das Archiv in dieser so verstandenen, verschiedene Tendenzen umfassenden Bewegung positionieren. Die Husserl-Ausgabe war und ist keine historisch-kritische Ausgabe, sondern „nur" eine kritische Ausgabe, insofern sie die edierten Texte mit einem kritischen Apparat versieht, in dem das betreffende Manuskript allgemein beschrieben wird sowie die verschiedenartigen Textveränderungen und -bearbeitungen von Husserl weitgehend vollständig dokumentiert werden. Ausgenommen von dieser Dokumentation ist die wenig kohärente Zeichensetzung Husserls, die stillschweigend den jeweils geltenden Regeln angepaßt wird. Auch die zahlreichen Unterstreichungen von Husserl werden nicht im Einzelnen aufgeführt. Der kritische Charakter der Ausgabe wird auch noch in anderen Hinsichten durch einen gewissen Pragmatismus eingeschränkt. Die veröffentlichten Manuskripte werden, wenn sie einen entsprechenden Umfang haben und soweit dies nicht von Husserl selbst geschehen ist, vom Herausgeber in Teile, Kapitel, Paragraphen usw. gegliedert. Der Herausgeber versieht diese Teile, Kapitel, Paragraphen usw. mit Titeln. Alle Einfügungen von der Hand des Herausgebers stehen in spitzen Klammern und ein eigener Abschnitt im Apparat erläutert die Textkonstitution. Im zweiten Band der Husserliana8 findet man, hier noch in rudimentärer Form, das für die späteren Ausgaben fundamentale Prinzip der Zweiteilung in einen Haupttext und diesem Haupttext zugeordnete Beilagen. Diese Beilagen können Manuskripte sein, die von Husserl selbst im Hinblick auf das als Haupttext wiedergegebene Manuskript verfaßt und diesem zugeordnet wurden oder die vom Herausgeber aus historischen und thematischen Gesichtspunkten aus dem Nachlaß ausgewählt wurden. Das letztere eröffnete in den zukünftigen Bänden die Möglichkeit, Forschungsmanuskripte als Beilagen zu solchen Haupttexten zu veröffentlichen. 1952 erschienen als Band IV und V der Gesammelten Werke das unvollendet gebliebene zweite Buch von Husserls Hauptwerk Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zu Lebzeiten Husserls war nur das erste Buch erschienen. Dieses war unter Berücksichtigung von Husserls späteren Annotationen bereits als Band III der Gesammelten Werke neu herausgegeben worden. Während das erste Buch eine programmatische Einführung in die Phänomenologie mit einer Darstellung der phänomenologischen Methode, der allgemeinen Strukturen des transzendentalen Bewußtseins sowie eine Skizze der vernunfttheoretischen Problematik enthielt, sollte der zweite Band den im ersten Band gesteckten Rahmen durch konkrete Konstitutionsanalysen zu den verschiedenen Gegenstandsbereichen ausfüllen. Auf diese konkrete Durchführung richtete sich bei den Husserl-Forschern ein großes Interesse. In 1954 erschien dann als Band VI mit der Ära/s-Schrift das letzte Werk

In diesem Band finden sich unter dem Titel Die Idee der Phänomenologie die fiinf Einführungsvorlesungen zu Husserls Vorlesung „Hauptstücke aus der Phänomenologie und Kritik der Vernunft" von 1907. Die übrige Vorlesung wurde unter dem Titel Ding und Raum in Husserliana Bd. XVI ediert.

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und die Rezeption des Nachlasses

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von Husserl. Von diesem Werk war zwei Jahre vor Husserls Tod nur der Anfang in der in Belgrad herausgegebenen und wenig verbreiteten Zeitschrift Philosophia erschienen. Den eigentlichen zentralen Teil hielt Husserl wegen Umarbeitungsplänen zurück. Er arbeitete daran bis kurz vor seinem Tod. In der kritischen Ausgabe erschien nun der gesamte Text. Diesem Haupttext waren zahlreiche ergänzende Texte in Form von drei weiteren Abhandlungen und 29 Beilagen hinzugefügt. In einem 1953 im Philosophischen Jahrbuch der Görres-Gesellschaft veröffentlichten Artikel erklären Van Breda und Rudolf Boehm, der seit 1952 eine Assistentenstelle im Archiv bekleidete, daß mit der Edition der ATraw-Abhandlung ein erster Abschnitt in der Ausgabe der Gesammelten Werke abgeschlossen sei. „Der philosophischen Öffentlichkeit werden die reifsten und ausgeführtesten Grundwerke der Phänomenologie aus drei ihrer bedeutendsten Epochen vorliegen".9 Ausdrücklich weisen Van Breda und Boehm auf den ungewohnten Umfang der Ergänzenden Texte im Krisis-Band hin, „deren Sammlung und Anknüpfung an den Haupttext im vorliegenden Falle das Werk des Herausgebers" ist. Die Krisis-Ausgabe soll das Modell sein für die zukünftige Edition der Forschungsmanuskripte. „Die Lösung, die wir in der Krisis-Ausgabe vorlegen, umgeht die Schwierigkeiten und das Bedenkliche eines Verfahrens, demgemäß die Edition einer Sammlung von Forschungsmanuskripten sich allein auf eine einleitende Interpretation, die Anordnung und verbindende erläuternde Texte des Herausgebers stützte."10 In der nächsten Phase der Edition sollen, so kündigen Van Breda und Boehm an, einige der wichtigsten Grundvorlesungen aus der Zeit von Husserls Freiburger Lehrtätigkeit veröffentlicht werden, da aus der Zeit zwischen dem Erscheinen des Ersten Buches der Ideen im Jahre 1913 und dem Erscheinen von Formale und Transzendentale Logik im Jahre 1928 der Öffentlichkeit bisher über Husserls Arbeit nichts bekannt ist. Die folgenden fünf Bände werden dann dieser Ankündigung entsprechend auch Ausgaben von Vorlesungen Husserls sein. In Van Bredas und Boehms Bericht finden sich abschließend auch einige Bemerkungen zur aktuellen Husserl-Rezeption. Die Autoren unterstreichen die Bedeutung des Werkes Husserls für die zeitgenössische philosophische Diskussion. Dabei stellen sie fest, daß die Idee der Phänomenologie „das lebhafteste Interesse und die fruchtbarste Fortbildung in der zeitgenössischen französischen Philosophie" findet. In der englisch-sprechenden Welt ist Husserls Einfluß weit geringer. „In Amerika aber wurde das Werk Husserls doch durch die nicht wenigen deutschen Phänomenologen, die in der Faschistenzeit ihre Heimat verlassen mußten und in den U.S.A. eine neue Stätte der Forschung und Wirkung fanden, in weiteren Kreisen bekannt und lebhaft beachtet."11 Die Äußerungen Van Bredas und Boehms über Husserls aktuelle Wirkung in Deutschland sind bezeichnenderweise sehr unscharf: „In Deutschland selbst haben kontinuierlich hervorragende Denker der phänomenologischen Schule' maßgebenden Anteil am philosophischen Leben. Die in der Zeit der Lehrtätigkeit Husserls liegen9

10 11

H. L. Van Breda und R. Boehm: Aus dem Husserl-Archiv zu Löwen. In: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 62. Jahrgang/2. Halbband, Freiburg-München, 1953, S. 247. Ebd. S. 248. Ebd. S. 250.

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den Anfänge der jüngsten Entwicklungen der Philosophie in diesem Lande werden Gegenstand erneuter Besinnung. Bislang noch nicht im Druck veröffentlichte Forschungen Husserls, die er doch seinerzeit schon in Vorlesungen mitgeteilt und teilweise in ausgearbeiteten Mss. dem engeren Freundes- und Schülerkreis zugänglich gemacht hat, können hier als historische Quellen einen besonderen dokumentarischen Wert haben."12 Es ist interessant, an dieser Stelle die umfangreiche, ebenfalls 1953 in der Philosophischen Rundschau unter dem Titel „Kritische Betrachtungen zu Husserls Nachlaß" erschienene Rezension von Hans Wagner heranzuziehen. Wagner konstatiert „ein neues und reges Interesse für Husserl und die Phänomenologie [...], zunächst und vor allem im Ausland." Es ist ihm zufolge nicht ausgeschlossen, daß es „zu einer Art Husserl-Renaissance kommen wird".13 In Deutschland ist bisher eine kritische Auseinandersetzung mit dem späteren Husserl noch nicht erfolgt. Die Auseinandersetzung mit Husserl überhaupt setzte in Deutschland 1933 aus. Danach wird Husserls Werk überschattet von Martin Heidegger, dessen Werk als „Radikalisierung und Konkretisierung des phänomenologischen Anliegens"14 verstanden wird, so daß Husserl als bloßer Durchgangspunkt zu Heidegger erscheint. Des weiteren trug, Wagner zufolge, Nicolai Hartmann dazu bei, daß das Interesse an Husserl zurückging. Mittlerweile sei jedoch, so Wagner, die Problemlage gegenüber Husserl eine völlig andere - „Heidegger ist uns nicht mehr der Husserl-Schüler, Hartmann interessiert und beunruhigt uns heute gerade in seinem Abgehen von Phänomenologie und Husserl"15 - , und als Beleg für diese veränderte Problemlage führt er die Vorträge auf dem Internationalen Phänomenologischen Kolloquium, das im April 1951 in Brüssel stattfand, an. Diese Vorträge wurden 1952 in einem kleinen Bändchen von Van Breda herausgegeben, der Beitrag von Eugen Fink zweisprachig in Deutsch und Französisch, alle anderen Beiträge, u. a. von Merleau-Ponty, von Paul Ricceur und Jean Wahl nur in Französisch. In Deutschland war, was die öffentliche Aufmerksamkeit betraf, Husserls Stern bereits vor 1933 durch die Wirksamkeit zunächst von Scheler und dann von Heidegger im Sinken begriffen gewesen. Durch zahlreiche Schüler aus dem Ausland erzielte Husserls Philosophie jedoch eine große und nachhaltige internationale Wirkung. So wurden die Hauptwerke Husserls in viele Sprachen übersetzt, und es entstanden schon früh phänomenologische Schulen in europäischen und außereuropäischen Ländern, ζ. B. in Japan oder in Rußland, in denen im Gegensatz zu Deutschland, Husserls Werke weiterhin intensiv rezipiert wurden. Dies erklärt auch das lebhafte internationale Echo auf das Erscheinen der ersten Bände der Husserliana. Was deutsche Reaktionen betraf, so war bereits 1951 im Merkur eine Besprechung von Max Bense zu den ersten drei Bänden der Husserliana erschienen. Ähnlich wie Wagner schreibt Bense, daß Husserl bereits vor 1933 und sicher noch nach 1945 in 12 13

14 15

Ebd. Hans Wagner: Kritische Betrachtungen zu Husserls Nachlaß. In: Kritische Philosophie. Systematische und historische Abhandlungen. Hrsg. von Karl Bärthlein und Werner Flach, Würzburg, 1980, S. 362. Ebd. S. 363. Ebd. S. 364.

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Deutschland vernachlässigt worden sei. Im Übrigen gilt Husserl Bense als ein wiedergeborener Descartes.16 In seiner kurzen Besprechung der ersten beiden Bänden, die 1951 in Studia Philosophica erscheint, bewertet Hans Kunz „Text, Druck und Ausstattung" der vorliegenden Bände als „ganz vorzüglich" und wünscht dem Unternehmen darum einen ungestörten Fortgang, äußert aber „eine leise Skepsis" hinsichtlich der philosophischen Bedeutung von Husserls Nachlaß. Nach einem Referat von nur wenigen Zeilen konstatiert er das Scheitern von Husserls Projekt, das eine Wiederaufnahme des Cartesischen Versuchs der „Begründung einer absolut gewissen, jedem Zweifel entzogenen universalen Erkenntnis" sei. Das Resultat von Husserls philosophischer Anstrengung bleibt, meint Hans Kunz, „von einer erschütternden Dürftigkeit, trotz des unermüdlich sich wiederholenden Reflektierens".17 Die neue Ausgabe fand breite internationale Aufmerksamkeit, wie sich in den zahlreichen Besprechungen der ersten Bände zeigte. Wie zu erwarten galt dabei das Interesse vornehmlich den Husserlschen Texten und weniger der Gestaltung der Edition, die meist nur in ein oder zwei Sätzen positiv gewürdigt wurde. Als Beispiel möge die kurze Besprechung der Bände IV bis VI von Hans Kunz dienen. In dieser Besprechung heißt es am Schluß: „Die höchst schwierige editorische Arbeit ist (von kleinen Druckfehlern abgesehen) wiederum vorbildlich, ebenso die äußere Ausstattung der Bände".18 Es gab keine Kritik hinsichtlich der Auswahl der Texte für die ersten sechs Bände, da es sich unzweifelhaft um Grundtexte des Husserlschen Gesamtwerkes handelte. Wie oben bereits erwähnt verfolgte Van Breda, was den Nachlaß Husserls betraf, eine Politik der offenen Türen und Schränke, d. h. daß ein stetiger Strom von Besuchern im Archiv in Leuven oder in den inzwischen errichteten Zweigarchiven in Freiburg und Köln die vorhandenen Transkriptionen für die eigene wissenschaftliche Arbeit studierte. Auch was den Gebrauch von Nachlaßtexten in Publikationen betraf, waren die Regeln, was den Umfang von Zitaten und Exzerpten betraf, sehr großzügig. Das hatte eine positive und eine vielleicht eher bedenkliche Folge: Zum einen wurde dadurch die Forschungsarbeit an der Erschließung des Nachlasses auf eine breite Basis gestellt, insofern vor allem auch jüngere Forscher die Gelegenheit bekamen, sich durch eine Forschungsarbeit über ein Thema oder eine Periode aus Husserls Werk, die in den veröffentlichten Werken noch relativ wenig dokumentiert waren, durch diesbezügliche Nachlaßforschungen einen Namen zu machen. Auf der anderen Seite führte dies jedoch zu Monographien, die sich auf umfangreiche Zitate aus Nachlaßtexten stützten und die oft für viele Jahre die einzige der interessierten Öffentlichkeit zugängliche Quelle für den betreffenden Themenbereich in Husserls Werk waren. Diese Monographien wurden so zu einer Art Editionsersatz. Ein erstes prägnantes

16

17

18

Siehe Max Bense: Bemerkungen Uber die Gesamtausgabe der Werke Husserls, Merkur, 5 (10), 1951, S. 987-990. Hans Kunz. In: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft. Vol. X, 1950, S. 171. Hans Kunz. In: Studia Philosophica. Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft. Vol. XV, 1955, S. 239.

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Beispiel hierfür ist die 1955 unter dem Titel Welt, Ich und Zeit erschienene Studie von Gerd Brand, die den angedeuteten Sachverhalt bereits im Untertitel zum Ausdruck bringt; dieser lautet: Nach unveröffentlichten Manuskripten Edmund Husserls. Gerhart Husserl forderte im Namen der Familie Lizenzgebühren für dieses Buch, weil es sich ihm zufolge um eine verdeckte Edition handelte. Der größte Teil der von Brand verwendeten Nachlaßmanuskripte stammt aus der sog. C-Gruppe. Die Manuskripte in dieser Gruppe enthalten Husserls späte Analysen zum Zeitbewußtsein. Noch wirkmächtiger als Brands Studie war das 1966 erschienene Buch von Klaus Held mit dem Titel Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Edmund Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik. Diese Arbeit ist größtenteils eine Studie zu den C-Manuskripten, die bei ihrem Erscheinen den bereits bestehenden Mythos um diese Manuskripte verstärkte. Seit der Veröffentlichung von Heids Buch richtete sich ein großes und andauerndes Interesse der Husserl-Forschung auf die C-Manuskripte, womit auch der dringende Wunsch nach einer Edition dieser Manuskripte verbunden war. Immer wieder erhielt das Archiv Anfragen bezüglich einer solchen Edition. Einzelne Manuskripte aus der C-Gruppe werden im Laufe der Jahre in verschiedenen Editionen als Beilagen veröffentlicht, aber eine kritische Edition der Gruppe als ganzes in den Gesammelten Werken erwies sich aus verschiedenen Gründen als so schwierig, daß sie bis heute nicht realisiert werden konnte. Um dem fortbestehenden großen Bedürfnis nach einer Veröffentlichung dieser Manuskripte nachzukommen, hat sich das Archiv letztendlich entschlossen, die Transkriptionen der C-Manuskripte in einem Materialienband herauszugeben. In der vom Archiv selbst herausgegebenen Reihe Phaenomenologica erschienen zahlreiche Monographien - oft von Mitarbeitern der Archive in Leuven, Köln und Frei bürg - , die sich wie die Arbeit von Held auf Nachlaßforschungen stützten. Um noch ein weiteres Beispiel für eine solche auf dem direkten Zugriff auf den unveröffentlichten Nachlaß gebaute Studie anzuführen, sei auf das Buch von Alois Roth mit dem Titel Edmund Husserls ethische Untersuchungen aus dem Jahre 1960 verwiesen. Daß Husserl auch auf dem Feld der Ethik gearbeitet hatte, war zu diesem Zeitpunkt kaum bekannt. Der Untertitel von Roths Arbeit lautet Dargestellt anhand seiner Vorlesungsmanuskripte. Diese Vorlesungsmanuskripte wurden erst 1988 und 2004 in den Gesammelten Werken herausgegeben.19 Viele Jahre lang war Roths Buch die einzige öffentlich verfügbare Quelle für Husserls Ethik. In der Rezeption des Husserlschen Werkes gab es somit lange Zeit eine deutliche Zweiteilung in die sich vor allem auf Nachlaßforschungen stützenden Arbeiten und auf die Interpretationen an Hand der veröffentlichten Werke. Als Frontforschung galt noch bis vor kurzem die Nachlaßforschung. Dies änderte sich erst langsam als mit dem Fortschreiten der Edition allmählich das gesamte Themenspektrum und alle Perioden von Husserls Philosophie in den Gesammelten Werken umfassend repräsentiert waren. Der Entschluß, unter dem Namen Phaenomenologica eine neue Reihe mit Monographien über das Werk Husserls und die Phänomenologie im weiteren Sinne heraus19

Siehe Husserliana Bd. XXVIII und Bd. XXXVII.

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und die Rezeption des Nachlasses

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zugeben, wurde auf dem zweiten internationalen Kongreß für Phänomenologie, der unter dem Titel Husserl und das Denken der Neuzeit im November 1956 in Krefeld stattfand, getroffen. Die Akten dieses Kongresses erschienen 1959 als zweiter Band der Reihe Phaenomenologica. Die Reihe wurde 1958 eröffnet mit Eugen Finks Buch Sein, Wahrheit, Welt. Vor-Fragen zum Problem des Phänomen-Begriffs. Die bis heute fortbestehende dreisprachige Reihe war lange Zeit die einzige ihrer Art und repräsentierte den Stand der Husserl-Forschung wie die neueren Entwicklungen in der Phänomenologie. So erschien 1961 als Band 8 der Reihe das Hauptwerk von Emmanuel Levinas Totalite et Infini. Bis heute umfaßt die Reihe 175 Bände. Mit der Veröffentlichung der ersten Bände der Husserliana, dem Beginn der Reihe Phaenomenologica, den weitgespannten internationalen Kontakten von Van Breda, die auch seine Kongreßakti vi täten einschlossen - den Kongressen in Brüssel 1951 und in Krefeld 1956 folgte 1957 eine Tagung über L'aeuvre et lapensee de Husserl in Royaumont in der Nähe von Paris - , des weiteren der Errichtung von Zweigarchiven nicht nur in Freiburg und Köln, sondern auch in Paris und in Buffalo; später in New York an der New School hatte van Breda das Archiv zu einem weltweit anerkannten Zentrum für die Phänomenologie Husserls ausgebaut. Völlig unangefochten blieb die Autorität von Van Breda im Zusammenhang mit der Ausgabe deswegen jedoch nicht. So veröffentlichte Roman Ingarden 1957 einen Aufsatz mit dem Titel „Über die gegenwärtigen Aufgaben der Phänomenologie", in dem er Empfehlungen für die Fortsetzung der Ausgabe ausspricht, die auch eine deutliche Kritik am bisherigen Editionsverfahren enthielten. So empfiehlt Ingarden, sich bei der Edition nicht bloß auf den Nachlaß zu beschränken, sondern auch die von Husserl selbst veröffentlichten Werke neu und kritisch herauszugeben. An erster Stelle nennt er hier Husserls Frühwerke die Logischen Untersuchungen und Die Philosophie der Arithmetik. Schon ein Jahr früher hatte Ingarden Van Breda brieflich sein Bedenken mitgeteilt, daß weder Landgrebe noch Fink den frühen Husserl gekannt hätten und daß es auch im Archiv an sachkundigen Kennern des frühen Husserl fehlte. Was die Edition des Nachlasses betrifft, bemängelt Ingarden, daß die bisherige Editionspraxis die Chronologie der Entstehung der Manuskripte vollkommen ignoriert. „Mag dies vom kommerziellen Standpunkt aus eine Rolle spielen", so schreibt Ingarden, „so ist es vom rein wissenschaftlichen und insbesondere historischen Gesichtspunkt aus sehr bedenklich. Leser, die keinen Zugang zu den Manuskripten haben - und das sind ja doch fast alle Leser! - können sich auf Grund der bis jetzt veröffentlichten Bände keine richtige Vorstellung über die Entwicklung der Husserlschen Gedankenwelt bilden. Noch mehr, es wird ihnen die Orientierung in dieser Entwicklung durch die Art des Publizierens ungeheuer erschwert."20 Vom systematischen Standpunkt aus beurteilt, so lautet die folgende kritische Bemerkung, tun die bis dahin veröffentlichten Bände dem Prinzip der Wichtigkeit nicht genüge. Hierbei bezieht sich Ingarden auf die den ersten sechs Bänden folgenden Vorlesungseditionen. Die Vorlesungen seien „keine echten Spuren der wirklichen Forschung Husserls", sondern Popularisierungen, die einen didaktischen

20

Roman Ingarden: Über die gegenwärtigen Aufgaben der Phänomenologie. In: II Compito della Fenomenologia. Scritti di G. Alliney e.a., Padova 1957, S. 231.

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Ulrich Melle

Zweck verfolgen. Den Forschungsmanuskripten gebührt deswegen der Vorzug. Ingarden erwähnt hier besonders die Manuskripte über die Zeit aus den Jahren 1917/18, die sog. Bernauer Zeitmanuskripte. „Es ist für mich", merkt Ingarden kritisch an, „ganz unbegreiflich wie diese Zeit-Untersuchungen Jahrzehnte lang unpubliziert liegen können, währenddessen ζ. B. der I. Band der ,Ersten Philosophie' den Vorrang der Veröffentlichung erringen konnte."21 Bei diesem ersten Band handelt es sich um eine philosophiehistorische Vorlesungsreihe. Ingarden erkennt die Schwierigkeiten an, die mit der Edition der Forschungsmanuskripte verbunden sind; diese sollten jedoch kein Hinderungsgrund sein, um diese Manuskripte so bald wie möglich zu veröffentlichen. Was die bis dahin fertiggestellte Edition betrifft, so können sie, schreibt Ingarden, „unzweifelhaft als ein Zeugnis sehr hoch stehender philologischer und philosophiegeschichtlicher Methode und echter Sorge um die möglichst beste Herausgabe des Husserlschen Gedankengutes dienen".22 Aber, so fährt er fort, es fehle an einer öffentlichen Diskussion über die Editionsprinzipien. Die bisher erschienenen Rezensionen, so stellt auch Ingarden fest, haben diese nicht geführt. Bezüglich dieser Editionsprinzipien drängen sich Ingarden zufolge eine Reihe von Fragen auf: Was ist der beabsichtigte Charakter der Ausgabe? Soll es sich um eine definitive Ausgabe oder um eine bloß vorbereitende, die mehr populäre Zwecke verfolgt, handeln? „Soll vermittelst dieser Ausgabe ein vollkommenes und adäquates Bild des Husserlschen Werkes gegeben werden, oder kommt es vorläufig nur auf eine gewisse Abbreviatur an?"23 Ingarden selbst ist der Überzeugung, „daß alles daran gesetzt werden muß, die begonnene Ausgabe als eine möglichst definitive und für die wissenschaftliche Forschung an der Husserlschen Philosophie ausreichende zu gestalten".24 Diesbezüglich scheint ihm aber das Verfahren, einem Grundtext vom Herausgeber ausgewählte Manuskripte bzw. Fragmente von Manuskripten als Beilagen zuzuordnen, zwar verlockend, aber bedenklich, da sie, kurz gesagt, den Leser dem unkontrollierbaren Urteil des Herausgebers ausliefert. In einer Fußnote weist Ingarden noch auf die „merkwürdige Tatsache" hin, „daß abgesehen von zwei ehemaligen Assistenten Husserls" - gemeint sind Fink und Landgrebe - „fast alle direkten Schüler Husserls" - dazu zählt Ingarden selbst - „von jedem Einfluß auf die Weise, wie Husserls Schriften herausgegeben werden, ausgeschlossen wurden".25 Ingardens kritische Bedenken und Fragen sind losgelöst vom konkreten Kontext und seinen Zwängen, unter denen Van Breda und das Archiv arbeiten mußten, sicher pertinent. So haben wir gesehen, daß die Entscheidung, nach den ersten sechs Bänden mit Vorlesungseditionen fortzufahren, gerade darin begründet war, daß die riesige Masse der Forschungsmanuskripte unzureichend erforscht und erschlossen war. Für eine längere, Jahre dauernde Forschungsphase ohne Editionen hätte es kaum ausreichende finanzielle Unterstützung gegeben. Was die neue Ausgabe von von Husserl selbst veröffentlichten Werken, wie ζ. B. die Logischen Untersuchungen betraf, gab es rechtliche Probleme, da der Verlag Niemeyer 21 22 23 24 25

Ebd. S. 233. Ebd. Ebd. S. 234. Ebd. Ebd., Anm. 3

Die Husserl-Edition, ihre Wirkungsgeschichte und die Rezeption des Nachlasses

233

die ursprüngliche Ausgabe noch auf dem Markt hatte usw. Aber Ingarden hat ohne Zweifel den Finger auf die allerdings wohl unvermeidliche Wunde der gesamten Edition gelegt: ihr, was die Bandfolge, die Textauswahl und Textanordnung betraf, ausnehmend pragmatischer, den Zwängen der Umstände zu verdankender Charakter. Und bis heute liegt die Entscheidung über die Auswahl der Texte für einen Band im Wesentlichen in der Hand des Herausgebers des betreffenden Bandes. Van Breda sah sich auch einer bleibenden Kritik Gerhart Husserls am vermeintlichen Einfluß von Karl-Heinz Volkmann-Schluck, Landgrebe und Fink auf das Archiv und die Ausgabe ausgesetzt. Gerhart Husserl zufolge hatten diese Phänomenologen sich weit von Husserl entfernt, was gleichbedeutend damit war, daß sie zu stark unter dem Einfluß Heideggers standen. 1959 wird Van Breda durch die Universität Freiburg die Ehrendoktorwürde verliehen. In seiner Dankansprache nimmt Van Breda noch einmal Stellung zum Selbstverständnis des Husserl-Archivs und zur Ausgabe. In Löwen wird, so erklärt Van Breda, „ganz und gar nicht an die Ausbildung einer neuen phänomenologischen Schule reinen Husserlschen Wassers gedacht", und eine solche Schule hat sich auch nicht um das Husserl-Archiv herum gebildet. Was die Ausgabe betrifft, so handelt es sich um eine „kritische" Ausgabe, mehr müsse er dazu nicht sagen. Und als späte Antwort auf Ingardens Kritik heißt es weiter: „Gewiß, wir können nicht alles zugleich edieren, und so spielt bei jedem Bande unserer Ausgabe ein Moment der Auswahl mit. Doch diese .Auswahl' treffen wir einzig und allein im Hinblick auf die von Husserl selbst in seiner Arbeit gesetzten Schwerpunkte. Wenn ja noch irgendein anderer Gesichtspunkt mitspielt, dann der der Grenzen unserer eigenen Fähigkeit, das Ganze von Husserls Nachlaßwerk vollständig zu überblicken und die in ihm sich ausdrückenden Gedanken bis in ihre letzten Verästelungen zu durchdringen. So gibt es, ich bekenne es in aller Offenheit, Forschungsmanuskripte Husserls, deren Veröffentlichung wir einfach darum noch nicht zuwege bringen konnten, weil wir noch nach einer voll verantwortbaren Form der angemessenen Edition suchen."26 Nachdem die Bände VII-XI Editionen von Vorlesungsmanuskripten mit vom Herausgeber dazu ausgewählten Beilagen waren und als Band XII Husserls erstes, auf seiner Habilitationsschrift gründendes Buch Die Philosophie der Arithmetik herausgegeben wurde, waren die 1973 erschienenen Bände XIII bis XV die erste thematische Edition, d. h. der Herausgeber Iso Kern hat die Entwicklung von Husserls Intersubjektivitätslehre anhand einer umfangreichen Auswahl von Manuskripten auf mehr als 1500 Seiten dokumentiert. Unter diesen Manuskripten befand sich im ersten der drei Bände auch ein Vorlesungsmanuskript; dieses hatte aber nicht mehr den Status eines Grundtextes, dem alle anderen Texte des Bandes als Ergänzende Texte zugeordnet waren. Es gab nun in jedem der drei Bände eine Reihe von mit arabischen Ziffern durchnumerierten Texten, - im ersten Band ζ. B. 16 - , denen eine oder mehrere mit lateinischen Ziffern durchnumerierte und kleiner gedruckte Beilagen - im ersten Band ζ. B. LIX - zugeordnet waren. Die Reihenfolge der Texte und Beilagen war im Prin-

26

Herman Leo Van Breda: Geist und Bedeutung des Husserl-Archivs. In: Edmund Husserl 1859 - 1959. Phaenomenologica 4, La Haye 1959, S. 121.

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zip chronologisch; die Chronologie wurde an einzelnen Stellen aber durchbrochen. In umfangreichen Einleitungen situierte der Herausgeber die Texte und begründete ihre Auswahl. Allen Texten und Beilagen gab der Herausgeber Titel; größere Texte wurden ebenfalls vom Herausgeber in Paragraphen unterteilt, die ebenfalls mit Titeln versehen wurden. Diese Titel waren die einzige Möglichkeit für den Leser, sich in den Texten sachlich zu orientieren, da die Bände keinen Sachindex hatten. Diese Edition wurde das Modell für die Editionen, in denen überwiegend oder ausschließlich Forschungsmanuskripte herausgegeben wurden. Die editorische Leistung von Iso Kern, der für seine Edition den gesamten Nachlaß berücksichtigt hat und aus einer riesigen Anzahl von Manuskripten eine historisch und sachlich verantwortete Auswahl auf der Grundlage umfangreicher Forschungsarbeit getroffen hat, nötigte Bewunderung und Respekt ab. Zum ersten Mal waren in diesem Umfang konkrete Analysen und Beschreibungen zu einem zentralen Problemfeld in Husserls Phänomenologie veröffentlicht worden. Für die Husserl-Forschung war dies vergleichbar mit der erfolgreichen Landung einer Sonde auf einem fremden Planeten - auf Jahre hinaus waren die Husserl-Forscher damit beschäftigt, sich dieses gewaltige Textkorpus anzueignen. Es ist offensichtlich, daß sich Ingardens Bedenken, was Freiheiten des Herausgebers im Hinblick auf die Auswahl und Textanordnung betrifft, in gesteigertem Maße auf diese Edition anwenden ließen. Hinzu kommt, daß sich die Intersubjektivitätsproblematik bei Husserl mit vielen anderen Themen berührt, so daß trotz des thematischen Bezugspunkts eine große inhaltliche Heterogenität besteht. Mit dem Fortschreiten der Forschungsarbeit im Zusammenhang mit weiteren Editionen schienen manche Texte in Kerns Edition ebensogut oder eher ihren Platz in einer anderen Edition zu haben. Die meist geäußerte Kritik zu Kerns Edition ist, daß er des Guten zuviel getan habe, da man, wie es in einer späteren kritischen Stellungnahme zu den Husserliana von Ferdinand Fellmann heißt, „den Wald vor lauter phänomenologischen Bäumen nicht sieht".27 Es gab in den Rezensionen, vielleicht überraschend, nur wenige kritische Stimmen zu Kerns Edition. Gerd Brand hält in seiner umfangreichen Besprechung der drei Bände die chronologische Anordnung für keineswegs zwingend, und er äußert auch Bedenken hinsichtlich der Auswahl der Texte: einerseits seien viele Manuskripte veröffentlicht, die kaum etwas mit Intersubjektivität zu tun haben, andrerseits seien wiederum Manuskripte zur Intersubjektivität, die von Kern selbst im übrigen in seiner Einleitung bzw. die in einer früheren Veröffentlichung von Bernhard Waidenfels angeführt werden, weggelassen.28 Gisbert Hoffmann beklagt in seiner Besprechung in der Zeitschrift für philosophische Forschung die Gliederung in Texte und Beilagen, „vor allem weil sie oftmals den zeitlichen Gang durchbricht"; des weiteren erscheinen

27

28

Ferdinand Fellman: Die Zweischneidigkeit des editorischen Verfahrens bei Husserls Nachlaß. In: Information Philosophie 16 (5), 1988, S. 51. Siehe Gerd Brand: Edmund Husserl. Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß. In: Philosophische Rundschau 25, 1978, S. 55.

Die Husserl-Edition,

ihre Wirkungsgeschichte

und die Rezeption des

Nachlasses

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ihm die Herausgebertitel überflüssig, er hätte statt dessen lieber einen Sachindex und ein Stichwortverzeichnis zur besseren Orientierung gehabt.29 Nach Kerns Edition kehrte man zunächst zu dem vertrauteren Modell einer Vorlesungsedition zurück, gefolgt von den Editionen von Husserls logischen Hauptwerken Formale und Transzendentale Logik und Logische Untersuchungen. Als Band XX sollten Husserls Entwürfe zur Umarbeitung der VI. Logischen Untersuchung ediert werden. Die Edition wurde 1977 begonnen und ist nach einer langen und schwierigen Geschichte im Jahre 2005 zum Abschluß gekommen. Am 3. März 1974 stirbt Van Breda im Alter von nur 63 Jahren. Sein Nachfolger als Direktor des Husserl-Archivs und Leiter der Ausgabe wird Samuel IJsseling. IJsseling hatte über Heidegger promoviert und stand in seinem eigenen Philosophieren Husserl eher fern. Das stellte jedoch hinsichtlich des Fortgangs der Edition keine Probleme, da er sich auf eine Reihe hochspezialisierter und ausgewiesener Husserl-Forscher als Mitarbeiter stützen konnte. 1979 erschien als Band XXII der erste am Archiv in Freiburg vorbereitete Band, nachdem das Kölner Archiv bereits eine Reihe von Bänden ediert hatte. Die in Köln und Freiburg vorbereiteten Editionen wurden als einzelne Projekte durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert. Die Förderzeit war beschränkt auf vier bis maximal fünf Jahre. Auch in Leuven war die Finanzierung der meisten Editionsprojekte zeitlich befristet. Der vorgegebene Förderzeitraum war jedoch zu beschränkt, um eine länger dauernde Forschungsphase der eigentlichen Editionsarbeit vorangehen zu lassen. Die Folge davon war, daß man sich bei der Projektauswahl immer wieder auf „machbare" Projekte beschränken mußte. Dies waren in erster Linie Vorlesungseditionen. Vor allem die große Masse an späten Forschungsmanuskripten aus den späten zwanziger und dreißiger Jahren blieben dadurch weitgehend unerforscht. Lange Zeit wurde im wörtlichen Sinne „planlos" ediert, d. h. man folgte keinem festgelegten Editionsplan. Welche Edition vorbereitet wurde, hing unter anderem von der spezifischen Qualifizierung und Interessenrichtung des mit einer Edition zu betrauenden Mitarbeiters ab. Erst gegen Ende der achtziger Jahre wurden Editionspläne im Hinblick auf einen Abschluß der Edition erstellt. Die weißen Flecken auf der Landkarte des Nachlasses wurden genauer markiert. Die Einsicht reifte, daß man sich, was die zukünftigen Editionen betraf, auf das unbedingt Wichtige beschränken sollte. Die Geldgeber waren zunehmend beunruhigt, daß die Husserl-Edition zu einem Faß ohne Boden wird. Nach der Emeritierung von Samuel IJsseling im Jahre 1997 übernahm Rudolf Bernet die Leitung des Archivs, und es wurden die editorischen Anstrengungen auf den Abschluß der Ausgabe gerichtet. Im Mittelpunkt stand dabei die immer wieder zurückgestellte Edition der späten Forschungsmanuskripte von Husserl. Schweren Herzens und nach einer intensiv geführten Diskussion entschloß man sich, die berühmten C-Manuskripte vorläufig nicht kritisch zu edieren, sondern statt dessen eine vollständige Transkription der noch nicht in anderen Bänden als Beilagen veröffent-

29

Gisbert Hoffmann: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Kritische Betrachtungen zu Texten aus Husserls Nachlaß. - In: Zeitschrift für philosophische Forschung 29, 1975, S. 139.

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Ulrich Melle

lichten C-Manuskripte in einem Materialienband herauszugeben. Es gibt beim heutigen Stand der Forschung bezüglich der Masse der späten Forschungsmanuskripte noch keine überzeugende Konzeption für eine kritische Edition dieser Manuskriptgruppe. Des weiteren wurden zwei große Ausgaben mit Husserls späten Texten zur Reduktion und zur Lebenswelt in Angriff genommen. Die Edition zum Thema der Reduktion ist inzwischen als Band XXXIV erschienen. Noch in der Anfangsphase ist eine Edition mit Husserls späten Manuskripten zur Konstitution des Raumes. Den passenden Abschluß der Edition soll unter dem Arbeitstitel „Grenzprobleme der Phänomenologie" ein Band mit späten Texten zu den „letzten" Fragen, zur absoluten Teleologie bzw. der Teleologie des Absoluten und zur Theologie, bilden. Die Gesammelten Werke werden nach Abschluß dieses und aller anderen in Arbeit befindlichen Projekte 44 Bände umfassen. Eine vor wenigen Jahren begonnene neue Reihe von Materialienbänden, in denen Transkriptionen von wichtigen und interessanten Manuskripten, die aus verschiedenen Gründen nicht in den Gesammelten Werken zur Veröffentlichung kommen, erscheinen, eröffnet die Möglichkeit, auch Uber den Abschluß der kritischen Edition hinaus, noch relevante Manuskripte oder Manuskriptgruppen in Form von Transkriptionen zu veröffentlichen. Eine der zukünftigen Aufgaben des Archivs besteht im Übrigen darin, die Transkription des Nachlasses zu vervollständigen. Es gibt noch immer Manuskripte, die nicht transkribiert sind, und ein beträchtlicher Teil der vorhandenen Transkriptionen sind Rohfassungen, die noch nicht kollationiert sind. Was die Gesammelten Werke betrifft, so stellt sich nach dem Abschluß der Edition noch die entsprechend der Art der Ausgabe schwierige Aufgabe, einen Registerband zu erstellen. Zurückblickend auf eine beinahe siebzigjährige Arbeit an der Erschließung, Transkription und Edition des Nachlasses von Edmund Husserl muß man zugeben, daß die Edition einem verwinkelten Haus mit vielen unübersichtlich angeordneten Zimmern, Treppen und Gängen gleicht. Vieles wirkt improvisiert, nicht vorausschauend genug überlegt. Es gab eben zu keinem Zeitpunkt einen systematischen Plan. Editionsprojekte wurden bestimmt durch die philosophischen Interessen und Orientierungen der Mitarbeiter und Direktoren der verschiedenen Archive, durch institutspolitische Überlegungen, durch finanzielle Rahmenbedingungen etc. Die Manuskriptmassen waren einfach zu riesig und zu unübersichtlich, um sie in eine überzeugende systematische Anordnung bringen zu können. Was wären die Alternativen gewesen: Man hätte auf eine Edition verzichten können, bis der Nachlaß vollständig transkribiert, erforscht und systematisch geordnet wäre und die Manuskripte in ihrer sachlichen Bedeutung abgewogen wären. Es wäre vollkommen unmöglich gewesen, hierfür die nötigen Mittel zu finden. Man hätte einfach Stück für Stück die Transkriptionen der Manuskripte in der Reihenfolge und Ordnung, in die sie unter Husserls Leitung durch Landgrebe und Fink gebracht wurden, herausgeben können. Bei der Masse der Manuskripte wäre dies einer mehr als hundertbändigen Ausgabe gleichgekommen. Ein unsinniges Unternehmen, obwohl in fernerer Zukunft, wenn eine vollständige verläßliche Transkription des Nachlasses

Die Husserl-Edition,

ihre Wirkungsgeschichte

und die Rezeption des

Nachlasses

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vorliegt, vielleicht einmal daran gedacht werden wird, diese Transkriptionen in elektronischer Form im Internet zugänglich zu machen. Die Edition der Nachlasses und dabei vor allem der sog. Forschungsmanuskripte legitimierte sich durch Husserls eigenen Anspruch, daß diese Nachlaßmanuskripte den eigentlichen Ertrag seiner Forschungsarbeit in Form von konkret durchgeführten phänomenologischen Analysen und Beschreibungen enthalten. Die konkrete Durchführung des in den von ihm selbst veröffentlichten Schriften umrissenen Programms finde man, so Husserls eigene Überzeugung, nur in diesen Manuskripten. Nur von ihnen her könne man beurteilen, was die Phänomenologie zu leisten imstande sei. Es war dieser Anspruch, der auch das Interesse der Husserl-Forschung auf den Nachlaß lenkte und zu der oben erwähnten, der Edition vorauseilenden direkten Rezeption des Nachlasses führte, die dann ihrerseits wiederum die Edition beflügelte. Wie es um diesen Anspruch steht, ob die Nachlaßmanuskripte ein Dokument der Erfüllung oder des Scheiterns eines Programms sind - letzteres behauptet Ferdinand Fellmann 1988 in seiner oben bereits erwähnten Stellungnahme zu den Husserliana in der Information Philosophie - , wie sollte man diese Frage beantworten ohne eine kritische Edition dieser Manuskripte? Die mühevolle Arbeit an der Erforschung und Erschließung des Nachlasses findet, so bezeugt Van Breda 1959 in Freiburg, „seine einfache und vollständige Erklärung in der Tatsache, daß die Löwener Phänomenologen die Philosophie des Begründers der Phänomenologie prinzipiell als ein geistiges Werk von nun schon historischer Bedeutung betrachten, als das Zeugnis und die Frucht lebenslangen Ringens eines großen Denkers und ehrfurchtgebietenden unermüdlichen Forschers um die Wahrheit: als die Hinterlassenschaft einer philosophischen Erfahrung, deren Früchte der Menschheit nicht verloren gehen dürfen."30

30

Van Breda, 1959, S. 120. (Vgl. Anm. 26)

Klaus Prätor

Topologie und Navigation Zur Bewegung in elektronischen Editionen

In Texten bewegen Wir bewegen uns in Texten, in gedruckten wie in elektronischen - und wir bewegen uns in beiden auf verschiedene und doch auch auf ähnliche Weise. Die typische Bewegung in Büchern und Zeitschriften ist das seitenweise Blättern, das erfolgt, nachdem wir eine Seite zeilenweise zu Ende gelesen haben. Aber wir überspringen auch Absätze oder wir blättern zurück, weil uns ein Zusammenhang entgangen ist oder wir etwas vergessen haben. Das zeilenweise Lesen wird unterbrochen, wenn uns ein Fußnotenverweis zum unteren Seitenrand lenkt. Wir suchen nach einer bestimmten Seite, auf die ein Querverweis Bezug nimmt, oder wir blättern zum Ende des Buches, um eine Endnote oder einen Literaturverweis aufzusuchen. Umgekehrt benutzen wir Inhaltsverzeichnisse und Indizes, um uns zu bestimmten Seiten lenken zu lassen. Für viele Druckwerke sind diese zielgerichteten Bewegungen charakteristischer als das serielle Blättern. Man denke an Lexika, Wörterbücher und Rezeptsammlungen. Schließlich gibt es, zum Beispiel in Gestalt von Literaturverweisen, Bewegungen über die Dokumentgrenzen hinweg, die traditionell als Gang zum Bücherregal oder zur Bibliothek realisiert werden. Alle diese Bewegungsweisen finden sich dem Grundsatz nach auch in elektronischen Texten, freilich werden sie dort anders realisiert. Die Realisierungsweisen sind insgesamt vielfältiger als im Druck, und sie verändern sich mit der technischen Entwicklung. Gegenwärtig werden sie hauptsächlich definiert von den Fähigkeiten grafischer Benutzeroberflächen, die genauer vielleicht als symbolische Benutzeroberflächen zu bestimmen sind. Der Übergang von zeichenorientierten zu grafischen Oberflächen bezeichnet den technischen Schritt von der starren Wiedergabe jeweils eines Zeichens in einem Bereich des Bildschirms zu beliebig formbaren Zeichen und Grafiken auf einer frei zu gestaltenden Pixelfläche. Symbolische Handhabung steht im Gegensatz zu kommandoorientierter und zeigt sich zum Beispiel, wenn ein Text nicht mehr, wie in alten oder sehr einfachen Editoren üblich, durch Eingabe von Befehlen in einer eigenen Kommandozeile manipuliert wird, sondern indem Zeichen oder Wörter in Abhängigkeit von der Cursorposition durch Tastenkombinationen gelöscht oder ersetzt werden. Das gab es auch schon in zeichenorientierten Systemen. Aber die grafischen Oberflächen haben die Möglichkeiten symbolischer Handhabung natürlich beträchtlich erweitert. Schaltflächen und Hypertextverknüpfungen haben den Mausklick mittlerweile zur typischen Auslösung für die Bewegung in elektronischen Texten gemacht, vereint mit anderen Mausbewegungen wie dem Scrollen mit

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Klaus Prätor

Hilfe eines Balkens, der die Position im Text symbolisiert. Daneben gibt es aber weiterhin auch die Bewegung durch die Betätigung von Tastenkombinationen und auch schon die Möglichkeit, auf berührungsempfindlichen Displays durch Antippen oder sogenannte Gesten, also Bewegungen auf der Oberfläche, Bewegungen im Text auszulösen. Vom Prinzip her mag das als geringfügige Neuerung erscheinen, aber die direkte, nicht durch die Maus vermittelte Manipulierung der Oberfläche verändert die Anmutung des Textumgangs beträchtlich. Nicht nur die Auslösung hat sich verändert, sondern auch die Bewegung selbst, nämlich hin zu größerer Unmittelbarkeit. Das Anklicken führt in der Regel direkt zum angezielten Textbereich. Der Unterschied beeindruckt natürlich am stärksten bei der Verlinkung zu räumlich entfernten externen elektronischen Dokumenten. Aber auch innerhalb des eigenen Dokuments hat der direkte Sprung nicht nur den Vorteil der Bequemlichkeit. Er entbindet den Benutzer auch von der vermittelten Bezugnahme auf Seitenzahlen oder Zitatkürzeln, die uns im gedruckten Werk zu der gewünschten Stelle führen. Realisiert wird das normalerweise durch das Einbringen von Ankern in den Text, auf die in Verweisen Bezug genommen werden kann. Wie die Bewegung im elektronischen Text durch mehr Unmittelbarkeit, so ist ihr Resultat durch größere Vielfalt gekennzeichnet. Wo immer meine Bewegung im gedruckten Text auch hinfuhren mag, sie endet immer an einem definierten Stück eines unveränderten und unveränderbaren Textes. Im elektronischen Fall ist das nicht ausgemacht. Natürlich kann man einen elektronischen Kommentar ganz nach dem Vorbild des gedruckten gestalten und zum Beispiel fest am unteren Rand einer Seite unterbringen. Ich kann aber auch einen von Anmerkungen unbelasteten Text produzieren und diese erst auf Anforderung einblenden, sei es in einem frei gehaltenen Bereich oder in einem eigens geöffneten Fenster (Popup). Sie können auch direkt im Hießtext auftauchen oder als Sprung in einen speziellen Anwendungsteil realisiert werden. Für andere Navigationselemente gilt das entsprechend. Angesichts dieser gewaltigen Vielfalt der Realisierungsmöglichkeiten ist es erstaunlich, daß die realisierten Funktionalitäten sich weit weniger unterscheiden. Weitgehend sind es die gleichen, die auch in gedruckten Werken, wenn auch in eingeschränkter Weise, zur Verfügung gestellt werden. Eine Neuerung bleibt allerdings zu nennen: Die Volltextsuche in elektronischen Texten hat keine Entsprechung bei den gedruckten. Da dies aber ein ganz eigenes Thema darstellt, lassen die folgenden Überlegungen Suchverfahren außer Betracht und beschränken sich auf Navigationen in einem engeren Sinn, nämlich solche, die vom Autor explizit zur Verfugung gestellt werden. Freilich ist zuzugeben, daß es zwischen beiden Bereichen funktionale Überschneidungen geben kann.

Schichten elektronischer T e x t e In dem einleitenden Vergleich wurde die Bewegung in Texten ausschließlich aus der Sicht des Benutzers betrachtet. Aus Sicht des Produzenten stellt sich die Lage anders dar - nämlich komplizierter. Ich will das an einem kleinen Beispiel veranschaulichen, das aber deutlich machen soll, welche Ebenen bei der Produktion elektronischer Texte

Topologie und Navigation

241

generell unterschieden werden müssen. Elektronische Editionen sind dabei das Beispiel, an dem sich die Überlegungen orientieren. Das wirklich sehr kleine Beispiel ist die Ziffer zu Beginn einer Anmerkung, vielleicht eher eine Reminiszenz an gedruckte Fußnoten als unbedingt erforderlich: 3 Oberfläche:

...

Was der Benutzer sieht, ist eine Ziffer, in unserem Beispiel1 eine 3 in einer bestimmten grafischen Gestalt. Die Punkte deuten den nicht wiedergegebenen Inhalt der Anmerkung an. Der Produzent arbeitet auf einer anderen Ebene, die hier Präsentationsschicht heißen soll. Dort sieht das Element so aus: Präsentationsschicht (XML) cnote id="3">...

Die Präsentationsschicht ist nicht mit der Oberfläche identisch. Sie enthält keinen Hinweis auf die grafischen Eigenschaften des Elements. Die Präsentationsschicht basiert auf XML, es könnte auch HTML sein, in jedem Fall auf einer Notation, die durch einen Webbrowser, eventuell auch durch ein anderes Programm, darstellbar ist. Die Ziffer 3 findet sich hier nicht als Inhalt des Tags - der ist die Anmerkung selbst - , sondern lediglich als Wert eines Attributs. An der Oberfläche wird sie sichtbar, weil dem Tag ein Eintrag in einem Cascading Stylesheet zugeordnet ist: Stylesheet (CSS) note:before {content:attr(id);font-weight:bold; display:block; padding-top:10pt; padding-bottom: 10pt;}

Dieser Eintrag besagt zunächst, daß vor dem eigentlichen Inhalt des Tags, also der Anmerkung selbst, ein Element einzufügen ist, dessen Inhalt dem Attribut id entnommen werden soll - und genau dort findet sich ja in unserem XML-Tag die Ziffer 3. Es folgen dann einige Angaben zur grafischen Wiedergabe des Zeichens. Stylesheets sind ein hervorragendes Mittel, die Anforderungen an die sachliche Auszeichnung eines Textes mit den Bedürfnissen nach grafischer Gestaltung zu vermitteln. Dies geschieht gerade dadurch, daß beide Bereiche entkoppelt und damit arbeitsteilig bearbeitbar werden. Für viele Texte, besonders aber für kritische und wissenschaftliche Editionen ist es wichtig, für unterschiedliche Nutzerinteressen und über lange Zeiträume hinweg, geeignete Ausgaben zur Verfügung zu stellen. Die vorgestellte Präsentationsschicht ist dafür ungeeignet, weil sie zu sehr an eine bestimmte Art der Ausgabe gebunden ist. Sie wird deshalb abgeleitet von einer Archivschicht mit folgender Gestalt - ebenfalls in XML:

Das Beispiel bezieht sich auf die elektronische Variante der Edition der Briefe an Jean Paul der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Homepage der Arbeitsstelle: ).

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Klaus Prätor

Archivschicht (XML) 2026Krebse] ...

Auf dieser Ebene existiert die Ziffer 3 gar nicht mehr. Sie wurde erst von dem Umsetzungsprogramm erzeugt, das die Archivschicht in die Präsentationsschicht transformiert. Im Fall einer anderen Realisierung der Anmerkungen, ζ. B. als Popup, würde sie nicht unbedingt benötigt. Dagegen finden sich auf dieser Ebene Informationen zu Seiten- und Zeilenzahl des Bezugs sowie ein Bezugslemma, die auf der Oberfläche nicht auftauchen. Von ihnen wurde kein Gebrauch gemacht, aber es könnte sein, daß diese Informationen zum Beispiel für eine Bezugnahme auf eine Druckfassung gewünscht werden. Deshalb werden sie aufbewahrt und können gegebenenfalls sichtbar gemacht werden. Hier sind die Schichten noch einmal in ihrem Zusammenhang dargestellt. Der Gang der Erläuterung ging von oben nach unten. Die Produktion erfolgt aber natürlich in gegenläufiger Richtung.

Oberfläche

^

Stylesheet CSS

Topologie und Navigation Unterstellt man einstweilen den Sinn der UnterPräs entations s c h ic ht (XML) scheidung dieser Ebenen, so liegt die Frage nahe, auf welcher Ebene denn nun die Navigation anzusiedeln sei. Aus unserem winzigen Bei/^Umformung spiel ist sofort zu sehen, daß die Realisierung V^R-ograrrm der Navigation gerade beim Übergang von der Archiv- zur Präsentationsebene stattfindet. Andererseits ist intuitiv klar, daß die Navigation abArchivschicht hängig ist von den Strukturen, die auf der Ar(XML) chivebene zur Verfügung gestellt werden. Denn gäbe es hier beispielsweise keine Auszeichnung von Anmerkungen, könnten sie auf einer darüber liegenden Schicht auch nicht realisiert werden. Dies gibt Anlaß zu einer Unterscheidung, nämlich der von Topologie und Navigation. Beide verhalten sich wie Möglichkeit und Realisierung. Eine Topologie stellt potentielle Verbindungen von Dokumentknoten bereit, eine Navigation realisierte Verknüpfungen innerhalb eines Hyperdokuments oder eines anderen Informationssystems. Im Bild eines öffentlichen Verkehrssystems gesprochen, entspricht die Topologie dem Schienen- oder Straßennetz, die Navigation dagegen den tatsächlich existierenden Zug- oder Busverbindungen. Letztere werden immer nur einen Teil der Möglichkeiten ausschöpfen. Umgekehrt können die Verkehrsmittel nur dort fahren, wo die entsprechende Infrastruktur existiert. Topologie und Navigation unterscheiden sich nicht nur durch den Modus von Potentialität und Aktualität. Zur Erstellung von beiden sind unterschiedliche Fähigkeiten vonnöten. Bei der Erstellung einer Topologie stehen begriffliche und sachstrukturelle

Topologie und Navigation

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Kenntnisse im Vordergrund. Hier geht es zum Beispiel um eine Fachtaxonomie oder um die inhaltliche Struktur einer Edition. Die Topologie beruht auf sachlicher Auszeichnung des Dokuments sowie auf Metainformation. Die Navigation hat die technische Realisierung der Nutzerinteraktion und die ästhetischen Anforderungen an sie zum Gegenstand. Die entsprechenden Anforderungen erstrecken sich von der Programmierung bis zur Erforschung von Mensch-Computer-Interaktion. Und beide sind auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln. Die Topologie ist auf der dauerhaften Archivebene zu verankern, die Navigation wird erst auf der Präsentationsebene realisiert. Die Idee der sachlichen Textauszeichnung ist zweifellos eine ganz wesentliche Voraussetzung für das Zusammenspiel der Ebenen unter den Randbedingungen von Dauerhaftigkeit und Flexibilität. Wie unschwer zu sehen, folgt auch der hier verfolgte Ansatz diesem Paradigma, die Textgrundlage unabhängig von Fragen der endgültigen Gestaltung vorzunehmen und die grafische Oberfläche erst im letzten Schritt der Realisierung hinzuzufügen. Gleichwohl seien zwei Fragen aufgeworfen zu Punkten, die in der allgemeinen Diskussion allzu selbstverständlich vorausgesetzt werden. Zum einen: Gibt es die sachliche Auszeichnung eines Textes? Die Frage stellen heißt sie verneinen. Zweifellos hatte diese Rede in den Anfangszeiten der Textauszeichnung einen recht problemlosen Sinn. Der Autor eines Textes sollte die grafischen Hervorhebungen, die er in seinem Manuskript anzubringen gewohnt war, durch sachliche Textauszeichnungen ersetzen. Mittlerweile werden Unmengen von Texten im Nachhinein unter den unterschiedlichsten Interessen mit Textauszeichnungen versehen, und die Rede von der sachlichen Auszeichnung ist nun weit weniger selbstverständlich. Es gibt das berechtigte Interesse an linguistischer Auszeichnung, und bei kritischen Editionen kann es vorkommen, daß gerade die grafischen Eigenschaften eines Manuskripts (Tintenfarben etc.) Teil der sachlichen Textauszeichnung werden. Die erste ist aber mehr die Vorbereitung der zweiten Frage, die für unseren Zusammenhang noch wichtiger ist und die ich die nach der Ausschließlichkeit der Dichotomie zwischen sachlicher Auszeichnung und grafischer Gestalt nennen möchte. Wenn diese Dichotomie gilt, dann sind alle Erzeugnisse auf der Basis einer dauerhaften XML-Textgrundlage nur verschiedene grafische Gestaltungen. Dies entspricht in der Tat gegenwärtiger Redeweise. Auch die Ausgaben in unterschiedlichen Medien werden als solche Varianten betrachtet und auch Systeme mit vollkommen unterschiedlichen Zugangs- und Handhabungsweisen erscheinen als solche. Damit werden komplexe, sinntragende Strukturen, teilweise auch ganz eigene inhaltliche Elemente mit Farbgebungen und Schriftarten gleichgesetzt. Dieser Denkart wird jede Umformung zum Stylesheet, und dementsprechend sind auch die entsprechenden Werkzeuge für X M L als XSL-Tools (XSL für extended stylesheet language) bezeichnet worden. Erst während der Arbeit bemerkten die Entwickler, daß sie eigentlich eine Umformungssprache für Markupsprachen geschaffen hatten, benannten sie in XSLT um (T für Transformation) und lieferten mit XSLFo das Produkt nach, das mit größerem Recht als Stylesheet betrachtet werden kann. Demgegenüber wird hier dafür plädiert, zwischen der dauerhaften Textauszeichnung und der grafischen Oberflächengestaltung

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im engeren Sinn einen eigenen Bereich von textlichen Strukturen anzunehmen. Navigationsstrukturen bilden ihren wesentlichen Kern. Nun sind solche Fragen abstrakt schwer zu entscheiden, und man müßte sich nun eigentlich zumindest in den praktischen Umgang mit elektronischen Texten begeben oder noch besser in die Praxis ihrer Erstellung, um sie zu diskutieren. Das ist auf Papier nicht möglich, aber es soll doch versucht werden, dem Phänomen etwas näher zu kommen. Als Beispiel diene der Zugang zu einem Briefband aus dem in der ersten Fußnote erwähnten Jean-Paul-Projekt. Dem sehr flüchtigen Benutzer erscheint die Navigation ja nur als eine Folge von Mausklicks, die irgendwohin führen oder die neue Elemente auftauchen lassen. In der Regel folgen diese Wege aber einem Plan, zum Beispiel dem, der in der nächsten Abbildung zum Ausdruck kommt.

links

rechts

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rechts

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Ziel ist die Bahnung des Zugangs zu Briefen an einen Autor, und so werden bereits auf der Startseite die Zugangsarten, nämlich nach Jahren, Orten und Korrespondenz-

Topologie und

Navigation

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partnern angeboten, als ein Seitenweg auch zu einer Vita Jean Pauls. Man gelangt dann zu einer Liste der Namen, Jahre oder Orte, zwischen denen direkt gewechselt werden kann. Die nächste Stufe sind dann die Briefverzeichnisse zum jeweiligen Bereich. Dies geschieht jeweils im Wechsel zwischen linker und rechter Hälfte des Fensters, so daß die übergeordnete Ebene immer noch im Zugriff bleibt. Weiter höher liegende Ebenen sind durch zusätzliche Verlinkungen erreichbar. Der nächste Schritt führt dann zu den Briefen und der übernächste zu Briefkommentar, editorischer Notiz, Stellenkommentaren, Lesarten und Varianten. Nun könnte die gleiche Textgrundlage auch in anderen Zusammenhängen verwendet werden. Archivebene und Topologie blieben dieselbe, die Navigation müßte sich aber sinn vollerweise beträchtlich verändern. Man denke an • einen (in Auswahl bereits realisierten) erweiterten Briefwechsel mit Gegenbriefen und Zusatzmaterial. Hier müssen natürlich die Gegenbriefe in die Navigation einbezogen und die Materialien den jeweiligen Personen beziehungsweise Briefen zugeordnet werden. • Briefe im Rahmen einer Darstellung von Person und Werk Jean Pauls. In diesem Fall könnte der zentrale Zugang über die Vita führen und von dort weiter zu Briefen und Werken, deren wechselseitige Bezüge auch zu modellieren wären. • Für literarische Korrespondenzen um 1800 wäre der eben genannte Ansatz ganz ungeeignet, weil er einen Autor ins Zentrum stellt. Für einen multizentrischen Ansatz müßte die Navigation so verändert werden, daß sie mehr ist als die Addition verschiedener monozentrischer Autorenkorrespondenzen. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Vielleicht ist aber schon deutlich geworden, daß es sich bei diesem Geschäft doch um etwas ganz anderes handelt als die grafische Gestaltung der Oberfläche, so wichtig diese auch sein mag. Ich widerstehe der Versuchung, weitere Beispiele anzuführen (Die Darstellungsmöglichkeiten varianter Texte wären sehr reizvoll.), und auch der, diese gar systematisieren zu wollen. Statt dessen beschränke ich mich auf zwei unverzichtbare Ergänzungen vor einem abschließenden Wort zur praktischen Umsetzung. Metainformation Am Beginn des letzten Abschnitts war es ganz kurz schon erwähnt worden: Die Topologie beruht auf sachlicher Auszeichnung des Dokuments und auf Metainformation. Das Markup allein reicht nicht aus. Im angeführten Beispiel erfolgte der Zugang zu den Briefen über die Verfasser, über Zeitpunkte und Orte des Briefschreibens. Das sind aber Zusatzangaben über die Briefe - Metadaten oder, wenn sie Kontexte bilden, Metainformationen. Zwar werden sie häufig auch im Brief erwähnt, aber nicht in allen Fällen, nicht immer vollständig und richtig und nicht in normierter Form. Häufig finden sich Metadaten gar nicht im Dokument, zum Beispiel Manuskriptbeschreibungen oder Schlagwörter aus bibliothekarischen Klassifikationen. Im Beispiel werden die Metadaten in einer Datenbank gehalten. Es gibt aber auch gute Gründe, sie jeweils mit dem elektronischen Dokument abzuspeichern, zum Beispiel im Header-Bereich

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von XML. Seit einiger Zeit gibt es auch ein eigenes Format für Metadaten, das Resource Description Format RDF. Es ist XML-kompatibel, was bedeutet, daß es in XML darstellbar ist, und das ist auch die gebräuchlichste Form. Es läßt sich aber auch in anderen Formaten umsetzen. In RDF werden nicht so sehr einzelne Objekte repräsentiert, sondern Sachverhalte, d. h. Zusammenhänge zwischen Objekten oder Konzepten. Metadaten sind keine Spielerei, sondern werden seit langem benutzt, wenn man sich Zugang zu Informationen verschaffen und diese dann verarbeiten will. Ein klassisches Beispiel sind die bibliographischen Informationen, mit denen bibliothekarische Bestände verwaltet und suchbar gemacht werden. Nun könnte man sich beruhigt zurücklehnen und feststellen, daß wieder mal ein modisches Wort für eine alte Sache gefunden wurde. Das ist aber nicht ganz richtig. Ursprünglich waren Metadaten ausschließlich für die Benutzung durch den Menschen vorgesehen, während jetzt ihre Auswertung durch Computer im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Computergestützt verarbeitet werden die Metadaten schon seit einiger Zeit, aber immer noch im Hinblick auf die menschliche Nutzung. Der angestrebte neue Schritt besteht darin, daß - wie vielfach gesagt wird - der Computer die Daten versteht, oder - wie ich lieber sage - ein Teil der bisher vom Menschen erbrachten Systematisierungs- und Ordnungsleistungen nun vom Computer geleistet wird. Anwendungsbereiche liegen in der Informationswiedergewinnung (information retrieval), der Katalogerstellung, Programmierung von Agenten etc. Dafür sind besondere Formen der Darstellung und Speicherung dieser Daten notwendig. RDF wird häufig im Zusammenhang mit der Idee des Webbegründers Berners-Lee für ein Netz des Wissens unter dem Schlagwort semantic web genannt. In dieses können auch Ontotogien, also Systeme begrifflicher Zusammenhänge, einbezogen werden, die die Navigationsmöglichkeiten in elektronischen Dokumenten wesentlich erweitern könnten.

Bezugnahme und Zitierbarkeit Während schon erwähnt wurde, daß die Bezugnahme innerhalb von elektronischen Texten sehr einfach ist, weil man an beliebigen Stellen Anker setzen kann, die dann das Ziel von Links bilden können, wurde verschwiegen, daß es in diesem Zusammenhang auch große Schwierigkeiten gibt. Ein Grund liegt darin, daß dieses Verfahren nur möglich ist, wenn ich selbst auf das Dokument zugreifen kann. In anderen Fällen hat das HTML-Web den Nachteil, daß es von außen nicht adressierbar ist. Im Zusammenhang mit der Etablierung von XML hat man in den XPath-Ausdrücken eine Lösung gefunden. Da XML-Elemente immer vollständig in anderen enthalten sein müssen, bilden sie eine Baumstruktur, den sogenannten DOM-tree. Damit läßt sich jede Stelle im Dokument als ein Ast dieses Baumes beschreiben. Der Ast ist nichts anderes als die Kette der jeweils übergeordneten Markierungen (Tags). Der praktische Umgang damit ist nicht ganz so bequem wie mit den Ankern. Computer können es besser als Menschen.

Topologie

und

Navigation

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Dem Menschen bleibt das Problem der Zitierbarkeit. Genau genommen verbergen sich dahinter zwei Probleme. Wir sind es gewohnt, wissenschaftliche oder literarische Werke nach Seiten und Zeilen zu zitieren. In elektronischen Dokumenten sind diese häufig nicht vorhanden und wenn doch, stimmen sie nicht mit einer parallelen Druckausgabe überein. Mit Zitierbarkeit ist dann auch meistens gemeint, daß der Bezug zu dieser Druckausgabe nicht herstellbar ist, in der vorurteilsvollen, aber möglicherweise richtigen Annahme, dem gedruckten Text gehöre die Priorität. Es bleibt aber auch die Frage, wie ich denn auf eine Stelle eines elektronischen Textes von außerhalb Bezug nehmen kann. Mit der gängigen Antwort auf die erste ist die zweite dann allerdings auch mit beantwortet. Die Antwort heißt: Ernstzunehmende wissenschaftliche elektronische Editionen müssen Seiten- und zeilenidentisch mit der Druckfassung sein. Auch wenn man die Frage der Zitierbarkeit so ernst nimmt, wie sie es wirklich ist, und die Bezugnahme auf die Druckfassung akzeptiert, kann das nicht die zukunftsweisende Lösung sein. Zum einen hieße es, die Leistungen einer avancierten Technik an die Grenzen einer beschränkteren zu binden. Zum anderen würde man gerade an einer so wichtigen Stelle wie der der Zitierbarkeit und Bezugnahme die ansonsten hoch gehaltenen Prinzipien der sachlichen Textauszeichnung aufgeben. Denn das Zitieren, zweifellos eine inhaltliche Angelegenheit, wird an ein Merkmal der grafischen Ebene gebunden, mit dem Zeilenfall darüber hinaus noch an ein zufälliges. Damit müssen wir doch nach einer Antwort auf die zweite Frage, nämlich die nach der Bezugnahme in elektronischen Texten, suchen. Die Einschränkung, daß es sich um eine inhaltliche Struktur handeln muß, weist auch schon den Weg zur Lösung. Eine denkbare wäre, den XPath-Ausdruck zu benutzen, und soweit das um den automatisierten Umgang mit den Texten geht, ist das auch in Ordnung. Für das menschliche Zitieren ist er etwas unhandlich. Dafür gibt es aber eine andere, sehr alte Lösung. Statt nach Seiten und Zeilen sollte man nach Kapiteln, Abschnitten und Sätzen zitieren, wie es mit Paragraph und Satz bzw. Kapitel und Vers in Gesetzen und in der Bibel schon der Fall ist. Übergangsweise wären Seitenzählungen parallel zu halten, während umgekehrt künftige Druckwerke die Satzzählung mit anzugeben hätten.

Stylesheets und Templates Diese Überlegungen sollen zum einen das Verhältnis von Topologie und Navigation in ihrem Zusammenhang mit dauerhafter Textgrundlage und grafischer Gestaltung grundsätzlich abklären. Zum anderen soll dies in einer Weise geschehen, daß die Art der technischen Realisierbarkeit erkennbar wird. Für die grafische Gestaltung waren Cascading Stylesheets empfohlen worden. Die Gründe lagen in der dadurch ermöglichten Arbeitsteilung und daneben auch in dem Prinzip „Keep it simple". Wenn etwas mit CSS machbar ist - und mit CSS ist sehr viel zu machen - , sollte man es damit realisieren. Entsprechend legt sich für die Navigation der Einsatz von Templates nahe. Templates sind Schablonen einer Markupsprache, in die über Variablenausdrücke einzelne Textobjekte oder auch Listen von solchen eingebunden werden können. Auch hier ist der Vorteil, daß die Hauptaufgabe, nämlich eine Seitenstruktur mit den erforderlichen Navigationselementen zu erstellen, klar separiert ist von grafischer Gestal-

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tung auf der einen Seite und erforderlicher Programmierung auf der anderen. Als Erläuterungsbeispiel diene die Template Attribute Language, ursprünglich für Zope und die Programmiersprache Python entwickelt, mittlerweile aber auch für Java, Perl und PHP verfügbar. Eine Liste von Ortsnamen, wie sie oben im Beispiel für die Zugangsnavigation benutzt wurde, sieht in dieser Darstellung so aus:

  • EinOrt


„Orte" ist eine Liste, die der Datenbank mit Metadaten entnommen ist, und für jedes Element der Liste wird nun ein Ankerelement erzeugt. Der jeweilige Ortsname wird als Inhalt anstelle des Platzhalters „Ei η Ort" eingefügt. Dieser Inhalt des Items wird darüber hinaus mit der Endung html verkettet und als Wert des Attributs href eingefügt. Das Charakteristikum dieser Darstellung ist das Einbetten der Variablen in Attribute des Namensraums tal. Der Vorteil ist die konfliktfreie Bearbeitung des Codes in gängigen HTML-Attributen und darauf aufbauend wiederum eine problemlose Arbeitsteilung zwischen dem Ersteller der Seitenstruktur und einem Programmierer. Die „Programmierung" der Ortsliste beschränkt sich hier auf eine einfache Datenbankabfrage, die in Prolog zum Beispiel so aussähe: setof(Ort,briefe(_,_,Ort,_),Orte).

Vielfach wird die Seitenstruktur und teils auch die grafische Gestaltung mit in die Programmierung einbezogen. Das hat den Nachteil, daß Grafiker und Layouter nicht unabhängig vom Programmierer nachträgliche Änderungen vornehmen können. Templates können auch direkt in Serverpages eingesetzt werden, so daß eine Erzeugung der Webseiten zur Laufzeit ohne zusätzlichen Aufwand möglich ist. Insgesamt ergibt sich damit der rechts dargestellte Gesamtzusammenhang. Die Aufteilung in Templates und eventuelle Programmierung einerseits und Stylesheets andererseits unterstützt auch die Einteilung gemäß dem hier

Topologie und Navigation

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vorgeschlagenen Schichtenmodell optimal. Die ersteren erzeugen die Präsentationsschicht einschließlich Navigation und orientierenden Elementen, die zweiten beschränken sich auf die im engeren Sinn grafische Gestaltung. Diese Art der Schnittstellenbildung dient nicht nur der besseren Handhabung eines einzelnen Projekts. Sie unterstützt auch die Integration verschiedener Projekte sowie die Herausbildung entsprechender Standards und weckt die Hoffnung, daß elektronische Editonen zu einer ganz neuen Art von Informations- und Kommunikationsplattform zusammenwachsen.