Die drei Ringe: Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur 9783110452679, 9783110454376, 9783110453232

This volume aims to reconstruct the literary history of the compelling narrative model of the ring parable as a counterw

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German Pages 300 [302] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I. Zur Vor- und Frühgeschichte der Ringparabel
Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel?
Ramon Lull – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Toleranzdebatte
Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version. (Étienne de Bourbon, Li dis dou vrai aniel, Gesta Romanorum, Il Novellino, Bosone da Gubbio)
La novella delle »tre anella« nel Novellino
II. Säkularisierung der Ringparabel: Boccaccio und seine Rezeption in der Frühen Neuzeit
Boccaccios Decameron-Novelle I 3
Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung?. Michel Beheims Lied Nr. 294
Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland (1476 bis 1608)
›Fashion Crisis‹. Jonathan Swifts A Tale of a Tub (1704) als satirische Variante der Ringparabel
Les trois Anneaux (1721). Eine französische Verserzählung zwischen Boccaccio und Lessing
Religion und Betrug. Die Ringparabel, die Wolfenbütteler Fragmente und der Traktat De tribus impostoribus
III. Die Ringparabel bei Lessing und in der Moderne
Das italienische Umfeld von Lessings Ringparabel. Skizze zur Erkundung verschütteter Wege
Die Ringparabel in G. E. Lessings Drama Nathan der Weise. Aktualität - Historizität - Kontiguität
Nathan und die Ringparabel im Kontext antisemitischer Lessing-Darstellungen. Eugen Dühring und Sebastian Brunner
Freuds Ringe
Anhang
Zusammenfassungen der Beiträge in deutscher Sprache
Riassunti dei contributi in lingua italiana
Register
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Die drei Ringe: Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur
 9783110452679, 9783110454376, 9783110453232

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Die drei Ringe

Frühe Neuzeit

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Band 200

Die drei Ringe

Entstehung, Wandel und Wirkung der Ringparabel in der europäischen Literatur und Kultur Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Giulia Cantarutti und Friedrich Vollhardt

ISBN 978-3-11-045267-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045437-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045323-2 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: TIESLED Satz & Service, Köln Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Achim Aurnhammer / Giulia Cantarutti / Friedrich Vollhardt Einleitung   IX

I. Zur Vor- und Frühgeschichte der Ringparabel Jan Assmann Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? 

 3

Annemarie C. Mayer Ramon Lull – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen Ein Beitrag zur mittelalterlichen Toleranzdebatte   15 Wolf-Dieter Stempel Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version (Étienne de Bourbon, Li dis dou vrai aniel, Gesta Romanorum, Il Novellino, Bosone da Gubbio)   33 Valter Leonardo Puccetti La novella delle »tre anella« nel Novellino 

 47

II. Säkularisierung der Ringparabel: Boccaccio und seine Rezeption in der Frühen Neuzeit Andreas Kablitz Boccaccios Decameron-Novelle I 3 

 63

Linus Möllenbrink Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung? Michel Beheims Lied Nr. 294   87

VI 

 Inhalt

Achim Aurnhammer Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland (1476 bis 1608)   113 Mario Zanucchi ›Fashion Crisis‹ Jonathan Swifts A Tale of a Tub (1704) als satirische Variante der Ringparabel   139 Christian Rivoletti Les trois anneaux (1721) Eine französische Verserzählung zwischen Boccaccio und Lessing  Winfried Schröder Religion und Betrug Die Ringparabel, die Wolfenbütteler Fragmente und der Traktat De tribus impostoribus   177

III. Die Ringparabel bei Lessing und in der Moderne Giulia Cantarutti Das italienische Umfeld von Lessings Ringparabel Skizze zur Erkundung verschütteter Wege   191 Friedrich Vollhardt Die Ringparabel in G. E. Lessings Drama Nathan der Weise Aktualität – Historizität – Kontiguität   205 Francesca Tucci Nathan und die Ringparabel im Kontext antisemitischer Lessing-Darstellungen Eugen Dühring und Sebastian Brunner   235

 165

  Inhalt 

Liliane Weissberg Freuds Ringe   247

Anhang Zusammenfassungen der Beiträge in deutscher Sprache  Riassunti dei contributi in lingua italiana  Register 

 281

 275

 269

 VII

Achim Aurnhammer / Giulia Cantarutti / Friedrich Vollhardt

Einleitung

Noch vor Kurzem erschien es kaum denkbar, dass in der westlichen Welt Kon­ flikte entstehen könnten, die an längst vergangene Religionskriege erinnern. Da es sich bei solchen Spannungsverhältnissen um komplexe Phänomene handelt, wird nach ersten Ursachen, grundsätzlichen Erklärungen und zustimmungsfähi­ gen Lösungen, also einfachen Antworten gesucht. Der längere Zeit aus dem Theo­ riegespräch verschwundene Begriff der Toleranz hat sich hier als ein Konzept angeboten, mit dem nach einem Ausgleich der kulturellen Gegensätze gesucht werden kann. Der Übergang in eine postsäkulare Gesellschaft scheint bereits vollzogen zu sein, in der wir uns auf die Anliegen von Glaubensgemeinschaften anders einzustellen und ein Gespür für die Aussage- und Ausdruckskraft der tra­ dierten religiösen Rede zu entwickeln haben. Fraglich ist, ob die Erinnerung an die Ursprünge unserer Toleranzauffassung und bestehende Kontinuitäten (etwa in der Rechtslehre) daran etwas ändern können werden. Eine solche historische Vergewisserung ist dennoch notwendig, da Ansätze zur Lösung der sich gegen­ wärtig stellenden Probleme noch immer in der auf die Frühe Neuzeit zurückge­ henden naturrechtlich-politischen Diskussion und Begriffsgeschichte zu finden sind. Das dürfte ein Grund für die unvermindert anhaltende, bis in unsere Gegen­ wart reichende Wirkung eines über 200 Jahre alten Textes sein, in dem ausdrück­ lich von Religionen, deren Geschichte und ihren Unterschieden gesprochen wird: Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise. Die poetische Form hat die Wirkung des Dramatischen Gedichts kaum beeinträchtigt. Die berühmte Ringparabel findet nicht nur im politischen Tagesgeschäft Beachtung, sondern auch in der wissenschaftlichen Forschung, in öffentlichen Debatten und im philosophischen Essay; das Werk Lessings bildet neben John Lockes Letter concerning Tolera­tion (1689) und Voltaires Traité sur la tolérance (1763) den deutschen Beitrag zur euro­ päischen Toleranzdiskussion. Dass bei einem Plädoyer für Toleranz die perspektivenbildenden Stand­ punkte zu berücksichtigen sind, hat bereits Lessing erkannt. Die Hauptfigur seines Nathan-Dramas bedient sich eben dieses Arguments, um der Frage des Sultans nach den »Gründen« für die Wahl einer bestimmten Religion (die »doch wohl zu unterscheiden wären«) die Grundlage zu entziehen: Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! – Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? − Nicht? –

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 Achim Aurnhammer/Giulia Cantarutti/Friedrich Vollhardt Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? […] Wie kann ich meinen Vätern weniger, Als du den deinen glauben? (III 7, 459–470)

Eine nachvollziehbare Einsicht, aus der sich nicht nur die Forderung nach einem toleranten Umgang, sondern »ein Weg der kompetitiven Einheit«1 ergeben kann (und soll), ein Wettstreit um humane, gleichwohl auf Religion gegründete Lebensformen. Das macht − um eine ausländische Stimme zu zitieren − »Lessings Nathan der Weise zur edelsten Allegorie der europäischen Literatur«.2 Solche Versuche, der Ringparabel Aktualität abzugewinnen, bezeugen zwar die große Bedeutung des Textes in der gegenwärtigen Toleranz- und Integrati­ onsdebatte, führen aber zu einer instrumentellen Disqualifizierung der Erzäh­ lung zum feuilletonistischen Gemeinplatz. Auf diese Weise gerät nicht nur der komplexe ästhetische Rahmen der Parabel in Lessings Nathan der Weise aus dem Blickfeld; es wird vielmehr auch vergessen, dass die Ringparabel selbst eine lange Überlieferungsgeschichte besitzt und dass sie ein ebenso zentrales Erzähl­ muster des Toleranz- wie des Intoleranzdiskurses darstellte. Der vorliegende Band, der die Ergebnisse eines deutsch-italienischen For­ schungskolloquiums vom 27. bis 29. September 2012 in der Villa Vigoni dokumen­ tiert, möchte gegen die präsentistischen Reduktionen und Missverständnisse der Ringparabel die literarische Geschichte dieses wirkmächtigen Erzählmodells rekonstruieren und an diesem Leitfaden entlang auch eine Archäologie des euro­ päischen Toleranzgedankens selbst liefern. Erhellt werden zum einen die Trans­ formationen der Parabel von der Antike bis zu Boccaccios Melchisedech-Novelle, um dann zum anderen auf Lessing einzugehen und dessen Rezeption bis in die Moderne zu verfolgen.

*** Wie die Tagung wird auch die vorliegende Dokumentation mit einem Beitrag des Ägyptologen Jan Assmann eröffnet. Seine Ausführungen gelten dem altertüm­ lichen Erzählkern der Ringparabel. Nach antiker Überlieferung (Hekataios von Abdera, Diodor und Plutarch) habe Isis mehrere Wachsstatuen ihres ermordeten Bruders für die Priesterzünfte herstellen lassen, sodass jede Priesterzunft glaubte,

1 Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Berlin 2003, S. 406. 2 Terence James Reed: Mehr Licht in Deutschland. Eine kleine Geschichte der Aufklärung. München 2009, S. 91.

Einleitung 

 XI

Osiris sei bei ihr begraben. In der mythischen Erzählung finden sich bereits die zentralen Elemente der späteren Ringparabel: die Täuschung der Menschheit durch eine Gottheit mithilfe von Duplikaten eines religiösen Glaubenssymbols. Zudem führt Assmann aus, dass diese Legende, die erst in der griechischen His­ toriografie belegt ist, möglicherweise aus einer Umdeutung ägyptischer Riten aus griechischer Perspektive entstanden sein könnte. Annemarie Mayer stellt Raimundus Lullus’ Llibre del gentil e dels tres savis (1274–1276) vor, das die Problematik der religiösen Toleranz auf philosophische Ebene hebt. Lullus, der aus Mallorca stammte, wo drei Glaubensgemeinschaften koexistierten, inszeniert ein philosophisches Glaubensgespräch zwischen einem Heiden und drei Weisen, welche die großen monotheistischen Weltreligionen Christentum, Islam und Judentum vertreten. Der Toleranzdiskurs wird bereits an dem Umstand evident, dass keine heilige Schrift vorausgesetzt und keine Auto­ ritätsargumente bemüht werden: Im philosophischen Dialog gelten einzig die logischen rationes necessariae. Als sich der bekehrte Heide schließlich wundert, warum die Weisen nicht erfahren wollen, für welche der drei Konfessionen er sich entschieden habe, antworten sie ihm, sie blieben lieber in Unkenntnis, um ihre Diskussion fortführen zu können. Der Schluss legt nahe, dass der Zweck der drei Weisen nicht die Missionierung, sondern die dialektische und prinzipiell endlose Wahrheitssuche ist. Darin trifft sich Lullus’ Erzählung mit dem konsti­ tutiv offenen Schluss der ›toleranten‹ Parabelüberlieferung: Die religiöse Wahr­ heitsfrage bleibt unbeantwortet. Der anschließende Beitrag von Wolf-Dieter Stempel ist den mittelalterli­ chen Versionen der Parabel gewidmet, die Boccaccio vorausgehen. Beleuchtet werden vor allem christlich-apologetische Versionen der Erzählung. Zunächst untersucht Stempel eine Version der Erzählung aus der Feder des französischen Dominikaners Étienne de Bourbon (1190–1261), Prediger und Inquisitor, der die Erzählung in seinem Tractatus de diversis materiis praedicabilibus (Nr. 331) als Predigtexempel verwertet. Étienne, dessen Quelle nicht ermittelt ist, verkehrt die Intention der Erzählung in ihr Gegenteil. Aus dem häretischen Plädoyer für reli­giöse Toleranz wird hier eine militante Parabel der katholischen Orthodoxie. In der altfranzösischen Verserzählung Dis dou vrai aniel, die Stempel ebenfalls vorstellt, wird der orthodoxe Intoleranzdiskurs im Kontext der Kreuzzüge fort­ geschrieben und radikalisiert. Die dritte von Stempel untersuchte orthodoxe Fassung – sie findet sich im Exempel De triplici statu mundi der Gesta Romanorum (cap. 89) – reagiert bereits auf das Scheitern der Kreuzzüge. Hier symbolisiert der jüngste der drei Söhne den christlichen Glauben, während die zwei älteren Brüder die jüdische und islamische Konfession verkörpern. Im Unterschied zu Étiennes Version sind die Ringe der anderen beiden Brüder zwar nicht wunder­ tätig wie der echte Ring, aber andererseits auch nicht ›falsch‹. Diese Version der

XII 

 Achim Aurnhammer/Giulia Cantarutti/Friedrich Vollhardt

Parabel, die auch in Übersetzungen weit verbreitet war, trägt dem Scheitern der Kreuzzüge Rechnung, indem sie die apologetische Intention merklich mildert. Im Anschluss daran interpretiert Valter Leonardo Puccetti eine der zen­ tralen Quellen Boccaccios, die Ringparabel-Erzählung aus der Novellensamm­ lung Il Novellino. In seinem kenntnisreichen Beitrag kontextualisiert er sie vor dem Horizont der zeitgenössischen Literatur. Den zweiten Teil des Bandes eröffnet Andreas Kablitz mit einem Beitrag über Boccaccios Ringparabel, der dritten Novelle des ersten Tages im Decameron. Zunächst betont Kablitz den instrumentellen Wert von Wahrheit und Toleranz bei Boccaccio, die für die Personen der Novelle nur mehr Mittel zum Zweck sind: Für den Sultan ist die Frage nach der religiösen Wahrheit nur das Instrument, mit dem der Reichtum des jüdischen Kaufmanns angeeignet werden soll, für den Juden ist der Toleranzdiskurs das ›Lösegeld‹, um sich freizukaufen und seinen Besitz zu retten. Dann führt Kablitz aus, wie die Übergabe des Rings als Insignie aristokratischer Macht Religion und Herrschaft miteinander verquickt und das säkularisierte Religionsverständnis des Decameron bestätigt. Die folgenden Beiträge befassen sich mit der frühneuzeitlichen Rezeption der Ringparabel in Deutschland, England und Frankreich: Linus Möllenbrink behandelt Michel Beheims Lied Nr. 294 (vor 1472/79), welches neben den Gesta Romanorum, Beheims mutmaßlicher Quelle, das einzige bekannte deutschspra­ chige Zeugnis des sogenannten apologetischen Zweiges der Ringparabel-Tradi­ tion darstellt. Achim Aurnhammer bespricht einige Zeugnisse der Rezeption von Boccaccios Ringparabel in Deutschland vor 1600 wie die Übersetzung von Dec. I 3 durch Arrigho di Federigho della Magna (1476), die Statuenparabel im Liber divinae revelationis (1490) sowie Hans Sachs’ Meisterlied Der Jued mit den dreyen ringen (1545) und ein anonymes Gleichnus Eines Juden der Religion (1605). Die meist vernachlässigten Aktualisierungen der Ringparabel werden sowohl narra­ tologisch als auch sprachlich-stilistisch konturiert und mit Boccaccios Architext kontrastiert. Während Mario Zanucchi Jonathan Swifts A Tale of a Tub (1704) als satirische Variante auf die Ringparabel interpretiert und vor dem Hintergrund der ›Fashion Crisis‹ des ausgehenden 17. Jahrhunderts neu kontextualisiert, befasst sich Christian Rivoletti mit Les trois anneaux (1721), einer französischen Vers­ bearbeitung der Ringparabel Boccaccios, und ihrer italienischen Rezeption im 18. Jahrhundert. Abgeschlossen werden die Beiträge des zweiten Teils mit einer Studie von Winfried Schröder zum Thema »Religion und Betrug. Die Ringpara­ bel, die Wolfenbütteler Fragmente und der Traktat De tribus impostoribus«. Wie im Kolloquium ist der dritte Teil des Bandes Lessing und der Moderne gewidmet. Ihn eröffnet Giulia Cantarutti mit einer Abhandlung über Lessings Kenntnis italienischer Debatten vor der Entstehung des Nathan. Daran schließt der Beitrag von Friedrich Vollhardt an, der dem zweiten kanonischen Refe­

Einleitung 

 XIII

renztext, Lessings Ringparabel aus dem Nathan, gilt. Vollhardt rekonstruiert den geistesgeschichtlichen Hintergrund der Parabel und nimmt sie so vor inad­ äquaten Aktualisierungen in Schutz. Insbesondere betont Vollhardt, wie sehr die Wahrheitsfrage bei Lessing im Unterschied zu postmodernen Deutungen immer noch eine fundamentale Bedeutung besitzt. Francesca Tucci widmet sich der Rezeption der lessingschen Ringparabel im Kontext antisemitischer LessingDarstellungen, und zwar bei dem wegen seiner Kontroverse mit Marx und Engels bekannten Publizisten Eugen Dühring sowie bei dem österreichischen Publizisten Sebastian Brunner. Liliane Weissberg beschließt den Band mit einem Beitrag über Sigmund Freuds Ringe, der Freuds persönlicher Adaptation des Ringpara­ bel-Stoffs in den Formierungsjahren der Psychoanalyse virtuos nachspürt.

*** Die Herausgeber danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das deutsch-italienische Kolloquium großzügig förderte, sowie der Direktion der Villa Vigoni für die organisatorische Unterstützung und Betreuung der Tagung, namentlich Christiane Liermann. Ein herzlicher Dank gebührt Christine Vogl für ihre umsichtige Redaktion der Beiträge. Ferner sei Mario Zanucchi gedankt für seine wertvolle Mitarbeit bei der Übersetzung der Zusammenfassungen ins Italie­ nische. Das Register erstellte Isabell Oberle. Die Herausgeber freuen sich darüber, dass die Kolloquiumsakten als 200. Band der Reihe Frühe Neuzeit erscheinen.

I. Zur Vor- und Frühgeschichte der Ringparabel

Jan Assmann

Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? Das Fragezeichen im Titel meines Beitrags ist nur allzu berechtigt. Ob wirklich eine Überlieferungslinie von einer Episode des ägyptischen Osiris-Mythos zu den Ursprüngen der Ringparabel führt, ist eine offene Frage. Die mögliche Parallele scheint aber eng genug, um sie sich genauer anzuschauen. Die entscheidende Passage des ägyptischen Mythos steht in der Bibliotheca Historica des Diodor von Sizilien, eines Zeitgenossen von Cicero, der im 1. Jahr­ hundert v. Chr. schrieb, sich für seinen Ägyptenbericht jedoch weitestgehend auf einen älteren Autor, Hekataios von Abdera, stützte. Dieser war Ende des 4. Jahr­ hunderts nach Alexandria gezogen, um Ptolemaios I. beim Aufbau des Musaions und der Bibliothek von Alexandrien zu helfen. Er schrieb eine heute verlorene mehrbändige Geschichte Ägyptens, die Ptolemaios für die Regierung des Landes als Orientierung dienen sollte. So wird auch Diodors Version des Osiris-Mythos auf Hekataios zurückgehen: Obwohl die Priester seit ältesten Zeiten den Tod des Osiris als strengstes Geheimnis über­ liefert haben, ist doch im Laufe der Jahre durch einige von ihnen dieses verborgene Wissen der Menge bekannt geworden. Dies ist die Geschichte, wie sie sie erzählen: Als Osiris über Ägypten als legitimer König herrschte, wurde er von seinem Bruder Typhon, einem gewalt­ tätigen und gottlosen Menschen, ermordet. Typhon zerteilte die Leiche in 26 Teile und gab jedem Mitglied seiner Bande einen Körperteil, weil er wollte, dass alle an der Freveltat teil­ haben und dachte, dass er auf diese Weise in ihnen Mitkämpfer und Verteidiger seiner Herr­ schaft gewinnen würde. Isis aber, die Schwester und Gattin des Osiris, rächte seinen Tod mit Hilfe ihres Sohnes Horus und wurde Königin von Ägypten, nachdem sie Typhon und seine Bande geschlagen hatten. […] Isis nun sammelte alle Körperglieder des Osiris zusammen mit Ausnahme des Schamglieds; und da sie wünschte, daß das Grab ihres Gemahls geheim bliebe und doch von allen Ägyptern verehrt würde, erreichte sie ihr Ziel auf die folgende Weise. Um jedes Körperglied formte sie, wie erzählt wird, aus Wachs und Spezereien eine menschliche Figur in der Größe des Osiris. Dann rief sie die Priesterschaften zusammen und ließ sie einen Eid schwören, niemandem das Geheimnis zu verraten, das sie ihnen anvertrauen wollte. Dann nahm sie jede Gruppe einzeln beiseite und eröffnete ihr, dass sie ihnen allein das Begräbnis der Leiche übertragen wolle, und nachdem sie ihnen noch einmal die Wohltaten des Osiris in Erinnerung gerufen hatte, ermahnte sie sie, ihm göttliche Ehren zu erweisen und ihm auch einige der Tiere, die bei ihnen lebten, nach ihrer Wahl zu weihen, ihnen zu deren Leb­ zeiten die Ehren zu erweisen wie vormals dem Osiris und sie nach deren Tod in derselben Weise zu bestatten wie Osiris. Und weil Isis die Priester dazu bringen wollte, diese Ehren auch aus eigenem Interesse zu erweisen, wies sie ihnen den dritten Teil des Landes zu, um die Kosten des Kults zu

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 Jan Assmann bestreiten. Und die Priester, sagt man, gedachten der Wohltaten des Osiris, eiferten, der Isis in ihren Bitten zu Gefallen zu sein und taten, auch aus eigenem Interesse, alles, was Isis vorgeschlagen hatte. Aus diesem Grund glaubt bis heute jede Priesterschaft, dass Osiris in ihrem Gau begraben sei, hält die Tiere in Ehren, die ihm ursprünglich geweiht wurden und erneuert, wenn sie sterben, in den Begräbnisriten für sie die Trauer um Osiris. Der Kult der heiligen Stiere, die sie Apis und Mnevis nennen, wurde in ganz Ägypten ein­ geführt, weil diese Tiere mehr als andere denen geholfen hatten, die das Getreide entdeckt und die Aussaat und alle anderen Feldarbeiten entwickelt hatten, von denen die Mensch­ heit profitiert.1

Dieser Bericht ist eine ätiologische Legende, die vier auffallende Eigenheiten der ägyptischen Religion erklären will: 1. Wie es angeht, dass jeder ägyptische Gau sein eigenes Osiris-Grab besitzt, 2. warum Kult und Mythos des Osiris mit soviel Tabus und Geheimnissen umgeben sind, 3. was es mit dem Kult der heiligen Tiere auf sich hat und 4. wie es kommt, dass die Tempel so viel Land besitzen. Uns interessieren im Zusammenhang mit der Ringparabel natürlich nur die ersten beiden Punkte: Wie ist es zu erklären, dass alle Gaue Ägyptens sich rühmen, das wahre Osiris-Grab zu besitzen und dessen Kult mit strikter Geheimhaltung umgeben? Dieser erste Teil der Geschichte enthält wiederum zwei bedeutende Motive, denen wir zunächst einzeln nachgehen wollen: 1. die Tat des Seth-Typhon, den Leichnam des ermordeten Osiris zu zerstückeln und die einzelnen Glieder an seine Komplizen zu verteilen, um sich deren Treue und Hilfe zu versichern; 2. die Tat der Isis, diese einzelnen von ihr eingesammelten Körperteile auf die einzelnen Gaue des Landes wieder auszuteilen (anstatt sie zu einem vollstän­ digen Körper zusammenzusetzen). Diese beiden Motive kommen auch in einer leicht veränderten, weniger prägnan­ ten Fassung bei Plutarch, der ungefähr 150 Jahre nach Diodor und ca. 430 Jahre nach Hekataios schrieb, in seiner Abhandlung De Iside et Osiride vor: Typhon soll des Nachts […] darauf [sc. auf den Sarg mit der Leiche des von ihm ermor­ deten Osiris] gestoßen sein. Er habe die Leiche erkannt, in vierzehn Teile zerstückelt und diese zerstreut. Als Isis das erfuhr, habe sie die Teile wieder gesucht, in einem Papyrusboot durch die Sümpfe fahrend. […] Daher komme es auch, daß es in Ägypten viele angebliche Gräber des Osiris gibt: Isis habe, wo immer sie auf einen Körperteil stieß, ein Grab bereitet. Andere bestreiten das; Isis habe vielmehr Abbilder hergestellt und sie jeder einzelnen Stadt geschenkt, so als ob sie ihr die Leiche schenkte, damit er an mehr Stellen Ehren genieße

1 Diodorus Siculus: Bibliotheca historica I 21. In: Diodorus of Sicily. Mit einer englischen Übersetzung von C. H. Oldfather. Bd. 1: Books I and II, 1–34. London 1933 (The Loeb Classical Library 279), S. 64–69.



Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? 

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und Typhon, wenn er über Horus obsiegen würde, bei der Suche nach dem wahren Grab unter den vielen, die genannt und gezeigt werden, aufgeben müßte. Der einzige Körperteil des Osiris, den Isis nicht gefunden habe, sei das Schamglied gewesen. Es sei sofort in den Fluß geworfen worden, und von ihm hätten gefressen der ägyptische Karpfen (lepidōtós), die Meeräsche (phágros) und der Nasennilhecht (oxýrhynchos)  – Fische, welche von den Ägyptern aus religiöser Scheu besonders gemieden würden; Isis habe als Ersatz eine Nach­ bildung verfertigt und geweiht, den Phallos, dem auch heute noch die Ägypter ein Fest fei­ erten.2

Hier gibt es zwar das auch sonst vielfach belegte Motiv der Zerstückelung, aber nicht das Motiv der Verteilung der Körperglieder an die Verschwörer, das wohl eine Besonderheit der Diodor/Hekataios-Fassung darstellt. Dafür ist aber das Motiv der Anfertigung identischer Reproduktionen, das eine gewisse Parallele zur Ringparabel darstellt, beiden Fassungen gemeinsam. Das Motiv der verteilten Körperglieder wiederum hat in der Bibel eine erstaun­ liche Parallele und zudem, zweifellos von dem biblischen Bericht genauso abhän­ gig wie Lessings Verwendung der Ringparabel von Boccaccio, in Heinrich von Kleists Hermannsschlacht. Obwohl ich damit den engeren thematischen Rahmen der Ringparabel verlasse, möchte ich doch auch diesem Motiv des Mythos ein wenig nachgehen. In Kapitel 19 und 20 des Buchs der Richter lesen wir: Und siehe, da kam ein alter Mann von seiner Arbeit vom Felde am Abend, und er war auch vom Gebirge Ephraim und ein Beisasse zu Gibea; aber die Leute des Orts waren Benjami­ niter. Und da er seine Augen aufhob und sah einen Fremden auf der Gasse, sprach er zu ihm: Wo willst du hin? und wo kommst du her? Er aber antwortete ihm: Wir reisen von Bethlehem-Juda, bis wir kommen an die Seite des Gebirges Ephraim, daher ich bin; und bin gen Bethlehem-Juda gezogen und ziehe jetzt zum Hause des HERRN, und niemand will mich beherbergen. Wir haben Stroh und Futter für unsre Esel und Brot und Wein für mich und deine Magd und für den Knecht, der mit deinem Diener ist, daß uns nichts gebricht. Der alte Mann sprach: Friede sei mit dir! Alles was dir mangelt findest du bei mir; bleibe nur nicht über Nacht auf der Gasse. Und führte ihn in sein Haus und gab den Eseln Futter, und sie wuschen ihre Füße und aßen und tranken. Und da ihr Herz nun guter Dinge war, siehe, da kamen die Leute der Stadt, böse Buben, und umgaben das Haus und pochten an die Tür und sprachen zu dem alten Mann, dem Hauswirt: Bringe den Mann heraus, der in dein Haus gekommen ist, daß wir ihn erkennen. Aber der Mann, der Hauswirt, ging zu ihnen heraus und sprach zu ihnen: Nicht, meine Brüder, tut nicht so übel; nachdem dieser Mann in mein Haus gekommen ist, tut nicht eine solche Torheit! Siehe, ich habe eine Tochter, noch eine Jungfrau, und dieser ein Kebsweib;

2 Plutarch: De Iside et Osiride 18. In: Ders.: Drei religionsphilosophische Schriften. Über den Aberglauben. Über die späte Strafe der Gottheit. Über Isis und Osiris. Griechisch-deutsch. Übersetzt und hg. von Herwig Görgemanns unter Mitarbeit von Reinhard Feldmeier und Jan Assmann. Düsseldorf, Zürich 2003, S. 164 f.

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 Jan Assmann die will ich herausbringen. Die mögt ihr zu Schanden machen, und tut mit ihr, was euch gefällt; aber an diesen Mann tut nicht solche Torheit. Aber die Leute wollten ihm nicht gehorchen. Da faßte der Mann sein Kebsweib und brachte sie zu ihnen hinaus. Die erkann­ ten sie und trieben ihren Mutwillen an ihr die ganze Nacht bis an den Morgen; und da die Morgenröte anbrach, ließen sie sie gehen. Da kam das Weib hart vor morgens und fiel nieder vor der Tür am Hause des Mannes, darin ihr Herr war, und lag da, bis es licht ward. Da nun ihr Herr des Morgens aufstand und die Tür auftat am Hause und herausging, daß er seines Weges zöge, siehe, da lag sein Kebs­ weib vor der Tür des Hauses und ihre Hände auf der Schwelle. Er aber sprach zu ihr: Stehe auf, laß uns ziehen! Aber sie antwortete nicht. Da nahm er sie auf den Esel, machte sich auf und zog an seinen Ort. Als er nun heimkam, nahm er ein Messer und faßte sein Kebsweib und zerstückte sie mit Gebein und mit allem in zwölf Stücke und sandte sie in alle Grenzen Israels. Wer das sah, der sprach: Solches ist nicht geschehen noch gesehen, seit der Zeit die Kinder Israel aus Ägyptenland gezogen sind, bis auf diesen Tag. Nun bedenkt euch über dem, gebt Rat und sagt an! Da zogen die Kinder Israel aus und versammelten sich zuhauf wie ein Mann, von Dan bis gen Beer-Seba und vom Lande Gilead zu dem HERRN gen Mizpa; und traten zuhauf die Obersten des ganzen Volks aller Stämme Israels in der Gemeinde Gottes, vierhunderttau­ send Mann zu Fuß, die das Schwert auszogen. […] Und die Kinder Israel sprachen: Sagt, wie ist das Übel zugegangen? Da antwortete der Levit, des Weibes Mann, die erwürgt war, und sprach: Ich kam gen Gibea in Benjamin mit meinem Kebsweibe, über Nacht dazubleiben. Da machten sich wider mich auf die Bürger zu Gibea und umgaben mich im Hause des Nachts und gedachten, mich zu erwürgen; und haben mein Kebsweib geschändet, daß sie gestorben ist. Da faßte ich mein Kebsweib und zerstückte es und sandte es in alle Felder des Erbes Israels; denn sie haben einen Mutwillen und eine Torheit getan in Israel. Siehe, da seid ihr Kinder Israel alle; schafft euch Rat und tut hierzu! (Ri 19,20–20,7).

Warum zerstückelt der Mann die Leiche seiner von den Leuten zu Gibea zu Tode vergewaltigten Nebenfrau in zwölf Teile und sendet sie in alle Bezirke Israels? Um die zwölf Stämme an ihr Bündnis zu mahnen und zu gemeinsamem Handeln aufzufordern.3 Indem sie sich zur Rache vereinen, kommen die zwölf Körperteile wieder zur Einheit eines Körpers zusammen. Ein entsprechendes Motiv treibt den Seth/Typhon bei Diodor, die Leiche des Osiris in 26 Teile zu zerstückeln und jedem seiner Komplizen einen Teil zu geben. Sie sollen so zusammenhalten wie ein Körper, und sie sollen sich kollektiv mit der Mordtat identifizieren. So sollen sich auch die Stämme Israels kollektiv mit dem dem Mann aus Ephraim angeta­ nenen Unrecht und mit seiner Rache identifizieren. Die Zerstückelung der Leiche und Verteilung der Körperteile ist ein politisches Symbol. Es symbolisiert einmal

3 Zu den Riten des ›Heiligen Krieges‹ gehörte die Sitte, ein Tier zu zerstückeln und die Teile an die zwölf Stämme zu senden, um sie zur Teilnahme am Feldzug aufzufordern; vgl. 1 Sam 11,6–7. Dort verbindet sich die Sendung der Fleischstücke mit der Drohung: »Wer nicht auszieht, Saul und Samuel nach, des Rinder soll man also tun!« Damit wird an das Bündnis appelliert, welches dadurch geschlossen wird, dass die Parteien zwischen den zerteilten Tieren hindurchschreiten.



Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? 

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die zu gemeinsamem politischen Handeln verschworene ›Körperschaft‹ der Kom­ plizen des Seth/Typhon und das andere Mal die zwölf Stämme, die gemeinsam das Volk Israel bilden. In seinem von glühendem Nationalismus und Franzosenhass geprägten Drama Die Hermannsschlacht lässt Heinrich von Kleist Hermann, den Cherusker, dieselbe Strategie ergreifen, um die deutschen Stämme zum gemeinsamen Vor­ gehen gegen den römischen Feind aufzustacheln. Als er zufällig auf eine durch die Vergewaltigung eines jungen germanischen Mädchens namens Hally aufge­ wühlte Volksmasse trifft, schlägt er vor, Hallys Leiche in 15 Teile zu zerlegen und diese unter die 15 germanischen Stämme zu verteilen: Wir zählen funfzehn Stämme der Germaner; In funfzehn Stücke, mit des Schwertes Schärfe, Teil ihren Leib, und schick mit funfzehn Boten, Ich will dir funfzehn Pferde dazu geben, Den funfzehn Stämmen ihn Germaniens zu. Der wird in Deutschland, dir zur Rache, Bis auf die toten Elemente werben: Der Sturmwind wird, die Waldungen durchbrausend, Empörung! rufen, und die See, Des Landes Ribben schlagend, Freiheit! brüllen.4

In jedem einzelnen der ersten fünf Verse dieses Ausschnitts kommt die Zahl »funfzehn« vor. Mit dieser Zahl wird die Gesamtheit der germanischen Stämme beschworen, die zu einer Einheit und zu gemeinsamem politischen Handeln verschmolzen werden sollen. In der Bibel ist zwölf die entscheidende Zahl: Sie bezeichnet die Summe der israelitischen Stämme. Was nun Ägypten betrifft, gehen die beiden Versionen des Mythos, Diodor und Plutarch, auseinander. Bei Diodor sind es 26 Körperteile, was der Anzahl an Osirisgräbern entspricht, bei Plutarch wird der Körper in 14 Teile geteilt. Beiden Autoren ist natürlich bekannt – sie erwähnen es oft genug an anderen Stellen ihrer Werke –, dass Ägypten 42 Gaue zählt, 22 oberägyptische und 20 unterägyptische. Die Zahl 26 ergibt hier keinen Sinn, 14 jedoch, die zumindest dreimal in 42 enthalten ist, kann pars pro toto für die Zahl 42 stehen, denn den Leichnam des Osiris in 42 Teile zu zerstü­ ckeln kommt natürlich nicht infrage. Ebenso wichtig aber wie die Verteilung der membra disiecta des zerstückelten Osiris-Leichnams auf die 14 = 42 ägyptischen Gaue ist ihre rituelle Vereinigung. So wie die zwölf israelitischen Stämme und

4 Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Zweibändige Ausgabe in einem Band. Bd. 1. München 2001, S. 533–628, hier S. 590 f. (4. Aufz., 6. Auftr.).

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die 15 germanischen Stämme sollen sich auch die 42 ägyptischen Gaue zusam­ mentun, um den zerstückelten Leib zu restituieren. Das geschieht in Ägypten aber nicht in der Form eines militärischen Zusammenschlusses, sondern im Rahmen eines jährlich begangenen Fests, des Choiakfests. Wir wissen nicht, wie weit diese spezifische Tradition der rituellen Gliedervereinigung in die Spätzeit zurückreicht. In den Quellen tritt sie uns erst in ptolemäischer Zeit entgegen. Die Choiakriten bilden das wichtigste, in allen Tempeln des Landes gefeierte, wahr­ haft ›nationale‹ Ritual des spätzeitlichen Ägypten. Während nun das erste Motiv, die Zerstückelung der Osiris-Leiche, in den ägyptischen Quellen zahlreiche Parallelen hat und ein zentrales Element des ägyptischen Osiris-Mythos darstellt, scheint es sich beim zweiten Motiv, der List der Isis, jedem Gau eine Replik des mumifizierten Osiris-Leichnams anzubieten mit der geheimen Versicherung, es handele sich um die echte und wahre Leiche, um ein Missverständnis dieser Choiakriten zu handeln. Im Zentrum der Riten steht die Herstellung und feierliche Bestattung einer ›Kornmumie‹. Eine goldene Form füllt man mit Gartenerde und Gerstenkörnern, die man über einen Zeitraum von acht Tagen sprießen lässt.5 Dieses Ritual wird als Einbalsamierung und Mumifizierung des Osiris-Leichnams begangen. Der Prozess der Einbalsamierung wird hier ersetzt durch eine geradezu alchemistisch zu nennende Ansetzung aller möglicher Substanzen, die minutiös beschrieben werden, von denen die Kornmumie nur eine ist, und die alle dem Umwandlungsbzw. Sublimationsprozess der ›Verklärung‹ unterworfen werden. Der entschei­ dende Aspekt dabei ist die Umwandlung aus der Zerrissenheit in die wiederher­ gestellte Einheit. Das wird in Form einer Kanopenprozession begangen.6 Dabei

5 Hierfür gibt es zahlreiche Belege, z. B. den Festkalender im Grab des Gottesvaters Neferhotep TT 50 wohl aus frühramessidischer Zeit (um 1300 v. Chr.); siehe hierzu Jan Assmann unter Mitarbeit von Martin Bommas und Andrea Kucharek: Altägyptische Totenliturgien. Bd. 2: Totenliturgien und Totensprüche in Grabinschriften des Neuen Reiches. Heidelberg 2005, S. 433 f., sowie Émile Chassinat: Le mystère d’Osiris au mois de Khoiak. 2 Bde. Kairo 1966 und 1968, hier Bd. 1, S. 53 ff., und Bd. 2, S. 196 ff. Acht Tage ist auch die Zeit, die ein ›Adonisgärtlein‹ braucht, um zu sprießen; vgl. Platon: Phaidros 276b. 6 Siehe dazu Horst Beinlich: Die »Osirisreliquien«. Zum Motiv der Körperzergliederung in der altägyptischen Religion. Wiesbaden 1984 (Ägyptologische Abhandlungen 42) und Laure Pantalacci: Une conception originale de la survie osirienne d’après les textes de Basse Epoque. In: Göttinger Miszellen 52 (1981), S. 57–66; dies.: Sur quelques termes d’anatomie sacrée dans les listes ptolemaiques de reliques osiriennes. In: Göttinger Miszellen 58 (1982), S. 65–72; dies.: Sur les méthodes de travail des décorateurs tentyrites. In: Le Bulletin de l’Institut français d’archéologie orientale 86 (1986), S. 267–275; dies.: Décor de la 2ème chapelle Osirienne de l’est (sud) sur le toit du temple de Dendara. In: Akten des vierten Internationalen Ägyptologen-Kongresses München 1985. Hg. von Sylvia Schoske. Bd. 3: Linguistik – Philologie – Religion. Hamburg 1989 (Studien



Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? 

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treten die Personifikationen der 42 Gaue des Landes auf, geleitet von großen und übergeordneten Gottheiten, und bringen jeweils in einer Vase mit figürlichem Deckel (Kanope) ein Körperglied des erschlagenen Osiris, aus dem dann der Leib rituell wieder zusammengesetzt wird. Unter den Vorschriften zur Durchführung des Choiakfests gibt es auch genaue Anweisungen, wie die Körperglieder des Osiris herzustellen sind. Sie werden aus besonderem Teig in speziellen Holzfor­ men gebacken. So kann man vermuten, dass die Vasen zusammen mit Nilwasser je eines dieser Körperglieder enthalten. Immer wieder ist in den begleitenden Texten von den ›Ausflüssen‹ des Osiris die Rede.7 In der Spätzeit werden Nil und Nilüberschwemmung systematisch mit Osiris verbunden. In jedem Falle wird nun der Gabe eine doppelte sakramentale Bedeutung zugewiesen. Die eine Ausdeutung bezieht sie auf das spezifische Kör­ perglied des Osiris, das in ihr als Beitrag des jeweiligen Gaues zur Wiederzusam­ mensetzung des Osiris-Leibes dargebracht wird. Auf einer zweiten Ebene wird dann dieses Körperglied nochmals als Gau und Gauhauptstadt des Landes ausge­ deutet, sodass der auf diese Weise wieder zusammengesetzte und beseelte OsirisLeib die Einheit des Landes Ägypten symbolisiert. Das kommt in den Reden des Königs, der diese Prozession begleitet, klar zum Ausdruck: Ich bringe dir die Städte und Gaue als deine Glieder. Zugewiesen werden die Götter zu deinem Leib als dein Mysterium. Die Gottesglieder sind die Gaugötter in ihrer wahren Gestalt. Ich bringe dir die Göttergemeinschaft Oberägyptens in ihrer Gesamtheit: Deine Gottesglieder sind an ihrem Platz versammelt.8 Ich bringe dir die Hauptstädte der Gaue: Es sind deine Glieder, sie sind dein Ka, der bei dir ist. Ich bringe dir deinen Namen, deinen Ba, deinen Schatten, deine Gestalt, dein Bild und die Städte deiner Gaue.

zur altägyptischen Kultur, Beihefte 3), S. 327–337, sowie Jean-Claude Goyon: Momification et Recomposition du Corps Divin. Anubis et les canopes. In: Funerary Symbols and Religion. Essays dedicated to Professor M. S. H. G. Heerma van Voss on the occasion of his retirement from the Chair of the History of Ancient Religions at the University of Amsterdam. Hg. von J. H. Kamstra, H. Milde und K. Wagtendonk. Kampen 1988, S. 34–44. In den Osiris-Kapellen von Dendera ist diese Prozession im mittleren Raum der westlichen Kapelle dargestellt; vgl. dazu Sylvie Cauville: Le temple de Dendara. Les chapelles osiriennes. 2 Bde. Kairo 1997, hier Bd. 1, S. 40–51 (Dendara X, 71–91), und Bd. 2, S. 33–45. 7 Jeannot Kettel: Canopes, rdw.w d’Osiris et Osiris-Canope. In: Hommages à Jean Leclant. Bd. 3: Études Isiaques. Hg. von Catherine Berger, Gisèle Clerc und Nicolas Grimal. Kairo 1994 (Bibliothèque d’étude 106/3), S. 315–330. 8 Beinlich (Anm. 6), S. 89; Cauville (Anm. 6), Bd. 1, S. 40 (Dendara X, 71 f.).

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 Jan Assmann Ich bringe dir die Hauptgötter Unterägyptens zusammen vereint. Alle deine Körperglieder, sie sind vereint.9 (Rede der Meret des Nordens:) Ich bringe dir die 42 Städte und Gaue: Sie sind deine Glieder. Gegründet ist für dich das ganze Land als Ort deines Körpers, du gehst darin, du kommst darin. Ich bringe dir die Körperglieder, damit du lebst.10 (Rede des Upuaut des Nordens:) Ich bringe dir deine Gaue, die zweiundvierzig sind mit dir: Sie sind dein Leib. Deine Knochen sind für dich verknüpft, dein Name ist ›Herrscher der Hauptstädte‹, das ganze Land bewahrt deine Grabstätte. So wahr Re lebt, du ruhst Tag für Tag in deinem Namen ›Der lebt und ruht‹.11

Im Grunde wird hier das Balsamierungsritual auf das ganze Land Ägypten appli­ ziert, um seine Zerrissenheit zu heilen, um es zu vereinen, zu beseelen und zu erneuern. Die Festperiode beginnt mit der Auffindung und Einbalsamierung der 42 zerstreuten Glieder des erschlagenen Osiris, die aus den 42 Gauen des Landes herbeigebracht, rituell vereint und belebt werden, und endet mit der Beisetzung des Osiris sowie der Thronbesteigung des Horus, seines Sohnes und Rächers. Da die Choiakriten in der Spätzeit in allen religiösen Zentren des Landes gefei­ ert wurden und jeweils in der Prozession zum Osiris-Grab und der Beisetzung der Kornmumie kulminierten, wird dieser Brauch bei den griechischen Zuschau­ ern die Frage provoziert haben, wie es denn sein könne, dass Osiris so viele über ganz Ägypten verstreute Gräber haben könne. Da wird man ihnen vermutlich die Geschichte von der List der Isis erzählt haben, die in den ägyptischen Quellen nicht belegbar ist und vermutlich eine erst später ad hoc entstandene Legende darstellt. Das Choiakfest hat seinen Ursprung im Totenkult, im Ritual der Einbalsamie­ rung. Seine politische Sinndimension ist ihm wohl erst in der Spätzeit, in der Zeit der Fremdherrschaft, zugewachsen. Auch andere Rituale haben erst in der Spät­ zeit einen politischen Sinn angenommen, zum Beispiel das Ritual des Ziehens der vier Stoffkästen.12 Dieses Ritual, in dem vier Kästen mit grünem, rotem, weißem

9 Beinlich (Anm. 6), S. 147; Cauville (Anm. 6), Bd. 1, S. 46 (Dendara X, 82). 10 Beinlich (Anm. 6), S. 149; Cauville (Anm. 6), Bd. 1, S. 46 (Dendara X, 82). 11 Beinlich (Anm. 6), S. 153; Cauville (Anm. 6), Bd. 1, S. 46 (Dendara X, 83). 12 Vgl. A. Egberts: In Quest of Meaning. A Study of the Ancient Egyptian Rites of Consecrating the Meret-Chests and Driving the Calves. Leiden 1993.



Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? 

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und jrtjw-Leinen zuerst ›geweiht‹ und dann ›gezogen‹ werden, stammt ursprüng­ lich aus dem Sokarfest, aus dem auch die Choiakmysterien hervorgegangen sind, und hängt daher eng mit dem Totenkult zusammen. Die vier Leinenstoffe dienen der Einbalsamierung und Beisetzung des Sokar-Osiris.13 In der ptolemäi­ schen Zeit wird das Wort mrt für ›Kasten‹ oft als tȝ-mrj (›Ägypten‹) aufgefasst. Das ›Weihen‹ der Kästen wird jetzt gedeutet als das ›Leiten‹ (im Ägyptischen dasselbe Wort wie ›weihen‹) der Bewohner Ägyptens. Im begleitenden Spruch heißt es zum Beispiel: »Nimm Ägypten, indem es vereinigt ist. / Du hast die beiden Länder zu einem Ganzen verbunden.« Das Motiv der ›Verbindung‹ deutet die ›Binden‹ aus, mit denen die Kästen umwunden sind. Das Wort »Ägypten« (tȝ-mrj) steht im Wortspiel mit dem Wort »Kasten« (mr.t): Ich bringe dir Ägypten, indem es deiner Majestät zugeführt ist. Das Land vergrößert den Schrecken vor dir.14

Der Ritus kann statt »die meret-Kästen ziehen für Amun« geradezu »Ägypten seinem Vater Amun zuführen« genannt werden.15 Im Kontext des Osiris-Kults wird aber auch dieser Ritus auf die Glieder des Osiris hin ausgedeutet. Das Ziehen der vier Kästen bedeutet das Einsammeln der Glieder und ihre Vereinigung zum Osiris-Leib.16 Ich reise durch die Städte, ich durchstreife die Gaue, ich durchziehe die Stätten Ägyptens. Ich suche, was in den Tempeln verborgen ist, ich suche nach den Körpergliedern in Ägypten (qbḥ.wj), ich betrete beide Kammern (Ägypten) in ihrer ganzen Ausdehnung, ich mache meine Stadt ihren Stätten gleich. Ich bringe dir das weiße und das grüne, das jrtjw und das rote Leinen dar, um deinen Ka zu erhöhen über ihre Kas.17

So bildeten die Ägypter den zergliederten Körper des Osiris auf die Vielheit der Gaue ab, um im Ritual der Gliedervereinigung die Einheit, Ganzheit und Unver­ sehrtheit des Landes Ägypten zu begehen. Es scheint mir ein Irrtum zu meinen, dass es sich hier nur um eine Variante des verbreiteten Vegetationsmythos vom

13 Vgl. ebd., S. 173–199. 14 Ebd., S. 153 f. und 131. 15 Ebd., S. 96. 16 Vgl. ebd., S. 179. 17 Ebd., S. 153 f.

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 Jan Assmann

sterbenden und auferstehenden Saatkorn handelt. Natürlich gehört auch dieses Motiv zum Urbestand des Osiris-Mythos. Aber es ist ganz sicher nicht die Sorge um das Keimen der Saat und die Wiederkehr der Vegetation, die diesen Mythos und seine Semantik des Zerreißens und Wiederzusammenfügens in den Mittelpunkt der spätägyptischen Kultur rückt. Dahinter steht vielmehr die Sorge um den Fort­ bestand dieser Kultur selbst, und zwar über eine Krise hinweg, die als Zerrissen­ heit gedeutet und im Kult nachvollzogen wird. In der griechisch-römischen Zeit erscheint die ägyptische Kultur als ein Sinnzusammenhang, der in der Zeit der Fremdherrschaft und der hegemonialen Ausbreitung der hellenistischen Kultur immer stärker von Vergessen und Desintegration bedroht ist. So darf man auch nicht vergessen, dass Seth, der Mörder des Osiris und Zerstückeler seines Leich­ nams, in dieser Zeit immer stärker den Charakter des Asiaten, Eindringlings, Van­ dalen und Religionsfrevlers annimmt. Die mörderische Attacke des Seth erhält einen neuen politischen Sinn. Sie verkörpert die Gefahr, von der sich Ägypten permanent bedroht sieht und die immer im Norden lokalisiert wird. Das große Triumphfest des Horus von Edfu inszeniert den Mythos so, dass Seth von Norden in Ägypten einfällt und von Süden aus durch Horus zurückgeschlagen wird. Das Thema der ›Invasion von Norden‹ spielt auch in anderen Mythen der Spätzeit eine große Rolle.18 In der politischen sakramentalen Ausdeutung dieser Feste und Riten – und besonders der Choiakriten – artikuliert sich eine nationalägypti­ sche Reaktion auf die persische, griechische und römische Fremdherrschaft. Was die Choiakriten abwenden wollen, ist der ›Tod‹ der ägyptischen Kultur, indem sie nicht nur die 42 Gaue zum Osiris-Leib Ägyptens vereinigen, sondern auch das immense kulturelle Wissen, das um diese 42 Gaue herum angesammelt wurde, in Listen und Liturgien präsent halten. Am Ende dieser Kultur steht ein Text, der den Untergang dieser Kultur, das endgültige Vergessen und Zerfallen dieses officium memoriae als Weltuntergang schildert. So wie man heute vom Ende der Geschichte redet, so spricht dieser Text vom Ende der Riten und vom Ende der kosmogonischen memoria, die den Zusammenhang von Kosmos, Ordnung und Geschichte gewährleistete. Der Text steht im Corpus Hermeticum: Und doch wird eine Zeit kommen, wenn es so aussieht, als hätten die Ägypter vergeblich die Gottheit verehrt mit frommem Herzen und unablässiger Hingabe, und alle heilige Hin­ wendung zu den Göttern wird vergeblich und ihrer Früchte beraubt sein. Denn die Gottheit wird von der Erde wieder zum Himmel aufsteigen und Ägypten verlassen. Dieses Land, einst der Sitz der Religion, wird nun der göttlichen Gegenwart beraubt sein. Fremde werden

18 Vgl. Donald B. Redford: Pharaonic King-Lists, Annals and Day-Books. A Contribution to the Study of the Egyptian Sense of History. Mississauga 1986 (SSEA Publication 4), S. 277–281.



Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? 

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dieses Land bevölkern, und die alten Kulte werden nicht nur vernachlässigt, sondern gera­ dezu verboten werden. Von der ägyptischen Religion werden nur Fabeln übrig bleiben und beschriftete Steine. […] In jenen Tagen werden die Menschen des Lebens überdrüssig sein und aufhören, den Kosmos (mundus) zu bewundern und zu verehren. […] Die Götter werden sich von den Menschen trennen – o schmerzliche Trennung! […] In jenen Zeiten wird die Erde nicht länger fest sein und das Meer nicht mehr schiffbar, der Himmel wird die Sterne nicht in ihren Umläufen halten noch werden die Sterne ihre Bahn im Himmel einhalten; jede göttliche Stimme wird notwendig zum Schweigen kommen. Die Früchte der Erde werden verfaulen, der Boden wird unfruchtbar werden und die Luft selbst wird stickig und schwer sein. Das ist das Greisenalter der Welt: das Fehlen von Religion (inreligio), Ordnung (inordinatio) und Sinn (inrationabilitas).19

Der Abbruch der Riten und das Ende der Kosmosverehrung versetzt die Welt in den Zustand akuter Todesbefallenheit. Nach altägyptischer Überzeugung sind die Riten für die Welt, was der Blutkreislauf für den Körper ist: Sie binden, ver­ binden, verknüpfen und beleben. Ihr Verfall lässt die Einheit der Welt zerfallen und gibt sie der Verwesung preis. Ob es nun einen Zusammenhang gibt zwischen der einstweilen nur grie­ chisch bezeugten Geschichte von der List der Isis und anderen, bisher auch nur unzureichend erforschten Vorstufen der Ringparabel in christlichen, islamischen oder (wie Friedrich Niewöhner vermutete20) in jüdischen Quellen und wie dieser Überlieferungsweg zu rekonstruieren wäre, bleibt eine offene Frage. Der neueste Vorschlag führt den Ursprung der Ringparabel auf eine christliche Quelle des 8./9.  Jahrhunderts, also die Frühzeit der Religionsgespräche zwischen Chris­ tentum, Judentum und Islam, zurück.21 Plutarch und Diodor waren vielgelesene

19 Asclepius 24–26. In: Corpus Hermeticum. Hg. von A. D. Nock und übersetzt von A.-J. Festugière. Bd. 2: Traités XIII–XVIII. Asclepius. 2. Aufl. Paris 1960, S. 326–329 (mit Auslassungen). 20 Friedrich Niewöhner: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch Von den drei Betrügern. Heidelberg 1988 (Bibliothek der Aufklärung 5). Siehe jetzt auch Marcel Poorthuis: The Three Rings. Between Exclusivity and Tolerance. In: The Three Rings. Textual Studies in the Historical Trialogue of Judaism, Christianity and Islam. Hg. von Barbara Roggema, Marcel Poorthuis und Pim Valkenberg. Leuven, Dudley 2005 (Publications of the Thomas Instituut te Utrecht. New Series 11), S. 257–285, sowie Iris Shagrir: The Parable of the Three Rings. A Revision of its History. In: Journal of Medieval History 23 (1997), S. 163–177. 21 Die bislang älteste bekannte Variante findet sich im Dialog des Patriarchen Timotheos und des Kalifen Al-Mahdi, um 781, nach Karl-Josef Kuschel: Im Ringen um den wahren Ring. Lessings »Nathan der Weise« – eine Herausforderung an die Religionen. Ostfildern 2011, 153 f.; siehe hierzu Timotheos I., Ostsyrischer Patriarch: Disputation mit dem Kalifen Al-Mahdī. Hg. von Martin Heimgartner. 2 Bde. Louvain 2011 (Corpus scriptorum Christianorum orientalium 631 und 632, Scriptores Syri 244 und 245). In dieser Fassung wirft jemand eine wertvolle Perle, die alle begehren, in ein finsteres Haus. Jeder glaubt, sie gefunden zu haben, aber erst wenn es hell wird, stellt sich die Wahrheit heraus.

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 Jan Assmann

Autoren, deren Kenntnis bei christlichen, muslimischen und jüdischen Gelehr­ ten des Mittelalters vorausgesetzt werden darf. Trotzdem bedeutet es doch einen sehr weiten Schritt von der Frage nach dem echten Osiris-Grab zu der Frage nach der wahren Religion. Weder bei Plutarch noch bei Diodor wird die Episode mit einer der Ringparabel vergleichbaren Botschaft verbunden, des Sinnes etwa: Ihr Gaue Ägyptens, vertragt euch und respektiert einander, denn euer Anspruch auf Wahrheit hat jeweils gleiche Berechtigung und keiner unter euch hat den anderen irgendetwas voraus. Tut eure Pflicht und ehrt das Grab, das Euch gegeben ist, ohne den anderen ihre entsprechenden Pflichten und Ansprüche streitig zu machen. Eine solche Moral der Geschichte hätte aber immerhin Plutarchs Grund­ überzeugung von der letztlichen Einheit aller Religionen entsprochen. An einer anderen Stelle seines Traktats über Isis und Osiris schreibt er, dass »ebenso wie die Sonne, der Mond, der Himmel, die Erde und das Meer allen gemeinsam sind, obwohl sie bei den verschiedenen Völkern mit verschiedenen Namen bezeichnet werden«, auch »die eine Vernunft (logos), die alles ordnet, und die eine Vorse­ hung, die für alles sorgt«, bei den »verschiedenen Völkern mit verschiedenen Ehren, Anredeformen und geheiligten Symbolen« verehrt werden.22 Alle Völker verehren denselben Logos und dieselbe Vorsehung, nur in den ihnen eigentümli­ chen Riten, Sprachen und Symbolen, so wie auch alle denselben Kosmos kennen und nur mit den ihnen jeweils eigenen Begriffen bezeichnen. Aus dieser Plutarch-Stelle spricht schon derselbe Geist des Kosmopolitismus, der auch Lessings Verwendung der Ringparabel kennzeichnet. Plutarch, Diodor und vermutlich schon Hekataios von Abdera, ein Hellenist der ersten Stunde, lebten und schrieben in einem Zeitalter der Globalisierung, in dem die verschiede­ nen Kulturen und Religionen einander nahegerückt waren und das Griechische, so wie heute das Englische, als ein Medium fungierte, sich einander verständlich zu machen und miteinander zu kommunizieren. Mag sein, dass auch das Motiv von der List der Isis, die Wahrheit zu verhüllen und auf alle zu verteilen, von diesem kosmopolitischen Geist geprägt ist. Das spätägyptische Ritual aber, das dahin­ tersteht und die griechischen Autoren vermutlich in ihrem Sinne missverstanden haben, atmet einen ganz anderen Geist: die Angst vor dem Verlust der politischen, religiösen und kulturellen Identität in den Jahrhunderten der Fremdherrschaft und des vom Hellenismus ausgehenden kulturellen Assimilationsdrucks. Diese Einheit wird als ein Leib imaginiert, der aus den Gliedern, in die er zu zerfallen droht, immer wieder rituell zusammengesetzt und beschworen werden muss. Ägypten als der Leib eines getöteten und verklärten Gottes – das lässt eher an Paulus denken und sein Konzept der Kirche als Leib Christi, aber kaum an die Ringparabel.

22 Plutarch: De Iside et Osiride 67 (377 E–F).

Annemarie C. Mayer

Ramon Lull – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen Ein Beitrag zur mittelalterlichen Toleranzdebatte

Da es ja nur einen Gott gibt, den Vater, Herrn und Schöpfer der Welt, wäre es auch möglich, daß sich die Vielfalt der Völker zu einem einzigen Volk vereine, sich somit die Menschen gemeinsam auf den Weg des Heils begäben; und wir hätten nur noch einen Glauben und eine Religion, durch die wir gemeinsam unseren Herrn und Gott, den Schöpfer alles Guten, lobten und rühmten! Bedenkt doch, ihr Herren, all das Unglück, das aus der Verschieden­ heit der Glaubenshaltungen erwächst, und welch hohes Gut es demgegenüber wäre, wenn alle in demselben Gesetz übereinstimmten!1

Fast 800 Jahre trennen uns von der Geburt jenes Mannes, der diese Zeilen im Buch vom Heiden und den drei Weisen verfasst hat.

1 Das Buch vom Heiden im Kontext von Lulls Leben und Werk Im Folgenden werde ich Ramon Lull selbst und den religionstheologisch spannen­ den Inhalt seines 1274 veröffentlichten Buches vom Heiden und den drei Weisen kurz vorstellen, um dann Verbindungslinien zur Ringparabel zu ziehen und dabei nach Lulls Beitrag zur Toleranzdebatte zu fragen. Für Lulls Leben und Werk liegt uns eine für das Mittelalter recht außergewöhnliche Quelle vor, die nach Lulls eigenen Angaben verfasste Vita coaetanea,2 eine Art ›Autobiografie‹, die er im Herbst 1311

1 Ramon Lull: Das Buch vom Heiden und den drei Weisen. Übers. und hg. von Theodor Pindl. Stuttgart 1998 (im Folgenden zitiert als »LB« mit Seitenangabe), S. 17; Ramon Llull: Llibre del gentil e dels tres savis. Hg. von Anthony Bonner. 2. Aufl. Palma de Mallorca 2003 (Nova Edició de les Obres de Ramon Lull 2) (im Folgenden zitiert als »LL« mit Seitenangabe), S. 11 f.: »E que enaxí con es .i. Deu tan solament, pare e creador e seynor de quant es, que enaxí tots los pobles qui son s’unisen en esser .i. poble tan solament, e que aquell ffos en vía de salut, e que tuit ensemps aguessen .ia. ffe, .ia. lig, e donasen gloria e laor de nostre seyner Deus. Cogitáts, seynors – dix lo savi a sos compayons –, quants son los dans qui.s seguexen com los homens no an una secta tan solament, ni quants son los bens qui sserien si tuyt aviem .ia. ffe, .ia. lig.« Die katalanische Schreibweise des Namens lautet Ramon Llull, die lateinische Raimundus Lullus. 2 Vgl. Raimundus Lullus: Vita coaetanea. In: Raimundi Lulli Opera Latina (ROL). Bd. 8: Parisiis anno MCCCXI composita. Hg. von Hermogenes Harada. Turnhout 1980 (Corpus Christianorum.

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 Annemarie C. Mayer

in der Kartause von Vauvert bei seinem letzten Parisaufenthalt einem der dortigen Mönche diktiert hat. Lulls Heimat Mallorca war zeit seines Lebens geprägt von religiöser Pluralität, denn die Insel, die zuvor etwa 300 Jahre unter muslimischer Herrschaft gestanden hatte, war erst 1229, etwa drei Jahre bevor Lull dort geboren wurde, durch König Jakob I. von Aragon zurückerobert worden. Der Großteil der Bevölkerung Mallorcas war nach wie vor muslimisch – hauptsächlich Bauern und Handwerker, die nun unter christlicher Herrschaft standen. Die muslimische Ober­ schicht war nach Menorca oder Nordafrika geflohen. Es handelte sich beim Islam auf Mallorca also um einen ›domestizierten‹,3 den Lull aus dem Blickwinkel der Sieger kennenlernte. Neben den Muslimen gab es einen kleinen, aber einflussrei­ chen jüdischen Bevölkerungsanteil und die christlichen Eroberer. Ursprünglich hatte der 1232 geborene Ramon Lull eine Karriere als Seneschall am königlichen Hof eingeschlagen. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. In seiner Freizeit schrieb er Troubadourgedichte. Als Lull eines Abends im Jahr 1263 ein Gedicht auf eine schöne Dame verfasste  – es war dasselbe Jahr, in dem in Barcelona die berühmte Religionsdisputation zwischen dem Juden Nachmani­ des und dem vom Judentum zum Christentum konvertierten Dominikaner Paulus Chris­tianus stattfand –, erschien ihm plötzlich der Crucifixus, und das wieder­ holte sich an fünf aufeinanderfolgenden Abenden. Anders als Franziskus, der den Gekreuzigten in San Damiano zu sich reden hörte,4 erhielt Lull keine Bot­ schaft, etwas Bestimmtes zu tun. Dennoch beschloss er, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen. Fortan wollte er sich um ein friedliches Miteinander der drei monotheistischen Religionen bemühen und den sogenannten Ungläubigen,5 also

Continuatio Mediaevalis 34), S. 259–309; Übersetzung: Das Leben des seligen Raimund Lull. Die Vita coëtanea und ausgewählte Texte zum Leben Lulls aus seinen Werken und Zeitdokumenten. Übertragen und eingeleitet von Erhard-Wolfram Platzeck. Düsseldorf 1964, S. 33–59. 3 Vgl. Fernando Domínguez Reboiras und Blanca Garí: Einführung. In: Ramon Llull: Das Buch über die heilige Maria. Libre de sancta Maria. Katalanisch-deutsch. Hg. von Fernando Domínguez Reboiras. Übersetzung von Elisenda Padrós Wolff. Stuttgart-Bad Cannstatt 2005 (Mystik in Geschichte und Gegenwart 1/19), S. IX–XLVII, hier S. XI–XV. Daher rühren Lulls Bekehrungsversuche in Nordafrika. Er wollte seine Missionsmethode nicht nur an christlich dominierten Muslimen, sondern auch in Territorien ausprobieren, die nicht unter christlicher Herrschaft standen. 4 Vgl. Thomas de Celano: Vita Secunda Sancti Francisci. In: Fontes Franciscani. Hg. von Enrico Menestò u. a. Assisi 1995 (Medioevo Francescano. Testi 2), S. 441–639, hier S. 452: »›Francisce,‹ inquit, ›vade, repara domum meam, quae, ut cernis, tota destruitur.‹« Vgl. insgesamt die Textstellen bei Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 2: Frauenmystik und Franziskanische Mystik der Frühzeit. München 1993, S. 392 f., sowie die ebd., S. 393, Anm. 26, genannte Literatur zu vergleichbaren Phänomenen. 5 Ungläubige nennt Lull die Angehörigen der beiden anderen abrahamischen Religionen, während er die Christen als Gläubige bezeichnet; vgl. Raimundus Lullus: Liber de Deo maiore et



Ramon Lull – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen 

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den Muslimen und Juden, die ewige Verdammnis ersparen, indem er sie zum Christentum bekehrte. Dafür wollte er, falls nötig, auch sterben, dafür wollte er ganz unbescheiden »das beste Buch der Welt«6 verfassen und dafür wollte er seine Familie und sein bisheriges Leben aufgeben und ein contemplativus7 werden. Doch für all dies brauchte er eine theologische Ausbildung. Das war der Moment, in dem er beim ehemaligen Dominikanergeneral Ramon de Penyafort Rat suchte und zu hören bekam, dass an keiner der neu gegründeten Universitä­ ten Europas gelehrt würde, was er für seine Aufgabe brauche. Deshalb besorgte Lull sich einen muslimischen Sklaven und studierte bei ihm neun Jahre lang Ara­ bisch, islamische Philosophie und Theologie, bis dieser nach einem Angriff auf Lull Selbstmord beging. Lull scheint auch etwas Hebräisch gelernt zu haben und sich intensiv mit der ›traditionellen‹ christlichen Theologie vor allem neuplato­ nischer Prägung beschäftigt zu haben. Nach dem Selbstmord des Sklaven zog Lull sich als Einsiedler auf den Berg Randa zurück, wo ihm eine Erleuchtung im Zusammenhang mit der Abfassung der ersten Version seiner Ars, der Ars compendiosa inveniendi veritatem, den Beinamen doctor illuminatus einbrachte. Obwohl dies alles eine beeindruckende autodidaktische Leistung war, hatte Lull zeitlebens auch mit letztlich doch mangelhaften Kenntnissen, besonders der lateinischen Sprache, zu kämpfen.8 1287–1289 hielt er Gastvorlesungen in Paris, die seine Ars bekannt machen sollten, jedoch mit mäßigem Erfolg. Um an der Sorbonne nicht immer wieder zu scheitern, bemühte er sich um eine offizielle Anerkennung seiner Ars brevis durch die dortige Artistenfakultät.9 Einen seiner größten Erfolge hatte Lull wohl zu verzeichnen, als ihm König Jakob II. 1276 auf Mallorca die Gründung des Klosters Miramar ermöglichte, welches 13 Franziska­

Deo minore. In: Raimundi Lulli Opera Latina (ROL). Bd. 1: Opera Messanensia. Hg. von Johannes Stöhr. Palma de Mallorca 1959, S. 485–503, hier S. 489: »Impono istud nomen ›fidelis‹ Christiano, et istud nomen ›infidelis‹ Judaeo et Saraceno.« 6 In der Vita coaetanea 6 behauptet Lull (Anm. 2), S. 275, ganz unbescheiden, er habe »unum librum, meliorem de mundo, contra errores infidelium« verfasst. Diese Aussage bezieht sich auf seine Ars. 7 Vgl. den Antrag von Lulls Frau Blanca auf Einsetzung eines Vermögensverwalters, weil ihr Mann ein ›contemplativus‹ geworden sei; Text aus dem Archivum Cartarum Regiarum von 1275 in: Platzeck (Anm. 2), S. 73 f. 8 Vgl. z. B. Lulls Bitte um Übersetzung seiner katalanischen Werke ins Lateinische mit der Begründung »per so car ignor gramàtica«; Ramon Lull: Cent noms de Déu. In: Obres de Ramon Lull (ORL). Bd. 19/1. Hg. von Salvador Galmés und Ramon d’Alòs-Moner. Palma de Mallorca 1936, S. 75–170, hier S. 79. 9 Diese offizielle Anerkennung gelingt ihm 1310. Vgl. dazu Lola Badia: Ramon Llull. El multiculturalisme mediterrani. In: Estètica i valors mediterranis a Catalunya. Hg. von MariaÀngels Roque. Barcelona 2001, S. 35–50, hier S. 42 f.

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ner beherbergte, die dort die Sprachen und das theologische Rüstzeug erlernen sollten, um als Missionare in muslimische Länder zu gehen und die Ungläubi­ gen zu bekehren. Vielleicht war das Buch vom Heiden als Lehrbuch für Miramar gedacht. Lulls eigene Missionsreisen nach Nordafrika fielen in die Jahre 1293, 1307 und 1314. Im Jahr 1311 erreichte er beim Konzil von Vienne die Einrichtung von Sprachlehrstühlen in Rom, Bologna, Paris, Salamanca und Oxford.10 Er verfasste mehr als 250 Schriften. Zwischen Dezember 1315 und März 1316 ist er gestorben, vermutlich auf Mallorca und nicht, wie die Legende es will, infolge einer Steini­ gung auf seiner letzten Missionsreise. In diesen geschichtlichen Kontext passen einige Bemerkungen zur Texttra­ dierung des Buchs vom Heiden und den drei Weisen. Die besterhaltenen Hand­ schriften des katalanischen Originals aus dem 14. Jahrhundert finden sich in Oxford in der Bodleian Library (Can. It. 147) und in Palma de Mallorca (Bibl. Publ. 1071). Sie waren jedoch für die weitere Verbreitung des Werkes nicht von großer Bedeutung. Die lateinische Fassung des Werkes ist in 16 Manuskripten erhalten, von denen das älteste um 1300, also noch zu Lebzeiten Lulls datiert (Paris, Bib­ liothèque Nationale lat. 16114). Es ist die Vorlage für zwei unterschiedliche Hand­ schriftentraditionen: Auf der einen Seite stehen zehn Handschriften, die der berühmten Moguntina, der ersten gedruckten lateinischen Ausgabe des Werkes, zugrunde liegen.11 Ab 1722 war das Buch vom Heiden also einer breiteren Öffent­ lichkeit zugänglich. Auf der anderen Seite sind es fünf Handschriften, deren beste und älteste im Electorium magnum des Thomas Le Myésier (Paris, Bibliothèque Nationale lat. 15450) von 1325 enthalten ist. Ebenfalls noch zu Lebzeiten Lulls entstand eine französische Übersetzung (Paris, Bibliothèque Nationale fr. 22933). Doch bereits zu seinen Lebzeiten war Lulls Theologie umstritten. 60 Jahre nach seinem Tod verurteilte der aragonesische Inquisitor Nicolaus Eymericus 100 Sätze Lulls. Ebenfalls 1376 wandte sich Gregor XI. (1329–1378) vor allem gegen Lulls ›rationale Mystik‹. 1390 folgte ihnen Johannes Gerson (1363–1429), der Kanzler der Universität Paris, in der Verurteilung der Lehre Lulls. Auch die 1419 erfolgte Aufhebung der Thesen änderte daran kaum etwas. Nachdem Lulls Schrif­

10 Vgl. Berthold Altaner: Raymundus Lullus und der Sprachenkanon (can. 11) des Konzils von Vienne (1312). In: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 53 (1933), S. 190–219; Anthony Bonner: L’aprenentatge intellectual de Ramon Llull. In: Studia in honorem prof. M. de Riquer. Bd. 2. Barcelona 1987, S. 11–20, sowie Massimo Candellero: Un importante documento biografico lulliano. La Vita coaetanea. In: Atti del Convegno Internazionale Ramon Llull, il lullismo internazionale, l’Italia. Napoli, 30 e 31 marzo, 1 aprile 1989. Hg. von Giuseppe Grilli. Neapel 1992 (Annali dell’Istituto Universitario Orientale di Napoli. Sezione Romanza 34/1), S. 15–33, hier S. 31. 11 Raymundus Lullus: Liber de gentili et tribus sapientibus. In: Raymundi Lulli Opera (MOG). Hg. von Ivo Salzinger u. a. Bd. 2. Mainz 1722, S. 21–114.



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ten von Papst Paul IV. (1476–1559) auf den Index gesetzt wurden, kam das Directorium inquisitorum des Eymericus zwischen 1578 und 1607 im Zuge der Gegenrefor­ mation fünfmal neu heraus. Franz Brentano (1838–1917) hat 1895 die möglichen Konsequenzen des Lullschen Denkens auf den Punkt gebracht: Die Autorität der Vernunft könnte der Autorität der Kirche ihren Platz streitig machen.12 Doch, wie es mitunter in der Kirchengeschichte so geht, zur gleichen Zeit, als Lulls Rechtgläubigkeit am schärfsten angegriffen wird, setzt das Heiligsprechungsver­ fahren ein. Mittlerweile ist Lull immerhin selig gesprochen. Sein Festtag ist der 27. November. Nikolaus von Cusa (1401–1464) hatte zahlreiche Lull-Handschriften in seiner umfangreichen Bibliothek und beschäftigte sich ausführlich mit ihnen, wie die vielen Exzerpte belegen – auch mit dem Buch vom Heiden und den drei Weisen. Aus diesem Grund konstatiert Theodor Pindl in seinem Nachwort zur deutschen Übersetzung: »Auf dem Weg über De pace fidei kamen viele Lullsche Motive in die Welt des Humanismus und zu Lessing.«13 Einen Textbeleg für eine direkte Bezugnahme habe ich allerdings nicht gefunden. Leibniz dagegen zitiert Lull, und er und Descartes interessierten sich beide für Lulls scientia universalis. Es ist gewiss nicht übertrieben, wenn Lull im Prolog des Buches vom Heiden und den drei Weisen behauptet: Nachdem ich viel Zeit damit zugebracht hatte, an Gesprächen mit Ungläubigen teilzuneh­ men und ihre irrigen Meinungen kennenzulernen, habe ich armer und von vielen Menschen verachteter Sünder […] im Vertrauen auf die Hilfe des höchsten Schöpfers alle meine Kräfte gesammelt, um mit Hilfe einer neuen Methode und neuartiger Argumente die Irrenden vom Weg des Irrtums abzubringen, ihnen damit endlose Leiden zu ersparen und sie in die Lage zu versetzen, die Herrlichkeit ohne Ende zu erlangen.14

12 Vgl. Franz Brentano: Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand. Stutt­ gart 1895, S. 20. 13 Theodor Pindl: Nachwort. In: LB, S. 259–306, hier S. 305. 14 LB, S. 5; LL, S. 5 f.: »Con ab los inffeels ajam participat lonch de temps, e ajam enteses lurs ffalses oppinions e errors, per ço que ells donen laor de nostre seynor Deus, e que vinguen a via de salut perdurable, yo, qui son home colpable, mesquí, pobre, peccador, meynspreat per les gents, indigne que mon nom sia escrit en est libre ni en altre, siguent la manera del Libre arabic del gentil, me vull esfforssar ab tots mos poders, conffiant en la ajuda del Altisme, a enssercar novella manera e novelles rahons per les quals poguessen esser endressats los errats a gloria qui no a ffi, e que ffugisen a inffinits trebals.«

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2 Das Buch vom Heiden und den drei Weisen – zum religionstheologischen Inhalt »Die Herrlichkeit ohne Ende zu erlangen« – das Buch vom Heiden und den drei Weisen dokumentiert keinen interreligiösen Dialog im heutigen Sinn, sondern es soll eigentlich ein Gespräch von drei Weisen, den Vertretern der drei großen monotheistischen Weltreligionen, Judentum, Christentum und Islam, über die vera religio sein, die zur Herrlichkeit ohne Ende führt. Die drei Weisen treffen sich, um dieses Thema in ruhiger Gesprächsatmosphäre fernab städtischer Betrieb­ samkeit in einem idyllischen Hain zu diskutieren. Dort, an jenem locus amoenus, begegnen sie einer Dame namens Entallegencia, die das personifizierte Verste­ hen15 symbolisiert und ihnen anhand von fünf Bäumen und den Begriffspaaren auf ihren Blüten eine rationale Vorgehensweise für ihr geplantes Unterfangen erläutert. Als sich die Dame verabschiedet hat und sie sich gerade anschicken, ihr Thema in Angriff zu nehmen, wird der eigentliche Zweck ihres Treffens durch­ kreuzt, als ein Fremder durch die Büsche gestolpert kommt und den Schauplatz betritt. Die drei Weisen begrüßen ihn mit »Grüß Gott«,16 woraufhin der physisch und psychisch ziemlich mitgenommene Fremde verwundert reagiert und beken­ nen muss, noch nie etwas von Gott oder einer Auferstehung der Toten gehört zu haben. Er sei aus Angst vor dem Tod in eine tiefe Lebenskrise gestürzt. Die drei Weisen versuchen nun gemeinsam, diesem armen Heiden zu helfen und ihn von der Existenz Gottes und von einem Weiterleben nach dem Tod zu überzeugen. Als dies am Ende von Buch 1 mit vereinten Kräften gelingt, will der Heide voll Freude ihrer Religion beitreten. Betreten müssen die drei Weisen jedoch gestehen, dass sie Anhänger unterschiedlicher Religionen sind. »Wie?« sprach da der Heide, »habt ihr denn nicht alle einen einzigen Glauben, eine einzige Religion, ein einziges Gesetz?« »Nein«, gaben die Weisen zu verstehen, »wir unterscheiden uns im Glauben und stehen unter verschiedenen Gesetzen. Der eine von uns ist Jude, der andere Christ, der dritte Sarazene.« »Und wer von euch hat die bessere Religion, oder sind

15 Vgl. Roger Friedlein: Der Dialog bei Ramon Llull. Literarische Gestaltung als apologestische Strategie. Tübingen 2004 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 318), S. 82: »Intelligencia personifiziert den menschlichen, rationalen Verständnisprozeß, das Verstehen, während der Verstand als der rationale Seelenteil, der in anderen Llullschen Texten auch personifiziert vorkommt, enteniment heißt.« 16 Eigentlich ist der Gruß der Weisen ausführlicher, vgl. LB, S. 18: »Gott, König der Herrlichkeit, Vater und Herr aller Dinge, der die Welt aus dem Nichts erschaffen hat, der Gute und Böse auferwecken wird: Er möge Euch nahe sein und Euch trösten, er möge Euch in Eurer Bedrängnis beistehen!«; LL, S. 12: »que.l Deu de gloria, qui era pare e seynor de tot quant es, e qui avia creat tot lo mon, | e qui resucitará bons e mals, li valgués e.l consolás e li ajudás de sos treballs.«



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alle drei Gesetze gleich wahr?« Alle Weisen antworteten gleichzeitig, jeder widersprach dem anderen, lobte seinen eigenen Glauben und tadelte den der anderen.17

Ihre Uneinigkeit stürzt den Heiden in eine noch tiefere Krise, da nun nicht mehr nur sein jetziges Leben, sondern auch sein ewiges Heil auf dem Spiel steht, falls er sich nicht für die richtige Religion entscheidet.18 Um sich und anderen dieses Schicksal zu ersparen und mehr über den Glauben der Weisen zu erfahren,19 wünscht er sich einen Disput der Weisen in seinem Beisein, »damit er feststellen könne, wer von ihnen sich auf dem Weg des Heils befinde«.20 Hatte man vorher im ersten Buch nicht unterscheiden können, ob gerade der Jude, der Christ oder der Sarazene21 das Wort führt, so sind die Weisen nun zu Konkurrenten geworden. Jeder will den Heiden als Anhänger seiner eigenen Religion gewinnen. Als Werbung stellen sie deren wesentliche Glaubensinhalte vor. Sie einigen sich darauf, auch dies nach der Methode der Dame Entallegencia anhand der Blüten der fünf Bäume zu tun. Diese Methode gilt ihnen als Gütesie­ gel, denn derjenige, dem es gelingt, gemäß seinem Glauben jene Glaubensartikel, an die er glaubt, besser mit den Blüten und den Bedingungen der Bäume in Übereinstimmung zu bringen, wird den Beweis dafür liefern, daß sein Glaube sich als der den anderen gegenüber bessere erweist.22

17 LB, S. 55; LL, S. 44 f.: »Com! – dix lo gentil –. E no sots tots .iii. en .ia. lig, .ia. creenssa? – No – so resposeron los savis –, ans som diverses en creenssa e en lig, cor la .i. de nosaltres es juheu e l’altre crestiá e l’altre saraý. – E qual de vosaltres – dix lo gentil – es en milor lig, ni si cascuna de les ligs es vera? – Cascú dels .iii. savis resposeren e dixeren la .i. contra l’altre, e cascú loá sa creenssa e représ a l’altre so que creia.« 18 Vgl. LB, S. 56: »Denn vorher fürchtete ich nicht, daß ich nach meinem Tod unendliche Leiden zu ertragen hätte, nun aber steht für mich ganz gewiß fest, daß meine Seele, wenn sie sich nicht auf dem Weg des Heils befindet, nach meinem Tod ewigen Strafen ausgesetzt sein wird«; LL, S. 45: »cor yo aprés ma mort no avia temor de sostenir treballs inffinits. Mas ara son segur que, si no son en via vera, que tota pena está | aparellada a turmentar la mia anima aprés ma mort perdurablament!« 19 Vgl. LB, S. 55: »Bitte lehrt mich, wie ich mit Hilfe der göttlichen Gnade und eurer Lehre jene Menschen zum Weg des Heils hinführen kann, die sich auf dem Weg zum ewigen Feuer befinden«; LL, S. 44: »E placia-us enseynar a mi con, per gracia de Deu e per vostra doctrina, yo sapia e pusca endur a via saludable tantes de gents qui son en via de ffoc perdurable.« 20 LB, S. 56; LL, S. 45: »per tal que ell veés quals d’ells era en via de salut.« 21 ›Saraý‹  – ›Sarazene‹ ist die zu Lulls Zeiten übliche Bezeichnung und von Lull nicht despektierlich gebraucht. 22 LB, S. 56 f.; LL, S. 46: »qual que mills pusca, segons sa creensa, concordar los articles en que creu ab les fflors e ab les condicions dels arbres, aquell dará signifficança e demostració que sia en melor creenssa que los altres.«

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Ferner einigen sie sich, nach dem Anciennitätsprinzip vorzugehen und in der Rei­ henfolge der Präsentationen mit dem Judentum zu beginnen. Als weitere Richt­ linie für das Procedere vereinbaren sie schließlich, dass einzig der Heide Zwi­ schenfragen stellen darf,23 denn »das würde es ihm erleichtern, vollkommener der Wahrheit der wahren Religion auf den Grund zu gehen, jener Religion, die er so sehr zu erkennen sich sehne«.24 Während ein Weiser seine Religion vorstellt, haben die beiden anderen also kein Recht zu intervenieren. Jeder Weise beginnt mit einem für seine Religion charakteristischen Gebet und fasst dann repräsen­ tative Glaubensartikel seiner Religion, die er zum Ausgangspunkt seiner Argu­ mentation machen will, in einer Liste zusammen. Der Christ zählt 14 aus dem Credo abgeleitete Artikel auf. Der Jude nennt acht, der Sarazene zwölf Punkte. Die entsprechenden Passagen25 sind im Folgenden zu einem Religions- und Gebets­ vergleich zusammengestellt: Zusammenfassung der Religion des Juden26 Zu Beginn seiner Ausführungen verrichtete der Jude sein Gebet und sprach: »Im Namen des einen, allmächtigen Gottes, auf den wir unsere Hoffnung setzen, er befreie uns aus der Gefangenschaft, in der wir uns befinden.« Nach seinem Gebet zählte der Jude die acht Artikel seines Glaubens auf: (1) An einen Gott allein glauben. (2) Glauben, daß Gott der Schöpfer aller Dinge ist. (3) Glauben, daß Gott Mose das Gesetz gab. (4) Gott wird den Messias schicken, der uns aus der Gefangenschaft befreit. (5) Die Auferstehung. (6) Der Tag des Gerichts, an dem Gott die Guten und die Bösen richten wird. (7) An die himmlische Herrlichkeit glauben. (8) Glauben, daß es eine Hölle gibt.

23 Vgl. LB, S. 57: »Auf Vorschlag des Heiden einigten sich die Weisen darauf, daß keiner dem anderen während seiner Darlegung widersprechen dürfe; denn durch den Widerspruch entsteht in den Herzen der Menschen Unwillen, und dadurch wird die Tätigkeit des Geistes behindert«; LL, S. 47: »e per volentat del gentil ffo ffet ordenament enfre⋅ls .iii. savis que la .i. no contrastás al autre dementre que recomtaria sa raó; cor per contrast es engenrrada mala volentat en humá coratge, e per la mala volentat es torbat l’enteniment a entendre.« 24 LB, S. 57; LL, S. 46: »per tal que mills pogués enquere veritat de la vera lig que tant desirava a entendre«. 25 Aus Gründen des Umfangs sind die Anfangspassagen der Bücher 2, 3 und 4 nur auf Deutsch wiedergegeben. 26 LB, S. 59; LL, S. 47.

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Zusammenfassung der Religion des Christen27 Der Christ kniete nieder, küßte die Erde und wandte seine Gedanken Gott zu, den Blick und die Hände zum Himmel gerichtet. Er machte das Kreuzzeichen und sprach dabei die fol­ genden Worte: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, im Namen des einen Gottes in der Dreifaltigkeit und der Dreifaltigkeit in der Einheit.« Nach seiner Ehrer­ bietung gegenüber der göttlichen Einheit und Dreifaltigkeit bekreuzigte der Christ sich von neuem und sprach zur Ehre der Menschheit Christi die folgenden Worte: »Wir beten Dich an, Christus, und preisen Dich, denn durch Dein Kreuz hast Du die Welt erlöst.« Als der Christ sein Gebet beendet hatte, zählte er die 14 Artikel seines Glaubens auf, sieben davon beträfen die göttliche und sieben die menschliche Natur Jesu Christi. Diejenigen, die von der göttlichen Natur […] handeln, sind die folgenden: (1) Ein Gott. (2) Vater. (3) Sohn. (4) Heiliger Geist. (5) Schöpfer. (6) Neuschöpfer. (7) Verherrlicher. Die sieben Artikel, die das Menschsein Jesu Christi betreffen, sind die folgenden: (8) Jesus Christus, empfangen vom Heiligen Geist. (9) Geboren aus der Jungfrau Maria. (10) Gekreuzigt und gestorben. (11) Hinabgestiegen zur Hölle. (12) Auferstanden. (13) Zum Himmel aufgefahren. (14) Er wird am Tage des Jüngsten Gerichts kommen, um Gute und Böse zu richten. Zusammenfassung der Religion des Sarazenen28 Als der Sarazene sah, daß für ihn die Zeit gekommen war, nun seinerseits das Wort zu ergreifen, ging er zu der Quelle und wusch sich die Hände, das Gesicht, die Ohren, die Nase und den Mund. Danach wusch er sich die Füße und einige andere Körperteile, um auf die Erbsünde hinzuweisen und auf die Reinheit seines Herzens. Daraufhin verneigte er sich bis zur Erde und kniete dreimal nieder; dabei berührte sein Haupt die Erde, und er küßte sie. Sein Herz, seine Hände und seine Augen zum Himmel gerichtet, sprach er folgende Worte: »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Barmherzigkeit Stiftenden, der zu preisen ist, da er Herr der Welt ist: Ihn bete ich an, auf ihn vertraue ich, denn er führt uns auf dem Weg der Wahrheit und des Heils.« Viele andere Worte sprach der Sarazene noch, so wie er dies in seinen Gebeten zu tun pflegte.

27 LB, S. 111 f.; LL, S. 88 f. 28 LB, S. 195 f.; LL, S. 159 f.

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Nach seinem Gebet zählte der Sarazene die 12 Artikel seines Glaubens auf: (1) An einen Gott glauben. (2) Der Schöpfer. (3) Mohammed ist der Prophet. (4) Der Koran ist das von Gott gegebene Gesetz. (5) Der verstorbene Mensch wird nach der Beerdigung von einem Engel gefragt, ob Moham­ med der Prophet Gottes sei. (6) Alle Dinge sterben außer Gott. (7) Auferstehung. (8) Mohammed wird am Tage des Gerichts angehört. (9) Wir werden Gott am Tage des Gerichts Rechenschaft ablegen. (10) Die guten und die schlechten Werke werden gegeneinander aufgewogen. (11) Alles wird diesen Weg gehen müssen. (12) An Paradies und Hölle glauben.

Die Gebete enthalten Wendungen, welche die Vertreter dieser Religionen wirklich hätten sprechen können. Die Glaubenslisten enthalten Theologumena, die auch wirklich so in diesen Religionen vorkommen. Nicht erst heute ist bekannt, zu welch einer immensen Mobilisierungskraft die bewusste oder unbewusste Verletzung reli­ giöser Gefühle fähig ist. Lull macht sich in der Präsentation der Religionen keines Angriffes auf die Integrität der religiösen Identität seines Gegenübers schuldig. Analysiert man jedoch das Verhalten, welches der Heide gegenüber den Aus­ führungen der einzelnen Weisen an den Tag legt, gipfelt dieses in der Opposition gegenüber dem Sarazenen. Nicht umsonst enthält das vierte Buch die meisten Zwischenfragen des Heiden – zum Teil bereits, wie man sagen könnte, »aus einer implizit christlichen Perspektive gegen den Muslim«.29 Zumindest in Buch 4 ist der Heide als eine Art ›anonymer Christ‹ stilisiert. Wenn die Entscheidung des Heiden am Ende dennoch der Imagination des Lesers anheimgestellt bleibt, ist dies, wie Lull im Epilog zugibt, ein didaktischer Schachzug und eine in der Anlage des gesamten Werkes bewusst vorbereitete Strategie. Lull schreibt dort: Dieses Buch stellt eine Lehre und eine Methode vor, getrübte Geister zu erhellen und schla­ fende Große aufzuwecken, sowie Fremde und Freunde im gegenseitigen Kennenlernen mit­ einander zu verbinden, wenn sie die Frage diskutieren, für welche Religion der Heide sich wohl entschieden haben mag, um Gottes Wohlgefallen zu finden.30

29 Friedlein (Anm. 15), S. 85: »Der Heide befleißigt sich also bereits einer tendenziell christlichen Sichtweise, bevor er das Christentum überhaupt kennenlernt. Darauf begibt er sich in eine betont lernbegierige und unkritische Schülerrolle gegenüber dem Christen und schließlich argumentiert er aus einer implizit christlichen Perspektive gegen den Muslim.« 30 LB, S. 249; LL, S. 209 f.: »lo qual libre es raó e manera a inluminar torbat enteniment, e a despertar los grans qui dormen, e a entrar en paria e en conexenssa de estranys e privats,



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So hat auch Theodor Pindls Aussage ihre Berechtigung: »Der Liber gentilis ist kein apologetisches Werk im klassischen Sinn, weil der Wahrheitsanspruch einer Reli­ gion nicht expressis verbis behauptet wird.«31 Fiktionsintern ist der offene Schluss damit begründet, dass die Weisen ihr eigentliches Vorhaben, die Suche nach der wahren Religion, fortsetzen wollen, und so jeder denken könne, der Heide habe seine Religion gewählt. Dadurch, dass der Handlungsrahmen des Dialogs für alle Weisen die gleichen Disputationsbedingungen etabliert, dadurch, dass der Ton freundlichen Miteinanders und gegenseitiger Rücksichtnahme unter ihnen dominiert,32 und dadurch, dass die Entscheidung des Heiden nicht berichtet wird, entsteht der Eindruck eines unvoreingenommenen Religionsvergleichs.33 Dieser Eindruck verstärkt sich noch durch die ostentative dialoginterne Gleichbehandlung der Religionen, selbst wenn gilt: »Die Gleichbehandlung wird niemals programmatisch genannt, sondern implizit durch die parallelen Strukturen transportiert.«34 So erzielt Lull die größtmögliche Objektivität in der Darstellung und kann gleichzeitig seine eindeutige Stellungnahme für und vollständige Über­ zeugtheit vom Christentum zum Ausdruck bringen.35

demanant qual lig lur es semblant que.l gentil aja triada per eser agradable a Deu.« Dazu bemerkt Eusebi Colomer i Pous: El pensament als països catalans durant l’Edat Mitjana i el Renaixement. Barcelona 1997, S. 148: »sota l’aparença d’un diàleg complaent i elegant duu a terme una apologia subtil de la seva tesi. Si refusa expressament de treure la conclusió, és perquè confia que el lector la traurà per ell mateix«. 31 Pindl (Anm. 13), S. 299. Dominique de Courcelles: La parole risquée de Raymond Lulle. Entre le judaïsme, le christianisme et l’islam. Paris 1993, S. 137, pflichtet ihm hierin bei: »Ainsi la rencontre de Dame Intelligence par les trois sages juif, chrétien et musulman […] suscite l’espace de la rencontre, du dialogue avec les autres, de l’advenue à l’existence et au bonheur, selon des perspectives à la fois diverses et complémentaires, dans tous les cas familières aux trois communautés religieuses de la péninsule ibérique.« 32 Vgl. Anthony Bonner: L’apologètica de Ramon Martí i Ramon Llull davant de l’Islam i del judaisme. In: El debat intercultural als segles XIII i XIV. Actes de les Primeres Jornades de Filosofia Catalana. Girona 25–27 d’abril del 1988. Hg. von Marcel Salleras. Girona 1989 (Estudi General 9), S. 171–185, hier S. 182, sowie Sarah Stroumsa: Ibn al-Rāwandī’s sū’ adab al-mujādala. The Role of Bad Manners in Medieval Disputations. In: The Majlis. Interreligious Encounters in Medieval Islam. Hg. von Hava Lazarus-Yafeh u. a. Wiesbaden 1999 (Studies in Arabic Language and Literature 4), S. 66–83. 33 Siehe dazu auch Friedlein (Anm. 15), S. 88 f. 34 Ebd., S. 90. 35 Vgl. Walter A. Artus: Judaísmo e Islamismo en la autobiografía y en algunos escritos de Raimundo Lulio. In: Mediaevalia. Textos e Estúdios 5–6 (1994), S. 191–203, hier S. 203: »Raimundo hizo todo lo necesario para presentar esas enseñanzas y defensa[s] con gran respeto, objetividad e imparcialidad, tanto como se lo permitían sus firmes convicciones de la superioridad y verdad más completa de la religión católica«.

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Will man das Buch vom Heiden charakterisieren, ist die vielleicht beste Einordnung diejenige als ›vergleichende Religionsgeschichte‹36 mit christli­ cher Präponderanz. Es beginnt als Gespräch über die vera religio, geht über in ein Religionsgespräch  – zunächst über Religion im Singular, das dem Heiden die ›Gretchenfrage‹ vorlegt, wie er es mit der Religion denn halte, und ihm den Glauben an Gott erläutert; es mündet schließlich in ein Gespräch über Religio­ nen, das durch deren Vergleich die Frage beantworten soll, welche von ihnen den Weg zum Heil erschließe. Jedenfalls ist das Buch vom Heiden kein interreligiöser Dialog im heutigen Sinne.

3 Lulls Beitrag zum Toleranzdenken – ein Vergleich mit der Ringparabel Es geht weder um Ringe noch um Perlen, noch vererbt ein Vater seinen Söhnen etwas. Die Frage ist also berechtigt: Worin besteht der Zusammenhang mit dem Titel des vorliegenden Bandes ›Die drei Ringe‹ – Entstehung, Wandel und Wirkung der Parabel in der europäischen Literatur und Kultur? Lulls Vision, sein Ziel ist ein im besten Sinn des Wortes globales. Im Buch vom Heiden und den drei Weisen lässt er es geschickt einen der Weisen gleich zu Beginn folgendermaßen formu­ lieren  – es bleibt übrigens offen, welcher Religion dieser angehört: »Ach Gott! Welch ein hohes Gut wäre es doch, wenn wir uns – alle Menschen dieser Welt – mithilfe der Wissenschaft dieser Bäume in einem einzigen Gesetz und einem einzigen Glauben zusammenfinden könnten!«37 Ein Glaube und ein (Religions-) Gesetz weltweit, nicht verschiedene, gegeneinander stehende, in Konkurrenz zueinander tretende Religionen, lautet die globale Vision Lulls. »Denn« – so die Begründung der Weisen  – »genauso wie wir einen Gott, einen Schöpfer, einen Herrn haben, sollten wir auch einen Glauben, eine Religion, eine Lehre haben und nur auf eine Art und Weise Gott lieben und ehren.«38 Mit dieser einen, globa­ len Weltreligion wären auch handfeste Vorteile verbunden: »Denn diese Unter­ schiede und Gegensätze sind es ja gerade, derentwegen wir uns feindlich gegen­

36 Vgl. Sebastián Garcías Palou: Ramon Llull y el islam. Palma de Mallorca 1981, S. 242: »una historia comparada de las religiones«. 37 LB, S. 16; LL, S. 12: »Cogitats, seynors – dix lo savi a sos compayons –, quants son los dans qui.s seguexen com los homens no an una secta tan solament, ni quants son los bens qui sserien si tuyt aviem .ia. ffe, .ia. lig.« 38 LB, S. 246; LL, S. 207: »con avem .i. Deu, .i. creador, .i. senyor, aguessem .ia. fe, .ia. lig, .ia. secta, .ia. manera en amar e honrar Deu«.



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überstehen, uns bekriegen, uns gegenseitig töten und derentwegen wir uns in gegenseitiger Gefangenschaft befinden.«39 Kurz, kein Weltfriede ohne Religions­ friede.40 Die Unterschiede sind keine unüberbrückbaren, und die Methode, die Brücken zu bauen und dieses Ziel zu erreichen, ist die tägliche Diskussion nach der Methode der Dame Intelligenz, also regelmäßiger, vernunftbasierter Dialog. Deshalb schlägt am Ende des Werkes einer der Weisen vor: Wie wäre es, wenn wir uns einmal am Tag treffen und nach der Methode der fünf Bäume und der zehn durch ihre Blüten dargestellten Bedingungen diskutieren in der Art, wie sie uns die Dame Intelligenz gelehrt hat? Und wenn sich unsere Diskussion so lange fortsetzte, bis wir alle drei uns zu einem einzigen Glauben und einer einzigen Religion bekennen und bis wir einen Weg finden, wie wir einander am besten ehren und dienen können, so daß wir zur Eintracht gelangen? Denn Krieg, Wirrsal, Mißgunst, Unrecht und Schande hindern die Menschen daran, sich auf einen Glauben zu einigen.41

Lulls Vision kennt keine Konkurrenz verschiedener Weltanschauungen und Religionen, keine Kriege, kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander in der gemeinsamen Gottesverehrung. Für ihn ist dies nicht utopisch, sondern in hohem Grade handlungsleitend und bestimmend für sein eigenes Leben. Die eine Religion, nach der die Weisen suchen, sie heißt in die Sprache der Ringparabel übersetzt: der eine echte Ring, der »vor Gott und Menschen ange­ nehm« macht. Lull ist überzeugt: Es gibt ihn, und nicht nur das, jeder kann ihn erhalten durch vernunftgeleitetes Verstehen. Für Lull ist die vera religio nicht – wie später in der Aufklärung – eine neutrale Vernunftreligion. Das macht gerade den Charme, aber zugegebenermaßen auch die Schwierigkeit des lullschen Ansatzes im Dialog mit anderen Religionen und Kulturen aus. Trotz des offenen Schlusses im Buch vom Heiden ist Lull überzeugt, dass die vera religio, die zu suchen die Weisen sich anschicken, sehr viel mit dem Christentum zu tun hat, ja dass sie damit in eins zu setzen ist  – abgesehen von ein paar Verbesserun­ gen in der Umsetzung der christlichen Religion (deshalb macht er z. B. im Roman

39 LB, S. 247; LL, S. 207: »per la qual differencia e contrarietat son los uns enemics dels altres, e garrejam e auciem los uns los altres, e som los uns catius dels altres.« 40 Um hier die Kurzformel des Weltethosprojekts von Hans Küng zu zitieren. 41 LB, S. 248 f.; LL, S. 209: »Parria us bo que per la manera dels .v. arbres | e per les .x. condicions signifficades per lurs fflors, cascun jorn .ia. vegada lo dia nos esputasem, e que seguissem la manera que la dona de Entalligencia nos a donada; e que tant de temps durás nostra esputació tro que tos .iii. aguessem .ia. ffe, .ia. lig tan solament, e que enffre nos aguessem manera de honrar e servir la .i. a l’autre, per so que enans nos puscam concordar? Cor guerra, treball, malevolessa, e donar dan, e honta enpatxa los homens a eser concordants en .ia. creenssa.«

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Blanquerna42 Vorschläge zur Reform von Papsttum und Kurie oder im Buch von den fünf Weisen43 zur Einigung der christlichen Konfessionen untereinander). In den Augen Lulls kommt das Christentum der wahren Religion deshalb am nächsten, weil es die plausibelsten Antworten zu geben vermag. – Um also nochmals Lull in der Sprache der Ringparabel zu übersetzen: Es gibt unter den dreien einen ›echte­ ren‹ Ring, nämlich das mit Vernunftüberlegungen kongruente Christentum. Für Lull ist auch die Wahrheitsfrage nicht unentscheidbar. Das scheint ja für Nathan so zu sein, denn seine Übertragung der Ringparabel auf die Frage nach der wahren Religion endet in Aporie: […] Umsonst; der rechte Ring war nicht Erweislich; – […] Fast so unerweislich, als Uns itzt – der rechte Glaube.44

Nathan besteht Saladin gegenüber darauf, dass die Wahrheit der Religionen nicht überprüfbar sei: Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe, Mir nicht getrau zu unterscheiden, die Der Vater in der Absicht machen ließ, Damit sie nicht zu unterscheiden wären.45

Der Schöpfer der Religionen hat also den Menschen die Möglichkeit, die Wahr­ heitsfrage zu entscheiden, bewusst vorenthalten. Für Lull stellt sich dies anders dar. Für ihn können die menschlichen Vernunft- und Verstandeskräfte eine Wächter- und Richterfunktion im Selbstbehauptungswettstreit der religiösen Überzeugungen ausüben bzw.  – wieder mit der Ringparabel gesprochen  – die Position des Richters über die drei Ringe einnehmen. Der Richter über die konfligierenden Wahrheitsansprüche der drei monotheistischen Welt­ religionen muß von ihnen unabhängig und neutral sein und zudem eine solche Autorität besitzen, dass er von allen drei Religionen anerkannt werden kann. Diese für die Entschei­ dungsinstanz zwischen den Wahrheitsansprüchen der drei monotheistischen Weltreligio­

42 Ramon Llull: Romanç d’Evast e Blaquerna. Edició crítica. Hg. von Albert Soler und Joan Santanach. Palma de Mallorca 2009 (Nova Edició de les Obres de Ramon Llull 8). 43 Ramon Llull: La disputació de cinc savis. Estudi i edició del text català. Hg. von Josep Perarnau i Espelt. In: Arxiu de Textos Catalans Antics 5 (1986), S. 7–229. 44 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 9: Werke 1778–1780. Hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt am Main 1993, S. 483–627, hier S. 557 (III 7, 446 ff.). 45 Ebd. (III 7, 449–453).



Ramon Lull – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen 

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nen gesuchten Eigenschaften der Unabhängigkeit bzw. Neutralität sowie der Allgemeingül­ tigkeit besitzt aber nur das Erkenntnisvermögen des allgemeinen menschlichen Verstandes sowie der allgemeinen menschlichen Vernunft, über welche Menschen natürlicherweise und damit gleichermaßen verfügen, sofern sie von menschlicher Sprache Gebrauch machen. Was diese allgemein menschlichen Erkenntnisvermögen […] als wahr anerkennen, muß daher für alle ihres Verstandes- und Vernunftgebrauchs fähigen menschlichen Wesen gültig und verbindlich sein. Nur das Verstandes- und Vernunfturteil und die sie bestim­ menden Gründe sind daher der einzig geeignete Richter im Streit der Weltreligionen um die Wahrheit ihrer jeweiligen Glaubensauffassungen.46

Dies ist Lulls feste Überzeugung. Sie mündet jedoch nicht in religiöse Militanz, gerade weil Lull als Entscheidungsinstanz zwischen den inhaltlich konkurrie­ renden Wahrheitsansprüchen der drei monotheistischen Weltreligionen – um es einmal salopp zu sagen – auf den ›gesunden Menschenverstand‹ baut. Das zeigt sich, zusammengefasst, an drei Punkten: Er stützt sich auf den ›gesunden Menschenverstand‹ und zitiert so gut wie nie, weder im Buch vom Heiden noch in seinen anderen Werken. Er verzichtet auf Autoritätsbeweise, denn Autoritäten, selbst die Heilige Schrift, sind verschie­ den interpretierbar und fehlbar (dies gilt schon im innerchristlichen Disput47). Sie bilden erst recht keine verlässliche gemeinsame Basis im Religionsgespräch. »Infideles non stant ad auctoritates fidelium«48 – Nichtchristen ›stehen‹ nicht auf die Autoritäten der Christen; doch sie orientieren sich trotzdem an vernünftigen Argumenten. Lull formuliert allgemeinverständlich in dem Sinn, dass möglichst keine kultur- oder glaubensspezifischen Voraussetzungen notwendig sind, um seine Argumentation zu verstehen. Das beste Beispiel dafür ist der Heide im Buch vom Heiden. Das bedeutet nicht, dass Lulls Argumente banal oder intellektuell unzureichend wären, im Gegenteil: Lulls Ansprechpartner sind die jeweiligen

46 Markus Enders: Die Bedeutung der christlichen Philosophie der monotheistischen Weltreligionen im frühen Mittelalter für das interreligiöse Gespräch der Gegenwart. In: Archa Verbi 7 (2010), S. 143–165, hier S. 145 f. 47 Raimundus Lullus: Disputatio Raimundi et Averroistae. In: Raimundi Lulli Opera Latina (ROL). Bd. 7: Parisiis anno MCCCXI composita. Hg. von Hermogenes Harada. Turnhout 1975 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 32), S. 1–17, hier S. 9 f.: »Et etiam convenerunt inter se, quod disputarent per modum intelligendi, non per auctoritates, quoniam intelligere est actus primitivus, verus et necessarius ipsius intellectus, et infallibilis, dum est practicus. Per auctoritates autem intellectus quandoque vadit per credere, quandoque per intelligere, quia sensus auctoritatum patitur mutationem et opiniones.« 48 Raimundus Lullus: Liber de demonstratione per aequiparantiam. In: Raimundi Lulli Opera Latina (ROL). Bd. 9: In Monte Pessulano anno MCCCV composita. Hg. von Alois Madre. Turnhout 1981 (Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis 35), S. 201–231, hier S. 221: »Infideles non stant ad auctoritates fidelium, et tamen stant ad rationes.«

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Intellektuellen, die ihm als Multiplikatoren dienen, um seine Ideen zu verbreiten. Der erste wichtige Punkt ist also Vernunftbasiertheit. Lull setzt auf den ›gesunden Menschenverstand‹, und damit er dies auch in Glaubensfragen tun kann, ist ein zweiter Punkt notwendig, nämlich die Überzeu­ gung: Glaube und Vernunft widersprechen sich nicht; sie dienen vielmehr dersel­ ben Aufgabe. Für Lull ist der Glaube kein blinder Gehorsam oder ein unreflek­ tiertes Fürwahrhalten, sondern das gottgegebene Instrument des Verstehens.49 Er ermöglicht es dem Verstand, all das als gegeben vorauszusetzen, was dieser durch Erkenntnis noch nicht erreicht hat. Mit dem Glauben erkennen wir bereits intuitiv (»non sicut comprehendens, sed sicut apprehendens«), was wir mit dem Verstand noch genauer einsehen wollen. Lull lässt genauso wenig eine Restrik­ tion der Vernunft zu, wie er es zur Konfrontation von Glaube und Vernunft oder zur Aufhebung des Glaubens kommen lässt. Glaube und Vernunft stehen in einem zirkulären Verhältnis: Die Vernunft stützt sich auf den Glauben, der Glaube auf die Vernunft. Es handelt sich um zwei Momente in einem einzigen Prozess der Erschließung. Seine missionarische Erfahrung und der ›gesunde Menschenver­ stand‹ lehren Lull: »[infideles] nolunt dimittere credere pro credere sed credere pro intelligere«.50 Ein dritter Punkt bezieht sich auf die Relation dem anderen, Fremden gegen­ über. Sie wird von Lull pointiert so formuliert: »Infideles sunt homines sicut et nos.«51 – Ungläubige sind Menschen wie wir! Damit trägt er der Erkenntnis Rech­ nung: Der andere ist nicht nur anders, sondern auch gleich; bei genauerem Hinse­ hen ergeben sich nämlich erhebliche Übereinstimmungen. Die Suche der anderen dient ebenfalls dem gemeinsamen übergeordneten Ziel, Gott zu lieben, zu loben und zu ehren. Es ist nicht von vornherein schlecht, was andere tun, denken oder glauben, nur weil sie es anders tun, denken oder glauben. Der Glaube der soge­

49 Ebd.: »Si credimus, hoc quod credimus, mediante fide intelligere possumus«. Als Instru­ment des Verstehens wird der Glaube auch im Liber de ascensu et descensu intellectus, dist. IX,1 (ROL 9 [Anm. 48], S. 1–199, hier S. 139), und im Liber de convenientia fidei et intellectus in obiecto II (Raymundi Lulli Opera [MOG]. Bd. 4. Hg. von Franz Philipp Wolff und Johann Melchior Kurhummel. Mainz 1737, S. 571–575, hier S. 572) bezeichnet: »Nulla inferior potentia potest ascendere ad suum obiectum per se tantum; sed humanus intellectus est inferior potentia; ergo […] patet, quia fides est instrumentum, cum quo intellectus ascendit supra suas vires«. Vgl. außerdem Eusebi Colomer i Pous: El problema de la relació fe-raó en Ramon Llull. Proposta de solució. In: Actes del Simposi Internacional de Filosofia de l’Edat Mitjana. Vic-Girona, 11–16 d’abril del 1993. Vic 1996 (Actes 1), S. 11–20, hier S. 20. 50 Lullus: Liber de convenientia fidei (Anm. 49), S. 572 (p. 1, n. 3). 51 Raymundus Lullus: Lectura super Artem inventivam et Tabulam generalem. In: Raymundi Lulli Opera (MOG). Bd. 5. Hg. von Franz Philipp Wolff und Johann Melchior Kurhummel. Mainz 1729, S. 359–716, hier S. 360: »Ipsi infideles sunt homines, sicut et nos, et sunt de nostra natura«.



Ramon Lull – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen 

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nannten Ungläubigen ist z. B. auch Glaube. Doch jeden Glauben charakterisiert, dass er nicht zweifelt. Er kann deshalb auf Wahres oder Irriges gerichtet sein;52 dagegen erkennt die Vernunft zwar nur diskursiv, aber sie überprüft ihre Annah­ men kritisch.53 Mit interreligiöser Sensibilität geht Lull nicht davon aus, dass das, was in anderen Religionen geschieht, Abgötterei oder bloßer Götzendienst sei; er bezeichnet auch dies als Glaube, jedoch als Glaube, der sich im Irrtum befindet und den man durch sachdienliche Erklärungen aus seinem Irrtum befreien muss. Inwiefern trägt all dies zu Toleranz bei? Das Lexikon für Theologie und Kirche definiert Toleranz als die tatsächliche Praxis oder die normative Verpflichtung, Verschiedenartiges hinzuneh­ men bzw. andere in ihrer Andersartigkeit gelten zu lassen. Intentional kann Toleranz bloße Reaktion auf unveränderbare Rahmenbedingungen (Toleranz als Hinnehmen oder Zulas­ sen), Element eines strategischen Kalküls (Toleranz als vorübergehendes oder auf Gegen­ leistungen beruhendes Zugeständnis der Klugheit), Ergebnis von Gleichgültigkeit (Toleranz als Desinteresse) oder Ausdruck von Achtung (Toleranz als aktives Anerkennen) sein.54

Diese Definition stützt sich ausdrücklich auf die Grundbedeutung von tolerare als ›ertragen‹. Im Sinne der Definition des Lexikons für Theologie und Kirche wäre Lull nur bedingt tolerant. Weder beschränkt er sich auf ein rein gleichgültiges oder strategisches ›Sein-Lassen‹, noch ringt er sich zu einem positiven Bejahen oder aktiven Anerkennen der Andersheit des religiös Anderen durch. Angesichts der Wahrheitsfrage ist ihm dies nicht möglich. Theologiegeschichtlich gesehen, fehlte Lull eine theologisch reflektierte Offenheit in der Soteriologie.55 Zu seiner Zeit endete jede Aufgeschlossenheit in der fraglosen Gewissheit der ewigen Ver­ dammnis aller Nichtgetauften. Das gilt übrigens in allen drei Religionen: Für ihre

52 Vgl. Ramon Lull: Libre de contemplació en Déu, c. 154, 7. In: Obres de Ramon Lull (ORL). Bd. 4/3. Hg. von Mateu Obrador y Bennassar, Miquel Ferrà und Salvador Galmés. Palma de Mallorca 1910, S. 324: »Fe és cosa qui pot ésser en veritat o falsetat […]; e raó, Senyer, null temps no està si no en veritat«. 53 Vgl. ebd., S. 323 f. (Nr. 4 und 7). 54 Konrad Hilpert: Art. »Toleranz«. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 10. 3. Aufl. Freiburg im Breisgau. u. a. 2006, Sp. 95–101, hier Sp. 95. 55 LB, S. 54: »Während der Heide auf diese Weise den Herrn, unseren Gott, anbetete, begann er sich an sein Land zu erinnern, an seinen Vater und seine Mutter, und er erinnerte sich an den Unglauben, in dem sie von dieser Welt geschieden waren. Er vergegenwärtigte sich die zahlreichen Völker dieser Erde, die sich auf dem Weg zum ewigen Feuer befinden, ohne davon zu wissen, wohin sie aufgrund des Mangels an Gnade gelangen«; LL, S. 44: »Dementre que lo gentil adorava en esta manera nostre senyer Deus, a sa anima vench remem|brament de sa terra e de son pare e de sa mare, e de la error e de la inffidelitat en la qual eren morts; e membrá con tantes de gents qui eren en aquella terra e eren en via de ffoc perdurable, la qual via innoraven, e en la qual eren per deffaliment de gracia.«

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Vertreter war schlechterdings undenkbar, dass Nichtchristen, Nichtmuslime oder Nichtjuden das Heil erlangen könnten. Lulls reaktive Toleranz auf die unveränderbaren Rahmenbedingungen seiner Zeit wird jedoch zur aktiven Toleranz, da sie sich auf die Menschenwürde seines Gegenübers, auf dessen irdisches Wohlergehen und ewiges Seelenheil richtet. Insofern steht seine Toleranz in eklatantem Unterschied zur aufklärerischen Toleranz des ›Freigeists‹ gegenüber jeder Religion, der religiösem Irrtum wie religiöser Beliebigkeit gegenüber gleichermaßen indifferent ›tolerant‹ ist und schlechterdings darauf verzichtet, sich inhaltlich mit dem Tolerierten auseinan­ derzusetzen. Im Gegensatz zu religiöser Militanz ist die religiöse Toleranz Lulls ein positives Denkbild. Sie ist im Schmerz der Getrenntheit – als wechselseitiges Verstehen – eine Rückwendung in die eigene Religion, getragen von der escha­ tologischen Hoffnung einer Versöhnung der Religionen in der einen, besten Religion. Hier schließlich könnten sich Lulls religiöse Toleranz, die auf vernunft­ basierte Bekehrung setzt, und die aus einem tiefen Glaubensschmerz des Juden Nathan erwachsene religiöse Toleranz, welche die Trennung zu erdulden weiß, in eschatologischer Hoffnung treffen.

Wolf-Dieter Stempel

Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version

(Étienne de Bourbon, Li dis dou vrai aniel, Gesta Romanorum, Il Novellino, Bosone da Gubbio) Die Aufgabe, die sich mit dem Titel dieses Beitrags verbindet, kann als misslich empfunden werden, liegt doch in dem Buch von Mario Penna über die Ringpara­ bel und die Toleranz im Mittelalter (1953)1 eine bei ihrem Erscheinen sehr positiv aufgenommene2 und in manchem durchaus auch heute noch brauchbare Dar­ stellung der Vorgeschichte dieser parabola vor, die bis zur Decameron-Novelle (I 3) geführt wird, dem Zielpunkt also einer wie immer gedachten Entwicklung der mittelalterlichen Vorformen. Wenn ich mich hier trotzdem auf die im Titel genannten Referenztexte einlasse, dann in der Absicht, durch eine nähere Cha­ rakteristik der durch sie repräsentierten Versionen zur weiterführenden Diskus­ sion des Rahmenthemas beizutragen. Es wird sich dabei zeigen (aber ich werde dies nur andeuten können), dass hier eine auf die Dialektik von Toleranz und Intoleranz perspektivierte Sicht nicht wirklich greift, was natürlich die Frage auf­ wirft, welche andere Zielorientierung der jeweiligen Version zuzuschreiben wäre.

I Auf verhältnismäßig sicherem Grund befinden wir uns, wenn wir uns zunächst den relativ frühen Darstellungen von Étienne de Bourbon und des Dis dou vrai aniel (›Erzählung vom echten Ring‹) zuwenden, von denen die erste um ca. 1250 entstanden ist, während die zweite zwischen 1270 und 1285 anzusetzen ist. Was zunächst den ersten Text angeht,3 so lässt sein engagierter dominikanischer Ver­ fasser, der 1226 in Vézelay gegen die Albigenser gepredigt hatte und sich später als einer der ersten (ausschließlich innerkirchlich beschäftigten) Inquisitoren die Waldenser vornahm, keinen Zweifel, worum es ihm geht, nämlich um ein »exem­

1 Mario Penna: La parabola dei tre anelli e la tolleranza nel medio evo. Turin 1953. 2 Vgl. die Rezension von Salvatore Battaglia in: Filologia romanza 2 (1955), S. 106–112. 3 Vgl. Étienne de Bourbon: Anecdotes historiques, légendes et apologues. Tirés du recueil inédit d’É. de Bourbon, dominicain du XIIIe siècle. Hg. von A. Lecoy de la Marche. Paris 1877, S. 281 f. (Nr. 331). Zitiert wird nach dieser Ausgabe mit Zeilenangaben im laufenden Text.

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plum ad fidei vere probacionem« (Z. 1 f.), ein ›Exemplum zum Erweis des wahren Glaubens‹. Dieser Erweis wird am Ende des Exemplums durch keine Deutung oder moralisatio explizit gemacht, wie wir sie z. B. in den Gesta Romanorum zumeist antreffen, es wird also außer der Ankündigung zu Beginn kein expliziter Bezug zu etwa infrage stehenden Religionen hergestellt. Aber es ist von Anfang an klar, dass die »fides vera« ohne echte Konkurrenz ist. So werden der einzigen »filia legitima« des reichen Vaters die aus ehebrecherischen Beziehungen der Gattin stammenden »zahlreichen anderen« Töchter gegenübergestellt, die gleichwohl als eheliche angesehen werden (Z. 7 f.). Aber als unerwünschte Erbinnen werden sie (erb-)rechtlich disqualifiziert und dann auch moralisch disqualifiziert, inso­ fern sie sich auf die Nachricht, dass die legitime Erbin vom Vater den begehrten Ring erhalten hatte, flugs in betrügerischer Absicht »consimiles annulos« (Z. 15) anfertigen ließen. Diese aber versagen bei dem von einem Richter angeordneten Test der wunderwirksamen, Kranke heilenden »virtus«, die allein der echte Ring besitzt, sodass am Ende durch richterlichen Entscheid die »filia legitima« als die wahre Erbin anerkannt und die Ansprüche der illegitimen Töchter abgewiesen werden. Étiennes Exemplum stammt aus seinem späten Tractatus de diversis materiis praedicabilibus, einem Predigthandbuch. Es ist nicht viel mehr als eine Art ›ProtoText‹ oder ›abstract‹ oder auch Versatzstück zur Verarbeitung für die Kanzel. Da mag es keine Rolle spielen, dass z. B., da die virtus des Rings auf einem einge­ lagerten wertvollen Stein beruhte, die betrügerischen Töchter hierfür eigentlich ebenfalls für Imitate hätten sorgen müssen, wie das in einer anderen Version berichtet wird.4 Ganz anders verhält es sich nun in dieser Hinsicht mit dem Dis dou vrai aniel, der einen eigenständigen, in sich geschlossenen Text darstellt.5 Der Verfasser ist unbekannt, sein Alter Ego ist im Text dafür umso reger, um nicht zu sagen: enga­ gierter. Nach einem Prolog, in dem er, dem Zeitgeschmack und der Gattungsform entsprechend, den rechten Gebrauch der »raison« und moralisch einwandfreies Tun anmahnt, leitet er zur Vaterfigur der Parabel als in diesem Sinne vorbild­ lichem Vertreter über, der, ein unvergleichlicher »preudom«, nicht nur einen wundertätigen Ring besitzt, der sogar Tote aufzuerwecken vermag, sondern

4 Gesta Romanorum 210, app. 14 (vgl. hier Anm. 8), S. 619, Z. 3. 5 Li dis dou vrai aniel. Die Parabel von dem ächten Ringe. Französische Dichtung des dreizehnten Jahrhunderts, aus einer Pariser Handschrift. Hg. von Adolf Tobler. 3. Aufl. Leipzig 1912 (dt. Übersetzung von Gustav Gröber: Vom echten Ringe. In: Festschrift Adolf Tobler zum siebzigsten Geburtstage. Hg. von der Berliner Gesellschaft für das Studium der Neueren Sprachen. Braunschweig 1905, S. 1–11). Zitate im Folgenden nach der Leipziger Ausgabe mit Versangaben im laufenden Text.



Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version 

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diesen gern auch verleiht, ohne etwas dafür zu verlangen (V. 45 ff.). Es folgt nun die Drei-Ringe-Geschichte, die mit den üblichen literarischen Figurationen wie detaillierende Abschilderung, direkte Rede der Protagonisten u. Ä. ausgestattet ist und gleich zu Beginn mit der im Prinzip gleichen Konstellation arbeitet, die für Étiennes Exemplum galt: Die Erben, hier nun also die drei Söhne, werden nach ihrem moralischen Profil auseinanderdividiert, wobei die zwei ältesten wechsel­ weise mit kräftigen Ausdrücken als notorische Übeltäter, Wüstlinge, Ungläubige (mescreans, V. 68), die »von Gott und der Welt gehasst werden« (V. 69), sogleich ins Abseits gestellt werden, während der jüngste im Gegenzug als tugendhaftes Vorbild aufgebaut wird. Dieser »verhielt sich stets wie ein Heiliger«, wird von ihm gesagt (V. 82), weswegen er ebenso »vom ganzen Land geliebt« wie von seinen älteren Brüdern wegen seiner Bevorzugung durch den Vater auf den Tod gehasst wurde (V. 83 f.). Neu ist nun, dass die Anfertigung der falschen Ringe nicht durch die aus­ geschlossenen Erben erfolgt, sondern vom Vater in Auftrag gegeben wird, der den beiden Ältesten in Einzelgesprächen die Imitate jeweils mit der Versiche­ rung übergibt, dass es sich um den echten Ring handle, den sie nach seinem Tod als vom Vater erhaltenes Erbstück vorweisen sollten (V. 108–121; 125–131) – ein, könnte man meinen, etwas heikles, weil betrügerisches Unterfangen, das der Vater gleichwohl gegenüber dem begünstigten Jüngsten mit dem pauschalen Hinweis zu rechtfertigen sucht, dass der Mensch für Übles gerechterweise büßen muss (V. 136 f.) und dass im Übrigen, wer meint, eine volle Scheuer zu haben, dort nicht einmal einen Strohhalm hat (V. 138 f.; er hatte den beiden vorher ein­ geschärft, den Ring als »riche cose« jeweils gut zu verwahren).6 Später (V. 147) schiebt er im Gespräch mit dem Jüngsten noch einmal nach, was wir bereits aus dem Erzählbericht wissen: Die beiden älteren Brüder gälten als »ungläubig« (mescreant) und als »Schurken« (felon) und seien »weniger wert als Ganelon« (V. 146 ff.). Der Vater instruiert sodann den Jüngsten (den »Gott mit seiner Gnade bekleidet« habe, V. 140), wie er sich beim show down am Grabe zu verhalten habe: Bei der Wunderprobe würde sich sein Ring auf jeden Fall als der echte erweisen

6 Penna (Anm. 1), S. 61, befindet, dass das Verhalten des Vaters, insbesondere seine Veranlassung, falsche Ringe für die älteren Brüder anfertigen zu lassen, »getta una luce di ambiguità nel racconto«. Man wird jedoch zu bedenken haben, dass der Vater als moralisch vollkommen integer und ausdrücklich wahrheitsliebend dargestellt wird (»Piteus estoit et caritavles Li preudom, ki ert veritavles«, V. 63 f.), und die Rechtfertigung, die er für sein Tun gibt, nach den ideologisch-moralischen Maßgaben, die hier zu unterstellen sind, bestehen kann. Eine mildere Variante zu diesem Fall bietet im Übrigen Gesta Romanorum 210, app. 14 (vgl. Anm. 8 sowie hier die zweite Textgruppe).

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(V. 164–172). So geschieht es, und die zwei falschen Ringe werden daraufhin zer­ brochen (V. 226 ff.). »So geschah, was ich euch erzählt habe«, bemerkt das Erzähler-Ich im dar­ auffolgenden Vers (229). Aber, und das gehört zu den Besonderheiten dieses Textes, die Parabel wird weitergesponnen. Die bösen Brüder, erzürnt über die Täuschung, verjagen den Jüngsten aus dem Land und dessen Ring wurde irgend­ wie beschädigt, gleichsam vergessen (»mis en noncaloir«, V. 247), und seine Wunderkraft war dahin. Bis es Gott fügte, dass sich drei machtvolle Fürsten des Verjagten annahmen, die die bösen Brüder nun ihrerseits verjagten und den Jüngsten wieder »erhoben«. Und (oh Wunder, möchte man hinzufügen) der echte Ring ward wieder gesichtet und seine Wunderkraft reaktiviert (V. 264 ff.). Damit endet nun der narrative Teil der Parabel, in deren abschließender Erwei­ terung man unschwer die Projektion von kriegerischen Auseinandersetzungen im Morgenlande erkennt, und es wird die »moralité« angekündigt, die nach der gemütvollen Identifizierung des »preudom« (»Und wer mag dieser preudom wohl sein? Das ist der König des himmlischen Himmels [dou chiel cheliestre]«, V. 275 f.) sofort zur Sache kommt: Es gibt hienieden drei »Gesetze« (lois, also Religionen), von denen zwei »mout d’iestrelois« enthalten (›viel Unglauben‹ oder auch ›viel Unrecht‹, aus extra legem), und diesen gehören die Sarazenen und die Juden an. Die Sarazenen, die der Erzähler mit dem ältesten Sohn der Parabel verbindet (V. 300), kommen bei der anschließenden Charakteristik am schlechtesten weg; aber auch die Juden (für die der mittlere Sohn stehen soll), die ihren Glauben von Gott nur »auf Widerruf« erhalten haben (par rapiel, V. 315), werden abqualifiziert: Ihr Glaube ist der »verdammenswerte Ring, für den Gott nie Vergebung haben wird« (V. 321 f.). Nur »wir Christen sind die Königssöhne, sind alle Jüngstgeborene, die gläubigsten, denen Gott den Ring der Würde verliehen hat« (V. 323–326). Was nun weiter kommt, ist der Einzug einer zweiten Interpretationsebene, auf der die Drei-Ringe-Lehre auf die glaubenspolitische Aktualität der Zeit bezogen wird (V. 340 ff.). Ohne auf diesen Teil hier weiter einzugehen, sei nur angemerkt, dass der Verfasser die trostlose Lage der Christenheit im Heiligen Land zum Anlass nimmt, eine harte Polemik gegen den untätigen und vielfach verkommenen Klerus in Rom vorzutragen, der z. B. »nach den großen Geldern schnappt«, die nötig wären, um »den Ring wieder herzustellen« (V. 360–363) bzw. der geradezu »hilft, den Ring weiter zu zerstören« (V. 386). Wir werden diesem Topos franziskanisch inspirierter Kirchenkritik im weiteren Verlauf noch einmal begegnen. Diese mündet hier, den Text abschließend, in den pathetischen Aufruf an drei französische Fürsten (den König, Graf Robert von Artois und Graf von Flandern), die Kreuzzugsidee neu zu beleben und in die Tat umzusetzen. Wenn man ein erstes Fazit aus dem bisher Gesagten zieht, so zeigt sich zweierlei. Zum einen ein Allgemeines, das hier in Erinnerung zu rufen ist: Das



Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version 

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Exemplum oder die Parabel als allegorische Rede haben als narrative Konfigura­ tionen grundsätzlich zwei Seiten, eine aktive und eine passive. Die aktive meint ihre angestammte Deutungsfunktion innerhalb des proprium, des realen oder gedachten Basistextes. Sie besagt, dass z. B. die in der Parabel auftretenden Pro­ tagonisten allein von ihrem funktionalen Aktanten-Status her zu verstehen sind, es also nicht ins Gewicht fällt, wenn deren konkrete Ausfüllung im jeweiligen Fall, für sich gesehen, mit der entsprechenden Person auf der Ebene des proprium nicht eigentlich vereinbar ist. So ist etwa die Figur des Vaters und Erblassers der Parabel bei Étienne de Bourbon ein reicher Mann, der mit einer mehrfach ehebre­ cherischen Frau verheiratet ist, ohne dass dies einer intendierten Gleichsetzung mit Gott oder Jesus Christus Abbruch täte (die hier allerdings über den einlei­ tenden Verständnishinweis »exemplum ad fidei vere probacionem« hinaus nicht explizit vorgenommen wird). Die passive Seite nun besagt, dass das proprium seinerseits in die allegorische Konfiguration hineinwirken kann, und zwar so, dass diese in besonderer Weise ausgestaltet oder in Bezug auf gegebene Parallelversionen modifiziert wird. Dies war schon bei der narrativen Erweiterung der Parabel zu sehen, in der historische Sachverhalte in den Diskurs der Parabel übersetzt wurden, und es zeigt sich etwa auch in der moralischen Auseinanderdividierung der potenziellen Erben in böse und gute, die dem entsprechenden Basiskonzept der offensiven Charakteristik der Religionen entspricht. Ebenso ist die an sich überraschende zeitliche Staffe­ lung des Auftretens der Religionen, die der Verfasser des Dit mit der Reihenfolge Sarazenen – Juden – Christen bietet (V. 295–299), auch wenn sie in etwa dem figu­ rierten Drei-Söhne-Schema entspricht, im Sinne einer Wertklimax zu verstehen, die den Triumph des Christentums veranschaulichen soll. Es wäre z. B. auch zu fragen, ob die weiblichen Nachkommen im Étienne-Text, die filiae also statt der üblichen filii, nicht Projektionen der verschiedenen grammatikalisch femininen fides oder leges sind.7

7 So Penna (Anm. 1), S. 57 f. An eine kritische Grenze scheint diese Art der Angleichung der Parabel an das proprium freilich zu geraten, wenn einem Aktanten wie dem Vater als Erblasser Eigenschaften beigegeben werden, die allein dem entsprechenden Aktanten des proprium, also Gottvater oder Jesus Christus angehören. So wird der »preudom« des Dit als Wundertäter beschrieben, der nicht nur Krankheiten heilen, sondern sogar Tote auferwecken kann (V. 45– 54). Dass er dies mit dem Zauberring tut, kann die Assoziation mit dem Wundermann Christus nicht entkräften (vgl. dazu auch das Folgende). Eine Art perspektivischer ›Synkretismus‹ liegt vor, wenn in einer Parabeldeutung, auf die im Folgenden noch eingegangen wird (Gesta Romanorum, cap. 89; vgl. hier Anm. 8), die Rede ist von »dominus noster Jhesus Christus qui tres filios habebat, scilicet Judaeos, Saracenos et Christianos«, wobei also die Perspektive der Parabel (»tres filios«) und die des proprium (»Jhesus Christus« und die drei Religionsgemeinschaften) verschränkt werden.

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Bemerkenswerter freilich, weil hier die in den zwei Texten zum Ausdruck kommende axiologische Sonderstellung des Christentums berührt wird, ist etwas anderes. Die »fides vera« im Étienne-Text kann grundsätzlich »bewiesen« werden, und zwar durch ein merveilleux-Element, das dem Ring oder einem darin einge­ legten Edelstein innewohnt. Wie immer dieses Motiv in seiner weitverzweigten Tradition verwendet wird, in unseren zwei Texten wird es im christlichen Sinne in Anspruch genommen, was schon daran ersichtlich ist, dass die ihm zugeschrie­ bene Kraft der Heilung von Kranken so beschrieben wird, dass Assoziationen mit den Wundertaten Christi nahegelegt werden (vgl. Anm. 7). Worum es dabei letzt­ lich geht, sagt der Erzähler des Dit im Interpretationsteil: Der Ring, den Gott uns als den Jüngsten gegeben hat, ist das »Gesetz«, das bewiesen und als wahrhaftig befunden worden ist, denn die christlichen Bekenner und Märtyrer, die für Gott sterben mochten, vollbringen, für alle sichtbar, Wunder. Nie aber habe, wie man wahrlich wisse, ein Jude oder Sarazene Wunder vollbracht (V. 323–334).

II In einer zweiten Gruppe sind hier Texte zusammengefasst, die alle der Gesta Romanorum entstammen,8 weitverzweigte Textsammlungen, die vermutlich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts verfasst wurden. Hier ist nun nichts mehr von dem offensiven Überschwang zu finden, mit dem der Erzähler des Dit aufge­ wartet hatte; die Nähe zur ersten Gruppe ist gleichwohl einigermaßen gewahrt. Cap. 89, der erste Text, gibt durch seine Überschrift »De triplici statu mundi« ein Rätsel auf: Es handelt sich bei dieser um den Titel einer berühmten, dem katalanischen Franziskaner Francesc Eiximenis (ca. 1340–1409) zugeschriebe­ nen Abhandlung,9 die im Wesentlichen auf die Drei-Perioden-Lehre der Heils­ geschichte von Joachim von Fiore zurückgeht und die im Zusammenhang mit dem zweiten »Status« der Heilsgeschichte, dem christlichen, der in die dama­ lige Gegenwart reicht, die franziskanische Polemik gegen den dekadenten Klerus enthält, wie wir sie bereits aus dem Dit kennen. In der Tat scheint sich diese The­ matik in der einen oder anderen Weise mit der des Religionen-Dialogs zu berüh­ ren, denn es wird auch in dem hier noch zu behandelnden Werk von Bosone

8 Gesta Romanorum. Hg. von Hermann Oesterley. Berlin 1872 (Ndr. Hildesheim 1963). Behandelt werden hier cap. 89, S. 416 f., und cap. 210, app. 14, S. 619 (zitiert mit Seiten- und Zeilenangaben im laufenden Text), sowie cap. 31 in einer anderen Handschrift (s. Anm. 12). 9 El De triplici statu mundi de Fr. Francesc Eiximenis O. F. M. Hg. von Albert G. Hauf. In: Estudis de llengua i literatura catalanes oferts a R. Aramon i Serra. Bd. 1. Barcelona 1979 (Estudis universitaris catalans 23), S. 265–283.



Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version 

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da Gubbio aufgegriffen,10 und es ist der Vorwurf der zweiten Novelle des ersten Tags des Decameron, der die Ringfabel-Novelle I 3 von Saladin und Melchisedech unmittelbar folgt. Das Ergebnis der Verquickung beider Motive ist die Pointe, dass Saladin gerade wegen der von ihm wahrgenommenen Übelstände in der römi­ schen Kurie zum Christentum konvertieren möchte. Wie aber nun der fragliche Titel zur Überschrift von cap. 89 gelangt ist, muss hier offenbleiben. Tatsache ist, dass die Überschriften der einzelnen Kapitel in den ältesten Drucken der Gesta Romanorum noch fehlen und erst später hinzugefügt wurden.11 Die wichtige soge­ nannte Innsbrucker Handschrift von 1342 (auf die gleich noch einzugehen sein wird) titelt hier (= cap. 31) jedenfalls korrekt: De tribus anulis. Alle drei Texte, die hier kurz vorzustellen sind, haben wieder, wie der Étienne-de-Bourbon-Text, Exempel-Format, was, der literarischen Ausarbeitung im Dit gegenübergestellt, inhaltliche Leerstellen der narrativen Strukturierung besser erkennen lässt. Zunächst zu cap. 89: –– Die drei Söhne bleiben uncharakterisiert, sodass die Vergabe des »annulus pretiosus« an den jüngsten (als »tertius filius« bezeichnet, nur zum Schluss als »minor«) nicht direkt motiviert erscheint. – Der ›echte‹ Ring (wenn man so überhaupt sagen kann, da immer nur von einem »annulus pretiosus« die Rede ist) wird im Besitz des Vaters nicht aus­ drücklich als wunderkräftig beschrieben; es heißt nur, als alle drei Söhne sich nach dem Tod des Vaters im Besitz des einzig wertvollen Ringes wähnen, der »primus« habe einen Test verlangt, der ergeben soll: »quis annulus sit preciosior, et ille est melior« (417,8). Unvermittelt also werden Kranke herbei­ geschleppt, die nur der Ring des Jüngsten zu heilen vermag (417,8–11). Von Interesse ist nun, dass in dieser Version die Kontrastierung der Religionen sichtlich weniger scharf ausfällt als in den zwei Texten der ersten Gruppe: Wie schon die Söhne 1 und 2 der Parabel mit beachtlichem Erbe ausgestattet wurden (der erste erhielt den Grundbesitz, der zweite das Vermögen, dazu jeweils einen »nicht so wertvollen« Ring), so wird auch entsprechend in der »Moralisatio« den Juden die »terra promissionis« und den Sarazenen der »thesaurus hujus mundi« (417,12 ff.) gegeben. Der Mehrwert des annulus pretiosus wird dagegen in der Deutung radikalisiert: Er besteht in der »fides«, die Gottvater (hier, wie schon erwähnt, als »dominus noster Jesus Christus qui tres filios habebat« bezeichnet, 417,12 f.) allein den Christen gegeben hat, und diese fides befähigt die Christen,

10 Bosone da Gubbio: L’avventuroso siciliano. Edizione critica. Hg. von Roberto Gigliucci. Rom 1989, hier Chiosa f, S. 204. 11 Vgl. Oesterley (Anm. 8), S. 273, Anm. zur Überschrift von cap. 1.

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wie unter Bezug auf entsprechende Stellen des Neuen Testaments gesagt wird, Wunder zu tun. Der Schlusssatz trumpft dann doch auf: »Impossibile est sine fide [d. h. also ohne christlich qualifizierten Glauben] placere deo.« (417,19) Cap. 210, das mit cap. 89 manche Übereinstimmung zeigt, ist in der gedank­ lichen Fügung der Parabelgeschichte ebenso nachlässig wie massiv in der Aus­ deutung, die die Form einer petitio principii hat: »Verumptamen manifestum est, quod [scilicet deus] populum Cristianum plus diligit, ideo annulum ei reliquit, qui cecos illuminat, morbos sanat, demones fugat […]. Iste annulus est fides katho­ lica« (619,29 ff.). Dazu passt, ist man im Hinblick auf den eifernden Dit versucht zu sagen, in dem Ähnliches zu beobachten war, dass der Vater, »ne deciperetur«, die zwei älteren Brüder mit täuschend ähnlichen Imitaten betrügt. Von diesem Glaubenseifer ist in cap. 3112 nichts oder nichts mehr zu spüren. Zwar stimmt der Beginn dieser Version weitgehend mit den zwei anderen Versionen überein; als jedoch die zwei älteren Söhne nach dem Tod des Vaters behaupten, sie besäßen jeder dessen »wertvollen« Ring, sagt der dritte Sohn: »Non […] est iustum, quod vos eum habeatis, eo quod senior habet hereditatem, alius thezaurum. Sed ego, vt spero, preciosum anulum habeo.«13 Damit endet die Parabel; von einem Zwist zwischen den Erben, die ja alle, wie der meistbegünstigte geltend macht, ihren Teil erhalten haben, ist nicht eigentlich die Rede und ebensowenig folglich von einem Wunderbeweis. Eine Heilsgewissheit ist nicht gegeben, nur noch die Hoff­ nung (»vt spero«), den begehrten Edelstein zu besitzen. Cap. 31 weist keine »moralisatio« auf, aber auch keinerlei Bezug auf ein proprium, der in der Étienne-de-Bourbon-Version, die ebenfalls der abschließenden Deutung entbehrte, ja gleich zu Beginn hergestellt wurde. Wie hätte, ist man versucht zu fragen, eine ›Moralisierung‹ bei diesem finish überhaupt ausfallen können? Oder haben wir es mit einer Verselbständigung der Parabel zu tun, die sich, gerade auch wegen der abschließenden Kurzreden der drei Brüder, als eine Art Anekdote kleidet, wie sie in den Gesta Legion sind? Oder darf man gar etwas weiter gehen und hier den Ansatz einer Entwicklung sehen, die sich von der manifest behaupteten christlichen Orthodoxie löst?

12 Gesta Romanorum. Nach der Innsbrucker Handschrift vom Jahre 1342 und vier Münchener Handschriften. Hg. von Wilhelm Dick. Erlangen, Leipzig 1890 (Erlanger Beiträge zur englischen Philologie 7), S. 25. 13 Ebd.



Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version 

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III Die verbleibenden zwei Texte scheinen in die zuletzt angedeutete Richtung zu tendieren. Es handelt sich einmal um die Parabel-Version des Novellino (Nr. 73),14 der bekannten Sammlung kurzer Erzählungen aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, sodann um eine der ›Beifügungen‹, chiose, zum oben schon genannten Roman L’avventuroso siciliano von Bosone da Gubbio (nach 1333),15 die wohl eine aus­ gearbeitete Fassung des Novellino-Textes zu sein scheint. Wir haben es hier in mehrerer Hinsicht mit einer veränderten Perspektivierung unserer Parabel zu tun, was z. T. schon zu Beginn in der Rahmenszene sichtbar wird, in die sie ein­ gelagert ist: Der »soldano« (Nov.) bzw. Saladin (Avv. sic.), in Geldnot befindlich (Hinzufügung des Avv. sic.: wegen seines laufenden Krieges gegen die Christen, 1,4 f.), lässt einen reichen Juden kommen (Nov.: »un ricco Giudeo«; Avv. sic.: »Ansalon giudeo«), um mittels einer verfänglichen Frage in Glaubensdingen (»Welches ist die beste Religion [fede, legge]?«) an dessen Geld zu kommen: Sagt der Jude (so überlegt er sich), es sei die jüdische, werde ich ihm sagen, dass er sich mir gegenüber versündigt (»pecca«, Nov.) bzw. er meinen Glauben verachtet (Avv. sic.); sagt er: die sarazenische, werde ich ihn fragen: Warum hast du dann die jüdische? bzw. (so der Avv. sic.) ihn als Verräter an seiner eigenen Religion hinstellen – und so auch, sollte er die christliche loben (3,1–4). Der Jude bzw. der ›gewitzte‹ Ansalon (»savissimo« – ›Ansalon der Weise‹ also) antwortet dann auf die gestellte Thema-Frage in beiden Texten mit der Ringparabel. Halten wir zunächst fest, was sich gegenüber den bisher betrachteten Ver­ sionen verändert hat: – Die Rahmenerzählung konfrontiert einen Vertreter des Islam und einen des Judentums, ein Christ ist nicht mit von der Partie, ja, in der Version des Novellino, als der »soldano« die geplante Befragung des bestellten reichen Juden in Gedanken durchspielt, fällt ihm die christliche Religion als möglicher Kandidat für die »migliore fede« gar nicht ein. Dies ist bemerkenswert, weil in den religiösen Streitgesprächen der Zeit, wenn sie nur zweiseitig angelegt sind, in der Regel eher der Sarazene oder Jude fehlt als der Christ. – Das genannte ›Manko‹ im Novellino wird, wenn man so will, im Avv. sic. ›repa­ riert‹, aber für beide Fassungen gilt, dass der Vertreter des jüdischen Glau­ bens nicht nur die Parabel erzählt, sondern zugleich als deren Interpret auf­

14 Il Novellino. Hg. von Alberto Conte. Rom 2001 (I novellieri italiani 1), S. 123 f. (im Folgenden zitiert als »Nov.«). 15 Vgl. Anm. 10. Die Ringparabel findet sich als Chiosa e auf S. 201 f. der genannten Ausgabe (im Folgenden zitiert als »Avv. sic.« mit Satz- und Zeilenangaben).

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tritt. Die »Deutungshoheit« bezüglich des einzig wahren Glaubens also liegt nicht mehr, wie in den zwei ersten Texten, auf der christlichen Seite, und sie hat entscheidend an Höhe eingebüßt, insofern sie nur noch ein Dilemma beschreibt. – Damit stimmt natürlich überein, dass es hier keinen Wunderbeweis mehr gibt, der Joker in Gestalt eines wunderkräftigen Edelsteins sticht nicht mehr, und die im Novellino gleichwohl erwähnte »pietra preziosa la migliore del mondo«, die dem echten Ring beigegeben ist, ist reiner Ornat, der den Ring nur noch nach den Maßstäben dieser Welt begehrenswert macht. – Es kann also keinen show down mehr am Ende der Parabel geben, denn das Wertgefälle zwischen dem Ring mit dem echten Stein und den zwei nach­ gemachten Ringen, die dem echten vollkommen gleichen und offenbar nur Steine von etwas geringerem Wert haben (so im Novellino), ist nicht zu erkennen. Wo aber die nachgemachten Ringe bei aller Ähnlichkeit »nichts wert waren« (niente valevano) wie im Avv. sic., werden alle drei vom Vater jeweils in einer Art Etui (bossolo, 5,2) eingeschlossen und jedem Sohn insge­ heim überreicht. Das inszenierte Dilemma wird also auf Dauer gesetzt in der Weise, dass jede der betroffenen Glaubensgemeinschaften vermeinen kann oder tatsächlich vermeint, den einzig wahren Glauben ererbt zu haben und zu besitzen. Denn daran, dass Gottvater einen allein wahren Glauben in der Gestalt des echten Rings in die Welt gesetzt hat, besteht kein Zweifel: »quelli che’l padre volle fu di ciò sua reda«, »der, den der Vater wollte«, heißt es gegen Ende des Avv. sic.-Textes (5,5), »der wurde auch dessen [sc. des echten Ringes] Erbe«. Aber wenn, wie der Jude Ansalon zu Saladin sagt, von den »tre leggi notaboli: una la vostra, una la mia, una i cristiani« nur ein Glaube »buona e salva« ist, dann bedeutet das gleichzeitig auch, dass »l’altre non sono niente«, dass »die anderen nichts sind« (6,1 ff.). Dies wird man nun zu bedenken haben, wenn zunächst der Anschein zu gewin­ nen war, als ob wir im Falle der Novellino- bzw. der Avv. sic.-Version bei einer toleranten Position im Verhältnis der drei Religionen angelangt wären, und dem entsprechend hat denn auch Penna die Gruppe der Texte, der diese beiden Fassungen angehören, »Le redazioni tolleranti« genannt (Kapitelüberschrift).16 Doch gerade das Dilemma des rechten oder, wie es oft geheißen hat, »besten« Glaubens bedeutet, wenn ich recht sehe, in der Konsequenz eine Festigung der Intoleranz von einer unangreifbaren Seite her: Es ist nicht, wie in den christli­ chen Versionen, ein primitiver oder auch elementarer Absolutheitsanspruch, der

16 Penna (Anm. 1), S. 70 [Hervorh. d. Verf.].



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dabei den Ausschlag gibt, sondern das aus der letztlichen Ungewissheit herrüh­ rende potenzielle Verlangen nach einer kompetitiven oder gar offen offensiven Vergewisserung des erwählten Status. Gleich zu Beginn der Ansalon-SaladinGeschichte im Avv. sic. macht der Erzähler sein Publikum darauf aufmerksam (1,2 f.), dass »per tutto l’universo i giudei sono odiati, né luogo né signoria nonne ànno« (dass also »in der ganzen Welt die Juden verhasst sind, sie haben weder Ort noch Obrigkeit«), und diese ›Belehrung‹ (»voi dovete sapere«, 1,2)  – wenn es denn überhaupt noch eine ist  – wird von einer eventuellen Vorstellung der ›Gleichschaltung‹ der Religionen, wie sie der Parabel zu entnehmen wäre, nicht erreicht. Die einlässliche Version des Avv. sic. kehrt am Ende dann noch eine dritte Ebene der Toleranzproblematik hervor: die der individuellen Begegnung. Saladin ist von der Darlegung des Juden Ansalon so beeindruckt, dass er von seiner ursprünglichen Absicht, ihm Gelder abzuluchsen, ganz absieht und den Juden freilässt (»Il Saladino, udendo ciò, suo animo rivolse per contrario propo­ nimento, e’l giudeo libera«, 7,1 f.). Auf dieser Ebene, auf der die großen kollekti­ ven Differenzen oder gar Antagonismen leicht weniger Einschlag haben können, ist es wohl allezeit möglich gewesen, solche Spannungen zu unterlaufen, wie an Sultan Saladin, dem Lieblings-Sarazenen der mittelalterlichen Erzählliteratur im Okzident,17 immer wieder, ja geradezu paradigmatisch gezeigt worden ist. Es bleibe dahingestellt, dass eine alternative Interpretation dieses letzten Textes in den Sinn kommen könnte, welche die auf den drei fraglichen Ebenen vermittelten Positionen  – die des negativen rassistischen Vorurteils, die der respektvollen persönlichen Begegnung und die der Gleichheit der Religionen – zusammenführen würde in der Weise, dass die versöhnliche Schlusspointe das anfängliche rassistische Vorurteil infrage stellen und damit das allgemeine Fazit der Parabel selbst gleichsam exemplarisch unterstreichen würde. Mehr Kredit scheint freilich, was speziell die Erwähnung des antisemitischen Vorurteils anbe­ langt, die Einschätzung zu verdienen, die innerhalb der folgenden Würdigung gegeben wird.

*** Der Anreiz ist groß, abschließend die zu den einzelnen Texten gemachten Beob­ achtungen zu einer Gesamtwürdigung zusammenzuführen. Sie kann indes hier nur anhand einiger Fragen erwogen werden. So stellt sich zunächst die Frage nach der Filiation der behandelten Texte, die durch die vorgenommene Gruppie­

17 Vgl. Gaston Paris: La leggenda di Saladino [Neuaufl. der ital. Übersetzung von Mario Menghini, Florenz 1896]. Hg. von Michele Gialdroni. Einleitung von Franco Cardini. Rom 1999 (Collana Omicron 62).

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rung ja nur z. T. abgebildet wird. So ist schon des Öfteren angenommen worden, dass die Fassungen des Novellino und des Avv. sic. zur Novelle I 3 im Decameron hinführen.18 Aber es bleibt, dass das ›neutrale‹ Novellino, das in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert wird, mehr oder minder gleichzeitig ist mit dem Tractatus von Étienne de Bourbon und womöglich noch vor dem altfranzösischen Dit liegt, wie andererseits das ›christliche‹ cap. 89 der Gesta Romanorum zeitlich neben dem ›neutralen‹ Avv. sic. zu stehen scheint. Was immer dabei den jeweils unterschiedlichen gattungsrelevanten Verwendungsweisen geschuldet sein mag: Daran, dass die paritätische oder, wenn man will, ›schein-paritätische‹ oder auch neutrale Fassung die ›fortschrittliche‹ ist, wird man nicht zweifeln wollen, und dies wird sich nach allem, was man neuerdings für die reduzierte religiöse Posi­ tionierung Boccaccios und die geistige Entwicklung im 14. Jahrhundert geltend gemacht hat,19 wohl bestätigen lassen. Aber man wird sich dabei doch gleichzeitig die Frage zu stellen haben, ob sich diese Entwicklung, die wir zu erkennen glauben, einer bewussten oder gar gezielten Dynamik verdankt, mit anderen Worten: ob die genannten Texte (bzw. einige von ihnen) womöglich entsprechende Botschaften transportieren. Über den Fall der Texte, die die christliche Religion verabsolutieren, ist dabei natür­ lich nicht zu reden. Aber wie würde die entgegengesetzte Botschaft lauten, die sich von dieser Position abzusetzen beginnt? Macht es überhaupt Sinn, danach zu fragen? Es spricht, wie ich meine, wenig dafür. Das Novellino-Stück ist Unter­ haltungsliteratur und in stärkerem Maße gilt das für die Chiosa e des Avventuroso siciliano, wobei die Rahmung eine tragende Rolle spielt, denn durch sie wird ein publikumswirksames Spiel von List und Gegenlist inszeniert, das mit einer gefälligen, ja anrührenden Pointe endet. Aber ein Ränkespiel, wenn man so will, gibt es auch auf der Ebene der eingebetteten Parabel mit dem attraktiven Thema ›Erbstreitigkeiten‹ samt ambivalenten Details wie der Anfertigung von dummies, Falsifikaten also, und mit einer diese aufnehmenden geistreichen Pointe, die das Unaufgelöste als Lösung darbietet  – eine Spiel-im-Spiel-Konstruktion, die sich mehr als freigesetzt aus der Emphase des konfessionellen Engagements zur Unterhaltung, zum dilettare, darbietet (aus den Gründen, die ich vorhin angedeu­ tet habe) denn als zum hehren Ziel der Toleranz vorwärtsstrebend. Auch die oben erwähnte antisemitische Anmerkung in der Einleitung des Textes von Bosone da Gubbio ist so zu verstehen, dass sie in ihrer appellativen Formulierung (»voi

18 So z. B. Penna (Anm. 1), S. 8, Anm. 1, S. 17 und 70 ff.; Salvatore Battaglia: Premessa per una valutazione del Novellino. In: Ders.: La coscienza letteraria del medio evo. Neapel 1965, S. 68–96. 19 Vgl. dazu Andreas Kablitz: Boccaccios Decameron im Spiegel Dantes und Petrarcas [im Druck], sowie seinen Beitrag im vorliegenden Band.



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dovete sapere che per tutto l’universo i giudei sono odiati […]«) lediglich als eine Art von ›Aufreißer‹ gelten soll, der auf der Ebene der erzählten Geschichte keinen Bezug hat, genau genommen nicht einmal den des Widerspruchs, da es sich hier um zwei verschiedene Ebenen handelt. Das Einzige, was dem Erzähler von Decameron I 4 (Dioneo) an der gerade vorangegangenen Saladino-MelchisedechNovelle I 3 bemerkenswert erschien, ist, dass »Melchisedech durch seinen Ver­ stand (per lo suo senno) seine Reichtümer vor Saladins Nachstellungen bewahrt hat«;20 und die der Novelle I 3 vorangestellte Inhaltsangabe sagt es noch deutli­ cher, dass die Ringparabel nur Mittel zum Zweck ist, die spannende Geschichte zu erzählen, wie »Melchisedech giudeo con una novella di tre anella cessa un gran pericolo dal Saladino apparecchiatogli«.21 Das sogenannte christliche Mittelalter – so darf man vielleicht abschließend hier anmerken, denn es wird ganz allgemein immer deutlicher  – ist in weiten Bereichen seiner ›belletristischen‹ Literatur (der die zwei ersten der hier behan­ delten Textgruppen nicht eigentlich zuzurechnen sind) als ›ideologische‹ Grund­ lage fiktionaler Konfiguration nicht aufzufinden.

20 Giovanni Boccaccio: Decameron. Hg. von Vittore Branca. 6. Aufl. Turin 1991, S. 83 f. 21 Ebd., S. 78.

Valter Leonardo Puccetti

La novella delle »tre anella« nel Novellino La prima occorrenza del motivo dei tre anelli nella letteratura italiana in volgare si dà all’interno del Novellino, che è anche la prima raccolta organica, non cioè cumulativa o frammentaria o casuale, di novelle dell’intera area romanza. L’autore anonimo è un fiorentino, ma è presumibile, come accennerò anche più avanti, che si trattasse di un buon conoscitore della realtà politica e di costume dell’Italia padana, probabilmente per lunga pratica mercantile. Innanzitutto, e ovviamente, è necessario richiamare la concretezza del breve testo, che propongo nella lezione fermata dall’ottima edizione Conte:1 Come il soldano, avendo bisogno di moneta, vuolle cogliere cagione a un giudeo. Il soldano, avendo bisogno di moneta, fo consigliato che cogliesse cagione a un ricco Giudeo ch’era in sua terra, e poi gli togliesse il mobile suo, ch’era grande oltre numero. Il soldano mandò per questo giudeo, e domandolli qual fosse la migliore fede, pensando: – S’elli dirà la giudea, io dirò ch’elli pecca contra la mia. E se dirà la saracina, e io dirò: dunque, perché tieni la giudea? – El Giudeo, udendo la domanda del signore, rispuose: – Messere, elli fu un padre ch’avea tre figliuoli, e avea un suo anello con una pietra preziosa la migliore del mondo. Ciascuno di costoro pregava il padre ch’alla sua fine li lasciasse questo anello. El padre, vedendo che catuno il voleva, mandò per un fino orafo, e disse:  – Maestro, fammi due anella così a punto come questo, e metti in ciascuno una pietra che somigli questa –. Lo maestro fece l’anella così a punto, che niuno conoscea il fine, altro che ’l padre. Mandò per li figliuoli ad uno ad uno, e a catuno diede il suo in secretto. E catuno si credea avere il fine, e niuno ne sapea il vero altri che ’l padre loro. E così ti dico ch’è delle fedi, che sono tre. Il Padre di sopra sa la migliore; e li figliuoli, ciò siamo noi, ciascuno si crede avere la buona –. Allora il soldano, udendo costui cosie riscuotersi, non seppe che si dire di coglierli cagioni, sì lo lasciò andare.2

La rubrica, come il resto della novella, che è la LXXIII delle cento nell’ordinamento Conte, non nomina il Saladino ma la valenza antonomastica e non generica di quel »soldano«, più che dalla esplicitazione del personaggio nell’Avventuroso siciliano3 (che è la prima raccolta di novelle a cornice viatoria di lingua romanza: siamo intorno alla quarta decade del Trecento) e nella novella terza della prima giornata del Decameron,4 per la quale Salvatore Battaglia per primo sottolineò

1 Il Novellino. A cura di Alberto Conte. Roma 2001. 2 Ivi, pp. 123 sg. 3 Bosone da Gubbio: L’avventuroso siciliano. Edizione critica a cura di Roberto Gigliucci. Roma 1989, pp. 201 sg. 4 Giovanni Boccaccio: Decameron. A cura di Vittore Branca. Sesta edizione. Torino 1991, pp. 78– 82.

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come alcuni codici prehamiltoniani recassero menzione di »soldano« e non di »Saladino«,5 è comprovata a mio avviso dall’alternanza di nome proprio e di dignità nella novella XXV6 del Novellino medesimo, sia nella versione del cosid­ detto Ur-Novellino, rappresentato dal gruppo incompleto di novelle della prima parte del Panciatichiano 32, sia nella riscrittura della seconda parte dello stesso Panciatichiano, il cosiddetto P2, che in quasi contemporaneità di copista con l’Avventuroso siciliano completa quasi interamente la centuria (la princeps gual­ teruzziana fornisce il testo per le poche altre lacune) e ripropone diversa lezione di alcune novelle, come in questo caso appunto. Nella novella XXV sono cuciti due aneddoti, il primo riferentesi alla liberalità del Saladino, il quale raddoppia un compenso per non esser da meno del suo scrivano che aveva sbagliato per eccesso la trascrizione del montante per via di una scorsa di penna; il secondo narra invece di una tregua voluta dal Saladino per studiare i costumi dei crociati in Occidente e decidere se farsi cristiano, ma lo sprezzo dei crociati per i poveri, che vengono fatti mangiare per terra, e la blasfemia che il Saladino ravvisa nel noncurante sputare dei crociati su tappeti recanti effigi di croce lo persuadono a mantenersi stretto alla sua fede e a ricominciare la guerra. È infine denominato »soldano« ma storicamente non può che essere il Saladino il contraltare di Ric­ cardo Cuor di Leone nella novella LXXVI,7 nella quale il dono di un cavallo al re d’Inghilterra nasconde inganno, sventato da Riccardo che fa salire sul cavallo uno scudiero, sùbito trascinato nel campo nemico dall’animale evidentemente addestrato (l’episodio è nella Chronique d’Ernoul, una traduzione-continuazione primoduecentesca della Storia latina di Guglielmo di Tiro, e, in Italia, nei Conti di antichi cavalieri, dell’ultimo trentennio del Duecento, che presenta suite di cinque racconti incentrati sul Saladino: nella Cronique il dono è parimenti avve­ lenato, nei Conti è invece puramente liberale e non c’è fuga del cavallo verso il campo musulmano).8 Tornando alla novella LXXIII, attestata solo, entro il Panciatichiano, nella sua seconda sezione: l’inizio del racconto imposta l’angheria, da parte del Saladino, in termini brutali, c’è un indeterminato bisogno di denari (la nobiltà di causa della guerra dell’Avventuroso siciliano9 e le »grandissime […] magnificenze«10 cortesi che Boccaccio aggiungerà nella sua versione sono taciute), c’è l’intenzione

5 Salvatore Battaglia: Premesse per una valutazione del »Novellino«. In: Id.: La coscienza letteraria del Medioevo. Napoli 1965, pp. 549–584, qui p. 576 in nota. 6 Il Novellino (nota 1), pp. 49–51 e 204 sg. per la versione del P2. 7 Ivi, pp. 128 sg. 8 Su ciò si veda la ricca nota del curatore Conte sulle fonti: ivi, pp. 370–372. 9 Bosone da Gubbio (nota 3), p. 201. 10 Boccaccio (nota 4), pp. 79 sg.



La novella delle »tre anella« nel Novellino 

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di un esproprio globale e non mirato come nelle altre due versioni italiane (il Soldano vuole togliere il »mobile suo, ch’era grande oltre numero«), c’è la mera esecuzione di un consiglio cortigiano e non, come nel Decameron, un’analisi personale dell’avversario (che sarebbe già atto conoscitivo, quindi dialettico) la quale sortisca la trappola. Il Saladino, cioè, come anche proverà il finale abrupto della novella, che lo vede semplicemente scornato e non persuaso, non mosso a mediazioni superiori una volta che il fine pratico immediato è svanito, presenta qui un’immagine coerente con quella delle altre due novelle che abbiamo citato per il Novellino, in cui la liberalità si esercita non verso il nemico, come spesso nei volets francesi della sua leggenda e nei Conti degli antichi cavalieri, ma verso un coltivatore di rose di serra (il cui tema del dono raddoppiato è anche nella novella del Re Giovane, la XX, nel Novellino),11 il rapporto col nemico è spietatamente machiavellico, come verso Riccardo, e la messa alla prova del costume altrui intransigente, tale anzi da ipermotivare la guerra santa, come per l’aneddoto della mensa e dei tappeti. Vero è che la magnanimità, nell’Ur-Novellino che lavora12 la prima parte della novella a sé e la tiene scissa da quella che ne sarà seconda parte in P2, è esercitata verso un »cavaliere francescho«, anche liberato di prigionia, e ciò mostra vieppiù lo scarto dell’anonimo del canone, fra P2 e Gualteruzziana, in direzione di una diseroicizzazione del Saladino, almeno in termini cortesi. Il verbo che l’autore anonimo impiega per l’insidiosa convocazione a palazzo (»mandò per«) è, nel Novellino, sistematicamente prelusivo della minaccia o dell’iniquità parata dall’inferiore: così nella novella dell’arcivescovo e del medico di Tolosa, la XLIX,13 così in quella di Filippo e del savio greco, la III,14 così in quella del Donno d’Alborea e di Rinieri da Monte Nero, la LXXVII,15 e in tutti e tre i casi, come sarà in questo, nel finale della novella la risposta del sottoposto o del ricattato (una larga, concertata perifrasi allusiva da parte del medico di Tolosa, uno sferzante motto ritorsivo da parte del savio greco e di Rinieri) disarma o (come nel caso del Donno d’Alborea o di Filippo) proprio converte il potere che abusa o che vorrebbe abusare. Il giro mentale del Saladino è sbrigativo, un aut-aut col quale il personaggio si mura in una conscia malafede che cerca rassicurante puntello all’esterno: si noti l’affettività imperiosa del costrutto paraipotattico dopo la seconda protasi ipotetica (»E se dirà la saracina, e io dirò«). Il rimuginio del Saladino contrasta

11 Il Novellino (nota 1), pp. 40–42. 12 Si veda ivi, pp. 327–330, il commento del curatore Conte a questa distribuzione del materiale narrativo. 13 Ivi, pp. 81–83. 14 Ivi, pp. 10–13. 15 Ivi, pp. 129–131.

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con l’immediatezza di replica del »giudeo«, che elude l’urgenza del quesito con l’appello d’emblée alla favola, all’ipnotico e allentante ›c’era una volta‹. E’ una soluzione narrativa di grande e discreta eleganza, da parte di quel maestro della brevitas e del montaggio rapido che è l’anonimo del Novellino, e meraviglia che letture specifiche di questa novella non abbiano sinora saputo scompagnarsi da un confronto ossessivo e talora passivo con la terza novella della prima giornata del Decameron, per fissare punteggi e classifiche e lamentare l’astrattezza e la secchezza del testo più antico, in effetti solo disegnante, con diversi ma adeguatissimi strumenti, una situazione psicologica e culturale non omologabile a quella boccacciana. Al dilemma del Saladino (»– S’elli dirà la giudea, io dirò […] E se dirà la saracina«), come già fugacemente notato dal Battaglia,16 il giudeo contrappone un tertium datur: io direi, alla rigidità dei poli oppositivi il movimento vitale della narrazione, la complessità e l’energia dialettica della terna alla statica dualità antagonistica. Che la religione dimenticata, nell’elementare imboscata del Saladino, fosse poi la cristiana sembra tanto uno scontato segnale dell’autore, una sorridente intromissione ideologica, quanto uno spregiudicato sostegno, per il giudeo, alla sua strategia di fuga, alla sua diluzione relativistica dell’identità religiosa. Il racconto del giudeo procede per tranquilli periodi verbali di ugual respiro, mai monoproposizionali, però neanche mai articolati su più di una subordinata e/o più di una coordinata, come per sviluppo piano e perciò irrefutabile. Si noti anche la ripresa del verbo già usato dall’autore per la minacciosa convocazione del giudeo, il già citato »mandò per«, stavolta però per fine collaborativo (viene chiamato l’orafo, che deve produrre i doppioni). Il trionfale polisindeto del finale, quasi l’ergo di un sillogismo (»E catuno si credea […] e niuno ne sapea […] E così ti dico«17) col quale il giudeo si toglie la testa, o meglio i beni, dal cappio, chiarendo l’allegoria non chiude tuttavia il cerchio, lo apre invece paradossalmente, rendendo imprendibile il giudeo insieme alla verità. La conclusione spiccia e un po’ impaziente, ora che il giudeo si sente arrivato in porto (»Il Padre di sopra sa la migliore; e li figliuoli, ciò siamo noi, ciascuno si crede avere la buona«), sembra fare il verso alla semplificazione altrettanto cursoriamente, ma in quel caso erroneamente, baldanzosa che il Saladino aveva accarezzato tra sé e sé nel pensiero per volgerla contro il giudeo. Rimane un punto di resistenza interpretativa, finora stranamente trascurato dalla critica, che ha per lo più, come dicevo già, usato la novella come trampolino per l’analisi di risulta di quella decameroniana: perché il padre fa chiamare (notate: »mandò per« anche

16 Battaglia (nota 5), p. 572. 17 Quest’ultima transizione viene ripresa dal Boccaccio: »E così vi dico, signor mio, ecc.« (Boccaccio [nota 4], p. 82).



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stavolta, con un’altra ritorsione e un altro disinnesco del verbo della convocazione per ordine del Saladino) in disparte i suoi figli e »in secreto« confida loro l’anello? Il legato avviene in vita del genitore, il confronto discriminante tra i figli non si dà nel testo e lo si immagina, ormai indecidibile, solo dopo la morte del padre. Credo che qui si entri in profondità in quella che Gaston Paris considerava la vena scettica o aconfessionale delle versioni italiane18 e che mi pare nel Novellino più instante. Il padre, che poi è il Padre con la maiuscola, fa rivelazione appartata ai singoli figli e non è questione di eredità, almeno non esplicitata. La questione è di autenticità del messaggio, non di istituzionalizzazione di esso e ciascun figlio può vantare rivelazione che scoprirà o scoprirebbe poi non esclusiva. Ebbene, credo che sia allora opportuno, per definire meglio o piuttosto per allargare il senso, questo senso della novella, situarla dentro l’organizzazione strutturale del libro, che è stata affrontata per macrosequenze, per grandi blocchi, da Segre,19 da Picone20 a da Conte,21 ma quasi mai da alcuno per connessioni puntuali. La nostra novella, se si guarda bene, è da un lato retrocucita alle due precedenti, la LXXI e la LXXII,22 che vedono al centro le espressioni e i comportamenti di saggezza stoica per Seneca e veterorepubblicana per Catone il Vecchio: sono due consolatorie (la seconda, un’autoconsolatoria) che degli exempla pagani non apprestano lettura allegorico-attualizzante né feriale-aneddotica (con l’eccezione di un Nerone memore delle battiture infantili da parte del maestro), ma una morale immanente, storicamente impersonale e quasi filologica, attraverso un collage di citazioni abilmente deviate dagli originali (anche estranee ai due personaggi, anche da Boezio)23 dentro situazioni, nelle novelle, che vi si attaglino. Il giudeo della novella delle tre anella ripete la saviezza degli antichi pur esso fuori dell’orizzonte cristiano, ripete da Seneca e Catone, attraverso l’esempio del padre di famiglia, la serena disposizione testamentaria, escludendosi dall’ipotecare, sulla terra, le verità »di sopra« e perseguendo una filosofia del ›come se‹, la stessa che trova opera nell’orafo contraffattore.

18 Gaston Paris: La parabole des trois anneaux. In: Id.: La poésie du moyen âge. Leçons et lectures. Vol. 2. Paris 1895, pp. 131–163. 19 Cesare Segre: Sull’ordine delle novelle nel Novellino. In: Miscellanea di studi in onore di Vittore Branca. Vol. 1: Dal Medioevo al Petrarca. Firenze 1983, pp. 129–139. 20 Michelangelo Picone: Il racconto. In: Manuale di letteratura italiana. Storia per generi e problemi. A cura di Franco Brioschi e Costanzo Di Girolamo. Vol. 1: Dalle origini alla fine del Quattrocento. Torino 1993, pp. 587–696, qui pp. 611–616. 21 Alberto Conte: Introduzione. In: Il Novellino (nota 1), pp. XV–XXVIII. 22 Il Novellino (nota 1), pp. 120–122 e 122 sg. 23 Si veda la nota sulle fonti della novella LXXII: ivi, p. 365.

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D’altra parte, sottile ma tenace è il legame della LXXIII (curiosamente, la prima delle novelle del canone aggiunte da P2 al novero incompleto di P1) con le due novelle successive. La LXXIV24 è infatti, si badi, la sola di tutta la raccolta che abbia fonte ebraica unica e sicura, quantunque per via ignota, precisamente il Midrash del Qohelet Rabbah (dove l’imperatore Adriano, tra l’altro, contro l’avviso di un suo consigliere beneficando un vecchio ebreo, afferma: »il suo Creatore lo ha onorato, perché non posso farlo anch’io?« 25): un vassallo crede di far cosa grata offrendo una »soma« di fichi ammirati sull’albero dal suo signore; purtroppo, per accumularne quantità spropositata giunge a fine di stagione, quando i fichi si danno ormai ai porci; il signore si adira per il regalo sospettando la beffa, fa legare a un albero il vassallo e lo fa bersagliare coi fichi dai servitori; quella sorta di San Sebastiano ogni volta che riceve un fico presso l’occhio esclama »Domine te lodo«; il signore chiede ragione di questo e il vassallo spiega che ringraziava il cielo perché, in un primo tempo, gli era venuta l’idea di regalare delle pesche; il signore scoppia a ridere, fa liberare il vassallo e lo risarcisce con ricchi doni. Il rendimento di grazie del vassallo a Dio è ben derisorio di una morale rinunciataria in un quadro organico di capricciosa sopraffazione, porge involontariamente (ma sarà davvero così?) al signore lo specchio del suo arbitrio (come ad esempio farà Chichibio nel finale della novella della sesta giornata del Decameron, con la sua ›sciocca‹ battuta decongestionante)26 e così, inopinatamente, ottiene salvezza col diversivo liberatorio del riso. La novella LXXV invece contamina due indubbie fonti orientali (l’arabo di Spagna, seppur viaggiatore a lungo in Oriente, Abu Bakr di Tortosa, contemporaneo del Pietro d’Aragona alla cui corte il Schebet Jehuda ambientava la sua versione della novella degli anelli,27 e/o un poeta persiano della metà del Duecento) e una fonte francese da cui discende una novella del Ci nous dit:28 Gesù s’accompagna a un giullare, facendo miracoli a pagamento, come un fenomeno da fiera; una volta il giullare, dopo una performance del compare, arrostisce un capretto per i due e mangia di nascosto i rognoni prima di servire in tavola, negando poi che quel capretto avesse già in vita i rognoni; Gesù salva quindi dall’impiccagione il giullare, che aveva fallito di resuscitare un morto nonostante fosse stato da lui istruito; il giullare non aveva confessato il furto dei rognoni nemmeno quando Gesù glielo aveva chiesto sulla forca, ma confesserà quando Gesù, dicendosi disgustato dalla sua slealtà e volendo dividere

24 Ivi, pp. 124 sg. 25 Qohelet Rabbah: Midras sul Libro dell’Ecclesiaste. A cura di Piergabriele Mancuso. Firenze 2004, p. 125. 26 Boccaccio (nota 4), pp. 734 sg. 27 Si veda più avanti, alla nota 58. 28 Su queste fonti si veda il commento di Conte a Il Novellino (nota 1), pp. 368–370.



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il guadagno per andare per la sua strada, farà tre parti del bottino, dicendo che la terza sarebbe stata per colui che aveva rubato i rognoni; naturalmente il giullare confessa e il narratore chiosa che cosiffatto è l’uomo, che per denari confessa ciò che non ammetterebbe con pericolo di morte. Lasciamo da parte il topos della deità in incognito, della deità viatrix, spesso in coppia come nel mito di Filemone e Bauci, qui però strana coppia (e c’è una vecchia barzelletta oscena su Gesù viandante in Galilea con Pietro e frequentante postriboli, ancora in circolazione nella Toscana cinica e bestemmiante, posso testimoniarlo…): Gesù degradato a miracolista a pagamento e beffato dal giullare sta fra la goliardia più dissacrante e la tradizione aliena (nella fonte araba citata, Gesù insegna anche al compagno a camminare sulle acque, resuscita non uomini ma una gazzella e il furto è di un pane, che Gesù fa comprare al compagno e che quindi non è in vena di moltiplicare…). E la sequenza di novelle che seguirà comincia, per l’appunto, con una sorta di rilancio di rima, con una novella, la LXXVI, che, come abbiamo detto, vede il Saladino fallire un altro inganno, ai danni di Riccardo d’Inghilterra, col falso dono del cavallo. Insomma, la novella delle tre anella è incastonata (mi si permetta la metafora interna, la meta-metafora) tra due novelle dall’orizzonte stoicamente imma­ nentista, di paganesimo non riscattato allegoricamente, e due novelle (che con la LXXIII formano il primo nucleo di completamento del canone da parte del P2 rispetto al P1) di fonti l’una ebraica, l’altra araba ma di localizzazione promis­ cua, spagnola, entrambe scoronanti le garanzie di fede, la prima attraverso una parodia della provvidenza decantata dalla vittima, la seconda più direttamente con la prosaicizzazione invalidante della figura di Gesù. Una rapida rassegna delle inferenze religiose nel Novellino condurrebbe a un giudizio di laicità anche bef­ farda, che non potrebbe discostarsi di molto da quello che (su alcune basi solide, su alcune più fragili, ne convengo) il Favati29 emise per altri versi circa il ghibelli­ nismo dell’autore anonimo, il quale sposa un certo orgoglio borghese-mercantile a un’esaltazione della figura dei due Federici e a un idoleggiamento della curialitas di area culturale veneto-provenzale onde, se consideriamo il trattamento umoroso e umoristico della figura di Ezzelino nelle due novelle che lo concernono (la XXXI e la LXXXIV),30 trattamento davvero antipodico rispetto alla damnatio memoriae e alla leggenda deformante che il guelfismo aveva già imposto per il tiranno della Marca ovunque con l’eccezione di quella Verona dove gli Scaligeri

29 Guido Favati: Introduzione. In: Il Novellino. Testo critico, introduzione e note a cura di Guido Favati. Genova 1970, pp. 1–113, qui pp. 64–69. 30 Il Novellino (nota 1), pp. 58 sg. e 141–144.

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assicuravano continuità alla politica ezzeliniana,31 verrebbe fatto di ipotizzare un autore mercante fiorentino della seconda mandata di esilio ghibellina con la cac­ ciata degli Uberti, un fiorentino della nutrita colonia veronese32 magari rientrato dopo l’amnistia di Giano della Bella, il che spiegherebbe la foltezza di novelle fiorentine solo nell’ultimissima parte del canone se davvero fine-duecentesca è la composizione del piccolo capolavoro narrativo. È invece questione di troppo momento e non qui affrontabile quella se l’UrNovellino sia primitiva stesura o se altro autore, che poi è quello di cui parliamo da sempre e che P2 e la Gualteruzziana ci ricompongono unitariamente, ne abbia sussunto il materiale tagliando, aggiungendo e ordinando. L’edizione recentemente curata da Anna Ciepielewska-Janoschka33 non produce all’uopo novità importanti. Di sicuro un numero cospicuo di novelle esemplari, di tema biblico o predicatorio, rimangono solo in P1 e non vengono accolte nel canone, se si eccettuano la VI e la VII,34 piatti medaglioni su David e su Salomone, entrambe dipendenti dal volgarizzamento francese, per uso borghese, dei Quatre livres des reis,35 e soprattutto la XXVIII,36 curiosamente ma notevolmente polemica contro la romanzeria cortese (con la morale che la carretta infamante di Lancillotto ha fatto moda ma l’umiliazione del Cristo, che pur apre il regno dei cieli, no: c’è chi ha pensato a un’improvvisazione predicatoria colta di prima mano).37 Per il resto, la XXIX38 rinvia alla fine a una sorta di dantesco »State contente umane genti al quia«, ma di circostanza perché viene subito dopo la facezia di un matto che aveva ridicolizzato una disputa di filosofanti circa l’Empireo (e sopra l’Empireo cosa c’è? Dio! E sopra la testa di Dio? Un cappello! Della novella non si sono individuate fonti e, siccome anche l’ironizzata discussione fra i savi di un soldano, lì davvero indeterminato e non

31 Su ciò è fondamentale Gian Maria Varanini: Il Comune di Verona, la società cittadina ed Ezzelino III da Romano. In: Nuovi studi ezzeliniani. Vol. 1. A cura di Giorgio Cracco. Roma 1992, pp. 115–160. 32 Si vedano almeno Giulio Sancassani: I documenti. In: Dante e Verona. Per il VII centenario della nascita. Verona 1965, pp. 1–161, qui pp. 24 sgg.; Gino Barbieri: Economia, finanza e tenore di vita nella Verona scaligera. In: Gli Scaligeri 1277–1387. Saggi e schede pubblicati in occasione della mostra storico-documentaria allestita dal Museo di Castelvecchio di Verona (giugnonovembre 1988). A cura di Gian Maria Varanini. Verona 1988, pp. 329–342, qui pp. 336 sg. 33 Viaggio d’oltremare e libro di novelle e di bel parlar gentile. Edizione interpretativa a cura di Anna Ciepielewska-Janoschka. Berlin, Boston 2011. 34 Il Novellino (nota 1), pp. 18–20 e pp. 20–23. 35 Si vedano al proposito le osservazioni del curatore Conte: ivi, p. 308–310. 36 Ivi, pp. 54 sg. 37 Rudolf Besthorn: Ursprung und Eigenart der älteren italienischen Novelle. Halle 1935, pp. 64 sg. 38 Il Novellino (nota 1), pp. 56 sg.



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il Saladino, se il fumo d’arrosto sia accidente o sostanza nella novella di Fabrat, la IX,39 non ha precedenti, l’invenzione è probabilmente da ascriversi all’anonimo ed è sintomatica, per la ripetizione interna del motivo, di una beffarda attitudine verso le affettazioni metafisiche), mentre la XXXVI,40 sotto il segno di Balaam, nella Bibbia protagonista solo del primo episodio (legato al secondo nel precedente della Chronique d’Ernoul, che è quella stessa che trasmette le gesta del Saladino, ma prima ancora dalle Antiquitates Iudaicae di Flavio Giuseppe),41 mostra la manipolabilità umana del piano divino (l’angelo di Dio impedisce a Balaam la maledizione del popolo eletto ma poi permette a Balaam la sua seduzione che produce maledizione di fatto). Infine la LXXXIII,42 che è l’altra novella della raccolta che mutua fonte da Abu Bakr di Tortosa, vede di nuovo Gesù viator, qui con compagni ai quali vieta di prendere due piastre d’oro abbandonate, esca del demonio cui abboccheranno in séguito due viandanti amici, di cui uno ucciderà l’altro ma solo per poco gli sopravviverà: un Gesù indovino, un accidente straordinario, goethiano »unerhörte Begebenheit«, non più. Il prologo43 del Novellino aveva un bel prender le mosse, con occupatio moralistica e sgravante, dal Vangelo di Luca (»dell’abbondanza del cuore parla la lingua«), l’autore lascia che i »cuori gentili e nobili« »acconcino le […] menti e le […] parole nel piacere di Dio« ma per sé ritaglia altro compito, »se in alcuna parte, non dispiacendo a lui, si può parlare, per rallegrare il corpo e sovenire e sostentare, facciasi con più onestade e con più cortesia che si puote«. Anche per questo, devo confessare la mia impressione, da sempre, che la trasmissione e la ricezione della novella, dall’Oriente ma anche dall’ambito esemplarepredicatorio in Occidente, sia stata, per la letteratura profana e segnatamente per il Novellino (che, in assenza della supposta o pretesa fonte comune per l’Avventuroso siciliano e per il Decameron, si deve considerare l’archetipo nell’ambito), in qualche modo contaminata col motivo dei »tres baratores«, gli illusionisti Mosè, Gesù e Maometto, motivo di cui mitiga e sdogana la portata dirompente. La disinvoltura non frontalmente polemica, sempre tattica, con la quale l’anonimo del Novellino, come ho illustrato, maneggia la materia di fede, unitamente alla torsione relativistica che per la prima volta con esso viene imposta al tema in Occidente (e altresì il contraffattore è il padre, per la prima volta, di una rivelazione che, illusoria due volte su tre, suggerisce che anche nel terzo caso non si dia poi realtà davvero più solida), dovrebbero far riflettere. Quel che gli studiosi non dico del Novellino (siamo solo una setta) ma del Boccaccio (e sono un’armata, nella quale io sono soldatino) non evocano mai, è che

39 Ivi, pp. 26–28. 40 Ivi, pp. 65–67. 41 Si veda la discussione delle fonti della novella da parte di Conte: ivi, pp. 335 sg. 42 Ivi, pp. 139–141. 43 Ivi, pp. 3–5.

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due presunti indiziati del fantomatico trattato De tribus impostoribus,44 in piena caccia alle streghe controriformistica, Guillaume Postel e Tommaso Campanella, hanno scaricato il peso dell’addebito, per così dire, sopra Boccaccio, ritenuto dal Postel, in lettera al Masius,45 l’ispiratore ideale del De tribus impostoribus in terra calvinista a causa proprio della novella dei tre anelli, mentre Campanella, che lo Struve, all’inizio del Settecento, giudicava accusatore del Boccaccio nello stesso senso per un’errata lettura del finale del secondo capitolo dell’Atheismus triumphatus,46 ha comunque parole, in quest’ultima opera, di condanna per la novella boccacciana,47 che lui collega a una visione della religione come instrumentum regni, come favola non creduta ma da farsi credere, quasi che Melchisedech, diremmo noi, avesse offerto indirettamente ma didatticamente al Saladino uno specchio dei principi. Che poi Campanella parlasse pro domo sua, anche per rivendicare libertà d’espressione in materia di fede, facendo gravare sul potere politico (e soprattutto sui principi protestanti, con procedimento captatorio, ma per colpire di riflesso quelli cattolici) l’accusa di uso della religione solo machiavellico e dunque svuotatore dei contenuti, è altra questione.48 La presenza non solo di Federico (il secondo della dinastia fu oggetto della scomunica della Descendit de mari di Gregorio IX, la quale impose il tema mistificatorio o demistificatorio dei tre baratores nei secoli) ma dei Federici nel Novellino è imponente. Michelangelo Picone ha magistralmente provato come la novella iniziale e quella finale incornicino la raccolta, nel nome culturalmente sincretistico di Federico II e in forma di una translatio studiorum da Oriente a Occi­dente che, come per la novellistica, presuppone una fonte e il suo supera­mento.49 Ma al di là di altre due novelle in cui l’identificazione dell’imperatore nel nonno o

44 Sul quale si veda almeno, per una panoramica generale e per la vasta bibliografia, il recente George Minois: Il libro maledetto. La storia straordinaria del Trattato dei tre profeti impostori. Traduzione di Sara Arena. Milano 2010 (ed. or.: Le traité des trois imposteurs. Paris 2009). 45 Si legge in François Secret: Notes sur Guillaume Postel. La correspondance de Guillaume Postel. In: Bibliothèque d’Humanisme et Renaissance 23 (1961), pp. 524–550, qui p. 537. 46 Su ciò si veda Germana Ernst: Religione, ragione e natura. Ricerche su Tommaso Campanella e il tardo Rinascimento. Milano 1991, p. 110. 47 Tommaso Campanella: L’ateismo trionfato. Overo riconoscimento filosofico della religione universale contra l’antichristianesmo macchiavellesco. Vol. 1: Edizione del testo inedito. A cura di Germana Ernst. Pisa 2004, p. 216. 48 Sulla quale si rimanda di nuovo a Ernst (nota 46), pp. 57–61 e, soprattutto, alle pp. 105–133, che costituiscono il capitolo »Religione naturale e impostura delle religioni. Contro il ›De tribus impostoribus‹«. 49 Picone (nota 20) p. 614.



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nel nipote non è agevole, la serie di quattro novelle, dalla XXI alla XXIV,50 stretta (si badi) tra le due sul Re Giovane (il modello di re cortese-davidico)51 e quella sul Saladino munifico e osservatore sdegnoso del costume occidentale, propone la figura, indubbiamente, del Barbarossa, il che è un unicum nella narrativa breve romanza: sostengo infatti che la gran novella XXI, quella dei negromanti o cosiddetta »del tempo perduto«, vede senza fallo protagonista il primo Federico, poiché il San Bonifacio magicamente trasportato in e dall’Oriente non è Rizzardo, come si continua a ripetere, il quale volse peraltro le spalle al secondo Federico già dopo Cortenuova, bensì l’antenato Bonifacio fieramente ghibellino, che fu potestà nella Verona così familiare, a nostro avviso, al narratore e che morì non per niente ad Antiochia, secondo la scarnissima notizia degli Annales Veronenses,52 in anno, il 1170, in cui sappiamo che ivi fu sisma rovinoso e d’altronde fervevano gli andirivieni di emissari di città lombarde da un lato e del Barbarossa dall’altro, per favorire o per scongiurare l’accettazione, da parte di Manuele Comneno, della corona imperiale che il papa Alessandro prometteva di rimuovere dal capo di Federico I.53 Il contemporaneo e avversario del Saladino è protagonista del resto di una novella, la quarta del ciclo-Barbarossa, la XXIV della raccolta, nella quale (anche ciò è unico), sono le fondamenta di diritto della lotta per le investiture, aneddotizzate nei giuristi Martino e Bolghero, ad essere toccate di striscio, mentre Federico II nella II già citata, in cui l’orafo del Prete Giovanni designa la da Federico incompresa virtù lapidaria di tre pietre preziose riprendendole all’imperatore cui il Prete Giovanni le aveva donate e ripartendo invisibile, è, secondo il compianto Picone,54 il vincitore nel confronto-conflitto di culture, opponendo al magismo materialistico orientale la forza e la dignità spirituale della parola (la più alta virtù è »misura«, sentenzia l’imperatore). Quest’ultima novella, nel finale che abbiamo riassunto vertiginosamente, è stata stimata finora senza precedenti, ma la parentela con la novella dei tre anelli avrebbe dovuto mettere sulla strada gli interpreti. Se la vittoria morale spetta a Federico II, allora gli anelli promettono un bene illusorio quanto l’arte prestidigitatoria dell’orafo: alla »migliore città«, alla »migliore

50 Il Novellino (nota 1), pp. 42–45, 45 sg., 46–48 e 48 sg. 51 Su ciò mi permetto di rimandare a Valter Leonardo Puccetti: Un fantasma letterario. Il Re Giovane del »Novellino«. Bologna 2008. 52 Annales veronenses antiqui. A cura di C. Cipolla. In: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano 29 (1908), pp. 9–81, qui p. 39. 53 Si vedano Werner Ohnsorge: Die Byzanzpolitik Friedrich Barbarossas und der »Landesverrat« Heinrichs des Löwen [1943]. In: Abendland und Byzanz. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der byzantinisch-abendländischen Beziehungen und des Kaisertums. Darmstadt 1958, pp. 456– 491; Ralph-Johannes Lilie: Manuel I. Komnenos und Friedrich I. Barbarossa. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 42 (1992), pp. 157–170. 54 Picone (nota 20), pp. 613 sg.

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provincia« e a »tutto lo ‘mperio« (che in mano dell’orafo lo rende invisibile), che è il valore delle tre pietre nella seconda novella del Novellino, corrisponde la materialità inefficiente dei due anelli legati ai figli minori nella versione moralizzata che i Gesta Romanorum55 offrono della novella delle tre anella. Essi rappresentano la »terram promissionis« (per l’ebreo) e il »thesaurum huius mundi« (per il saracino). La gemma che rende invisibili sarebbe quella che, dentro la logica confessionale, rappresenta l’Invisibile con la maiuscola, in prosecuzione della lettura allegorica proposta nei Gesta Romanorum (»omnia sunt possibilia credenti«), ma in una logica immanentistica è il colmo dell’imbroglio, dell’illusionismo, cui si contrappone la »misura« esaltata dal sovrano agli ambasciatori del Prete Gianni nel Novellino, l’accorta mediazione tra le istanze terrene e la loro controllata sublimazione. Ancora una volta le tre gemme vengono d’Oriente e anche per esse, in questa seconda novella della raccolta, varrebbe il richiamo che Gaston Paris56 fece a quell’aneddoto, raccolto da Jans Enenkel nella Weltchronik, che vedeva in morte il Saladino cercar di conciliare l’anima con le tre religioni tramite l’equanime dono ai tre grandi templi di tre gemme, fatte spezzare da un enorme zaffiro, episodio anch’esso non lusinghiero per il sovrano ayyubita e che sembra, come recisamente non è stato tuttavia affermato, davvero smistatore verso un’origine orientale della parabola e contenere un principio d’indifferentismo religioso che trova accoglienza nella sorniona diplomazia del ghibellineggiante anonimo del Novellino. Ma, anche attraverso la mediazione araba, tanto più nella promiscuità culturale iberica, non si può rimuovere che l’iniziativa culturale del racconto appar­ tiene all’ebreo, che ebraica (come abbiamo visto) è la fonte (il Midrash) della novella successiva nella raccolta, e che è davvero infrequente, in data così alta e in area romanza, una figurazione di esemplarità vincente per un personaggio ebreo, cosa che ad esempio spaventa a morte l’autore dell’Avventuroso siciliano, il quale all’inizio della sua versione della storia mette le mani avanti allegando l’odio universale per i giudei e poi sciupa l’effetto finale precisando che due dei tre anelli non valevano proprio niente.57 L’ipotesi del Paris rimane la più econo­ mica, quella che vede il centro d’irradiazione a monte della tardoquattrocentesca cronaca ebraica dello Schebet58 (malamente contestata da Mario Penna, nel suo

55 Gesta Romanorum. Hg. von Hermann Oesterley. Berlin 1872, pp. 416 sg. 56 Paris (nota 18), pp. 157–158. Paris aveva già offerto l’agnizione dell’ipotesto nel suo aureo libretto sulla fortuna letteraria del Saladino: Gaston Paris: La leggenda del Saladino. A cura di Massimo Gialdroni. Introduzione di Franco Cardini. Roma 1999 (ed. or.: La légende du Saladin. Paris 1893), pp. 44–46. 57 Bosone da Gubbio (nota 3), pp. 201 sg. 58 Paris (nota 18), pp. 136 sgg.



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libro generoso ma avventuroso)59 ma l’integrazione a essa da parte di Américo Castro60 ha guidato sotterraneamente la nostra lettura, e sebbene tale integrazi­ one sia in qualche momento un po’ semplificatrice e stereotipante per l’area di diffusione italiana, essa ha ragione nell’evitare acrobazie genealogiche e ricerche di documenti e di ponti crollati e nel valorizzare piuttosto l’interpretazione di quel che Castro61 definiva »la demeure vitale«, il »mouvement vitale« che per ogni vari­ ante della parabola comportava la zona geostorica di pervasione. Però, è curioso che Castro abbia mancato di applicare la sua taratura esegetica, così impostata, proprio sull’humus di origine, che lui non contesta a Paris. Non mi arrogo compe­ tenze che non detengo, sarebbe auspicabile però che i testi italiani antichi, i quali esprimono questa parabola, in due casi con alta cifra letteraria, fossero sotto­ messi da chi queste competenze le detiene (sto parlando di semitisti e di studiosi della tradizione ebraica) all’analisi di settore che meriterebbero. Per mio conto, anche solo per provocarmi un’opposizione che mi informi e mi illumini, dirò che sulla scorta dell’escatologia, per esempio, di un Neher,62 del progetto Dabar, che mira a dare dignità laica alla teologia e che sembra perciò più consentanea alle molte tolleranze culturali per questo apologo che è diventato (e non lo fu sempre in origine) di tolleranza interreligiosa, gli elementi qualificanti della parabola nello spirito dell’ebraismo sono la morte del padre senza certezza a posteriori di messaggio, con la sola certezza d’amore (la trasmissione dell’anello in segreto). Il padre comunica speranza, non salvezza: la parità delle possibilità, venuto meno il garante, chiusosi anzi nel silenzio, in un silenzio che non è disperante ma onto­ logico (è questa la tonica morte di Dio dell’ebraismo, il tramonto della trascen­ denza immobile, che libera l’uomo e lo interpella, supera l’umanità vegetativa della Genesi e la apre, in un’angoscia che è vitale, all’esperienza suprema del pos­ sibile), fonda quella che Neher, di retro a Elie Wiesel, chiamerebbe un’utopia oriz­ zontale, quella del messianesimo ebraico. Il padre sparisce dall’orizzonte e rende tanto più forte la responsabilità di inveramento nei figli: dal silenzio anfibologico (quale dei tre anelli?) si sprigiona il perpetuum mobile dell’interrogazione su di sé e sulla conformità a un progetto che ancora non esiste. L’anello vero è l’anello che il figlio renderà tale. La salvezza è autonomo prospetto, non deposito chiuso.

59 Mario Penna: La parabola dei tre anelli e la tolleranza nel Medio Evo. Torino 1952. Su esso è necessario citare l’impietosa recensione di Alberto Del Monte, apparsa in: Filologia Romanza 2 (1955), pp. 106–112. 60 Américo Castro: Présence du Saladin dans les littératures romanes. In: Diogène 8 (1954), pp. 2–31. 61 Ivi, p. 11 e p. 15. 62 André Neher: L’esilio della parola. Dal silenzio biblico al silenzio di Auschwitz. Torino 1991 (ed. or.: L’exil de la parole. Du silence biblique au silence d’Auschwitz. Paris 1970).

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 Valter Leonardo Puccetti

Questo, per piegare a noi adesso le parole dell’anonimo del Novellino, è il »riscuo­ tersi« autentico che il giudeo ha imparato e che sfugge alla domanda inerte del Soldano, portandosi via una preda di futuro.

II. Säkularisierung der Ringparabel: Boccaccio und seine Rezeption in der Frühen Neuzeit

Andreas Kablitz

Boccaccios Decameron-Novelle I 3 Wolfgang Harms zum 80. Geburtstag

Die Geschichte, die Lessings Ringparabel zugrunde liegt, gilt seit seinem Ideen­ drama Nathan der Weise als ein Musterbeispiel für Toleranz. Die Weisheit der Haltung, die diese Erzählung schildert, tritt anhand einer Frage hervor, die für die Kulturen der abrahamitischen Religionen zu den zweifellos brisantesten zählt. Denn nichts Geringeres als die Wahrheit der Religion selbst steht auf dem Spiel, genauer gesagt, des Glaubens an den einen Gott. Ist der Monotheismus schon von Natur aus in dieser Frage besonders empfindlich, so muss er es vor allem im Blick auf konkurrierende Ansprüche sein, denen dieselbe Überlieferung als Garant ihrer Wahrheit gilt. Die Koexistenz mehrerer Religionen, die nicht nur allesamt einen einzigen Gott bekennen, sondern sich zudem von demselben Stammvater Abraham herleiten, stellt insofern unweigerlich für ihn eine Provokation dar. Wie der vorliegende Band demonstriert, reflektiert (im doppelten Sinne dieses Wortes) die Geschichte von den drei Ringen seit alters her diese Herausfor­ derung, und ihre verschiedenen Versionen lassen sich keineswegs allesamt als Geschichten der Toleranz lesen. Vermutlich fiel ein toleranter Umgang mit der Konkurrenz von Judentum, Christentum und Islam in der westlichen Kultur erst leichter, ja wurde allererst möglich, als die Frage nach der Religion als solche erheblich an Brisanz eingebüßt hat. Als im Zeichen des Vertrauens in die Ver­ nunft des Menschen als der alleinigen Basis aller Wahrheitsüberzeugung auch der Glaube an den monotheistischen Gott unter den Vorbehalt seiner rationalen Einsichtigkeit geriet, als der vernunftgegründete Zweifel an der Wahrheit der Reli­ gion nicht mehr aus der Welt zu schaffen war, ließ sich auch der Konkurrenz einer Mehrzahl von Religionen, die sich auf die Bibel der Juden beriefen, mit größerer Gelassenheit begegnen. Dass beides zusammengehört, dass die Toleranz gegen­ über dem Andersgläubigen und die rationale Skepsis gegenüber der Wahrheit der Offenbarung gleichen Ursprungs sind, geht nicht zuletzt aus der Begründung des aufklärerischen Toleranzgebots hervor. Bekanntlich hat das siècle des lumières sich diesen Begriff nicht nur auf seine Fahnen geschrieben, sondern als eine seiner herausragenden Errungenschaften gefeiert. »La tolérance […] c’est l’apanage de l’humanité«, hat Voltaire sogar von ihr gesagt. Welches aber sind die konzeptuellen Grundlagen dieser Toleranz? Zugespitzt gefragt: Wie verhält sich ihr humanitärer Gestus zur Wahrheitsfrage? Eine erste Antwort auf diese Frage erhalten wir schon aus der näheren Erläute­ rung, mit der Voltaire sein soeben zitiertes Diktum versieht: »Qu’est-ce que la

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tolérance? c’est l’apanage de l’humanité. Nous sommes tous pétris de faiblesses et d’erreurs; pardonnons-nous réciproquement nos sottises, c’est la première loi de la nature.«1 Keine Übersetzung dieser Zeilen ins Deutsche kann Voltaires doppelsinniger Verwendung des Begriffs humanité ganz gerecht werden; denn das französische Wort bedeutet gleichermaßen ›Menschlichkeit‹ wie ›Mensch­ heit‹. So nimmt sich der abschließende Satz denn auch wie ein Kommentar zu dieser Mehrdeutigkeit aus, besagt er doch nichts anderes, als dass die Mensch­ lichkeit Verpflichtung für die Menschheit bedeutet. Wenn dieses Gebot der Huma­ nität freilich im gleichen Zug als ein Naturgesetz, ja als das erste ihrer Gesetze, bezeichnet wird, so ist die betreffende Behauptung eher seiner Unverzichtbarkeit als einer empirischen Evidenz geschuldet, vermutlich noch mehr seinem Ver­ pflichtungscharakter, der gerade aus seiner mangelnden Evidenz folgt. Wie nicht anders im Fall des Naturrechts, dient die Bezugnahme auf die Natur auch hier zur Sicherung eines Geltungsanspruchs, der auf Setzung gründet. Gerade weil ihr (bloß) thetischer Charakter diesen Anspruch gefährden könnte, beruft sie sich auf die Natur, um einen Eindruck von Selbstverständlichkeit zu erwecken – um Zweckdienlichkeit als Naturgegebenheit auszuweisen und so zu befestigen.2 Maßgeblich für unsere Fragestellung aber ist die Begründung, die Voltaire für das Erfordernis der Toleranz anführt. Sie gilt ihm aufgrund der Fehlbarkeit des Menschen als unentbehrlich. Die Ursachen dieser Irrtumsfähigkeit treten deutli­ cher noch im Tolérance-Artikel der Encyclopédie zutage: La tolérance est en général la vertu de tout être foible, destiné à vivre avec des êtres qui lui ressemblent. L’homme si grand par son intelligence, est en même tems si borné par ses erreurs & par ses passions, qu’on ne sauroit trop lui inspirer pour les autres, cette tolé­ rance & ce support dont il a tant besoin pour lui-même, & sans lesquelles on ne verroit sur la terre que troubles & dissentions. C’est en effet, pour les avoir proscrites, ces douces & con­ci­­­liantes vertus, que tant de siecles ont fait plus ou moins l’opprobre & le malheur des hommes ; & n’esperons pas que sans elles, nous rétablissions jamais parmi nous le repos & la prospérité.3

1 Voltaire: Dictionnaire philosophique, s. v. »Tolérance«, hier zit. n. Œuvres complètes de Voltaire. Bd. 8. Paris 1875, S. 268–272, hier 269. – ›Was ist Toleranz? Sie ist die Grundlage aller Menschlichkeit. Wir sind von Fehlern und Irrtümern durchdrungen. Entschuldigen wir deshalb einander unsere Torheiten. Das ist das erste Gesetz der Natur.‹ – Sämtliche Übersetzungen fremdsprachiger Texte in diesem Beitrag stammen vom Verfasser. 2 Vgl. hierzu des Näheren Andreas Kablitz: La tolérance est l’apanage de l’humanité. Vernunftbegriff und Universalismus im siècle des lumières. In: Im Namen der Aufklärung. Hg. von Otfried Höffe. Tübingen 2011, S. 53–68. 3 Diderot: Art. »Tolérance«. In: Ders.: Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Nouvelle édition. Bd. 23. Genf 1778, S. 591–600, hier S. 591. – ›Die Toleranz ist im Allgemeinen die Tugend eines jeden schwachen Wesens, das dazu bestimmt ist, mit anderen

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Auf den ersten Blick nimmt es sich überraschend aus, wenn die Toleranz als eine Tugend der Schwäche eingeführt wird, sind wir doch eher geneigt, sie als eine Haltung der Stärke, namentlich als Ausdruck von Souveränität zu verstehen.4 Doch dem ist hier mitnichten so. Dem Schwachen steht sie in den zitierten Worten an, und schwach ist der Mensch trotz der eigens hervorgehobenen Größe seines Verstandes, weil er irrtumsfähig ist. Gerade an der für die Aufklärung empfind­ lichsten Stelle, bei der Vernunft des Menschen, um die all ihr Denken wie ihre Sorge kreist, setzt das Lob der Toleranz an, weil es um diese Vernunft womöglich nicht zum Besten steht. Sollten wir in diesem Sinn für die Defizite des Menschen einen letzten, säkularisierten Widerschein einer christlichen Anthropologie ver­ muten, die um die Schwachstellen zumal des gefallenen Menschen nur zu gut wusste und darum dem Adel der imago Dei eine docta ignorantia gegenüber­ stellte, der alle Weisheit Einfalt ist? Die Grundierung aufklärerischer Toleranz besteht jedenfalls in einer skep­ tischen Haltung, und darin kommt jene Skepsis zum Vorschein, die letztlich der Aufklärung selbst eignet. Denn ihren Ursprung hat sie im kartesianischen Zweifel, in einer erkenntnistheoretischen Ungewissheit, die sie, ungeachtet aller

Wesen, die ihm ähneln, zu leben. Der Mensch, der so groß durch seine Intelligenz ist, ist durch seine Irrtümer und Leidenschaften zugleich so beschränkt, dass man ihm gar nicht genug gegenüber den anderen jene Toleranz und jene Nachsicht nahelegen kann, deren er selbst so sehr bedarf und ohne die man auf der Erde nur Wirren und Streit bemerken würde. In der Tat, weil diese milden und befriedenden Tugenden verteufelt wurden, hat man über Jahrhunderte kaum anderes als Schmach und Unglück der Menschen verursacht. Und es besteht keine Hoffnung, dass man ohne diese Tugenden bei uns je Frieden und Wohlstand wird wiederherstellen können.‹ 4 Dass ein solcher Hinweis gleichwohl an dieser Stelle steht, erklärt sich vermutlich aufgrund des sozialhistorischen Hintergrunds, vor dem der Tolérance-Artikel der Encyclopédie zu lesen ist. Denn der das Ancien Régime dominierenden aristokratischen Moral gilt Tugend schlechthin als Stärke. Corneilles Tragödien, die Tragödien eigentlich nur heißen, aber im Namen einer etymologisch verstandenen virtus alle Tragik zu überspielen verstehen, liefern das vielleicht sinnfälligste Anschauungsmaterial für ein solches Bündnis von Tugend und Macht. In dieser ethischen Überzeugung verbindet sich die moralphilosophische Tradition, die in der Stärke des Willens, in der fortitudo, eine unverzichtbare Voraussetzung allen tugendhaften Handelns erkennt, mit einem standesspezifischen Wertekanon. Denn die in ihrem Ursprung kriegerische Grundlage einer Adelskaste, deren soziale Macht wie ihr Prestige auf der Zusicherung von Schutz als Gegenleistung für Gefolgschaft beruht, musste ihre physische Überlegenheit unvermeidlich als letztgültigen Wert erscheinen lassen. Für das Fortleben dieser primären Basis aristokratischer Macht in Gestalt von moralischer Stärke findet sich in der französischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts reichhaltiges Belegmaterial. Und noch in Choderlos de Laclos’ 1782 veröffentlichten Liaisons dangereuses zeigt das hocharistokratische Paar der Marquise de Merteuil und des Vicomte de Valmont seine Bindung an einen solchen Wertekanon, der selbst die libertinistische Wendung der Ethik keinen Abbruch tut, ja in deren Zeichen die Behauptung von überlegener Stärke noch einmal in schier unbegrenzter Entschiedenheit zur Geltung kommt.

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ebenso bezeugten Vernunfteuphorie, im Grunde nie abgelegt hat. Die ihrer selbst gewisse, autonome Vernunft hat ihr Selbstvertrauen letzten Endes um den Preis ihrer Selbstbezüglichkeit erkauft, die in einer tiefen Unsicherheit über ihre Bezie­ hung zu dem, was außerhalb ihrer selbst liegt, zum Ausdruck kommt. Darum griff Descartes auf den allgütigen Gott der Christen zurück, um mit seiner Hilfe die Möglichkeit einer Gegenstandserkenntnis allererst zu begründen. Doch eben diese Begründung ist der Aufklärung suspekt geworden. Auch im Blick auf das, was sich der Obhut der Vernunft zu verdanken scheint, wie die Lebensverhältnisse des Menschen, ja erstaunlicherweise gerade im Hinblick auf sie, gilt es, der Fehlbarkeit der Erkenntnisfähigkeit der Vernunft Rechnung zu tragen. Zumal in Anbetracht kultureller Gegebenheiten empfiehlt der Toleranz-Artikel der Encyclopédie deshalb eine besondere Zurückhaltung des Urteils: Le monde moral est encore plus varié que le physique ; & les esprits se ressemblent moins que les corps. Nous avons, il est vrai, des principes communs sur lesquels on s’accorde assez ; mais ces premiers principes sont en très-petit nombre, les conséquences qui en découlent deviennent toujours moins claires à mesure qu’elles s’en éloignent ; comme ces eaux qui se troublent en s’éloignant de leur source.5

Es ist die Komplexität der Ordnungen des monde moral, die in besonderer Weise Toleranz zu empfehlen scheint, denn Komplexität erweist sich als eine poten­ zielle Quelle von Irrtum. Noch ist der Entstehung unterschiedlicher Lebensfor­ men keine Kontingenz spezifischer historischer Umstände zugestanden. Noch ist die Einsicht in ihre jeweilige Besonderheit an eine Vernunft gebunden, die nicht auf die historistische Unhintergehbarkeit ihrer Eigengesetzlichkeit setzt. Die Möglichkeit der Erkenntnis bleibt vielmehr an die Ordnungen der einen Vernunft gebunden, die sich freilich in immer speziellere Prinzipien verästelt, deren fort­ schreitende Entfernung von den evidenten ersten Grundsätzen der Vernunft das Irrtumsrisiko erhöht.6 Indessen wird an dieser Stelle eine weitere Voraussetzung

5 Diderot (Anm. 3), S. 591 f. – ›Die kulturelle Welt ist noch viel unterschiedlicher als die physische; und in ihrem Verstand ähneln sich Menschen weniger als in ihren Körpern. Wohl trifft es zu, dass wir gemeinsame Prinzipien besitzen, über die man sich leicht verständigen kann. Aber diese Prinzipien gibt es nur in geringer Zahl, und die Folgen, die sich daraus ergeben, werden immer unklarer, je weiter sie sich von diesen Prinzipien entfernen, wie die Gewässer, die sich eintrüben, wenn sie sich von ihrer Quelle entfernen.‹ 6 Mir scheint anhand eines Arguments wie des hier benutzten übrigens deutlich zu werden, dass die mitunter zu findende These, bereits mit der Querelle des Anciens et des Modernes beginne ein historisches Denken, das man traditionellerweise der Wende zum 19. Jahrhundert zuordnet, nicht wirklich überzeugen kann (vgl. zu dieser These die prominente Studie von Hans Robert Jauß: Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes. In:

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des aufklärerischen Toleranzpostulats deutlich, die sich aus seiner Anbindung an die Irrtumsfähigkeit des Menschen ergibt. Wenn die Nachsicht mit anderen Positionen sich deshalb empfiehlt, ja unverzichtbar erscheint, weil die Wahrheit auch der eigenen Überzeugung labil bleibt, dann setzt dies voraus, dass Toleranz gegenüber allem zu üben ist, was sich nach den Prinzipien seiner Vernünftigkeit beurteilen lässt. Wie aber sieht es dann mit der Nachsicht gegenüber demjenigen aus, was sich einer vernünftigen Beurteilung verschließt? Ist die Grundlage aufklärerischer Toleranz indessen eine basal skeptische, so bleibt ihre soziale Leistung, d. h. ihre so deutlich herausgestellte pazifizierende Wirkung der Wahrheitsfrage gleichwohl nachgeordnet. So beredt Voltaire die ver­ heerenden Folgen der Missachtung von Toleranz auch schildert,7 begründet wird deren Erfordernis nicht durch ihren Zweck. Nicht die Vermeidung von Missstän­ den, sondern ihre epistemische Voraussetzung, die Irrtumsfähigkeit des Men­ schen, ist und bleibt ihre Basis. Auf den ersten Blick könnte eine solche kausale

H. R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1970, S. 67–106). Was dieses Denken von den konzeptuellen Mustern, wie sie hier in Anschlag gebracht werden, noch immer unterscheidet, ist die Preisgabe eines, wie komplex auch immer ausfallenden, systematischen Zusammenhangs zwischen unterschiedlichen Kulturen. Aus der Sicht praktischer Schwierigkeiten für die Einsicht in kulturelle Differenz mag es unerheblich erscheinen, ob sie aus einer kategorialen Differenz zwischen rational nicht vermittelbaren Ordnungen resultieren oder auf einer nicht mehr durchschaubaren Komplexität von Vernunftbeziehungen beruhen. Doch die betreffenden Unterschiede des Konzepts haben durchaus Konsequenzen für den Umgang mit kultureller Differenz. Kaum zufällig formiert sich ein militanter Nationalismus dort, wo unterschiedliche Lebensweisen nicht mehr als  – wie opak für einander auch immer ausfallende – Variationen der einen Vernunft betrachtet werden können.  7 »J’ai vu dans les histoires tant d’horribles exemples du fanatisme, depuis les divisions des athanasiens et des ariens jusqu’à l’assassinat de Henri le Grand et au massacre des Cévennes; j’ai vu de mes yeux tant de calamités publiques et particulières causées par cette fureur de parti et par cette rage d’enthousiasme, depuis la tyrannie du jésuite Le Tellier jusqu’à la démence des convulsionnaires et des billets de confession, que je me suis demandé souvent à moi-même: La tolérance serait-elle un aussi grand mal que l’intolérance? et la liberté de conscience est-elle un fléau aussi barbare que les bûchers de l’inquisition?« (Voltaire [Anm. 1], S. 268)  – ›Ich habe in der Geschichte so viele schreckliche Beispiele für Fanatismus gesehen, angefangen bei den Zerwürfnissen der Athanasier und der Arier bis zum Mord an Heinrich dem Großen [sc. dem IV.] und zum Massaker der Cevennen [1703, der Mord an katholischen Frauen und Kindern durch die sogenannten protestantischen Camisards]. Ich habe mit meinen eigenen Augen soviel öffentliches und privates Unglück durch Parteieneifer und Begeisterungswahn gesehen, von der Tyrannei des Jesuiten Le Tellier bis zum Irrsinn der Konvulsionäre [sc. einer französischen Schwärmersekte des 18. Jahrhunderts] und der Beichtzettel [sc. im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Pariser Erzbischof Christophe de Beaumont um die Jahrhundertmitte], dass ich mich häufig gefragt habe: Wäre die Toleranz ein ebenso großes Übel wie die Intoleranz? Und ist die Gewissensfreiheit eine ebenso barbarische Plage wie die Scheiterhaufen der Inquisition?‹

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statt funktionale Begründung der Toleranz für sie selbst und ihren Stellenwert belanglos erscheinen. Doch dem ist nicht so. Dass die daraus erwachsende Ver­ hältnisbestimmung zwischen der sozialen Funktion und der epistemologischen Begründung des Toleranzgebotes durchaus beachtenswerte Konsequenzen besitzt, geht vielmehr schon aus Voltaires eigenen Einlassungen zur tolérance hervor. Die Labilität dieser sozialen Begründung von Toleranz kommt bereits bei ihm in aller Deutlichkeit zum Vorschein, und zwar in seinem erschreckenden Antisemitismus.8 Mag man in dieser verstörenden Polemik auch eine oppor­ tunistisch-strategische Maske einer Attacke vermuten, die in Wahrheit auf das Christentum und seine mächtigste Institution, die römische Kirche,9 zielt, an der Tatsache von Voltaires massiven antisemitischen Einlassungen aber kann es keinen Zweifel geben. Wie aber erklärt sich seine bestürzende Charakteristik des jüdischen Volks angesichts seines eigenen Toleranzpostulats? Eine solche Forde­ rung endet augenscheinlich dort, wo Voltaire selbst Intoleranz vermutet. Denn im gleichen Zug scheint auch alle Konzession an die eigene Irrtumsfähigkeit an ihr Ende zu kommen. Voltaire trägt seine Ansichten über die Juden ausgespro­ chen entschieden, ja nachgerade eifernd vor. Dies fällt um so stärker ins Auge, als er sich auffällig wenig um Evidenz für sein harsches Urteil kümmert, sondern eher klischeehaften pauschalen Vorstellungen anhängt, um nicht zu sagen: Vor­ urteile perpetuiert, die sich christlicher Intoleranz verdanken. Wo also aufkläre­ risches Selbstverständnis betroffen ist, wo der Kampf gegen die Ansprüche einer Offenbarungsreligion angesagt ist, gibt sich eine verbale Gewaltbereitschaft zu erkennen – écrasez l’infâme –, der ein auf das Eingeständnis eigener Irrtumsfä­ higkeit gegründetes Toleranzpostulat augenscheinlich nicht mehr standzuhalten vermag. Hier zeigen sich womöglich nicht zuletzt die Konsequenzen der Natura­ lisierung des Toleranzgebots, das Voltaire zum Naturgesetz erklärt hatte. Die Ver­ wandlung einer moralischen Setzung in eine natürliche Gegebenheit verhindert vermutlich unweigerlich die Anwendung des Toleranzgebots auf dieses selbst.

8 So heißt es im unmittelbaren Anschluss an die soeben zitierten Zeilen in ausgesprochen abstoßenden Formulierungen: »C’est à regret que je parle des Juifs: cette nation est, à bien des égards, la plus détestable qui ait jamais souillé la terre.« (Ebd.)  – ›Mit Bedauern spreche ich von den Juden. In vieler Hinsicht ist diese Nation die verabscheuungswürdigste, die je die Erde beschmutzt hat.‹ 9 Darauf könnte eine Bemerkung wie die folgende deuten: »Voilà des exemples de tolérance chez le peuple le plus intolérant et le plus cruel de toute l’antiquité: nous l’avons imité dans ses fureurs absurdes, et non dans son indulgence.« (Ebd., S. 269) – ›Das sind Beispiele der Toleranz beim intolerantesten und grausamsten Volk des gesamten Altertums. Wir haben es in seinem absurden Eifer nachgeahmt, und nicht in seiner Nachsicht.‹

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Wo mithin die Theoretisierung der Wahrheitsfrage als solcher dessen Grundlage bietet, scheint die Forderung von Toleranz gegen Intoleranz nicht gefeit zu sein. Hier ist denn auch ein Ansatzpunkt für jenen aufklärerischen Rigorismus zu finden, den man unter dem Eindruck ihrer Selbstdarstellung gern übersieht, dessen Existenz wie Brisanz indessen kaum zu bezweifeln ist. Sinnfällig wird er in mancher Inszenierung der Zauberflöte. Gäbe es in der Geschichte, die Mozarts Oper auf die Bühne bringt, nicht in der Tat ein Bündnis von Macht und Wahrheit, ein Politbüro des Glücks10 im Hause Sarastro, in dem der Zweck die Mittel heiligt? Zweifellos ist die Königin der Nacht keine ideale Erzieherin. Aber wird darum der Raub ihrer Tochter legitim? Wo die Aufklärung sich selbst tangiert sieht, trägt der Toleranzgedanke nicht weit. Gründet die von ihr propagierte Toleranz also auf erkenntnistheoretischer Skepsis und mithin auf einer Theoretisierung der Wahrheitsfrage, so gilt letzt­ lich das Umgekehrte für den zweiten Begriff von Toleranz, auf den hier ein Blick geworfen sei. Er wurde in der Scholastik entwickelt und steht insoweit historisch Boccaccios Decameron durchaus näher. Ihren konzeptuellen Kern gibt die Formel der permissio comparativa plastisch zu erkennen. Etwa in der Summa de iure canonico des katalanischen Dominikaners Raimund von Penyafort findet dieser Begriff Verwendung.11 Dieser Begriff besagt, dass man ein Übel dann zu tolerieren hat, wenn die Durchsetzung des Wahrheitsanspruches ein schlimmeres Übel ver­ ursachen würde als das tolerierte. So ist die physische Beseitigung des Häretikers als gravierender denn seine falsche Überzeugung einzuschätzen. Die befriedende Wirkung der Toleranz wird hier nicht von einer Relativierung der Wahrheit her gedacht, sondern von den sozialen Folgen machtgestützter Durchsetzung dieser Wahrheit her. Es lohnt, sich über die verschiedenen konzeptuellen Implikationen des Toleranzkonzepts und ihren je spezifischen historischen Index Rechenschaft

10 Diese Formulierung beschränkt sich übrigens nicht auf ihren rhetorischen Effekt. Sie nimmt vielmehr Bezug auf eine vorzügliche Aufführung der Zauberflöte, die ich zu Beginn der 1990erJahre in der Dresdner Oper sah. Sie war noch in den Zeiten der sich ihrem Ende zuneigenden DDR entstanden und stellte unverkennbare Bezüge zwischen der politischen Führung des kommunistischen Staates und der ebenso machtgestützten wie gewaltbereiten Fürsorge des Glücksgemeinwesenvorstands Sarastro dar. So unhistorisch sich eine solche Parallele auf den ersten Blick ausnehmen mag, die in Mozarts Zauberflöte eher impliziten als ins Zentrum dieser Oper gerückten Kollateralbedingungen von Paminas und Taminos finaler Seligkeit, die sich einer selbstvergessenen Aufklärung verdanken, kommen auf diese Weise durchaus prägnant ans Licht. 11 Vgl. hierzu Gisela Schlüter und Ralf Grötker: Art. »Toleranz«. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.  10. Hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt 1998, Sp. 1251– 1262, hier Sp. 1253, Anm. 9.

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zu geben, um Boccaccios Version der Geschichte von den drei Ringen in einer Rekonstruktion der Rezeption und Verwandlung dieser Erzählung den rechten Ort zuweisen zu können. Die dritte Novelle des ersten Tages aus Giovanni Boccac­ cios Decameron gilt nicht zuletzt als die maßgebliche Quelle für Lessings Nathan der Weise. Sein Theaterstück bietet freilich ein höchst erstaunliches Rezeptions­ dokument der in den hundert Novellen erzählten Version der Geschichte von den drei Ringen. Denn das Konzept, das sie dort narrativ entfaltet, unterläuft, so wird unsere Interpretation zeigen, letztlich jegliche Voraussetzung einer Toleranz­ geschichte.12 Sie lässt sich mit keinem der von uns skizzierten Toleranzbegriffe verrechnen. Denn sie alle setzen ›Geltung‹ voraus. Selbst dort, wo mit der poten­ ziellen Irrtumsfähigkeit als der Begründung von Toleranz operiert wird, bleibt, wie wir sahen, die Wahrheitsfrage relevant. Das Toleranzprinzip ist nur die Kehr­ seite einer sich ihrer selbst ungewissen Wahrheit, die freilich ungewiss auch nur insoweit ist, als sie mit der Möglichkeit ihrer Falsifizierung rechnet, ohne doch einen aktuellen Anlass zu ihrer Selbstrelativierung zu haben. Aber auch hier gilt, dass es ohne Wahrheitsansprüche, so labil sie auch sein mögen, keine Toleranz geben kann. Indessen werden wir beobachten können, dass Boccaccios Novelle

12 Ich scheue mich nicht, die folgende Auseinandersetzung mit Boccaccios Novelle als eine Interpretation dieses Textes zu bezeichnen. Der betreffende Begriff ist bekanntlich schon seit geraumer Zeit aus der Mode gekommen. Aber das besagt im Grunde nicht mehr, als dass er in theoretischer Hinsicht gehörig an Aktualität verloren hat. Denn die maßgeblichen Literatur­ theorien der letzten vier Jahrzehnte haben sich allesamt als hermeneutikskeptisch oder dezidiert antihermeneutisch verstanden. In der Theorie der Literatur ist Susan Sontags pro­grammatischer, vor gut einem halben Jahrhundert erschienener Essay Against Interpretation, dessen Anliegen heute vor allem Hans Ulrich Gumbrecht vertritt, also von zweifellos großem Erfolg gekrönt gewesen. Der letzte literaturtheoretische Ansatz, der sich ausdrücklich auf die Hermeneutik als seine Grundlage berief, hat seine Formulierung selbst vor bald 50 Jahren erfahren. Es ist die sogenannte Rezeptionsästhetik, als deren Gründungsdokument die Konstanzer Antrittsvorlesung von Hans Robert Jauß Was heißt und zu welchem Ende studiert man Literaturgeschichte? aus dem Jahr 1967 gelten kann. Dem theoretischen Erfolg interpretationskritischer Positionen in der Literaturwissenschaft der Gegenwart steht indessen eine Praxis dieser Disziplin gegenüber, für die man mit Fug und Recht (und nach wie vor) Textauslegungen als ihr Hauptgeschäft bezeichnen kann. Selbst die gegenüber aller Hermeneutik kritischsten Positionen versäumen es selten, ihre Theoreme anhand von einzelnen Texten zu illustrieren. Da hilft eine bloß terminologische Korrektur übrigens wenig, um diesen Eindruck einer fortwährenden Unvermeidlichkeit eines hermeneutischen Zugriffs (oder gar dessen Nutzens) zum Verschwinden zu bringen. Auch wenn solche Interpretationen etwa zur Abgrenzung Lektüren genannt werden, sind sie im Kern noch immer das, was zu sein sie leugnen. Denn auch sogenannte Lektüren sind um den Nachweis und die Rekonstruktion nichtevidenter Bedeutung bemüht, und eben dies macht den Kern aller Interpretation aus. Ich habe diese offenkundige Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis der Literaturwissenschaft zum Anlass einer Theorie der Literatur genommen, die genau diesen Hiat zu schließen versucht: Andreas Kablitz: Kunst des Möglichen. Theorie der Literatur. Freiburg im Breisgau 2013.

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des dritten Tages einem Agnostizismus anhängt, der die Wahrheitsskepsis, die dem aufklärerischen Toleranzgebot zugrunde liegt, bei Weitem überschreitet. In seiner Version der Ringparabel wird die Frage nach der Toleranz schlechthin obsolet, weil seine Novelle mehr oder minder alles daransetzt, jegliche Überzeu­ gung, die gegenüber der Toleranz zu üben wäre, zu unterminieren. Schon der Beginn der Rede der Erzählerin dieser Novelle, die Filomena der lieta brigata als dritte Geschichte am ersten Tag vorträgt, gibt diese agnostische Tendenz, wenn auch ausgesprochen verklausuliert, zu erkennen. Unausdrück­ lichkeit aber ist ohnehin der Modus, in dem Boccaccio – hier wie sonst im Decameron – die entscheidenden Informationen seiner Erzählung vergibt:13 La novella da Neifile detta mi ritorna il dubbioso caso già avvenuto ad un giudeo. Per ciò che già e di Dio e della verità della nostra fede è assai bene stato detto, il discendere oggimai agli avvenimenti e agli atti degli uomini non si dovrà disdire; e a narrarvi quella verrò, la quale udita, forse più caute diverrete nelle risposte alle quistioni che fatte vi fossero.14

Erstaunlich an diesen Worten ist, dass die Erzählerin ihre Geschichte im Ver­ gleich mit den zuvor erzählten Novellen als einen Übergang  – in ihrer Formu­ lierung als einen Abstieg (discendere) – zu den Angelegenheiten des Menschen begreift. Denn wo die Wahrheit der Religion zur Debatte steht – und eben dies ist doch das, oder wenigstens ein Thema von Boccaccios dritter Novelle des ersten Tages  –, würde man annehmen, dass die Frage nach ihrem Gott zur Debatte steht. Eine solche Annahme erscheint um so plausibler, wenn man den Inhalt der vorausgehenden Geschichten des Decameron in Rechnung stellt, mit denen Filomena die dritte Novelle des ersten Tages vergleicht. Denn wovon ist ihren Angaben zufolge bislang erzählt worden? – »e di Dio e della verità della nostra fede«, sagt sie. Worauf aber bezieht sich diese Formulierung genau? Wir haben Anlass, davon auszugehen, dass die beiden Kennzeichnungen der bisher vorge­ tragenen Erzählungen – »von Gott und von der Wahrheit unseres Glaubens« –

13 Dieser Modus der Unausdrücklichkeit ist zweifellos nicht zuletzt der Brisanz geschuldet, die in der Botschaft von Boccaccios Text steckt. Indessen werden wir am Ende unserer Interpretation dieser Geschichte zu fragen haben, ob der Rückzug auf die implizite Information nicht zugleich eine Auseinandersetzung mit den Verfahren allegorischer Kodierung des Offenbarungstextes der Schrift beinhaltet. 14 Giovanni Boccaccio: Decameron. Hg. von Vittore Branca. 6. Aufl. Turin 1991, S. 78 f.  – ›Die von Neifile erzählte Geschichte ruft mir die gefährliche Begebenheit in Erinnerung, die einst einem Juden passierte. Weil von Gott und der Wahrheit unseres Glaubens schon so schön erzählt worden ist, mag nun der Abstieg zu den Ereignissen und Handlungen der Menschen nicht unangebracht erscheinen. So will ich euch eine Novelle erzählen, durch die ihr, wenn ihr sie gehört habt, vielleicht vorsichtiger bei der Beantwortung der Fragen werdet, die euch so gestellt werden.‹

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nicht beide zuvor erzählten Geschichten zugleich, sondern jeweils nur eine von ihnen charakterisieren. Ganz deutlich wird dies anhand der zweiten der beiden Erzählungen. In der Tat handelt sie nämlich von der Wahrheit des christlichen Glaubens. Sie berichtet davon, wie ein Christ sich um seinen jüdischen Freund sorgt, weil er der falschen Religion anhängt. Lange widersetzt sich der Jude allen Bemühungen des Chris­ ten, ihn von seinem Glauben abzubringen, bis er eines Tages selbst vorschlägt, sich in Rom ein Bild von der Kirche zu machen und über eine Konversion nachzu­ denken. Höchst beunruhigt erfährt der Christ von diesem Plan, weiß er doch, wie wenig fromm es am Stuhle Petri zugeht. Doch zu seiner großen Freude wie Über­ raschung bekehrt sich der Jude angesichts dessen, was ihm in Rom begegnete. Denn wenn solche Verhältnisse schon mehr als 1000 Jahre herrschen, räsonniert er, dann kann das nur die wahre Religion sein. Schon im klerikersatirischen Effekt dieser Novelle, das sollte man über alle Komik nicht übersehen, wird die Wahr­ heit der Religion von ihrem dogmatischen Inhalt abgelöst. Und zur Versicherung ihrer Rechtgläubigkeit muss eine Langlebigkeit herhalten, die sich gerade gegen ihre Lehre durchsetzt. Denn erst die Diskrepanz zwischen institutio­neller Praxis und dogmatischer Lehre stellt die Voraussetzungen ihrer Plausibilität her. Die transzendente Garantie schrumpft also auf einen paradoxen Effekt zusammen. Der Glaube bedarf seiner Missachtung, um glaubwürdig zu werden. Und nur dieses pragmatische Paradoxon, und nicht etwa das Dogma, an dem es sich ent­ zündet, lässt einen – wie ernst auch immer zu nehmenden – Rest an Plausibilität für diesen Glauben zurück. Die erste Geschichte des ersten Tages handelt stattdessen von einem Erzböse­ wicht, dem kaum ein Laster fremd ist, von einer veritablen figura diaboli mithin. Als das Ende seiner Tage naht, muss er befürchten, aufgrund seines Lebens­ wandels kein kirchliches Begräbnis zu erhalten. Doch weil er seinen Gastgebern Scherereien ersparen möchte, legt er eine getürkte Beichte ab, mit deren Hilfe er den nicht sonderlich schlauen Beichtvater übers Ohr zu hauen versteht und den Eindruck zu erwecken vermag, er sei der Inbegriff aller Tugend. Der Geistli­ che muss es mit seinem Beichtgeheimnis so genau nicht genommen haben, denn bald verbreitet sich die Kunde von dem heiligmäßigen Mann, sodass sich sein Grab zu einer Pilgerstätte entwickelt. Es wird sogar berichtet, dass an diesem Grab Wunder geschehen. In der Tat also handelt diese Novelle, wie Filomena rückblickend resümiert, von Gott. Die Interpreten, die diese Geschichte in die Nähe des nominalistischen Gnadengottes der Spätscholastik rücken, haben zweifellos nicht Unrecht. Denn hier wird die radikale Freiheit eines voluntaristischen Gottes, der in absoluter Ungebundenheit über das Heil der Menschen verfügt, in aller drastischen Kon­ sequenz vorgeführt. Und doch macht dieser Rekurs auf das spätscholastische

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Gottesbild der Franziskaner nur die Hälfte der Sache aus. Denn alles, was wir in der Novelle wissen, ist, dass man sagt, dass am Grab des einstigen Übeltäters Wunder geschehen. Das theologische Konzept des nominalistischen Gottes und ein Gerücht werden zu gleichwahrscheinlichen Erklärungen dessen, was sich am Ende der Geschichte zuträgt. Wäre die Sache mit Gott, diese Frage scheint der Ausgang dieser Erzählung zu suggerieren, am Ende also selbst nur ein Gerücht? Dass der Gott der Christen in dieser Novelle ins Spiel kommt, ist also alles andere als gewiss. Gleichwohl behauptet Filomena, sie handle von Gott, di Dio, obwohl wir keineswegs ausschließen können, dass sie allein von den Menschen erzählt. Nicht anders steht es um die zweite Novelle. Wenn Filomena ihr beschei­ nigt, dass sie die Wahrheit der christlichen Religion zum Thema habe, dann trifft dies allein in einem pragmatischen Sinn zu. Nur weil die offiziellen Vertreter des christlichen Glaubens sich so wenig an ihre eigenen Gebote halten, bekehrt sich der Jude zu dieser Variante der Buchreligionen. Die Überzeugung von der Wahr­ heit des Christentums beruht hier auf nicht mehr als einer paradoxen Plausibi­ lität für dessen faktischen Bestand angesichts seiner permanenten Nichtbeach­ tung. Der christliche Gott aber wird dabei zu einer bloßen Präsupposition des Widersinnigen. Diese Konsequenz stellt übrigens eine höchst bemerkenswerte Variante des wohlbekannten Prinzips credo quia absurdum dar. Denn die zum Glauben bekeh­ rende Absurdität beruht nicht auf einem Gott und einem göttlichen Handeln, die sich aller Rationalität entziehen. Sie besteht vielmehr in einem höchst irdischen Phänomen, im Gegensatz zwischen dem Bestand und der Praxis einer Institu­ tion, die sich seit mehr als 1000 Jahren erhalten hat, obwohl sie eigentlich alles tut, um sich zu diskreditieren. Transzendente Wahrheit ist nicht mehr als nur noch ein Lückenbüßer für irdische Plausibilitätsdefizite. Mit Fug und Recht könnte Filomena daher ebenso gut sagen, dass die ersten beiden Novellen des Decameron von den Angelegenheiten der Menschen handeln, während die von ihr erzählte Novelle die Wahrheit des Glaubens zum Thema habe. Die zu Beginn ihrer Rede getroffene Unterscheidung zwischen dem Charakter der verschiedenen Geschichten läuft also letztlich ins Leere. Aber gerade darin, dass der dabei gemachte Unterschied sich zugleich selbst aufhebt, steckt die eigentliche Botschaft dieser Unterscheidung. Sie selbst ist obsolet. Die Sache mit Gott ist von den Angelegenheiten der Menschen letztlich nicht zu unterscheiden. Denn es steht zu befürchten, dass auch sie nur eine Angelegen­ heit der Menschen ist – selbst wenn man nicht ganz ausschließen kann, dass da womöglich ein absconditus am Werk ist. Doch täten die Menschen, wenn es ihn denn doch geben sollte, gut daran, mit ihm nicht allzu sehr zu rechnen. Denn ein verborgener Gott, hat Hans Blumenberg einmal gesagt, ist so gut wie ein toter Gott.

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Eine doppelte Strategie setzt die Geschichte von der Ringparabel in Boccac­ cios Decameron ein, um die Antwort auf die Frage nach der Wahrheit der Reli­ gion agnostisch zu unterlaufen: eine pragmatische und eine symbolische. Prag­ matisch wird diese Frage marginalisiert, indem nicht sie selbst, sondern nur der geschickte Umgang mit ihr, ja das ingeniöse Ausweichen vor einer Antwort auf sie den zentralen Inhalt der Erzählung ausmacht. Symbolisch aber wird die Frage nach der Wahrheit der Religionen unterlaufen, indem die Parabel, die der Jude erzählt, um die ihm gestellte Fangfrage zu umschiffen, genau besehen voll ver­ steckter und ziemlich maliziöser Angriffe auf den dogmatischen Kern des Chris­ tentums ist. Wie aber schaut die im Decameron erzählte Variante der Serie von Ringpa­ rabel-Geschichten genau aus? Il Saladino, Sultan von Ägypten und Syrien im 12. Jahrhundert, gerät durch einen unabsehbaren und nicht weiter spezifizierten Vorfall, accidente genannt, in Geldnot. Der Umstand selbst bleibt im Dunkeln. Er scheint als solcher wesentlicher denn sein spezifischer Charakter zu sein. Und indem er so unspezifisch bleibt, gewinnt er etwas Typisches. Es ist einer von den erwartbaren Vorfällen, die beständig alle Erwartungen stören. In seiner Not kommt dem Saladino der reiche Jude Melchisedech, der ihn aus seiner misslichen Lage befreien könnte, in den Sinn. Doch der ist notorisch geizig und wird deshalb aus freien Stücken kaum behilflich sein wollen. Weil Saladin ihn aber nicht durch Gewalt zur Unterstützung zwingen will, sucht er einen Ausweg. Zur Bezeichnung dieses Auswegs benutzt Boccaccio eine zutiefst ingeniöse, ebenso charmante wie tiefgründige Formulierung. Er spricht von einer »forza da alcuna ragion colorata«,15 einer Form von Gewalt, die einen Anschein von Vernünftigkeit besitzt. Charmant ist dieser Ausdruck, weil er in liebenswür­ diger Weise die Hinterlist des Saladino zu erkennen gibt. Tiefgründig aber ist sie, weil sie einen ersten Durchblick auf die Stellung der Ratio in der Welt, in der diese Geschichte spielt, erlaubt. Nicht mehr als ein Kolorit, als einen Anschein kann die Vernunft bieten. Sie ist Stratagem, aber nicht mehr. Vernunft dient Interessen. Scheinheilig also tritt der Saladino an Melchisedech heran, lobt seine Weis­ heit und will von ihm erfahren, welches der drei Gesetze – das jüdische, saraze­ nische oder christliche – er für das wahre halte: »quale delle tre leggi tu reputi la verace«.16 Den Schein der ragione besitzt das Herantreten an den reichen Juden also darin, dass der Saladino dessen Weisheit lobt und dadurch seinen Wunsch plausibel zu machen vermag, bei Melchisedech Aufschluss über eine ihn ratlos machende Frage gewinnen zu können. Seine vorgebliche Interesselosigkeit

15 Boccaccio (Anm. 14), S. 80. 16 Ebd.

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be­schränkt sich also auf das scheinbar ausschließliche Interesse, aus seiner Rat­ losigkeit befreit werden zu können. Der Jude ist freilich schlau genug zu erken­ nen, dass Saladin ihm eine Falle stellt. Denn wie immer er antworten würde, er säße in der Tinte. Denn erklärte er das Judentum zur (einzig) wahren Religion, dann würde er seinen Herrscher erzürnen und beleidigen und hätte wohl mit dem Schlimmsten zu rechnen. Sollte er aber dem Islam den Vorzug geben, würde er als Jude jede Glaubwürdigkeit verlieren. Bezeichnenderweise ist es vor allem die Alternative von Juden und Mohammedanern, die für diese Fangfrage eine beson­ dere Brisanz besitzt, weil die beiden dabei involvierten Personen einer dieser Religionen anhängen. Das Christentum scheint ein Stück weit außerhalb dieser Kontroverse zu stehen, wiewohl der Saladino alle drei Buchreligionen ausdrück­ lich genannt hatte. Und so trügt der Schein denn auch. Die Beschränkung des Personals dieser Geschichte auf einen Juden und einen Moslem ist nichts als die Maske der Zentralität des Christentums. Denn seine Wahrheit ist es vor allem, die im Kontext dieser Geschichte und ihres Publikums interessiert. Und nicht zuletzt die Einzelheiten der allegorischen Geschichte, eben der Ringparabel, die Melchise­dech erzählt, um sich aus seiner Falle zu befreien, wird belegen, dass seine Erzählung um das Christentum und um keine andere Religion so sehr wie um diese kreist. In der Tat versteht es der gewitzte Wucherer, auf diese Weise seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ein großer und reicher Mann nahm aus seinem gut bestückten Schatz einen wertvollen Ring und verfügte, dass derjenige seiner Söhne, bei dem man diesen Ring nach seinem Tode finden werde, sich als seinen Erben betrachten solle. So hielten es auch seine Nachfolger, bis einer kam, der seine drei Söhne in gleichem Maß liebte und sich darum nicht zu entscheiden wusste, wen unter ihnen er zu seinem Erben bestimmen sollte. So ließ er zwei weitere Ringe gleichen Ausse­ hens herstellen, die dank der Kunst des Goldschmieds von dem originalen Exem­ plar nicht zu unterscheiden waren. Als der Vater starb, glaubten folglich alle drei Söhne nicht ohne Grund, legitimerweise sein Erbe antreten zu können. Und genau so, sagt der einfallsreiche Jude, verhält es sich auch mit den drei Religio­ nen, den drei leggi. Die drei Völker, die ihnen anhängen, glauben alle, das wahre Gesetz zu befolgen. Ob es aber so sei, stehe bis auf den heutigen Tag dahin. Überwältigt vom Geschick des Juden im Umgang mit der ihm gestellten Falle, gesteht der sarazenische Herrscher seine Absichten, die er bei Melchise­ dech mit dieser Frage verfolgte. Auch dieser ist von so viel Aufrichtigkeit seiner­ seits entzückt und öffnet unerwartet seine Schatulle ohne alle Zurückhaltung. Damit erwirbt er sich zugleich die dauerhafte Freundschaft und Wertschätzung Saladins, der sich wiederum mit großen Gaben erkenntlich zeigt. Am Ende der Geschichte scheint die zeitweilig ein wenig aus den Fugen geratene Welt also wieder rundherum in Ordnung zu sein.

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In zweierlei Hinsicht, so hatte ich gesagt, wird die Wahrheit der Religion in dieser Novelle unterminiert, symbolisch und pragmatisch. Beginnen wir mit Ers­ terem. Auch hier ist eine Unterscheidung angebracht. Von symbolischem Belang ist die Ringparabel natürlich und vor allem im Hinblick auf die in ihrer Ausle­ gung ausdrücklich gemachte Beziehung zu den drei Buchreligionen. Doch diese allegorische Beziehung wird ihrerseits bestimmt durch eine Reihe von implizi­ ten symbolischen Bezügen zwischen der Ringparabel und dem pragmatischen Kontext, in dem sie erzählt wird. Eine der signifikantesten und zugleich boshaf­ testen Relationen zwischen diesen beiden Ebenen der Novelle betrifft den Namen des Juden, den Saladin zur Bereitstellung seiner üppigen Reichtümer bewegen möchte. Denn er heißt Melchisedech. Dieser Name ist bekanntlich besetzt. Er ver­ bindet sich unweigerlich mit jener prominenten Gestalt aus dem 14. Kapitel der Genesis, die auch den Christen als das Modell aller Priester gilt. Warum aber trägt in unserer Novelle ein Jude diesen Namen, für den auch nicht der Hauch eines Zweifels daran gelassen wird, auf welchem prekären Weg er zu seinen gewalti­ gen Schätzen gekommen ist? Denn der Mann betreibt das Geschäft eines Wuche­ rers: »prestava a usura in Alessandria«.17 Seine ziemlich zweifelhafte Profession scheint zumindest auf den ersten Blick aber auch gar nichts mit dem ehrwürdigen Amt eines Priesters zu tun zu haben. Was also verbindet den geldgierigen Alexan­ driner mit seinem alttestamentarischen Namensvetter? Eine Antwort auf diese Frage ergibt sich womöglich aus der symbolischen Beziehung dieses Wucherers zu jenem Mann, der in der Geschichte von den drei Ringen am Anfang der Filiation etlicher Generationen von Nachfolgern steht und den ursprünglichen Ring erstmals verleiht. Denn auch er ist ein ausgesprochen reicher Mann, der über gewaltige Schätze verfügt, denen er auch den kostbaren Ring entnimmt. Sein Reichtum ist es, der vor allem, wo nicht ausschließlich, seine Identität bestimmt: »grande uomo e ricco fu già«. Denn auch seine Größe wird nicht anders bestimmt als eben vermittels seines Reichtums. Sind die gewaltigen Schätze in der Ringparabel also das symbolische Kapital, aus dem die Religion stammt, dann ist ein Rollenwechsel vom Priester zum Wucherer durchaus konse­ quent. Nun werden diejenigen, die großen Reichtum verwalten und entschlossen zu mehren trachten, zum Sachwalter eines Schatzes, der das Kapital der Reli­ gion ausmacht. Welche latente Invektive in dieser maliziösen Umbesetzung auch gegen die Institution der Kirche und ihren schon in der vorausgehenden Novelle karikierten Hang zu irdischen, allzu irdischen Gütern steckt, sei nicht weiter ver­ folgt. Die symbolische Wandlung des Melchisedech vom Priester zum Wucherer aber folgt durchaus schlüssig aus der ihrerseits symbolischen Charakteristik der

17 Ebd.

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Religion als eines auf Reichtum gestützten Instruments transzendenter Macht. Und ist nicht schon im Neuen Testament Gott derjenige der liebste, der das meiste aus dem ihm überlassenen Kapital macht? So jedenfalls verhält es sich im Gleichnis von den Talenten, das sowohl Matthäus (25,14–30) wie auch Lukas (19,12–27) berichtet. Vor allem in der Version des Matthäusevangeliums begegnen wir dabei den Zwillingsbrüdern der Wuche­ rer. Denn ihnen, so weist der Herr seinen untätigen Knecht bei seiner Rückkehr zurecht, hätte er das ihm überlassene Talent geben sollen, um es zu mehren: »oportuit ergo te mittere pecuniam meam nummulariis et veniens ego recepissem utique quod meum est cum usura«.18 Bei den Wechslern also wäre das Kapital am besten aufgehoben gewesen, und dem Wucherer Melchisedech sehen sie nicht zuletzt durch die Zinsen, die sie für geliehenes Geld geben, ziemlich ähnlich. Denn »cum usura«, sagt der Herr, hätte er sein Geld zurückerhalten können. »Prestava a usura« aber heißt es von Melchisedech. Im impliziten Verweis auf das Neue Testament, den man in den Kommentaren zum Decameron vergeblich suchen wird, also bestätigt sich unsere Deutung von Melchisedechs bemerkens­ wertem Berufswechsel vom Hohenpriester zum Wucherer, den schon die sym­ bolische Logik von Boccaccios Novelle nahegelegt hatte. Boccaccios Version der Geschichte von den drei Ringen macht gewissermaßen wörtlichen Ernst mit dem metaphorischen Herrn des Gleichnisses von den drei Talenten, und macht aus dieser figura Dei der biblischen Parabel einen Gott, dessen Identität durch seinen materiellen Reichtum – einem symbolischen Äquivalent seiner Macht – definiert zu werden scheint. Diese doppelte symbolische Transposition der Bibel in die Novelle Boccac­ cios führt uns zu einem weiteren Aspekt seiner Version der Ringparabel, die glei­ chermaßen eine durchaus brisante Besonderheit dieser Fassung der Geschichte darstellt. Denn der große und reiche Mann nimmt dort zwar nicht irgendeinen, aber auch keineswegs den einzig denkbaren Ring in die Hand: Se io non erro, io mi ricordo aver molte volte udito dire che un grande uomo e ricco fu già, il quale intra l’altre gioie più care che nel suo tesoro avesse, era uno anello bellissimo e prezioso; al quale per lo suo valore e per la sua bellezza volendo fare onore, e in perpe­ tuo lasciarlo ne’ suoi discendenti, ordinò che colui de’ suoi figliuoli appo il quale, sì come

18 Mt 25,27; zit. n. Biblia sacra iuxta vulgatam versionem. Hg. von Robert Weber. 2 Bde. 2. Aufl. Stuttgart 1975, S. 1566.  – ›Den Wechslern musstest du mein Geld geben, und so hätte ich bei meiner Rückkehr mit Zinsen zurückerhalten, was mir gehört.‹ – Auch bei Lukas kommt dieselbe Schelte des erfolglosen Knechts vor, nur fehlt hier die Personalisierung auf die Wechsler, vielmehr ist abstrakter von der Bank die Rede (Lk 19,23): »et quare non dedisti pecuniam meam ad mensam« (ebd., S. 1645). – ›Und warum hast du mein Geld nicht zur Bank gebracht?‹

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lasciatogli da lui, fosse questo anello trovato, che colui s’intendesse essere il suo erede, e dovesse da tutti gli altri essere, come maggiore, onorato e reverito.19

Dieser Wahl des Rings aus einer Auswahl möglicher anderer kommt im Blick auf die symbolische Bedeutung der Ringparabel eine herausragende Rolle zu. Im Grunde nämlich ist schon dadurch die Frage nach der Wahrheit des Rings relativiert und einer anderweitigen Bedeutung seiner Kostbarkeit der Weg berei­ tet. Denn es gibt keinerlei Auswahlkriterium, das die Wahl genau dieses Rings plausibel zu machen vermöchte. Er ist zweifellos einer von den wertvollsten Bestandteilen des Schatzes, aber eben auch nur einer von mehreren, die diesen Status besitzen: »intra l’altre gioie più care« – unter den anderen besonders wert­ vollen Juwelen des Schatzes. Von Anfang an, und nicht erst durch die späteren Fälschungen – dies scheint mir für die Interpretation von Boccaccios Version der Ringparabel kapital zu sein – ist der Ring einer unter anderen. Wo die Wahrheit des einen Gottes zur Debatte steht, müsste er indessen einzigartig sein. Die Kon­ kurrenz dieses Siegels der Wahrheit mit anderen ist ihm von Anfang an einge­ schrieben. Die in diesem Umstand steckende Umbesetzung der symbolischen Bedeu­ tung des Rings von der Wahrheit zu einer anderen Funktion zeigt sich bereits daran, dass er schon in den zuletzt zitierten Sätzen gleich in mehrfacher Per­ spektive zu einer Begründung von Prestige führt. Denn derjenige, der ihn bei sich findet, hat das Recht, von den anderen Brüdern Ehrerbietung, ja Verehrung ein­ zufordern. Und all dies geschieht kurioserweise, damit dem Ring selbst um seines Wertes und seiner Schönheit willen – also den Eigenschaften, die er mit anderen Schätzen teilt –, die ihm gebührende Verehrung zuteil wird: »al quale per lo suo valore e la sua bellezza volendo fare onore«. Die Leistung des Rings also besteht in der durch ihn bewirkten Herstellung von Distinktion. Kurz gesagt: Der quasi zu einem Fetisch werdende Ring zielt auf den Rang, er zielt auf Macht, aber nicht auf Wahrheit. Diese Umbesetzung von der Wahrheit zur Macht geht übrigens nicht zuletzt aus einem Zitat hervor, auf das die Kommentare des Decameron nicht hinwei­ sen, das mir indessen so deutlich auf einen Passus aus dem sechsten Gesang des

19 Boccaccio (Anm. 14), S. 81.  – ›Wenn ich mich nicht irre, erinnere ich mich oft gehört zu haben, dass es einen großen und reichen Mann gab, der unter den anderen besonders teuren Juwelen, die zu seinem Schatz gehörten, einen wunderschönen und kostbaren Ring hatte: Weil er diesem Ring wegen seines Wertes und seiner Schönheit Ehre bereiten und ihn auf ewig seinen Nachfolgern überlassen wollte, befahl er, dass derjenige seiner Söhne, bei dem, als von ihm überlassen, dieser Ring gefunden werde, sich als seinen Erben betrachten und von allen anderen als der Höhere geehrt und verehrt werden solle.‹

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Paradiso aus der Göttlichen Komödie aufmerksam zu machen scheint, dass es mir schwerfällt, diesen Bezug nicht für die Interpretation von Boccaccios Novelle in Rechnung zu stellen. Die betreffenden Verse finden sich bei Dante ziemlich zu Anfang von Justinians Rom-Rede, in der er die Geschichte des Imperiums erzählt. Diese Geschichte vollzieht sich in seiner Rede im Zeichen des Adlers, in welchem Symbol sich das Feldzeichen des römischen Heers mit einer figura Christi ver­ bindet.20 Vor allem dieser symbolträchtige Adler betreibt die christliche Reinter­ pretation der Geschichte des Imperiums von seinen Anfängen an. Von der Hand eines Imperators zur Hand des Nachfolgers aber wechselt er, um auf diese Weise dauerhafte Herrschaft zu begründen: […] e sotto l’ombra de le sacre penne governò ’l mondo lì di mano in mano, e, sì cangiando, in su la mia pervenne.21

Die Sukzession der Nachfolger des reichen Mannes und seines Sohnes schildert Boccaccios Novelle mit folgenden Worten: E colui al quale da costui fu lasciato [l’anello], tenne simigliante ordine ne’ suoi discen­ denti, e così fece come fatto avea il suo predecessore: e in brieve andò questo anello di mano in mano a molti successori; e ultimamente pervenne alle mani ad uno, il quale avea tre figliuoli belli e virtuosi, e molto al padre loro obedienti; per la qual cosa tutti e tre pari­ mente gli amava.22

Die Ähnlichkeit der Formulierungen scheint mir zu frappant zu sein, um nicht als Zitat zu wirken. Denn Dantes Worte »di mano in mano, e, sì cangiando, in su la mia pervenne« entsprechen sehr genau denjenigen Boccaccios: »andò questo anello di mano in mano a molti successori; e ultimamente pervenne alle mani«

20 Vgl. hierzu des Näheren Andreas Kablitz: Das Ende des Sacrum Imperium. Verwandlungen der Repräsentation von Geschichte zwischen Dante und Petrarca. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neu­ansätze. Hg. von Walter Haug. Tübingen 1999, S. 499– 549. 21 Dante Alighieri: Divina Commedia, Paradiso VI 7 ff.; zit. n. ders.: La Commedia secondo l’antica vulgata. Hg. von Giorgio Petrocchi. Bd. 4: Paradiso. Mailand 1967, S. 84. – ›[…] und im Schatten seiner heiligen Flügel regierte er dort die Welt, von einer Hand in die andere wandernd, und durch diesen Wechsel gelangte er auch in die meine.‹ 22 Boccaccio (Anm. 14), S. 81. – ›Derjenige, dem der Ring überlassen wurde, hielt es ebenso bei seinen Nachfahren und machte es ebenso, wie es sein Vorgänger gemacht hatte: und in kurzer Zeit wanderte dieser Ring von Hand zu Hand zu vielen Nachfolgern; und zuletzt kam er in die Hände von einem, der drei schöne und tugendhafte Söhne hatte, die ihrem Vater sehr gehorsam waren. Deshalb liebte er sie alle gleich.‹

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usw. So tritt der Ring unserer Novelle in die Funktion des Adlers aus Justinians Rom-Rede ein und begründet mithin eine Sukzession der Herrschaft. Dass hier in der Tat Fragen der Macht zur Debatte stehen, zeigen die soeben zitierten Sätze sehr subtil durch eine weitere Information an. Der Vater, der die zwei falschen Ringe anfertigen lassen wird, liebt seine Söhne alle gleich. Er scheint dafür allen Anlass zu haben, denn sie sind schön und tugendhaft. Und welcher Vater würde sich solche Söhne nicht wünschen und ihnen deshalb seine besondere Liebe schenken? Doch diese erwartbaren Ursachen seiner väterlichen Zuneigung spielen bezeichnenderweise zur Erklärung der Liebe dieses Vaters gar keine Rolle. Sie erscheinen gewissermaßen als ein blindes, aber gerade darum signifikantes Motiv. Denn die väterliche Zuneigung genießen seine Söhne, weil sie so folgsam sind. Aus diesem ziemlich narzisstischen Grund liebt er sie nicht nur, sondern er liebt sie alle gleich, weil sie, so dürfen wir daraus folgern, alle­ samt gleichermaßen folgsam sind. Auch Liebe gründet also auf Anerkennung von Macht. Dem Besitzer des Rings, der die Nachfolge seines ursprünglichen Eigentü­ mers innehat, scheint der Respekt seines Rangs das Wichtigste zu sein. Sollte das nicht auch zum Porträt eines Jahwe gehören, der eifersüchtig über die Anerken­ nung seiner Macht als der Herrschaft des einzigen Gottes wacht? Il valente uomo, che parimente tutti gli amava, né sapeva esso medesimo eleggere a qual più tosto lasciar lo [l’anello] volesse, pensò, avendolo a ciascun promesso, di volergli tutti e tre sodisfare: e segretamente ad uno buono maestro ne fece fare due altri, li quali sì furono simiglianti al primiero, che esso medesimo che fatti gli avea fare appena sapeva qual si fosse il vero.23

Es gehört noch einmal zu den Subtilitäten dieser Novelle, dass sie letztlich offen­ lässt, ob der Vater nicht doch noch immer weiß, welcher der richtige Ring war und sich damit womöglich gezwungen sah, dem einen seiner drei Söhne einen gewis­ sen Vorzug zu geben. Denn es heißt nicht, dass er sie nicht mehr unterscheiden konnte. Vielmehr wird gesagt, dass er sie kaum unterscheiden konnte: appena. In der Fassung der Geschichte der drei Ringe aus dem Novellino weiß er es, hier womöglich nicht. Geriete die Täuschung also am Ende zur Selbsttäuschung? Doch wie immer es darum bestellt sein mag, die Wahrheitsfrage stellt sich für den Ring interessanterweise erst in dem Moment, als es Fälschungen gibt. Bis dahin ist dieser anello einzig ein Instrument der Macht. Zugespitzt formuliert: Die Frage nach der

23 Ebd., S. 81 f. – ›Der potente Mann, der sie alle in gleicher Weise liebte und selbst nicht in der Lage war zu wählen, wem er ihn [den Ring] am liebsten überlassen wollte, dachte darüber nach, weil er ihn jedem von ihnen versprochen hatte, wie er alle drei zufriedenstellen könnte. So ließ er heimlich von einem guten Meister zwei weitere Ringe anfertigen, die dem ersten so ähnlich waren, dass selbst der, der sie hatte anfertigen lassen, kaum noch wusste, welches der wahre Ring war.‹

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Wahrheit des Rings ist erst ein Effekt seiner Fälschung. Nur wenn er zuvor nichts anderes als ein Dispositiv der Macht war, macht im Übrigen auch seine Fälschung überhaupt Sinn. Denn Macht lässt sich teilen, nicht aber Wahrheit. Dieser Umstand spielt nicht zuletzt dort eine Rolle, wo der gewitzte Jude die Geschichte von den Ringen zur Ringparabel macht, indem er sie nutzt, um sich Saladins Fangfrage zu entziehen und das Verhältnis der drei Religionen ingeniös zueinander zu bestimmen: E così vi dico, signor mio, delle tre leggi alli tre popoli date da Dio Padre, delle quali la quistion proponeste: ciascuno la sua eredità, la sua vera legge, e i suoi comandamenti dirittamente si crede avere a fare; ma chi se l’abbia, come degli anelli, ancora ne pende la quistione.24

Der pragmatische Witz des Juden, der durch seinen Einfallsreichtum seine Haut zu retten vermag, geht einher mit einem vermutlich noch weit größeren herme­ neutischen Witz, den er dabei an den Tag legt. Denn das eigentlich Raffinierte an dieser Allegorese der Ringparabel besteht darin, dass die ausdrücklich behauptete Äquivalenz der drei Ringe und der drei Religionen um den Preis einer ex­tremen Selektion im exegetischen Umgang mit der zuvor erzählten Geschichte erkauft ist. Auf diese Weise aber bringt diese Interpretation, genau besehen, weit mehr die folgenreichen Diskrepanzen als die Übereinstimmungen der Phäno­ mene zum Ausdruck, die sie symbolisch einander zuordnet. Alles hängt an der Identifikation Gottvaters im Personal der Ringparabel. Die Logik der monotheistischen Buchreligionen würde es zweifellos verlangen, dass der als erster genannte große und reiche Mann – »grande uomo e ricco« – dessen Rolle einnimmt. Doch dem ist in Melchisedechs Deutung mitnichten so. Dio Padre ist vielmehr erst der Vater der drei Söhne, zwischen denen er sich nicht für einen als seinen Nachfolger entscheiden kann, weil sie ihn alle gleich lieben. Was aber machen wir dann mit seinen Vorfahren? Wer immer sie sein mögen, die Geschichte von dem einen und einzigen Gott ist mit ihnen dahin. Der Jahwe des Alten Testaments wird vielmehr zum Glied einer Kette von Machthabern, die Reli­ gion als ein Instrument der Weitergabe von Macht nutzen. Sind diese Machthaber ihrerseits Götter? Da es sich um eine genealogische Filiation handelt, liegt die Annahme einer genealogia deorum nahe. Doch der Gottvater mit den drei Söhnen reicht den Ring Menschen weiter, seinen Geschöpfen, sollten wir insofern sagen. Damit ist ein weiteres zentrales Dogma des Christentums zur Disposition gestellt:

24 Ebd., S. 84. – ›Und so steht es, sage ich euch, mein Herr, um die drei Gesetze, die von Gott Vater den drei Völkern gegeben wurden und über die ihr mich befragtet: jeder glaubt, sein Erbe versehen, sein wahres Gesetz befolgen zu sollen und das Recht zur Erfüllung seiner Gebote zu haben.‹

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der Unterschied zwischen der Zeugung des Sohnes und der Erschaffung der Men­schen. Und gewissermaßen als Gipfel aller Provokationen der Orthodoxie erscheint der Dio Padre der Christen nun als ein Fälscher, der legitimen Machtbe­ sitz durch Sukzession von Usurpation ununterscheidbar macht. Ironischerweise wird auf diese Weise gerade der monotheistische Gott zu einem Verursacher der Proliferation der Religionen. Übrigens gibt Melchisedechs Allegorese der Ringparabel dadurch noch eine weitere Diskrepanz zwischen dieser Geschichte und ihrem Interpretament zu erkennen – eine Inkompatibilität, die im Grunde die Tradition ihrer überkomme­ nen Deutung insgesamt infrage stellt. Denn wie heißt es genau von den drei Völkern und ihrem Umgang mit den Religionen? »[…] ciascuno la sua eredità, la sua vera legge, e i suoi comandamenti dirittamente si crede avere a fare«. Jedes Volk glaubt, Gottes Erbe anzutreten und sein wahres Gesetz zu erfüllen sowie rechtmäßig seine Gebote zu befolgen zu haben. Jedes Volk glaubt also, nicht etwa im Besitz der Wahr­ heit zu sein, sondern rechtmäßig zur Befolgung seiner Gebote berufen zu sein. Es ist ein Wettstreit um die Folgsamkeit der Völker gegenüber ihrem Vater, von denen jedes glaubt, allein zu solchem Gehorsam bestimmt zu sein. Und damit setzen die Völker jenes Verhalten fort, das die drei Söhne, zwischen denen der entzückte Vater sich nicht entscheiden konnte, an den Tag legten. Es geht um die Berechtigung zur Ehrerbietigkeit. Der Ring verleiht nun nicht mehr Souveränität, sondern ein Anrecht auf Botmäßigkeit. Konsequenterweise erscheint der monotheistische Gott denn auch als der Letzte, der den Ring weitergibt. Dass die drei Völker den Ring ihrerseits weitergeben, scheint gar nicht vorgesehen zu sein. Warum aber lässt Boccaccios Melchisedech jedes Volk nicht glauben, dass es Gottes Gesetz, sondern Gottes wahres Gesetz zu erfüllen habe – »la sua vera legge«? Paradoxer-, aber höchst absichtsvollerweise macht dieser Anspruch auf das wahre Gesetz nur Sinn, wenn die drei Gesetze sich voneinander erkennbar unterscheiden. Wenn es also von den Ringen, die die drei Religionen repräsentie­ ren, heißt, sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, kann sich diese Behauptung nicht auf ihre in der Tat ja recht verschiedenen Glaubensinhalte und Verhaltens­ regeln beziehen. So ähnlich sind sich die drei Ringe durchaus nicht. Gleichen können sie sich einzig und allein in ihrem Anspruch, die wahre Religion in Kon­ kurrenz zu anderen falschen zu sein. Nur der Anspruch auf die wahre Religion, eine Geste der Macht, macht sie ununterscheidbar. Doch aus diesem Anspruch ist mit dem Gottvater der Buchreligionen nur noch das Postulat eines exklusiven Anrechts auf Gehorsam geworden. Aber weil dieser Anspruch sich auch auf nicht mehr als auf sich selbst berufen kann, läuft er zugleich ins Leere. In ihrer symbolischen Dimension erweist sich Boccaccios Version der Ringpa­ rabel als eine radikale, ja in ihrer Radikalität stupende Infragestellung zentraler Dogmen des Monotheismus und im Besonderen seiner christlichen Variante. Die

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dabei propagierte Äquivalenz der drei Buchreligionen hat in Boccaccios Novelle ihren letzten Grund deshalb in der Demonstration ihrer metaphysischen Grundlo­ sigkeit. Solchermaßen führt diese Novelle die symbolische und die pragmatische Dimension der Ringparabel zusammen. Ihre Allegorese dient der Unterminierung elementarer Glaubensinhalte, und ebenso sieht ihre Funktion für das Geschehen der Novelle von der Wahrheitsfrage ab. So gehört es auch zu den Strategien der Subvertierung, die diese Novelle zutiefst prägen, dass sich Boccaccio zu diesem Zweck genau desjenigen Modus der Rede bedient, der im Text der Offenbarung gerade als Instrument ihrer Bekräftigung dient, nämlich der Allegorie. Doch von der zunächst latenten und durch Christi Heilstat lesbar werdenden Wahrheit des Uneigentlichen wandelt sich die versteckte Information zum Vehikel der Infrage­ stellung des Dogmas. In der Tiefe ihrer verborgenen Bedeutung entbirgt sich nun nicht mehr die besonders kostbare Wahrheit. Uneigentliche Rede ist vielmehr eine Maske ihrer metaphysischen Grundlosigkeit. Einzig der soziale Belang der Religion spielt noch eine Rolle und könnte den armen Melchisedech in arge Bedrängnis bringen. Auch in pragmatischer Hinsicht wiederholt sich der Befund, den wir auf der symbolischen Ebene beobachten konnten: Die Sache mit der Religion ist nichts anderes als Material für die Spiele der Macht. Insofern handelt diese Novelle in der Tat, wie die Erzählerin eingangs ebenso erstaunlich wie weitblickend gesagt hatte, von den Menschen – und nur von ihnen. Zur Pragmatik der Novelle aber zählt auch die merkwürdige Wirkung, die der gelungene Befreiungsschlag Melchisedechs auslöst. Wie gesehen, gesteht Saladin seine wahren Absichten, und der geizige Jude wird mit einem Mal freigiebig – eine Großzügigkeit, die sich freilich lohnt, denn sie wird ihrerseits mit üppigen mate­ riellen Gaben und dem symbolischen Kapital eines ehrenvollen Stands vergolten werden. Wie aber kommt es zu dieser unerwarteten Kehrtwende, die ein geradezu märchenhaftes Glück herstellt? Vielleicht steckt die Lösung dieses Rätsels in einem Detail, das, wie so oft bei Boccaccio, zunächst nicht irgendeinen zum Verständnis der Novelle relevanten Informationswert zu besitzen scheint. Über Saladino erfah­ ren wir in seinem kurzen Porträt am Beginn dieser Novelle den Grund, der seinen valore ausmacht. »Il valore del qual fu tanto che non solamente di piccolo uomo il fé di Babilonia soldano, ma ancora molte vittorie sopra li re saracini e cristiani gli fece avere.«25 »Valore« ist so etwas wie ein Schlüsselbegriff der Novelle. Er bezeichnet den Wert einer Person nicht anders denn als materiellen Wert. So hat nicht nur der

25 Ebd., S. 79. – ›Sein Wert war so groß, dass er durch ihn nicht nur, aus kleinen Verhältnissen stammend, zum Sultan von Babylon wurde, sondern Saladin auch viele Siege über sarazenische wie christliche Könige erringen ließ.‹

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Sarazenenherrscher valore, sondern ebenso hat der Ring valore, den der reiche Mann seinem Sohn zu dessen Auszeichnung zukommen lässt und der von Gene­ ration zu Generation weitergereicht wird. Als »valente uomo« spricht Saladino Melchisedech an, als er heuchlerisch dessen Weisheit lobt, und auch der Vater, der den Ring fälschen lässt, ist ein »valente uomo«. Valore und valente sind also verhältnismäßig unspezifische Bezeichnungen eines Wertes, der auf Macht, Kost­ barkeit oder Leistung beruhen kann. Zwei Leistungen sind es nun, die den Wert des Saladin begründen. Er ist ein erfolgreicher Kriegsherr, wobei für sein diesbezügliches Prestige übrigens Siege über seine Glaubensbrüder ebenso nützlich wie solche über Christen sind. Valore aber hat er sich auch durch seinen Lebensweg erworben. Denn er kommt aus kleinen Verhältnissen (»di piccolo uomo«, heißt es, sei er aufgestiegen) und doch hat er es zum Herrscher über Babylon gebracht. Diese Karriere und dieses Modell des Machtgewinns aber sind das genaue Gegenbild jener Abfolge von Generationen in der Ringparabel, in der Macht weitergegeben wird. Geschenk­ ter Macht wird Machterwerb durch Leistung gegenübergestellt. Es ist der Charme einer solch eigenen, unerwarteten Leistung, der auch am Ende der Novelle seine ebenso unerwartete wie gewaltige Wirkung entfaltet. Wenn irgendetwas in dieser Geschichte moralisch Ordnung schafft, Mitmenschlichkeit hervorbringt und die allgegenwärtigen Spiele der Macht ein Stück weit suspendiert, dann ist das nicht Religion, sondern der überwältigende Charme eines unverhofft sich einstellen­ den valore, der auf eigener Leistung gründet. Übrigens ist Boccaccios Novelle mitnichten so naiv, dass sie nicht um die Risiken selbstproduzierten Erfolgs wüsste. Denn in Geldnot gerät der Sultan gerade, weil er ein so erfolgreicher Feldherr ist: »avendo in diverse guerre e in grandissime sue magnificenze speso tutto il suo tesoro e, per alcuno accidente sopravenutogli, bisognandogli una buona quantità di denari«.26 Wer sich zur Produktion von Erfolg exponiert, im Krieg wie durch Pracht­ entfaltung, ist besonders krisenanfällig. Und doch bleibt die Demonstration von valore alternativlos in dieser Welt. Sie und nur sie scheint – wenigstens für einen Moment – diese ziemlich prekäre Welt in Ordnung zu bringen. Wäre auch diese Zurschaustellung des valore als Grundgesetz der Welt ein Säkularisat der Macht des Gottes, um dessen Wahrheit es in dieser Novelle nicht zum Besten steht? Den Inbegriff einer Toleranzgeschichte hat Lessings Nathan der Weise mit seiner Ringparabel auf die Bühne gebracht. Genau besehen bietet seine Vorlage,

26 Ebd., S. 79 f. – ›[…] weil er in verschiedenen Kriegen und mit großem Prunk seinen ganzen Schatz ausgegeben hatte und, wegen eines unerwarteten Vorkomm­nisses, einen Batzen Geld brauchte.‹

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die Novelle Boccaccios, dafür freilich kaum eine Handhabe. Im Grunde erscheint sie sehr viel radikaler im Umgang mit dem Dogma als ihre aufklärerische Adap­ tation, ja von einer Radikalität zu sein, die jede Frage nach dem Erfordernis von Toleranz ad absurdum führt, weil nichts übrig bleibt, gegenüber dem Toleranz zu üben wäre. Toleranz, so haben unsere Überlegungen am Eingang dieses Artikels zu erkennen gegeben, beruht stets auf einer Zuordnung von Wahrheitsanspruch und Vernunft. Im Namen der Vernunft empfiehlt sich der Respekt vor konkurrie­ renden Geltungsansprüchen, weil alle Wahrheitspostulate der Irrtumsfähigkeit des Menschen unterliegen. Und schon die permissio comparativa der Scholas­ tik unterzog die Wahrheit einem rationalen Abgleich von Schaden und Nutzen einer Durchsetzung ihrer Geltung. Doch weder für das eine noch für das andere bleibt in der Welt des Decameron Raum. Denn Geltung ist in dieser Welt keine epistemische, sondern im Grunde (nur) eine soziale Kategorie. Das Sagen hat, wer sich auf valore  – in seinen durchaus unterschiedlichen Erscheinungsfor­ men  – stützen kann. Valore stiftet zeitweilige, ausgesprochen labile Ordnung, aber diese Ordnung hat nicht irgendeinen epistemischen Index. Die Reduktion des biblischen Gottes auf den Gott der Macht, dem auch alle Wahrheitsprätentio­ nen zu nichts anderem als dem Management seiner Macht dienen, betreibt neben ihrem religionskritischen Impetus im Grunde eine Analyse der Verhältnisse der irdischen Welt. Denn die aus dem Dogma insgeheim entlassene Welt ist ja keine sonderlich idyllische. Ihr winken nicht die Segnungen einer Vernunft, die, nimmt man sie nur ernst genug, das Glück der Menschen schon bescheren wird. Ragione kommt als Maske der Interessen, aber nicht als ordnungsstiftende Instanz vor. Regiert wird diese Welt durch valore. Und valore lässt sich einzig durch valore begegnen. Somit fehlt in der Welt des Decameron im Grunde alles, was der Tole­ ranz zu irgendeinem Belang verhelfen könnte.

Linus Möllenbrink

Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung? Michel Beheims Lied Nr. 294

1 Einleitung Das Lied Nr. 2941 des Michel Beheim (1420–1472/79)2 trägt in der weitgehend auto­ grafen Handschrift A, Heidelberg Cpg 312, fol. 199rv den Titel: Ein beispel von einem kung, der het drei son. daz get uff got den vater und uff die drei glǎben: cristen, jüden, heiden.3 Erstaunlicherweise blieb das Lied Nr. 294, in dem die Parabel von den drei Ringen bearbeitet ist, in der Forschung beinahe unbeachtet.4 Obwohl schon Bert

1 Im Folgenden unter der Sigle »B 294« zit. n. Die Gedichte des Michel Beheim. Nach der Heidelberger Hs. cpg 334 unter Heranziehung der Heidelberger Hs. cpg 312 und der Münchener Hs. cgm 291 sowie sämtlicher Teilhandschriften. Bd.  2: Gedichte Nr. 148–357. Hg. von Hans Gille und Ingeborg Spriewald. Berlin 1970 (Deutsche Texte des Mittelalters 64), S. 536–540. Das Gedicht ist im Anhang vollständig abgedruckt. 2 Vgl. Frieder Schanze: Meisterliche Liedkunst zwischen Heinrich von Mügeln und Hans Sachs. Bd.  1: Untersuchungen. München, Zürich 1983, S. 183–190; andere Lebensdaten gibt Ulrich Müller an: Art. »Beheim, Michel«. In: Verfasserlexikon 1 (1978), Sp. 672–680. Zur Biografie umfassend auch Friederike Niemeyer: »Ich, Michel Pehn.« Zum Kunst- und Rollenverständnis des meisterlichen Berufsdichters Michel Beheim. Frankfurt am Main u. a. 2001 (Mikrokosmos 59), S. 21–74, mit einem Überblick über die biografische Forschung auf S. 21–24. 3 Das Lied Nr. 294 ist in drei Handschriften überliefert, von denen zwei (A und C) autograf sind und die dritte vom Dichter durchkorrigiert wurde, vgl. Ulrich Müller: Exemplarische Überlieferung und Edition. Mehrfachfassungen in authentischen Lyrik-Handschriften  – zum Beispiel bei Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim. In: editio 6 (1992), S. 112–122, hier S. 114 und S. 118. Zur Beheim-Überlieferung auch Schanze (Anm. 2), S. 191–205. Die beiden Heidelberger Handschriften sind digital verfügbar unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg312/0433 (Hs. A) und http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg334/0607 (Hs. C) [Zugriff: 30.09.2016]. Vgl. auch Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hg. von Horst Brunner u. a. Bd. 3: Katalog der Texte. Älterer Teil A–F. Bearb. von Frieder Schanze und Burghart Wachinger. Tübingen 1986, S. 136 (1Beh/294a–c); zu den Heidelberger Hss. Matthias Miller und Karin Zimmermann: Die Codices Palatini germanici in der Universitätsbibliothek Heidelberg (Cod. Pal. germ. 304–495). Wiesbaden 2007 (Kataloge der Universitätsbibliothek Heidelberg 8), S. 43–46 und 113–117. 4 Eine eingehende Untersuchung liegt nicht vor und auch in den monografischen Werken, die sich mit Beheim beschäftigen, findet das Lied keine Erwähnung. Vgl. William McDonald: »Whose bread i eat«. The song-poetry of Michel Beheim. Göppingen 1981 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 318); Manfred Günther Scholz: Zum Verhältnis von Mäzen, Autor und Publikum

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 Linus Möllenbrink

Nagel 1952 darauf hinwies, dass hier »die Parabel von drei Ringen abgefaßt ist«5, wurde das Lied im Rahmen der Beschäftigung mit der Ringparabel kaum berück­ sichtigt.6 Die Frühneuzeitforschung hat sich weitgehend auf die beiden wichtigsten Versionen der Erzählung konzentriert: Gesucht wird entweder nach Zeugnissen der Rezeption von Boccaccios Decameron7 oder nach Vorläufern von Lessings Nathan der Weise.8 In meiner Studie möchte ich zum einen Beheims Text vorstellen und ihn zum anderen im Kontext der Ringparabel-Tradition würdigen. Neben den Gesta Romanorum, Beheims mutmaßlicher Quelle, handelt es sich um das einzige bekannte deutschsprachige Zeugnis des sogenannten apologetischen Zweiges der

im 14. und 15. Jahrhundert. Wilhelm von Österreich – Rappoltsteiner Parzifal – Michel Beheim. Darmstadt 1987; Niemeyer (Anm. 2); Schanze (Anm. 2). 5 Bert Nagel: Der deutsche Meistersang. Poetische Technik, musikalische Form und Sprach­ gestaltung der Meistersinger. Heidelberg 1952, S. 54. Daran anschließend Christoph Petzsch: Michel Beheims reimreiche ›sleht gülden Weise‹. In: Die Musikforschung 20 (1967), S. 44–55, hier S. 47, Anm. 22. In Burghart Wachingers Untersuchung zu den Prosaquellen Beheims findet sich erst in der ergänzten Neufassung ein Hinweis auf die Tradition, vgl. Burghart Wachinger: Michel Beheim. Prosabuchquelle – Liedvortrag – Buchüberlieferung. In: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978. Hg. von Volker Honemann u. a. Tübingen 1979, S. 37–75 [wieder in: Ders.: Lieder und Liederbücher. Gesammelte Aufsätze zur mittelhochdeutschen Lyrik. Berlin u. a. 2011, S. 363–394, zu Lied Nr. 294 siehe S. 383]. 6 Die Übersichtsdarstellungen Hinrich Huddes etwa kennen es nicht, vgl. Hinrich Hudde: Art. »Ringe, die drei Ringe«. In: Enzyklopädie des Märchens 11 (2004), Sp. 696–699; ders.: »Der echte Ring vermutlich ging verloren«. Die ältesten Fassungen der Ringparabel: Überblick, Über­legungen, Deutungen. In: Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag. Hg. von dems. und Udo Schöning in Verbindung mit Friedrich Wolfzettel. Heidelberg 1997 (Studia Romanica 87), S. 95–110. 7 So Sonja Zöller: Abraham und Melchisedech in Deutschland oder: Von Religionsgesprächen, Unbelehrbarkeit und Toleranz. Zur Rezeption der beiden Juden aus Giovanni Boccaccios Decamerone in der deutschen Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Aschkenas 7 (1997), S. 303–339; dies.: Die Ringparabel des Hans Sachs. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 136 (2007), S. 29–47; Claudia Bolsinger: Das Decameron in Deutschland. Wege der Literaturrezeption im 15. und 16. Jahrhundert. Frankfurt am Main u. a. 1998 (Europäische Hochschulschriften 1/1687), zu Dec. I 3 vgl. S. 69–72. Luisa Rubini Messerli: Boccaccio deutsch. Die Dekameron-Rezeption in der deutschen Literatur (15.–17. Jahrhundert). Amsterdam u. a. 2012 (Chloe 45) geht nicht auf Dec. I 3 ein. Eine kurze Erwähnung findet Beheim bei Linus Möllenbrink: Bearbeitungen der Ringnovelle (Dekameron I 3). In: Boccaccio in Deutschland. Spuren seines Lebens und Werks 1313–2013. Katalog zur Ausstellung im Goethe-Museum Düsseldorf, 5. Mai bis 18. August 2013. Hg. von Achim Aurnhammer, Nikolaus Henkel und Mario Zanucchi. Heidelberg 2013, S. 95–97. 8 Vgl. etwa Winfried Woesler: Zur Ringparabel in Lessings Nathan. Die Herkunft der Motive. In: Wirkendes Wort 43 (1993), S. 557–568.



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Ringparabel-Überlieferung.9 Ein Vergleich soll die formalen und inhaltlichen Tendenzen der vorliegenden Bearbeitung umreißen. Von besonderem Interesse ist die Frage nach der Toleranz im Lied Nr. 294.

2 Die apologetische Ringparabel-Tradition Mit Hinrich Hudde unterscheidet man zwei Stränge der Ringparabel-Tradition, den ›apologetischen‹ und den ›toleranten‹ Zweig.10 Eindeutig bietet Beheims Lied eine Variation der apologetischen Version. Der Erzählteil in den Strophen 1 bis 3 enthält alle dafür charakteristischen Elemente: Der Vater bevorzugt einen Sohn, der den echten Ring erhält. Nach dem Tod des Vaters ist der echte Ring anhand seiner Zauberkräfte zu erkennen.11 In einer Auslegung, hier in den Strophen 4 und 5, wird der echte Ring als Symbol für das Christentum gedeutet. Formal erfüllt Beheims Version damit alle Merkmale des apologetischen Zweiges. Es stellt sich für das Verständnis des Gedichts jedoch auch die Frage nach dem Verhältnis von Toleranz und Apologese, aber auch danach, inwieweit ›Apologese‹ und ›Toleranz‹ überhaupt adäquate Kategorien sind, um die verschiedenen Überlieferungs­ zweige zu charakterisieren. Obwohl der apologetische Zweig der Überlieferung die ältesten Textzeugen aufweist, gilt die tolerante Version als ursprüngliche Erzählfassung.12 Neben Beheims Text sind überhaupt nur vier apologetische Bearbeitungen bekannt: drei (zunächst) lateinische Exempelfassungen sowie eine altfranzösische Spruch­ erzählung.13 Die älteste Version befindet sich in der vor 1260 entstandenen Exem­ pelsammlung Étiennes de Bourbon (um 1180/90 – um 1260), dem Tractatus de

9 Ein anonymes Meisterlied aus dem Jahr 1605 wurde von seinem Herausgeber Theodor Hampe für eine »Verschmelzung der beiden Hauptversionen« gehalten, vgl. Theodor Hampe: Zwei Parabeln von Meistersingern. In: Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893), S. 102–110, Zitat S. 106. Tatsächlich handelt es sich wohl lediglich um eine unsaubere Bearbeitung der ›toleranten‹ Version. Vgl. auch meine knappen Anmerkungen dazu in: Ein gleichnus eines Juden der Religion. Handschrift von 1605. In: Aurnhammer/Henkel/Zanucchi (Anm. 7), S. 98 f. 10 Vgl. Hudde: Ringe (Anm. 6) und ders.: Ringparabel (Anm. 6); daran anschließend Zöller: Ringparabel (Anm. 7), S. 29–31. Schon Hampe unterschied zwei Gruppen der Erzählung, vgl. Hampe (Anm. 9), S. 104. Woesler differenziert eine ›tolerante‹ von einer ›intoleranten‹ oder ›christlichen‹ Version, wobei das entscheidende Merkmal letzterer sei, dass ein Christ als Parabelerzähler fungiere, vgl. Woesler (Anm. 8), S. 559. 11 Hier ist nur von »zaichen [›Wundern‹] / krafft, tugend, sterk« (V. 125 f.) des Rings die Rede. 12 Vgl. Hudde: Ringe (Anm. 6), Sp. 698. 13 Vgl. Hudde: Ringparabel (Anm. 6), S. 96. Hudde kennt Beheims Lied, wie gesagt, nicht.

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diversis materiis praedicabilibus.14 Die Geschichte wird dort als »exemplum ad fidei vere probacionem« bezeichnet. Hier wird von Töchtern unbestimmter Anzahl erzählt und das Exempel auf häretische Glaubensrichtungen bezogen.15 Das Beispiel Étiennes macht deutlich, in welchem Kontext die Ringparabel zunächst zu fassen ist. Sie ist im klerikalen Milieu überliefert und dient der Ver­ wendung in Predigten.16 Étienne, der dem Dominikanerorden, dem ordo prae­ dicatorum, angehörte, setzte sich als Prediger und Inquisitor in Südfrankreich gegen Waldenser und Albigenser ein.17 Der Titel seiner Exempelsammlung macht die Predigtintention deutlich.18 Die Ringparabel-Erzählung des Engländers John Bromyard (14. Jahrhundert), Dominikaner wie Étienne und Autor zahlreicher Pre­ digten, gehört ebenfalls in diesen Kontext. Seine Summa praedicatorum umfasst neben der Ringparabel etwa 1200 weitere Exempla und gilt als »homilet[ische] Enzyklopädie«19. Auch die Gesta Romanorum20 entstammen diesem Milieu. Es handelt sich um eine auf Latein und in verschiedenen Volkssprachen außer­ ordentlich breit überlieferte Erzählsammlung mit unfestem Korpus. Die Gesta entstanden wohl im 14. Jahrhundert in franziskanisch-minoritischen Kreisen.21

14 Anecdotes historiques, légendes et apologues tirés du recueil inédit d’Étienne de Bourbon, dominicain du XIIIe siècle. Hg. von A. Lecoy de la Marche. Paris 1877 (Publications de la Sociéte de l’Histoire de France 185), Nr. 331, S. 281 f. 15 Die Abweichung bei Étienne weist darauf hin, dass auch er schon eine Vorlage bearbeitete, vgl. Hudde: Ringparabel (Anm. 6), S. 97. 16 Zu Exempla in mittelalterlichen Predigten vgl. Michael Menzel: Predigt und Geschichte. Historische Exempel in der geistlichen Rhetorik des Mittelalters. Köln u. a. 1998 (Archiv für Kulturgeschichte. Beihefte 45); zum Tractatus de diversis materiis praedicabilibus bes. S. 188– 194. Auf die klerikale Prägung der apologetischen Ringparabel-Tradition weist schon Hudde hin, vgl. ders.: Ringparabel (Anm. 6), S. 96. 17 Vgl. Christoph Daxelmüller: Art. »Stephanus de Bellavilla«. In: Lexikon des Mittelalters 8 (1997), Sp. 128 f. 18 Das Werk gilt als »H[and]b[uch] für Prediger« (ebd., Sp. 128). 19 Fritz Wagner: Art. »Johannes von Bromyard«. In: Lexikon des Mittelalters 5 (1991), Sp. 558. Die Ringparabel steht in der Summa praedicatorum als Exempel für Fides in Kapitel F IIII, im Druck Nürnberg: Anton Koberger, 29. Juni 1485 befindet sie sich auf fol. 144vab. Das Digitalisat des Exemplars der Universitätsbibliothek Tübingen ist online verfügbar unter http://idb.ub.unituebingen.de/diglit/Gb660_fol/0294 [Zugriff: 30.09.2016]. 20 Im Folgenden zitiert als »GO«, zit. n. Gesta Romanorum. Hg. von Hermann Oesterley. Berlin 1872 (Ndr. Hildesheim 1963). Die deutschen Gesta Romanorum werden unter der Sigle »GK« zit. n. Gesta Romanorum. Das ist der Rœmer Tat. Hg. von Adelbert Keller. Quedlinburg und Leipzig 1841 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit 23). 21 Vgl. Udo Gerdes: Art. »Gesta Romanorum«. In: Verfasserlexikon 3 (1981), Sp. 25–34; außer­dem Menzel (Anm. 16), S. 216. Zur Überlieferung außerdem Brigitte Weiske: Gesta Romanorum. Bd. 1: Untersuchungen zu Konzeption und Überlieferung. Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 3).



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Obwohl mit dem anonymen Dis dou vrai aniel (1270–1294)22 schon rund 150 Jahre vor Beheim eine lyrische Bearbeitung in der Volkssprache vorlag, scheint die apo­ logetische Ringparabel-Tradition eng mit der Predigtliteratur verbunden. Wie Boccaccios Decameron waren auch die Gesta Romanorum Vorlage für viele spätere Texte. Noch Lessing besaß nachweislich ein Exemplar und benutzte es bei der Konzeption seines Nathan.23 Beheim bearbeitete in mindestens einem weiteren Lied eine Erzählung aus den Gesta, wo er sie sogar ausnahmsweise als Quelle angibt.24 Vor allem in zwei Exempeln der Sammlung wird die Geschichte von den drei Ringen erzählt.25 Die erste Erzählung trägt in der lateinischen Version den Titel De triplici statu mundi (GO, Nr. 89, S. 416 f.). Darin bekommt einer der Söhne eines »miles« (416,31) den echten Ring, während die anderen beiden die Erbschaft (»hereditatem«, 416,32) bzw. das Vermögen (»thesaurum«, ebd.) und je eine unechte Kopie erhalten. Der echte Ring zeigt seine »virtus« (417,3), indem er Kranke heilt. Die Allegorese richtet der Erzähler im Tenor eines Predigers, wie in den Gesta üblich, an die als »Carissimi« (417,12) apostrophierten Rezipienten: Der Vater sei Jesus Christus, die Söhne Christen, Juden und Heiden (»Sarace­ nos« [417,13], also Muslime). Die Juden erhalten das gelobte Land, die Muslime den Reichtum. Die Christen haben den Glauben, der viele Krankheiten der Seele

22 Li dis dou vrai aniel. Die Parabel von dem ächten Ringe. Französische Dichtung des dreizehnten Jahrhunderts, aus einer Pariser Handschrift. Hg. von Adolf Tobler. 3. Aufl. Leipzig 1912. 23 Vgl. den Kommentar in der Ausgabe Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 9: Werke 1778–1780. Hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt am Main 1993, S. 1151 f. und 1268. Vor allem die Zutat der »geheime[n] Kraft« des Ringes, »vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn trug« (V. 399–401), findet sich nicht bei Boccaccio und ist wohl von den Gesta inspiriert. Die Stelle scheint sich jedoch nicht, wie die Herausgeber Bohnen und Schilson vermuten, auf die Erzählung De triplici statu mundi zu beziehen, sondern auf die Geschichte von König Darius (GO, Nr. 120; s. u. Anm. 25). Die Beschreibung des Rings weist hier die größten Parallelen zu Lessing auf: »Annulus illam virtutem habuit, quod qui ipsum in digito gestabat, graciam omnium habuit« (466,24 f.) 24 In Lied Nr. 286 heißt es: »Uns sagt gesta romonorum« (V. 1), vgl. Wachinger 2011 (Anm. 5), S. 383. Sonst weist Beheim nie auf die Quelle seiner Bearbeitung hin, vgl. ebd., S. 386. 25 Zwei weitere Exempla, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, stehen der Tradition nahe. Es handelt sich zum einen um die Erzählungen mit dem Titel De mulierum subtili decepcione (GO, Nr. 120, S. 466–470) bzw. Von Jonatha, der drew chlainat het (GK, Kap. 38, S. 52– 54). Hier vermacht ein König seinen zwei älteren Söhnen jeweils festes Erbe bzw. fahrendes Gut, dem jüngsten aber einen Ring, der die Gunst der Menschen erringt, eine Spange, die Wünsche erfüllt, und ein Tuch, das einen an jeden Ort bringt, an den man sich wünscht. Die zweite Erzählung (GO, Nr. 196, S. 608–610; GK, Kap. 37, S. 50–52, Von eynem chůnig der drey svͤn hiet) berichtet von einem Zauberbaum, um den es nach dem Tod eines Königs zum Streit unter dessen Söhnen kommt.

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heilen kann. Auch in der deutschen Überlieferung findet sich das Exempel. In der Münchener Handschrift (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 54), die der Ausgabe Adelbert Kellers zugrunde liegt, trägt sie die Überschrift Von einer gewonhait (Kap. 8). Anstatt nach dem Tod des Vaters eine Probe zu unternehmen, argumen­ tiert der jüngste Sohn hier, aus Gründen der Gerechtigkeit müsse er den echten Ring bekommen haben. Die Auslegung gleicht zunächst der lateinischen Version. Doch statt die Kraft des Rings als Kraft des Glaubens zu deuten, wird ein anderes implizites Deutungsangebot der Geschichte genutzt. Der Ring sei der Ehering, durch den sich Christus mit der Christenheit vermählt habe:26 Wann er die christenheit im selben hat gemæhelt Als er spricht mit dem weissagen: Desponsabo te mihi in fide. ich mæhel dich mir in dem gelauben vnd darvmb tedt Ysayas von der christenhait: Tumquam sponsam decorant me coronâ. Als ein praut hat er mich gechroͤnt mit eyner chrone. (GK, Kap. 8, S. 16)

Der Erzählung folgt ein Reimpaargedicht von 24 Versen. Darin verschwimmen Auslegung und Erzählung, wenn es etwa heißt: Ey kvͤnich so reich het drey svͤn also vngeleich Juden hayden vnd christen.

Weil diese Erzählung der Gesta den Juden und Heiden Land bzw. Reichtum zuge­ steht, gilt sie mitunter als »die sanfteste, vergleichsweise toleranteste«27 Fassung der apologetischen Tradition. Die zweite Erzählung wirkt womöglich noch toleranter, wie zu sehen sein wird.28 Sie beginnt in der lateinischen Version mit »Quidam rex habuit tres filios et unum lapidem pretiosum« (GO, Nr. 210, 619,1), in der deutschen Überlieferung trägt sie den Titel Von drein suͤnen vnd von einem edeln stain (GK, Kap. 100, S. 144). Erzählt wird in beiden Sprachen das Gleiche. In der Auslegung heißt es hier, es sei offenbar, welchen Sohn Gott bevorzuge. Ihm gab er den besseren Ring, der

26 Zu diesem Bild, das traditionell in Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Hohelied steht, vgl. auch Weiske (Anm. 21), S. 166 und 201. Eingefügt ist hier ein Zitat aus dem Buch Hosea, wo es nach der Vulgata heißt: »sponsabo te mihi in fide et scies quia ego Dominus« (Os 2,20). Dasselbe Bild wird in einer anderen Erzählung der Gesta Romanorum bearbeitet, vgl. GO, Nr. 20, S. 315–317 bzw. GK, Kap. 11, S. 59–65. Es heißt dort: »Ich wil dich mir zů einer præwt empfesten« (S. 65). 27 Vgl. Hudde: Ringparabel (Anm. 6), S. 98. 28 Oesterley selbst erkannte Nr. 210 nicht als Ringparabel-Bearbeitung. Im Register verzeichnet er als Thema ›Glassteine‹ und führt, anders als bei Nr. 89, keine Parallelstellen an, vgl. GO, S. 744. Auch Hudde kennt nur De triplici statu mundi, vgl. ders.: Ringparabel (Anm. 6), S. 98 f.



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Blinde sehend macht, Krankheiten heilt und Tote auferweckt – gemeint sind die im Neuen Testament beschriebenen Wunder Jesu. Bei den Ungläubigen finde man solche Zeichen nicht. Die Erzählung schließt mit einem Bibelzitat: »als der salter spricht. wir haben nicht zaichen gesehen vnd dar vmb gelauben wir nicht.«29 Hudde zufolge bilden die Gesta Romanorum aufgrund ihrer toleranten Bot­ schaft »den krönenden Abschluß der apologetischen Versionen.«30 Doch Michel Beheim führt mit seinem beispel von einem kung die Tradition fort. Obwohl er selbst keine Quelle angibt, dienten ihm höchstwahrscheinlich die Gesta als Vorlage.31 Darauf weist bereits die Verortung der Geschichte in Rom hin (vgl. V. 4).32 Zudem verarbeitete Beheim in seinen Liedern häufig literarische Vorla­ gen.33 Im Lied Nr. 294 erzählt er den gleichen Plot wie das Exemplum Von drein suͤnen vnd von einem edeln stain (GK, Kap. 100, S. 144). Wörtliche Übereinstim­ mungen könnten darauf hinweisen, dass er den Text beim Verfassen seines Liedes vor Augen hatte. So übernimmt Beheim das abschließende Bibelzitat:34

29 Auf welche Bibelstelle sich der Spruch bezieht, ist nicht eindeutig zu klären. Nach der Vulgata heißt es in Psalm 73,9: »signa nostra non vidimus non est ultra propheta et non est nobiscum qui sciat usquequo«. Der lateinische Text der Gesta hat hier ein anderes Bibelzitat. Es heißt dort: »unde in evangelio: In nomine mea demonia eicient et super quos manus imponent bene habebunt« (GO, Nr. 210, S. 619). 30 Hudde: Ringparabel (Anm. 6), S. 99. 31 Auch Brunner/Schanze/Wachinger (Anm. 3), S. 136, und Miller/Zimmermann (Anm. 3) erwähnen die Abhängigkeit des Liedes von den Gesta Romanorum. 32 In den maßgeblichen Exempeln der Gesta wird freilich keine Verortung vorgenommen. Lediglich in der deutschen Bearbeitung der Geschichte von Jonathan und den drei Kleinodien (s. o. Anm. 25) heißt es: »Darius der kvͤnich vnd gepieter reichnocht ze Rom« (GK, Kap. 38, S. 52). 33 Burghart Wachinger glaubt gar, dass bis zu 80 Prozent der Lieder auf Prosavorlagen beruhen, vgl. Wachinger (Anm. 5), S. 67. Zur Versifizierung von Prosa bei Beheim vgl. Thomas Hohmann: Deutsche Texte aus der ›Wiener Schule‹ als Quelle für Michel Beheims religiöse Gedichte. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 107 (1978), S. 319–330. Vgl. auch die Einzeluntersuchungen von Johannes Fournier: Die gute Nachricht in wechselnden Formen. Vers und Prosa im St. Pauler Evangelienreimwerk, im Evangelienbuch für Matthias Beheim und in Michel Beheims Liedern. In: Metamorphosen der Bibel. Beiträge zur Tagung Wirkungsgeschichte der Bibel im deutschsprachigen Mittelalter vom 4. bis 6. September 2000 in der Bibliothek des Bischöflichen Priesterseminars Trier. Hg. von Ralf Plate u. a. Bern u. a. 2004 (Vestigia Bibliae 24/25), S. 189–207, sowie Ernst-Dietrich Güting: Michel Beheims Gedicht gegen den Aberglauben und seine lateinische Vorlage. Zur Tradierung des Volksglaubens im Spätmittelalter. In: Forschungen und Berichte zur Volkskunde in Baden-Württemberg 1974–1977. Hg. von Irmgard Hampp und Peter Assion. Stuttgart 1977 (Forschungen und Berichte zur Volkskunde in BadenWürttemberg 3), S. 197–220. 34 Dass Beheim das Zitat mit König David verbindet, ist keineswegs ungewöhnlich. Schon bei Justin dem Märtyrer wird David als Urheber der Psalmen genannt, und als solcher galt er

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[…] als der salter spricht. wir haben nicht zaichen gesehen vnd dar vmb gelauben wir nicht. (GK, Kap. 100, S. 145) als kung Davit spricht: »wir sahen nicht gleichen kainer zeichen, da glǎbt wir nit.« (B 294, V. 205–210)

Dieser Fassung entspricht ebenfalls, dass nicht spezifiziert wird, welchen Sohn der Vater bevorzugt.35 Doch auch mit der zweiten Erzählung (GK, Kap. 8) gibt es wörtliche Übereinstimmungen. So wird dort der echte Ring als »chostpærlich« beschrieben, bei Beheim als »kasperleich« (V. 33).36 Zudem weist der Beginn der Auslegung Parallelen auf:37 Nu merchet cristus ist der kvͤnich (GK, Kap. 8, S. 16). Merk, mensch, on spot, got ist der kunig (B 294, V. 127–130)

Vielleicht hat Beheim beide Texte berücksichtigt. Da er offenbar lateinkundig war, könnte er auch mit den lateinischen Versionen gearbeitet haben.38 Die wört­ lichen Übereinstimmungen mit den deutschen Gesta sowie die unterschiedlichen Bibelzitate der lateinischen und deutschen Version machen das jedoch unwahr­

auch im Mittelalter, vgl. Siegfried Raeder: Art. »Psalmen/Psalmenbuch II«. In: Theologische Realenzyklopädie 27 (1997), S. 624–634, hier S. 625. 35 In Kapitel 8 bei GK etwa bekommt der dritte Sohn den Ring. Auch bei GO, Nr. 89, ist vom »tercio filio« (417,1) die Rede. Das entspricht einem bekannten Erzählmotiv, das sich noch in vielen Märchen findet, vgl. Katalin Horn: Art. »Jüngste, Jüngster«. In: Enzyklopädie des Märchens 7 (1993), Sp. 801–811. 36 Der lateinische Text bietet »preciosum« (GO, Nr. 89, 417,1). 37 Dass Beheim aus Christus »got« macht, ist insofern konsequent, da in seiner Auslegung ja der Ring mit dem echten Stein als Christus gedeutet wird (vgl. V. 193–204). Damit in den Gesta die Auslegung des Rings als Ehering Christi aufgeht, muss der Vater hingegen als Christus gedeutet werden. Eleganter ist jedoch die Gleichsetzung des Vaters mit Gottvater. 38 Vgl. Müller: Beheim (Anm. 2), Sp. 674. Auch Fournier ([Anm. 33], S. 207) hält es für möglich, dass Beheim direkt lateinische Vorlagen bearbeitete; ebenso Güting (Anm. 33). Wachinger ([Anm. 5], S. 65) glaubt dagegen, dass bei den lateinischen Texten in der Regel deutsche Bearbeitungen die direkte Vorlage Beheims darstellten.



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scheinlich. Im Folgenden sollen in Abhängigkeit von den beiden Erzählungen die Bearbeitungstendenzen Beheims erläutert werden.

3 Beheims Lied Nr. 294 3.1 Formale Aspekte der Bearbeitung Der größte Unterschied zwischen Beheims Lied und den Exempeln der Gesta Romanorum liegt in der formalen Gestaltung. Beheim überführt die Erzäh­ lung aus der Prosa in die Lyrik. Überhaupt scheint das künstlerische Selbst­ verständnis Beheims in hohem Maße von der metrischen und musikalischen und weniger von der dichterischen Seite seiner Arbeit geprägt gewesen zu sein. Während er die Stoffe seiner Lieder in der Regel aus Vorlagen übernahm, kom­ ponierte er seine zwölf Töne selbst und sah sie als »seinen eigenen Besitz, seine originäre Leistung an«.39 Die gelungene Komposition bekannter Stoffe, das Wiedererzählen, macht den künstlerischen Verdienst aus, nicht die Erfindung originärer Geschichten. Das lässt sich auch bei vielen anderen Dichtern beob­ achten. Im Œuvre von Hans Sachs etwa finden sich tausende Lieder, die er nach anderen Texten bearbeitete.40 Das vorliegende Lied ist, wie neun weitere Texte Beheims, in seiner sleht gülden weise verfasst worden.41 210 Verse verteilen sich auf fünf Strophen. Jede Strophe besteht aus zwei baugleichen Stollen und einem selbstständigen Abge­ sang. Die Stollen werden aus je zwölf, der Abgesang aus 18 Versen gebildet.42 Die grafematische Disposition der Handschriften bildet diese Anlage gut ab.43 Die

39 Ingeborg Spriewald: Literatur zwischen Hören und Lesen. Wandel von Funktion und Rezeption im späten Mittelalter. Fallstudien zu Beheim, Folz und Sachs. Berlin, Weimar 1990, S. 32. Zur Kunstauffassung Beheims vgl. auch Niemeyer (Anm. 2), S. 146–153. 40 Vgl. etwa Joachim Knape: Boccaccio und das Erzähllied bei Hans Sachs. In: Hans Sachs im Schnittpunkt von Antike und Neuzeit. Akten des interdisziplinären Symposiums vom 23./24. September 1994 in Nürnberg. Hg. von Stephan Füssel. Nürnberg 1995 (Pirckheimer-Jahrbuch 10), S. 47–81. 41 Vgl. Schanze (Anm. 2), S. 229. Der Ton hieß zunächst nur »guldin weise« und wurde von Beheim erst nach Erfindung der »Hohen guldin weise« umbenannt, vgl. ebd., S. 193. Die Bezeichnung ist keineswegs abwertend gemeint. Im älteren Deutsch bedeutet »sleht« ›schlicht‹ im Sinne von ›geradeaus, aufrichtig, ungekünstelt‹, vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Bd. 2. Leipzig 1876, Sp. 967. 42 Vgl. auch die Untersuchung von Christoph Petzsch (Anm. 5), die sich am Beispiel des Liedes Nr. 288 vor allem der musikalischen Struktur der »sleht gülden weise« widmet. 43 In Handschrift A etwa, die insgesamt aufwändiger gestaltet ist, beginnen die Stollen mit

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Verse besitzen abwechselnd eine oder zwei Hebungen, wobei die kurzen Verse häufig nur aus einer Silbe bestehen.44 Durch die Kürze der Verse kommt es zu einer extremen Reimhäufung. Es liegt ein Paarreim vor, der den ersten und letzten Vers des Gedichts auslässt und so die einzelnen Bauteile wie auch die Strophen mit­ einander verbindet.45 Meist geht der Reim über Satzgrenzen hinaus (vgl. V. 102 f.: »die stain all drei. / pei«).46 Das erzeugt zusammen mit der Reimhäufung und der Verbindung der Bauteile durch die Reime ein hohes Tempo und zwingt zum Weiterlesen. Viele Reimwörter wiederholen allerdings beinahe synonymisch das Vorangegangene.47 Auch die Syntax ist dem Reimschema untergeordnet: er liess da pei zwei gleser mach [!] nach dem stain edlen (V. 48–52).

Weiterhin mag die Aufteilung einzelner Sätze auf bis zu zwölf Verse (vgl. V. 1–12) einen zerstückelten Eindruck des Textgefüges hervorrufen. Gerade in der Auf­ führungspraxis könnte es zu Verständnisproblemen gekommen sein.48 Zwar mag man einige Reime auch als Binnenreime auffassen,49 dem widerspricht jedoch die

jeweils einer roten Initiale, der Abgesang mit einer blauen. Die einzelnen Verse sind durch rote Schrägstriche, sogenannte Virgeln, abgesetzt. 44 Der zweite Vers des Abgesangs weist regelmäßig nur eine Hebung auf. Jeweils der erste, dritte, siebte und neunte Vers jedes Stollens und der erste, zweite, sechste, achte, zwölfte und vierzehnte Vers jedes Abgesangs haben nur eine Silbe. 45 Nach den Handschriften A und C könnte man »Ain« auch nicht als selbstständigen Vers auffassen und dem zweiten Vers zuschlagen. In beiden Handschriften steht nach »Ain« keine Virgel. Dem folgt Bert Nagel in seiner Edition des Liedes, vgl. Nagel (Anm. 5), S. 55. So fehlte jedoch dem ersten Stollen ein Vers, weshalb auch das ungereimte erste Wort der sleht gülden weise als eigener Vers aufgefasst werden kann. 46 Das nach Wilhelm Grimm als Reimbrechung bekannte Phänomen ist in der deutschen Literatur bereits früher zu beobachten. Programmatisch ausgeprägt ist es in Konrads von Würzburg Trojanischem Krieg, vgl. Hans Butzmann: Studien zum Sprachstil Konrads von Würzburg. Göttingen 1930, S. 23–39. 47 Etwa »erben / und erwerben« (V. 70 f.); »petriegen, / liegen« (V. 184 f.). Solche Doppelungen verlangsamen das Erzähltempo und machen es den Rezipienten einfacher, der Handlung zu folgen. Siehe dazu auch Fournier (Anm. 33), S. 196. 48 Zum Verhältnis von lesender Rezeption und tatsächlicher Performanz bei Beheim vgl. Wachinger (Anm. 5); Spriewald: Literatur (Anm. 39) und Scholz (Anm. 4), S. 174–180. Aufgrund der Kürze von Nr. 294 spricht nichts dagegen, dass es aufgeführt wurde. 49 So etwa Wilhelm Wackernagel bei der Edition des ebenfalls in der sleht gülden Weise verfassten Liedes Mit vleis wil ich (= Gille/Spriewald Nr. 288). In: Altdeutsches Lesebuch. Hg. von Wilhelm Wackernagel. 5. Aufl. Basel 1873, Sp. 1409–1413. Karl Heinrich Bertau meint: »Der Reim



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Versanordnung in den Handschriften.50 Gleichzeitig ist anzunehmen, dass zwar die Reime einen trennenden Charakter haben, die Melodie jedoch verbindend wirkt.51 Inhalt und Struktur sind im vorliegenden Lied eng aufeinander bezogen, sodass inhaltliche Abschnitte mit formalen Elementen zusammenfallen. So stellt der erste Stollen der ersten Strophe die Figur des Vaters vor. Der zweite Stollen führt die drei Söhne ein. Im Abgesang kommt der Ring in die Erzählung und führt zum Streit. Während die inhaltliche Abgeschlossenheit der Stollen eine Ausnahme ist, bildet der Abgesang in der Regel eine selbstständige Einheit.52 Betont wird die Zäsur zwischen Stollen und Abgesang auch musikalisch durch Oktavsprung.53 Nur die Strophen 4 und 5 sind syntaktisch verbunden, allerdings beginnt auch hier mit der Einführung des »Antikrist« ein neuer Sinnabschnitt. Zeilensprünge sind ebenfalls selten, bei der Kürze der Verse aber auch kaum zu erwarten.54 Unter Beachtung der Melodie stellt Christoph Petzsch ein Schema für die sleht gülden weise auf, nach dem die Stollen Einheiten von (4 + 7) – (4 + 4) – (7 + 4) Silben aufweisen.55 Der Abgesang soll einer Ordnung von 6 – (7 + 4) – 5 – (7 + 4) – (5 + 556 + 4) Silben folgen. Dieses Schema weist kaum Übereinstimmun­ gen mit inhaltlichen Abschnitten oder dem Satzbau auf.57

ist nicht letztes Kriterium für Zeilenschluß; denn es gibt Innenreime und Waisen« (Sangverslyrik. Über Gestalt und Geschichtlichkeit mittelhochdeutscher Lyrik am Beispiel des Leichs. Göttingen 1964 (Palaestra 240), S. 59). 50 S. o. Anm. 43. 51 So Christoph Petzsch: »Verabsolutierung der (Kurz-)Reimglieder kann nur Notlösung sein. Deren Isolierung erübrigt sich bei Heranziehung von Gemäß und Melodie. Das Reimglied an sich ist nur sekundärer Faktor der Gliederung. Bei reimreichen Tönen wird die Unfruchtbarkeit so einseitiger Betrachtungsweise besonders augenscheinlich« (Petzsch [Anm. 5], S. 55; vgl. auch ebd., S. 45). Einfacher schon Bertau (Anm. 49), S. 59: »Was Reime sprachlich zerteilen, kann durch die Melodie in der Darstellung zur Einheit werden«. 52 Nur in Str. 5 verteilt sich der Rat des Weisen über den zweiten Stollen und den Abgesang, womit die beiden Einheiten inhaltlich und syntaktisch verbunden sind. 53 Vgl. Petzsch (Anm. 5), S. 53. 54 Nur in V. 132 f. und 199 f. fallen Satz- und Versgrenze nicht zusammen. 55 Vgl. Petzsch (Anm. 5). 56 Im vorliegenden Lied liegen regelmäßig abweichend vom Schema Petzschs sechs Hebungen vor. 57 Das Psalm-Zitat etwa hätte als einzelnes Element stehen können, wenn die Inquit-Formel noch im Mittelteil des Abgesangs stünde. So liegt eine Zäsur zwischen »kung Davit« und »spricht« (V. 205 f.) vor.

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Ingeborg Spriewald ist der Meinung, Beheims Lyrik sei durch einen »Prosa­ stil« gekennzeichnet und »unlyrisch, sachlich, nüchtern«.58 Auch Ulrich Müller, der Beheims Lieder mit der artifiziellen Dichtung Oswalds von Wolkenstein ver­ glich, kam zu dem Schluss, die beiden Dichter unterschieden sich stilistisch »außerordentlich stark«: Beheim erzählt zwar nicht mit sehr vielen Details, aber so einfach, geradlinig und realis­ tisch und mit so vielen Angaben zu den näheren Umständen, daß der Hörer (bzw. heute der Leser) keine Schwierigkeiten beim Verstehen hat.59

Das vorliegende Lied besitzt jedoch einen Aufbau mit hohem künstlerischem Anspruch. Die formale Analyse zeigt gerade den artifiziellen, lyrischen Charak­ ter. Es ist fraglich, ob man hier von einem einfachen Aufbau, einer »klare[n], anschauliche[n] Sprache«60 und »leichte[n] Verstehbarkeit«61 sprechen kann. Ein kunstverständiges Publikum, das mit dieser Art von Dichtung vertraut war, dürfte die komplexe Anlage jedoch gewürdigt haben.

3.2 Toleranz Wachinger zufolge seien die Versifizierungen Beheims durch eine Bearbeitungs­ weise charakterisiert, die nicht sehr frei mit den Quellen umginge: »Vielmehr bewahrt Beheim in der Regel Wortlaut und Syntax ziemlich getreu und verän­ dert und ergänzt nur so viel, wie er zur Erfüllung der Strophenform unbedingt braucht.«62 Inhaltlich orientiert sich Beheim im vorliegenden Gedicht zumin­ dest im Erzählteil recht stark an der Erzählung Von drein suͤnen vnd von einem edeln stain (GK, Kap. 100, S. 144). Er stellt die Geschichte allerdings insofern um, dass der Vater erst dann zwei weitere Ringe anfertigen lässt, als es zum Streit um den echten Ring kommt. Auch äußert sich die Kraft des Ringes nicht mehr

58 Ingeborg Spriewald: Grundzüge des Werkes von Michel Beheim. Ein Beitrag zur Problematik der Reimdichtung im 15. Jahrhundert. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 10 (1961), S. 947–950, hier S. 948. 59 Ulrich Müller: Beobachtungen und Überlegungen über den Zusammenhang von Stand, Werk, Publikum und Überlieferung mittelhochdeutscher Dichter. Oswald von Wolkenstein und Michel Beheim – ein Vergleich. In: Oswald von Wolkenstein. Beiträge der Tagung in Neustift bei Brixen. Hg. von Erich Kühebacher. Innsbruck 1974, S. 167–181, hier S. 173 f. 60 Müller: Beheim (Anm. 2), Sp. 676. 61 Ebd., Sp. 673. 62 Wachinger (Anm. 5), S. 67. Wachingers Eindruck wurde in Einzeluntersuchungen bestätigt, vgl. Fournier (Anm. 33); Güting (Anm. 33).



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explizit in der Heilung von Kranken. Stattdessen ist nur allgemein von »zaichen [›Wundern‹] / krafft, tugend, sterk« (V. 125 f.) des Rings die Rede.63 Außerdem hat Beheim die Erzählung stark ausgeschmückt. So macht er aus den ersten zwei Worten der Erzählung in den Gesta, »Ain chůnich«, einen ganzen Stollen, indem er weitere Bestimmungen wie die Verortung oder den Reichtum des Königs anführt (V. 1–12). Für die Interpretation ist das ohne Bedeutung. Die Ausführlichkeit der Darstellung kann jedoch auch mit dem rhetorischen Begriff der amplificatio beschrieben werden.64 Damit ist hier das »Kunstmittel des Wortreichtums«65 gemeint, das der Steigerung der Anschaulichkeit und Veri­ dikalität dient. Das Stilmittel ist in der gesamten mittelalterlichen Literatur zu finden und auch in dem auf eine kunstvolle Form bedachten Meistersang wie in der frühneuzeitlichen Dichtung überhaupt präsent. So lässt es sich bei Hans Sachs beobachten, der etwa 100 Jahre nach Beheim mit dem Meisterlied Der Jued mit den dreyen ringen eine Ringparabel-Bearbeitung verfasste.66 Der Vergleich mit Sachs zeigt, dass Beheim über das übliche Maß der Ausschmückung hinausgeht. Obwohl Sachs dem toleranten Zweig der Ringparabel entsprechend sogar die Rahmengeschichte erzählt, benötigt er nicht mehr als 60 Verse. Seine Vorlage, die Decameron-Übersetzung Arigos, umfasste im Erstdruck von 1476 immerhin 312 Zeilen.67 Bei Beheim liegt der entgegengesetzte Fall vor: Seine Vorlage bietet,

63 Vgl. GK, Kap. 100, S. 145: »aber pei den vngelaubhaftigen sind nicht soͤliche zaichen noch tugent.« 64 Vgl. Jürgen Stenzel: Art. »Amplificatio«. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 70 f.; Barbara Bauer: Art. »Amplificatio«. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 1 (1992), Sp. 445–471. Zur Begründung des Begriffs in der für das Mittelalter maßgeblichen antiken Rhetorik auch Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlage der Literaturwissenschaft. München 1960, §§ 400–409. 65 Stenzel (Anm. 64), S. 70. Ein davon verschiedener Aspekt der Amplifikation ist die Anhäufung von Argumenten. 66 Zit. n. Sämtliche Fabeln und Schwänke von Hans Sachs. Bd.  4: Die Fabeln und Schwänke in den Meistergesängen. Hg. von Edmund Goetze und Carl Drescher. Halle an der Saale 1903, Nr. 240, S. 1–3. So ersetzt Sachs den Begriff »herre« seiner Vorlage, der Decameron-Übersetzung Arigos, durch das Synonympaar »fürst vnd herre« (V. 13), vgl. Julius Hartmann: Das Verhältnis von Hans Sachs zur sogenannten Steinhöwelschen Decameronübersetzung. Berlin 1912 (Acta Germanica. Neue Reihe 2), S. 82. 67 Ulm: Johann Zainer um 1476. Ein Digitalisat des Exemplars München, Bayerische Staatsbibliothek, 2 Inc.s.a. 218, ist online verfügbar unter nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12bsb00034141-1 [Zugriff: 30.09.2016]. Die Ringparabel (Novelle I 3) befindet sich auf fol. 19r–20v. Die Geschicktheit, mit der Sachs seine Vorlage komprimierte, ohne dass dabei wesentlicher Inhalt verloren ging, rief Bewunderung in der Forschung hervor, so schon bei Hartmann (Anm. 66), S. 26. Joachim Knape spricht von Sachs’ »Perfektion in der Kunst des Resümierens« (Knape [Anm. 40], S. 68). Vgl. zu Sachs auch den Beitrag von Achim Aurnhammer in diesem Band.

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der Gattung der Exempelliteratur entsprechend, eine sehr knappe Erzählung, aus der er ein Lied von immerhin fünf Strophen gestaltet. Die größte Freiheit der Bearbeitung lässt sich in der Auslegung der Erzählung erkennen. Der Beginn folgt noch recht eng den beiden Gesta-Texten: Nu merchet christus ist der kvͤnich der die drey svͤn hat. Daz sint die ivden Sarraten vnd die christen. (GK, Kap. 8, S. 16) Nu pei den drein svͤnen verste wir drevͤ volkh die gotez sun sint mit der geschepfd. daz sint Juden, Sarraten vnd christen. (GK, Kap. 100, S. 145) Merk, mensch, on spot, got ist der kunig wunig in himel. dy dry sun das ist krist, jud und haide. paide die zwen mit uns Suns namen hand ond gotes kinde sinde nach der schopfnis. (B 294, V. 127–144)

Während Beheim sprachlich zunächst der ersten Version (Kap. 8) nähersteht, bezieht er sich inhaltlich dann vor allem auf den zweiten Text (Kap. 100). Dort wird explizit gesagt, dass durch die Schöpfung auch Juden und Heiden Kinder Gottes seien. Beheim führt das länger aus. Die Doppelung, Juden und Heiden seien »gotes kinde […] nach der schopfnis« und hätten »mit uns Suns namen«, wirkt verstärkend. Die ausdrückliche Formulierung »paide die zwen mit uns« hebt scheinbar die Gleichrangigkeit mit dem Christentum hervor. Die formale Seite akzentuiert diesen Aspekt: Da der Satz über die Stollengrenze hinausgeht, steht »Suns« als erstes Wort des zweiten Stollens an einer exponierten Stelle und wird somit betont. Ob das auch durch die musikalische Anlage unterstützt wird, ist fraglich.68 Geschickt spielt der Text zumindest mit der musikalischen Zäsur

68 Nach dem Schema von Petzsch liegt folgende Anordnung vor: Stollen a): »Mérk / ménsch, ón spót / – gót / íst dér kúníg / wúníg // ím hímél. dý / – drý / sún dás íst // kríst / júd únd háide / – péidé /



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nach »wunig«. Bis hierher wird die Aussage »got ist der kunig« einfach als Aus­ legung der Geschichte verstanden. Erst mit »im himel« wird der zweifache Bezug von »kunig« offenbar. Beheims Auslegung, in den Juden und Heiden ›Kinder Gottes‹ zu sehen, ver­ dient genauere Beachtung. Die Formulierung erinnert an den Willehalm Wolf­ rams von Eschenbach.69 In Giburgs ›Toleranzrede‹ werden dort die Heiden als »gotes hantgetât« (›Geschöpfe aus Gottes Hand‹, V. 306,28) und als Kinder Gottes bezeichnet: Dem saeldehaften tuot vil wê, ob von dem vater sîniu kint hin zer vlust benennet sind. (Willehalm, V. 307,26–28)70

Diese Stelle ist immerhin Anlass für Joachim Heinzle, den Willehalm als eines »der großen Dokumente der Menschlichkeit«71 zu bezeichnen. Die Formulierung der Heiden als Kinder Gottes sei vor dem Hintergrund der mittelalterlichen Theo­ logie völlig außergewöhnlich: Doch geht Wolfram in Giburgs Rede im Kriegsrat mindestens soweit, den Gedanken, daß auch die Heiden Gottes Kinder sind, denkbar zu machen […]. Das wäre ein theologisch gefaßter Toleranz-Gedanke, der weit über das hinaus ginge, was dem Mittelalter und seiner Theologie sonst möglich war.72

díe zwén mít úns« // Stollen b): »Súns / námén hánd – ónd / gótés kíndé / síndé // nách dér schópfnis […]«. Dass die Musik auch semantische Bedeutung tragen kann, zeigt Petzsch (Anm. 5), S. 55. 69 Im Folgenden zit. n. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hg. von Joachim Heinzle. Frankfurt am Main 1991 (Bibliothek des Mittelalters 9). Vgl. auch Heinzles Kommentar, S. 1023 f. 70 Vgl. Heinzles Kommentar zu der Stelle: »Mit dem vater dürfte Gott, mit den kint dürften die Menschen gemeint sein. Demnach scheint Giburg hier auch für die Heiden den Status der Gotteskindschaft und potentiellen Erlösbarkeit in Anspruch zu nehmen […]. Der Boden der kirchlichen Lehre wäre dann verlassen. – Andere Auffassungen des Wortlauts, die theologisch korrekt wären, sind theoretisch möglich, überzeugen aber nicht« (ebd., S. 1025). 71 Ebd., S. 801. 72 Ebd., S. 800. Zur Debatte um die Gotteskindschaft der Heiden vgl. die Beiträge von Joachim Heinzle: Die Heiden als Kinder Gottes. Notiz zum ›Willehalm‹. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 123 (1994), S. 301–308; ders.: Noch einmal: Die Heiden als Kinder Gottes in Wolframs ›Willehalm‹. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 117 (1998), S. 75– 80, sowie Fritz Peter Knapp: Und noch einmal: die Heiden als Kinder Gottes. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 129 (2000), S. 296–302. Fulvio Ferrari bringt den ›Willehalm‹ und die Frage nach religiöser Toleranz im Mittelalter am Beispiel Jans Enikels in Verbindung mit der Ringparabel, vgl. Fulvio Ferrari: Der »frum heiden« und sein kostbarer Tisch. Jans Enikels Erzählung um Saladins Tod und die Darstellung des muslimischen Ostens in der

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Die Aussage von Beheims Lied erscheint erstaunlich tolerant. Letztlich ist die Interpretation der anderen Religionen als Kinder Gottes die folgerichtige Aus­ legung der Erzählung. Auch bei John Bromyard heißt es (in Abhängigkeit von den Gesta Romanorum?): »Omnes isti tres filij fuerunt dei per creationem« (fol. 144va, Z. 64 f.). Dass sich Beheims Interpretation dennoch von dem abhebt, was sonst im apologetischen Zweig geboten wird, zeigt ein Vergleich mit Étienne de Bourbon. Auch er geht auf das Deutungsangebot der anderen Religionen (hier: christlichen Glaubensrichtungen) als Geschwister des (orthodoxen) Christen­ tums ein, nämlich indem er es negiert. Ausdrücklich wird diese Assoziation verhindert, indem die Erbin des wahren Rings als »filia legitima«73 bezeichnet wird, während es sich bei den anderen um falsche Töchter handelt, die selbst ihre Ringe fälschen.74 Besitzt also auch Beheims Lied, obwohl zum apologetischen Zweig gehö­ rend, vergleichbar mit dem Willehalm ›aufklärerischen‹ Charakter?75 Wohl kaum. Schon die Formulierung, dass es sich um zwei ›arge‹ Brüder handelt, weist auf die Diskrepanzen hin (vgl. B 294, V. 37). Beheims Formulierung von Heiden und Juden als ›Kindern Gottes‹ bedeutet keine Religionstoleranz im modernen Sinne. Schon die Gesta Romanorum lassen keinen Zweifel daran, welche Religion die wahre ist, »welchen sun er [d. h. Gott] lieber hat gehabt« (GK, Kap. 100, S. 145).76

deutschen Literatur des Mittelalters. In: Religiöse Toleranz im Spiegel der Literatur. Eine Idee und ihre ästhetische Gestaltung. Hg. von Bernd F. W. Springer und Alexander Fidora. Wien u. a. 2009 (Literatur. Forschung und Wissenschaft 18), S. 83–91, hier S. 85. 73 Étienne de Bourbon (Anm. 14), S. 281. 74 Auch die Fassung des Dis dou vrai aniel ist nicht sehr tolerant: Sie endet mit einem Kreuzzugsaufruf. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass drei von fünf bekannten Texten des ›apologetischen‹ Zweiges eine eher tolerante Aussage vertreten. Die Gesta stellen insofern keinen Sonderfall dar, wie Hudde: Ringparabel (Anm. 6) meint, der Bromyards Text nicht gelesen hat und das vorliegende Lied nicht kennt. 75 Im Klappentext von Heinzles Ausgabe (Anm. 69) wird der Willehalm etwa als »Werk der Aufklärung« angepriesen. Im Kontext der Ringparabel fühlt man sich beinahe an Lessing erinnert. 76 Das ist freilich im toleranten Zweig der Ringparabel-Tradition nicht anders. Noch bei Lessing ist eine Religion die wahre. Zwar gibt es hier die »aufklärerische[ ] Betrugshypothese« (Zöller: Abraham [Anm. 7], S. 337) des Richters. Sein Deutungsangebot an die Brüder lautet: »O so seid ihr alle drei / Betrogene Betrieger! Eure Ringe / Sind alle drei nicht echt« (Lessing [Anm. 23], Nathan III 7, V. 507–509). Eindeutig heißt es jedoch zuvor, der Vater habe »nach dem Muster seines Ringes / Zwei andere bestellt« (ebd., V. 430 f.). Die tolerante Version dient schon bei Boccaccio in erster Linie der Illustration des bekannten Schwankthemas ›Klugheit befreit aus Gefahr‹, und es ist kein Zufall, dass die Erzählung in der Schwanksammlung Schertz mit der Warheyt (Frankfurt: Christian Egenolff 1550, fol. 7r–8r) im Kapitel »Von list / gescheidigkeyt / lügen und Betrug« steht. Und noch bei Lessing denkt sich Nathan »Nicht die Kinder bloß, speist man / Mit Märchen ab«



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Noch deutlicher wird das bei Beheim, der sich in der Folge völlig von seiner Vorlage löst und in der Toleranzbotschaft hinter sie zurückfällt. Mohammed und sein jüdisches Pendant, der Antichrist, werden als »velsche / helsche / petrieger« (V. 148–150) bezeichnet. Sie führen ihre Völker ins Verderben. Von den Juden etwa heißt es, sie hätten ihre Chance auf Rettung vor der Verdammnis vertan: der herr ist hin, in irem stand hand sie verslǎffen, hǎfen und trost ist vort. (B 294, V. 186–192)

Beheim folgt bekannten judenfeindlichen Stereotypen. Das Motiv, die Juden hätten die Ankunft des Messias verpasst, ist im Mittelalter verbreitet. Es drückt sich etwa in der bildlichen Darstellung der Synagoga mit verbundenen Augen aus.77 Auch Beheim betont andernorts mehrmals die Blindheit der Juden.78 Die Darstellung des Verschlafens ist eine Variation des Motivs.79 Überhaupt gibt es im Œuvre des Dichters einen ganzen Zyklus von contra iudaeos-Liedern.80 Es finden sich darin einige Parallelen zu dem, was in der Aus­

(Lessing [Anm. 23], Nathan III 6, V. 373 f.). Die Ringparabel spiegelt nicht unbedingt seine eigene Glaubensüberzeugung wider. 77 Vgl. Dirk Kocks: Art. »Ecclesia und Synagoge in der abendländischen Kunst«. In: Lexikon des Mittelalters 3 (1986), Sp. 1537 f.; Adolf Weis: Art. »Ekklesia und Synagoge«. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte 4 (1958), Sp. 1189–1215, hier Sp. 1196. Im Freiburger Münster und dem Braunschweiger Dom ist die Synagoga weiterhin mit dem Motiv der törichten Jungfrauen verbunden, was das Moment des Verschlafens betont. 78 Vgl. Nr. 204,1: »ir verstopten juden plint«; 204,11: »durch tumhait und plend«; 209,1 f.: »Ir plinden juden taub und stum«; 209,144: »ir tumen juden plint«; 210,1 f.: »Ir juden, wie seit ir petaubt, / verplent, czerstort und auch verstaubt« u. ö. Siehe dazu auch Manuela Niesner: Die ›Contra-Judaeos-Lieder‹ des Michel Beheim. Zur Rezeption Irmhart Ösers und des Österreichischen Bibelübersetzers im 15. Jahrhundert. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 126 (2004), S. 398–424, hier S. 406, Anm. 28. 79 So heißt es im Matthäuskommentar des Chrysostomos in Anlehnung an Apg 13,46 über die Juden im Gegensatz zu den Heiden: »darum kommen diese ans Ziel, während jene das Heil verschlafen«, zit. n. Des Heiligen Kirchenlehrers Johannes Chrysostomus, Erzbischofs von Konstantinopel Kommentar zum Evangelium des Hl. Matthäus. Aus dem Griechischen übersetzt von Johannes Chrysostomus Baur. Bd. 1. Kempten, München 1915 (Bibliothek der Kirchenväter 23), S. 126 (7. Homilie, Kap. II, Nr. 4). 80 Es handelt sich um die Lieder Nr. 203–234, die eine Übersetzung der Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak sowie ein Traktat mit dem Titel Von der juden jrrsall bearbeiten. Der in sich geschlossene Zyklus trägt in Hs. A die Überschrift »dise hernǎch geschriben geticht sagen

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legung von Nr. 294 gesagt wird. Wie schon angedeutet, thematisieren mehrere Lieder die von den Juden ignorierte Ankunft des Messias. So trägt Nr. 211 den Titel: das die juden Messiam nicht erkant haben.81 Auch in den Liedern gegen die Juden wird wie in Nr. 294 ihre Verdammnis als aussichtslos beschrieben.82 Eine bemerkenswerte Parallele findet sich in Nr. 204, wo von einem »glas« die Rede ist: »eur keczer glas und pedeütnis / pringt euch in hell abgrunde« (Nr. 204, V. 64 f.). Das erinnert stark an die Auslegung der Ringparabel, wo Mohammed und der Antichrist als »valsche[ ] gleser« (V. 167) bezeichnet werden. In Nr. 209 ist ebenfalls die Rede von »solche[m] glos, das euch verkortt / und euch verlaitet hier und dort / in ewigcleich petorung« (V. 193–195). Auch in Nr. 294 wird gesagt, Mohammed habe die Heiden »schedlich petort« (V. 165). Der Ton der contra iudaeos-Lieder ist trotz Parallelen deutlich schärfer und erkennbarer antijüdisch geprägt als die Bearbeitung der Ringparabel. Beheim bezeichnet die Juden hier als »ir verfluchten teufels chind« (Nr. 204, V. 2) und erzählt, wie sie vom Behemot mit seinem Kot »pesmeisset und pedrekt« werden »und in sein mist verdeben« (Nr. 231, V. 41–43). Manuela Niesner meint, in der scharfen Polemik Beheims äußere sich hier seine »radikal judenfeindliche[ ] Haltung«.83 Wie passen die antijudaistischen Lieder zur scheinbar toleranteren Aussage der Ringparabel-Bearbeitung? Zunächst kann man die unterschiedlichen Aussagen mit der schon lange bekannten Tatsache in Verbindung bringen, dass Beheim die didaktischen Aussa­ gen seiner Lieder grundsätzlich dem Broterwerb unterordnete und abhängig von seinen Auftraggebern auch gegensätzliche Positionen vertrat.84 Frieder Schanze

von den juden wie sie so blint sein in irem unglǎben.« Vgl. dazu Niesner: ›Contra-Judaeos-Lieder‹ (Anm. 78). Auch mit anderen Gegnern des Christentums befasste Beheim sich. So lautet der Titel von Nr. 309: Dis ist ain peispel […] und sagt van den keczern. Gemeint sind die Hussiten. Gegenüber dem Islam äußert sich Beheim vor allem im Kontext der Warnung vor der Türkengefahr. In Nr. 109 heißt es etwa: »die haiden werden mit unru / uns kristen wider streben« (V. 12 f.). 81 Vgl. etwa auch Nr. 209 und 210. 82 Vgl. Niesner: Contra-Judaeos-Lieder (Anm. 78), S. 407. 83 Ebd., S. 405. 84 Zusammenfassend beschreibt Beheim diese Anschauung mit den zum Sprichwort gewordenen Versen im Epilog der Pfälzischen Reimchronik: »Der furst mich hett in knechtes miet, / ich ass sin brot vnd sang sin liet. / ob ich zu einem andern kum, / ich ticht im auch, tut er mir drum« (Str. 1485); zit. n. Quellen zur Geschichte Friedrichs I. des Siegriechen, Kurfürsten von der Pfalz. Hg. von Konrad Hofmann. Bd. 2: Michel Beheim: Reimchronik. Eikhart Artzt: Vom Weißenburger Krieg. Ndr. der Ausgabe München 1863. Aalen 1969 (Quellen und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte. Alte Folge 3), S. 258. Siehe auch den sich daran anlehnenden Titel der Monografie McDonalds (Anm. 4).



Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung? 

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datiert das Lied Nr. 294, das zum Urbestand der Handschrift A gehört, auf den Zeitraum von 1450 bis 1457.85 In dieser Zeit dichtete Beheim für verschiedene Auftraggeber.86 Schon sein erster Förderer, Konrad von Weinsberg, in dessen Diens­ ten er bis 1448 stand, verkehrte als Erbkämmerer des Reichs häufig mit Juden.87 Auch sein nächster Gönner Albrecht Achilles von Brandenburg gilt als verhält­ nismäßig tolerant und setzte sich in seinen Territorien mitunter engagiert gegen die Verfolgung von Juden ein.88 Ab 1453/54 hielt sich Beheim dann am Hof Herzog Albrechts IV. von Österreich auf, dessen Bruder, der spätere Kaiser Friedrich III., dem Beheim ab 1459 diente, sogar als rex Judaeorum bezeichnet wurde.89 Auch in Wien, wohin Beheim spätestens 1456 im Gefolge von König Ladislaus von Ungarn gelangte, kam er wohl mit der dortigen großen jüdischen Gemeinde und den Juden am Hof in Berührung. Die contra iudaeos-Lieder lassen sich hingegen in die Zeit von 1457 bis 1460 datieren.90 Sie sind also jünger als die Ringparabel-Bear­ beitung. Niesner geht davon aus, Beheim habe den Liederzyklus gegen die Juden vielleicht für den Wiener Stadtrat gedichtet.91 So lassen sich die unterschied­ lichen Intentionen durch unterschiedliche Auftraggeber begründen sowie durch die verschiedenen Zeitpunkte, zu denen die Texte verfasst wurden. Man muss nicht unbedingt davon ausgehen, dass die Lieder Beheims eigene Überzeugun­ gen widerspiegeln. Vielleicht äußert sich in der Bearbeitung der Ringparabel aber auch einfach die Erzählfreude Beheims. Man könnte annehmen, er bearbeitete eine Vorlage, die er zur Verfügung hatte, die seiner erzählerischen Neigung entsprach oder ihm schlicht erzählenswert erschien. Überhaupt ist in der Lyrik des 15. Jahrhunderts

85 Vgl. Schanze (Anm. 2), S. 220. 86 Vgl. Spriewald: Literatur (Anm. 39), S. 11–16 und die Übersicht bei Schanze (Anm. 2), S. 183– 190. 87 Vgl. Dieter Karasek: Konrad von Weinsberg. Studien zur Reichspolitik im Zeitalter Sigismunds. Erlangen, Nürnberg 1967, S. 28 f.; siehe dazu auch McDonald (Anm. 4), S. 50. 88 Zur Judenpolitik Albrecht Achilles’ in einzelnen Gebieten siehe Hans Jürgen Wunschel: Bamberg, Hochstift und Bistum. In: Germania Judaica. Bd. 3: 1350–1519. Hg. von Arye Haimon u. a. Tübingen 2003, Teilbd. 3, S. 1756–1769; ders.: Nürnberg, Burggrafschaft, und BrandenburgAnsbach-Kulmbach, Markgrafschaft. In: Ebd., S. 1965–1977. 89 Vgl. Manuela Niesner: Einführung. In: Das jüdische Leben Jesu – Toldot Jeschu. Die älteste lateinische Übersetzung in den Falsitates Judeorum von Thomas Ebendorfer. Kritisch hg., eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Brigitta Callsen u. a. Wien, München 2003 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 39), S. 13–33, hier S. 30–32. 90 Vgl. Schanze (Anm. 2), S. 221. 91 Vgl. Niesner: Contra-Judaeos-Lieder (Anm. 78), 423 f.

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im Zuge des aufkommenden Meistersangs eine stärker werdende Neigung zur Bearbeitung erzählerischer Quellen zu beobachten.92

4 Zusammenfassung Michel Beheims Lied Nr. 294 kommt eine besondere Rolle in der RingparabelTradition zu: Es stellt eine der wenigen deutschen Fassungen des apologetischen Zweiges dar und ist neben dem Dis dou vrai aniel die einzige bekannte lyrische Bearbeitung desselben. Die apologetische Fassung entstammt der Predigttradi­ tion und ist daher meist ausgesprochen knapp erzählt. Auch Beheim bearbeitet mit seiner Textvorlage, den Gesta Romanorum, der Predigtliteratur nahestehende Exempelgeschichten. Die Merkmale der Predigt sind im Lied immer noch erkenn­ bar, vor allem in der Ansprache an die Rezipienten in der Auslegungsepisode. Auch die Bezeichnungen beispiel (Hss. A und B) bzw. exempel (Hs. C) weisen auf die Exempelfunktion hin. Allerdings überführt Beheim die Predigterzählung in die kunstvolle Form des mehrstrophigen Liedes. Außerdem zeigt das beispel von einem kung, wie tolerant eine apologeti­ sche Ringparabel-Erzählung sein kann. Beheim geht in der Interpretation zwar nicht über die Deutung der Gesta Romanorum hinaus und verlässt nicht völlig den Rahmen der antijudaistischen Stereotypik der mittelalterlichen literarischen Beschäftigung mit den Juden. Seine Formulierung der Juden und Heiden als ›Kinder Gottes‹ kann für das Mittelalter dennoch als ungewöhnlich angesehen werden. Überhaupt ist der apologetische Zweig toleranter, als es die Fassung Étiennes erscheinen lassen mag. Dennoch handelt es sich beim vorliegenden Lied um einen apologetischen Text, da eindeutig der alleinige Wahrheitsan­ spruch des christlichen Glaubens beansprucht wird. Insgesamt ist das Kriterium der Toleranz für vormoderne Texte historisch inadäquat, da ein aufklärerischer Toleranzbegriff hier kein Maßstab sein kann. Auch in den Texten des ›toleranten‹ Zweigs ist schließlich nur ein einziger Ring der wahre.

92 Vgl. Wachinger (Anm. 5), S. 41.



Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung? 

Anhang Von ainem kung ain exempel auff die hailgen drivaltikait

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1. Ain kung was da za Ram rengniren, viren mit grossem rat stat mechtigleich reich manigvaltig gwaltig von adel her. Der het drei son schön. er het sunder under den selben drein ein fur dy zwen, den er den libsten, hibsten, edelsten hiss. Dis kink liess im ain rink giessen, dar ein sliessen ein edelen stein, reich und kasperleich, krefftig, manigschefftig stark. die bruder ark warn gen ain in zarn

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wider, wann ir yder den stain walt han. 2. Schan machet dy zwi tracht der künig sunig. er liess da pei zwei gleser mach nach dem stain edlen. medlen liess er zu den Zwen ring, die sich glich warn furmiret, ziret seim ring alsa. da wart sich das glas ein verseczet scheczet zu stainen vein. Sein sun der liebste nun erben und erwerben gund die klainhait und stain. sa wart den zwain yeglich aim ain trieglich glas. dach frat sie das jach. yeglicher dach mainet,



Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung?  er het klainet des rechten stains. 85

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3. Ains tages ǎch nach dez kungs tǎte rate ain weiser gab: ›ab disen steinn seinn wir in zweivel. keivel hab wir umb selchs, Welchs ist der recht. secht, lot versuchen, ruchen, die stain all drei. pei welchem ir schir durch sein tugend mugend zaichen versten, Den salt ir furpaz halt.‹ disen wart pewisen da die stain alsa: mit den glesern nit cleret nach peweret wart kainr tugend art. ain an disem stain reichen vand man zaichen krafft, tugend, sterk.

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 Linus Möllenbrink 4. Merk, mensch, on spot, got ist der kunig wunig in himel. dy dry sun das ist krist, jud und haide. paide die zwen mit uns Suns namen hand ond gotes kinde sinde nach der schopfnis. dis glas peteut neut wann zwen velsche helsche petrieger hie. Die sein in ringen zwein tauben ungelauben phafft. in haidenschafft stet der Machamet plumet und gerumet hach, wie er sie dach mort schedlich petort. deser valschen gleser noch ains ist mer,



Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung? 

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5. Der Antikrist ist nun der ander plander der jutschen dit, mit dem sich nun tun alle juden kruden. da ist doch zwar Gar nichten an wan ain petriegen, liegen, der herr ist hin, in irem stand hand sie verslǎffen, hǎfen und trost ist vort. Hort ains gerechten stains tugend, der vermugend was gross zaichen, das muss nun sein Kristus klerlich und pewerlich mit, als kung Davit spricht: ›wir sahen nicht gleichen kainer zeichen, da glǎbt wir nit.‹

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Achim Aurnhammer

Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland (1476 bis 1608)* Die Prominenz von Lessings Ringparabel stellte die vorgängige deutsche Rezep­ tion von Boccaccios Melchisedech-Novelle (Decameron I 3) in den Schatten. Wurden frühneuzeitliche Aktualisierungen der Ringparabel in Deutschland her­ kunftsgeschichtlich lange zu Vorläufern von Lessings Version reduziert, hebt die neuere Forschung dagegen einseitig auf die Aspekte von Toleranz und Antisemi­ tismus ab. So blieb das Erkenntnisziel inhaltlich bestimmt und beschränkte sich vorrangig darauf, die jeweilige Handlung dem apologetischen oder toleranten Zweig der Ringparabel-Tradition zuzuordnen und damit die schon im 19. Jahrhun­ dert konstatierte Dichotomie der stoffgeschichtlichen Forschung fortzuschrei­ ben. Auch wenn Hinrich Hudde festgestellt hat, dass die Toleranzversion sich von der apologetischen Version durch die Einbettung in eine Rahmenerzählung unterscheidet,1 blieb diese formalästhetische Differenz in der Forschung beinahe folgenlos. Narratologische Kategorien wie die Frage nach dem Erzähler und der narrativen Darbietung der Handlung sowie das intertextuelle Beziehungsgeflecht der Texte blieben ebenso unterbestimmt wie die Fragen nach Diskurskreuzungen oder Ambiguisierungen in der Ringparabel-Rezeption.2 Im Folgenden möchte ich einige deutsche Aktualisierungen der Ringparabel des 15. und 16. Jahrhunderts narratologisch sowie sprachlich-stilistisch analysie­ ren und mit Boccaccios Ringparabel vergleichen. Außer Acht lasse ich Versionen,

Für wertvolle Hinweise und Kritik danke ich Eva Killy, Emma Louise Maier, Dieter Martin, Linus Möllenbrink und Mario Zanucchi. 1 Hinrich Hudde: »Der echte Ring vermutlich ging verloren«. Die ältesten Fassungen der Ringparabel: Überblick, Überlegungen, Deutungen. In: Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag. Hg. von H. Hudde und Udo Schöning in Verbindung mit Friedrich Wolfzettel. Heidelberg 1997 (Studia Romanica 87), S. 95–110, bes. 102 f. 2 Wie entscheidend die narrative Präsentation ist, zeigt das zweistufige Inklusionsschema von Boccaccios Decameron I 3. Der metapoetische Aspekt von I 3 wird nicht zuletzt darin deutlich, dass viermal der Gattungsbegriff »novella« bzw. »novelletta« vorkommt. Nach einem kurzen Erzählerbericht trägt die Binnenerzählerin Filomena als Reaktion auf die »novella« von Neifile ihre »novelletta« als Fallbeispiel (»il caso dubbioso«) vom Juden Melchisedech vor, der seinerseits dem Sultan Saladin »una novelletta«, nämlich die Parabel von den drei Ringen, erzählt. So bleibt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt in doppelter Hinsicht figural gebrochen.

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 Achim Aurnhammer

in denen die Forschung zwar eine gewisse formale oder motivische Affinität zur Ringparabel entdeckt hat  – sei es in analogen Fangfragen, Erbschaftsthemen oder Ringmotiven –, die aber keine Rückschlüsse auf eine direkte literarische und textuelle Auseinandersetzung mit Boccaccios Decameron I 3 zulassen.3

1 Die Decameron-Übersetzung von Arigo (1476) Als Prätext der Versionen aus dem 15. und 16. Jahrhundert kommt neben dem ita­ lienischen Decameron die frühe deutsche Übersetzung von 1476 eines gewissen Arigo infrage,4 der inzwischen als Arrigho di Federigho della Magna, ein Nürn­ berger Bürgerknecht zu Florenz, identifiziert wurde.5 Die insgesamt wortgetreue Übersetzung ist ihrerseits schon ein Rezeptionszeugnis, da Arigos Text an einigen Stellen markant vom Original abweicht.6

3 Damit bleibt etwa Saladins rätselhafter Wundertisch aus Jans Enikels Weltchronik ebenso unberücksichtigt wie das spätestens 1461 entstandene Gedicht Michel Beheims vun ainem kung ain exempel auff die hailgen drivaltikeit, das auf die Überlieferung der Ringparabel (De triplici statu mundi) in den Gesta Romanorum rekurriert. Die Gesta beziehen in einer Allegorese den ›einzig wahren Ring‹ auf das Christentum und denunzieren Judentum und Islam als falsche Religionen. Vgl. dazu den Beitrag von Linus Möllenbrink in diesem Band. 4 Decameron / daz ist cento nouelle in welsch Vnd hundert histori oder neue fabel in teutsche. Übers. von Arigo. Ulm: Johann Zainer 1476. 5 Vgl. Lorenz Böninger: Die deutsche Einwanderung nach Florenz im Spätmittelalter. Leiden 2006 (The Medieval Mediterranean 60). Böningers Identifizierung des Decameron-Übersetzers beruht auf einem schlagenden Nachweis in einem Rechnungsbuch. Der Nürnberger Arrigho, der als ›Bürgerknecht‹ (famulus) der Patrizierfamilie Martelli wirkte, überwachte als Vormund einer minderjährigen Tochter des deutschen Kartografen Nicolaus Germanus deren Erziehung im Spital von San Matteo. Als er nach dem Tode des leiblichen Vaters finanzielle Ansprüche geltend machte, zahlte ihm das Spital 28 Goldflorin aus dem nachgelassenen Vermögen des Nicolaus Germanus, die dieser ihm schuldete, »per chagione che per lui tradusse un centonovelle in volghare tedescho« (zit. n. ebd., S. 341). Luisa Rubini Messerli: Boccaccio deutsch. Die Dekameron-Rezeption in der deutschen Literatur (15.–17. Jahrhundert). 2 Bde. Amsterdam, New York 2012 (Chloe 45), hier Bd. 1, S. 162–164, relativiert zwar die weitergehenden Überlegungen Böningers zu Person und Werk des Übersetzers, bestätigt aber Böningers in der Germanistik erst verspätet registrierte Identifizierung des Übersetzers. 6 Vgl. für einen ausführlichen Überblick über Arigos Übersetzung die Studien von Joachim Theisen: Arigos Decameron. Übersetzungsstrategie und poetologisches Konzept. Tübingen 1996 (Bibliotheca Germanica 37) sowie Claudia Bolsinger: Das Decameron in Deutschland. Wege der Literaturrezeption im 15. und 16. Jahrhundert. Frankfurt am Main u. a. 1998 (Europäische Hochschulschriften 1/1687).



Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland 

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So verblasst der metapoetische Aspekt in der deutschen Übersetzung,7 indem die italienische Gattungsbezeichnung »novella« mit dem größere Authentizität verbürgenden Begriff »histori« wiedergegeben und durch Adjektive variiert wird. Arigo hat die Bezeichnung »novella« im Titel für Melchisedechs Halserzählung mit »einer natürlichen histori vnd neüen fabel« (32,30 f.) übersetzt, die Bezeich­ nung »novella« im extradiegetischen Erzählerbericht als »neüe histori« (32,33), in Filomenas intradiegetischer Binnenerzählung als »histori« (32,35). Aus dem Terminus »novelletta«, den sowohl die intradiegetische Erzählerin Filomena wie der metadiegetische Erzähler Melchisedech verwenden, wird in der deutschen Version eine »kurcze[ ] histori« (33,10). Zum anderen relativiert Arigos Übersetzung den religionspolitischen Aspekt von Boccaccios Novelle. So hat er die Passage, in der Filomena den moralischen Skeptizismus als Ziel ihrer Novelle nennt, komplett übergangen: Per ciò che già e di Dio e della verità della nostra fede è assai bene stato detto, il discendere oggimai agli avvenimenti e agli atti degli uomini non si dovrà disdire: a narrarvi quella verrò, la quale udita, forse più caute diverrete nelle risposte alle quistioni [sic!] che fatte vi fossero.8

Zum Dritten ändert Arigo Aspekte, welche die Vererbung des Rings betreffen. Während bei Boccaccio der Ring regelt, »daß derjenige unter seinen Söhnen, der den Ring, als vom Vater ihm übergeben, würde vorzeigen können, für seinen Erben gelten und vor allen den Anderen als der vornehmste geehrt werden solle«,9 verkehrt Arigo die Logik, indem bei ihm der Ring das Erstgeborenenrecht ver­ bürgt: »das alweg pei seinem eltsten sun der ringe beleiben solte, vnd des vor den andern sölt erbe sein, vnd alweg vmb des ringes willen von den andern solt geert

7 Zugrunde liegt im Folgenden die von Adelbert von Keller herausgegebene und damals noch Heinrich Steinhöwel zugeschriebene Textausgabe: Decameron von Heinrich Steinhöwel. Hg. von Adelbert von Keller. Stuttgart 1860 (Abdruck der Novelle I 3 auf S. 32–35); Zitate mit Seiten- und Zeilenangaben im laufenden Text. 8 Tutte le opere di Giovanni Boccaccio. Hg. von Vittore Branca. 12 Bde. Bd. 4: Decameron. Mailand 1976. Novella I 3: S. 54–57, hier S. 54. Auf diese Ausgabe beziehen sich die eingeklammerten Seitenzahlen nach den italienischen Zitaten im laufenden Text. In der deutschen Übersetzung lautet das Zitat: »[…] und, da von Gott und von der Wahrheit unseres Glaubens bereits in angemessener Weise gesprochen ist, es mithin nicht unziemlich erscheinen kann, wenn wir uns nun zu den Schicksalen und Handlungen der Menschen herablassen, so will ich Euch jene Geschichte erzählen, die vielleicht Eure Vorsicht vermehren wird, wenn Ihr auf vorgelegte Fragen zu antworten habt.« Die deutsche Version folgt der Übersetzung Karl Wittes: Das Dekameron von Giovanni Boccaccio. Aus dem Italienischen übersetzt von Karl Witte. Zweite, verbesserte Auflage. 3 Bde. Leipzig 1843, hier Bd. 1, S. 50. 9 Ebd., S. 51.

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 Achim Aurnhammer

sein« (34,9–11). Auch harmonisiert Arigo das Vater-Söhne-Verhältnis. Wird der Vater in der metadiegetischen Erzählung bei Boccaccio nur als »valente uomo« (S. 55) charakterisiert, so überhöht Arigo ihn zum »guote[n] alte[n] weise[n] vater« (34,20), später zum »guote[n] alte[n] man« (34,30). Diese sentimentale Verklärung des Familienverhältnisses könnte Arigos Kenntnis der apologetischen Tradition geschuldet sein, denn auch der Ring selbst erhält in der Übersetzung neue Eigenschaften, die an den wundertätigen Ring des apologetischen Zweigs erinnern. Wird der Ring bei Boccaccio sowohl wegen seines materiellen wie ästhetischen Werts gewürdigt (»anello bellissimo e prezioso« [S. 55]), zwei Eigen­ schaften, die in der Absicht des Besitzers, den Ring als Erbstück zu verewigen, chiastisch aufgenommen werden (»al quale per lo suo valore e per la sua bellezza volendo fare onore e in perpetuo lasciarlo ne’ suoi discendenti« [S. 55]), so rela­ tiviert Arigo den materiellen Wert zugunsten einer immateriellen Qualität: »Das was ein edel schöne guldin rincke, den er vmb seiner grossen schöne vnd tugent willen eren meinet das er nymer mere auß seinem geschlechte kem« (34,6–8). Diese Tendenz bestätigt eine weitere Stelle, in der die bloße Tradition der Wei­ tergabe des Ringes (»la consuetudine dello anello« [S. 56]) durch eine Zwillings­ formel fast zu einem Wunder aufgewertet wird: »des ringes tugent vnd wirdikeit« (34,16). Wenn Boccaccio die Ähnlichkeit der Ring-Replikate dadurch illustriert, dass der Auftraggeber sie ›kaum unterscheiden konnte‹ (»appena conosceva qual si fosse il vero« [S. 56]), stellt Arigo sogar dieses ›kaum‹ in Abrede und negiert, dass ihr Schöpfer sie auseinanderhalten konnte: »Die [sc. zwei Replikate] der meister dem gemachten seinem ring also geleich machet, daz er selbes do man sy zuo einander leget einen von dem anderen nicht erkennen mochte« (34,25– 27). Mit dieser Änderung will Arigo meines Erachtens nicht den Unterschied der drei Ringe leugnen, sondern die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens betonen.10 Den metaphysischen Aspekt, den Boccaccios skeptische Version über­ geht, bestätigt eine bedeutsame Zutat Arigos am Schluss seiner Übersetzung: Als Melchisedech dem Sultan mitteilt, dass die Frage, welcher der drei Ringe der echte sei, ebenso offen ist wie die Frage, welche der drei Religionen die wahre sei, fügt Arigo den bedeutsamen Satz hinzu: »Dann alleine das got wissent ist« (35,7). Die Übersetzungskritik zeigt, dass Arigo trotz seiner allgemein gelobten wortge­ treuen Übertragung Tendenzen der apologetischen Tradition in die Ringparabel einarbeitet und so eine  – freilich nur implizite  – Diskurskreuzung präsentiert.

10 Diese Bedeutung findet sich auch in anderen Überlieferungen der Ringparabel, in denen nicht der Wahrheitsanspruch aufgegeben, sondern auf die Unwissenheit des Menschen hinge­ wie­sen wird.



Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland 

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Diese Einmischung scheint mir für die weitere Rezeption von Boccaccios Ringpa­ rabel in Deutschland bedeutsam.

2 Die Statuenparabel im Liber divinae revelationis (1490) Ein wenig bekanntes Wirkungszeugnis bietet der anonyme deutsch-lateinische Liber divinae revelationis aus dem Jahre 1490 in einer verschollenen humanis­ tischen Sammelhandschrift der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg.11 Unter den Gleichnissen, mit denen der Autor des »mystisch-alle­ gorisch-philosophische[n] Traktat[s] in apokalyptischem Style« seine religiö­ sen Vorstellungen illustriert, findet sich unter dem Rubrum »Alia similitudo« [›Anderes Gleichnis‹] auch eine Aktualisierung der Ringparabel.12 Zum »gleich­ niß« führt der Autor als »exempel« das »gescheft« von einem »forsten« und einem »reichen iüden« an. Diese Konstellation, aber auch der Grund der Unter­ redung, nämlich die Geldverlegenheit des Fürsten (»geldiß behüeüig«), sowie seine Absicht, durch eine Fangfrage nach der besten Religion den Juden in ein unlösbares Dilemma zu bringen und »ßo diß iuden gelt zu bekomen«, ist ebenso unverkennbar Boccaccios Novelle nachgebildet wie die Gleichnisrede des Juden. Auch ist das »gleichniß« in einen Rahmen eingebettet, allerdings um eine Erzähl­ ebene verkürzt. Denn der Erzählrahmen unterscheidet sich insofern von dem ita­ lienischen Prätext, als er von keinem intradiegetischen Binnenerzähler, sondern

11 Als Digitalisat reproduziert ist Emil Ettlingers Beschreibung aus dem Jahr 1911 der Königsberger Handschrift 389 (www.bbaw.de/forschung/dtm/HSA/Koenigsberg_700366240000.html [Zugriff: 30.09.2016]). Zu neueren Beschreibungen der verschollenen dt.-lat. Handschrift vgl. Ralf G. Päsler: Anmerkungen zu den mittelniederdeutschen und mittelniederländischen Handschriften der ehemaligen SUB Königsberg. In: Korrespondenzblatt des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 102 (1995), S. 6–14, hier S. 13; ders.: Katalog der mittelalterlichen deutschsprachigen Handschriften der ehemaligen Staats- und Universitätsbibliothek Königsberg. Nebst Beschreibungen der mittelalterlichen deutschsprachigen Fragmente des ehemaligen Staatsarchivs Königsberg. Auf der Grundlage der Vorarbeiten Ludwig Deneckes hg. von Uwe Meves. München 2000 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 15), S. 56–59. Das Incipit, transkribiert teilweise in Ettlingers Beschreibung, enthält eine genaue Schilderung der asketischen Schreibsituation des anonymen Autors (»[…] in einer wuestnung/ lang den eyn halb iaer und hab mich abgesundert/ fon al gmeynschaft der menschen […]«). 12 Die Charakterisierung des Liber divinae revelationis und die Kenntnis des »gleichniß[es]« auf den Seiten 244–246 der Königsberger Hs. 389 verdanken wir der Transkription von Emil Ettlinger: Eine Parallele zur Parabel von den drei Ringen. In: Euphorion 19 (1912), S. 107–110, Zitat S. 107 f. Die folgenden Zitate stammen – ohne Seitenangabe – aus Ettlingers Edition.

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von dem extradiegetischen Erzähler dargeboten wird. Inhaltlich ist der Rahmen ›europäisiert‹, indem das orientalische Setting verallgemeinert ist: Die beiden Protagonisten, der Fürst und der jüdische Geldverleiher, bleiben ebenso namen­ los wie »diß forsten landt«, und der Fürst, der anstelle des Sultans Saladin agiert, fragt den Juden nicht mehr nach den drei monotheistischen Religionen, sondern nur nach dem Christentum: »ab der kristen glaub gerecht weer«.13 Noch stärker vom italienischen Prätext weicht die Binnenerzählung ab, die »gleychüng«, mit welcher der Jude dem Fürsten antwortet. So gibt der unbekannte Autor die RingTradition, den generationenübergreifenden Aspekt der Parabel, auf, indem er auf die Analepse verzichtet und die Begebenheit auf eine, zudem spezielle VaterSöhne-Relation beschränkt. Erzählt wird von einem »reich[en] man«, der drei blind geborene Söhne hat. Damit sich die drei Söhne nach seinem Tod nicht um ihr Erbteil streiten, macht ihr Vater all sein Vermögen, »al daß er heth«, »zu geld«. Die so erlösten Edelmetalle lässt er zu drei äußerlich gleichen Statuen »nach menschlicher gestalt« umgießen und jeden der blinden Söhne durch Betasten eine Statue auswählen. Ohne dass aufgelöst würde, »was yeder gluckes getroffen hot«, also welcher der Söhne die goldene, silberne oder kupferne Statue erhielt, bricht der intradiegetische Erzähler das Gleichnis zugunsten einer Allegorese ab: Aller gneedigster fürst, disße gleichnisß mag wol gleicht werden den dryen glauben, de aüf al der werlt seyn, daß is den iüdischen glauben, den turckischen glauben vn den cristen glauben. De iüden maynen yr glaub ist gerecht. De türcken maynen yr glaub is gerecht, vnd de cristen maynen yr glaub is gerecht. Szo nu kummet de czeit do wyr scheyden fon den leicham, wirt vns yrst bokandt, was wyr gelaupt haben. Auß diß mag E[uer] f[ürstliche] g[naden] verneemme was mich bokandt is, was glaub gerecht ab vngerecht iß.14

Das Gleichnis im Liber divinae revelationis schließt mit der intradiegetischen Allegorese, ohne wieder in die extradiegetische Rahmenerzählung zu wech­ seln. Damit bleibt die aktionale Funktion der Binnenerzählung unaufgelöst, die Antwort des Fürsten auf die Erzählung des »reychen iüden« ausgespart. Aus dem Vergleich mit dem italienischen Prätext erhellen die spezifischen Unterschiede dieser deutschen Aktualisierung. Sie beruhen vor allem darauf, dass der Autor das zentrale Motiv des Rings durch eine Statue ersetzt hat. Während in Boccaccios Textversion sich trotz der täuschenden Ähnlichkeit das

13 Auch wenn der unbekannte deutsche Autor fraglos Boccaccio als Prätext bearbeitet hat, lässt sich nicht entscheiden, ob er nur das italienische Original oder bereits Arigos deutsche Übersetzung von 1476 kannte. Die Aktualisierung im Liber divinae revelationis weist allerdings keine lexikalischen oder sprachlich-stilistischen Ähnlichkeiten zu Arigos zeitnaher deutscher Version auf. 14 Liber divinae revelationis, S. 246, zit. n. Ettlinger (Anm. 12), S. 109 f.



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einzig echte Original von den zwei Kopien unterscheidet, überführt die Preziosen­ motivik im Liber divinae revelationis die Opposition von ›wahr‹ und ›falsch‹ in eine Hierarchie: Die drei Kunstwerke sind mehr oder weniger gelungene Ausfertigungen derselben Bildidee, die somit auch ›mehr oder weniger‹ wahr sind. Mit der menschenähnlichen Statue kehrt der Autor meines Erachtens die Schöpfungsidee der abrahamitischen Religionen um, der zufolge Gott den »Menschen nach seinem Bilde schuf« (Gen 1,27 und 2,7–8.15–22; Koran 6,2 und 7,12). Durch die Aufhebung der Opposition in einer Skala verwirft er aber keine der drei monotheistischen Religionen, sondern schreibt allen eine Teilwahrheit zu. Doch wird die Skepsis in religiösen Fragen, an die Boccaccios Novelle appelliert, zugunsten einer religiösen Heilsgewissheit zurückgenommen. Indem der Autor die Auswahl der Statuen mit dem Motiv der Blindheit kombiniert, verstärkt er den meta­physischen Wahrheitsaspekt, auf den der Schluss der Erzählung mit dem Jüngsten Gericht zielt: »Szo nu kummet de czeit do wyr scheyden fon den leicham, wirt vns yrst bokandt, was wir gelaupt haben.« Zwar wissen die Söhne der deutschen Statuenparabel – anders als bei Boccaccio –, dass sie eine Wahl treffen, aber als Blindgeborene wissen sie selbst nicht, was sie wählen. Doch während in Boccaccios Novelle unklar bleibt, wer den echten Ring besitzt, erfahren die blinden Söhne nach der Wahl, »was yeder gluckes getroffen hot«, ohne dies im Unterschied zur sehenden Umgebung selbst erkennen zu können. Dass die Erkenntnis erst für das Jüngste Gericht avisiert ist, verbürgt die zitathafte Allusion auf das Johannesevangelium (9,39), wo Jesus spricht: »Ich bin zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf daß, die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden.« Indem der offene Schluss im Liber divinae revelationis den Erzählrahmen aus Boccaccios Novelle nicht wieder aufgreift und die Reaktion des Fürsten ganz aus­ blendet, verernstigt er zum einen das Gleichnis. Zum anderen relativiert er aber den Wahrheitsanspruch, indem er allen drei monotheistischen Religionen einen Wert zuschreibt. Inwieweit diese allgemeine Aufwertung mit dem Vergleich der drei monotheistischen Religionen zusammenpasste, den die Königsberger Sam­ melhandschrift neben dem Liber divinae revelationis enthielt, wäre lohnend zu prüfen. Doch bleibt die kontextuelle Absicherung der These verwehrt, solange die Handschrift verschollen ist.

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3 Hans Sachs’ Meisterlied Der Jued mit den dreyen ringen (1545) und ein anonymes Gleichnus Eines Juden der Religion (1605) Hans Sachs hat Boccaccios Ringparabel in einem Meisterlied »in dem schwarczen thon Hans Vogels« am 10. Dezember 1545 bearbeitet.15 Sachs hält sich wie in mehr als hundert anderen seiner Dichtungen treu an Boccaccio, der im Schlussvers auch namentlich genannt wird (»Schreibet Pocaciüs gerade« [V. 60]), beziehungs­ weise an Arigos deutsche Übersetzung von Decameron I 3. So folgt Sachs dem Prätext Arigos auch in der Konstellation und den Namen der Protagonisten: »der soldan zw Babilon« (V. 1) (bei Arigo: »künig Soldan von Babiloni« [33,11]) stellt dem Juden »Melchisedeck« (V. 4) eine Fangfrage, die dieser mit der Ringparabel beantwortet. Zwar hat Sachs den Novellenstoff für sein Meisterlied stark gekürzt, aber einige Passagen und Wendungen zeigen unverkennbar, dass er Arigos deut­ sche Version für seine Bearbeitung benutzte. So übernimmt er für Melchisedecks Binnenerzählung Arigos Terminus »histori« statt »novelletta«. Der Jued mit den dreyen ringen zeigt Hans Sachsens »Perfektion in der Kunst des Resümierens«.16 Sachs komprimiert die Novelle auf nur 60 Knittelverse eines Meisterliedes. Das Lied ist in drei Strophen gegliedert, die jeweils drei Stollen von insgesamt 20 Versen umfassen. Zwei sechszeilige Stollen, bestehend aus einem männlich-weiblich kadenzierenden Kreuzreim und einem Reimpaar, bilden den Aufgesang. Den achtzeiligen Abgesang leitet ein zusätzliches Reimpaar ein. Die Handlung der Novelle ist nicht ganz proportional auf die drei Strophen des Meisterliedes verteilt. Etwa die Hälfte der Novelle entfällt auf die erste Strophe, während die zweite Hälfte sich auf die Strophen 2 und 3 verteilt. Allerdings werden die Strophengrenzen überspielt: So setzt Melchisedecks Binnenerzäh­ lung in direkter Rede mit dem Abgesang der ersten Strophe ein und erstreckt sich bis in den Abgesang der Schlussstrophe. Die Rahmenerzählung, die nur 15 Verse, also ein Viertel des Lieds umfasst, wird – ähnlich wie im Decameron – durch eine extradiegetische Erzählerrede mit einem Erzählerbericht und einem Quellenver­ weis im abschließenden Paarreim noch einmal eingebettet:

15 Hans Sachs: Sämtliche Fabeln und Schwänke. Die Fabeln und Schwänke in den Meis­ter­gesängen. Hg. von Edmund Goetze und Carl Drescher. Bd. 4. Halle an der Saale 1903, S. 1–3 (Nr. 240). Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Versangaben im laufenden Text. 16 Joachim Knape: Boccaccio und das Erzähllied bei Hans Sachs. In: Hans Sachs im Schnittpunkt von Antike und Neuzeit. Akten des interdisziplinären Symposions vom 23./24. September 1994 in Nürnberg. Hg. von Stephan Füssel. Nürnberg 1995 (Pirckheimer-Jahrbuch 10), S. 47–81, hier S. 65.



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Durch weisheit entron er dem pade, Schreibet Pocaciüs gerade. (V. 59 f.)

Die Forschung hat versucht, Hans Sachsens Meisterlied eine religionspolitische Bedeutung zuzuschreiben. Sonja Zöller hat Hans Sachsens Jued[en] mit den dreyen ringen historisch kontextualisiert, indem sie die protestantische Partei­ nahme von Sachs gerade in diesen Jahren anführt und auf die zeitliche Nähe der Dichtung zum Schmalkaldischen Krieg Kaiser Karls  V. gegen die protestan­ tischen Fürsten und den Beginn des Tridentinischen Konzils hinweist.17 Aller­ dings enthält der Text kaum explizite Bezüge auf die aktuelle politische Situa­ tion. Allenfalls die Situierung der Binnenerzählung »in Rom, der stat« (V. 15) lässt sich als Anspielung auf die Katholische Kirche vor der Konfessionalisierung und auf das Römische Reich deuten, könnte aber auch eine Reminiszenz an die Ring­ parabel-Tradition der Gesta Romanorum sein. Eher noch passte die Anrede »herr kaiser« für den Sultan – bei Arigo »Genediger herre« (33,37) – zu dem politischen Konflikt. Doch selbst wenn man die strenge zeitgenössische Zensur in Nürnberg in Rechnung stellt, wären bei einer politischen Indienstnahme der Ringparabel deutlichere Differenzen zum Prätext zu erwarten. Auch die moralisch-didak­ti­ schen Aspekte, auf welche hingewiesen wurde18 – etwa dass der Vater »alle drey [Söhne] gleich lieb« hat, weil sie »sich all erlich sehen liesen« (V. 27 f.), und jedem Sohn den Ring verspricht, »so er sich flis erlich zw leben« (V. 32)  –, sind nicht wirklich überzeugend. Die moralische Aufwertung der Söhne findet sich zwar bei Arigo nur blass (»drey sün alle gerad vnd schöne irem vater geleiche« [34,14]), aber explizit in Boccaccios polysyndetischer Beschreibung: »tre figliuoli belli e virtuosi e molto al padre loro obedienti« (S. 56). So ist auch dieser Aspekt bei Sachs weniger eigenständig, als vielmehr dem Prätext geschuldet. Dies gilt auch für die Allegorese am Ende der Binnenerzählung: Doch welcher glaüb der pesser seye, Pleipt, wie der ring, im zweiffel hangen freye. Das selb ist got allein pekant. (V. 53–55)

Die Allegorese stimmt fast wörtlich mit Arigos Übersetzung überein und über­ nimmt auch dessen eigenständige salvatorische Klausel: »Aber welches vnter den dreyen daz gerechtest sey hangen als der ring beleybt. Dann alleine das got wissent ist« (35,6 f.).

17 Vgl. Sonja Zöller: Die Ringparabel des Hans Sachs. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 126/1 (2007), S. 29–47, bes. S. 40–46. 18 Vgl. Julius Hartmann: Das Verhältnis von Hans Sachs zur sogenannten Steinhöwelschen Decameronübersetzung. Berlin 1912 (Acta Germanica. Neue Reihe 2), S. 26.

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Meisterlied von Hans Sachs kaum religionspolitisch, aber auch kaum stadtbürgerlich geprägt ist. Sachs bleibt nahe bei Boccaccios Originaltext und Arigos Übersetzung. Doch hatte die Ring­ parabel im Zuge der Konfessionalisierung eine neue Bedeutung gewonnen, die sie vorher nicht hatte: Sie ließ sich als irenisches Ausgleichsmodell auf den Kon­ flikt der christlichen Konfessionen anwenden. Angesichts des schon unlösbaren Streits um die Wahrheit der drei monotheistischen Religionen erübrigt sich erst recht jeder Streit zwischen Protestanten und Katholiken. Das Meisterlied des Hans Sachs gewinnt seine religionspolitische Aktualität somit weniger durch eigene Neuprägung der Tradition als vielmehr durch eine neue politische Konstellation. Ein späteres anonymes Meisterlied aus dem Jahre 1605 nimmt unter dem Titel Ein Gleichnus Eines Juden [von] der Religion die zeitgenössische Aktualität des Themas explizit auf.19 Es besteht aus drei Strophen zu je 23 Versen und beginnt mit einer extradiegetischen Einleitung. Darin wird das Sinnieren »Manchier[s] frume[n] Christ[en] […] Ob er Auch in der Rechten Religion Sey« (V. 1 f.) zugunsten einer Herzensandacht abgelehnt: »dan got wil haben doch | Ein feltig glauben vnd niht grinden hach« (V. 14 f.). Als »exempel« (V. 16) wird eine intradiegetische Binnengeschichte präsentiert, in welcher die Ringparabel als metadiegetische Erzählung eingebettet ist. Zwar wird die Quelle, anders als im Meistersang üblich, nicht genannt, aber der intertextuelle Bezug zu Boccaccio ist offensichtlich. Daran ändert auch die Aktualisierung der Konstellation nichts. Die Handlung spielt nicht mehr in Babylon, sondern im kaiserlichen Prag des 16.  Jahrhunderts. An die Stelle des Sultans tritt Kaiser Maximilian II., welchem »Sein gross Pfeffische schar […] in Ohren« (V. 19 f.) lag, da man gewärtig war, »er wer Luterisch worden noch« (V. 21). In seinen Glaubenszweifeln fragt Maximilian »ein[en] glehrte[n] Jud[en] Zu Brag« (V. 22), »welches doch die Rechte Ler wer, | die got gefil« (V. 26 f.). Durch Hin- und Widerrede bleibt die Gesprächssituation präsent: Der »Keisser« wird sechsmal in Titelansprache oder namentlich in dem Meisterlied genannt. Dementsprechend geht es nicht mehr um die drei monotheistischen Religionen, sondern um die drei christlichen Konfessionen, ohne dass sie explizit benannt würden. Auch die metadiegetische Parabel, mit welcher der Jude die Fangfrage beantwortet, ist insofern aktualisiert, als die Vorgeschichte der Ring-Tradition

19 Vgl. den Abdruck von Theodor Hampe: Zwei Parabeln von den Meistersingern. In: Vier­teljahrschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893), S. 102–110, hier S. 102–104. Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Versangaben im laufenden Text. Ebd. wird das Gedicht auch knapp gewürdigt. Siehe außerdem die Beschreibung der Berliner Handschrift Mgf 22, 78r–79v im Repertorium der Sangsprüche und Meisterlieder des 12. bis 18. Jahrhunderts. Hg. von Horst Brunner u. a. Bd. 6: Katalog der Texte. Jüngerer Teil A–C. Bearb. von Horst Brunner u. a. Tübingen 1990, S. 234 f. (2A/788).



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ganz getilgt und lediglich auf den novellistischen Einzelfall eines Vaters reduziert ist, der nicht weiß, welchem seiner »drey Sön« (V. 44) er seinen Lieblingsring ver­ machen soll, da sie »im Alzeit | Zu gleich herzlich Lieb« waren (V. 44 f.). Er lässt zwei Replikate herstellen, gibt aber dem jüngsten Sohn »den ghrechten Ring« (V. 54), während er den beiden älteren die Imitate schenkt, aber auch ihnen versi­ chert, sie hätten »den Rechten« (V. 58). Nach seinem Tod glaubt jeder, den echten Ring zu besitzen. Ob sich die markante Abweichung vom Prätext, der zufolge der jüngste Sohn den wahren Ring erbt, auf die Chronologie der Konfessionen über­ tragen lässt – das wären die Kalvinisten –, ist fraglich und wird im Text offenge­ lassen. Die Abweichung vom Anciennitätsprinzip könnte auch die ausgelassene Vorgeschichte mit der des letzten Vaters kombinieren. Doch geht es in diesem Meisterlied nicht mehr um eine »Verschmelzung der beiden Haupttraditionen«, wie Hampe meint.20 So ist die Allegorese im Meisterlied auf lediglich zwei Verse verkürzt und ganz allgemein im Sinne des Augsburger Religionsfriedens verfasst: Also get es im glauben Iden noch, Meint er Allain den Rechten hab. (V. 65 f.)

Das Lachen und die zweideutige Antwort des konfessionell unsicheren Kaisers intensivieren nicht nur den irenischen Tenor, den die Ringparabel schon bei Sachs hatte, sie relativieren vielmehr die Frage nach der wahren christlichen Konfession: der Keisser Lachet vnd Zu im Anfing: dein Vernunfft dich erretet hat, dan ih mus auch schir glauben disse ding. (V. 67–69)

Der Umstand, dass der extradiegetische Erzähler nicht noch einmal das Wort ergreift, sondern es bei dem Lachen und der skeptischen Antwort des Kaisers belässt, deutet an, dass es weder um Apologetik noch um Toleranz, sondern um ein Plädoyer für Skepsis in Glaubenssachen geht.

20 Hampe (Anm. 19), S. 106.

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4 Boccaccios Ringparabel in der deutschen Schwanktradition: Schertz mit der Warheyt (1550) und Dietrich Mahrolds Roldmarsch Kasten (1608) Die deutsche Schwankliteratur hat zwar reichlich Anleihen bei Boccaccio genom­ men, doch galt die Vorliebe anderen Novellen des Decameron als der Ringpara­ bel. Sie kommt nur in der anonymen Sammlung Schertz mit der Warheyt (1550) vor.21 Dort leitet sie die mehrteilige Rubrik Von List/ gescheidigkeyt/ lügen vnd Betrůg ein. Dementsprechend lautet der dem Ausgleichstypus einer asymme­ trischen Schwankkonfiguration angepasste Titel: Wie ein Jud durch geschickte antwort dem Soldan auff ein fehrliche Frage, einem fallstrick entgienge.22 Schon Stiefel hat erkannt, dass Boccaccio, genauer Arigos deutsche Übersetzung, die Quelle des Schwanks ist.23 Auch in der Übernahme des so gar nicht schwankty­ pischen Inklusionsschemas von Rahmen- und Binnenerzählung folgt der Schertz mit der Warheyt der deutschen Decameron-Übersetzung. Allerdings hat der anonyme Bearbeiter den Prätext radikal, aber gekonnt gekürzt, wie ein exemplarischer Vergleich der Eingangspassage aus dem Schertz mit der Warheyt mit der entsprechenden Parallelstelle aus Arigos Decameron deutsch zeigt. Die übernommenen Wörter sind unterstrichen und zeigen, wie sehr bei aller Reduktion der Schwank sich Arigos Übersetzung bedient: Arigo (1476)

Schertz mit der Warheyt (1550)

Dar vmb ir wissen sült wie künig Soldan von Babiloni nicht allein vmb seines grossen weistum willenn zů Babiloni Soldan gema­ chet ward Sunder auch mit seinem grossen weistum grosse streite wider heiden vnd

Kvnig Soldan vonn Babilon/ hatte zu einer zeit inn grossen Kriegen/ den mehrern theyl seiner schätz verkriegt/ vnnd einer grossen summ gelts notturfftig war. Nach langem bedencken fiel jm in ein Jud/ mit namen

21 Arthur Ludwig Stiefel: Über das Schwankbuch »Schertz mit der Warheyt«. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 95 (1895), S. 55–106. Der in der Forschung konstatierte enge Zusammenhang mit Paulis Schimpff und Ernst gilt für die Ringparabel nicht. Sie kommt bei Pauli nicht vor. 22 Schertz mit der Warheyt. Vonn guttem Gespräche / In Schimpff und Ernst Reden […]. Frank­ furt: Christian Egenolff [1550], Bl. VIIr–VIIIr. Exemplar: Herzog August Bibliothek Wolfen­büttel. Eine vollständige Transkription findet sich im Anhang zu diesem Beitrag. Sie liegt im Folgenden auch den Zitaten zugrunde (mit Zeilenangaben in Klammern). 23 Vgl. Stiefel (Anm. 21).



Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland  Kristen gewan; Doch sich zů der zeite in grossen kriegen vnd nöten fande, als der da den merern teile seiner schecz verkrieget hette, vnd zů der zeit einer grossen summe geltes nottorftig was, nicht weste wo die so palde ze nemen; vnd nach langem beden­ cken im Melchisedech der Iude ze gedan­ cke kam, der gar ein reicher buchrer vnd zů Allessandria gesessen was, […]. (33,11–19)

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Melchisedech/ ein Reicher wůcherer/ ge­ses­ sen in Alexandria. (4–6)

Auch die Gattungsbezeichnung »kleine histori« für die eingebettete Binnener­ zählung ist Arigo entliehen. Inhaltliche Änderungen von Belang sind kaum fest­ zustellen. Die Technik der radikalen Kürzung bestimmt die ganze Bearbeitung bis auf die Allegorese der Binnenerzählung: Hier, am Ende von Melchisedechs Rede, zeigt sich aber, dass der Bearbeiter kaum noch gestrichen und wiederum Arigos eigenständigen Zusatz »Dann das alleyn Gott zu wissen ist« übernommen hat. Arigo (1476)

Schertz mit der Warheyt (1550)

Sölliche sach für erber person prachte, vnd geschoben ward zů erkennen wellicher der recht erbe sein solte. Do fande man daz die drey ringe alle ein ander also geleich waren das man des rechten vnd des ersten ringe nicht erkennen mocht Vmb des willen welicher der rechte ringe vnd erbe sein sölte hangen beleybe, vnd mit der warheit nyemant dar über sein vrteyl sprechen wölt. Also mag ich edeler herre eüer fürge­ legten materi sprechen Der dreyer gesecz halben die den dreyen geschlechten von got gegeben wurden Dez iglich geschlechte das sein für das peste vnd gerechtest helt vnd gelaubt. Aber welches vnter den dreyen daz gerechtest sey hangen als der ring beleybt. Dann alleine das got wissent ist. (34,35–35,7)

Diese sach ward gestelt zu erkennen welcher der recht erb sein solt. Da fand man/ daß die drei ring einander also gleich waren/ daß man den ersten nit erken­ nen mochte/ also bleibs hangen/ vnd mit warheyt niemandt darüber sein vrteil fellen mocht. Also mag ich Genediger Herr, zu ewer fürgelegten frag sagen/ der dreier gesetz halben/ die den dreien geschlech­ ten von Gott geben wardenn/ daß iegklichs geschlecht das sein für das beste/ gerech­ test helt vnnd glaubt/ aber welches vn der den dreien das gerechtest sei/ als der ring/ bleibt hangen/ Dann das alleyn Gott zu wissen ist. (30–36)

Dagegen ändert und vereinfacht der Schwank den Schluss der Novelle: Während bei Boccaccio/Arigo der Sultan seine Finanznot dem Juden diskret gesteht und der Geldverleiher ihm von sich aus das dringend benötigte Geld gibt, werden die beiden trotz ihres unterschiedlichen Standes und Glaubens lebenslange Freunde. Dagegen kürzt der Schwank die Rührszene: Der Jude schenkt dem Sultan nicht das Geld, sondern leiht es ihm, worauf der Sultan den Juden gut behandelt.

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Arigo (1476)

Schertz mit der Warheyt (1550)

Nach dem der Soldan im alle seine note öffnet, vnd waz er mit im in willen het ze tůn im zů wissen thet, wo er sich also züch­ tiglich von im nicht hette reden kunnen; der Iud den hern also glimpfflich sahe nicht gelassen mocht aller der summe geltz der er nottorft was. der er im williglihenn zů liebe ward, Dar vmb im der Soldan ein genügen thet über das in wirdiglichen begabet, vnd für seinen besundern gůten freunt hin für alzeit hielt. (35,11–17)

Da der Jud den Herren also benötigt sahe/ liehe er jm die summa gelts/ der er notturfft war/ jm willigklich zu lieb ward/ Darumb jm der Soldan ein genügen thet/ vnd hinfür allzeit wol hielte. (40–42)

Die Differenz zeigt deutlich: Der Schwankbearbeitung geht es nur um die schlag­ fertige Antwort des Juden, dagegen wird die Rahmenerzählung stark gekürzt und um ihre thematische Funktion gekappt. Eine weitere Schwankbearbeitung der Ringparabel stammt von dem hes­ sischen Schulmeister Dietrich Mahrold. Sie findet sich in dem Schmahl vnndt Kahl ROLDMARSCH KASTEN, einer Schwanksammlung in Knittelversen aus dem Jahr 1608, die nur in einer bislang unpublizierten, im Anhang erstmals edier­ ten Kasseler Handschrift überliefert ist.24 29 der 100 gereimten »Historien unndt Boßirlicher Schwanck unndt Geschicht« stammen aus Boccaccios Decameron, allerdings oft nicht direkt aus dem Prätext, sondern über andere Texte vermittelt. Mahrolds Bearbeitung der Ringparabel in 204 Knittelversen, die den Titel trägt Wie ein listiger reicher Jud, genandt Melchisedech, mitt einer Naturlichen Historien, großer Sorg vndt Angst entwuscht, die ihm von einem grossen Herrn zugericht vndt bereidt war, stützt sich vor allem auf den Schertz mit der Warheyt. Dieser Schwank-Bearbeitung folgt Mahrold in charakteristischen Wendungen.25 Doch greift er auch auf Arigos Decameron-Übersetzung zurück. Ihr verdankt er neben der extradiegetischen Vorgeschichte, mit der bei Boccaccio die Erzählerin Neifile

24 Vgl. Johannes Bolte: Über die Schwanksammlung Dietrich Mahrolds (1608). In: Jakob Freys Gartengesellschaft (1556). Hg. von J. Bolte. Tübingen 1896 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 209), S. 265–275. 25 Darauf weist Hartmann (Anm. 18) in seinem Anhang zu Mahrold hin (S. 111). Auch Michael Waltenberger: Geltendes im Nichtigen. Beobachtungen zur Autorisierung ›niederen‹ Erzählens in der Gartengesellschaft (1557), in Mäynhincklers Sack (1612) und im Roldmarsch Kasten (1608). In: Erzählen und Episteme. Literatur im 16. Jahrhundert. Hg. von Beate Kellner, Jan-Dirk Müller und Peter Strohschneider. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 136), S. 303–328, bes. S. 320–322, bespricht Ma(h)rolds drei Boccaccio-Adaptationen (X 8, I 3, I 4) und bestimmt als übergreifendes Bearbeitungsprinzip auch für die Ringparabel eine »gesteigerte[ ] narrative[ ] Perspektivik und Ambivalenz« (S. 322).



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ihre »novelletta« einleitet, Details wie etwa den Umstand, dass der Meister, der die Replikate verfertigt hat, sie selbst nicht mehr vom Original unterscheiden kann.26 Schon der Umstand, dass Mahrold die extradiegetische Einleitung Boccac­ cios, die zu Vernunft im Allgemeinen und zu Skepsis in religiösen Fragen im Besonderen mahnt, im Gegensatz zu seinem primären Prätext Schertz mit der Warheyt übernimmt, lässt auf die Aktualität religionspolitischer Konflikte in der Zeit schließen. Tatsächlich war Mahrolds Landesherr, der hessische Landgraf Moritz, 1605 zum Calvinismus übergetreten, hatte sich aber im Jahre 1608 der Protestantischen Union lutherischer und calvinistischer Fürsten angeschlossen. Wie sehr diese konfessionspolitischen Konflikte die Bearbeitung prägen, zeigen drei charakteristische Stellen, an denen Mahrold von seinen Prätexten aktuali­ sierend abweicht. Zum einen rückt er das Geschehen in die Gegenwart und ersetzt den Sultan durch einen ungenannten Fürsten, den onomastisch markierten Gegenspieler »Melchisedech« durch einen getauften Juden, also einen sogenannten Juden­ christen: Es wahr vnlengst ein großer Herr, Ahn Landt vndt Leuten mechtig sehr, […] Aber nach Langem bsinnen Sein Vndt schwehren gdancken, fiel ihm eÿn Ein reich gtaufft Juede, welcher hies Melchisedech, der war gewies Ein großer geitzger Wucherer, Von dem verhofft nuhn gdachter herr Die Summa Geltts zuvberkomn, […]. (V. 15–31)

Ob in dieser Konfiguration eine antisemitische Tendenz zum Ausdruck kommt, die Zöller auch in der Betonung der angeblich negativ konnotierten »List« und in physiognomischen Charakterisierungen zu finden meint,27 scheint mir fraglich. So werden die Überlegungen Melchisedechs in einem langen empathetischen

26 Auch die Bezeichnungen der beiden Teile der Erzählung – »kurtze geschicht« für die erste Binnenerzählung und »klein historjie« für die darin eingeschlossene Binnenerzählung – lassen Mahrolds zusätzliche Orientierung an Arigo erkennen. 27 Vgl. Sonja Zöller: Abraham und Melchisedech in Deutschland oder von Religionsgesprä­ chen, Unbelehrbarkeit und Toleranz. Zur Rezeption der beiden Juden aus Giovanni Boccaccios Decamerone in der deutschen Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts. In: Aschkenas 7/2 (1997), S. 303–339, hier S. 333.

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Gedankenzitat wiedergegeben, und schließlich wird der »getaufte Jude«  – die zweite Änderung Mahrolds – für seinen Witz mit einem Hofamt belohnt: […] drumb ihm der Herr Ein gnugen that, genedig sehr, Vndt vber diß ihn bgabt gahr miltt, Vndt vor Sein gheÿmen Rath fest hieltt. (V. 201–204)

Die dritte und für die konfessionspolitische Aktualisierung entscheidende Ände­ rung der Ringparabel-Tradition besteht aber in der Frage des »großen Herrn«: Melchisedech, hör, ich vernihm, Wie du in Heilger Schriefft furwar Ein klug erfahner Mann seÿst gahr, Darumb ich hertzlich gern von dir Woltt wißen vndt erlernen mihr, Welch von den Dreÿn Religion |: Die mann ietzundter nennt gar schon Luthrisch, Bäpstisch, Caluinisch Letzt :| Die wahrhafttigst vndt best wurdt geschetzt? (V. 46–54)

Was sich schon in dem anonymen Meisterlied von 1605 implizit angedeutet hatte, vollzieht Mahrold: Er ersetzt die drei monotheistischen Religionen durch die drei christlichen Konfessionen. Mir scheint diese Aktualisierung keinesfalls ein Zeichen für den beliebigen Einsatz der Parabel im Konfessionalismus, sondern eine zeitgemäße Reaktion auf den Entscheidungsdruck konfessioneller Konflikte und Adaptation der Toleranzidee am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges. Mein Überblick über die frühneuzeitliche Rezeption von Decameron I 3 in Deutschland sollte zeigen, wie im intertextuellen Dialog mit Boccaccio, aber auch mit dessen deutscher Adaption die Ringparabel eine Deutungsdynamik erhielt, die dem zunehmenden Entscheidungsdruck im konfessionspolitisch zerrissenen Deutschland Rechnung trug. Die Frage nach der Wahrheit der drei monotheisti­ schen Religionen wandelt sich zu einem simulativen Modell für die Entscheidung in Konfessionskonflikten. Die religionspolitische Aktualisierung geht aber meist mit einer erzähltechnischen Vereinfachung einher. Boccaccios kompliziertes Inklusionsschema, in dem sich seine prinzipielle Skepsis gegenüber religiösen Wahrheiten spiegelt, die von Erfolgserwartungen und Machtfragen bestimmt sind, wird meist um eine Ebene verkürzt. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, sei es im anonymen Meisterlied oder in Mahrolds Reimschwank, erhält die kon­ fes­ sionspolitische Skepsis als irenische Haltung wieder eine narratologisch adäquate Form, die Boccaccios ambiguisierend-metaleptische Verschachtelung einholt.



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Anhang Schertz mit der Warheyt. Vonn guttem Gespräche / In Schimpff und Ernst Reden […] Frankfurt: Christian Egenolff [1550], Bl. VIIr–VIIIr Exemplar: HAB Wolfenbüttel   1 [VIIr] Von List/ gescheidigkeyt/ lügen vnd Betrůg. Wie ein Jud durch geschickte antwort dem Soldan auff ein fehrliche Frage/ einem fallstrick entgienge.   5

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Konig Soldan vonn Babilon/ hatte zu einer zeit inn grossen Kriegen/ den mehrern theyl seiner schätz verkriegt/ vnnd einer grossen summ geltsnot­ turfftig war. Nach langem bedencken fiel jm in ein Jud/ mit namen Mel­ chisedech/ ein Reicher wůcherer/ gesessen in Alexandria/ Aber als er jn on massen geitig erkandt/ sorget er würd jm nicht bald mit gutem willen mit dem gelt dienen/ Wiewol jn grosse not zwang/ doch darumb den Juden nit wolt tödten oder zwingen/ schicket derhalben nach jm/ empfieng jn züchtiglich/ sitzt zu jm nider/ vnd sprach: Melchisedech/ gůter man/ ich hab vernomen wie du inn Göttlichen geschrifften ein weiser man seiest/ darumb ich gern von dir verstan wolte/ welches vnder den dreien [VIIv] gesatzen/ der Juden/ Heyden und Christen/ du für das beste vnd warhafftigs glaubest: Der Jud merckt wol der Soldan wolt ein vrsach an jn sůchenn/ gedacht/ er müst antwort geben/ dadurch er weder verdacht/ noch in seinen worten möcht gefangen werden/ allen dreien gesetzen ein genügen thůn müste/ dem Soldan antwort: Genediger Herr/ ewer fürgelegte Materi ist schön vnd aller ehren wirdig/ damit ich aber euch antworten mög/ so will ich vorhin ein kleyne Histori sagen/ vnd was sich darinn begeben/ erzelen. Es war ein mal ein Reicher man/ der vnder all seinem reichthumb vnnd schatz ein schön kleynot hette/ einn edlen schönen güldnen ring/ den er vmb seiner grossen schöne vnnd tugent willen nimmer wolt auß seinem geschlecht lassen kommen/ vnd verschůff also/ daß all wegen bei seinem letsten sun der ring bleiben solt/ der dessen vor den andern solt ein erb sein/ auch allweg vmb des rings willen von den andern geehrt werden. Nun ward der ring einem sun/ der hett drei sün/ alle gerad/ schön/ vnd jrem vatter gleich/ die des rings tugent alle wißten/ jegklicher besunder den vatter vmb den ring bat/ wann Gott über jn geböte/ daß er jm vor den andern den ring werden liesse. Der gůt alt vatter/ der gegen seinen dreien sünen gleiche liebe trůg/ nit wol wissen mocht/ welchem er den ring geben

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vnd lassen solt/ versprach den ring eim jegklichen besonder in geheym/ vnd zwen ander ring dem ersten gleich machen ließ/ also daß er selber einen vor dem andern nit erkennen mocht. Da nun der gůt alt man Kranck warde/ vnd villeicht wol seines lebens end erkandt/ jegklichem sun beson­ der heymlich einen ring gab/ deßhalb jegklicher nach seines vatters todt meynet erster vnd wirdiger zusein/ seinen ring fürbracht/ der erst vnd wir­ digest sein wolt. Dise sach ward gestelt zu erkennen welcher der recht erb sein solt/ Da fand man/ daß die drei ring einander also gleich waren/ daß man den ersten nit erkennen mochte/ also bleibs hangen/ vnd mit warheyt niemandt darüber sein urteyl fellen mocht. Also mag ich Genediger Herr/ zu ewer fürgelegten frag sagen/ der dreier gesetz halben/ die den dreien geschlechten von Gott geben wardenn/ daß jegklichs geschlecht das sein für das beste/ gerechtest helt vnnd glaubt/ aber welches vnder den dreien das gerechtest sei/ als der ring/ bleibt hangen/ Dann das alleyn Gott zu wissen ist. Da der Soldan des Juden weißheyt vernomen hette/ dabei erkandt/ daß er sich Meysterlich auß dem gelegtenn netz erlöset hette/ vnd war dem Soldan ein groß gefallen/ öffnet dem Juden alle seine not/ vnnd was er mit jhm willen het gehabt zuthůn/ wa er sich nit so meysterlich außgeredt/ vnnd geantwort het. [VIIIr] Da der Jud den Herren also benötigt sahe/ liehe er jm die summa gelts/ der er notturfft war/ jm willigklich zu lieb ward/ Darumb jm der Soldan ein genügen thet/ vnd hinfür allzeit wol hielte.



Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland 

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Dietrich Mahrold Schmahl Vnndt Kahl Roldmarsch Kasten (1608) Die Transkription folgt der Handschrift der Universitätsbibliothek Kassel (Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel): 2° Ms. poet. et roman. 21, fol. 29r–32v (moderne Fo­liierung). Die Handschrift lässt für die meisten Anfangsbuchstaben eine deutliche Differenz zwischen Groß- und Kleinschreibung erkennen; in einigen Fällen sind Groß- und Kleinschrei­ bung dagegen nicht klar unterschieden: d/D (besondere Großbuchstabenform nur für Dreÿ/e/n in V. 51, 66, 75, 168 f. und 175 sowie für hervorgehobene Initialen bei den eingerückten Versen 120, 139, 152, 181 und 195); k/K; v/V (unterschiedslos für anlautendes u und v); z/Z. Da in der Zeit grundsätzlich Kleinschreibung dominiert, wird nur dann mit Großbuchstaben transkribiert, wenn dies in der Handschrift eindeutig vorgegeben ist. Homogenisiert werden einzig Eigenna­ men, Satzanfänge und Versanfänge, die in der Handschrift (in der überwiegenden Mehrzahl der differenzierbaren Fälle) groß geschrieben sind und daher einheitlich mit Großbuchstaben transkribiert werden. Nicht wiedergegeben wird die punktuelle Großschreibung einzelner Buchstaben im Wortinneren (V. 1: ComPen; V. 30: dEm; V. 93: DEn). Die Handschrift differen­ ziert ferner nicht zwischen anlautendem i/j bzw. I/J; die Transkription gebraucht, dem grafi­ schen Befund entsprechend, bei Kleinschreibung einheitlich i, bei Großschreibung einheitlich J. Unterschiedliche Formen des s ( ſ und s) werden einheitlich durch das runde s wiedergegeben. Die Umlautauszeichnung der Handschrift ist bei ä und ö eindeutig und wird entsprechend tran­ skribiert; da das kleine u (im Wortinneren) stets mit einem u-Bogen geschrieben ist und daher keine Umlautauszeichnung erkennen lässt, wird hier einheitlich mit u transkribiert. Gelegentli­ cher Gebrauch lateinischer Schreibschrift für Fremdwörter (V. 31, 167 und 178) und semantische Hervorhebungen (V. 53) wird durch Kursivierung abgebildet. Abbreviaturen für m-Geminaten werden stillschweigend aufgelöst. Gliedernde Einrückungen der Handschrift sind wiedergege­ ben. Korrekturen, Emendationen und unsichere Lesarten sind im Fußnotenapparat verzeichnet. Ebenda finden sich einzelne Worterläuterungen.

[29r] II. Wie ein Listiger reicher Jud, genandt Melchisedech, mitt einer Naturlichen Histo­ rien, großer Sorg vndt Angst entwuscht, die ihm von einem grossen Herrn zuge­ richt vndt bereidt war.

Wißt Lieben Compen,1 klein vndt gros, Gleich wie vnser Gewißen bös, Manchsmahl den Menschen treibt zu ruck2

1 Compen ] Gesellen, Freunde, Zuhörer (Deutsches Wörterbuch 2 [1860], Sp. 631 f.). 2 Wißt … zu ruck ] Der Eingang (›Wisst, liebe Freunde, klein und groß, so, wie unser geringer Verstand manchmal den Menschen zurückschlägt‹) ist sprachlich unverkennbar Arigos

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Von seinem Seelgen Standt vndt gluck, Vndt in groß Armuth wirfft vndt setzt. Alßo auch offt ein guth Geschwetz, Vndt ein vernunfftig Listig Sin, Ein weÿsen Menschen bringt dahin, Daß er dadurch entrinnt furwar 10 Gar großem Schaden, Angst vndt gfahr, Vnd daß nuhr die vernunfftig Leut Ein vrsach seÿen Aller Freud, Wie dann in dieser kurtzen Gschicht Jch thun wihl ietzt guten bericht: 15 Es wahr vnlengst ein großer Herr, Ahn Landt vndt Leuten mechtig sehr, Der sich in vielen Kriegen doch Vff ein Zeit fandt in nöthen hoch, Weil er in selben ahngewandt 20 Sein gröste3 Schätz im gantzen Landt, Vndt eben damahls bdurfftig wahr Ein groß Summ geltds, doch wust er zwar Gar nicht, wo diese Summ So baltt [29v] Er soltt vffbringen solcher gstallt. 25 Aber nach Langem bsinnen Sein Vndt schwehren gdancken, fiel ihm eÿn Ein reich gtaufft Juede, welcher hies Melchisedech, der war gewies Ein großer geitzger Wucherer, 30 Von dem verhofft nuhn gdachter herr Die Summa Geltts zuvberkomn, Doch mitt des Juden kleinen Fromn.4 Weil aber dieser Herr erkandt Den Juden Jnn sein gantzen Landt 35 Furn Geitzigsten, bsorgt er, wurdt ihm Nicht baltt, mitt gutem willn vndt Sin, Mitt diesem Geltt behulfflich seÿn,    5

Decameron-Version nachgebildet; ebd. heißt es: »Dar umb mein aller liebste frawe vnd künigin ir sült wissenn zů geleicher weise« (33,2 f.). 3 gröste ] korr. aus: grösten. 4 kleinen Fromn ] geringen Nutzens, kleinen (Zins)ertrags.



Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland 

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Wiewohl ietzt große Noth vndt Pein Jhn zwang vndt drang, doch woltt der Herr 40 Den Juden drumb nitt zwingen sehr, Oder gahr tödten, vndt deßwen5 Nach ihm nuhr schickt ein Bödtigen, Der dann balt kahm, vnd erbarlich Empfangen wurdt, vndt muste sich 45 Setzen zum Herrn, der sprach zu ihm: Melchisedech, hör, ich vernihm, Wie du in Heilger Schriefft furwar Ein klug erfahner Mann seÿst gahr, Darumb ich hertzlich gern von dir 50 [30r] Woltt wißen vndt erlernen mihr, Welch von den Dreÿn Religion |: Die mann ietzundter nennt gar schon Luthrisch, Bäpstisch, Caluinisch Letzt :| Die wahrhafttigst vndt best wurdt geschetzt? 55 Der Listig Jud ihm wohl gedacht, Diß Gbeckes wahr zu feißt gemacht Fur seinen Schnabel, vndt schwahnt ihm6 Gleich wie eim Schweitzer, in seim Sin, Gdacht auch, es wurdt was andters mehr 60 Von ihm wolln vndt begehrn der Herr, Vnd diese Frag nuhr ahn Jhn that, Ob er So Jnn vhneÿnigkeit Mitt ihm mögt graden, dann mußt er Dem Herrn erstadten Sein begehr. 65 Gdacht drumb geschwindt, lob ich ihm schon Vntter den Dreÿn Religion Ein fur die Andtere, So hat Der zorng Herr doch kein gnugen sat Ahn meiner Antwordt. Jhm darumb 70 Klug eÿnfiel, mueßt in einer Summ Antwordten So, daß er hinfortt Weder verdacht, noch in seim wortt

5 deßwen ] unsichere Lesung, wohl i. S. v. ›deswegen‹. 6 schwahnt ihm | Gleich wie eim Schweitzer  ] als sprichwörtliche Wendung nachgewiesen (Deutsches Wörterbuch, s. v. »schwanen«).

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Gefangen werdten mögt vom Herrn. Doch woltt er thun ein gnugen gern    75 Alln Dreÿn Religionen io. [30v] Balt auch sein listig Wietz spritzt do, Vndt Also antwordtet: Gnad Herr, Die Furglegt Frag ist schon vndt schwehr, Jst auch Aller Ehren werth darzu.    80 Damitt ich aber antwordt nuh Vff ewer Gnaden Frag, soll Sie Vorhin ein klein Historj ie Hören von mihr, darinn wihl Jch Erzehln, was hat begeben sich:    85 Ein Stadtlich vndt sehr reicher Mann Wahr uff ein zeite, welcher dann Vntter alln Schätzn vndt Reichthumb Sein Ein Schönes Kleÿnoth hett7 allein, Das er ob allen Schetzen zwar    90 Lieb vndt werth hielth von hertzen gahr, Vndt wahr ein Guldtnes Ringlin diß, Begabt mitt schöner Tugent gwiß, Den Er, wen solcher Tugent recht, Jnn Ewigkeit aus seim Geschlecht    95 Nicht kommen lassen woltte io, Vndt gab sein Ordtnung auch alßo, Daß allweg beÿ dem Jungsten Sohn Der Ring soltt Erblich bleiben schon, Vndt soltt dieser, vmbs Rings willn nuhr, 100 Vor andtern werden gehrt alhier. Nuhn sichs begab, daß diß Ringlin [31r] Einem wurdt vberliefert hin, Der hatt dreÿ Sohn, All Schön vndt grad, Jm Thun vnd laßn, vnd aller That, 105 Dem vatter gleich, vmb daß willn Sie Der vatter auch All dreÿ hett ie Jnn gleicher Lieb. Nun wußten freÿ Die guten Jungen Gselln All dreÿ Des Rings Tugent vndt wirttigkeit,

7 hett ] über der Zeile nachgetragen; möglicherweise hatt zu lesen.



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Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland 

Vndt Jeglicher was bgirig weit Den Ring zu haben, Auff daß er Vor andtern wurdt geehrt dest mehr, Vmb daß willn auch Jeglicher Sohn Den vatter bath gar kindtlich schon 115 Vmb diesen Ring, wann vber Jhn Gott gbödt, daß er must treten hin Von dieser Weltt, zun Gnaden Sein, Daß er ihm vor den Andtern zweÿn Den Ring io wiederfahren lies. 120 Der guth Altt kluge vatter gwies, Der gar Sein dreÿen Söhnen zwar Trug gleiche Lieb vndt gunst furwar, Der kundt nitt wissen, welchem doch Er lassen soltt vndt geben noch 125 Diesen Sein Ring, Jhn auch demnach Jedem besondters fein versprach Jnn aller gheÿm, Alln dreÿen io Nach langem bdenken meÿnt alßo [31v] Damitt genug zu thun, vndt gieng 130 Ohn Jemandts wißen mitt Seim Ring Zu einem guten Goldtschmidt hin, Vndt lies gar artig machen ihm Zween andtre Ring, dem Ersten gleich, Die dann der Meister gar kunstreich 135 Dem gmachten Ring gar gleich macht ie, Daß er auch selbsten, da mann Sie Legt zueinandt, gar keinen kundt Furn Andtern ihm erkennen rundt. Do nuhn kranck wurdt der guthe Altt, 140 Vndt vieleicht wohl erkandte balt Seins Lebens Endt, rieff er zu ihm Jeglichem Sohn besondters hin, Vndt fur Andtern verborgen gahr Eim Jeden einen Ring reicht dar, 145 Darumb ein Jeder auch hinfort Nach seines Lieben vatters todt Maint wirdtiger vnd höhr zu seÿn, Sein Ring furbracht, vndt furlegt fein Sein guth gezeugnußen, wie Er

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Solt billig seÿn der wirdtigst sehr, Darzu der höchst in Seim Geschlecht. Diese Sach wurdt letzt bracht furs Recht, Daß mann doch rundt erkennet fein, Welcher im Gschlecht der best solt seÿn. 155 Da fandt mann, daß die Ring all dreÿ [32r] Einandter alßo gleich warn freÿ, Daß mann den Ersten Ring hiemitt Jm gringsten mogt erkennen nitt, Vmb deß willn, welchs der rechte Ring, 160 Vndt wirdigst Erbe aller ding, Solt seÿn vndt bleiben, nuhn furwar Blieb hangen, vngeördtert8 gahr, Vndt mitt der warheit auch niemandt Sie scheiden kundte voneinandt. 165 Alßo, Genedger Furst vndt Herr, Mag ich zu ewer Frag, die schwehr, Mich auch nuhn referiren schon, Wegen der Dreÿn Religion, Die diesen Dreÿen Gschlechten So 170 Von Gott gegeben wordten io, Daß Jegliches Geschlecht die Sein Furs best vndt das Gerechtst allein Glaubet vndt haltt, dann Jede fuhrt Gotts wortt vndt Schriefft, wie sichs gebuhrt. 175 Welch aber vntter Diesen Dreÿ Die beste vndt wahrhafftigst seÿ, Bleibt, Als der Ring, wohl hangent gwiß, Vndt stat sub Iudice der Lis,9 Denn Gott dem höchsten Herrn allein 180 Ist dieser streite wissent fein. Do nuhn der Furst vernommen hatt Des Juden Wittz vndt Listigkeit, Darbeÿ erkandt auch, daß er sich

8 vngeördtert ] unentschieden, unerörtert. 9 stat sub Iudice der Lis ] harrt noch der juristischen Entscheidung; Zitat aus Horaz, Ars poetica 78 (vgl. Waltenberger: [Anm. 25], S. 322, Anm. 92).



Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland 

[32v] Ausgwaschen10 hatt gahr Meisterlich 185 Aus dem gelegten Netz, wahr auch



Dem Herrn ein groß gefalln demnach, Nitt mindter auch, Alß wann von Jhm Er schon das Geltt genommen hin, Vndt druff eroffnet auch demnach 190 Dem Geitzgen Juden Alle Sach, Vndt All sein Noth, was er mitt Jhm Zu thun hatt bschloßen in seim Sin, Wo er nicht So gahr Meisterlich Vermogt hett auszuwaschen11 sich. 195 Do nuhn der gtauffte Jud alda Sein Herrn so gahr genedig sah, Sein Judisch Goschn ihm So zerflos, Daß er daraus auch Nadel gos, Wie zwirnsfaden, vndtt all das Geltt, 200 Welchs bdurfft der Herr, ihm balt zustellt Gahr williglich, drumb ihm der Herr Ein gnugen that, genedig sehr, Vndt vber diß ihn bgabt gahr miltt, Vndt vor Sein gheÿmen Rath fest12 hieltt.

10 Ausgwaschen ] herausgewunden. 11 auszuwaschen ] vgl. Anm. 10. 12 fest ] in der Handschrift fälschlich: fets.

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Mario Zanucchi

›Fashion Crisis‹

Jonathan Swifts A Tale of a Tub (1704) als satirische Variante der Ringparabel Swifts vielleicht berühmteste Satire1 wurde bislang oft im Zusammenhang mit der Ringparabel erwähnt, in ihrer Stellung zur Ringparabel-Tradition aber nicht genauer untersucht. Dazu sollen die folgenden Überlegungen beitragen. Nach einem entstehungsgeschichtlichen und strukturellen Überblick soll A Tale of a Tub mit Boccaccios Ringparabel kontrastiert und im Zusammenhang mit der ›Fashion Crisis‹ der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kontextualisiert werden. Der Forschung entging bisher, dass Swifts Text an der damals in England vehe­ ment ausgefochtenen Debatte um den kulturzersetzenden Einfluss der franzö­ sischen Eleganz teilnimmt und für eine protektionistische Haltung nicht nur in Belangen der Theologie, sondern auch der Mode plädiert. Die Arbeit an seiner Satire begann Swift um 1695/96 während seiner Zeit in Kilroot, einer kleinen und trostlosen Pfarre an der Bucht von Belfast. Vorher hatte er bereits ein Jahr lang als Sekretär des ehemaligen Politikers und Gelehrten Sir William Temple in Moor Park bei London gewirkt, dessen Bibliothek er die vielfältigsten literarischen Impulse verdankte.2 Die Satire wurde 1704 publiziert und erlebte nur ein Jahr danach bereits die vierte Auflage, allerdings stets ohne Angabe des Verfassers.3 Zwar erschienen die meisten von Swifts Prosawerken anonym oder unter Pseudonymen, aber A Tale of a Tub wurde nicht einmal in die autorisierten Editionen von Swifts Werken aufgenommen, die zu seinen Lebzei­

1 Im Folgenden wird aus der kanonischen, von Marcus Walsh kritisch edierten fünften Auflage von 1710 zitiert: Jonathan Swift: A Tale of a Tub and Other Works. Hg. von M. Walsh. Cambridge 2010 (The Cambridge Edition of the Works of Jonathan Swift 1). Übersetzte Passagen stammen meist aus der deutschen Übertragung von Ulrich Horstmann (Jonathan Swift: Ein Tonnenmärchen. Stuttgart 1994). Auf den dort abgedruckten, vorzüglichen Kommentar von Hermann J. Real sei nachdrücklich hingewiesen. 2 Es gibt auch Stimmen, die für eine frühere Entstehung plädieren: So will Westenra Waring, der Bruder von Jane Waring, die Swift in seiner Kilrooter Zeit hofierte, das Manuskript der Parabel bereits 1686, »when the doctor was but nineteen years old«, gesehen haben, also als Swift am Trinity College war (Deane Swift: An Essay upon the Life, Writings and Character of Dr. Jonathan Swift. London 1755, S. 31). Waring wurde am Trinity allerdings erst vier Jahre später, 1691, aufgenommen, sodass sein Datierungsvorschlag kaum glaubwürdig sein dürfte. 3 Vgl. Irvin Ehrenpreis: Mr. Swift and his contemporaries. London 1962, S. 208; ders.: Dr. Swift. London 1967, S. 139 f. und 326–338.

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ten veröffentlicht wurden. Swift verleugnete wohl deshalb so entschieden seine Autorschaft,4 weil das Werk als satirische Verspottung des Christentums galt und in der Öffentlichkeit entsprechend stigmatisiert wurde. Symptomatisch dafür ist etwa das Votum von William Wotton, der 1705 einige Observations upon The Tale of a Tub veröffentlichte, in denen er übrigens auch einen Schlüssel zur allegori­ schen Faktur der Satire lieferte. Wotton definierte Swifts Tale als »one of the pro­ fanest banters upon the religion of Jesus Christ, as such, that ever yet appeared«.5 Als Dekan der St. Patrick’s Cathedral in Dublin konnte sich Swift offenbar nicht zu einem Text bekennen, dem in der Öffentlichkeit das Odium der Gottlosigkeit anhaftete und der jene Prinzipien zu untergraben schien, denen gegenüber er loyal war.6 Er nahm sich aber die Freiheit heraus, mit seinen Kritikern zu spielen. So versah er die Ausgabe von 1710 mit erläuternden Anmerkungen aus Wottons Schlüssel und verwandelte in einer weiteren satirischen Kapriole den Erzfeind in den Erzexegeten. Bereits die Erstausgabe enthielt außer dem Tale zwei weitere Schriften: den Discourse concerning the Mechanical Operation of the Spirit, eine weitere Religi­ onssatire, sowie die heroikomische Battel […] between the Antient and the Modern Books, mit welcher Swift in die Querelle des Anciens et des Modernes eingriff. Die Engführung des religionskritischen mit dem literaturkritischen Diskurs ist aber bereits für die zweigleisige Struktur des Tale charakteristisch: Die Parabel, die den Verfall der christlichen Religion anprangert, wird durch die Digressionen des unzuverlässigen Erzählers unterbrochen, die eine implizite Satire auf den Verfall der modernen Bildung repräsentieren – zwei satirische Diskurse flankieren und potenzieren sich somit gegenseitig. Die religiöse Satire bietet eine Allegorie der Christentumsgeschichte a primordio bis zur Reformation anhand der Geschichte der drei Brüder Peter, Martin und Jack. Während Martin die positiven Werte der Reformation repräsentiert, persi­

4 Claude Rawson spricht daher von einem »ostentatious concealement« (ders.: Jonathan Swift, A Tale of a Tub. In: A Companion to Literature from Milton to Blake. Hg. von David Womersley. Oxford 2000, S. 244–252, hier S. 244). 5 William Wotton: A Defense of the Reflections upon Ancient and Modern Learning. In Answer to the Objections of Sir W. Temple and Others. With Observations upon The Tale of a Tub. London 1705, S. 325. 6 Im Artikel zu De Tribus Impostoribus in seinem Dictionnaire historique bezeichnet Marchand Swifts Tale als »Ouvrage aussi criminel, & peut-être même plus pernicieux encore, que les Traités qui font le principal sujet de cet Article; puisqu’il ne s’y propose rien moins que de tourner cruellement en ridicule les trois principales Sectes du Christianisme Occidental« (Prosper Marchand: Art. »Impostoribus, De tribus«. In: Ders.: Dictionnaire historique, ou Mémoires critiques et littéraires, concernant la vie et les ouvrages de divers personnages distingués, particulièrement dans la république des lettres. Bd. 1. Den Haag 1758, S. 312–329, hier S. 326).



›Fashion Crisis‹ 

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fliert Swift durch Peter das Papsttum und durch Jack die puritanischen Dissen­ ters, jene protestantischen Gemeinden wie Anabaptisten, Kongregationalisten, Quäker u. a., die von der Anglikanischen Nationalkirche abgefallen waren und die Swift als eine ernsthafte Bedrohung für die konfessionelle Einheit des Landes betrachtete. Das säkulare Pendant zu den puritanischen Dissenters waren in Swifts Augen die modernen Produzenten von Trivialliteratur: Journalisten, Poë­ taster, Pseudogelehrte und Scharlatane, zu denen auch der fiktive Erzähler selbst gehörte – ein Schreiberling aus der Londoner Grub Street, in der zu Swifts Zeiten die Lohnschreiber wohnten.7 Das tertium quid zwischen den religiösen Fanati­ kern und den modernen ›Poëtastern‹ liegt Swift zufolge in ihrer gemeinsamen geistigen Exaltation. Die Dissenters propagieren eine Religiosität, die auf innerer Erleuchtung und irrationalen Exzessen beruht, und die modernen Schreiberlinge frönen einem ähnlichen literarischen Irrationalismus, der den spontanen Einfall und die assoziative Willkür zu Leitprinzipien erhebt. Den Fanatikern und Schrei­ berlingen gemeinsam ist zugleich ein anarchisch-destruktiver Trieb, der sich gegen überlieferte Traditionen und Autoritäten richtet. Die Dissenters rebellieren offen gegen die Autorität der anglikanischen Kirche und entziehen sich durch ihre spontane Frömmigkeit der kirchlichen Reglementierung. Ihrerseits verwerfen die modernen Schreiberlinge wie der Erzähler des Tale ebenfalls Autorität und Tradi­ tion: Ihr Schreiben entspringt einer unkontrollierten Fantasie, die sich über jede Logik hinwegsetzt und die augenblickliche Laune zum Grundsatz erhebt. Es ist nicht auszuschließen, dass Boccaccios Ringparabel eine direkte Quelle des Tale darstellte. Von den vorgeschlagenen möglichen Architexten ist Boc­ caccios Novelle jedenfalls der einzige, in dem ein Vater seinen drei Söhnen drei identische Gegenstände hinterlässt, welche unterschiedliche Glaubensrichtun­ gen symbolisieren.8 Bereits Voltaire hatte in seinen Lettres Philosophiques die

7 Vgl. den Kommentar von Hermann J. Real in: Swift: Tonnenmärchen (Anm. 1), S. 192. 8 Alle anderen vorgeschlagenen Quellen haben mit Swifts Satire kaum Affinität – so etwa die antipapistische Predigt des Pastors John Sharp, die er 1686 in der Londoner Kirche St. Giles’s in the Fields gehalten hatte (abgedruckt in: Jonathan Swift: A Tale of a Tub. To which is added The Battle of the Books and the Mechanical Operation of the Spirit. The whole ed. with an introd. and notes historical and explanatory by A. C. Guthkelch and Smith. Oxford 1920, S. xxix). Dieser Text wurde im 19. Jahrhundert von Churton Collins als Quelle enthusiastisch befürwortet: Die Predigt liefere – so seine Einschätzung – »the whole text for Swift’s satire, which follows Sharp’s commentary step by step« (Churton Collins: Jonathan Swift. London 1893, S. 47). Bereits Guthkelch und Smith haben Collinsʼ Annahme widerlegt: Mit Swifts Parabel hat Sharps Predigt kaum Gemeinsamkeiten außer dem Ahnherrn, den Nachkommen und dem Testament. Bei Swift sind die Erben drei, bei Sharp bleibt ihre Anzahl unbestimmt, bei Swift sind sie Söhne, bei Sharp Nachkommen aus mehreren Generationen, bei Sharp vermachte der Vater ihnen ein einziges Landgut, bei Swift hingegen drei gleiche Röcke. Als abwegig erscheint Collinsʼ Hypothese auch

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Parallele erkannt und Swifts Satire als Nachahmung Boccaccios bezeichnet: »Ce fameux Conte du Tonneau est une imitation de l’ancien Conte des trois Anneaux indiscernables qu’un père légua à ses trois enfants.«9 Das oft erhobene Gegenar­ gument von Swifts Unkenntnis des Italienischen wird durch die Verbreitung von Boccaccios Ringparabel in englischer Übersetzung spätestens seit William Pain­ ters Palace of pleasures entkräftet. 1684  – ungefähr zehn Jahre bevor Swift die Arbeit an seinem Tale begann – erschien in London die fünfte Auflage der neu­ esten englischen Decameron-Übertragung unter dem Titel The novels and tales of the renowned John Boccacio.10 Ein Exemplar davon befand sich in der Bibliothek von Sir William Temple in Moor Park,11 bei dem der junge Swift von Januar 1689 bis Mai 1690 und später von 1696 bis 1699 als Sekretär angestellt war. In dieser Zeit profitierte Swift intensiv von den Gesprächen mit Temple, der Boccaccio in seiner Abhandlung An essay upon the ancient and modern Learning als einen der bedeutendsten Vertreter der Modernen in Italien preist: »The great wits among the moderns«, erklärt er dort, »have been in my opinion, and in their several kinds, of the Italian, Boccace, Machiavel and Padre Paolo.«12

deshalb, weil Sharps Predigt in London 1686 gehalten wurde, als Swift in Irland war – im Druck erschien sie erst 1735. Trotzdem findet die Sharp-Hypothese immer wieder Anhänger: darunter 1976 der Swift-Biograf Justus Franz Wittkop, der fälschlicherweise auch behauptet, dass Sharp von drei Söhnen erzähle, um seine Predigt wieder ins Spiel zu bringen (Justus Franz Wittkop: Jonathan Swift in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1976, S. 45). Auch die weiteren vorgeschlagenen Quellen  – vom obskuren Reformationsspiel von Martin Rinckhart (1586–1649) Der Eislebische Christliche Ritter (vgl. Colin J. Horne und Hugh J. Powell: A German Analogue for A Tale of a Tub. In: Modern Language Review 55 [1960], S. 488–498) bis hin zu Innocent Gentillets Replik auf Macchiavelli in seinen Discours d’Estat von 1609 (vgl. Denver Ewing Baughan: Swift and Gentillet. In: Studies in Philology 37 [1940], S. 64–74) – weisen nur vage Ähnlichkeiten zu Swifts Satire auf. 9 Voltaire: Lettres philosophiques ou lettres anglaises. Avec le texte complet des remarques sur les Pensées de Pascal. Hg. von Raymond Naves. Paris 1956, S. 256 (Nr. 22: Sur Mr Pope et quelques autres Poètes fameux). 10 Der vollständige Titel lautet: The novels and tales of the renowned John Boccacio: the first refiner of Italian prose: containing a hundred curious novels by seven honourable ladies, and three noble gentlemen, framed in ten days. The 5th edition, much corrected and amended. London: Printed for A. Churchill 1684. 11 The Library and Reading of Jonathan Swift. A Bio-Bibliographical Handbook. Hg. von Dirk F. Passmann und Heinz J. Vienken. Teil I: Swift’s Library in Four Volumes. Bd. 4: Abbreviated References. The Library of Sir William Temple  – A Reconstruction. The Library of Thomas Sheridan. Facsimile Reproductions. Indexes. Frankfurt am Main u. a. 2003, S. 188 f. 12 Sir William Temple: Works. Bd. 3. London 1757, S. 430–501, hier S. 464. Mit ›Padre Paolo‹ ist der venezianische Kirchenreformer Paolo Sarpi gemeint.



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Von Boccaccios Novelle könnte Swift somit die narrative Fabel übernommen haben. Auch in seinem Tale nämlich hinterlässt ein Vater seinen drei Söhnen drei identische Gegenstände, welche drei Religionen symbolisieren: Once upon a Time, there was a Man who had Three Sons by one Wife, and all at a Birth, neither could the Mid-Wife tell certainly which was the Eldest. Their Father died while they were young, and upon his Death-Bed, calling the Lads to him, spoke thus, Sons; because I have purchased no Estate, nor was born to any, I have long considered of some good Legacies to bequeath You; And at last, with much Care as well as Expence, have provided each of you (here they are) a new Coat. Now, you are to understand, that these Coats have two Virtues contained in them: One is, that with good wearing, they will last you fresh and sound as long as you live: The other is, that they will grow in the same proportion with your Bodies, lengthening and widening of themselves, so as to be always fit. Here, let me see them on you before I die. So, very well, Pray Children, wear them clean, and brush them often. You will find in my Will (here it is) full Instructions in every particular concerning the Wearing and Management of your Coats; wherein you must be very exact, to avoid the Penalties I have appointed for every Transgression or Neglect, upon which your future Fortunes will entirely depend. I have also commanded in my Will, that you should live together in one House like Brethren and Friends, for then you will be sure to thrive and not otherwise. Here the story says, this good Father died, and the three Sons went all together to seek their Fortunes.13

Im Unterschied zur Vaterfigur in Boccaccios Novelle ist Swifts Vater gerade kein »grande uomo e ricco«14, sondern ein mittelloser Mann. Er hinterlässt seinen Söhnen keine Kostbarkeit aus seinem Schatz. Vielmehr lässt er mit viel Umsicht und »unter beträchtlichen Kosten« (»with much Care as well as Expence«) für jeden der Söhne einen neuen Rock anfertigen, der gerade aufgrund der entbeh­ rungsreichen Lebenssituation des Vaters einen besonderen Wert erhält. Durch die deiktischen Zwischenreden des Vaters (»here they are; here it is«) betont Swift zusätzlich die Feierlichkeit der Übergabeszene. Der Ringparabel-Überlieferung übernimmt Swift auch den Topos des wundertätigen Ringes. Die Röcke besitzen nämlich zwei ganz besondere Eigenschaften. Erstens werden sie, wenn man mit ihnen sorgfältig umgeht, das ganze Leben lang wie neu sein, zweitens werden sie mitwachsen, wenn die Brüder größer werden, und sich so längen und weiten, dass sie immer passen: »as to be always fit«. Daraus wird ersichtlich, dass Swifts Röcke die christliche Seele symbolisieren, welche sich durch Christus stets neu regeneriert und den Christen bis ans Lebensende begleitet.

13 Swift: Tale (Anm. 1), S. 47. 14 Giovanni Boccaccio: Decameron. Hg. von Vittore Branca. 6. Aufl. Turin 1991, S. 81.

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Eine weitere Differenz zu Boccaccio wird deutlich: Bereits bei Swift domi­ niert die Frage, die dann bei Lessing ebenfalls ins Zentrum rücken wird, nämlich der Umgang mit dem Erworbenen. Genau darin liegt die Bedeutung der zweiten Gabe, die der Vater den Söhnen hinterlässt: das Testament. Als Allegorie der Heiligen Schrift hat es die Funktion, den Umgang der Brüder mit ihren Röcken, also ihren Lebenswandel, zu regulieren und durch ein System von Geboten und Strafen zu normieren. Zum Schluss enthält das Testament für die Brüder auch die Verpflichtung zur Eintracht, nämlich den Befehl, dass sie wie wahre Brüder und Freunde im väterlichen Haus zusammenwohnen sollen. Dieses Gebot, Einheit zu wahren und Frieden zu halten, ist hier nicht nur biblisch fundiert, sondern erhält seine besondere Prägnanz auch aufgrund der leidvollen Erfahrungen des engli­ schen Bürgerkriegs. Der Vergleich mit Boccaccio fördert auch weitere markante Differenzen zutage. So setzt Swift anstelle des zuverlässigen Erzählers Melchisedech einen ›unreliable narrator‹ ein. Dessen Unzuverlässigkeit wird gleich in der Vorrede der Satire eklatant, wo der Erzähler feierlich seinen Vorsatz verkündet, seiner Schrift kein Quäntchen Satire beizumischen.15 Die Erzählergestalt besitzt bei Swift ferner keine glaubwürdige psychologische Konturierung, denn sie erfüllt zwei unterschiedliche und widersprüchliche Funktionen. Zum einen entspricht sie dem modernen Lohnschreiber: Sie verkörpert den Bildungsverfall und den grassierenden Irrationalismus der Gegenwart und soll vom Leser als grundsätz­ lich unzuverlässige Instanz hinterfragt werden. Zum anderen aber erweist sich der Erzähler als leserlenkende und metafiktionale Instanz, die ad spectatores spricht und den Leser auf ihre eigene Unzuverlässigkeit aufmerksam macht. Ein Beispiel für diese Leserlenkung ist etwa das Incipit der siebten Sektion des Tale. Dort erklärt der Erzähler, er habe manchmal von einer Fassung der Ilias gehört, die auf wenige Seiten zusammengedrängt war, in gelehrter Anspielung auf eine Anekdote des Humanisten Guido Pancirolli.16 »Mein Schicksal aber«, so fährt der Erzähler fort, »wollte es, daß ich viel öfter Nichtigkeiten im Iliasformat zu sehen bekam.«17 Damit hebt der Erzähler zum Seitenhieb gegen die moderne Unsitte der Digression an, in welcher er selbst – und gerade in dieser Sektion, die als »ein Exkurs zum Lobe der Exkurse« betitelt ist – ein Virtuose ist. Darin wird die dop­ pelte, zugleich unzuverlässige und leserlenkende Funktion des Erzählers deut­ lich. Die Aufgabe der metafiktionalen Leserlenkung liegt gerade darin, das Sen­

15 Swift: Tale (Anm. 1), S. 29 (Vorwort). 16 In seiner Geschichte antiker und moderner Denkwürdigkeiten (1599) berichtet Pancirolli von einem antiken Exemplar der Ilias, das in eine Nussschale gepasst hätte. 17 Swift: Tale (Anm. 1), S. 95.



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sorium des Lesers für den Irrationalismus des modernen Schrifttums zu schärfen und ihn damit zu befähigen, das Blendwerk des unzuverlässigen Erzählers zu dekuvrieren. Der unzuverlässige Erzähler repräsentiert insofern einen zentralen Akteur in der ästhetischen Ökonomie von Swifts Satire, als er genau das tut, was die Brüder mit ihren Röcken anstellen: nämlich das textum seiner Erzählung mit ornamentalen Digressionen und grillenhaften Abschweifungen bis zur Unkennt­ lichkeit zu verunstalten. Sein Umgang mit dem narrativen Gewebe des Tale ent­ spricht aufs Genaueste dem törichten Verhalten der Brüder. Was in der Parabel dem Gewebe der drei Röcke widerfährt, wird der narrativen Textur des Werkes durch den ›unreliable narrator‹ zuteil, dessen inkongruente Exkurse und kaprizi­ öse Abschweifungen den narrativen Haupttext überwuchern und entstellen. Zwi­ schen Parabel und Erzählerkommentar herrscht somit eine fein gesponnene und von der Forschung meist unterschätzte Korrespondenz. Eine weitere Entsprechung von Binnengeschichte und Rahmenerzählung liegt in der Rebellion gegen die Autorität der Tradition, die den drei Brüdern und dem Erzähler gemeinsam ist. In beiden Narrationen werden Vätergestalten abgesetzt. Peter nimmt die Stelle des ohnehin äußerst armen Vaters ein und wird zum Übervater, zum Kaiser.18 Seinerseits entmachtet der Erzähler, Wortführer der Modernen, die literarischen Autoritäten, setzt sich über die selbstverständlichs­ ten Schreibkonventionen hinweg und wirft sich zum Schriftsteller-Tyrann auf: »I claim an absolute Authority in Right, as the freshest Modern, which gives me a Despotick Power over all Authors before me.«19 Auch im Epilog herrscht eine genaue Entsprechung zwischen Parabel und Kommentar. Nachdem Jack seinen eigenen Rock in Fetzen zerrissen hat,20 vermag auch der Erzähler lediglich Bruch­ stücke seiner Narration zu geben.21 Wie von Jacks Rock am Ende nur Lumpen

18 Ebd., S. 72 (»Emperor Peter«). 19 Ebd., S. 85. 20 Ebd., S. 92 f. 21 »I can only assure thee, Courteous Reader, for both our Comforts, that my Concern is altogether equal to thine, for my Unhappiness in losing, or mislaying among my Papers the remaining Part of these Memoirs; which consisted of Accidents, Turns, and Adventures, both New, Agreeable, and Surprizing; and therefore, calculated in all due Points, to the delicate Taste of this our noble Age. But, alas, with my utmost Endeavours, I have been able only to retain a few of the Heads. Under which, there was a full Account, how Peter got a Protection out of the King’s-Bench; And of a Reconcilement between Jack and Him, upon a Design they had in a certain rainy Night, to trepan Brother Martin into a Spunging-house, and there strip him to the Skin. How Martin, with much ado, shew’d them both a fair pair of Heels. How a new Warrant came out against Peter; upon which, how Jack left him in the lurch, stole his Protection, and made use of it himself. How Jack’s Tatters came into Fashion in Court and City; How he got upon a great Horse, and eat

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übrig bleiben, so kann der Erzähler im Epilog nur noch mit rhapsodischen Frag­ menten seiner Geschichte aufwarten. Gerade in der genau kalkulierten Korrespondenz zwischen Parabel und Kom­ mentar liegt das herausragende ästhetische Niveau von Swifts Satire. Die Verfor­ mung des narrativen Gewebes durch den Erzähler ist die erzähltechnische Ent­ sprechung zum modernen Irrationalismus, der auch im Inhalt der zahlreichen Digressionen manifest wird. So unternimmt der Erzähler etwa in der neunten Sektion der Satire eine »Digression concerning the Original, the Use and Improve­ ment of Madness in a Commonwealth«22 und formuliert darin ein Plädoyer für Wahnsinn, Leichtgläubigkeit und Fanatismus. Hirngespinste  – so seine Argu­ mentation – besäßen gegenüber der Wahrheit enorme Vorzüge, denn die Einbil­ dungskraft sei in der Lage, die Realität stets zu überflügeln und den Menschen permanent in den Zustand einer vorgetäuschten und wahnhaften Glückseligkeit zu versetzen: For, if we take an Examination of what is generally understood by Happiness […], we shall find all its Properties and Adjuncts will herd under this short Definition: That, it is a perpetual Possession of being well Deceived. And first, with Relation to the Mind or Understand­ ing; ’tis manifest, what mighty Advantages Fiction has over Truth; and the Reason is just at our Elbow; because Imagination can build nobler Scenes, and produce more wonderful Revolutions than Fortune or Nature will be at Expence to furnish.23

Daraus leitet der Schreiberling den ontologischen Rang der Einbildungskraft als »Schoß aller Dinge«24 und die Überlegenheit von Täuschung und Wahn gegen­ über der Nüchternheit ab.25 Er selbst charakterisiert übrigens die Wirkungen der Fantasie als »Schminke und Flitter«26 und stiftet damit die Brücke zur Haupter­ zählung der drei Röcke. Die von den Brüdern angebrachten Ornamente werden daher als ›schöne Täuschungen‹ lesbar, als halluzinatorische Auswüchse einer unkontrollierten und krankhaften Einbildungskraft, die sich über Vernunft und Sinneserkenntnis gleichermaßen hinwegsetzt. Ferner stellt der Schreiberling die Leichtgläubigkeit über die Quelle jeden wissenschaftlichen Fortschritts, die

Custard. But the Particulars of all these, with several others, which have now slid out of my Memory, are lost beyond all Hopes of Recovery« (Swift: Tale [Anm. 1], S. 131–133). 22 Ebd., S. 104–116. 23 Ebd., S. 110 f. 24 »Womb of Things« (ebd., S. 111). 25 »How fade and insipid do all Objects accost us that are not convey’d in the Vehicle of Delusion?« (Ebd.) 26 »Varnish, and Tinsel« (ebd.).



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curiositas; er preist die Oberflächlichkeit gegenüber dem philosophischen Tiefsinn,27 er diskreditiert die Tätigkeit der Vernunft, die das Innere der Dinge freilegen will, als »Naturpervertierung«.28 Bei allen körperlichen Entitäten, von denen er Kenntnis besitze, heißt es weiter, sei die Außenseite der Innenseite immer unendlich überlegen.29 In diesem Bekenntnis des Erzählers zur eigenen Oberflächlichkeit wird erneut die Parallele zur Haupterzählung sichtbar, welche die Mode als irrationalistische Verherrlichung der Oberfläche und als wahnhafte Täuschung diagnostiziert. Auch das vom Erzähler anschließend angebrachte Bei­ spiel des entkleideten Beaus stiftet eine Brücke zur Mode-Thematik der Haupter­ zählung: Yesterday I ordered the Carcass of a Beau to be stript in my Presence; when we were all amazed to find so many unsuspected Faults under one Suit of Cloaths: Then I laid open his Brain, his Heart, and his Spleen; But, I plainly perceived at every Operation, that the farther we proceeded, we found the Defects encrease upon us in Number and Bulk: from all which, I justly formed the Conclusion to my self; That whatever Philosopher or Projector can find out an Art to sodder and patch up the Flaws and Imperfections of Nature, will deserve much better of Mankind, and teach us a more useful Science, than that so much in present Esteem, of widening and exposing them (like him who held Anatomy to be the ultimate End of Physick).30

Der Erzähler preist gerade die Mode als antianatomische Wissenschaft, welche die Realität des Körpers und dessen Unvollkommenheiten verhüllt und ästheti­ siert. Wie der vom Erzähler aufgewertete Wahnsinn den Realitätssinn aufkün­ digt, so operiert auch die Mode in Bezug auf die Realität des Körpers, indem sie eine Vollkommenheit vortäuscht, die nicht real ist. Beides, Wahnsinn wie Mode, erscheinen als Folgen eines hypertrophen, verabsolutierten imaginativen Triebs, den Swift als Anzeichen der kulturellen Degeneration seiner Gegenwart diagnos­ tiziert. Dem entspricht, dass der abschweifende Duktus des Erzählers zunehmend selbstreferenzieller und substanzloser wird. Bereits die Sektion VII, eine »Digres­ sion zum Lob der Digressionen«,31 inszeniert die Substanzlosigkeit des modernen

27 »In the Proportion that Credulity is a more peaceful Possession of the Mind, than Curiosity, so far preferable is that Wisdom, which converses about the Surface, to that pretended Philosophy which enters into the Depth of Things, and then comes gravely back with Informations and Discoveries, that in the inside they are good for nothing« (Swift: Tale [Anm. 1], S. 111). 28 »I take all this to be the last Degree of perverting Nature« (ebd.). 29 »[I]n most Corporeal Beings, which have fallen under my Cognizance, the Outside hath been infinitely preferable to the In« (ebd., S. 112). 30 Ebd. 31 Ebd., S. 95–98 (»A Digression in Praise of Digressions«).

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Schrifttums. Der Fluchtpunkt dieser leeren Selbstreferenzialität ist das Vorhaben, das der Schreiberling im Epilog ins Auge fasst, über das Nichts zu schreiben: »I am now trying an Experiment very frequent among Modern Authors; which is, to write upon Nothing.«32 Dadurch führt Swift die moderne Schreibkultur ad absurdum. Der Vorsatz des Autors, über das Nichts zu schreiben, ist das konsequente Ergebnis des formalen Virtuosentums der Modernen, das Swift als Nihilismus diagnostiziert: Eine Kultur, die sich nur noch vom Schein nährt und sich in der Mode erfüllt, läuft auf das Nichts hinaus, denn sie ist bereits in sich nichtig.33 Aus der evidenten Unzuverlässigkeit des Erzählers, der am Ende der IX. Sektion auch noch explizit betont, dass seine Vernunft ein leichtgewichtiger, schnell abzuwerfender Reiter ist,34 folgt die zentrale Rolle, die Swift dem Leser seiner Satire anvertraut. Dieser soll kein passiver Rezipient sein, sondern sich aktiv in einer Hermeneutik des Verdachts einüben und den Irrationalismus des Erzählers kritisch hinterfragen. Er soll ferner die Parallelen zwischen dem Erzäh­ ler und den drei Brüdern aufspüren und ihren gemeinsamen Wahnsinn demas­ kieren. Über die Unzuverlässigkeit des Erzählers hinaus operiert Swift gegenüber Boccaccio auch mit gewichtigen Änderungen auf der Ebene der Fabel, indem er das narrative Schema von Boccaccios Novelle umkehrt. Dort lässt der Vater von seinem einzigen Ring zwei weitere identische Repliken herstellen, sodass er selber den echten Ring kaum mehr zu unterscheiden vermag. Gerade diese künst­ lich hergestellte Homogenität ist die Garantie für Toleranz, denn der ›echte‹ Ring kann dadurch nicht mehr identifiziert werden. Bei Swift herrscht die umgekehrte Situation. Alle drei Röcke sind gleich echt, und von den drei Brüdern vermag nicht einmal die Hebamme zu sagen, wer der Erstgeborene ist. Die Geschichte

32 Ebd., S. 135. 33 Swifts Inszenierung der Pathologien der Moderne erfolgt allerdings auf eine derartig kreative Weise und zieht eine solche formale Experimentierfreudigkeit nach sich, dass sie als ambivalent erscheint. A Tale of a Tub inauguriert Techniken, die zum integralen Repertoire des modernen Romans avancieren werden, wie die Digressionen, die Zwischenschaltung von künstlichen Lücken und die Unzuverlässigkeit der Erzählerinstanz. Angesichts der formalen Erfindungskraft des Tale könnte man die These wagen, dass Swift eine Art ›writing in disguise‹ erprobt hat, die es ihm ermöglicht, inkognito an der Moderne teilzuhaben, ohne sie bejahen zu müssen. In der Tat verblasst Swifts parti pris für die Überlegenheit der Alten angesichts seines ludischen Experimentierens mit modernen Erzählmitteln. Dieselbe Ambivalenz von Anerkennung der Autorität und Lust an deren Suspendierung lässt sich auch in der Parabel beobachten. Dort besitzt die Autorität des väterlichen Testaments uneingeschränkte Gültigkeit, sie bleibt aber abstrakt: Nirgendwo wird der Leser über den genauen Inhalt des Testaments belehrt, er wird nur zum Zeugen des übermütigen Treibens der Brüder. 34 Swift: Tale (Anm. 1), S. 116.



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zeigt aber, dass sich nur einer von ihnen, Martin, der Repräsentant der anglikani­ schen Kirche, bewährt. Denn er entfernt von seinem Rock die unnötigen Verzie­ rungen, trägt aber zugleich Sorge dafür, dass der Rock dabei nicht zerreißt. Damit hängt nicht nur eine Historisierung der Vorlage, sondern auch ihre apologetische Transformation zusammen. Für den apologetischen Charakter des Textes spricht ferner die Verengung des interreligiösen Gesprächs, in dem alle drei monotheistischen Religionen prin­ zipiell einen Wahrheitsanspruch erheben dürfen, zu einer lediglich interkonfessionellen Auseinandersetzung, in der die Wahrheit mit der christlichen Wahrheit zusammenfällt. Swifts stillschweigende Entschärfung der theologischen Brisanz, die Boccaccios Ringparabel innewohnt, ist entschiedener als bei den anderen apologetischen Fassungen, in denen die nichtchristlichen Glaubenstraditionen zumindest der Form halber vertreten sind. In seiner Apology von 1710 betont Swift selbst die apologetische Stoßrichtung seiner Satire: »It celebrates the Church of England as the most perfect of all others in Discipline and Doctrine, it advances no Opinion they reject, nor condemns any they receive.«35 Swifts eigene Vorbehalte gegenüber Judentum und Islam erlaubten ihm nicht, deren Vertreter als gleichberechtigte Gesprächspartner anzuerkennen. Sein Bild des Judentums entspricht dem eines jungen anglikanischen Pastors Ende des 17. Jahrhunderts und speist sich fast ausschließlich aus der Bibel: Swift betont die »Hartnäckigkeit« der Juden, ihren Hang zur Rebellion36 und scheint sich vor einem Bund der Juden mit den Dissenters zu fürchten. 1711 fragt sich Swift in der Tory-Wochenzeitung The Examiner: What if the Jews should multiply and become a formidable Party among us? Would the Dissenters join in Alliance with them likewise, because they agree already in some general Principles, and because the Jews are allowed to be a stiff-necked and rebellious People?37

Swift denunziert die Toleranz gegenüber der jüdischen Gemeinde als den ver­ hängnisvollen Nährboden für ihren Proselytismus. So fordert er an anderer Stelle

35 Ebd., S. 6. 36 Die Juden werden in der frühen Ode to Dr. William Sancroft in Anlehnung an das zweite Buch Moses – »Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein hartnäckiges Volk« (Ex 32,9 f.) – als ein »hartnäckiges« Volk charakterisiert: »Yet pardon, native Albion, when I say, / Among thy stubborn sons there haunts that spirit of the Jews, / That those forsaken wretches who to-day / Revile his great ambassador, / Seem to discover what they would have done / (Were his humanity on earth once more) / To his undoubted Master, Heaven’s Almighty Son« (Jonathan Swift: The complete poems. Hg. von Pat Rogers. New Haven 1983, S. 64, V. 128–134). 37 Jonathan Swift: The Examiner and other pieces written in 1710–11. Hg. von Herbert Davis. Oxford 1957, S. 126–132, hier S. 130 (Nr. 36, 12.4.1711).

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ironisch das Recht für Juden und Dissenters, die St. Paul’s Cathedral mitten im Gottesdienst zu betreten, um die Geistlichkeit bekehren zu dürfen.38 Zugleich verrät der Passus, dass Swifts Bild des Judentums instrumentellen Charakter hat und seiner Polemik gegen die Dissenters dient. Ihnen wirft er Kryptojudaismus vor, mit einer Argumentation, die bereits die Kirchenväter gegen die frühchristli­ chen Antitrinitarier bemühten. So behauptet Basilius, dass der Sabellianismus, der Gott Vater, Sohn und Heiligen Geist nicht als Personen, sondern nur als Aspekte des einen Gottes betrachtet, einen Judaismus in christlicher Verkleidung (»Ιουδαισμός […] εν προσχήματι Χριστιανισμοῦ«) darstelle.39 Swifts antisemiti­ sche Ausfälle richten sich gegen die Toleranzpolitik aufgeklärter Geister wie etwa des Parlamentsmitglieds Joseph Addison (1672–1719), der nur ein Jahr nach Swifts Artikel im Examiner den Nutzen der Juden für das Gemeinweisen betonte. Gerade die Diaspora verwandle laut Addison die Juden in einen wertvollen Konnex der entferntesten Völker. »Wie Bolzen und Riegel« seien sie für den Zusammenhalt des Weltgebäudes notwendig.40 Nicht weniger vorurteilsbelastet war Swifts Haltung zum Islam, der damals aus europäischer Perspektive vor allem mit dem Osmanischen Reich identifiziert wurde.41 Bereits in Moor Park stand Swift eine ansehnliche Anzahl potenzieller Informationsquellen zur Verfügung – u. a. Thomas Newtons Notable Historie of the Saracens (1575), die Historia saracenica des koptischen Historikers al-Makīn ibn al-’Amīd (1205  – nach 1280), die 1625 bei Erpenius in Leiden erschien und eine wichtige Informationsquelle über die islamische Welt darstellte, Michel Bau­ diers Histoire Générale de la Religion des Turcs (1625), Sir Henry Blounts Reise­

38 »I have another Project in my Head which ought to be put in execution, in order to make us Free-thinkers: It is a great Hardship and Injustice, that our Priests must not be disturbed while they are prating in their Pulpit. For Example: Why should not William Penn the Quaker, or any Anabaptist, Papist, Muggletonian, Jew or Sweet Singer, have liberty to come into St. Paul’s Church, in the midst of Divine Service, and endeavour to convert first the Aldermen, then the Preacher, and Singing-Men« (Jonathan Swift: Mr. Collin’s Discourse of Free-Thinking. In: Ders.: A Proposal for Correcting the English Tongue, Polite Conversation, Etc. Hg. von Herbert David in Verbindung mit Louis Landa. Oxford 1957, S. 23–48, hier S. 31). 39 Saint Basil: The letters. With an english translation. Hg. von Roy J. Deferrari. 4 Bde. London 1930, hier Bd. 3, S. 200–202 (Ep. 210). 40 »The Jews are like the pegs and nails in a great building, which, though they are little valued in themselves, are absolutely necessary to keep the whole frame together« (The Spectator, Nr. 495, 27.9.1712. In: The Spectator. Stereotype Edition. London 1836, S. 566). 41 Folgende Ausführungen zu Swifts Bild des Islam sind der exzellenten einschlägigen Studie von Dirk F. Passmann (The Dean and the Turk: Jonathan Swift, ›Mahometanism‹ and Religious Controversy before the Discourse concerning the Mechanical Operation of the Spirit. In: Swift Studies 22 [2007], S. 113–145) verpflichtet.



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beschreibung A Voyage into the Levant (1636), Lancelot Addisons Schmähschrift gegen Mahomet First State of Mahumedism (1679) und Richard Knolles Stan­ dardwerk Generall Historie of the Turkes von 1603, im 17. Jahrhundert mehrfach wiederaufgelegt.42 Zum Bestand von Swifts eigener Bibliothek gehörten ferner eine Prosopografie der frühen türkischen Kaiser von 1298 bis 1463 des byzantini­ schen Historikers Laonicus Chalcocondylas (Laonici Chalcocondylae Atheniensis Historiarum de origine ac rebus gestis imperatorum Turcorum Conrado Tigurino interprete), eine Edition der Werke von Ogier Ghisellin de Bousbecque, habsbur­ gischer Botschafter bei Süleyman I., ferner Francis Osbornes Political Reflections on the Government of the Turks (1689) und Sir Paul Rycauts History of the present State of the Ottomane Empire (1686). Es lässt sich vermuten, dass Swift zudem die Ausführungen über die Sarazenen und Ottomanen aus Temples Essay Of Heroick Virtue kannte. Außerdem exzerpierte er die Commentarii des Sleidanus (De statu religionis et rei publicae Carolo V. Caesare commentarii), welche die Beziehungen Karls V. zum Osmanischen Reich ausführlich behandeln. Trotz der breiten Quellenkenntnis verraten Swifts spärliche und stereotype Stellungnahmen ein ziemlich oberflächliches Wissen von der islamischen Welt. Dies zeigt sein Kommentar des Traktats Discourse of Free-Thinking (1713), wo der deistische Frühaufklärer Anthony Collins gerade die religiöse Toleranz im Osma­ nischen Reich idealisiert: […] let any man look into the History and State of the Turks, and he will see the influence which their tolerating Principles and Temper have on the Peace of their Empire. It is affirm’d in their Alcoran, »That one who lives as he ought to do, whether he be Christian or Jew, or whether he hath forsaken one Profession to embrace another; every one that adores God, and does the thing that is good, shall undoubtedly obtain the Love of God«. And pursuant to their Principles has been their Practice; for from the beginning of their Empire to this day, they have tolerated various Sects, and particularly Christians (upon the terms of paying a small Tribute) tho those Christians esteem their Prophet an Impostor, and would infallibly extirpate with Fire and Sword their present Protectors, if the Empire was in their hands. The Peace of the Turkish Empire is so perfect (in respect to the Peace among Christians) by virtue of the Charity and Toleration which prevail among them […].43

Für Collins’ freilich tendenziöse Schilderung  – er erwähnt einzig die Sure 2,26 unter Verschweigung der intoleranten Passagen des Korans44 – konnte Swift nur Sarkasmus übrig haben. Er glossiert den Passus mit einer satirischen Marginalie:

42 Vgl. Passmann/Vienken (Anm. 11), Bd. 4, S. 185–215. 43 Anthony Collins: A Discourse of Free-Thinking, occasion’d by the rise and growth of a sect call’d Free-Thinkers. London 1713, S. 102 f. 44 Vgl. etwa 5,51, wo die Freundschaft zwischen Muslimen und Juden bzw. Christen untersagt wird, oder 9,1, wo Muslime von der Verpflichtung entbunden werden, Verträge mit Ungläubigen

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Those noble Turkish Virtues of Charity and Toleration, are what contribute chiefly to the flourishing State of that happy Monarchy. There Christians and Jews are tolerated, and live at ease, if they can hold their Tongues and think freely, provided they never set foot within the Moschs, nor write against Mahomet: A few Plunderings now and then by their Janisaries are all they have to fear.45

Wie das Judentum benutzte Swift auch die islamische Religion als polemische Waffe zur Bekämpfung der Puritaner. Diese instrumentalisierende Betrachtung des Islams war nichts Neues, sondern eine gängige Praxis bei der Bekämpfung der christlichen Häresien. Bereits Luther hatte Mohammed als einen Schüler des Arius bezeichnet. Und in Luthers Nachfolge setzten auch die anglikanischen Apologeten Antitrinitarier wie Arianer und Sozinianer mit den Islamikern gleich, so etwa Humphrey Pridaux in seiner Abhandlung The True Nature of Imposture Fully Displayed in the Life of Mahomet (1697). Ihrerseits beriefen sich die Anti­ trinitarier selbst auf den Islam – etwa Arthur Bury in Naked Gospel (1690) –, um ihre Ablehnung der Dreifaltigkeit zu verteidigen. Nicht nur der sozinianische Antritinitarismus übrigens, auch die calvinistische Prädestinationslehre wurde in Analogie zum Islam gebracht und unter dem Stigma des ›Calvino-Turcismus‹ bekämpft – ein Terminus, den zwei Autoren des ausgehenden 16. Jahrhunderts prägten: William Gifford und William Rainolds.46 Vor diesem Hintergrund muss auch die Mohammed-Satire im Discourse concerning the Mechanical Operation of the Spirit gelesen werden: ’TIS recorded of Mahomet, that upon a Visit he was going to pay in Paradise, he had an Offer of several Vehicles to conduct him upwards; as fiery Chariots, wing’d Horses, and celestial Sedans; but he refused them all, and would be born to Heaven upon nothing but his Ass. Now, this Inclination of Mahomet, as singular as it seems, hath been since taken up by a great Number of devout Christians […].47

Swifts Mohammed, der vor Gottes Thron nicht von dem geheimnisvollen Tier Alborach, sondern von einem Esel getragen wird, ist der Prototyp nicht nur des islamischen, sondern auch des puritanischen Fanatismus, der in seiner radikalen Schwärmerei für Swift islamische Züge trägt.

einzuhalten, vom offenen Aufruf zum Kampf gegen die Heiden in den Suren 9,5.29.41 etc. ganz zu schweigen. 45 Swift: Discourse (Anm. 38), S. 39. 46 Calvino-Turcismus: id est, Calvinisticae perfidiae, cum Mahumetana collatio et dilucida utriusque sectae confutatio. Antwerp 1597, Köln 1603. 47 The Writings of Jonathan Swift. Hg. von Robert A. Greenberg und William Bowmann Piper. New York, London 1973, S. 400.



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Im Vorwort zu dem Tale of a Tub imaginiert er daher die Dissenters als ein gefährliches Seeungeheuer, welches das Schiff des Staates und der englischen Nationalkirche ins Wanken bringt – eine Bedrohung, die am linken Rand des puri­ tanischen Spektrums die Separatisten verkörperten, welche das Prinzip der absolu­ ten Gemeindeautonomie verfolgten und eine wie auch immer geartete Staatskirche strikt ablehnten. Ihnen wirft er sein Tonnenmärchen als Spielzeug zu, um sie von ihrem zerstörerischen Treiben abzulenken. Die Metapher übernahm Bernhard Lens in seinem von John Sturt gestochenen Frontispiz zur 1710er Ausgabe (Abb. 1). Wiewohl die Bekämpfung der Dissenters für die Ökonomie von Swifts Satire zentral ist, war es vor allem die antipapistische Polemik, welche dem Tale seine Beliebtheit im reformierten Europa und gerade bei den Opfern der katholischen Verfolgung wie den französischen Hugenotten in Holland sicherte. Dies belegt der gemeinsame Druck einer französischen Überarbeitung des Tale mit einer Versfassung von Boccaccios Ringparabel – ein Druck, der im Jahre 1721 vermut­ lich in Den Haag bei Charles Levier erschien. In seiner Monografie zu Mathurin Veyssière La Croze hat Martin Mulsow beide Texte analysiert.48 Die stark vergrö­ bernde Swift-Überarbeitung firmierte René Macé, der wohl kurz vor der Jahrhun­ dertmitte in England starb – einer jener Grub-Street-Literaten, die Swift karikiert. Die Boccaccio-Adaptation dagegen schreibt Mulsow durch eine Reihe von Deduk­ tionen Julien Scopon zu, ohne zu bemerken, dass bereits 1758 der von ihm zitierte Prosper Marchand die Autorschaft von Scopon enthüllt hatte. Wiewohl der gemeinsame Druck die Filiation des Tale aus der Ringparabel bekräftigt, dürfte die hugenottische Umdeutung von Swifts Satire zur ›moder­ nen Ringparabel‹ und zum Plädoyer für interreligiöse Toleranz auf einem Miss­ verständnis beruhen. Swifts Tale bildet vielmehr eine interkonfessionell depo­ tenzierte Version der Ringparabel. Es ist hierfür bezeichnend, dass sich Swift im Einklang mit den Tories gegen die Naturalisation der Hugenotten aussprach, die nach England geflüchtet waren. Der 1708 von den Whigs erlassene Act for the Naturalisation of Foreign Protestants wurde auf Betreiben der Tories 1712 aufgeho­ ben. Dies erntete auch Swifts Zustimmung, denn die Aufnahme der protestanti­ schen Flüchtlinge hätte in seinen Augen nur die Anzahl der potenziellen Dissen­ ters erhöht: »Most protestants abroad«, notiert er, »differ from us in the points of church-government; so that all the acquisitions by this act would increase the number of dissenters.«49 Man kann also ausschließen, dass Swift in seinem Tale

48 Martin Mulsow: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739). Tübingen 2001. 49 Zit. n. Bernhard Cottret: Huguenots in England. Immigration and settlement, c. 1550–1700. Cambridge 1991, S. 220. Holland, wo der Doppeldruck erschien, war Swift gerade aufgrund der

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die Toleranz für die anderen protestantischen Konfessionen zu propagieren ver­ suchte. Vielmehr trat er für die Festigung der englischen Nationalkirche durch die satirische Persiflage ihrer Gegner ein. Nach dieser Kontextualisierung soll abschließend der Fokus auf eine zen­ trale narrative Transformation in Swifts satirischer Überformung der Ringpara­ bel gelenkt werden, die Substitution der Ringe durch die Röcke. Dieser Eingriff erlaubt Swift, die Korruption der väterlichen Gaben ins Zentrum zu rücken. Die Hauptvorschrift des väterlichen Testaments (Abb. 2) besagt, dass an den schlich­ ten, schmucklosen Röcken nichts geändert werden darf – ein asketisches Gebot, das gegen die sich von Frankreich ausbreitende Glaubenslehre des ›Sartorismus‹ eklatant verstößt. Die von Swift karikierten ›Sartoristen‹, die damaligen Anhän­ ger der französischen Mode, beten als oberste Gottheit ein Schneider-Idol an und halten – der Makro- und Mikrokosmoslehre entsprechend – das Universum für ein großes Kleidungsstück, das alles umhüllt, und den Menschen für einen Rock im Kleinen. Sie identifizieren die Seele mit dem äußeren Gewand und setzen dem­ zufolge jede geistige Fähigkeit mit einem Kleidungsstück gleich: Geist bedeutet für sie Stickerei, Schlagfertigkeit Goldlitze und Humor eine große, langwallende Perücke. Um die Damen, in die sie sich verliebt haben, zu gewinnen, entscheiden sich die Brüder, ihre Kleider der jeweils neuesten Façon anzupassen, obwohl das väterliche Testament dies explizit untersagt. Die modische Anpassung der Kleider symbolisiert für Swift die Korruption des biblischen Wortes durch dessen geschichtliche Tradierung, die er als eine Verfallsgeschichte diagnostiziert. Manche Ornamente bilden eine Anspielung auf den katholischen Prunk, der sich vom Pauperismus des Urchristentums entfernt: so die Schulterkordeln, die Goldlitze und die Silberfransen. Andere Verzierun­ gen verkörpern den Idolatrievorwurf, den Swift an die Adresse des Katholizis­ mus richtet: so die indischen Figurenstickereien mit anthropomorphen Darstel­ lungen, welche die Brüder als dernier cri unbedingt auf ihren Röcken anbringen wollen. Weitere Ornamente hingegen repräsentieren theologische Dogmen wie der flammenfarbene Satin, für den sich die Brüder begeistern und hinter dem sich die mittelalterliche Erfindung des Fegefeuers verbirgt. Da die Brüder übri­ gens trotz des raschen Wechsels der Mode die angebrachten Verzierungen stehen lassen, ist das Ergebnis im Laufe der Jahrzehnte »das komischste Durcheinan­ der« – »a Medley, the most Antick you can possibly conceive«50 –, wodurch Swift

dort herrschenden konfessionellen Toleranz verhasst. Dem irischen Pastor erschien sie als ver­ kappter Atheismus. 50 Swift: Tale (Anm. 1), S. 88.



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auf das abstruse Chaos der kaum miteinander vereinbaren Lehren der katholi­ schen Theologie anspielt. Die Gleichsetzung der Theologie mit der Mode legt die Zeitbedingtheit und Überflüssigkeit der theologischen Dogmen offen. Theologie ist aber für Swift nicht nur ein überflüssiges Beiwerk, sie ist auch Synonym für einen manipula­ tiven Umgang mit der Schrift. So sucht Peter im Testament, wo das anzubrin­ gende Ornament nicht erwähnt wird, nach dessen Buchstaben, um dann daraus zu schließen, dass der Zierrat totidem litteris im Einklang mit dem väterlichen Willen steht. Alternativ greift der findige Bruder auf die mündliche Überlie­ ferung zurück, die er als eine Art Paralleltestament charakterisiert  – eine alle­ gorische Umschreibung der katholischen Lehre von der Heiligkeit der Traditio. Da allerdings die Moden einem ständigen Wandel unterworfen sind, wird Peter des Suchens nach Ausflüchten bald müde und entscheidet sich, im Einverneh­ men mit den anderen Brüdern, das Testament in einer kostbaren italienischen oder griechischen Geldtruhe wegzuschließen und sich bei weiteren Änderungen einfach auf die väterliche Autorität zu berufen, womit Swift das Verbot der lan­ dessprachlichen Bibelübersetzungen anklingen lässt. Über eine gefälschte Schenkungsurkunde, die in ihrer allegorischen Bedeu­ tung nicht erläutert zu werden braucht, nimmt Peter für sich und die Brüder das Haus eines verstorbenen Lords in Besitz. Dort tyrannisiert er sie immer mehr, jagt auch ihre Frauen fort, und als die Brüder sich weigern, das Stück Graubrot, das er ihnen serviert, als Hammelfleisch gelten zu lassen, vertreibt er sie nach einem heftigen Zerwürfnis aus dem gemeinsamen Haus (Abb. 3). Die beiden Brüder, die man, wie der Autor hinzufügt, erst um diese Zeit als Martin und Jack namentlich auseinanderzuhalten begann, ziehen das Testament wieder hervor und finden darin »keine Vorschrift, die nicht schamlos verletzt worden sei«.51 Daraufhin fassen sie den Entschluss, ihre Kleider in den ursprünglichen Zustand zurück­ zuversetzen. Martin – der Repräsentant der reformierten Kirche – geht umsichtig ans Werk bei der Entfernung von Schnürbändern und Fransen, Dogmen und päpstlichen Dekreten. Er trägt aber auch Sorge dafür, da, wo die Stickerei zu tief eingearbeitet ist oder die dünnen Stellen auf dem Rock verdeckt, alles beim Alten zu belas­ sen, damit der Stoff selbst auf keinen Fall in Mitleidenschaft gezogen werde. Der von Natur aus unbeholfene und ungeduldige Jack hingegen wird weniger von der

51 »The main Body of the Will […] consisted in certain admirable Rules about the wearing of their Coats; in the Perusal wherof, the two Brothers at every Period duly comparing the Doctrine with the Practice, there was never seen a wider Difference between two Things; horrible down-right Transgressions of every Point« (Swift: Tale [Anm. 1], S. 87 f.).

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Achtung der väterlichen Gebote als von seinem Hass auf Peter umgetrieben. Trotz der Ermahnungen des weisen Martin reißt er die Stickereien gewaltsam herunter und verwandelt so das kostbare Kleid in einen Haufen Lumpen (Abb. 4). Bisher blieb unbeachtet, dass der kulturgeschichtliche Kontext von Swifts Substitution der Ringe durch die Röcke in der ›Fashion Crisis‹ des 17. Jahrhunderts zu suchen ist.52 Diese Mode-Krise bildet ihrerseits eine Folge der Legitimitätskrise der englischen Monarchie. Diese war seit dem Bürgerkrieg und der Hinrichtung Charles I. virulent und hatte sich mit der auch von Swift befürworteten ›Glorious Revolution‹, der Vertreibung des katholischen James II. und der Durchsetzung der Bill of Rights fortgesetzt, welche die Macht des Königs zugunsten des Parlaments entschieden eingeschränkt hatte. Die ›Fashion Crisis‹ betrifft nur einen Aspekt des monarchischen Legitimitätsverlusts, ist aber insofern hochsignifikant, als sie der Sphäre der Zeichen gilt und sich als semiotischer Machtverlust zu erkennen gibt. Die höfische Mode geriet zunehmend in die Kritik: zunächst in politischer Hinsicht, weil die höfische Eleganz als ein zentraler Bestandteil des absolutisti­ schen Systems schlechtweg zum Synonym für Tyrannei wurde – diese Gleichung erschien bereits im Titel des einflussreichen Pamphlets von John Evelyn Tyrannus or The Mode (1661); dann in nationaler Hinsicht, weil die Unterwerfung unter die jeweiligen französischen Moden von den Whigs und Puritanern als ein Souve­ ränitätsverlust eingeklagt wurde. Gegen den höfischen Kleidungskodex wurden ferner ökonomische Bedenken erhoben, weil aus Frankreich importierte Luxus­ güter den englischen Binnenmarkt schwächten. Hinzu kamen ethische Vorbe­ halte gegen die ›conspicuous consumption‹, den ostentativen Prestigekonsum des Hofes, weil er als Symptom moralischer Korruption diagnostiziert wurde. Schließlich erhielt die Mode-Kritik auch eine religiöse Nuance. Bereits vor Swift wurde die übermäßige Wertschätzung des Äußeren als papistisch kritisiert: Der puritanische Whig-Anhänger Edmund Hickeringill prägte die Gleichung »Popery and Foppery«, also »Papismus und Ziererei«.53 Auch Swifts Tale of a Tub griff in die Debatte um die ›Fashion Crisis‹ ein. Außer zum Symbol für den Verfall des Christentums wird bei Swift die Mode zudem zum Synonym für moralische Korruption sowie für einen Lebensstil, der die englischen Nationalwerte der Sparsamkeit und Mäßigkeit verrät, wie seine antifranzösische Polemik zeigt. Die Röcke bestehen aus gutem englischem Tuch, während die frivolen Ornamente ein teures Luxusimport aus Frankreich sind.

52 Vgl. David Kuchta: The Three-Piece Suit and Modern Masculinity. England, 1550–1850. Berkeley u. a. 2002, S. 51–76. In seiner Monografie erwähnt Kuchta Swift an keiner Stelle. 53 Edmund Hickeringill: The Ceremony-Monger, His Character. In ten chapters. London 1651, S. 15.



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Vor allem die von Swift erwähnten Schulterkordeln waren ein typisch französi­ scher Zierrat: So erschien einmal Anna von Österreich während des Aufenthalts des Herzogs von Buckingham am französischen Hof mit einer Schulterkordel, in der zwölf Diamanten eingebettet waren.54 Auch die von den Brüdern angebete­ ten Damen tragen französische und zugleich sprechende Namen wie Duchesse d’Argent, Madame de Grands Titres und Comtesse d’Orgueil. Indem die drei Brü­der diese Damen hofieren und dafür ihre Röcke zieren lassen, verraten sie nicht nur das väterliche Gebot, sondern auch das englische Nationalethos. Im Kontext der ›Fashion Crisis‹ entstand übrigens auch die Urform des heuti­ gen dreiteiligen Anzugs, und es ist kein Zufall, dass Swift mit seiner Satire darauf Bezug nimmt. Das väterliche Gebot, das schlichte Kleid nicht zu verändern, das man bisher als eine Anspielung Swifts auf das fünfte Buch Moses interpretiert hat,55 besitzt zugleich eine zeitgenössische Vorlage, die auch erklärt, warum Swift gerade die Röcke als Metapher wählte. Es handelt sich um den Vorsatz des eng­ lischen Königs Charles II. im Jahre 1666, sich von der damals herrschenden fran­ zösischen Mode abzuwenden und am Hof eine neue schlichte Kleidung einzu­ führen, die niemals verändert werden sollte. Die Entscheidung des Königs wurde von zeitgenössischen Beobachtern wie Samuel Pepys und John Evelyn in ihren Tagebüchern begeistert begrüßt. Am 7. Oktober 1666 notiert Pepys: »The King hath yesterday in council declared his resolution of setting a fashion for clothes which he will never alter. It will be a vest, I know not well how, but it is to teach the nobility thrift, and will do good.«56 Ein Porträt des Schriftstellers Samuel Sturmy dokumentiert die besondere Schlichtheit des sofort als English vest getauften Rocks (Abb. 5). Einige Höflinge wetteten mit dem König, dass er seinen Vorsatz, die neue Kleidung niemals zu verändern, nicht lange einhalten würde.57 In der Tat währte die schnörkellose Mode knapp zwei Wochen. Am 30. Oktober war sie laut Evelyns Bericht schon passé: »It was a comely and manly habit, too good to hold, it being impossible for us to leave the monsieurs’ vanities in good earnest long.«58 Die Kurzlebigkeit des Rocks belegt auch das Frontispiz des höfischen Traktats The Courtier’s Calling

54 Vgl. James Robinson Planché: Cyclopaedia of costume or Dictionary of dress. In two volumes. Bd. 1/2. London 1876, S. 462. 55 »Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davontun, auf dass ihr bewahrt die Gebote des Herrn, eures Gottes, die ich euch gebiete« (Dtn 4,2). 56 Samuel Pepys: The Diary of Samuel Pepys. Hg. von Robert Latham. Bd. 7. London 1972, S. 315 [Hervorh. d. Verf.]. 57 »Upon which divers courtiers and gentlemen gave his Majesty gold by way of wager, that he would not persist in this resolution« (ebd.). 58 John Evelyn: The Diary of John Evelyn. Bd. 3. Oxford 1955, S. 467 (30.10.1666).

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von 1675: Der unauffällige Rock von 1666 ist vor lauter Zierrat kaum wiederzu­ erkennen (Abb. 6). Es ist wahrscheinlich, dass der junge Swift die Anekdote von der Entstehung des English vest – die von der Swift-Forschung bisher übersehene Keimzelle des Tale – über Sir William Temple in Erfahrung brachte, der lange Zeit im diplomatischen Dienst unter Charles II. war.59 In seiner satirischen Adaptation der Ringparabel situiert sich Swift im apolo­ getischen Lager, wobei er das Bekenntnis zum Christentum als der einzig wahren Religion zum strukturellen Apriori seiner Fabel erhebt und die englische Natio­ nalkirche gegen ihre Feinde im In- und Ausland in Schutz nimmt. Indem er Boc­ caccios Ringe durch die Röcke vertauscht, nimmt Swift ferner an der Debatte über die ›Fashion Crisis‹ des ausgehenden 17. Jahrhunderts teil und ›verwebt‹ seine Apologie der anglikanischen Kirche mit einem Plädoyer für das englische Ethos gegen den zersetzenden Einfluss des französischen Luxus.

59 Die Anekdote von der Entstehung des englischen Rocks hätte Swift aber auch weiteren Quellen wie Edward Chamberlaynes Anglia Notitia (1667) oder Guy Mieges The New State of England (1691) entnehmen können.



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Bildanhang

Abb. 1: Bernhard Lens/John Sturt: Frontispiz zu A | TALE | OF A | TUB. | Written for the Universal Im-| provement of Mankind. | Diu multumque desideratum. | To which is added, | An ACCOUNT of a | BATTEL | BETWEEN THE | Antient and Modern BOOKS | In St. James’s Library. | […] The Fifth EDITION: With the Au- | thor’s Apology and Explanatory Notes. | By W. W—tt—n, B. D. and others. | LONDON: Printed for John Nutt, near | Stationers-Hall. MDCCX. Abb. in: Swift: Tale (Anm. 1), S. 2.

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Abb. 2: Bernhard Lens/John Sturt: Die drei Brüder mit dem väterlichen Testament. In: Swift: Tale (Anm. 1), S. 52.



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Abb. 3: Bernhard Lens/John Sturt: Peter vertreibt Martin und Jack aus dem gemeinsamen Haus. In: Swift: Tale (Anm. 1), S. 79.

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Abb. 4: Bernhard Lens/John Sturt: Jack und Martin entfernen die Stickereien aus ihren Röcken. In: Swift: Tale (Anm. 1), S. 90.



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Abb. 5: A. Hertochs: Frontispiz zu Samuel Sturmy: The Mariners Magazine, or, Sturmys Mathematicall and Practicall arts. London 1669. Abdruck mit Genehmigung der National Portrait Gallery, London.

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Abb. 6: Anonym: Frontispiz zu THE | COURTIER’S Calling: | Showing the Ways of making a | FORTUNE, | AND THE | Art of Living at Court, | According to the | MAXIMS | OF | POLICY & MORALITY. | IN TWO PARTS. | […] By a Person of Honour. | Printed by J. C. for Richard Tonson, at Grays- | InneGate in Grays-Inne Lane. 1675. Abb. in: David Kuchta: The Three-Piece Suit and Modern Masculinity. England, 1550–1850. Berkeley u. a. 2002, S. 89.

Christian Rivoletti

Les trois Anneaux (1721)

Eine französische Verserzählung zwischen Boccaccio und Lessing

1 Eine französische Versbearbeitung der Ringparabel Boccaccios im Florenz des 18. Jahrhunderts Im Sommer 1747 hält der Philologe, Theologe und Historiker Giovanni Gaetano Bottari an der Accademia della Crusca in Florenz fünf öffentliche Vorlesungen über die sogenannte Novella de’ tre Anelli von Giovanni Boccaccio (Dec. I 3). In seinen Vorträgen versucht Bottari, der schon von 1731 bis 1739 den Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Rom innehatte und von Papst Clemens XII. zum Kustos der Biblioteca Vaticana ernannt wurde,1 zwei Thesen zu beweisen, die das Decameron in den Augen der Katholiken rehabilitieren sollen. Zum einen will er in diesem Kontext die überwiegend von ausländischen Autoren – wie etwa Pierre Bayle – vertretene These widerlegen, dass Boccaccio der Verfasser des Traktats De tribus impostoribus sei. Zum anderen setzt er sich ein noch schwierigeres und zugleich fragwürdiges Ziel: Er möchte durch seine Analyse der Novella de’ tre Anelli bewei­ sen, dass in diesem Text die Überlegenheit der christlichen Religion gegenüber der islamischen und der jüdischen geltend gemacht werde. Dazu beruft sich Bottari auf die Autorität von Lodovico Dolce,2 wobei er fol­ gende tendenziöse Interpretation der ›unbequemen‹ Novelle vornimmt: Wenn sogar Melchisedech, obwohl Jude und somit Feind der christlichen Religion, diese nicht verschmäht, sondern mit den anderen Religionen gleichstellt, und nicht erkennen kann, welche die wahre sei (Behauptungen, die ein Christ gewiss

1 Für weitere biografische Daten siehe Giuseppe Pignatelli und Armando Petrucci: Art. »Botta­ri, Giovanni Gaetano«. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Hg. von Alberto M. Ghisalberti u. a. Bd. 13. Rom 1971, S. 409–418. 2 In seiner Decameron-Ausgabe von 1552 behauptet Dolce, dass Boccaccio in dieser Novelle für die christliche Religion spreche: »approvando l’Autore la Religion Christiana« (Giovanni Boccaccio: Il Decamerone. Nuovamente alla sua vera lettione ridotto per M. Ludovico Dolce. Con tutte quelle allegorie, annotationi, e tavole, che nelle altre nostre impreßioni si contengono […]. Venedig: Gabriel Giolito de Ferrari et Fratelli 1552, S. 46).

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nie machen würde), dann müssen wir daraus folgern, dass unsere christliche Religion nach Ansicht Boccaccios diejenige mit der größten Gewissheit, die echte und daher die beste von allen Religionen sei.3 Die Reihe von insgesamt 33 Lezioni sul Decameron, die Bottari von 1725 bis 1764 in Florenz hielt und die erst posthum veröffentlicht wurden,4 gelten als einer der repräsentativsten Beiträge zur Decameron-Kritik im Italien des 18. Jahrhun­ derts und übten jahrzehntelang einen wichtigen Einfluss aus. In diesen Vorle­ sungen bemühte sich Bottari zu beweisen, dass im Decameron keine Spur von obszönen Elementen vorhanden sei und dass Boccaccio seinen Text mit morali­ schen und religiösen Absichten geschrieben habe. An den Lezioni lassen sich die interpretativen Schwierigkeiten ablesen, welche die Ringparabel von Melchise­ dech der katholischen Welt Italiens noch bereitete – Schwierigkeiten, mit denen man schon seit dem 16. Jahrhundert zu kämpfen hatte; man bedenke etwa, dass die Erzählung der Ringparabel in der bekannten, von Salviati zensierten Ausgabe des Decameron (1582) vollständig gestrichen wurde.5 Ähnliche Rehabilitierungsversuche finden wir auch in der Istoria del Decamerone (1742) des Florentiners Domenico Maria Manni,6 der ebenfalls Mitglied der Accademia della Crusca sowie Kollege und Freund von Giovanni Bottari war. In seinen Ausführungen zur Novelle von Frate Cipolla (Dec. VI 10), in der Boc­ caccio eine Satire der katholischen Reliquienverehrung inszeniert, gibt Manni beispielsweise die gesamte Argumentation der zwei von Bottari gehaltenen Vor­ lesungen zu dieser Novelle wieder. Damit versucht er zu zeigen, dass das einzige polemische Ziel des Verfassers des Decameron der naive Volksglaube sei.7 Im Kapitel zur Novella di Melchisedec giudeo bemüht sich Manni zu bewei­ sen, dass Boccaccio keine Verantwortung für den Inhalt dieser Erzählung trage, da der Stoff aus einer älteren Novellensammlung, nämlich aus dem Novellino, fast wörtlich übernommen wurde (»la presente novella [è] tolta di peso dal […] Novellino«8). Am Ende des Kapitels finden wir einen interessanten Text, der als Beweis für die zeitgenössische Rezeption der Novelle Boccaccios von Manni fol­

3 Lezioni sopra il Decamerone di monsignore Giovanni Bottari. 2 Bde. Florenz: Gaspero Ricci 1818, hier Bd. 1, S. 157 f. 4 Die Vorlesungen wurden 1818 von Francesco Grazzini herausgegeben (s. vor. Anm.). 5 Il Decameron di messer Giovanni Boccacci cittadin fiorentino di nuovo ristampato, e riscontrato in Firenze con testi antichi, e alla sua vera lezione ridotto dal cavalier Lionardo Salviati. In Venezia, per li Giunti di Firenze 1582. 6 Istoria del Decamerone di Giovanni Boccaccio scritta da Domenico Maria Manni, accademico fiorentino. Florenz 1742. 7 Ebd., S. 433–453. 8 Ebd., S. 153 [Hervorh. d. Verf.].



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gendermaßen präsentiert wird: »Mi piace di questa Novella accennare la graziosa traduzione, che ne fece un bello spirito in Poesia Franzese, la quale incomincia così […].«9 Manni handelt hier mit großer Vorsicht. Seine kommentarlose Abschrift der französischen Versbearbeitung der Novelle Boccaccios, die auf die oben zitierte Stelle unmittelbar folgt, beinhaltet ausschließlich die ersten sechs Strophen des Gedichts. Somit wird die Erzählung der Ringparabel genau vor der entscheiden­ den theologischen Frage des Saladins an Melchisedech über die wahre Religion abgebrochen. Auch der Titel der Versnovelle wird nicht genannt; in einer Fußnote werden lediglich der Druckort und das Jahr angegeben: »Dublin 1721«. Nur auf­ grund dieser Angabe wurde die französische Bearbeitung in der Decameron-For­ schung bis Ende des 19. Jahrhunderts weiterhin zitiert, allerdings beschränkt auf die sechs von Manni abgedruckten Strophen.10 Manni kannte aber mit Sicherheit den gesamten Text, in dem ein Plädoyer für die konfessionelle Freiheit und eine Kritik an repressiver Gewalt enthalten sind. Hinter ihrer dichterischen Anmut verbirgt die französische Versnovelle  – wie wir unten genauer sehen werden  – einen für gläubige Katholiken und für die römische Inquisition potenziell gefährlichen Inhalt. Daher war der Abbruch der Abschrift nach der sechsten Strophe in der Istoria von Manni vermutlich als Vorsichtsmaßnahme beabsichtigt. Die Novelle, die Manni nur unvollständig wiedergibt, wurde im Laufe des 18.  Jahrhunderts viermal veröffentlicht, wie Martin Mulsow in seiner Studie

9 Ebd., S. 155. 10 Siehe u. a.: Decameron di Messer Giovanni Boccaccio. Corretto ed ilustrato, con note tratte da vari dal Dott. Giulio Ferrario. Mailand 1803; Osservazioni istoriche e critiche di Vincenzio Martinelli sopra il Decameron. In: Il Decameron di Messer Giovanni Boccacci, tratto dall’ottimo testo scritto da Francesco D’Amaretto Mannelli. Venedig 1813; Il Decameron di Messer Giovanni Boccacci […] postillato da Pietro Fanfani. Florenz 1857 und Decamerone di Giovanni Boccaccio, illustrato e comentato da Giuseppe Bozzo. Palermo 1876. Danach geriet die französische Bearbeitung wahrscheinlich in Vergessenheit, zumindest in der italienischen Sekundärliteratur. Erst Lea Ritter Santini wies in einem Aufsatz auf die Präsenz dieses Textes in der Istoria von Manni hin und druckte den gesamten Text im Anhang ab (Lea Ritter Santini: Die Erfahrung der Toleranz. Melchisedech in Livorno. In: Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien 1775. Hg. von ders. 2 Bde. Berlin 1993, hier Bd. 1, S. 433–466, bes. S. 460 f.). Martin Mulsow hat dem historischen Kontext der Entstehung dieses Textes eine wichtige Studie gewidmet (s. Anm. 11), in der er auch die frühe Rezeption des conte ausführlich rekonstruiert. Der Aufsatz von Ritter Santini findet darin allerdings keine Berücksichtigung, da dieser sich mit der späteren Rezeption befasst.

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nachweist:11 zum ersten Mal im Jahre 1717 in einem anonymen Büchlein mit dem Titel Pièces echappées du feu, dessen Druckort »à Plaisance« fingiert ist.12 Dieses Werk, das aus einer buntgemischten Sammlung von Erzählungen, Briefen, Gedich­ ten und Versnovellen besteht, wurde im Jahre 1721 noch einmal anonym und ohne Angabe des Druckortes unter einem neuen Titel publiziert.13 Im selben Jahr wurde die Novelle in einem bezeichnenden Kontext ein drittes Mal veröffentlicht, und zwar zusammen mit einer französischen, ebenfalls in Versen verfassten Teilüber­ setzung des Tonnenmärchens von Jonathan Swift. In dieser Ausgabe, die den Text auch in Italien bekannt machte, findet sich der Titel der Versnovelle bereits auf dem Deckblatt: Les trois Justaucorps, Conte Bleu, Tiré de l’Anglois du Révérend Mr. Jonathan Swif [sic!] […]. Avec les trois Anneaux, Nouvelle tirée de Bocace. Der Druckort Dublin ist wahrscheinlich eine falsche Angabe; der Autor selbst bleibt auch in diesem Fall anonym.14 Schließlich wird die Verserzählung im Jahre 1728 ein viertes und letztes Mal in Den Haag veröffentlicht, diesmal endlich mit einem Autornamen und unter dem Titel Œuvres diverses de M. de Julien Scopon. Das Werk ist eine Sammlung von contes et nouvelles en vers im Stil von La Fontaine, die bearbeitete Novellen von mehreren italienischen und französischen Autoren umfasst: Neben Boccaccio finden sich darin Texte von Poggio Bracciolini, Ludo­ vico Ariosto und Marguerite de Navarre. Ob der Autor der Trois Anneaux wirklich Julien Scopon ist, bleibt umstritten. Zu diesem Fazit gelangt auch Mulsow, der durch seine Recherchen versucht hat, das verworrene Rätsel der Autorschaft der Trois Anneaux zu lösen. Ihm gebührt das Verdienst, den interessanten Kontext der Autoren, Herausgeber und Verleger rekonstruiert zu haben, die an der Entstehung dieser Ausgabe beteiligt waren. Es handelt sich um exilierte französische Hugenotten, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes im Jahre 1685 Zuflucht in Holland gefunden hatten und dort zu Produzenten klandestiner Literatur geworden waren. Dies erklärt das rätselhafte Spiel mit den fiktiven oder falschen Druckorten und die Anonymität des Autors. Vor diesem Hintergrund werden auch die im Text vorhandenen Hinweise auf die zeitgenössische religiöse Verfolgung der französischen Protestanten und der offene Aufruf zur Toleranz verständlich, die in der fragmentarischen Abschrift von Manni – wahrscheinlich als Vorsichtsmaßnahme – ausgelassen wurden.

11 Martin Mulsow: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739). Tübingen 2001 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 16). 12 Les trois Anneaux. Nouvelle de Bocace. In: Pièces echappées du feu. À Plaisance 1717. Die Angabe »à Plaisance« verweist auf einen »fiktiven Lustort« (Mulsow [Anm. 11], S. 124). 13 Recueil de pieces serieuses, comiques, et burlesques. O. O. 1721. 14 Aus dieser Ausgabe zitiert Manni den Text.



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Diese Abschrift spielte außerdem für Lessing eine wichtige Rolle, da sie ver­ mutlich seine Aufmerksamkeit auf das französische Gedicht lenkte.15 Man hat mit Recht bemerkt, dass Boccaccio in seiner Novelle »den Aspekt menschlicher Schläue [stark] hervorkehrt« und dass es »erst Lessings große Leistung [ist], die Toleranzthematik ganz in den Vordergrund gerückt zu haben«.16 In diesem Sinn zeigt die Verserzählung Les trois Anneaux, in der der Stoff des Decameron mit einem Hinweis auf die zeitgenössische Toleranzdebatte kombiniert wird, den Weg auf, den 60 Jahre später Lessing in seinem Drama Nathan der Weise mit grö­ ßerer Konsequenz beschreiten wird.

2 Les trois Anneaux zwischen Boccaccio und Lessing Zunächst einmal stellt sich die Frage, ob Lessing die französische Versbearbei­ tung überhaupt kannte und ob sie für die Konzeption seines Dramas eine Rolle spielte. Wir wissen, dass er während seiner Reise nach Italien die Istoria del Decamerone von Domenico Manni erworben hat, und dürfen vermuten, dass er im Juli 1775 dem italienischen Gelehrten in Florenz vielleicht sogar persönlich begeg­ net ist.17 Daher liegt die Annahme nahe, dass der deutsche Dramatiker, der fast unmittelbar nach seiner italienischen Reise die Arbeit am Nathan begann, seine Aufmerksamkeit auch auf die französische Versnovelle richtete. Wir können aber nicht mit Sicherheit sagen, ob er sich nach der Lektüre der Istoria von Manni auch den gesamten Text der französischen Bearbeitung besorgte.18

15 Siehe dazu Abschnitt 2. 16 Hinrich Hudde: »Der echte Ring vermutlich ging verloren«. Die ältesten Fassungen der Ringparabel: Überblick, Überlegungen, Deutungen. In: Literatur: Geschichte und Verstehen. Festschrift für Ulrich Mölk zum 60. Geburtstag. Hg. von H. Hudde und Udo Schöning in Verbindung mit Friedrich Wolfzettel. Heidelberg 1997 (Studia Romanica 87), S. 95–110, hier S. 109. Zur These, dass die Frage nach der wahren Religion nicht der Kern der Novelle von Boccaccio ist, siehe auch die Interpretation von Andreas Kablitz in diesem Band. 17 Siehe den Katalog der von Lessing in Italien erworbenen Bücher, Nr. 244, in: Ritter Santini (Anm. 10), Bd. 2, S. 837. Lea Ritter Santini (Anm. 10), Bd. 1, S. 460 f., nimmt an, dass »Domenico Maria Manni selbst die ausländischen Gäste durch die Florentiner Bibliothek, die Libreria Stroziana, der er vorstand, geführt hat«; allerdings geht sie nicht der Frage nach, ob Lessing den gesamten Text von Les trois Anneaux kannte. 18 Lessing musste seine große, fast 6.000 Bände umfassende Bibliothek schon zu seinen Lebzeiten versteigern; sein Bücherbesitz wurde nur teilweise rekonstruiert (vgl. Paul Raabe und

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Angesichts fehlender extratextueller Beweise erscheint es sinnvoll, einen Vergleich der Texte, das heißt der unterschiedlichen historischen Fassungen der Ringparabel, zu unternehmen. Dadurch lassen sich zwei nicht unbedeutende Parallelen zwischen der französischen Bearbeitung der Novelle Boccaccios und Lessings Text nachweisen. Es ist das Verdienst von Gaston Paris, unter den ältesten Fassungen der Parabel zwei Stränge erkannt zu haben: einen ›christlichen‹ und einen ›skep­ tischen‹ Überlieferungszweig.19 Im ersten Strang unterscheidet sich der echte Ring, der im Handlungsverlauf als solcher erkannt wird, von den falschen Ringen. Dadurch wird die Wahrheit einer bestimmten Religion oder »orthodoxchristliche[n]« Richtung20 bewiesen, die somit den anderen überlegen ist. In den drei bekannten Versionen des skeptischen Zweiges (Novellino LXXIII; Avventuroso siciliano III; Dec. I 3), die alle in Italien entstanden sind, ist es hingegen am Ende der Parabel nicht möglich, einen Ring als den echten zu identifizie­ ren. Somit kann die Wahrheit und Überlegenheit einer Religion gegenüber den anderen nicht behauptet werden, was auf eine tolerante Grundposition schließen lässt. Dieser Strang gipfelt in Lessings Ringparabel, in der die Toleranzbotschaft am deutlichsten formuliert wird. Bei Lessing wie bei Boccaccio (und schon vorher im Novellino) begegnet der Gedanke, dass die zwei falschen Ringe nicht mehr vom echten unterschieden werden können, da es sich um perfekte Imitate handelt. Damit bleibt die Frage nach dem echten Ring, das heißt nach der wahren Religion, ungelöst.21 Anders als im Decameron besitzt der echte Ring allerdings im Nathan eine »geheime Kraft«,22

Barbara Strutz: Lessings Büchernachlaß. Verzeichnis der von Lessing bei seinem Tode in seiner Wohnung hinterlassenen Bücher und Handschriften. Göttingen 2007). 19 Gaston Paris: La parabole des trois anneaux. In: Ders.: La poésie du moyen âge. Leçons et lectures. Bd. 2. Paris 1895, S. 131–163. 20 In der frühesten Fassung, die von der Hand des Dominikaners Étienne de Bourbon stammt, geht es nicht um Weltreligionen (wie in allen späteren Fassungen), sondern um christliche Richtungen, wie Hinrich Hudde (Anm. 16), S. 97, festgestellt hat. Somit ist die älteste Fassung der Ringparabel Zeugnis der innerchristlichen Auseinandersetzung, genau wie die französische Versbearbeitung des 18. Jahrhunderts, die im Mittelpunkt unserer Analyse steht. 21 Dieser Schluss ist ein gemeinsames Element von allen drei Fassungen des skeptischen Zweiges, wobei in der Version des Avventuroso siciliano ausdrücklich gesagt wird, dass die zwei falschen Ringe dem echten lediglich in der Farbe gleichen, aber nichts wert sind: »Egli fece fare due altre anella, simile a quello di colore, ma niente valevano« (Bosone da Gubbio: L’avventuroso siciliano. Edizione critica. Hg. von Roberto Gigliucci. Rom 1989). 22 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 9: Werke 1778–1780. Hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt am Main 1993, S. 556 (III 7, 399).

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welche die anderen nicht haben. Wie bereits von Paris festgestellt wurde, hat Lessing als »unermüdlicher Leser« dieses Element der magischen Eigenschaft des echten Ringes aus einem Text übernommen, der zum christlichen Zweig gehört, und zwar aus den Gesta Romanorum, die Lessing kannte, wie aus einem Brief an Johann Joachim Eschenburg hervorgeht.23 Im Nathan wird betont, dass der echte Ring, obwohl er wegen seiner Wunder­ kraft »von unschätzbarem Wert«24 ist, von seinem Äußeren her nicht als Original zu erkennen ist, und zwar nicht einmal für den Vater: [Der Vater] sendet in geheim zu einem Künstler, Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, Zwei andere bestellt, und weder Kosten Noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, Vollkommen gleich zu machen. Das gelingt Dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, Kann selbst der Vater seinen Musterring Nicht unterscheiden.25

Diese absolute Unmöglichkeit, die Ringe auf irgendeine Weise zu unterscheiden, spielt eine wichtige Rolle in Lessings Text. Wie in den folgenden Versen erklärt wird, ist sie eine Metapher für die Unmöglichkeit, die Religionen »von seiten ihrer Gründe« zu unterscheiden: Nathan. Soll Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe, Mir nicht getrau zu unterscheiden, die Der Vater in der Absicht machen ließ, Damit sie nicht zu unterscheiden wären. Saladin. Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte, Daß die Religionen, die ich dir Genannt, doch wohl zu unterscheiden wären. Bis auf die Kleidung; bis auf Speis und Trank! Nathan. Und nur von Seiten ihrer Gründe nicht.26

In keiner der ältesten Fassungen  – auch in denen nicht, die zum skeptischen Zweig gehören – wird diese Unmöglichkeit, die Ringe zu unterscheiden, so unum­

23 Vgl. Ritter Santini (Anm. 10), Bd. 1, S. 456 mit Anm. 58. 24 Lessing (Anm. 22), S. 555 (III 7, 396). 25 Ebd., S. 556 f. (III 7, 429–436; Hervorh. d. Verf.). 26 Ebd., S. 557 (III 7, 449–458; Hervorh. d. Verf.).

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stößlich formuliert. In der christlichen Fassung der Gesta Romanorum wird ledig­ lich gesagt: »omnes annuli erant eiusdem forme [sed non eiusdem] virtutis«.27 Im Novellino, der ältesten der skeptischen Fassungen, heißt es: Lo maestro fece l’anella così a punto, che niuno conoscea il fine, altro che ’l padre. Mandò per li figliuoli ad uno ad uno, e a catuno diede il suo in secreto, e catuno si credea avere il fine, e niuno ne sapea il vero altri che ’l padre loro. E così ti dico ch’è delle fedi, messere: le fedi sono tre: il Padre di sopra sa la migliore; e li figliuoli, ciò siamo noi, ciascuno si crede avere la buona.28

Erst im Decameron findet sich der Gedanke, dass die Ringe einander so vollkom­ men gleichen, dass selbst der Vater sie kaum zu unterscheiden vermag: Il valente uomo […] segretamente a un buon maestro […] fece fare due altri [anelli], li quali sì furono simiglianti al primiero, che esso medesimo che fatti gli aveva fare appena conosceva qual si fosse il vero; e venendo a morte, segretamente diede il suo a ciascun de’ figliuoli. […] dopo la morte del padre […] trovatisi gli anelli sì simili l’uno all’altro, che qual fosse il vero non si sapeva cognoscere, si rimase la quistione, qual fosse il vero erede del padre, in pendente: e ancor pende.29

Diese Passage von Boccaccio wird in der französischen Verserzählung überspitzt formuliert. Während im Decameron gesagt wird, dass der Vater »selbst den echten Ring kaum erkennen konnte«, ist in den Trois Anneaux Folgendes zu lesen: Il va trouver un habile Ouvrier Secrétement [sic!], et lui fait faire Deux Anneaux comme le prémier. Si grande étoit la ressemblance De ces Anneaux, que quand ils furent faits, Le vieux Homme ne peut jamais Y remarquer la moindre différence.30

27 Gesta Romanorum. Hg. von Hermann Oesterley. Berlin 1872 (Ndr. Hildesheim 1963), S. 417 (cap. 89). Die fehlenden Worte »sed non eiusdem« sind von mir ergänzt; vgl. auch die folgende Ausgabe: Gesta Romanorum. Nach der Innsbrucker Handschrift aus dem Jahre 1342 und vier Münchener Handschriften. Hg. von Wilhelm Dick. Erlangen, Leipzig 1890 (Erlanger Beiträge zur englischen Philologie 7), S. 25. 28 Il Novellino, cap. LXXIII. In: La prosa del Duecento. Hg. von Cesare Segre und Mario Marti. Mailand, Neapel 1959, S. 793–881. 29 Giovanni Boccaccio: Decameron. Hg. von Vittore Branca. 6. Aufl. Turin 1991, S. 81 f. 30 Les trois Anneaux, V. 106–112 (Hervorh. d. Verf.). Ich zitiere den Text nach der Ausgabe: Les trois Justaucorps, Conte Bleu, Tiré de l’Anglois du Révérend Mr. Jonathan Swif […]. Avec les trois Anneaux, Nouvelle tirée de Bocace. Dublin 1721 (s. o. S. 168 mit Anm. 14). Dieser Text wird auch bei Mulsow (Anm. 11), S. 112–120, abgedruckt.

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Wie man sehen kann, weist der Text der Trois Anneaux hier eine große Nähe zu Boccaccio auf, allerdings wird das Adverb ›kaum‹ (»appena«) durch eine dreifa­ che Negation (»ne«, »jamais« und »moindre«) ersetzt, die jene absolute Unmög­ lichkeit einer Unterscheidung des echten Ringes bei Lessing vorwegnimmt und somit die vollkommene Gleichheit aller Religionen betont. Neben diesem Element möchte ich noch auf ein interessantes strukturelles Phänomen hinweisen, das die Verserzählung im Unterschied zu ihrer Vorlage im Decameron charakterisiert und sie mit dem Drama von Lessing verbindet. In allen mittelalterlichen Versionen ist eine binäre Textstruktur erkennbar, die aus zwei deutlich unterscheidbaren Komponenten besteht: einem Bildteil, der Erzäh­ lung der Ringparabel mit der Frage nach dem echten Ring, und einem Sachteil, dem Rahmendialog über die wahre Religion. Auch in Boccaccios Novelle wird der Übergang vom Bildteil des parabolischen Erzählens zum Sachteil deutlich markiert, indem am Ende der Ringparabel Melchisedech die Frage des Saladins nach der wahren Religion mit folgenden Worten wieder aufgreift: »E così vi dico, signor mio, delle tre leggi alli tre popoli date da Dio padre, delle quali la quistion proponeste […].«31 In Lessings Drama hingegen werden die Grenzen der binären Struktur (Bild­ teil/Sachteil) durch die dialogische Form mehrfach überschritten. Bevor Nathan seine Erzählung der Ringparabel zu Ende führt, unterbricht er die Geschichte, um im Dialog mit dem Saladin auf die Frage nach der wahren Religion zurückzu­ kommen: […] der rechte Ring war nicht Erweislich; – nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet: Fast so unerweislich, als Uns itzt – der rechte Glaube.32

Somit werden bereits vor dem Ende der erzählten Geschichte Schlüsselelemente des Bild- und Sachteils (der ›Ring‹ und der ›Glaube‹) explizit miteinander ver­ bunden. In den folgenden Versen spielt Nathan sogar mit der Möglichkeit, diese Elemente gegeneinander auszutauschen. Er bittet den Sultan um Verzeihung, nicht weil er die Religionen, sondern weil er die Ringe nicht zu unterscheiden vermag: »Soll / Mich bloß entschuldigen, wenn ich die Ringe / Mir nicht getrau zu unterscheiden […]« (III 7, 449 ff.). Nachdem im Gespräch mit dem Saladin noch einmal die Frage nach der wahren Religion (Sachteil) explizit erörtert wird (III 7,

31 Boccaccio (Anm. 29), S. 82. 32 Lessing (Anm. 22), S. 557 (III 7, 446 ff.).

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455–474), nimmt Nathan die Erzählung der Parabel (Bildteil) wieder auf, um die Geschichte zu Ende zu führen: »Laß auf unsre Ring’ / Uns wieder kommen.« (III 7, 476 f.). Somit findet im Textverlauf der Übergang vom Bildteil zum Sachteil (und umgekehrt) mehrmals statt. Diese Oszillation, die durch die gereizte Reaktion des Saladins unterstrichen wird (III 7, 454 f.: »Die Ringe! – Spiele nicht mit mir! – Ich dächte, / […] die Reli­ gionen«), führt in Lessings Drama zu einer kunstvollen Verbindung und einem tieferen Ineinandergreifen von Bild- und Sachteil. Diese dynamische Struktur, bei der die Grenze zwischen Bild- und Sachteil mehrmals und in beide Richtungen überschritten wird, lädt den Leser dazu ein, seine Reflexion über die Inhalte der Parabel hinaus immer wieder auf die Religionsproblematik zu richten und seine eigene gedankliche Arbeit zur Erschließung des »Geschichtchens« (III 7, 389) zu leisten. Im Text der Trois Anneaux ist eine ähnliche Überschreitung der Grenze zwi­ schen Bild- und Sachteil zu erkennen, indem Melchisedech kurz vor Ende der Parabel in seiner Antwort auf die Frage nach dem Erben – also dem Besitzer des echten Ringes – mit dem Terminus der »Ecrits des Sçavans« auf die theologischen Streitschriften verweist: Qui doit être Héritier? Qui doit ne l’être pas? Cette Affaire est si fort embarassante, Malgré, sur ce sujet, les Ecrits [sic!] des Sçavans, Qu’elle pend, et sera pendente A mon avis, encor long-tems.33

Erst in den anschließenden Versen wird die Grenze zwischen Bild- und Sachteil gezogen und erneut (diesmal im adäquaten Kontext) auf den Religionsstreit im Zeitalter des Buchdrucks verwiesen:34 Des trois Religions il en est tout de même, Seigneur, on en dispute avec chaleur extrême, On fait Livre sur Livre, et de chaque côté, On croit avoir pour soi la Vérité. Chacun soutient que la sienne est la bonne. Mais quelle l’est? Seigneur, pour abréger, La question pend encore à juger. Sur ce sujet ne dragonnons personne.35

33 Les trois Anneaux (Anm. 30), V. 126–130 (Hervorh. d. Verf.). 34 Vgl. dazu Mulsow (Anm. 11), S. 102 f. 35 Les trois Anneaux (Anm. 30), V. 131–138 (Hervorh. d. Verf.).



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Neben der Überschreitung der Grenzlinie Bild-/Sachteil ist hier auch eine Über­ schreitung der chronologischen Dimension zu registrieren. Der letzte Vers der zitierten Stelle (»sur ce sujet ne dragonnons personne«) sprengt den Rahmen des historischen Kontextes der Parabel. Mit dem Verb »dragonner« wird auf die von Ludwig XIV. angeordneten Strafmaßnahmen gegen die Hugenotten verwie­ sen  – Strafmaßnahmen, die im damaligen Frankreich (nach der Widerrufung des Edikts von Nantes) eine traurige Berühmtheit erlangten. Die Dragoner des Königs drangen in die Häuser der Protestanten ein, erpressten Geld von ihnen und zwangen sie mit Gewalt dazu, zur katholischen Religion zu konvertieren. Offensichtlich ist der Ausdruck »ne dragonnons personne« in Bezug auf den fiktiven Dialog zwischen Melchisedech und Saladin durchaus anachronistisch. Der französische Text weist hier seine Leser auf zeitgenössische Ereignisse hin und mündet in einen offenen Aufruf zur Toleranz, der sich auch an die politischen Autoritäten richtet. Somit wird in der Versbearbeitung die italienische Vorlage unmittelbar mit der religiösen und politischen Gegenwart verbunden. Außerdem ist ein klares Plädoyer für die Religionsfreiheit enthalten. Die Aktualisierung der mittelalterlichen Parabel, die der französische conte vornimmt, schlägt eine Brücke zwischen Boccaccio und Lessing, der mit seinem Nathan knapp 60 Jahre später ebenfalls die Absicht verfolgt, in der zeitgenössischen Toleranzdebatte eine eindeutige Position zu beziehen.

Winfried Schröder

Religion und Betrug

Die Ringparabel, die Wolfenbütteler Fragmente und der Traktat De tribus impostoribus Die drei Ringe, die in Lessings Parabel für die drei großen Buchreligionen stehen, haben eine ganze Reihe von Lesern an die Dreizahl der Religionsstifter Moses, Jesus und Mohammed denken lassen, die einem alten, aber noch im 18. Jahrhun­ dert die Gemüter erregenden Schlagwort zufolge keine Gesandten des Himmels, sondern schlicht Betrüger waren. Tatsächlich entbehrt der Vorschlag, Lessings Ringparabel auch als Antwort auf den Topos von den drei Religionsbetrügern zu lesen, nicht der Plausibilität. Tatsache ist, dass Lessing dieses Schlagwort kannte. Zudem stand dem Herausgeber der Wolfenbütteler Fragmente stets das Werk des Reimarus vor Augen, der in den Religionen, und vor allem in den bibli­ schen Erzählungen vom Leben Jesu, allenthalben Betrug am Werk sah. Und nicht zuletzt fallen in der uns interessierenden Schlüsselpassage des Nathan mehr als beiläufig mehrere Ausdrücke aus dem Wortfeld von Betrug und Täuschung auf. Dass es Zusammenhänge zwischen dem Drei-Ringe-Motiv und dem Drei-Betrü­ ger-Topos gibt, liegt auf der Hand. Friedrich Niewöhner ist ihnen in seinem Buch Veritas sive varietas, wie vor ihm schon Hugh Nisbet, nachgegangen.1 Nur – und das ist die leitende Frage meiner folgenden Überlegungen: Kann man ernstlich meinen, dass die Drei-Betrüger-Blasphemie für Lessing eine Herausforderung war und dass sie überhaupt eine Herausforderung ist, die eine Antwort verlangt? Werfen wir zuerst einen Blick auf die früheste literarische Bezeugung dieses ungeheuerlichen Topos. »Von drei Schwindlern (barattatores), nämlich Jesus Chris­ tus, Moses und Mohammed, ist die ganze Welt betrogen worden.« Mit diesen Worten soll der Kaiser Friedrich II. die Stifter der drei großen Buchreligionen geschmäht haben. So jedenfalls steht es in einer Bulle, mit der Papst Gregor IX. im Jahre 1239 den Bann über den Stauferkaiser verhängte.2 Bekanntlich war dieser Parole in den folgenden Jahrhunderten eine außerordentliche Karriere beschieden. In der religi­ onskritischen Literatur der Frühneuzeit und der Aufklärung begegnet sie einem auf

1 Vgl. Friedrich Niewöhner: Veritas sive varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch Von den drei Betrügern. Heidelberg 1988 (Bibliothek der Aufklärung 5); Hugh B. Nisbet: De Tribus Impostoribus. On the Genesis of Lessing’s Nathan der Weise. In: Euphorion 73 (1979), S. 365–387. 2 Vgl. Winfried Schröder: Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts. Zweite, mit einem neuen Nachwort versehene und bibliographisch aktualisierte Auflage. Stuttgart-Bad Cannstatt 2012 (Quaestiones 11), S. 445.

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 Winfried Schröder

Schritt und Tritt.3 Und doch wird man sich kaum des Eindrucks erwehren können, es hier mit den Niederungen vulgärster Polemik zu tun zu haben. Kann, so fragt man sich, das Niveau der Religionskritik noch tiefer sinken? Wie es scheint, hat Friedrich Engels alles Nötige dazu gesagt, als er in seiner späten Schrift Bruno Bauer und das Urchristentum4 dem Religionsbetrugstopos und seiner explikativen Leistung ein vernichtendes Zeugnis ausstellte: Die »seit den Freigeistern des Mittelalters bis auf die Aufklärer des 18. Jahrhunderts […] herrschende Ansicht, daß alle Religionen, und somit auch das Christentum, das Werk von Betrügern seien«, beurteilte er dort als »nicht […] genügend«. Denn eine solche pauschale und simplifizierende Sicht verkenne, dass »naturwüch­ sige Religionen, wie der Fetischdienst der Neger oder die gemeinsame Urreligion der Arier, entstehen, ohne daß Betrug dabei eine Rolle spielt«. Man müsse zwar einräumen, dass historisch rezente Religionen – Engels spricht von »Kunstreli­ gionen«  – »neben aller aufrichtigen Schwärmerei, schon bei ihrer Stiftung des Betrugs und der Geschichtsfälschung nicht entbehren«. Insbesondere das Chris­ tentum habe »schon gleich im Anfang hierin ganz hübsche Leistungen aufzuwei­ sen«. Aufs Ganze gesehen sei aber klar: Mit einer Religion, die das römische Weltreich sich unterworfen und den weitaus größten Teil der zivilisierten Menschheit 1800 Jahre lang beherrscht hat, wird man nicht fertig, indem man sie einfach für von Betrügern zusammengestoppelten Unsinn erklärt.

Da wird man Engels wohl zustimmen. Aber wenn man das tut, stellt sich natür­ lich die Frage, ob es überhaupt der Mühe wert ist, sich in der Sache mit dem groben – »ungenügenden« – Betrugsvorwurf zu befassen. Nun könnte man sich aber auch ganz anders auf dieses Thema einlassen. Man könnte daran denken, statt zu dem Betrugsvorwurf selbst etwas über das Buch zu erzählen, in dem dieser Vorwurf in spektakulärer Weise erhoben wurde, nämlich über das Buch Über die drei Betrüger. Ich muss es genauer sagen: Zu erzählen wäre von den drei Büchern dieses Titels. Das erste ist ein lateinisch geschriebener Text: De tribus impostoribus.5 Das zweite ist der französische Traité

3 Vgl. ebd., S. 147 ff. 4 Friedrich Engels: Bruno Bauer und das Urchristentum. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke. Hg. von Ludwig Arnold u. a. Bd. 19. Berlin 1962, S. 297 f. 5 Anonymus [Johann Joachim Müller]: De imposturis religionum (De tribus impostoribus). Von den Betrügereyen der Religionen. Dokumente. Kritisch hg. und kommentiert von Winfried Schröder. Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (Philosophische Clandestina der deutschen Aufklärung 1/6).



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des trois imposteurs.6 Nur fragmentarisch ist ein dritter Text (Préface du traité sur la religion de M***) überliefert, dessen anonymer Verfasser sich vorgesetzt hatte, »à composer un traité qui tint lieu des trois imposteurs«.7 Lessing hat sich, wie wir aus einem Brief an Johann Albert Hinrich Reimarus wissen, im Jahre 1770 »Zwey Manuscripta de tribus Impostoribus« aus der Bibliothek des zwei Jahre zuvor verstorbenen Hermann Samuel Reimarus ausgeliehen.8 Eines der beiden Manuskripte, das den lateinischen Betrügertraktat enthält, hat sich erhalten; es wird heute in Halle verwahrt.9 Bei dem zweiten Manuskript handelte es sich wahrscheinlich um eine Abschrift des Traité des trois imposteurs.10 Über die Geschichte dieser zwei Texte gibt es nun aber nichts Neues zu berichten. Trotzdem vorab  – und in aller Kürze  – die hauptsächlichen Fakten. Der lateinische Traktat De tribus impostoribus galt lange als ein Produkt des Mit­ telalters. Noch Friedrich Niewöhner setzte ihn ins 15. Jahrhundert und wies ihn einem unbekannten spanischen Marranen zu. Tatsächlich jedoch ist er erheblich

6 Anonymus: Traktat über die drei Betrüger. Traité des trois imposteurs. Kritisch hg., übersetzt, kommentiert und mit einer Einleitung versehen von Winfried Schröder. 2. Aufl. Hamburg 1994 (Philosophische Bibliothek 452). Vgl. dazu Silvia Berti, Françoise Charles-Daubert und Richard H. Popkin (Hgg.): Heterodoxy, Spinozism, and Free Thought in Early-Eighteenth-Century Europe. Studies on the Traité des trois imposteurs. Dordrecht 1996 (Archives internationales d’histoire des idées 148) sowie Schröder: Ursprünge des Atheismus (Anm. 2), S. 452–464. Nicht auf dem Stand der Forschung ist die Monografie von Georges Minois: Le Traité des trois imposteurs. Histoire d’un livre blasphématoire qui n’existait pas. Paris 2009 (engl.: The atheist’s bible. The most dangerous book that never existed. Chicago, London 2012). 7 Der Text ist nur in dem ms. 2239/3 der Bibliothèque de l’Arsenal, Paris, überliefert. Zitat S. 58 f. Vgl. dazu Gianluca Mori: Un frammento del ›Traité des trois imposteurs‹ di Étienne Guillaume. In: Rivista di storia della filosofia 48 (1993), S. 359–376; Schröder: Ursprünge des Atheismus (Anm. 2), S. 472 ff. 8 Vgl. Lessing an Johann Albert Hinrich Reimarus, 10.4.1770. In: Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart, Leipzig 1886–1924, hier Bd. 17, S. 319. Dem Brief ist nicht zu entnehmen, ob auch eine Abschrift des Traité des trois imposteurs dabei war. 9 Fragmentum Libri de tribus Impostoribus sive breve compendium de imposturis religionum. idem cum illo, quod ex B. Joh: Frid: Meyeri Bibliotheca auctionis lege ad S. Principem Eugenium rediit. simul vero, notabili quoque additamento auctius […] descripsit ex apographo HSReimarus [sic!]. ULB Sachsen-Anhalt, Halle; Signatur: Stolb.-Wern. Zd 56, Bl. 1r–12r. 10 Vgl. Wolfgang Gericke: Hermann Reimarus und die Untergrundliteratur seiner Zeit. In: Pietismus und Neuzeit 18 (1993), S. 118–131. Gerickes Aufsatz ist um die Auskunft zu ergänzen, dass sich das wohl vom Vater Reimarus stammende, auf der Auktion der Bibliothek seines Sohnes versteigerte Exemplar des Traité des trois imposteurs erhalten hat: La Vie & L’Esprit de Benoit de Spinosa (UB Kiel; Signatur: ms. K. B. 89). Auf dem Vorsatzblatt ist notiert: »Auf der Auction des Prof. J. A. H. Reimarus gekauft für 4 Mrk 21«.

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später verfasst worden. Dafür sprechen klare philologische Indizien. Schlimmer noch: Wir wissen inzwischen sogar, wer diesen Traktat verfasst hat: Es war keiner der großen Namen wie Macchiavelli, Pietro Aretino oder Lucilio Vanini, die man immer wieder einschlägig verdächtigt hatte.11 Vielmehr hat eine geistesgeschicht­ lich ganz und gar marginale Gestalt, Johann Joachim Müller, ein Hamburger Jurist, um das Jahr 1688 diesen Traktat zu Papier gebracht.12 Mit dieser Spätda­ tierung und der Zuweisung an einen Autor, der auch noch den Allerweltsnamen Müller trug, ist die Aura völlig dahin, die dieser Text besaß, solange er als mittel­ alterliche Inkunabel radikaler Religionskritik gelten konnte. Ein ähnlich spätes Erzeugnis ist der französische Traité des trois imposteurs. Sein Verfasser – oder seine Verfasserin? – konnte bislang nicht ermittelt werden. Aber auch er ist auf­ grund philologischer Indizien in das letzte Viertel des 17. Jahrhunderts zu setzen.13 All das ist, wie gesagt, bekannt. Und so bleibt mir nun wohl nichts anderes übrig, als mich doch dem Inhalt dieser Texte, also dem Betrugsvorwurf zuzuwen­ den. – Dieser Vorwurf ist, so verbreitet er auch war, nicht der Standardeinwand der neuzeitlichen Religionskritik gewesen. Den Philosophen des 17. und 18. Jahr­ hunderts, die religiöse Lehren einer Prüfung unterzogen, ging es um den Nach­ weis, dass diese Lehren unzureichend begründet und falsch sind. Leitend war für sie die Wahrheitsfrage. Auf anderes ist der Fokus gerichtet, wenn von Betrug die Rede ist. Nicht bzw. nicht in erster Linie die Wahrheit einer religiösen Lehre steht infrage, sondern die Wahrhaftigkeit dessen, der sie verkündet. Mit Betrug haben wir es ja nur dann zu tun, wenn Tatsachenbehauptungen absichtlich, wider besseres Wissen aufgestellt werden. Sicherlich: Der Betrugsvorwurf ist überaus massiv. Und seine grob-vulgäre Anmutung ist nicht zu bestreiten. Aber diese seine Vierschrötigkeit ist in der Sache irrelevant. Denn sie kann bei nüchterner Betrachtung nicht den Blick darauf verstellen, dass es beileibe nicht abwegig ist, dem entsprechenden Verdacht nachzugehen. Denn betrügerische Machenschaf­ ten waren  – und sind  – in der Welt der Religionen ubiquitär. Und aus diesem

11 Vgl. Schröder: Ursprünge des Atheismus (Anm. 2), S. 445–451, sowie meine Einleitung zu De tribus impostoribus (Anm. 5), S. 12 f. 12 Zur Verfasserschaft Müllers vgl. meine Einleitung zu De tribus impostoribus (Anm. 5), S. 46 ff., und meinen Beitrag: De tribus impostoribus. Sa date et son auteur. In: La lettre clandestine 7 (1998), S. 15–40, sowie Martin Mulsow: Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720. Hamburg 2002, S. 115–123. 13 Den Terminus post quem setzen die in den Traité eingearbeiteten Zitate aus Spinozas Ethica (1677), den Terminus ante ein Brief Johann Wilhelm Petersens vom 12.8.1700, in dem längere Textzitate gegeben werden; abgedruckt ist dieser Brief in: Wilhelm Ernst Tentzel: Curieuse Bibliothec, Oder Fortsetzung der Monatlichen Unterredungen einiger guten Freunde Von allerhand Büchern und andern annehmlichen Geschichten […]. Des ersten Repositorii fünfftes Fach. Frankfurt, Leipzig 1704, S. 493 ff.



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Grunde muss Religionen, zu deren doktrinalem Gepäck Tatsachenbehauptungen zählen, daran gelegen sein, über den Verdacht des Betruges erhaben zu sein. Wie nun wurde der Betrugsvorwurf in den beiden einschlägigen Traktaten eingesetzt? Schlägt man diese Texte auf, wird man nicht überrascht. Sie alle bieten, was ihr Titel verspricht  – und das heißt: Der erste Lektüreeindruck ist alles andere als günstig. Die drei Texte sind voll von Schmähungen der Religi­ onsstifter, und auch die Verfasser der heiligen Bücher, die von ihnen berichten, werden als Betrüger etikettiert. Vor allem richtet sich der Betrugsvorwurf gegen die Wunderberichte in der Tora, im Neuen Testament, im Koran und in der autori­ tativen Überlieferung über Mohammeds Biografie. Ich konzentriere mich im Fol­ genden auf die Kritik am Christentum. Die wunderbaren Ereignisse, von denen das Neue Testament erzählt, haben sich, so lautet stets der Refrain, tatsächlich gar nicht zugetragen, schlimmer noch: Die Evangelisten wussten dies und schrie­ ben diese Wundererzählungen dennoch als Berichte über reale Ereignisse in der Heiligen Schrift nieder. Das macht sie zu Betrügern. Diese Attacke auf die Offenbarungstexte des Neuen Testaments ist, wie es scheint, nicht allein plump, sondern grundsätzlich problematisch, ja geradezu abwegig. Die Schwachstelle des Betrugsvorwurfs liegt auf der Hand. Denn wie ließe sich nachweisen, dass die Evangelisten, die von den Wundern Jesu berich­ ten, dies wider besseres Wissen taten? Mit welchem Recht kann man Erzählern die Wahrhaftigkeit absprechen, von denen man durch einen so immensen his­ torischen Abstand getrennt ist, wie es hier der Fall ist; die ihre Berichte von den Wundern Jesu auf der Grundlage eines ganz anderen Naturverständnisses gegeben haben – eines Naturverständnisses, dem die moderne, restriktive Vor­ stellung von Naturgesetzen fremd war? Viel eher ist doch zu vermuten, dass die Evangelisten  – Menschen kurz nach der Zeitenwende  – guten Glaubens davon ausgingen, dass die Wunder reale Ereignisse waren. Wie also kann ein dem neu­ zeitlichen Weltbild verpflichteter Kritiker jene Autoren des Altertums als Betrü­ ger diffamieren? Kurz, es scheint, als sei der gegen die Evangelisten gerichtete Betrugsvorwurf hoffnungslos anachronistisch und nicht mehr als grobe und sachlich haltlose Polemik. Werfen wir trotzdem noch einmal einen genaueren Blick auf die Betrüger­ traktate und die anderen Texte der Religionskritik jener Zeit, in denen von diesem Vorwurf Gebrauch gemacht wird. Es fällt nämlich auf, dass der Betrugsvorwurf in der Regel nicht sozusagen freihändig, sondern zumeist unter Berufung auf Gewährsmänner erhoben wird, die Zeitgenossen des frühen Christentums waren. Bei diesen Gewährsmännern handelt es sich um die paganen Philosophen Kelsos, Porphyrios und Julian Apostata. Die antichristlichen Schriften dieser drei Plato­ niker des 2. bis 4. Jahrhunderts, die immerhin fragmentarisch erhalten geblieben waren, wurden seit dem 16. Jahrhundert editorisch wieder zugänglich gemacht

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und haben die neuzeitliche Christentumskritik seit Jean Bodins Colloquium heptaplomeres kräftig inspiriert.14 Dass – und wie – diese drei Alten und, ihnen folgend, die neuzeitlichen Christentumskritiker wie die Verfasser der Betrüger­ bücher mit diesem Vorwurf auf das Zentrum der christlichen Botschaft zielen, möchte ich nun an drei Beispielen vorführen. Bekanntlich gehört das alttestamentliche Daniel-Buch zu den wichtigs­ ten Quellen der Endzeitvorstellungen, die Jesus in den Evangelien verkündet (Mt 24,15 f.). Im Lukasevangelium (21,27) bezieht er sich mit der Vorhersage seiner eigenen Wiederkunft, der Herabkunft des Menschensohnes aus den Wolken direkt auf Daniels Worte. Nur – und das wusste man bereits in der Antike – das Daniel-Buch war kein Werk jenes Propheten aus der Zeit des Exils. Es kann, wie Porphyrios nachwies, nicht der um 600 v. Chr. blühende Daniel gewesen sein, der das vorliegende Daniel-Buch verfasst hat.15 Der Text muss vielmehr von einem Autor der Makkabäerzeit, also aus der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts stammen. Die Konsequenzen dieser Spätdatierung waren natürlich fatal: Denn erstens hatte offenbar das Elaborat eines Fälschers Eingang in den biblischen Kanon gefunden. Und zweitens erwies sich der Umstand als besonders misslich, dass Jesus selbst sich mehrmals auf Daniel berufen hatte, sodass seine Autorität massiv infrage gestellt war. Denn er war offensichtlich von der Authentizität der Daniel-Prophetien überzeugt. Anders gesagt, er wusste nicht, dass er es mit einer Fälschung der Makkabäerzeit zu tun hatte. Dabei hätte man eigentlich anneh­ men müssen, dass Christus, immerhin die zweite Person des dreifaltigen Gottes, an dessen Allwissenheit partizipierte und folglich sehr wohl zwischen authenti­ schen und apokryphen Texten zu unterscheiden wusste. Offenbar war das aber nicht der Fall. Das zweite Beispiel betrifft die Jungfrauengeburt Mariens.16 Grundsätzlicher noch: Es betrifft den Weissagungsbeweis, jene neben dem Wunderbeweis wich­ tigste Säule des Christentums, die dessen Wahrheit aus den Erfüllungen alttes­ tamentlicher Vorhersagen auf Jesus ableitete. Als die wichtigste Weissagung galt stets das Wort des Jesaja: »Siehe, eine junge Frau [alma] wird schwanger sein und einen Sohn gebären.« (7,14) Bekanntlich lasen die neutestamentlichen Autoren und die christlichen Exegeten dieses Wort so, als sei hier von einer virgo intacta die Rede, und verstanden es als Prophezeiung der Geburt Jesu aus der Jungfrau

14 Vgl. Winfried Schröder: Athen und Jerusalem. Die philosophische Kritik am Christentum in Antike und Neuzeit. 2. Aufl. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013 (Quaestiones 16). 15 Vgl. v. a. Porphyrios: Contra Christianos, Frg. 43 A–W. In: Ders.: Gegen die Christen. Hg. von Adolf von Harnack. Berlin 1916, S. 67–73; siehe dazu: Schröder: Athen und Jerusalem (Anm. 14), S. 71 ff. 16 Vgl. Schröder: Athen und Jerusalem (Anm. 14), S. 76 f.



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Maria. Nun war die tatsächliche Bedeutung des hebräischen Wortes alma selbst­ verständlich bekannt. Um zu wissen, dass es ›junge Frau‹, nicht jedoch ›Jungfrau‹ im anatomischen Sinne bedeutet, brauchte man ja nur einen Juden zu fragen. Die christlichen Exegeten fochten dies jedoch nicht an. Sie machten die Verstocktheit der Juden  – ihre σκληροκαρδία/sklerokardía – dafür verantwortlich, dass diese die ›korrekte‹ christliche Interpretation dieses Wortes nicht anzuerkennen bereit waren. Diese Verteidigungsstrategie der christlichen Exegeten ist nicht nur von der Sache her verwegen, sie ist höchst aufschlussreich, weil sie unterstreicht, dass die Christen wider besseres Wissen an der Fehldeutung des Wortes alma festhielten. Hierin erblickten Christentumskritiker seit der Spätantike ein Para­ debeispiel für die Betrügereien, die in die Fundamente des Christentums einge­ lassen sind. Gleichfalls ins Zentrum der christlichen Heilslehre begeben wir uns mit dem dritten Beispiel. Hier geht es um das christliche Zentralwunder, die Auferstehung Jesu. Im Unterschied zu den eben gegebenen Beispielen, bei denen wir es mit eklatantem Betrug zu tun hatten, haben Kelsos, Porphyrios und Julian sowie ihre neuzeitlichen Nachfolger hier nur – aber immerhin – den Verdacht des Betruges ausgesprochen. Im Hintergrund steht die Vorstellung, dass der Betrugsverdacht begründet ist, wenn eine in höchstem Maße bezeugungsbedürftige Tatsachen­ behauptung offensichtlich unzureichend bezeugt ist. Nun steht es mit den Zeug­ nissen für die Auferstehung Jesu bekanntlich nicht zum Besten. Lediglich Jünger und Jüngerinnen Jesu stehen für sie ein. Dabei wäre, worauf Kelsos hinweist, eine multiple und unabhängige Bezeugung dieses außergewöhnlichen Ereignisses ohne Weiteres arrangierbar gewesen. Dem Auferstandenen, so Kelsos, wäre es ja ein Leichtes gewesen, sich dem Pilatus, dem Sanhedrin und den übrigen Juden zu zeigen.17 Konkret, er hätte, so ergänzt Reimarus den Gedanken des Kelsos, »bey hellem Tage, vor aller Augen, zu einer gesetzten Stunde, nach vorgängiger Einla­ dung aller Ungläubigen, besonders des hohen Raths und der Eltesten der Juden« erscheinen und so die Zweifel an seiner Auferstehung zerstreuen können.18 Er tat es nicht. Mit aller Vorsicht geht Reimarus noch einen Schritt weiter: Angesichts der Unwahrscheinlichkeit der Auferstehung selbst und der Defizite ihrer Bezeu­ gung könne man wohl von einem Betrug ausgehen, konkret: »eine nächtliche Entwendung des Körpers zur Hypothese annehmen«.19

17 Kelsos: Alethes logos 2,63. In: Der Alethes logos des Kelsos. Hg. von Robert Bader. Stuttgart, Berlin 1940, S. 80. 18 Hermann Samuel Reimarus: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes. Hg. von Gerhard Alexander. Bd. 2. Frankfurt am Main 1972, S. 202. 19 Ebd.

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Soweit meine drei Beispiele. Wichtig scheint mir zu sein, dass es nicht nur – und nicht in erster Linie  – der Traktat De tribus impostoribus und sein franzö­ sisches Pendant waren, durch die Lessing mit dem Betrugstopos konfrontiert wurde. Dieselben Einwände, die die Verfasser der Betrügertraktate in blasphemi­ scher Tonlage zu Papier gebracht hatten, waren auch in Texten zu lesen, deren Seriosität nicht durch einen polemisch-erhitzten Duktus ins Zwielicht gerückt war: Einerseits die Schriften der spätantiken Christentumskritiker, die zudem aus einer zeitgenössischen Perspektive über die neue Religion aus dem Morgenland urteilten. Andererseits die Apologie bzw. die Wolfenbütteler Fragmente des Rei­ marus. Zwar ließ sich das sachliche Gewicht der Einwände, die in den Betrüger­ traktaten vorgebracht werden, bei gründlicher Lektüre nicht bestreiten. Aber es war natürlich erst Reimarus, der sie mit kühler Professionalität auf einem unan­ greifbaren wissenschaftlichen Niveau vortrug. Ich ziehe ein Zwischenresümee: Der Einwand, dass bestimmten religiösen Lehren nicht nur die Wahrheit, sondern vor allem deren Verkündern die Wahrhaftigkeit abzusprechen ist, verdient sachlich ernst genommen zu werden. Und die theologischen Apologeten der Epoche – unter ihnen Johann Melchior Goeze20 – haben ihn sehr ernst genommen. Es handelt sich ja um einen Einwand, über dessen Berechtigung in vielen Fällen definitiv Klarheit hergestellt werden kann. Und dies in einer ganzen Reihe von theologisch zentralen Fragen. Das DanielBuch ist ein fake; Jesus ist nicht der in Jes 7 geweissagte Jungfrauensohn; und seine Auferstehung ist auch nicht annähernd seriös bezeugt. Das sind nur einige wenige Beispiele für die harten philologischen Fakten, auf die in den BetrügerTraktaten und in den Wolfenbütteler Fragmenten bzw. in der ihnen zugrunde lie­ genden Apologie von Reimarus21 der Betrugsvorwurf gegründet wird. Inwiefern kann man nun sagen, dass Lessing mit der Ringparabel eine Antwort auf den Betrugsvorwurf gibt? Auf der Hand liegt, dass im Nathan die beiden Elemente des Betrugsvorwurfs angesprochen werden. Zum einen die Wahrheitsfrage: Zwei Ringe, das heißt zwei Religionen sind in jedem Falle falsch. Welche der drei Religionen die wahre ist, ist nicht auszumachen: »der rechte

20 Johann Melchior Goeze: Wiederlegung eines Einwurfs, welchen der ungenannte Verfasser eines in französischer Sprache geschriebenen Buches, so den Titel führet: Des trois imposteurs, wieder die Göttlichkeit der Sendung des Moses gemacht. In: Compendium historiae litterariae novissimae oder Erlangische gelehrte Anmerkungen und Nachrichten (1746), S. 281–284, 289 f., 297–301 und 305–308. 21 Vgl. Reimarus (Anm. 18), Bd.  1, S. 801 f. und 905 f., Bd.  2, S. 18 (zum Daniel-Buch); Bd.  1, S. 735 ff. (zur Weissagung der Jungfrauengeburt bei Jesaja); Bd.  2, S. 179 ff. (zur Auferstehung Jesu).



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Ring war nicht / Erweislich«.22 Vielleicht, so sagt der Richter, sind sogar alle drei unecht: »[…] der echte Ring / Vermutlich ging verloren«.23 Was Lessing zur Wahr­ heitsfrage zu sagen hat, läuft also auf deren Vergleichgültigung hinaus. Auch die Wahrhaftigkeitsproblematik wird in der entscheidenden Szene des Nathan angesprochen. Lessing räumt ein – jedenfalls lässt er den Juden die erstaunliche Feststellung machen, dass die »Väter«, denen wir den »Glauben« verdanken, »uns nie getäuscht, als wo / Getäuscht zu werden uns heilsamer war«.24 Will sagen: Sie haben uns getäuscht, aber der Betrug war unter prakti­ schen Gesichtspunkten gerechtfertigt: eben »heilsam«. Das heißt: Auch der Betrugsverdacht wird vergleichgültigt, oder genauer: bagatellisiert. Bei diesem Eingeständnis handelt es sich zwar um Worte einer in Lessings Schauspiel auf­ tretenden dramatis persona. Aber es weist Parallelen in Lessings theoretischen Schriften auf. Lessing hat dort bezüglich der wunden Punkte, auf die der Betrugs­ vorwurf zielte, gelegentlich eine – wie soll man sagen? – Nonchalance an den Tag gelegt, die schier verblüffend ist. In frappierender Form ist das dem 59. Paragra­ fen der Erziehung des Menschengeschlechts zu entnehmen, in dem Jesus als ein »zuverlässiger Lehrer« ausgezeichnet wird: zuverlässig durch die Weissagungen, die in ihm erfüllt schienen; zuverlässig durch die Wunder, die er verrichtete; zuverlässig durch seine eigene Wiederbelebung […]. Ob wir noch itzt diese Wiederbelebung, diese Wunder beweisen können, das lasse ich dahingestellt sein. […] Alles das kann damals zur Annehmung seiner Lehre wichtig gewesen sein, itzt ist es zur Erkennung der Wahrheit dieser Lehre so wichtig nicht mehr.25

Hat Lessing, so ist abschließend zu fragen, die Herausforderung des Betrugsvor­ wurfs überzeugend pariert? Natürlich kann man eine Antwort auf diese Frage aus unterschiedlichen Perspektiven geben: vom Toleranzdiskurs her gesehen, aus einer theologischen oder schließlich aus einer philosophischen Perspek­ tive. Unstrittig ist, dass, wenn Toleranz und friedliche Koexistenz zwischen den Religionen möglich sein sollen, diese jeder Form des Exklusivismus abschwören müssen  – genau so, wie die Ringparabel es versinnbildlicht. Sie müssen den Anspruch exklusiven Wahrheitsbesitzes ebenso preisgeben wie den Anspruch, den einzigen Weg zum Heil zu weisen. Folgen wir der Ringparabel, müssen

22 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, 3. Aufzug, 7. Auftritt. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im Folgenden zitiert als »FA« für Frankfurter Ausgabe mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 9, S. 557. 23 Ebd., S. 559. 24 Ebd., S. 558. 25 FA 10, S. 89 f.

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sie sogar Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Stifter zulassen. Sie können den Betrugsvorwurf nicht zurückweisen, sondern müssen ihn in der Schwebe lassen. Ebendiese Vergleichgültigung der Wahrheitsfrage und der Wahrhaftigkeits­ frage ist aus theologischer Perspektive mehr als problematisch. Unnötig zu sagen, dass das Ansinnen, den Anspruch exklusiven Wahrheitsbesitzes fallenzulassen, für einen Christen eine unerträgliche Zumutung darstellt. Ganz zu schweigen von dem In-der-Schwebe-Lassen des Betrugsvorwurfs. Gewiss, Lessing lässt den Richter im Nathan sagen: »So glaube jeder sicher seinen Ring / Den echten.«26 Nur: Ein gefälschter Ring bleibt ein falscher Ring. Die Aushändigung eines nach­ gemachten Ringes unter der Vorspiegelung, es sei der echte, ist Betrug. Zwar überspielt Lessing dies durch den Hinweis auf die positiven praktischen Folgen (»Wohltun« und »herzliche Verträglichkeit«27), die auch eine auf Betrug und Täu­ schung beruhende Religion zeitigen kann. Orthodoxie gilt es, so müssen wir den Nathan verstehen, durch Orthopraxie zu ersetzen. So wie Lessing dies in seiner Schrift Das Testament Johannis ausgeführt hat: Die Substanz des Christentums schrumpft auf die treuherzige, gewiss sympathische, aber dogmatisch und reli­ giös entkernte Losung »Kinderchen, liebt euch«28 zusammen. Das kann den Anhängern einer Religion gewiss nicht genügen, deren Stifter von sich sagte: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6). Dass die alttestamentlichen Weissagungen in Jesus, so wörtlich, »erfüllt schienen«, dass die Auferstehung ins Zwielicht gerückt und nicht unmissverständlich als reales Ereignis genommen wird, dass man diese zentralen Elemente des Christentums »dahingestellt sein lassen« könne, weil sie »so wichtig nicht mehr« seien, all das sind aus theologi­ scher Sicht natürlich ungeheuerliche Frivolitäten. Was schließlich aus einer philosophischen Perspektive zur Ringparabel und zu Lessings »Inszenierung religiöser Toleranz«29 zu sagen ist, deckt sich im Kern mit der theologischen Sicht. Auch ein distanzierter Betrachter kommt nicht um die Feststellung umhin, dass das, was Lessing seinem mehrheitlich christli­ chen Publikum ansinnt, nichts Geringeres ist als eine Neuerfindung des Chris­ tentums. Man muss kein Theologe sein, um einzusehen, dass das Christentum sich aufgäbe, wenn es seine Wahrheit in der Schwebe lassen und zugeben würde, dass in seiner Geschichte, ja sogar bei seiner Stiftung »getäuscht« wurde, »wo getäuscht zu werden uns heilsamer war«.

26 FA 9, S. 559. 27 Ebd. 28 FA 8, S. 451 und passim. 29 Vgl. Walter Sparn: Nathan der Weise. Lessings Inszenierung religiöser Toleranz. In: Religious Turns – Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse – neue religiöse Wissensformen. Hg. von Andreas Nehring und Joachim Valentin. Stuttgart 2008 (ReligionsKulturen 1), S. 220–241.



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Zu dieser im Grunde trivialen Feststellung kommt ein Weiteres hinzu. Denn wenn sie zutrifft, ergibt sich eine missliche Konsequenz im Hinblick auf die Eignung der Ringparabel, für Toleranz zu werben. Denn es darf ja nicht verges­ sen werden, dass Lessing sich an ein mehrheitlich christliches Publikum wendet. Die Frage ist: Ist das in der Ringparabel verdichtete Modell friedlicher religiöser Koexistenz geeignet, diese Adressaten zu überzeugen? Da sind aufgrund der eben genannten Zumutungen, die es für gläubige Christen mit sich führt, die größten Zweifel angebracht. Ich fürchte, man muss es noch schroffer sagen: Lessing musste, indem er die Wahrheitsfrage vergleichgültigte und den Betrugsvorwurf halb einräumte, halb bagatellisierte, seine christlichen Adressaten vor den Kopf stoßen. Deshalb war sein Plädoyer für Toleranz, dieses Zierstück aufgeklärter Humanität, ein fundamentaler Fehlschlag.

III. Die Ringparabel bei Lessing und in der Moderne

Giulia Cantarutti

Das italienische Umfeld von Lessings Ringparabel Skizze zur Erkundung verschütteter Wege

In der Berlinischen Monatsschrift von 1794 erscheint unter dem Titel Die dritte Novelle des ersten Tages in Boccazens Dekamerone1 eine Übersetzung der Novelle von Melchisedech giudio, die nicht zu denjenigen gehört, die in der Bibliographie der deutschen Übersetzungen aus dem Italienischen von 1730 bis 1990 erfasst sind.2 Der Übersetzung geht ein fünfseitiger Aufsatz voran, Boccazens Erzählung von den drei Ringen, der auf den 1793 erschienenen ersten Teil von G. E. Lessings Leben Bezug nimmt. »[D]ie vortrefliche Fabel von den drei Ringen, welche der weise Nathan (in dem dramatischen Gedichte dieses Namens, Aufzug 3, Auftr. 7) Saladinen erzählt,« wird als Quelle des Nathan präsentiert, wobei der anonyme Verfasser annimmt, dass die Leser der Berlinischen Monatsschrift zwar Lessings »Kunstwerk«, aber nicht »Boccazens kleine Erzählung« »zur Hand, oder so fest im Gedächtniß« haben.3 Der Verfasser selbst aber zeigt sich philologisch-historisch sehr bewandert. An erster Stelle nennt er einen italienischen »Kunstrichter«, Domenico Maria Manni (1690–1788), dessen eigener »Traktat über die Geschichte des Dekamerons« folgendermaßen auf den Punkt gebracht wird: »Der gelehrte Kunstrichter Manni sagt mit Recht, daß bei Boccazens Erzählungen immer Wahr­ heit zum Grunde liege, welche ihm nur die reizende Ausschmückung ver­danke.«4 In dem vielleicht freimütigsten Organ der Aufklärung erscheint Lessing wie

1 Boccazens Erzählung von den drei Ringen. In: Berlinische Monatsschrift 23 (1794), S. 340–349, hier S. 344–349. 2 Bibliographie der deutschen Übersetzungen aus dem Italienischen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Volker Kapp u. a. Bd. 2/1: Von 1730–1990. A – Goldoni. Tübingen 2004, S. 128–157 (Art. »Boccaccio, Giovanni«). Vor 1800 sind nur die 1782–1784 in Leipzig im Verlag Dyk erschienene Übersetzung von August Gottlieb Meissner (Nr. 1794), der »höchst selten[e]« Kern der lustigen und scherzhaften Erzählungen des Boccaz (Nr. 1869), eine Erzählung nach dem Boccaz von 1755 (Nr. 1879) und der Nathan von Sophie Mereau in den Horen (Nr. 1880) verzeichnet. Im bibliografischen Überblick von Rosalia Coccia: La letteratura italiana nei periodici letterari tedeschi della seconda metà del XVIII secolo. Città di Castello 1988, gibt es allein 20 Verweise auf Boccaccio. 3 Boccazens Erzählung (Anm. 1), S. 341. 4 Ebd., S. 342.

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berufen mit seiner »Meisterhand uns dies[es] Kunstwerk [die dritte Novelle des ersten Buchs] so vollendet« zu liefern.5 Dieser anonyme Beitrag zeigt sehr gut, wie die Ringparabel- und die NathanRezeption zur Deckung kommen und beleuchtet Lessings »Wissen […] über die historischen Hintergründe des Problems von den drei Betrügern« und »dessen konkreten Einsatz innerhalb des Nathan«6. Der Abschluss des Aufsatzes gilt »dem berüchtigten Buche, welches aber wahrscheinlich nie existirt hat: Von den drei Betrügern (De tribus Impostoribus)«, wobei in der Anmerkung auf Campanella, Struve und »la Monnoie in den Menagiana, t. 4, pag. 406, 415« verwiesen wird.7 Die Frage nach der Existenz und der Autorschaft des Buches Von den drei Betrügern ist zweifellos zentral, aber noch ein anderer Umstand ist meines Erach­ tens von Bedeutung: Die Tatsache, dass der Verfasser des Aufsatzes über Boccazens Erzählung von den drei Ringen, der in der zeitgenössischen Literatur so bewandert ist, einem italienischen »Traktat« einen Ehrenplatz einräumt und dass diese Abhandlung auch von Lessing während seiner Reise nach Italien 1775 ange­ kauft wurde. Dass in dem 672 Seiten starken »Traktat«, Domenico Maria Mannis Istoria del Decamerone,8 »der zeitgenössische Toleranzgedanke sichtbar wird, der sich ja – gerade im Falle der Ringparabel – mit dem Atheismus-Vorwurf […] verbindet«,9 ist unbestreitbar. Das deutschen Gelehrten wohlbekannte Buch, das den programmatischen Titel Istoria – »wahre Geschichte« – trägt, verweist auf die Vertreter eines Toleranzdiskurses, der verschiedene Ausprägungen kennt und noch zu erkunden ist. Das inzwischen gut 20 Jahre zurückliegende Standardwerk von Lea Ritter Santini Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien,10 von den 2004 und 2007 erschienenen Katalogen von Paul Raabe und Barbara Strutz gefolgt, bleibt mit seinen genau beschriebenen Büchereinkäufen des Wolfenbütteler Bibliothekars ein unentbehrliches Arbeitsinstrument, allerdings umfasst das von der italienischen Komparatistin in ihrem Aufsatz Die Erfahrung der Toleranz anvisierte Thema viel mehr als Melchisedech in Livorno11  – so wichtig auch die Gespräche mit dem Rabbiner und hebräischen Dichter Abraham Isaak Castello

5 Ebd. 6 Klaus Ley: Die Ringparabel und der ›katholische‹ Lessing. Zur Deutungsgeschichte von Decameron I, 3 in Italien vor der Abfassung von Nathan der Weise. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 (2006), S. 381–403, hier S. 383. 7 Boccazens Erzählung (Anm. 1), S. 344. 8 Domenico Maria Manni: Istoria del Decamerone di Giovanni Boccaccio. Florenz 1742. 9 Ley (Anm. 6), S. 385. 10 Lea Ritter Santini (Hg.): Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien 1775. 2 Bde. Berlin 1993. 11 Lea Ritter Santini: Die Erfahrung der Toleranz. Melchisedech in Livorno. In: Ritter Santini (Anm. 10), Bd. 1, S. 433–466.



Das italienische Umfeld von Lessings Ringparabel 

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gewesen sein mögen. Eine einschlägige Erkundung des italienischen Umfelds von Lessings Ringparabel steht noch aus. Als Beitrag dazu sollen hier lediglich einige Hinweise notizenhaften Charakters geboten werden.

*** Derselbe Beruf – Bibliothekar – und dieselbe Heimat – die »patria fiorentina« – verbinden Domenico Maria Manni mit drei für unser Vorhaben wichtigen Figuren: Antonio Magliabechi (1633–1714), Giovanni Lami (1697–1770),12 Bibliothekar des Senators Riccardi, und Giovanni Bottari (1689–1775). In Giuseppina Totaros grundlegender Übersicht über die De tribus Impostoribus-Debatte stellt Maglia­ bechi, der Bibliothekar von Leopoldo de’ Medici und Briefpartner von Leibniz, einen Wendepunkt dar: Ihr Aufsatz Da Antonio Magliabechi a Philip von Stosch: Varia fortuna del »De tribus impostoribus« e »De l’esprit de Spinosa« a Firenze13 zeigt auch die Linien auf, die von Magliabechi, der den ›Atheismus‹ des Verfas­ sers der Ringparabel heftig bestreitet,14 zu Angelo Maria Bandini, dem Bibliothe­ kar der Marucelliana und Medicea Laurenziana, führen. An erster Stelle ist unter dem Gesichtspunkt der engen Verbindungen zwi­ schen Florenz und Rom Giovanni Bottari zu nennen. Seine Schriften sind nicht nur unter den Bücherankäufen Lessings gut vertreten, der »dotto Monsig. Bottari«15 wird auch im Tagebuch der italienischen Reise und an anderen Stellen erwähnt. Bereits als Herausgeber der Werke von Galileo Galilei (1718) gibt der zuerst als Leiter der Stamperia Granducale in Florenz tätige Schüler von Anton­ maria Salvini seine Gesinnung zu erkennen. Ab 1730 ist er in Rom Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte (›Storia ecclesiastica e controversie‹) am Archi­

12 Unbedingt heranzuziehen: Francesco Fontani: Elogio del Dr. Giovanni Lami. Florenz 1789. In Leys Analyse (Anm. 6) spielt Giovanni Lami kaum eine Rolle; er wird S. 385 in einer Anmerkung als Quelle für Mannis positives Bild des Sultans Saladin erwähnt. Lami ist der Herausgeber der Zeitschrift Novelle letterarie, in welcher die Lettere del Signor Dottor Giovanni Lami sopra il Decamerone di Giovanni Boccaccio erscheinen (siehe unten). Zum Profil dieser florentinischen Zeitschrift bleibt trotz neuerer Studien der Aufsatz von Mario Rosa: Atteggiamenti culturali e religiosi di Giovanni Lami nelle »Novelle letterarie«. In: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di Lettere e Filosofia (2. Folge) 25 (1956), S. 260–333, unverzichtbar. 13 Giuseppina Totaro: Da Antonio Magliabechi a Philip von Stosch. Varia fortuna del De tribus impostoribus e De l’esprit de Spinosa a Firenze. In: Bibliothecae selectae. Da Cusano a Leopardi. Hg. von Eugenio Canone. Florenz 1993, S. 377–417. 14 Ebd., S. 386 (»in contrasto con Morhof che nella novella [I 3] di Boccaccio individua invece un esplicito riferimento al De tribus Impostoribus«). 15 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. Dritte, auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 23 Bde. Stuttgart, Leipzig 1886–1924 (im Folgenden zitiert als »LM« mit Band- und Seitenzahl), hier Bd. 17, S. 259.

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ginnasio della Sapienza und Kustos der Vatikanischen Bibliothek. Zusammen mit seinem engsten Freund und Mitarkadier Foggini, der ebenfalls im fürstli­ chen Haus Corsini wohnte, hat Bottari, Kanonikus in Santa Maria in Trastevere, einen festen Platz in der Geschichte des Jansenismus in Italien; er ist nämlich das Haupt des sogenannte Circolo dell’ Archetto, d. h. der Antijesuiten in Rom. Das hochgeschätzte und allen gebildeten ›Oltramontani‹ wohlbekannte Werk Gli scrittori d’Italia von Gianmaria Mazzuchelli widmet dem als »nostro Monsignor Bottari« bezeichneten Giovanni Bottari zehn Seiten.16 Mazzuchelli erwähnt unter den veröffentlichten Schriften des mit enormen theologischen, philologischen und antiquarischen Kenntnissen ausgestatteten Florentiners, der mit ihm im Briefwechsel stand, die Lezioni due sopra il Boccaccio zur Ringparabel – zwei von »ca. fünfzig weiteren«: Queste, colle quali Monsig. Bottari ha giustificato assai bene dalla taccia di miscredente il Boccaccio, e che furono da lui recitate con cinquanta altre incirca in tal proposito nell’Accademia della Crusca, sono state pubblicate dal chiarissimo Sig. Domenico Maria Manni nella Par. II. della sua Istoria del Decamerone del Boccaccio dalla pag. 433. fino alla 453. In Firenze 1742. in 4.17

Das bedeutet, dass Lessing die zwei ersten in der Accademia della Crusca gehal­ tenen Vorlesungen Bottaris in Mannis Istoria del Decamerone gelesen hatte. Die Behauptung, dass die »Lezioni sopra il Decamerone […] zwischen 1745 und 1764 gehalten, aber erst 1818 veröffentlicht«18 wurden, lässt sich somit nicht aufrecht­ erhalten. Die 1742 mit der Genehmigung des Verfassers – des zwar nicht nament­ lich genannten, aber doch leicht zu identifizierenden »chiarissimo, e dottissimo Prelato«19 – veröffentlichten Lezioni gelten eben der Decameron-Novelle I 3 und sind in der Tat, wie Manni schreibt, »al nostro uopo sommamente acconce, e adattate«. Sie enthalten nämlich eine Verteidigung Boccaccios gegen die »taccia

16 Giammaria Mazzuchelli: Gli scrittori d’Italia cioè notizie storiche, e critiche intorno alle vite, e agli scritti dei letterati italiani. 6 Bde. Brescia 1753–1763, hier Bd. 2/3, S. 1879–1888. 17 Ebd., S. 1884. 18 Ritter Santini (Anm. 11), S. 461, Anm. 79. Gasparo Ricci, dem sich die posthume Ausgabe der Lezioni di Monsignore Giovanni Bottari sopra il Decamerone verdankt, erwähnt ausdrücklich die Zirkulation dieser Lezioni »presso i Dotti […] anche prima che venissero pubblicate per mezzo delle stampe« (unpaginierte Widmung »A Sua eccellenza il Signor Conte Demetrio De Boutourlin Consigliere privato […] di S. M. l’Imperatore di tutte le Russie«). 19 Manni (Anm. 8), S. 432: »Ma da chi meglio potrà essere difeso il nostro Novellatore, che da quel chiarissimo, e dottissimo Prelato, che in alquante Lezioni non ha gran tempo fece pubblicamente udire nella celebre Accademia della Crusca la maravigliosa arte dal gran Boccaccio in questa sua opera impiegata? Con permissione del medesimo Soggetto mi fo pregio qui inserire due delle medesime Lezioni, come al nostro uopo sommamente acconce, e adattate«.



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di miscredente«, die von Thomas Pope Blount vorgebrachte Anklage, der Verfas­ ser des Decameron habe sich dem Reliquienkult verweigert. Bottaris Gewährs­ leute sind u. a. Mabillon20 und die »Santi Padri«, d. h. die Kirchenväter, insbeson­ dere »il gran padre S. Agostino, il più dotto, il più profondo e il più grand’uomo che abbia avuto la Chiesa di Dio«.21 Der durch die ›redicola pietà‹, durch lächerliche Formen von Leichtgläubig­ keit erzeugten Diskreditierung der Religion entgegenzuwirken, lag Bottari und den mit ihm befreundeten Mitgliedern der Akademie der Arkadier besonders am Herzen. Um 1775, seinem Todesjahr, galt der Florentiner, der als Arkadier den Namen Agesia Beleminio führte, als ein Modell für die ›Arcadia filosofica‹ bzw. die ›seconda Arcadia filosofica‹. Ihr Organ sind die bis 1780 dem Augusti­ nismus verpflichteten, antijesuitisch ausgerichteten Efemeridi letterarie di Roma und die Antologia romana, 1772 bzw. 1774 gegründet; ihre graue Eminenz und zugleich der bedeutendste Repräsentant der ›arcadi filosofi‹ ist Giovanni Cristo­ fano Amaduzzi, Professor für griechische Sprache und Vorsitzender der Drucke­ rei der Congregatio de propaganda fide. Von ihm stammt die anonyme Lobrede auf Bottari in der Antologia romana von August 1775. Das Porträt des Prälaten ist ein Gegenbild zu den üblichen Höflingen der ›corte romana‹: Er ist »nemico […] dell’aulicità«, des Lasters, der Vorurteile, der Unwissenheit, des Aberglaubens, »del lassismo«.22 Vor diesem Hintergrund wird den Lezioni sopra le Novelle del Boccaccio,23 die genauso wie andere Texte aus derselben Entourage (Biblioteca Vaticana – Druckerei De propaganda fide – Circolo dell’ Archetto) privat in meh­ reren, nicht identischen Kopien zirkulierten, der Zweck zugewiesen, moralisch zu bessern: »mostrare la morale, che esse racchiudono, per istruzione degli uomini,

20 Ebd., bes. S. 436 ff. 21 Ebd., S. 443 f.; vgl. ferner das lange Zitat aus De vera Religione, ebd., S. 448: »Non sit nobis Religio in phantasmatibus nostris« sowie die Verteidigung gegen die Beschimpfung der nicht abergläubischen Christen als Halbhäretiker. Die Beziehungen Bottaris zum Kardinal Neri Corsini und seine Meriten um die Bibliothek des fürstlichen Hauses Corsini, in dem er wohnte, waren den Zeitgenossen bekannt, ebenso die reichen Bestände der Biblioteca Corsiniana: Die »Raccolta delle Controversie Giansenistiche« – »circa 1000 volumi« – kommt an erster Stelle in der Lettera della Descrizione della Biblioteca del Signor Principe Corsini in den Novelle letterarie vom 14. März 1755, Sp. 168; ebd. wird auch auf die »Collezione […] de SS. Padri« hingewiesen. Zur Bedeutung des Studiums der Kirchenväter bei Lessing vgl. Volker Riedel: Paradoxe Rezeption. Kirchenväter als Kronzeugen der Toleranz. In: Literarische Antikerezeption. Aufsätze und Vorträge. Jena 1996, S. 118–131. Beachtenswert ist der konsequente Rückgriff auf die Quellen (ebd., S. 126). 22 Elogio di Monsignor Giovanni Gaetano Bottari. In: Antologia romana 2 (1776), S. 57–61, hier S. 60. »Nemico del lassismo« soll an dieser Stelle so viel heißen wie Antijesuit. 23 Ebd., S. 61.

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e per l’emenda de’ vizi«24 – eine Botschaft für wenige. Dass das fructum capere aus dem Werk des ›Novellatore‹ den reifen, zu eigener Urteilsbildung fähigen Lesern vorbehalten war, ist ein auch bei Manni belegter Topos. Für den Verfasser der Lobrede, der selbst die Werke Boccaccios, Mosheims und anderer auf dem Index stehender Autoren in seiner Privatbibliothek hatte,25 waren diese Lezioni des mit ihm eng befreundeten Florentiners höchst schätzenswert. Entsprechend deutlich sind die Hinweise auf das Verbleiben der einschlägigen (später auf Betreiben Fog­ ginis von Rom nach Florenz verfrachteten) Manuskripte: »Mss [manoscritti], che [Bottari] ha donato alla biblioteca Corsini«. Ob Lessing, der bereits im ersten Jahrgang der Efemeridi letterarie di Roma erwähnt wird, den Hinweisen in der Antologia romana weiter nachgegangen ist, möge dahingestellt bleiben. Bestimmt kannte der Wolfenbütteler Bibliothekar aber die Discorsi accademici von Antonmaria Salvini, d. h. die These der Über­ nahme der Novella von Melchisedech Giudeo aus dem Novellino und die Ausfüh­ rungen zum Saladin von »Lorenzo Buonincontri nella Istoria della Sicilia messa in luce dal celebre Sig. Giovanni Lami«.26 Mit dieser Schrift ist die Historiae siculae Laur. Bonincontrii pars prima gemeint in den von Lami herausgegebenen Deliciae eruditorum seu veterum ανεκδοτων opuscolorum collectanea,27 einem 18-bändigen Standardwerk.

24 Ebd. 25 Der Besitz dieser Werke ist nachweisbar, denn Amaduzzis Privatbibliothek ist nun in Savignano sul Rubicone in der Bibliothek der Rubiconia Accademia dei Filopatridi aufbewahrt. Sein Lehrer, Giovanni Bianchi bzw. Janus Plancus, war ein Nachahmer Boccaccios (vgl. dazu Maria D. Collina: Il carteggio letterario di uno scienziato del Settecento, Janus Plancus. Florenz 1957), stand in engem Kontakt zu Lami und Bottari und hatte 1762 seinen Schüler mit einem Empfehlungsschreiben für Bottari nach Rom geschickt. Amaduzzis Freund und Förderer war ein weiterer Schüler von Giovanni Bianchi, Ganganelli bzw. Clemens XIV., der in den Augen aller ›Scomunicati‹  – angefangen bei Fortunato Bartolomeo De Felice  – (s. hier die Ausführungen im letzten Abschnitt) Toleranz und Humanität verkörperte; vgl. dazu den Beitrag der Verf.: Die vergessene Bibliothek eines »Letterato buon cittadino« und die Anfänge der Gessner-Verehrung in Italien. In: Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Hg. von Wolfgang Adam und Martin Fauser in Zusammenarbeit mit Ute Pott. Göttingen 2005, S. 217–251. 26 Manni (Anm. 8), S. 154. 27 Hier Bd. 5. Florenz 1739, S. 172. Vgl. auch ebd., S. 194 (»Tanta fuit Saladini erga Christianos humanitas […]«) unter Verweis auf eine Handschrift der Biblioteca Riccardiana. Darauf bezieht sich Lami in der Lettera sul Decameron del Boccaccio, in der er »il fonte della Novella del Giudeo Melchisedech« nachzuweisen versucht (Novelle letterarie vom 13.9.1754, Sp. 577 und 580).



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Abb. 1: Titelblatt der von Giovanni Lami herausgegebenen Deliciae eruditorum seu Veterum ΑνεΚδοτων opusculorum collectanea. Bd.  5: Historiae Siculae Laur. Bonincontrii pars prima. Florenz 1739. Exemplar der Biblioteca Comunale dell’Archiginnasio di Bologna, Signatur: 8.I.II.24 (Originalgröße: 19 x 13,5 cm). Abdruck mit Genehmigung der Biblioteca Comunale dell’Archiginnasio di Bologna.

Welches Echo im kleinen Kreis der ›pastori filosofi‹ die »lezioni del tante volte nominato Bottari relative alla terza novella del Boccaccio di Melchisedec ebreo« hatten, hält Giuseppe Pelli Bencivenni (1729–1808) in seinem Tagebuch fest.28 Die unter den ›Oltramontani‹ berühmteste Persönlichkeit ist Giovanni Lami. Sein

28 Das 80 Bände und 50 Jahre (1759–1808) umfassende Tagebuch, das den Titel Efemeridi trägt und in der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz aufbewahrt wird, ist auch online verfügbar:

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Buch De eruditione Apostolorum wird von Johann Jakob Brucker, einem seiner Briefpartner, zusammengefasst und in das Journal des savants d’Italie29 einge­ rückt. Seine Bedeutung als Kulturvermittler lässt sich an seinem ausgedehnten, bislang kaum edierten Briefwechsel ablesen. Lami, »Teologo profondissimo«, galt als Modell für das Herangehen an religiöse Kontroversen auf der Grundlage einer souveränen Kenntnis der Historia ecclesiastica antiqua. Nach seiner Rück­ kehr aus Deutschland fasste er den Entschluss, De recta Christianorum in eo quod mysterium Divinae Trinitatis adtinet sententia zu veröffentlichen.30 In den von ihm 1740 begründeten Novelle letterarie erschienen verschiedene Artikel (5., 12., 26. April 1754, 3. Mai, 23., 30. August 1754 usw. bis 1756),31 betitelt als Lettere del Signor Dottore Giovanni Lami sul Decameron del Boccaccio. Am 6. September 1754 beginnt der Brief über Saladins Reise durch Europa.32 Der Brief vom 13. Septem­ ber 1754 gilt der Novella del Giudeo Melchisedech.33 Zwei Punkte sind in diesem Kontext besonders hervorzuheben. Der eine betrifft den Ring, in den hier kein Stein, sondern ein Siegel eingefasst ist, ein Machtzeichen also: fu costume de’ nostri antichi, ancora de’ mezzi tempi, spezialmente se erano Cavalieri, d’avere un piccolo sigillo, incassato in un anello, che portavasi in dito, secondo l’uso con­ servato ancora in oggi da’ nostri Prelati, i quali però non vi hanno più segno di sigillo. Ben è vero però, che non portavano questo anello, se non quegli che erano padri di famiglia, o Cavalieri, o ammogliati, e che avevano passato il ventunesimo anno dell’età; onde il dare l’anello, era talvolta come una tradizione e consegna simbolica di sostanze, o di eredità: poiché il sigillo era significativo di potestà e di dominio. […] In quanto poi al numero di tre anelli, benchè nella Novella si finga, che furon fatti per cagione de’ tre figli, pure si è trovato alcuno, che ha amato d’averne questo numero, come quel Prisco appresso Orazio Lib. II. Satir. VII. – Saepe notatus / Cum tribus anellis, modo laeve Priscus inani, / Vixit inaequalis.34

Der zweite Punkt betrifft das Bild Saladins, der sich gern Debatten über religi­ öse Fragen anhört, sich von der christlichen Religion und ihren Riten angezogen

http://pelli.bncf.firenze.sbn.it [Zugriff: 30.09.2016]. Mehrere Erwähnungen ad vocem. Auf Bl. 2514 (Folge 2. Bd. 13 [1785]) erwähnt Pelli Bencivenni den 1775 erfolgten Besuch des »Duca Massimiliano di Brunswick morto annegato«: »lo servii [1775] alla Real galleria, avendo nel suo viaggio d’Italia in sua compagnia il consigliere Lessing letterato celebre già defunto«. 29 Vgl. Fontani (Anm. 12), S. 110 f. 30 Ebd., S. 9. 31 Eine genaue Auflistung erfolgt in dem Artikel Manni Domenico Maria unter »Istoria del Decamerone di Gio. Boccaccio« in: Bibliografia storico-ragionata della Toscana o sia Catalogo degli scrittori […] raccolto dal Sacerdote Domenico Moreni. Bd. 2. Florenz 1805, S. 22 f. Auf S. 23 beschreibt Moreni Lamis Lettere als Ergänzung zu Mannis Ausführungen. 32 In: Novelle letterarie 15 (1754), Sp. 561–564. 33 Ebd., Sp. 577–583. 34 Ebd., Sp. 577 f.



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fühlt und dem alten Kommentar der Biblioteca Riccardiana zufolge vom musli­ mischen Glauben nicht recht überzeugt ist: »onde non è maraviglia, se nella sua dubbiezza volesse intendere anche il parere dell’Ebreo Alessandrino«.35 Es ist also diese »dubbiezza«, die den »valoroso accortissimo Principe« dazu bewegt, den Juden zu befragen. Der Schluss selbst bleibt offen. Die Möglichkeit verschie­ dener Varianten derselben Geschichte wird als Folge der ausschließlich mündli­ chen Überlieferung erklärt: Vorrei intanto, che voi avvertiste, Amico caro, non esser gran cosa, che diversamente si veda raccontata la medesima Istoria da diversi, poichè i fatti del saladino, come di valoroso accortissimo Principe, andavano per le bocche di tutti, e non erano messi in iscritto, come dice il Commentatore Anonimo Riccardiano.36

Diese Offenheit scheint aber konstitutiv.

*** Die toskanische Konstellation hat einen eigenartigen Reflex in der Tätigkeit eines Deutschen, der Ende der 1750er-Jahre als junger Augustinermönch mit dem Namen Bruder Gaudioso in dem Florentiner Kloster weilte, das allen BoccaccioForschern ein Begriff ist, im Convento di Santo Spirito:37 Christian Joseph Jage­ mann (1735–1804). Nach dem Übertritt zum Protestantismus wirkte er dann ab 1775 29  Jahre lang als Bibliothekar der Großherzogin Anna Amalia in Weimar: 16 Decameron-Novellen, darunter auch I 3, im ersten Band seiner Italiänischen Chrestomathie38 und die Übersetzung des Corbaccio erinnern unmittelbar an Jagemanns Umgang mit den Leitern der bedeutendsten Florentiner Bibliotheken. Der Katalog zur Sammlung Carl Ludwig Fernows in der Herzogin Anna Amalia Bibliothek39 erwähnt leider nur beiläufig das Eintreffen des Buches Celebre e raro Trattato de’ Tre Impostori venuti per accidente i tre più grandi legislatori del Mondo in Weimar. In seinen erfolgreichen Briefen über Italien, die aus vorher im Teutschen Merkur erschienenen Aufsätzen bestehen, konnte der gelehrte Sachse seinen

35 Ebd., Sp. 580. 36 Ebd., Sp. 582 f. 37 Zu Boccaccios Testament unter Verweis auf die Handschrift HA 104 der »Celebratissima Libreria Strozzi« vgl. Manni (Anm. 8), S. 113. 38 Christian Joseph Jagemann: Italiänische Chrestomathie aus den Werken der besten Pro­ saisten und Dichter gesammelt und mit kurzen Anmerkungen begleitet. 2 Bde. Leipzig 1794–1796. 39 Italienische Bibliothek. Die Sammlung Carl Ludwig Fernows in der Herzogin Anna Amalia Biblio­thek, Weimar. Hg. von Lea Ritter Santini in Zusammenarbeit mit Katrin Lehmann und An­ nette Thiel. 2 Bde. Göttingen 2014, hier Bd. 2, S. 96.

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Landsleuten aus eigener Erfahrung versichern, dass alles, was Manni über Boc­ caccios Novellen geschrieben hatte, aus der Bibliothek des Hauses Strozzi stamm­ te.40 Friedrich Vollhardt hat Jagemann wegen eines den »berühmten Propheten Joachim« – Joachim von Fiore – betreffenden Beitrags im Teutschen Merkur vom Februar 1779 in Zusammenhang mit Lessing gebracht, der damals »kurz vor der Fertigstellung des vierten Aufzugs von Nathan dem Weisen«41 stand. Bestimmte Autoren, die von Jagemann dem deutschen Publikum präsen­ tiert werden  – Machiavelli (auch in unmittelbarer Verbindung mit Boccaccio), Genovesi, Sarpi, Giannone, Abbé Galiani  –, lassen einen Kanon erkennen, der sich mit dem Lob der Kirchenväter und der Hochschätzung der  – der katholi­ schen Hierarchie ebenfalls suspekten  – Historia ecclesiastica antiqua deckt.42 Jagemanns Anfänge sind der Übersetzung einer unveröffentlicht gebliebenen Epistula de Trinitate des Gregorius Nazianzenus und einer Predigt De Poenitentia Ninivitarum des 407 in der Verbannung gestorbenen Johannes Chrysostomos43 gewidmet. Unmittelbar darauf wird Jagemann als »teutscher Augustiner von S. Spirito«44 auf Lamis Vorschlag zum Mitglied der florentinischen Akademie der Georgofili ernannt.

*** Schließlich gehört noch eine lombardische Bibliothek, die fast ebenso berühmt ist wie die florentinischen oder die Corsiniana und die Angelica, zum Umfeld des Nathan bzw. des gelehrten Toleranzdiskurses: die Bibliotheca Firmiana, benannt nach dem aus einem Trientiner Adelsgeschlecht stammenden Karl Joseph von Firmian (1716–1782), dem österreichischen Generalgouverneur der Lombardei. Aufgrund der überlieferten Quellen weiß man, dass der junge Prinz Maximilian Julius von Braunschweig-Wolfenbüttel und sein Begleiter Lessing in

40 Vgl. Christian Joseph Jagemann: Briefe über Italien. 3 Bde. Weimar 1778–1785, hier Bd.  1, S. 232. 41 Friedrich Vollhardt: ›Enthusiasmus der Spekulation‹. Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 104–125, bes. S. 115 ff. 42 Vgl. etwa Fontani (Anm. 12): »spacciato nemico della religione«, S. 93, in Bezug auf Lamis Buch De recta quod mysterium Divinae Trinitatis adtinet sententia. Jagemanns Übersetzung aus dem Griechischen der Epistula de Trinitate ist in der Biblioteca Angelica, cod 303, aufbewahrt. 43 Homilia S. Johannis Chrysostomi ›De Poenitentia Ninivitarum‹, quae nunc primum in lucem prodiit, ex cod. Mediceo excerpta & latine reddita. In: Catalogus codicum manuscriptorum bibliothecae Mediceae Laurentianae varia continens Opera Graecorum patrum. Hg. von Angelo Maria Bandini. Florenz 1765, S. 279–284. 44 Jagemann: Briefe (Anm. 40), Bd. 1, S. 227.



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dieser überaus reichen Bibliothek »tagelang […] verweilte[n]«.45 Ihr Katalog, Bibliotheca Firmiana sive Thesaurus librorum, der u. a. acht Decameron-Ausgaben verzeichnet,46 enthält im ersten Band zur Theologie eine besondere Abteilung zum Thema Toleranz: Scripta pro, et contra tolerantia in religionis negotio.47 Hat Lessing Anregungen daraus erhalten? Dieselbe Frage ließe sich auch in Bezug auf den 1775 erschienenen Artikel Tolérance in der sogenannten Encyclopédie d’Yverdon stellen,48 die nicht nur im Katalog der Bibliotheca Firmiana verzeichnet ist, sondern heute noch an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vorhanden ist. Diesem 22-seitigen Artikel, der wie kaum ein anderer den Unterschied zwischen der Enzyklopädie des italie­ nischen Gelehrten Fortunato Bartolomeo De Felice und jener der Pariser ›philoso­ phes‹ zeigt, dürfte eine nicht unerhebliche Bedeutung zukommen. De Felice, der vor seiner Flucht nach Bern an der Universität Neapel lehrte und mit Raimondo di Sangro, Genovesi und Lami in engem Kontakt stand, hatte als angehender Priester in Brescia seine Ausbildung erhalten. Sein Lehrer war For­ tunato da Brescia, ein Protegé des Kardinalbibliothekars Angelo Maria Querini.49 Die Lobrede auf Quirini ou Querini im gleichnamigen Artikel seiner Enzyklopädie verweist u. a. auf Magliabechi50 und kreist um Querinis weise Haltung den Protes­ tanten gegenüber. Dies steht in Zusammenhang mit Grundgedanken des Artikels Tolérance wie etwa:

45 Christian Wilhelm Spieker: Lebensbeschreibung des Herzogs Maximilian Julius Leopold von Braunschweig. Frankfurt an der Oder 1882, zit. n. Ritter Santini (Anm. 10), Bd. 1, S. 95, Anm. 2. 46 Bibliotheca Firmiana sive Thesaurus librorum quem Excellentiss. Comes Carolus a Firmian sub Maria Theresia Aug. primum, dein sub Jos. II. Imp. Provinciae Mediolanensis per annos XXII. plena cum potestate Administrator, magnis sumptibus collegit. 8 Bde. Mailand 1783. 47 Ebd., Bd. 1, S. 87 f. 48 Encyclopédie, ou Dictionnaire universel raisonné des connoissances humaines mis en ordre par M. De Felice. 42  Bde. Yverdon 1770–1780, hier Bd. 40, S. 793–815. 49 Querini korrespondierte mit Bottari und zahlreichen deutschen Gelehrten. Unter den ab 1736 einsetzenden Briefen Bottaris an Querini, die in der Biblioteca Queriniana in Brescia überliefert sind (Carteggi Queriniani, E IV 3), ist besonders der Brief vom 14.9.1744 von Interesse. In der Biblioteca Querini Stampalia zu Venedig sind u. a. Briefe von J. A. Fabricius, A. G. Kästner, H. S. Reimarus und J. L. Mosheim aufbewahrt. Immer noch mit Gewinn zu lesen ist Friedrich Lauchert: Die irenischen Bestrebungen des Kardinals Angelo Maria Quirini (O.S.  B.) speziell in seinem literarischen Verkehr mit deutschen protestantischen Gelehrten. In: Studien und Mitteilungen aus dem Benediktiner- und dem Zisterzienser-Orden 24 (1903), S. 243–275, bes. S. 259. Zu Lessing und Querini vgl. hier die Ausführungen im letzten Absatz. 50 »Antonio Magliabecchi [sic!], qui étoit en relation avec tous les gens de lettres de l’Europe, lui amenoit ceux qui venoient à Florence« (Art. »Quirini ou Querini«. In: Encyclopédie [Anm. 48], S. 773 f., hier S. 773).

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[…] personne ne croit être hétérodoxe, hérétique ou schismastique, c’est à dire, dans une erreur condamnable. L’église orthodoxe est dans chaque pays l’église dominante, déclarée telle par des loix exclusives. Autre est l’orthodoxie de Rome, de Londres, de Petersbourg, de Berlin. Laissant donc tous ces termes, devenus injurieux, qui ne produisent jamais de bien, et qui ont causeé tant de maux, proscrivant ces dénominations, que les différens partis se sont données réciproquement dans leur fureur, trop souvent atroce, nous réduisons la ques­ tion à ces termes simples: quelle soit la tolérance que se doivent les diverses communions chrétiennes?51

Querini, seit 1749 Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und bedeutendster Vertreter der irenischen Bestrebungen in Italien, war Protektor der ›Letteraria Con­versazione‹, die sich um Mazzuchelli sammelte. Seine 1741 in der Raccolta d’Opuscoli scientifici e filologici gedruckte Vorlesung zu Pietro d’Abano bildet die erste von Lessings Anmerkungen zur Gelehrten-Geschichte.52 Mazzuchel­ lis Darstellung Boccaccios in Gli scrittori d’Italia53 zeugt heute noch von einer aus­ gesprochen europäischen Kultur. Mazzuchelli kannte etwa auch die Übersetzung der Novelle I 3 »in versi francesi, e stampata in Dublin nel 1721«54. Verweise auf Manni überraschen bei den engen brieflichen Kontakten zwischen Brescia und Florenz55 keineswegs. Quirinis Beziehungen zu Abraham Gotthelf Kästner und vor allem zu Hermann Samuel Reimarus erhalten im Licht von Guthkes Aufsatz Die Geburt des Nathan aus dem Geist der Reimarus-Fragmente56 eine besondere Bedeutung. Deshalb sei an dieser Stelle der Eintrag aus Lessings Collectanea wiedergegeben, der die Schlüsselrolle Quirinis bei der Bekanntmachung der Vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion in zehn Abhandlungen betont:

51 Art. »Tolérance«. In: Encyclopédie (Anm. 48), S. 794. 52 »Notizie istoriche e critiche intorno alla vita di Pietro d’Abano, dette dal Co. Gian-Maria Mazzuchelli […]. Im 23. Tom. der Raccolta d’Opus. sc. e filolog. 1741« (LM 16, S. 211). Der Begründer der Reihe Raccolta d’Opuscoli scientifici e filologici (1728–1754, dann Nuova raccolta d’Opuscoli scientifici e filologici), in welcher u. a. Querinis Beziehungen zu Reimarus beleuchtet werden (vgl. dazu die folgenden Ausführungen), ist Angelo Calogerà, eine der bedeutendsten Vermittlerfiguren im deutsch-italienischen Kulturtransfer. 53 Mazzuchelli (Anm. 16), Bd. 2/3, S. 1315–1370. 54 Ebd., S. 1351. Zu De tribus impostoribus vgl. ebd., S. 1367 f. 55 In der Biblioteca Riccardiana sind 236 Briefe von Calogerà überliefert. Mazzuchellis Briefe an Lami (Ricc. 3741) und Briefe von Lami an Mazzuchelli (Biblioteca Apostolica Vaticana, cod. Vat. lat. 10007) betreffen sogar unmittelbar die Recherchen für die Scrittori d’Italia. Gedruckt sind Querinis Briefe an Bottari, der als »mihi amicissimus« angesprochen wird. Vgl. dazu den Art. »Bottari«. In: Mazzuchelli (Anm. 16), Bd. 2/3, S. 1879–1888, hier S. 1881. 56 Karl S. Guthke: Die Geburt des Nathan aus dem Geist der Reimarus-Fragmente. In: Lessing Yearbook 36 (2004/2005), S. 13–49.



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Reimarus In dem zweyten Tome der Nova Raccolta d’Opuscoli sc. et fil. p. 163. sagt der Cardinal Quirini, in einem Briefe an den Graf Barbieri vom 26. Septembr. 1754. trovarsi attualmente in mie mani una Operetta Ms. del celebre ed eruditissimo Professore di Amburgo Ermanno Samuele Reimaro, la quale ha per titolo, »Praecipua capita Religionis Naturalis X dissertationibus perspicue exposita et vindicata«. Dieses lateinische Werk, welches ohne Zweifel ein erster Entwurf seines deutschen Werks, von der natürlichen Religion gewesen, ist meines Wißens nie gedruckt worden; und ich wüßte auch nicht, daß Büsch in seinem Leben deßelben gedächte, oder ich von seinem Sohne etwas davon gehört hätte.57

In der von Calogerà edierten Reihe endet Querinis Brief, aus welchem Lessing den oben zitierten Satz exzerpiert, mit dem Hinweis nicht auf eine Handschrift, sondern auf einen Druck, dessen Titel als Bindeglied dienen kann: »Suppongo«, schreibt der Kardinal an Lodovico Barbieri am 26. September 1754, di averla avvisata di aver anche in mie mani l’Opera stampata del P. Valois Gesuita francese Entretiens sur les Verites fondamentales de la Religion, e di aver voglia di produrla in lingua Italiana, nella quale l’ho già fatta tradurre, ma astenermene per i motivi, che pure mi pare di averle espressi […].58

Wir können nur bedauern, dass das Verzeichnis von Lessings Büchern, das in seinem Brief an Friedrich Nicolai vom 28. September 1768 erwähnt wird,59 nicht auf uns gekommen ist. »Vortreffliche Sachen« hätten wir darin vorgefunden.

57 LM 15, S. 357 f. »Graf Barbieri« ist Lodovico Barbieri (1719–1791). 58 Lettere due filosofiche sopra l’eternità del conte Lodovico Barbieri all’Eminentissimo Sig. Cardinal Querini. In: Nuova raccolta d’opuscoli scientifici e filologici 2 (1756), S. 161–184 und 224, hier S. 163. Calogerà ist auch Briefpartner von Querini und Francesco Maria Zanotti. 59 LM 17, S. 261.

Friedrich Vollhardt

Die Ringparabel in G. E. Lessings Drama Nathan der Weise Aktualität − Historizität − Kontiguität

In memoriam Ingrid Strohschneider-Kohrs

Nicht erst der heutige Leser hat Mühe, einen Überblick über die etwas verwickelte Handlung des Lehrstücks Nathan der Weise zu behalten. Eine kurze Zusammen­ fassung sei daher an den Beginn gestellt; sie stammt von Johann Gottfried Herder und zeigt, wie die Zeitgenossen das Stück verstanden und welche Akzente sie gesetzt haben: […] es ist eine dramatische Schicksalsfabel […]. Ein Tempelherr wird nach Palästina gewor­ fen; er weiß selbst kaum wie? Gefangen und allein begnadigt; er weiß selbst nicht, warum? Es entdeckt sich, einer Ähnlichkeit wegen, die er mit einem Bruder des Sultans habe, sei dieses geschehen; die Sache kommt Ihm und dem Sultan aus dem Gedächtniß. Er rettet ein Judenmädchen aus dem Feuer, und weiß nicht, warum? kommt dadurch in Bekanntschaft mit Nathan, den er kennen zu lernen nie Lust hatte; mit der Geretteten selbst, deren geistige und körperliche Bildung ihn mit einer Art Liebe überrascht. Der Jude zögert; der Patriarch, ein Klosterbruder, der Sultan kommen ins Spiel; es entdeckt sich endlich, daß Recha des Tempelherren Schwester, daß beide des Sultans Bruderkinder, daß beide Religionen nahe verwandt sind, und der Jude ihr aller Wohltäter gewesen.1

Eine märchenhafte Geschichte, doch keineswegs zeit- und ortlos. Lessing verlegt sie in die Epoche der Kreuzzüge. Bei dem Sultan handelt es sich um den berühm­ ten Saladin, der nach der für ihn siegreichen Schlacht bei Hattīn im Jahr 1187 − die zur Einnahme Jerusalems führen sollte − 200 Templer und Johanniter enthaupten ließ.2 Die Grausamkeit der kriegerischen Auseinandersetzungen wird in Herders Nacherzählung am Beginn kurz angedeutet (›gefangen und allein begnadigt‹), um die Versöhnung am Schluss des Stücks besonders hervorzuheben, die auf der Einsicht beruht, dass die abrahamitischen Religionen ›nahe verwandt‹ seien. Erst danach findet die Parabel Erwähnung, ohne dass sich eine genauere Auslegung anschließen würde: »Um ein Märchen von drei Ringen schlingt sich das dramati­ sche Märchen; ein reicher Kranz von Lehre der schönsten Art […].«3

1 Johann Gottfried Herder: Adrastea. Zweiter Band. Viertes Stück [1802]. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 10: Adrastea (Auswahl). Hg. von Günter Arnold. Frankfurt am Main 2000, S. 345 f. 2 Vgl. Hannes Möhring: Saladin. Der Sultan und seine Zeit 1138−1193. München 2005, S. 77. 3 Herder (Anm. 1), S. 346.

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 Friedrich Vollhardt

Die Anspielungen auf die als vorbildlich geltende Regierung und den ritterli­ chen Charakter des Sultans hat Lessing historischen Darstellungen entnommen, vor allem Louis Claude Marins Geschichte Saladins (2 Teile, 1761).4 Doch neben diesen geschichtlichen Quellen sind es literarische Muster, aus denen sich die Handlung des Dramas aufbaut: Von Bedeutung sind vor allem die biblische HiobErzählung und Anspielungen auf das antike Drama, wobei dessen tragische Kon­ flikte (Ermordung von Verwandten, Inzest5) nur im Bühnenhintergrund stehen; und natürlich die Ringparabel, welche die Mitte des Stücks bildet. Obwohl sich jede Nathan-Interpretation mit der Aufgabe konfrontiert sieht, »den inneren Zusammenhang nachzuvollziehen, den Lessings ingeniöse Kombinatorik diesen Mythen auf der Grenze zwischen Poesie und Religion verliehen hat«,6 werden sich die folgenden Ausführungen ganz auf die Erzählung von den ›drei Ringen‹ konzentrieren. Vorausgeschickt werden soll jedoch  − als Kontrapunkt zu der Nacherzählung Herders − ein Exkurs zu einer kontrovers diskutierten Aktualisie­ rung der lessingschen Parabel.

1 Aktualität Im Jahr 2007 hat der Philosoph und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk im Verlag der Weltreligionen, also im Hause Suhrkamp, einen Essay unter dem Titel Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen vorgelegt, ein Jahr später ist ihm in Wolfenbüttel der Lessing-Preis für Kritik verliehen worden. Die von Nathan

4 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003 (im Folgenden zitiert als »FA« für Frankfurter Ausgabe mit Bandund Seitenzahl), hier Bd. 9, S. 1160 ff. 5 Das Motiv findet neuerdings stärkere Beachtung, wobei das Bedrohliche der inzestuösen Situation jedoch weder als intertextuelle Anspielung noch als gesellschaftlicher Normdissens verstanden wird, sondern als ein Darstellungsmodus, der in einer schwer zu durchschauenden Weise mit der Selbstbezüglichkeit des poetischen Textes zu tun hat − was sich wiederum nur dunkel andeuten lässt; der Inzest erscheint dann als »metaphorische Figur« einer »stumm betrauerten Verbindung von Begehren und Tabu«, kurz als ein Wunsch »nach der Selbstvergewisserung so konzipierter Subjektivität durch ihre Aufhebung in der vermeintlichen Gewißheit des ›Gleichen‹« (Daniel Müller Nielaba: Die Wendung zum Bessern. Zur Aufklärung der Toleranz in Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise. Würzburg 2000, S. 126). 6 Gisbert Ter-Nedden: Lessings dramatisierte Religionsphilosophie. Ein philologischer Kom­mentar zu Emilia Galotti und Nathan der Weise. In: Gotthold Ephraim Lessings Religions­philosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 283–335, hier S. 329.



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erzählte Geschichte wird hier umstandslos an unsere Gegenwartsdiskurse ange­ schlossen: An diesem Gleichnis, mit gutem Recht wie eine Bergpredigt der Aufklärung gefeiert, fällt aus heutiger Sicht seine vollendete Postmodernität auf: Es vereinigt in sich den primären Pluralismus, die Positivierung der Simulation, die praktische Suspension der Wahrheits­ frage, die zivilisierende Skepsis, die Umstellung von Gründen auf Wirkungen und den Vorrang des externen Beifalls vor den internen Ansprüchen. Noch der abgebrühteste Leser kommt nicht umhin, die Klugheit der Lessingschen Lösung zu bewundern: Indem sie das letzte Urteil bis ans Ende der Zeiten aufschiebt, hält sie die Wahrheitskandidaten dazu an, sich ihrer Erwählung nicht allzu gewiß zu sein.7

In einem Punkt ist Sloterdijk recht zu geben: »Was Lessing vorschlägt, läuft gera­ dewegs auf eine rezeptionsästhetische Transformation der Religion hinaus.« Doch da es (auch) in unserer Welt fast »ausschließlich um Wirkungen« geht, sind die Prinzipien der historischen Monotheismen in dem Lessing nachfolgenden »Zeit­ alter der Ideologien« von atheistischen Erlösungsprojekten kopiert und übernom­ men worden, »von der Jakobinerherrschaft bis zu den Rasereien des Maoismus«. Diese ›Übergänge‹ sind für Sloterdijk bereits in der »Tiefenstruktur« der Geschichte von den ununterscheidbaren Ringen angelegt, Lessing wird so zum Zeugen für eine Dialektik der Aufklärung.8 Am Ende steht immerhin die Hoffnung auf eine »postmo­ notheistische Weisheitskultur«, wie sie Nietzsche vorausgesehen hat, ein »zivilisa­ torischer Weg« für die gesamte Menschheit, die sich von allen »monotheistischen Feldzügen«9 befreit − und damit zugleich auch von allen ›eifernden‹ Religionen. Um derart weitgehende Schlussfolgerungen ziehen zu können, muss die am Eingang der Parabel stehende Wahrheitsfrage, welche Melchisedech und Nathan zur Suche nach einem Gleichnis nötigt, ignoriert werden.10 Der Entwurf Lessings verliert seine Kontexte, womit eine historisch adäquate Interpretation ausgeschlos­ sen wird. Denn für Lessing war, daran ist zu erinnern, ›Wahrheit‹ der alles entschei­ dende Begriff in dem Theologenstreit, der sich an seiner Veröffentlichung der Frag­ mente aus dem Nachlass von Hermann Samuel Reimarus entzündete.11 Von den

7 Peter Sloterdijk: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen. Frankfurt am Main 2007, S. 170 f. 8 Ebd., S. 188 ff. 9 Ebd., S. 212 und 217 f. 10 Zu dieser Tendenz in der jüngeren Forschung (nicht allein bei Sloterdijk) vgl. Monika Fick: Lessing-Handbuch. Leben  − Werk  − Wirkung. Dritte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, Weimar 2010, S. 498. 11 Vgl. William Boehart: Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing). Schwarzenbek 1988, S. 412, sowie Bernd Oberdorfer: »Die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen«. Lessings Nathan der Weise und die Humanisierung

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 Friedrich Vollhardt

Grenzen, die uns bei der Erkenntnis religiöser Annahmen (anders gesagt: bei der Beglaubigung religiöser Überzeugungen) durch die Ratio gesetzt sind − auf diese hat der Parabeldichter mit Nachdruck hingewiesen −, kann nicht umstandslos auf deren Nichtvorhandensein geschlossen werden.12 In seiner Dankrede bei der Ent­ gegennahme des Lessing-Preises hat Sloterdijk indes noch einmal die bei Lessing vermutete Suspension der Wahrheitsfrage angesprochen, um »gegen eine der mas­ sivsten Pseudo-Evidenzen der jüngeren Geistesgeschichte« Einspruch zu erheben, nämlich »den seit zweihundert Jahren grassierenden Glauben an die Existenz von Religionen. […] Allein aufgrund der Gewöhnung an eine Fiktion vergleichsweise jungen Datums kann heute von einer Wiederkehr der Religion die Rede sein.«13 Den Begriff der ›Fiktion‹ möchte ich aufnehmen, er wird bei meiner Annäherung an den Text ebenfalls eine Rolle spielen. Allerdings nicht, um die Verluste der jüngeren Modernisierungsprozesse zu bilanzieren, sondern im Blick auf die primären, dem Werk Lessings nahen Kontexte. Ich werde dabei in drei Schritten vorgehen. Zunächst soll die Ringparabel analysiert werden (2), wobei auf die Abweichungen gegenüber dem von Boc­ caccio gelieferten Muster zu achten ist. Diese Ergebnisse sind auf den engeren intratextuellen Kontext, das Drama selbst, zu beziehen, etwa auf die Hiob-Szene im vierten Akt. Im Anschluss daran sollen die von Lessing im Fragmentenstreit entwickelten Gedankengänge und theologischen Streitschriften einbezogen werden (3.1), um die Position genauer zu bestimmen, von der aus im Nathan die Frage nach der Wahrheit der Religion(en) gestellt und auch beantwortet wird (3.2), was zunächst noch mit einem Fragezeichen zu versehen ist. Schließlich ist eine weitere, etwas entferntere Konstellation zu berücksichtigen, die aufschluss­ reich für das in der Zeit diskutierte Problem der religiösen Toleranz ist; gemeint ist die Italienreise Lessings (3.3) mit den Gesprächen, welche er in Livorno führte, sowie den literarischen Quellen, vor allem den historischen Kommentaren zu Boccaccios Decameron, die er vor Ort kennengelernt und für die Wolfenbütteler Bibliothek erworben hat. Abschließend kann dann noch einmal die Frage nach der Modernität der Ringparabel (3.4) gestellt werden.

der Religionen. In: Protestantismus und deutsche Literatur. Hg. von Jan Rohls und Gunther Wenz. Göttingen 2004 (Münchener Theologische Forschungen 2), S. 107–124, bes. S. 117: »Wahrheitsansprüche können und dürfen aufrecht erhalten werden.« 12 Vgl. Fick (Anm. 10), S. 504. 13 Peter Sloterdijk: Anthropologische Aufklärung. In: Lessing-Preis für Kritik 2008. Reden zur Verleihung des fünften Lessing-Preises für Kritik an Peter Sloterdijk und Dietmar Dath. Hg. von der Lessing-Akademie. Wolfenbüttel 2008, S. 34–51, hier S. 39 f.



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2 Historizität Auf dem Höhepunkt des Fragmentenstreits schreibt Lessing im August 1778 an seinen Bruder Karl: Noch weiß ich nicht, was für einen Ausgang mein Handel [sc. der Streit mit dem Haupt­ pastor Goeze in Hamburg] nehmen wird. Aber ich möchte gern auf einen jeden gefaßt sein […]; und da habe ich diese vergangene Nacht einen närrischen Einfall gehabt. Ich habe vor vielen Jahren einmal ein Schauspiel entworfen, dessen Inhalt eine Art von Analogie mit meinen gegenwärtigen Streitigkeiten hat, die ich mir damals wohl nicht träumen ließ. […] Ich möchte zwar nicht gern, daß der eigentliche Inhalt meines anzukündigenden Stücks all­ zufrüh bekannt würde; aber doch, wenn Ihr, Du oder Moses [sc. Mendelssohn], ihn wissen wollt, so schlagt das Decamerone des Bocaccio [sic!] auf: Giornata I. Nov. III. Melchisedech Giudeo. Ich glaube, eine sehr interessante Episode dazu erfunden zu haben, daß sich alles sehr gut soll lesen lassen, und ich gewiß den Theologen einen ärgern Possen damit spielen will, als noch mit zehn Fragmenten.14

Der Brief stammt vom 11. August, eine Woche später erhält Lessing die erwartete »Resolutio« des Braunschweiger Herzogs, die ihm verbietet, »daß er in Religi­ ons-Sachen, so wenig hier als auswärts, […] ohne vorherige Genehmigung des Fürstl[ichen] Geheimen Ministerii ferner etwas drucken lassen möge«.15 Die Arbeit an dem Lehrgedicht beginnt also situationsabhängig, sie dient einem aktuellen apologetischen Interesse, auch wenn die Idee einer Boccaccio-Adaptation bereits vorhanden war. Alter Entwurf und neuer Konflikt: Zu fragen ist, wie Lessing die Parabel, die er dem Decameron entnommen hat, seiner von Zensur bedrohten Lage anpasst. Die lessingsche Erzählung lässt sich in vier Abschnitte gliedern, die durch einen Monolog der Hauptfigur eingeleitet werden. Dieses Vorspiel ist für den Autor offenbar von großer Bedeutung, da er sich kaum Mühe gibt, es schlüssig in den Zusammenhang zu integrieren. Genau in der Mitte des Stücks wird eine Zäsur gesetzt, welche die Parabel ankündigt, die über die dramatische Handlung hinausweist und mit dem ›Lehrgedicht‹ in wechselseitige Auslegung treten soll: Szene III 6, Nathan allein. Der Kaufmann zeigt sich informiert, er weiß um die Nöte des Sultans: »Ich bin / Auf Geld gefaßt; und er will − Wahrheit. Wahrheit!«16 Noch bevor er die Gesprächsstrategie Saladins durchschaut (»Ich muß / Behut­ sam gehn!«), reflektiert er in einem durch das Stichwort hervorgerufenen Bildbe­

14 Lessing an Karl Gotthelf Lessing, 11. August 1778. In: FA 12, S. 186. 15 Herzog Karl von Braunschweig an Lessing, 17. August 1778. In: FA 12, S. 186 f. 16 FA 9, S. 554. Weitere Nathan-Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe mit Akt-, Szenen- und Versangaben im laufenden Text.

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reich über den Begriff der Wahrheit, was ihn zu einem ersten Religionsvergleich führt: […] als ob Die Wahrheit Münze wäre! − Ja, wenn noch Uralte Münze, die gewogen ward! – Das ginge noch! Allein so neue Münze, Die nur der Stempel macht, die man aufs Brett Nur zählen darf, das ist sie doch nun nicht! (III 6, 352–357)

Mit der alten Münze ist die authentische religiöse Erfahrung gemeint, die innere Wahrheit der Religion, während die späteren Prägungen, die diesen Wert verlo­ ren haben, für die verfestigten Dogmen und Lehrmeinungen der positiven Reli­ gionen stehen, die miteinander konkurrieren.17 Die ursprüngliche Münze ist alt, ja sogar ›uralt‹, was an mythische Ursprünge oder eine prisca theologia denken lässt. Doch in dem von Nathan angestellten Vergleich überwiegen deutlich die kritischen Töne, womit zugleich auf das Thema der Ringparabel, die Gleichheit der Offenbarungsreligionen und deren gegenseitige Anerkennung, vorausgewie­ sen wird.18 Und dabei erinnert Lessing mit dem Münz-Exempel an einen ebenso berühmten wie bei den Amtskirchen berüchtigten Vorgänger in der Toleranz­

17 Vgl. Karl Eibl: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Deutsche Dramen. Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Harro MüllerMichaels. Bd.  1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein im Taunus 1981, S. 3–30, bes. S. 15; Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008, S. 791. 18 Die Münzmetaphorik steht zunächst im Dienst dieses negativen Vergleichs, wird dann aber in ›positiver‹ Weise fortgeführt, wie Helmut Göbel gezeigt hat: Bild und Sprache bei Lessing. München 1971, S. 188 f. Auf die wichtige Geldmotivik im Nathan kann hier nicht ausführlicher eingegangen werden. Konsequent verfolgt, führt sie zu der These, »daß dem Text weniger ein Postulat für den aufgeklärten Umgang mit Differenzen der Religionen abzulesen sei, sondern eine Sozialutopie formuliert wird«, wobei »im Kontext des zeitgenössischen Kommerzialwissens Ideenhandel und Kapitalienhandel« einander nicht widersprechen; vgl. Jörg Schönert: Der Kaufmann von Jerusalem. Zum Handel mit Kapitalien und Ideen in Lessings Nathan der Weise. In: Scientia Poetica 12 (2008), S. 89–113, hier S. 91. Siehe auch David Götz: »Bis mein Kapital zu lauter Zinsen wird«. Ökonomie bei Gotthold Ephraim Lessing. Würzburg 2015, S. 423–456 (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 835). Zu dem ›Spiel ums Geld‹ und Nathans politisch reflektierter, also der Situation und den höfischen Regeln angepasster Handlungsweise vgl. Daniel Fulda: »Er hat Verstand; er weiß / Zu leben; spielt gut Schach.« Nathan der Weise als Politicus. In: Aufklärung und Weimarer Klassik im Dialog. Hg. von Andre Rudolph und Ernst Stöckmann. Tübingen 2009 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 135), S. 55–78. Um die Erklärung der von Lessing verwendeten politisch-ökonomischen Terminologie hat sich die Forschung bereits vor Jahrzehnten bemüht − erwähnt sei nur die Nathan-Deutung von Klaus Ziegler − und gleichzeitig davor gewarnt, von diesen im Hintergrund der Handlung gezeigten



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debatte, Sebastian Castellio. In dessen Schrift De haereticis an sint persequendi (1554) wird der Bildbereich in ganz ähnlicher Weise ausgedeutet: also das wer heut leben will / der můß schier souil glauben habē / als vil stett oder secten sind. Gleich wann einer über feld gadt so můß er offt gelt wechßlen / dann es gilt nit allent­ halb allerley müntz / außgnommen was gulde müntz seind / die gelten allenthalb / was sye auch für schlag haben. Also gath es in glaubens sachen / da ist auch ein guldine müntz die allenthalb giltet / was auch für schlag darauff seye / […]. In solchen stünde es vns zů das ye einer den anderen duldete / vnd nit gleich des anderen glauben auff Christum gegründet verdampte.19

Die Metapher der uralten Münze steht bei Lessing allerdings  − anders als bei Castellio  − für die wahre Religion, die allen drei Glaubenslehren zugrunde liegt und ihrem Streit über Äußerlichkeiten (bei denen auch Castellio einen Konsens anmahnt20) enthoben bleibt. Zu vermuten ist, dass die im 16. Jahrhun­ dert angestoßene Debatte nicht nur hinsichtlich der Symbolbildung für Lessing anregend gewesen ist.21 Für den Basler Humanisten durfte niemand als haere-

Motiven auf eine Relativierung der religiös-ethischen Aussagen zu schließen; vgl. J. A. Bizet: La sagesse de Nathan. In: Études Germaniques 10 (1955), S. 269–275. 19 [Sebastian Castellio:] Von Ketzeren. Ob man auch die verfolgen oder wie man mit jnen handlen solle des D. Martinj Lutherj unnd Johann Brentij auch anderer viler der alten und unserer zeyten glerten meinung unnd bericht. [Basel: Oporinus bzw. Straßburg: Augustin Fries 1554 oder 1555], Bl. B ijr.  − Die von Hans R. Guggisberg (Religiöse Toleranz. Dokumente zur Geschichte einer Forderung. Hg. von dems. Stuttgart-Bad Cannstatt 1984 [Neuzeit im Aufbau 4], S. 95) aus dem Lateinischen übersetzte Textpassage lautet: »Wer heute leben will, muß so viele Glaubensüberzeugungen und Religionen haben wie es Staaten oder Sekten gibt. Es geht ihm gerade so wie dem, der durch die Länder zieht und sein Geld immer wieder wechseln muß, da das, was hier gültig ist, dort nicht angenommen wird, es sei denn, es wäre Gold. Dieses wird überall angenommen, ungeachtet seiner Prägung. So wollen wir auch in der Religion eine Goldmünze benutzen, die ungeachtet ihrer Prägung überall angenommen wird. […] Laßt uns daher duldsam sein zueinander und nicht fortwährend den in Christo gegründeten Glauben des anderen verurteilen.« 20 Zu diesem Aspekt sowie zu der gesamten Castellio-Parallele vgl. Christoph Bultmann: »Improbissimae Calumniae« und »Pflichtschuldige Pastoralverhetzung der Obrigkeit«. Toleranz und ihre Gegner bei Grotius und Lessing. In: Aufgeklärtes Christentum. Beiträge zur Kirchenund Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Hg. von Albrecht Beutel u. a. Leipzig 2010, S. 213– 231, bes. S. 224 ff. 21 Komplementär zu dem hier dokumentierten Vigoni-Gespräch hat daher im Oktober 2013 eine Tagung zu den Toleranzdiskursen in der Frühen Neuzeit stattgefunden (Center for Advanced Studies an der LMU München), deren Ziel es war, die denkgeschichtlichen Voraussetzungen zu rekonstruieren, die für Lessings Auffassung maßgeblich waren und seine Stellungnahme zu den zeitgenössischen Debatten motiviert haben. Damit soll ein Beitrag zur Archäologie des europäischen Toleranzgedankens geliefert werden, der über das Sachwissen eines Lexikonartikels hinausgeht, da die für Lessing wichtigen Gesprächslagen und Denkhorizonte gerade nicht

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ticus verurteilt werden, der nur in Fragen der Schriftauslegung von dem in den Konfessionen jeweils herrschenden Konsens abwich. Ähnlich wie die italieni­ schen Erasmus-Anhänger forderte er keine von einem Gnadenakt des Souveräns gewährte Toleranz, sondern verpflichtete den Gläubigen auf die »sozialen Tugen­ den der Liebe, Sanftmut und Friedfertigkeit als Voraussetzung für die Duldung Andersgläubiger«22 − hier bewegen wir uns bereits auf den Rat zu, den der Richter in Lessings Geschichte den streitenden Söhnen erteilen wird. Doch der Reihe nach. Im ersten Abschnitt der Ringparabel hält sich Lessing zwar eng an seine Vorlage, signifikante Abweichungen von der Novelle Boccac­ cios zeichnen jedoch bereits die eigenen Argumentationslinien vor. So berichtet Melchisedech von einem großen und reichen Mann, der unter den Preziosen in seinem Schatz einen besonders schönen und wertvollen Ring besaß (»intra l’altre gioie piú care che nel suo tesoro avesse, era uno anello bellissimo e prezioso«23); von der Verzierung durch einen Edelstein ist nicht die Rede. In Nathans Version wird hieraus ein Ring von unschätzbarem Wert’ […]. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, Und hatte die geheime Kraft, vor Gott Und Menschen angenehm zu machen, wer In dieser Zuversicht ihn trug. (III 7, 396–401)

Warum ein Opal? Nun, in der alchemistischen Tradition symbolisierte der Halb­ edelstein die göttliche Gnade; und es gibt noch weitere, ins Spekulative führende

den bekannten Informationen entsprechen; das hat mit den nationalen Ausprägungen der Toleranzdebatte zu tun, die in den deutschen Territorien sowohl durch die Pluralisierung religiöser Bekenntnisse seit der Reformation als auch durch ein in spiritualistischen Strömungen ausgebildetes Laienbewusstsein geprägt war, das dem kirchlichen Lehramt mit dem Anspruch auf Duldung gegenübertrat.  − Die Beiträge zu dieser Tagung finden sich in einem vom Verf. herausgegeben Sammelband: Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Unter Mitarbeit von Oliver Bach und Michael Multhammer. Berlin, Boston 2015 (Frühe Neuzeit 198). 22 Barbara Mahlmann: Art. »Castellio, Sebastian«. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520−1620. Literatur­wissenschaftliches Verfasserlexikon [VL 16]. Hg. von Wilhelm Kühlmann u. a. Bd.  1: Aal, Johannes  – Chytraeus, Nathan. Berlin, Boston 2011, Sp. 497−511, hier Sp. 503.  − Barbara Mahlmann bereitet eine Neuausgabe des lateinischen Textes sowie der zeitgenössischen Übersetzungen vor. 23 Giovanni Boccaccio: Decameron. Hg. von Vittore Branca. 6. Aufl. Turin 1991, S. 81.



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Deutungen des Motivs − die Stichworte lauten Kunstapotheose24 oder gar Fetisch25 −, auf die hier nicht eingegangen werden soll, da es vor allem auf das neue Element ankommt, das Lessing in die Erzählung einführt.26 Das ist die geheime Energie, die der Ring bei jenen entfaltet, die an eine solche mit voller Zuversicht glauben. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Zauberrequisit, das − wie in der älteren christlichen Tradition27 − äußere Wunder bewirkt (Totenerweckung, Krankenheilung etc.) oder, wie bei Boccaccio, Reichtum und Ansehen verleiht sowie Herrschaft legitimiert, sondern allein um die ethische Gesinnung des Trägers, die lebenspraktische Wirkung hervorbringen soll: »Ich versteh dich«, wirft Saladin hier ein, »Weiter!« (III 7, 413) Im zweiten Abschnitt kommt das Gespräch dann auf den Vater, der sich nicht entscheiden kann, welchem seiner Söhne er den Ring vererbt, da »alle drei ihm gleich gehorsam waren«, wie es bei Lessing lakonisch heißt. Boccaccio ist bei

24 Vgl. Rüdiger Zymner: »Der Stein war ein Opal …« Eine versteckte Kunst-Apotheose in Lessings morgenländischer ›Ringparabel‹? In: Lessing Yearbook 24 (1992), S. 77−96, hier S. 89: »Der Künstler (wohlgemerkt nicht einfach: Goldschmied, Juwelier o. ä.!) ist eine Figur, die in der Stofftradition der Ringparabel vor der Erzählung Lessings nicht auftaucht«, was zu einer »Neuinterpretation« (S. 91) und zu der für ›plausibel‹ gehaltenen »Hypothese« führt, dass der Künstler »den echten Ring […] behalten [!] und dem Vater drei vollkommen gleich aussehende Fälschungen gegeben« (S. 92) habe. 25 Einem dekonstruktivistischen Kalkül verdankt sich die Annahme, dass der Text hier Anleihen bei der zeitgenössischen Diskussion über Talismane etc. mache, mehr noch: in der Ringparabel werde positive Religion »mit Magie-Glauben überblendet«, dem eigentlich »angesteuerten Konzept von Religion«, wodurch  − so die vorgetragene Schlussfolgerung  − »die Moralität des Subjekts einen ›übernatürlichen‹ Anstrich erhält« (Christine Weder: Erschriebene Dinge. Fetisch, Amulett, Talisman um 1800. Freiburg 2007, S. 103 f.). Geflissentlich übersehen wird dabei, wie abschätzig der Richter von der angeblichen »Wunderkraft« (V. 500) der Ringe spricht, der er die »geheime Kraft« (V. 399) des individuellen Glaubens gegenüberstellt − ein wichtiger Aspekt, den Joachim Desch eingehender untersucht: Taktische und praktische Toleranz. Lessings Haltung zur Wahrheit des Glaubens. In: Lessing und die Toleranz. Sonderband zum Lessing Yearbook. Hg. von Peter Freimark, Franklin Kopitzsch und Helga Slessarev. München 1986, S. 158−173, bes. S. 170. 26 Vorbereitet war dieses in einer Version der Gesta Romanorum; vgl. Erich Schmidt: Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Bd.  2. Dritte, durchgesehene Auflage. Berlin 1909, S. 344. Diese Version hat Lessing dann nach der Rückkehr aus Italien mit der von Boccaccio verglichen; vgl. Lea Ritter Santini: Die Erfahrung der Toleranz. Melchisedech in Livorno. In: Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien 1775. Hg. von ders. Bd.  1. Berlin 1993 (Ausstellungs­ kataloge der Herzog August Bibliothek 70/1), S. 433−466, bes. S. 456. 27 Vgl. Peter Demetz: Lessings Nathan der Weise. Wirklichkeiten und Wirklichkeit. In: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Vollständiger Text. Dokumentation. Hg. von P. Demetz. Frankfurt am Main, Berlin 1970, S. 121−158, bes. S. 148, sowie den Beitrag von Wolf-Dieter Stempel in diesem Band.

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der Charakterisierung der Söhne etwas überschwenglicher: »tre figliuoli belli e virtuosi e molto al padre loro obedienti, per la qual cosa tutti e tre parimente gli amava.«28 In der italienischen Novelle lässt der Vater daraufhin zwei weitere Ringe anfertigen, die dem ersten so sehr gleichen, dass er selbst kaum einen Unterschied erkennen kann (»appena conosceva qual si fosse il vero«). Zwar nur schwach, aber gleichwohl kann der echte Ring noch identifiziert werden. Anders Lessing. Bei ihm sendet der Vater geheim zu einem Künstler, Bei dem er, nach dem Muster seines Ringes, Zwei andere bestellt […]. (III 7, 429 ff.)

Der Künstler erweist sich als ein Meister seines Faches und als er ihm die Ringe bringt, Kann selbst der Vater seinen Musterring Nicht unterscheiden. (III 7, 434 ff.)

Saladin zeigt sich von dieser Wendung der Geschichte »betroffen« und verlangt zu hören, was nach dem Tod des Vaters geschieht, worauf Nathan ihm die Boc­ caccio-Lösung präsentiert: Man untersucht, man zankt, Man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht Erweislich; − nach einer Pause, in welcher er des Sultans Antwort erwartet: Fast so unerweislich, als Uns itzt − der rechte Glaube. (III 7, 445–448)

Dies ist eine vorläufige Antwort, denn nun beginnt mit dem Ausruf Saladins der dritte Abschnitt der Parabel: Spiele nicht mit mir! − Ich dächte, Daß die Religionen […] […] doch wohl zu unterscheiden wären. (III 7, 454 ff.)

Es handelt sich eigentlich nur um ein Intermezzo, in dem Nathan »in einer rhe­ torischen traductio«29 die konkrete Ausgangsfrage, auf der Saladin besteht, ins Abstrakte wendet und damit die von Lessing im Fragmentenstreit entwickelten Argumente aufnimmt. Während der Sultan  − wir kehren auf die Figurenebene

28 Boccaccio (Anm. 23), S. 81. 29 Demetz (Anm. 27), S. 149.



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des Stücks zurück − bei der Eröffnung des Gesprächs in Szene III 5 sein Gegen­ über gleich dreimal nach den »Gründen« für die »Wahl des Besseren« (aus »Ein­ sicht«!) fragt, verändert Nathan den Begriff konzeptuell: Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? […] Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu Und Glauben angenommen werden? − Nicht? – Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen? […] Wie kann ich meinen Vätern weniger, Als du den deinen glauben? (III 7, 459–470)

Ein Kommentar zu dieser Stelle wird zurückgestellt; er gehört, wie bemerkt, in den Kontext des Fragmentenstreits und referiert ein zentrales Argument Lessings. Von diesem ist der Sultan so begeistert, dass er »verstummen« (III 7, 476) muss. Damit wird zum vierten und letzten Abschnitt der Parabel übergeleitet. Nathan ergreift noch einmal das Wort: »Laß auf unsre Ring’ / Uns wieder kommen« (III 7, 477 f.). Was nun folgt, ist der auslegungsbedürftige Teil der Erzählung, der keine Vorlage in der Tradition hat. Ist der echte Ring verloren? Die drei zerstrittenen Söhne, die ihre Klage vor einen neutralen Richter bringen, sind »Betrogene Betrie­ ger« (III 7, 508), da die vermeintliche Macht der gefälschten Ringe nicht nach außen wirkt, sondern nur die Selbstsucht ihrer Träger steigert: Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren. (III 7, 508 ff.)

Später wird noch die Vermutung geäußert, daß der Vater […] Die Tyrannei [!] des Einen Rings nicht länger In seinem Hause [habe] dulden wollen! (III 7, 519 ff.)

Das Zentrum der Parabel ist damit erreicht. Was nun folgt, ist wider Erwarten kein Urteil, sondern eine Empfehlung: Mein Rat ist aber der: ihr nehmt Die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring Den echten. […] […] Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochnen

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Von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, Mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hülf’! (III 7, 515–532)

Hier kommt nun die Fiktion ins Spiel. Es handelt sich um eine echte Fiktion, da der Richter ausschließt, dass einer der Söhne im Besitz des wahren Erbes sein könnte: »Eure Ringe / Sind alle drei nicht echt« (III 7, 508 f.). Gehandelt werden soll also unter der Annahme eines »Wahrscheinlichkeitsmoments«30 oder, drasti­ scher formuliert, einer »bewußt falschen Annahme zur Erreichung eines prakti­ schen Zwecks«.31 Dieses Als-ob bildet − anders als Nathans Münzvergleich (III 6, 352 f.)  − so etwas wie eine »Arbeitshypothese«32 und ein Versprechen auf die Zukunft, in der sich auch nach außen die erfreulichen Folgen eines ethischen Handelns zeigen, das sich an einfachen Regeln ausrichtet, die man als officia humanitatis bezeichnen könnte und die zudem mit bestimmten Grundsätzen der natürlichen Religion oder − in der genaueren Begrifflichkeit Moses Mendelssohns − einer »allgemeine[n] Menschenreligion«33 übereinstimmen. Zu beachten bleibt jedoch, dass die Vereinigung der Menschen im Zeichen »herzlicher Verträg­ lichkeit« die Wirkung religiöser Überlieferungen nicht aus-, sondern einschließt.34 Ähnlich wie in dem Fragment Über die Entstehung der geoffenbarten Religion, das posthum in Lessings Theologischem Nachlaß 1784 veröffentlicht worden ist, plä­ diert Nathan für ein Zusammenwirken von Vernunft und Tradition, von natürli­ cher oder vernünftiger − Reimarus differenziert hier nicht35 − und als Offenbarung

30 Beatrice Wehrli: Kommunikative Wahrheitsfindung. Zur Funktion der Sprache in Lessings Drama. Tübingen 1983 (Hermaea 46), S. 163. 31 Hans Leisegang: Lessings Weltanschauung. Leipzig 1931, S. 156. 32 Demetz (Anm. 27), S. 153. − Vgl. auch Jürgen Wertheimer: Das Kippspiel des Als Ob. In: Fiktion und Fiktionalismus. Beiträge zu Hans Vaihingers Philosophie des Als Ob. Hg. von Matthias Neuber. Würzburg 2014 (Studien und Marialien zum Neukantianismus 33), S. 265−280, bes. S. 275: »Lessings bzw. Nathans Argumentation erledigt gleichsam mit einem Zug ganze Bibliotheken traditionalistischer Legitimationsdiskurse.« 33 Ausführlicher zu dieser Begrifflichkeit Jan Assmann: Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung. Berlin 2010, S. 173−183. 34 Vgl. hierzu auch Johannes von Lüpke: Wege der Weisheit. Studien zu Lessings Theologie­ kritik. Göttingen 1989 (Göttinger theologische Arbeiten 41), bes. S. 156 f. 35 Vgl. Dietrich Klein: Hermann Samuel Reimarus (1694−1768). Das theologische Werk. Tübingen 2009 (Beiträge zur historischen Theologie 145), S. 177, Anm. 303.



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geglaubter Religion, womit Lessing zugleich auch einen »Ansatzpunkt für eine Antwort auf David Humes Natural History of Religion gefunden«36 haben dürfte. Doch genau besehen, handelt es sich bei dem Rat des Richters um eine Zumu­ tung, eine paradoxe Empfehlung: »Wie soll der gerichtsnotorische Sachverhalt einer nicht subsumierbaren Pluralität von Absolutheitsansprüchen hingenom­ men werden, ohne dass die Gewißheit, der eine Einzige zu sein, daran Schaden nimmt?«37 Die Betrugshypothese könnte dann etwas ganz anderes bewirken als die Ergebenheit in Gott, bestenfalls eine skeptische Indifferenz mit moralisch unwägbaren Folgen. Dem stehen jedoch eine Reihe zusätzlicher Annahmen entgegen. Zunächst: Eine Gewissheit teilen die Söhne, dass nämlich  − wie der Richter zu verstehen gibt − der Vater euch alle drei geliebt, und gleich Geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, Um einen zu begünstigen. (III 7, 522 ff.)

Die drei Religionen partizipieren an diesem gemeinsamen Ursprung, der zugleich ein moralisches Vermächtnis ist. Obwohl die positiven Religionen unecht und in ihren Lehrmeinungen falsch sein mögen, sind sie doch imstande, etwas für die Lebenspraxis ihrer jeweiligen Anhänger zu leisten. Das ist der Grund, weshalb Nathan den Glauben seiner Väter achtet und dies auch den Muslimen und Chris­ ten empfiehlt, wobei erneut die Liebe zu einem Leitbegriff wird: Nun wessen Treu und Glauben zieht man denn Am wenigsten in Zweifel? Doch […] […] deren, die Von Kindheit an uns Proben ihrer Liebe Gegeben? (III 7, 463–467)

Es handelt sich um ein Denken, das sich nicht, wie bei Reimarus, zur ›natürli­ chen‹ Religion bekehrt (die ganz verschieden aufgefasst werden kann), sondern die Kontingenz von Lebenswelten akzeptiert38 − aus Gründen der Vernunft.

36 Stephan Eberle: Lessing und Zarathustra. In: Rückert-Studien 17 (2006/07), S. 73−130, hier S. 89. 37 Hermann Timm: Der dreieinige Ring. Lessings parabolischer Gottesbeweis mit der Ring­ parabel des Nathan. In: Euphorion 77 (1983), S. 113−126, hier S. 120. 38 Vgl. Karl Eibl: Lauter Bilder und Gleichnisse. Lessings religionsphilosophische Begründung der Poesie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 59 (1985), S. 224−252, bes. S. 244, Anm. 101.

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Am Ende steht nicht die Botschaft von der Gleichgültigkeit gegenüber allen Religionen  − wie sich der Schluss der Novelle bei Boccaccio deuten ließe39 −, sondern die Aufforderung zu einem Wettbewerb, aus dem sich die Lösung der keineswegs verabschiedeten Wahrheitsfrage ergeben wird, nicht argumenta­ tiv, sondern ermahnend. Der Spruch des Richters fordert von den Söhnen, eine Wendung in mehreren Schritten zu vollziehen, die sich mit Helmut Fuhrmann stichwortartig wie folgt benennen lassen: Vom Objekt zum Subjekt, vom Inhalt zur Form der Aneignung, von der Theorie zur Praxis, vom Besitz zum Streben, vom Streit zum Wettstreit der Religionen und vom Ausschließlichkeitsanspruch zur Toleranz.40 Vorausgesetzt ist dabei stets  − erinnert sei an das Als-ob der Fiktion  −, dass der Wunsch nach theoretischer Einsicht durch Glauben ersetzt wird: Die gesuchte Wahrheit lässt sich nun einmal nicht historisch, »sondern nur eschatologisch erweisen«.41 Wenn der Richter an den »weisre[n] Mann« erinnert, der in »über tausend tausend Jahre[n]« das endgültige Urteil sprechen wird (III 7, 534 ff.), dann öffnet sich die Parabel hin zu jenem dritten Zeitalter, das in der Erziehung des Menschengeschlechts als dasjenige der Vernunft beschrieben wird. Die Theorie von den drei Zeitaltern lässt sich auf die Ringparabel beziehen, sie ist deren Sinn keineswegs − wie verschiedentlich ausgeführt wurde42 − entgegenge­ setzt. Versucht man die Dramenhandlung in das Erziehungsschema einzufügen,

39 Die germanistische Forschung hat im pointierten Vergleich mit Lessing in der Parabel­ fassung Boccaccios ein »Symbol des Indifferentismus« ausgemacht; so Wilhelm Scherer (Zu Lessings Nathan. In: W. Scherer: Vorträge und Aufsätze zur Geschichte des geistigen Lebens in Deutschland und Oesterreich. Berlin 1874, S. 328−336, hier S. 331) und viele andere nach ihm, etwa Karl-Josef Kuschel: »Jud, Christ und Muselmann vereinigt«? Lessings Nathan der Weise. Düsseldorf 2004, S. 172 f., und zuletzt Irmela von der Lühe: »Es strebe von euch jeder um die Wette.« Konkurrenz und Toleranz in Lessings »Ringparabel«. In: Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur. Hg. von Romana Weiershausen, Insa Wilke und Nina Gülcher. Berlin 2011, S. 123−137, bes. S. 127: »die Sache endet im Relativismus«. 40 Helmut Fuhrmann: Lessings Nathan der Weise und das Wahrheitsproblem. In: Lessing Yearbook 15 (1983), S. 63−94, hier S. 69 f. Vgl. auch Volker C. Dörr: Offenbarung, Vernunft und ›fähigere Individuen‹. Die positiven Religionen in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts. In: Lessing Yearbook 26 (1994), S. 29−54, bes. S. 45, und zuvor bereits David Hill: Lessing. Die Sprache der Toleranz. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 218−246, bes. S. 241: »Probleme der theoretischen Vernunft finden eine Lösung in dem Bereich der praktischen Vernunft«. 41 Ernst Feil: Religio. Bd. 4: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Göttingen 2007 (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 91), S. 547. 42 Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S. 610. Dagegen argumentiert Thomas Berger: Der Humanitätsgedanke in der Literatur der deutschen Spätaufklärung. Heidelberg 2008 (Jenaer germanistische Forschungen 27), S. 118 f., Anm. 63.



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dann bewegt sie sich zwischen der ersten und zweiten Offenbarung, mit dem Ausblick auf das dritte Zeitalter.43 Doch woran erkennt man eine solche Bewegungsrichtung oder gar einen Fort­ schritt in Religionsdingen? Man muss, das ist Lessings Empfehlung, Geschichte auch dann zu begreifen versuchen, wenn ihr Telos verhüllt bleibt. Es sind die Unsicherheiten eines Zwischenzustands, die dann an »gewisse Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts« (Die Erziehung des Menschengeschlechts § 87) denken lassen. Hier ist ein Grund für seine Erwähnung des Joachim von Fiore zu suchen, nicht in den Inhalten von dessen Heilstheologie, sondern in den Irrtümern, die aus Ungeduld erwachsen und der Übereilung, mit der ein neues Zeitalter verkündet wird. Lessing erinnert an eine häretische Bewegung des späten Mittelalters, um sich selbst zur Ordnung zu rufen: »Der Schwärmer tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten.« (§ 90)44 Auch das lässt sich auf die Ringparabel beziehen, da radikale Ungeduld der geforderten Ergebenheit in Gott widersprechen würde: Nathan und der Richter kennen bereits »das Neue, aber sie empfänden es als […] Akt wider die Vorsehung, die Formen der traditionellen Religion hemmungslos zu zerstören«.45 Ergebenheit in Gott − das ist eine im Dramentext von Recha und Nathan zwar nur an wenigen Stellen gebrauchte Wendung, die jedoch unmittelbar zum Ver­ ständnis der lehrhaften Erzählung führt. Die dazugehörige Szene ist der siebte Auftritt im vierten Akt, das Gespräch zwischen Nathan und dem Klosterbruder, wo der Kaufmann von dem Pogrom als einer von Gott auferlegten Prüfung berich­ tet, die ihm fast den Verstand geraubt hat. Hier wird das »Schlüsselwort«46 des Dramas dialogisch in Szene gesetzt:

43 Vgl. Eibl (Anm. 38), S. 244, sowie Georges Pons: Gotthold Ephraïm Lessing et le Christianisme. Paris 1964 (Germanica 5), bes. S. 422, und Jürgen Schröder: Gotthold Ephraim Lessing. Sprache und Drama. München 1972, S. 258: »In diesem Sinne bildet der Nathan einen dramatischen Vollzug der Erziehungsschrift.« 44 Vgl. zur Organisation der Paragrafen Friedrich Vollhardt: ›Enthusiasmus der Spekulation‹. Zur fehlenden Vorgeschichte von Lessings Erziehungslehre. In: Gotthold Ephraim Lessings Religionsphilosophie im Kontext. Hamburger Fragmente und Wolfenbütteler Axiomata. Hg. von Christoph Bultmann und Friedrich Vollhardt. Berlin, New York 2011 (Frühe Neuzeit 159), S. 104−125, bes. S. 124 f. 45 Demetz (Anm. 27), S. 153. Auch darin zeigt sich die Weisheit Nathans, genauer seine »weise Toleranz« im Unterschied zu einer nur vernünftigen oder philantropischen; vgl. zu dieser Differenzierung Jost Schneider: Toleranz und Alterität in Lessings Nathan der Weise. In: Nathan und seine Erben. Beiträge zur Geschichte des Toleranzgedankens in der Literatur. Festschrift für Martin Bollacher. Hg. von Oxana Zielke. Würzburg 2005, S. 25−35, bes. S. 26. 46 Gerhard Kaiser: Lessings Nathan der Weise. Glaube, Liebe, Hoffnung: der Grund des Toleranzdramas. In: Pastoraltheologie 80 (1991), S. 568–584, hier S. 577, sowie Arno Schilson:

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[…] Als Ihr kamt, hatt’ ich drei Tag’ und Nächt’ in Asch’ Und Staub vor Gott gelegen, und geweint. – Geweint? Beiher mit Gott auch wohl gerechtet, Gezürnt, getobt, mich und die Welt verwünscht; Der Christenheit den unversöhnlichsten Haß zugeschworen […] Doch nun kam die Vernunft allmählig wieder. Sie sprach mit sanfter Stimm’: »und doch ist Gott! Doch war auch Gottes Ratschluß das! Wohlan! Komm! übe, was du längst begriffen hast; Was sicherlich zu üben schwerer nicht, Als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!« − Ich stand! und rief zu Gott: ich will! Willst du nur, daß ich will! (IV 7, 667–681)

Das komplexe Zusammenspiel zwischen dem ewigen Willen Gottes und dem uneigentlichen Willen des Menschen wird nicht spekulativ beschrieben, obwohl hier Vorstellungen berührt werden, die in der neuplatonischen Tradition sowie der christlichen Spiritualitätsgeschichte weit zurückzuverfolgen sind.47 Aus der Willensvereinigung erwächst das Vertrauen in die Vorsehung, von der im selben Zusammenhang dann im Blick auf das Schicksal Rechas die Rede ist: »wenn sie von meinen Händen / Die Vorsicht wieder fodert, − ich gehorche!« (IV 7, 698 f.) Diese Einsicht kennzeichnet die Einstellung Nathans, in deren Nähe man auch

Dichtung und religiöse Wahrheit. Überlegungen zu Art und Aussage von Lessings Drama Nathan der Weise. In: Lessing Yearbook 27 (1995), S. 1–18, bes. S. 11. 47 Noch bis in das 18. Jahrhundert war hier die Rezeption eines spätmittelalterlichen Traktats, der unter dem Titel Theologia Deutsch überliefert wurde, von großer Bedeutung; vgl. ›Der Franckforter‹ [›Theologia Deutsch‹]. Kritische Textausgabe. Hg. von Wolfgang von Hinten. München, Zürich 1982 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 78), S. 145: »Darvmmb sold die creatur mit dem selben willen nicht wollen, sunder got sold vnd wold wollen wircklichen mit dem willen, der yn dem menschen ist, vnd doch gotis ist.« Der von der Orthodoxie abgelehnte Text wurde am Beginn des 18. Jahrhunderts von Johann Georg Pritius (1662–1732), einem umfassend gebildeten protestantischen Theologen, neu herausgegeben. Den lateinischen Text übernahm Pritius  – auch das hatte Signalcharakter  – von dem als Häretiker verfolgten Humanisten Sebastian Castellio und die Kapitelaufteilung sowie die Erläuterungen von Pierre Poiret. Weitere Hinweise bei Friedrich Vollhardt: Der wilde Weltweise. Die Rezeption des Philosophus autodidactus von Ibn Tufail in der Frühen Neuzeit. In: Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Hg. von Jörg Robert und Friederike Felicitas Günther. Würzburg 2012, S. 179–198, bes. S. 185. − Wie das mystisch-spiritualistische Schrifttum des Spätmittelalters und der Reformationszeit am Ende des 18. Jahrhunderts rezipiert wurde, zeigt Christian Janentzky: J. C. Lavaters Sturm und Drang im Zusammenhang seines religiösen Bewusstseins. Halle 1916, bes. S. 288 f.



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die Position des Autors vermuten darf, die sich aus einer »Verschiebung vom Gott der Offenbarungsreligionen zu einem Gottesbegriff« ergibt, der, auf den Intellekt gegründet, dennoch »die Option auf einen Akt des Glaubens offenlässt«.48 Es handelt sich um Korrelationen im Zeichen einer personalen religio-Erfahrung.49 Nathans Rede gewinnt so an Überzeugungskraft auch für die ›vernünftigen Ver­ ehrer‹ Gottes, obwohl das angesprochene Erfahrungsmoment nur in entrationali­ sierter Weise gefasst werden kann, da »Ergebenheit / In Gott von unserm Wähnen über Gott / So ganz und gar nicht abhängt« (III 1, 74–76), wie Recha gegenüber Daja erinnert. Dass diese Haltung nicht mit einem selbstgenügsamen Quietismus verwech­ selt werden darf, zeigen zwei wichtige Nebenfiguren des Stücks, der Kloster­ bruder und Al Hafi, dem Lessing ein eigenes »Nachspiel« unter dem Titel Der Derwisch widmen wollte.50 Zu vermuten ist, dass er die in Szene II 9 des Nathan angedeuteten Charakterzüge des Parsen hier genauer ausführen und die religi­ öse Motivierung seines Handelns erklären wollte. Denn der Derwisch folgt nur seinem Gewissen und verabscheut eine falsche oder geheuchelte Philanthro­ pie, nachdem er als Schatzmeister des Sultans Einblick in das Machtgefüge des Reiches erhalten hat: Ei was! − Es wär’ nicht Geckerei, Bei Hunderttausenden die Menschen drücken, Ausmärgeln, plündern, martern, würgen; und Ein Menschenfreund an Einzeln scheinen wollen? (I 3, 480–483)

48 Fick (Anm. 10), S. 510; ähnlich Kevin F. Hilliard: Freethinkers, Libertines and Schwärmer. Heterodoxy in German Literature 1750−1800. London 2011, S. 103: »Lessing’s play shows how a philosopher can still be a believer: here, too, there is religion.« 49 Zu dem ›confinium‹ von moralitas und religio eingehender Ingrid Strohschneider-Kohrs: Vernunft als Weisheit. Studien zum späten Lessing. Tübingen 1991 (Hermaea 65), S. 59 ff. 50 Während der Drucklegung des Nathan schreibt Lessing am 15. Januar 1779 an seinen Bruder: »Auch sollte, nach meinem ersten Anschlage, noch ein Nachspiel dazu kommen, genannt der Derwisch, welches auf eine neue Art den Faden einer Episode des Stücks selbst wieder aufnähme, und zu Ende brächte.« (FA 12, S. 231 f.) − Ob Al Hafi mit R. H. Farquharson als »spokesman for Lessing’s final religious position« zu betrachten ist (Lessing’s Dervish and the Mystery of the Dervish-Nachspiel. In: Lessing Yearbook 18 [1986], S. 47–67, hier S. 63), sei dahingestellt; treffender zu den in der Figur angelegten Alternativen Hilliard (Anm. 48), S. 86: »The satirist Al-Hafi finds that more is wrong with the world than right. Nathan has to show otherwise«. Als der »wirkliche Widerpart Nathans«, als den ihn Ralf Simon charakterisiert (Nathans Argumentationsverfahren. Konsequenzen der Fiktionalisierung von Theorie in Lessings Drama Nathan der Weise. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 65 [1991], S. 609– 635, hier S. 633), wird er indes kaum zu verstehen sein.

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Bereits am Ende des zweiten Aufzuges verabschiedet er sich aus der Handlung, um sich auf die Suche nach der wahren humanitas zu begeben: »Am Ganges, / Am Ganges nur giebts Menschen.« (II 9, 704 f.) Mit ähnlicher Sympathie wird das Bild des Klosterbruders gezeichnet, der das Laienchristentum personifiziert, für das Lessing kurz zuvor im Fragmentenstreit eingetreten war.51 Der theologisch unge­ bildete Frater wird dem Patriarchen gegenübergestellt, mit Nathan teilt er − frei­ lich in naiver Weise − den Glauben an die Vorsehung; nicht ohne Grund wird er in der wichtigen Szene IV 7 zum Gesprächspartner des weisen Juden, da er in seiner frommen Einfalt […] allein Versteht, was sich der gottergebne Mensch Für Taten abgewinnen kann. (IV 7, 654–657)

Hier wäre nun auszuholen und auf eine Reihe von verstreuten Theodizee-Stellen im Werk Lessings hinzuweisen, besonders auf das 79. Stück der Hamburgischen Dramaturgie.52 Die Hiob-Deutung fasst diese religionsphilosophischen Überlegun­ gen in einem Bild von großer Prägnanz zusammen.53 Wenig später hat Immanuel Kant in seiner Abhandlung Ueber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) am Beispiel des Hiob-Buches seine Unterscheidung einer »doktrinalen«, das heißt zum Scheitern verurteilten, und einer »authentischen Theodizee« erläutert, deren Elemente im Text des Alten Testaments allegorisch ausgedrückt sind. Es wäre reizvoll, die kantische Verteidigung dieses moralischpraktischen Vernunftglaubens54 auf Lessings Hiob-Adaptation und seine ›authen­ tischen‹, das heißt poetischen Versuche in der Theodizee zu beziehen. Doch das weist über die Interpretation der Ringparabel weit hinaus.

51 Vgl. Carl Hebler: Lessing-Studien. Bern 1862, S. 15; siehe dazu auch Pons (Anm. 43), S. 424, der Lessings Vorliebe »pour les simples et les humbles« als »sympathie« beschreibt, »qui se manifeste encore dans Nathan le Sage par une indulgence certaine pour Al-Hafi et pour le frère lai«. 52 Hinweise bei Friedrich Vollhardt: Laokoon, Aias, Philoktet. Lessings Sophokles-Studien und seine Kritik an Winckelmann. In: Unordentliche Collectanea. Gotthold Ephraim Lessings Laokoon zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und ästhetischer Theoriebildung. Hg. von Jörg Robert und Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston 2013 (Frühe Neuzeit 181), S. 175–200, bes. S. 193– 196. 53 Unverzichtbar hierzu die Studien von Ingrid Strohschneider-Kohrs, zuletzt: Lessings HiobDeutungen im Kontext des 18. Jahrhunderts. In: Edith-Stein-Jahrbuch 2002, S. 255–268. 54 Volker Dieringer: Kants Lösung des Theodizeeproblems. Eine Rekonstruktion. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009 (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung 2/22), S. 121 ff.



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3 Kontiguität Seitdem Friedrich Schlegel den Nathan als eine »Fortsetzung vom Anti-Götze, Numero Zwölf« bezeichnet hat, ist nach dem Zusammenhang zwischen der »didaktischen Dichtart«55 und dem Fragmentenstreit gefragt worden, auch mit Vorbehalten gegenüber der von Schlegel mit Nachdruck betonten Wechselwir­ kung. Kurz vor dem Brief an seinen Bruder Karl, in dem der Plan zu einem Der­ wisch-Drama erwähnt wird, schreibt Lessing an Herder über sein zur Ostermesse angekündigtes Drama: »Ich will hoffen, daß Sie weder den Prophet Nathan, noch eine Satyre auf Goezen erwarten.«56 Die Auseinandersetzung mit dem Hambur­ ger Hauptpastor scheint an Brisanz verloren zu haben. Ganz in den Hintergrund getreten ist sie gleichwohl nicht, weist doch die Figur des Patriarchen einige Züge des orthodoxen Theologen auf, mit dem sich Lessing in ein polemisches Gefecht eingelassen hat, das zu dem bedeutendsten nichtpoetischen Lehrstück der Aufklärung in Deutschland geworden ist. Den Zündstoff zu diesem Streit hatte Lessing der unveröffentlicht gebliebenen Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes von Hermann Samuel Reimarus entnommen, dem »Hauptwerk« der deutschen Aufklärung (Hans Blumenberg).57 Welche Verbin­ dungen lassen sich zwischen der deistischen Bibelkritik von Reimarus, Lessings Stellungnahmen in der darauffolgenden Kontroverse und dem Drama Nathan der Weise erkennen?

3.1 Fragmentenstreit Lessing war ein genauer Beobachter der religionspolitischen Kontroversen seiner Zeit. Wie nur wenige seiner Zeitgenossen hat er die Verluste bilanziert, die der Theologie durch ihre vernunftfreundlichen Reformer, die ›Neologen‹, entstanden waren und noch entstehen sollten. Auf dem Höhepunkt des von ihm provozierten Streits findet sich in der an Johann Heinrich Reß gerichteten Duplik der Ausruf: »Nein; so tiefe Wunden hat die scholastische Dogmatik der Religion nie geschla­ gen, als die historische Exegetik ihr itzt täglich schlägt.«58 Der besorgniserregen­

55 Friedrich Schlegel: Über Lessing [1797]. In: Kritische Schriften und Fragmente. Studien­ ausgabe in sechs Bänden. Hg. von Ernst Behler und Hans Eichner. Bd. 1: Kritische Schriften und Fragmente [1794–1797]. Paderborn u. a. 1988, S. 207–224, hier S. 219. 56 Lessing an Johann Gottfried Herder, 10. Januar 1779. In: FA 12, S. 225. 57 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt am Main 1988, S. 490. 58 FA 8, S. 519.

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den Diagnose fügt er noch einmal die vielfach erörterte Frage an, wo denn »alle historische[n] Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion« bleiben? Die Antwort will er ausdrücklich von allem »Scepticismus« befreit und als eigene Überzeugung verstanden wissen: Die historischen Beweise sollen bleiben, »[w]o sie wollen! Wäre es denn ein großes Unglück, wenn sie endlich einmal wieder in den Winkel des Zeughauses gestellt würden, in welchem sie noch vor funfzig Jahren standen?« Damit wird auf jene apologetischen Schriften angespielt, die in großer Zahl seit den 1720er-Jahren erschienen waren und sich darum bemüh­ ten, die angenommenen Offenbarungswahrheiten durch eine historisch-kriti­ sche Bibelexegese zu bestätigen. Ein in den Augen Lessings nicht nur unsinni­ ges, sondern die Theologie als Wissenschaft diskreditierendes Vorhaben. Doch gerade mit den in den Kompendien der polemischen Theologie, kurz der Apolo­ getik, entwickelten und als unwiderleglich betrachteten Argumenten sah er sich im Fragmentenstreit konfrontiert, etwa in der umfangreichen Schrift von Johann Daniel Schumann Über die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion, in der die »gegen alle Spitzfindigkeit sich behauptenden Stützen unserer Religion« in den »erfülleten Weissagungen, und in den großen Wunderwerken«59 gesehen wurden. Gemeint war damit die innerbiblische Typologie als Zeugnis der Heilsgeschichte und die Beweiskraft der in der Heiligen Schrift berichteten Wunder, was sowohl die Glaubwürdigkeit der Zeugen und die Prüfbarkeit ihrer Berichte als auch den Vergleich mit anderen Religionen sowie Schilderungen all­ täglicher Mirakel einschließt. Den ermüdend langen Ausführungen Schumanns hat Lessing eine präg­ nante, ins Grundsätzliche führende Problemanalyse entgegengesetzt. Es lohnt, den berühmten Spitzensatz seiner Beweisführung in dem zumeist ausgelassenen Rahmen der antiapologetischen Argumentation zu lesen: Ein andres sind erfüllte Weissagungen, die ich selbst erlebe: ein andres, erfüllte Weissagun­ gen, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen erlebt haben. Ein andres sind Wunder, die ich mit meinen Augen sehe, und selbst zu prüfen Gelegenheit habe: ein andres sind Wunder, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen gesehn und geprüft haben. Das ist doch wohl unstreitig? Dagegen ist doch nichts einzuwenden? […] wer leugnet es, − ich nicht − daß die Nachrichten von jenen Wundern und Weissagungen eben so zuver­ lässig sind, als nur immer historische Wahrheiten sein können? − Aber nun: wenn sie nur eben so zuverlässig sind, warum macht man sie bei dem Gebrauche auf einmal unendlich zuverlässiger? Und wodurch? − Dadurch, daß man ganz andere und mehrere Dinge auf sie

59 Ebd., S. 383.  − Zum weiteren Kontext vgl. Friedrich Vollhardt: Kritik der Apologetik. Ein vergessener Zugang zum Werk Gotthold Ephraim Lessings. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Hg. von Peter-André Alt u. a. Würzburg 2002, S. 29–48.



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bauet, als man auf historisch erwie­sene Wahrheiten zu bauen befugt ist. Wenn keine histo­ rische Wahrheit demonstrieret werden kann: so kann auch nichts durch historische Wahr­ heiten demonstrieret werden. Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.60

Diese zwei Klassen von Wahrheiten sind streng zu trennen. Lessing nimmt die leibnizsche Unterscheidung von vérités de raisonnement und vérités de fait auf, verschiebt die im Zusammenhang der Monadenlehre entwickelte Erkenntnis- und Prinzipienlehre61 jedoch in den Bereich einer säkularen Entwicklungsgeschichte. Die Zeitgenossen haben sofort erkannt, welches Theoriepotenzial die von Lessing angebotene Formel enthielt: »Das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstration«, schreibt Kant im Anschluss an die vollzogene Grenzziehung.62

60 FA 8, S. 439 und 441. 61 Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Übersetzt von A. Buchenau. Hg. von Ernst Cassirer. Bd.  2. Dritte, mit Literaturhinweisen ergänzte Auf­ lage. Hamburg 1966, S. 443: »Die Vernunft-Wahrheiten sind notwendig und ihr Gegenteil ist unmöglich, die Tatsachen-Wahrheiten dagegen sind zufällig und ihr Gegenteil ist möglich. Ist eine Wahrheit notwendig, so läßt sich ihr Grund vermittels der Analyse aufzeigen, indem man sie in einfachere Ideen und Wahrheiten auflöst, bis man zu den ursprünglichen gelangt […].« Zu dieser außerordentlich folgenreichen Unterscheidung zwischen aposteriorisch- und apriorisch-wahren Aussagen vgl. mit Bezug auf die einschlägigen Paragrafen der Monadologie Sybille Krämer: Tatsachenwahrheiten und Vernunftwahrheiten (§§ 28−37). In: Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Hg. von Hubertus Busche. Berlin 2009 (Klassiker Auslegen 34), S. 95−111. Zu Lessings Anwendung der Leibnizschen Wahrheitskriterien ausführlich Martin Bollacher: Lessing: Vernunft und Geschichte. Untersuchungen zum Problem religiöser Aufklärung in den Spätschriften. Tübingen 1978 (Studien zur deutschen Literatur 56), bes. S. 109−130. − Dass Lessing »nur dem Wortklang nach auf Leibniz« Bezug genommen habe, tatsächlich aber der »Geschichtsskepsis« John Lockes gefolgt sei, wie Arnold Heidsieck (Lessings Vorstellung von Offenbarung. In: Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, Die Erziehung des Men­­schengeschlechts. Hg. von Philippe Wellnitz. Straßburg 2000 [Études germaniques], S. 27−39, hier S. 32) darzulegen versucht, indem er eine mit der Philosophie des Engländers harmonierende Stelle aus dem zweiten Fragment des Ungenannten anführt, bestätigt indes nur die weite Verbreitung deistischer Grundannahmen in der europäischen Aufklärung, die sich  − dafür bietet Reimarus ein Beispiel − mit verschiedenen Namen (Locke, Toland u. a.) verbinden ließen. Ältere Quellenstudien waren hier weniger voreilig, etwa Leopold Zscharnack: Einleitung. In: John Toland’s Christianity not mysterious (Christentum ohne Geheimnis) [1696]. Übersetzt von W. Lunde. Eingeleitet und […] hg. von L. Zscharnack. Gießen 1908, S. 1−53, bes. S. 10: Die »Lockesche rationale Umdeutung […] des Offenbarungsbegriffs hat in den Kreisen der moderanten Aufklärung, auch der deutschen, weithin Aufnahme gefunden, oft ohne daß direkte Einflüsse von Locke her vorlagen.« 62 Zit. n. Ernst Troeltsch: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte. In: Kant-Studien 9 (1904), S. 21−154, hier S. 152 (vgl. auch S. 154).

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Auch Nathan bedient sich des Arguments, um der Frage des Sultans nach den »Gründen« für die Wahl einer bestimmten Religion (die doch »wohl zu unter­ scheiden wären«) die Grundlage zu entziehen: Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? Geschrieben oder überliefert! − Und Geschichte muß doch wohl allein [!] auf Treu Und Glauben angenommen werden? − Nicht? − […] Wie kann ich meinen Vätern weniger, Als du den deinen glauben? (III 7, 459–470)

Die mythischen Erzählungen über die Gründer der abrahamitischen Religionen und die überlieferten Berichte von deren Leben und Taten können nur geglaubt, nicht ›demonstriert‹ werden. Doch daraus erwächst weder ein Fatalismus noch, wie bei Reimarus, der Rückschluss auf Fälschung und Betrug, sondern im Gegen­ teil ein Vertrauen in die von den Offenbarungsreligionen gestifteten Sinnformen und die das Handeln bestimmenden religiösen Konventionen. Religion bietet dem Menschen »Hintergrundsicherheit«, als solche ist sie eine »Errungenschaft der ›Kultur‹«,63 die zu bewahren ist, ungeachtet der verschiedenen Gründungsur­ kunden und Zeremonien. Insofern kann Lessing für »eine gewisse Gefangenneh­ mung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens« plädieren64  − womit er der gegen »blinden Glauben« gerichteten rationalistischen Religionspädagogik des Fragmentisten widerspricht65 −, wenn diese sich nicht auf »Schriftstellen« gründet. Von dem »in gewissen symbolischen Büchern vorgetragene[n] System des Christentums« ist das »eigentliche Christentum« zu unterscheiden,66 wie Lessing nach der Veröffentlichung des fünften Fragments in seinen Gegensätzen genauer ausführt, wobei die Handlung des Nathan-Dramas bereits im Grundriss erkennbar wird: Ich will es den Gottesgelehrten gern zugeben, daß aber doch das Seligmachende in den ver­ schiednen Religionen immer das Nemliche müsse gewesen sein: wenn sie mir nur hinwie­ derum zugeben, daß darum nicht immer die Menschen den nemlichen Begriff damit müssen verbunden haben. Gott könnte ja wohl in allen Religionen die guten Menschen in der nemlichen Betrachtung, aus den nemlichen Gründen selig machen wollen: ohne darum allen

63 Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft. Hg. von André Kieserling. Frankfurt am Main 2000, S. 177. 64 FA 8, S. 316 und 318. 65 Unter Aufnahme des Paulus-Zitats; vgl. Lessing: Erstes Fragment. In: FA 8, S. 177. 66 FA 8, S. 323.



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Menschen von dieser Betrachtung, von diesen Gründen die nemliche Offenbarung erteilt zu haben.67

Lessing besteht auf der Grenzziehung zwischen einer als Offenbarung angenom­ menen »schriftlichen Erzählung« und den »anderweitigen« Überlieferungen, auf welche sich die innere Wahrheit der Religion gründet und die − wie es im 5. AntiGoeze heißt − »jeder gute Katholik ohne Anstoß glauben und behaupten kann«.68 Der Hinweis auf die ›regula fidei‹ sollte den Hamburger Hauptpastor provozieren, doch ihn nicht allein; gleich im Anschluss findet sich eine Formulierung, die im Wechsel von der Religion zur Ethik eine analoge Grenzziehung gegenüber einem Vernunftbegriff (und Geschichtsverständnis) vornimmt, wie man ihn bei dem Fragmentisten findet: Denn wenn es schon wahr ist, daß moralische Handlungen, sie mögen zu noch so ver­ schiednen Zeiten, bei noch so verschiednen Völkern vorkommen, in sich betrachtet immer die nemlichen bleiben: so haben doch darum die nemlichen Handlungen nicht immer die nemlichen Benen­nungen, und es ist ungerecht, irgend einer eine andere Benennung zu geben, als die, welche sie zu ihren Zeiten, und bei ihrem Volk zu haben pflegte.69

Zu beachten ist der kulturelle Zusammenhang, aus dem heraus eine Handlung in der Eigenperspektive der jeweiligen Epoche und der Selbstbeschreibung des Handelnden zu verstehen ist. Dieses komplexe Geflecht von Bedingungen ist zu berücksichtigen, will man verstehen (und vergleichen), was eine Tat ›in sich‹ bedeutet. Auf diese »Pointe«70 führt die Argumentation Lessings zu: Erst im Handeln bestätigt sich der Glaube an eine Offenbarung, ganz wie im dramati­ schen Spiel.71

67 Ebd., S. 332. 68 FA 9, S. 204 f. 69 Ebd., S. 205. 70 Peter Winch: Lessing und die Auferstehung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46 (1998), S. 731–751, hier S. 748. 71 In der älteren Forschung ist dieser Zusammenhang deutlich gesehen worden; vgl. etwa Heinrich Ritter: Lessing’s philosophische und religiöse Grundsätze. Göttingen 1847, bes. S. 45: »Die Offenbarungen Gottes müssen durch die That sich bewähren […]; das fortdauernde Wunder der Religion muss die Wunder bekräftigen, aber nicht umgekehrt die Wunder die Religion.«

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3.2 ›Gegensätze‹ ohne Gegnerschaft? Bisher ist nur von der Gegnerschaft Lessings zu Reimarus gesprochen worden. Oder ist der eigentliche Gegner der Fragmentist, den sich Lessing »durch die Ein­ seitigkeit der Textauswahl«72 selbst geschaffen hat, um ihn zu widerlegen? Wo könnten sich dann aber Verbindungen zu dem Autor der Apologie ergeben? Karl S. Guthke ist dieser Frage anhand des zweiten Fragments nachgegangen, das Lessing unter dem Titel Unmöglichkeit einer Offenbarung, die alle Menschen auf eine gegründete Art glauben könnten im Jahr 1777 veröffentlicht hat.73 In der Tat lassen sich eine Reihe von gedanklichen Übereinstimmungen und »eventuellen«, auch »differenzierenden Affinitäten« zwischen diesem Fragment und Lessings Drama aufdecken, vor allem was die − im Titel des Beitrags angekündigte − »mul­ tikulturell komparatistische« Perspektive betrifft.74 Von besonderer Bedeutung scheint hier der von Reimarus in die Überlegung einbezogene Wettstreit der Religionen, ein Motiv, für das Lessing »nicht blind gewesen sein kann«, auch wenn ihm − in Erinnerung an Boccaccios Decameron − nur »die Hebammenrolle«75 für seine Version der Ringparabel zukommen sollte. An der betreffenden Stelle erörtert Reimarus den von ihm entschieden abgelehn­ ten Wunsch der kirchlichen Obrigkeit, »in der bürgerlichen Gesellschaft« die (faktische) Duldung von Nichtchristen und die öffentliche Ausübung fremder Bekenntnisse zu verbieten: Wie wollten sie [sc. die Christen] mit dem letztern Satze zusammen reimen, daß sie den Juden und mehrern andern Ungläubigen und Irrgläubigen, welche auch in ihren Augen ewig verdammt sind, dennoch auf dieser Welt unter sich eine öffentliche privilegirte Aus­ übung ihrer Religion verstatten? Christus sagt seinen Jüngern anderwärts: sie sollten das Unkraut wachsen lassen bis zur Erndte; d. i. sie sollten denen, die auch falsche Meinungen hägten und lehrten, ihre menschliche Einsicht und Religionsfreyheit nicht durch gewalt­

72 Hermann Timm: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd.  1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt am Main 1974 (Studien zur Philosophie und Litera­ tur des neunzehnten Jahrhunderts 22), S. 62, sowie Wilhelm G. Jacobs: Gottesbegriff und Geschichts­philosophie in der Sicht Schellings. Stuttgart-Bad Cannstatt 1993 (Spekulation und Erfahrung II 29), S. 63. 73 Und zwar als ein Teil des XX. Stückes Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend im vierten Band seiner Wolfenbütteler Bibliothekszeitschrift: Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel. Vierter Beytrag von Gotthold Ephraim Lessing. Braunschweig: Buchhandlung des Fürstlichen Waysenhauses 1777, S. 288–365. 74 Karl S. Guthke: Von der Geburt des Nathan aus dem Geist der Reimarus-Fragmente. In: Lessing Yearbook 36 (2004/05), S. 13–49, hier S. 14 und 19. 75 Ebd., S. 45 f.



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same Mittel zu benehmen suchen, oder ihr Aufkommen hindern, sondern alles dem künfti­ gen Gerichte Gottes überlassen.

Das Urteil wird hier nicht jenem weisen Mann überlassen, auf den Nathan am Ende seiner Erzählung verweist, sondern einem künftigen Gerichte Gottes, wobei auf Mt 13,24−30 angespielt wird. Gleichwohl kann hier noch, was die Wahl der Bilder und die intendierte consociatio betrifft, von einer »Motivverwandtschaft«76 zwischen Reimarus und Lessing gesprochen werden. Bei einer genaueren Betrachtung der intra- und extratextuellen Kontexte überwiegen jedoch die Differenzen. Das Zitat entstammt nämlich nicht dem Frag­ ment über die Unmöglichkeit einer Offenbarung, sondern dem von Lessing drei Jahre zuvor unter dem programmatischen Titel Von Duldung der Deisten: Fragment eines Ungenannten veröffentlichten Ausschnitt aus der Apologie des Rei­ marus.77 Lessing hat den Text mit einem kurzen Vor- sowie Nachwort gerahmt, in dem er auf das Schicksal von Adam Neuser und die Verfolgung anderer religiöser Dissidenten und Häretiker eingeht.78 Einen umfangreichen Beitrag zur ›Rettung‹ von Adam Neusern, einige authentische Nachrichten79 schickt er dem ReimarusFragment unmittelbar voraus. Es geht also um Toleranz, auch gegenüber »Ungläu­ bigen und Irrgläubigen«, wie es in dem von Guthke angeführten Zitat heißt. Für Reimarus steht demnach nicht, wie bei Lessing, der Wettstreit der Religionen im Blick auf deren moralisch-zivilisatorische Qualität im Vordergrund, sondern die Ausübung nonkonformer religiöser Überzeugungen in einem Staatswesen, das Gedankenfreiheit gewähren soll: »Wenn kein vernünftiges Christenthum, kein Arianer und Socinianer, heutiges Tages mehr geduldet werden will: was haben diejenigen zu hoffen, welche sich blos an die gesunde Vernunft in der Erkenntniß und Verehrung Gottes halten?«80 − mit dieser rhetorischen Frage eröffnet Reima­ rus sein Toleranzfragment. Das in den Text eingelassene biblische Zitat gehört in diesen weiteren Kontext. In den akademischen Toleranzdebatten bildete das Gleichnis vom Unkraut zwischen dem Weizen (Mt 13,30: »Lasset beides miteinander wachsen bis zu der Ernte«) den Ausgangspunkt zur Erörterung kirchenrechtlicher Fragen, die den Umgang mit anderen Konfessionen, Religionen oder Ketzern betrafen.

76 Ebd., S. 45. 77 Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfen­büttel. Dritter Beytrag von Gotthold Ephraim Lessing. Braunschweig: Buchhandlung des Fürstlichen Waysenhauses 1774, S. 198–221, Zitat S. 216. 78 Ebd., S. 197 f. und 221–226. 79 Ebd., S. 121–194. 80 Ebd., S. 198.

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Der prominente Theologe Christoph Matthäus Pfaff ließ 1737 unter seinem Vorsitz eine Dissertation De zizaniis non evellendis, ad Matth. 24. sqq. sive de tolerantia diversarum verteidigen, die zeigt, wie die reimarussche Wendung vom ›künftigen Gerichte Gottes‹ zur Illustration und Bestätigung staatskirchenrechtlicher Ent­ scheidungen eingesetzt wurde: »verba textûs [Mt 13,24−30] esse planè empha­ tica: finite utraque crescere usque ad tempus messis«.81 Wenn dagegen der weise Richter im Nathan die Frage nach der Wahrheit der Religionen einige tausend Jahre aufschiebt, wird das endzeitliche Gericht zur sittlichen Motivation in der gelebten Gegenwart: Die Religionen bestehen, doch ihre Anhänger haben sich stets neu im Glauben und Handeln zu bewähren.

3.3 Italienreise Kurz nachdem der Nathan im Druck erschienen war, schrieb Philipp Freiherr von Gebler, ein Bewunderer des Autors, an Friedrich Nicolai: »Doch wie kömmt unser Freund Lessing zu theologischen Abhandlungen? Denn Nathan der Weise schei­ net mit den Fragmenten einen Endzweck zu haben. Möchte er uns lieber seine in Italien gesammleten antiquarischen Schätze mittheilen!«82 Gebler vermutet zu Recht, dass Lessings 1775 absolvierte Italienreise ihn an den Plan zu einem Drama erinnert haben musste, den er kurz nach der Reise wieder aufgenommen hat. Dazu dürften die angesprochenen Reisesouvenirs etwas beigetragen haben, denn zu den mitgebrachten Büchern gehörte auch die Istoria del Decamerone di Giovanni Boccaccio von Domenico Maria Manni, die 1742 in Florenz erschienen war.83

81 Christoph Matthäus Pfaff (Praes.), Johann Friedrich Volz, Johann Matthäus Fischer, Jacob Friedrich Lemp (Resp.): Dissertatio Theologica Eademque Juris Ecclesiastici De Zizaniis Non Evellendis, ad Matth. 24. sqq. Sive De Tolerantia Diversarum In Eodem Territorio Religionum adversus cel. Viri Jo. Petri Bannizæ […]. Tubingæ 1737, S. 6 [Hervorh. nicht berücksichtigt]; vgl. auch den Kommentar von Fausto Parente: Hermann S. Reimarus. I frammenti dell’Anonimo di Wolfenbüttel pubblicati da G. E. Lessing. Napoli 1977, S. 103, Anm. 23. − Pfaffs Ausführungen zur Gewissensfreiheit im Zusammenhang der juristisch-theologischen Debatten der Zeit behandelt Matthias J. Fritsch: Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung − konfessionelle Differenzen. Hamburg 2004 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 28), S. 213– 230. 82 Philipp Freiherr von Gebler an Friedrich Nicolai, 15. Juni 1779. In: FA 8, S. 900. 83 Paul Raabe und Barbara Strutz: Lessings Bucherwerbungen. Verzeichnis der in der Herzog­ lichen Bibliothek Wolfenbüttel angeschafften Bücher und Zeitschriften 1770−1781. Göt­tingen 2004, S. 188, Nr. 610 [fehlerhafte Aufnahme des ital. Titels].



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Abb. 1: Titelblatt der Istoria del Decamerone von Domenico Maria Manni. Exemplar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Signatur: Lk 4° 37. Abdruck mit Genehmigung der Bibliothek.

Der Verfasser war Mitglied der Accademia della Crusca in Florenz, Bibliothekar der Libreria Stroziana (Strozzi) und wie Lessing ein Philologe mit dem Hang zur Polemik, die er bei der Korrektur überlieferter Irrtümer zum Einsatz brachte. Der dritte Teil seiner Geschichte des Decameron ist der langen Reihe von Zensur­ maßnahmen und Purgationen gewidmet, denen der Text Boccaccios ausgesetzt gewesen ist: »Es war dies der erste Versuch einer ›Rettung‹ Boccaccios, ihn von der Anklage, die christliche Religion […] eingerissen zu haben, freizusprechen.«84

84 Ritter Santini (Anm. 26), S. 461.

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Die ganz im Sinne der lessingschen ›Rettungen‹ erfolgte Rehabilitation des Renaissanceautors findet ihre Würdigung in der Adaptation der Ringparabel. Bemerkenswert ist noch ein weiteres Detail. In einem späteren Werk, der kom­ mentierten Neuedition des Novellino (1778/82), hat sich Manni eingehend mit dem Gerücht auseinandergesetzt, Boccaccio sei der Verfasser des als freigeistig, ja als atheistisch geltenden Traktats De tribus impostoribus (dessen Titel auch der Richter in Lessings Parabel anklingen lässt), wofür die Erzählung des Melchisedech als Indiz genommen wurde.85 Es ist nicht auszuschließen, dass Lessing auf seiner Reise von dieser Edition und der über das Betrüger-Buch geführten Diskussion erfahren hat.86 Um den Verdacht der Verfasserschaft von Boccaccio abzuwenden, bediente sich Manni der Recherchen von Antonio Magliabechi (1633−1714), einem gelehrten Bibliothekar und Korrespondenzpartner von Leibniz, der im Auftrag des Kardinals Francesco Maria de’ Medici (1660−1711) eine nüchterne bibliographie raisonnée zu dem gottlosen Traktat verfasst hat, der für die Zeitgenossen (und noch lange darüber hinaus87) ein bibliografisches Phantom darstellte. Die römische Kurie reagierte »in gewisser Weise aufgeklärt«.88 Sollte Lessing diese Zusammenhänge gekannt haben, was zu vermuten ist, dürfte er sich über einen von Johann Melchior Goeze angestellten Vergleich besonders amüsiert haben. In einer unter dem Titel Lessings Schwächen erschienenen Streitschrift rief dieser den Wolfenbütteler Bib­ liothekar mit einem »Nun, ›vestram fidem Eruditi!‹« zur Ordnung, um der Mahnung mit einem Hinweis auf den berühmten Bibliothekar aus Florenz89 − welcher auch

85 Vgl. Germana Ernst: Introduzione. In: I tre Impostori. Mosè, Gesù, Maometto. Mit einer Einleitung und einem Kommentar hg. von ders. Übersetzt von Luigi Alfinito. 2. Aufl. Neapel 2009, S. 5–30, bes. S. 9: »Fra i ›sospettatti‹ rientravano letterati come Poggio Bracciolini, Machiavelli, l’Aretino, e non mancava Boccaccio, che, rilanciando la parabola dei tre anelli, sembrava sostenere quanto meno un punto di vista di indifferenza religiosa.« 86 Dazu im Detail Klaus Ley: Die Ringparabel und der ›katholische‹ Lessing. Zur Deutungs­ geschichte von Decameron I, 3 in Italien vor der Abfassung von Nathan der Weise. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 56 (2006), S. 381–403, hier S. 386. 87 Bis hin zu Friedrich Niewöhner: Veritas sive Varietas. Lessings Toleranzparabel und das Buch Von den drei Betrügern. Heidelberg 1988 (Bibliothek der Aufklärung 5). 88 Ley (Anm. 86), S. 398. 89 In seinem Polyhistor, literarius, philosophicus et practicus hat Daniel Georg Morhof Magliabechi entsprechend gewürdigt: »Nostro tempore Antonius Maliabeccus foris multis per totum orbem literatum virorum doctorum amicitiis innotuit; domi ex omni gente virorum doctorum concursus est […].« Zit. nach der postum edierten Ausgabe von Johann Möller (Erster Band. Lübeck 1708, S. 183). Dabei ging dem Bibliothekar der Ruf eines skurrilen Gelehrten voraus, wie in den Kompendien der Historia literaria nachzulesen ist; vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling: Vollständige Historie der Gelahrheit […]. Vierter und letzter Theil. Franckfurth, Leipzig 1736, S. 5173 f.: »Nebstdem zog er sich, selten, aus; Sondern legte sich, immer, in Kleidern, nieder. Dargegen hatte er eine solche Memorie, daß man sogar gesagt; Er wäre eine Bibliotheca Viva.



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bei der lutherischen Orthodoxie hohes Ansehen genoss90 − Nachdruck zu verlei­ hen: Wie viel der gelehrten Welt höchstschätzbare Werke würden zurückgeblieben sein, wenn ein Maggliabechi, wenn andre große Gelehrte, denen öffentliche Bibliotheken zur Aufsicht anver­ trauet worden, oder die selbst zahlreiche Sammlungen besessen, so gedacht, so gehandelt, wie Herr Leßing?91

3.4 Zur Aktualität der Ringparabel Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein wird Toleranz vor allem als ein staats­ theoretisches Problem behandelt und im Rechtsdenken verankert; der Begriff reduziert sich hier weitgehend auf den »negativen Sinn der Duldung«.92 Toleranz gilt als eine Pflicht des Souveräns und als ein Gebot der Staatsräson  − solche aus der Pluralität der Konfessionen erwachsenen Grundsatzfragen wurden etwa von Theophil Lessing (1647−1735) behandelt, dem Großvater des Nathan-Dich­ ters. Als Student der Jurisprudenz hat dieser 1669 in Leipzig eine Disputation drucken lassen, in der er der Frage nachging, inwieweit die Obrigkeit verschie­ dene Bekenntnisse dulden könne (De Religionum Tolerantia), selbstverständlich beschränkt auf »innerchristliche Verhältnisse«93 und ohne diese (im Sinne einer approbatio94) anzuerkennen. Bei seinem Enkel, Gotthold Ephraim, verlagert sich

Hauptsächlich aber war er, in Re Literaria, Versatissimus. […] Wenn man hiernächst, in sein Haus, kam, lagen, die ganze Treppe hinauf, Bücher. Auf seinem Rocke, hergegen waren Flecken, so gros, wie Asia, Africa und Europa. Solchergestalt kann Einer auch eine berühmte Sau sein.« [Hervorh. nicht berücksichtigt] 90 Der mit der jüngeren Ketzergeschichte gut vertraute Ernst Salomon Cyprian, Verfasser einer Vita et philosophia Th. Campanellae, tauschte sich brieflich mit Magliabechi über dessen Kennt­ nisse der »manoscritti campanelliani« aus; vgl. Margerita Palumbo: Ernst Salomon Cyprian, biografo di Tommaso Campanella. In: Laboratorio Campanella. Biografia, contesti, iniziative in corso. Hg. von Germana Ernst und Caterina Fiorani. Rom 2007 (Pubblicazioni della Fondazione Camillo Caetani. Studi e documenti d’archivio 14), S. 137–159, bes. S. 148. 91 FA 9, S. 178 f.; Hinweis bei Ley (Anm. 86), S. 398. 92 Alexander Altmann: Gewissensfreiheit und Toleranz. Eine begriffsgeschichtliche Unter­ suchung. In: Mendelssohn-Studien 4 (1979), S. 8–46, hier S. 45. 93 Walter Sparn: Nathan der Weise. Lessings Inszenierung religiöser Toleranz. In: Religious Turns  − Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse  − Neue religiöse Wissensformen. Hg. von Andreas Nehring und Joachim Valentin. Stuttgart 2008 (ReligionsKulturen 1), S. 220–241, hier S. 224. 94 Zu diesem Text, der Gattung der politischen Dissertation und dem Verwendungszweck vgl. Hanspeter Marti: Konfessionalität und Toleranz. Zur historiographischen Topik der Früh-

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100  Jahre später die Problemstellung von der Religionspolitik in den Bereich gesellschaftlicher Praxis, ihm geht es (und im Nathan wird das vielleicht erstmals prägnant gefasst95) um etwas, das sich dem taktischen Machtinteresse des Herrschers anzubieten scheint − und gleichwohl entzieht. Bei Lessing wird die Frage nach den Formen und der Konkurrenz religiöser Identitäten in einer Weise thematisiert, die über das 18. Jahrhundert hinausweist. Sollte in unserer Gegenwart der Übergang in eine ›postsäkulare‹ Gesellschaft bereits vollzogen sein, dann haben wir uns auf die Anliegen von Glaubensgemein­ schaften mit einem Gespür für die Aussage- und Ausdruckskraft der tradierten religiösen Rede einzustellen – ganz so, wie von Lessing gefordert. Das kann nur im Modus der Übersetzung geschehen, einer stets notwendigen Neuaneignung. Damit sind die beiden wichtigsten Stichworte genannt, die in den gegenwärtig geführten Debatten um ein humanes Ethos von Toleranz mit einiger Regelmäßig­ keit wiederkehren: Traditionsaneignung und Übersetzung. Wie soll die postsäku­ lare Gesellschaft auf die Pluralisierung religiöser Überzeugungen und ein daraus entstehendes Konfliktpotenzial reagieren? Wohl noch immer mit den Geboten der Neutralität und wechselseitigen Toleranz, wie sie im Zusammenhang mit der Konfessionsspaltung im Europa der Frühen Neuzeit entstanden und von Lessing in ihrer ganzen Problemtiefe dargestellt worden sind. Für den Umgang mit Plu­ ralität haben sich diese Einsichten und normativen Vorstellungen in den westli­ chen Gesellschaften bewährt. Den Einzelnen können sie in Fragen seiner Welt­ sicht allerdings nicht von Unsicherheit und Kontingenz entlasten. Auch das hat Lessing gesehen − und zur Ergebenheit geraten.

­ euzeitforschung. In: Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Hg. von Herbert n Jaumann. Berlin, New York 2011, S. 409–439, hier S. 410 f. 95 Den Gründen für diese Verlagerung wäre gesondert nachzugehen; weiterführend hierzu Gerald Hartung: Das Ende der Toleranz? Ein Versuch über die Geschichte des Toleranzbegriffs. In: Erzählende Vernunft. Hg. von Günter Frank, Anja Hallacker und Sebastian Lalla. Berlin 2006, S. 353–366, bes. S. 357 ff.

Francesca Tucci

Nathan und die Ringparabel im Kontext antisemitischer Lessing-Darstellungen Eugen Dühring und Sebastian Brunner

Im Folgenden möchte ich zwei Fälle antisemitischer Lessing-Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich vorstellen. Dabei stehen Nathan der Weise und der Toleranzdiskurs, der mit diesem Werk verbunden ist, im Mittelpunkt der schwersten antijüdisch motivierten Angriffe auf die Gallionsfigur der deutschen Aufklärung. Das typische Argument von anti­ semitisch orientierten Polemikern, Lessings Plädoyer für eine allgemeine Men­ schenreligion jenseits der unterschiedlichen Bekenntnisse laufe auf eine »ver­ allgemeinerte Judenreligion«1 hinaus (so z. B. Eugen Dühring), findet in Nathan eine ideale Zielscheibe, die sich sowohl für einen katholischen Antisemiten wie Sebastian Brunner als auch für einen Vertreter des sogenannten »Racenantisemi­ tismus« wie Dühring als besonders kongenial erweist. Brunner sieht in Lessings Forderung nach paritären Beziehungen unter den monotheistischen Religionen einen Rest des verhassten Josephinismus sowie die Relativierung des auf den tra­ ditionellen Stereotypen antisemitischer Propaganda beruhenden katholischen Primats verwirklicht. Dühring hinwieder wirft Lessing nicht nur eine grundsätzli­ che Sympathie gegenüber dem vor, was ihm das jüdische Wesen zu sein scheint, vielmehr prangert er im gesamten Spätwerk Lessings die Tatsache an, dass sich der Philosoph und Dramatiker überhaupt auf ein religiös orientiertes Argumen­ tationsverfahren einlässt. Dabei ist von Brunner und Dühring zweifellos Letzterer derjenige, dessen Denken systematischere Züge aufweist und stichpunktartig auf mehr oder weniger zusammenhängende Weise dargestellt werden kann2 – galt er doch noch lange bevor Theodor Lessing ihm die obsessive Fixierung auf ein Hassobjekt bescheinigte,3 als führender und berüchtigter Theoretiker des Antisemitismus in der Gründerzeit. Ich werde mich also (I) einigen philosophischen und kulturkri­

1 Eugen Dühring: Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage. Mit einer welt­geschicht­ lichen Antwort. Karlsruhe, Leipzig 1881, S. 70. 2 Zur Orientierung vgl. Peggy Cosmann: Physiodicee und Weltnemesis. Eugen Dührings physiomoralische Begründung des Moral- und Charakterantisemitismus. Göttingen 2007. 3 Vgl. Theodor Lessing: Dührings Haß. Hannover 1922. Hier wird bei Dühring eine prinzipielle Feindschaft gegenüber sämtlichen Formen von strukturiertem Denken diagnostiziert: »Sein Haß gegen die Juden war Haß gegen das Christentum, ja gegen jegliche Art von Glauben oder

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tischen Grundpositionen Dührings widmen, die für seine Antisemitismus-Theo­ rie relevant sind. Daran anschließend möchte ich zum eigentlichen Lessing-Teil meiner Arbeit übergehen, in dem ich (II) Dührings Schrift Die Ueberschätzung Lessing’s und dessen Anwaltschaft für die Juden (1881)4 sowie (III) Sebastian Brunners Lessingiasis und Nathanologie. Eine Religionsstörung im Lessing- und Nathan-Cultus (1890) behandeln werde.

I Wer sich einen Weg im undurchsichtigen Dickicht von Dührings wirren Gedanken über Anthropologie, Politik und Geschichte bahnen will, der muss sich mit ver­ störenden Vorstellungen und menschenverachtenden Formulierungen ausein­ andersetzen wie etwa: Der ewige Jude, der nach dem Höheren und Edleren nicht aufzuschauen vermag und sich im Niedern durch die Weltgeschichte ruhelos treibt, ist das ganze Volk selbst, beladen mit dem Fluche der Natur, alle andern Völker heimzusuchen und selbst nicht sobald zur Ruhe einzugehen.5

Der Satz stammt aus dem 1881 erschienenen Buch Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage, das mit sechs Neuauflagen bis 1930 zusammen mit der 1865 erstmals veröffentlichten philosophischen Abhandlung Der Werth des Lebens, die bis 1922 insgesamt achtmal auf den Markt kam, zu Dührings erfolgrei­ chen Werken gehört.6 Die Schrift zur Judenfrage ist zeitlich und ideologisch dem sogenannten Berliner Antisemitismusstreit zuzuordnen, der zwischen 1878 und 1879 mitten in einer politischen und wirtschaftlichen Krisensituation im wenige

Glaubensleben; gegen alle Mystik, Musik, Metaphysik, zuletzt gegen die gesamte Seelenwelt des Morgenlandes« (S. 24). 4 Dührings Lessing-Abhandlung sollte 1906 noch eine weitere, »durchgearbeitete und vermehrte« Auf­lage erleben, deren Titel die antisemitische Zuspitzung zugunsten gattungsspezifischer Frage­ stellungen ausblendet: Die Ueberschätzung Lessing’s und seiner Befassung mit Literatur. Zugleich eine neue kritische Dramatheorie. Leipzig 1906. Der Perspektivenwechsel ist allerdings nur schein­bar vollzogen, denn auch in dieser neuen Fassung wird Lessings Gesamtwerk ebenso wie in der ersten Auflage unter dem Gesichtspunkt antisemitischer Stereotypen und Ressentiments präsentiert. 5 Dühring: Judenfrage (Anm. 1), S. 113. 6 Den Werdegang Dührings hat Brigitta Mogge: Rhetorik des Hasses. Eugen Dühring und die Genese seines antisemitischen Wortschatzes. Neuss 1977 im einführenden Teil ihrer Studie (S. 13–64) anhand einer materialreichen Dokumentation skizziert.



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Jahre zuvor entstandenen Kaiserreich entflammte.7 Adolf Stoeckers und Heinrich von Treitschkes Hetzreden sowie die von Bernhard Förster und Max Liebermann von Sonnenberg 1880 in die Wege geleitete Petition zur Ausschaltung sämtlicher Juden aus dem öffentlichen Leben in Deutschland stützen sich auf das gleiche Gedankenrepertoire wie Dührings Äußerungen zur Selbstsucht und Machtbeses­ senheit der Juden. Dühring greift konsequent auf die im Antisemitismus-Diskurs um die Jahrhundertwende geläufige Lebensalter-Metapher zurück. Dementspre­ chend wird das Judentum als unfruchtbare Untergangserscheinung dargestellt, die nur der Erhaltung des Bestehenden diene. Im Gegensatz dazu würden sich die Deutschen durch ein jugendliches, zukunftsfähiges Wesen auszeichnen, von dem »der Ersatz der Religion durch ein Vollkommeneres und die Ausscheidung alles Judenthums durch den modernen Völkergeist« zu erwarten sei, wie der Titel einer weiteren antisemitischen Schrift Dührings lautet.8 Die durch die Herrschaft der Religion geprägte Weltordnung soll durch ein höheres Prinzip aufgelöst werden, das ganz offensichtlich auf einem absoluten Machtanspruch gründet. Dühring bezeichnet diese exklusive Instanz als »Geistesführung« und stellt sie als Rege­ nerationsfantasie dar, die zwar einiges mit den elitären Vorstellungen des kul­ turkritischen Konservativismus in der Moderne gemeinsam hat, deren aggressive und menschenfeindliche Züge jedoch auf eine ganz andere historisch-politische Landschaft vorauszuweisen scheinen: Die Vertreter der bessern Geistesführung werden im Namen des modernen Völkergeistes zu reden und thätig zu sein haben. […] Nun sollen nicht nur frühere, wenigstens in irgend einer Beziehung unvollkommenere Typen aus dem Dasein verschwunden sein, sondern es sollen auch die entsprechenden geistigen Typen weichen, um durch bessere ersetzt zu werden.9

Diese Typenlehre, die Dührings gesamtem Denken zugrunde liegt, bedingt seinen Antisemitismus insofern, als er das Judentum nicht mit historisch definierbaren Umständen sozialer, politischer oder religiöser Art, sondern eben mit anthropo­ logischen Konstanten in Verbindung bringt, die auf eine rassistische Definition der jüdischen Wesensart hinauslaufen. Darwins Begriff des Daseinskampfes weist Dühring zurück, weil die Selektion aus seiner Sicht kontingente Faktoren ins geschichtliche Geschehen einführt, die von der in jeder Typologie bereits

7 Eine kontextualisierende Untersuchung von Dührings Antisemitismus ist Jeanette Jaku­bowski: Eugen Dühring – Antisemit, Antifeminist und Rassist. In: Historische Rassismusforschung. Ideo­ logen  – Täter  – Opfer. Hg. von Barbara Danckwortt, Thorsten Querg und Claudia Schöningh. Hamburg, Berlin 1995, S. 70–89, zu verdanken. 8 Eugen Dühring: Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und die Ausscheidung alles Judenthums durch den modernen Völkergeist. Karlsruhe, Leipzig 1883. 9 Ebd., S. 267.

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von vornherein festgelegten evolutionären Entwicklung abweichen. Die künfti­ gen Seinsstufen eines bestimmten Typus seien nämlich durch das unwandelbare Schicksal bereits vorgegeben. Da den Juden eine unverbesserliche Eigensucht als angeborener Urbesitz zugeschrieben wird, »giebt es gegen sie«  – so Dühring  – »auch nur eine einzige Politik, nämlich die der äusserlichen Einschränkung, Ein­ pferchung und Abschliessung«.10 Die Beschwörung der Vernichtung kulminiert schließlich in der Abstempelung der Juden als »ein inneres Carthago, dessen Macht die modernen Völker brechen müssen, um nicht selbst von ihm eine Zer­ störung ihrer sittlichen und materiellen Grundlagen zu erleiden«.11 Dührings Typenlehre ist mit einer radikalen Kritik an der Religion verbunden. Insbeson­ dere das christliche Postulat der Feindesliebe beruhe auf einer fatalen Unkennt­ nis der menschlichen Natur. Die einzig akzeptable, naturgegebene Moral, die Dühring als die »Physiomoral« bezeichnet, werde im Christentum außer Kraft gesetzt und umgekehrt. Dies geschehe zulasten des Ressentiments, des eigentli­ chen dynamischen Prinzips, das sich förderlich auf Menschen auswirke. Dühring zufolge sorgt der Wille nach Vergeltung für stabile Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft, weil dadurch das durch eine Gewalttat verletzte Gleichgewicht wiederhergestellt werde. Somit sei die christliche Aufforderung zur Vergebung von feindlich Gesinnten einer antisozialen Einstellung gleichzustellen, die dem Unrecht zur Geltung verhilft. Dühring bemüht sich dabei, auch die Ablehnung des christlichen Liebesbe­ griffs antisemitisch zu begründen. Christus wird als radikaler Reformer darge­ stellt, der den im Alten Testament wiederholt zu beobachtenden Missbrauch der Religion als Machtinstrument um jeden Preis verhindern wollte. Das auf Geschäft und Gewinn angelegte jüdische Wesen, so Dühring, habe sogar aus der Bezie­ hung zu Gott eine gewinnbringende Angelegenheit gemacht, indem sie durch die zehn Gebote sozusagen vertraglich normiert wurde: »Die Judenrace, die Alles zum Handel macht, verhandelt auch ihren Gehorsam gegen Jehowah.«12 Christus habe also empört auf diesen Missstand reagiert und ihn durch eine entgegen­ gesetzte Lehre zu beheben versucht, die wiederum ins andere Extrem verfallen sei. Insofern sei der Anspruch auf undifferenzierte Liebe gegenüber allen Men­ schen als »Selbstverwerfung der jüdischen Selbstsucht […] etwas Vorgeschriebe­ nes und durchaus Künstliches«, das als solches »einen vorzugsweise negativen

10 Dühring: Judenfrage (Anm. 1), S. 114. 11 Ebd., S. 158. 12 Dühring: Ersatz der Religion (Anm. 8), S. 58.



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Ursprung haben« muss.13 Angesichts der Gefahr, die von der jüdischen Macht­ politik ausgehe, tue eine »Entjudung«14 not, die Dühring mit sichtlicher Lust an der Erfindung von peniblen Ausgrenzungsmaßnahmen und deutlich sadisti­ schen Zügen in allen möglichen Bereichen des öffentlichen Lebens in Deutsch­ land heraufbeschwört. Das Hauptanliegen seiner Lessing-Schrift besteht darin, Toleranz und Gleichberechtigung von sozialen Gruppen als instrumentalisierte Forderungen im Dienste parteiischer Interessen zu entlarven, indem Lessings dichterisches Werk und seine Weltanschauung hinterfragt, diffamiert, ja völlig zunichtegemacht werden.

II Im Hinblick auf das Trauerspiel Emilia Galotti stellt Dühring fest, dass Lessing »das Verständniss der Gefühle und speciell das der Gefühle arischer Völker, voll­ ends aber der modernen Nationaltypen«15 fehle. Als untalentiertem Dichter hafte Lessing eine grundsätzliche Grobheit an, die ihn zu einem ständigen Schwan­ ken zwischen zwei Extremen zwinge. Einerseits wirft Dühring dem verhassten Lessing vor, einer pervertierten, rein sinnlichen Auffassung der Gefühle Zuge­ ständnisse zu machen, die in den niedrigsten, tierischen Empfindungen stecken bleibe. Andererseits prangert er die Unfähigkeit des Dramaturgen an, bei seinem Publikum echte Gefühle zu erregen. Ungeachtet all seiner Überlegungen zu einer theatralischen Wirkungsästhetik würden seine Dramen den Zuschauer bzw. Leser kaltlassen. Als Beispiele für sein Schwanken zwischen Ergebung und Ver­ drängung bei Lustgefühlen zieht Dühring die Andeutung Emilias auf ihr warmes Blut in der Tragödie heran16 sowie die berühmte, im Brief vom 26. Oktober 1774 an

13 Ebd., S. 26. 14 Dühring: Judenfrage (Anm. 1), S. 119. 15 Dühring: Ueberschätzung Lessing’s (Anm. 4), S. 15. 16 »Emilia traut sich nicht zu, der Verführung widerstehen zu können. Sie fürchte nicht die Gewalt; aber sie erklärt ausdrücklich ihrem Vater, sie habe Sinne. Das Haus der Grimaldis sei ein Haus der Freude. Der Dolch, den ihr der Vater mitgeben will, kann ihr daher ein­gestande­ner­ maassen nichts helfen. Ihr fehlt die Zuversicht zu sich selbst, im Nothfall den Willen zu finden, ihn zu gebrauchen. In ihr herrscht also Sinnlichkeit und fehlt jegliches Höhere, was sie, in einer auf sich selbst angewiesenen Isolirung, fähig machte, ihre Ehre und mit dieser zugleich die ihrer ganzen Familie zu wahren. Solche Schwächlichkeit darf nun offenbar da nicht walten, wo eine Heldin vorhanden sein soll. In welchem Grade aber die blosse Sinnlichkeit bei ihr vorwaltet und wie wenig sie zu einem idealeren Aufschwung des Gefühls fähig ist, geht noch besonders daraus hervor, dass sie jene Aeusserungen und speciell auch die von jenem Hause der Freude Angesichts der eben erst an ihrer Seite erfolgten Ermordung des Grafen Appiani, des ihr anzutrauenden

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Johann Joachim Eschenburg überlieferte Aufforderung Lessings an Goethe, die Leiden des jungen Werther mit einem möglichst zynischen Schluss zu versehen.17 Trotz dieser und anderer Mängel erklärt Dühring Emilia Galotti immerhin für »das verhältnismäßig Beste oder, richtiger gesagt, das am wenigsten Schlechte, was Lessing an sogenannter Poesie geliefert hat«.18 Dies gelte jedoch keineswegs für seinen Nathan. Letzterer sei »nur der Form nach ein Schauspiel«, dem inneren Kern nach aber sei er nichts anderes als »eine tendenziöse Abhandlung für die Judenherrlichkeit und die Judendenkweise«.19 Selbst wenn es sich dabei um kein Auftragswerk gehandelt haben sollte, wäre Nathan der Weise ohne eine innige Verwandtschaft zwischen ihm und dem Jüdischen kaum denkbar. Im Nathan trete die ganze Unzulänglichkeit Lessings als Dichter, Kritiker, Aufklärer und Mensch zutage. Lessings Originalitätsmangel sei dadurch bewiesen, dass er die Geschichte seines weisen Juden nicht einmal erfunden habe, da es bei Nathan schlicht und einfach um die Aneignung der Melchisedech-Novelle von Boccaccio und deren Entstellung um des Judentums willen gehe.

Gemahls, zu thun vermag. In solcher Situation die Macht der Sinne veranschlagen und den freiwilligen Fall voraussehen, – das verräth eine Art der Liebe, die in den niedrigen Regionen haust, und stimmt übrigens ganz und gar nicht zu dem Schein von Energie, vermöge dessen es das Aussehen bekommen soll, als wollte sich Emilia ernsthaft selbst erstechen. Dies sind also Unwahrheiten im Charakter, welche, wenn bemerkt, die Theilnahme für den angeblich tragischen Gegenstand sehr herabstimmen müssen. Noch mehr müssen sie aber den Künstler des Dramas blosstellen; denn sie enthüllen seine eigne Denk- und Gefühlsweise, die sich in seinen Idealen oder, um angemessen nicht zu edel zu reden, in seinen Gebilden von Personnagen spiegeln muss« (Dühring: Ueberschätzung Lessing’s [Anm. 4], S. 12). 17 »Wenn aber ein so warmes Produkt [sc. Goethes Roman] nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll: meinen Sie nicht, daß es noch eine kleine kalte Schlußrede haben müßte? Ein paar Winke hintenher, wie Werther zu einem so abenteuerlichen Charakter gekommen; wie ein andrer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich dafür zu bewahren habe. […] Also, lieber Göthe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse; und je cynischer je besser!« (Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt am Main 1985–2003, hier Bd.  11/2, S. 667). Lessings Aussage kommentiert Dühring ausdrücklich antisemitisch: »Man kann nun schon im Namen Goethes […] antworten, dass irgend ein vorwitziger Judenjüngling, aber auch nur ein solcher oder ein ihm ähnliches Sujet, sich nach dem Recept Lessings zu helfen aufgelegt sein möchte. Ein solcher Jüngling würde auch in der Ausführung eines cynischen Schlusses mit Lessing, der damals kein Jüngling mehr, sondern schon Mitte der Vierziger war, am besten haben wetteifern können. In der That hat Lessing mit seinen Aeusserungen die Gemeinschaft mit der sich durch auserwählte Bockseligkeit und Geilfrechheit auszeichnenden Sinnesart der Hebräer hier schönstens verrathen« (Dühring: Ueberschätzung Lessing’s [Anm. 4], S. 14). 18 Dühring: Ueberschätzung Lessing’s (Anm. 4), S. 3 f. 19 Ebd., S. 70.



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Gerade im novellistischen Kern des Dramas, wo der Toleranzgedanke seinen Höhepunkt erreicht, sei Lessings eigentliche Absicht verborgen. Dühring zufolge habe schon Boccaccio das Judentum in einem günstigeren Licht dargestellt als die anderen Religionen. In der von Melchisedech erzählten Parabel sei der Hinweis auf die Echtheit des ursprünglichen Rings rein chronologisch als implizite Aner­ kennung der jüdischen Überlegenheit gegenüber späteren Religionen zu deuten. Christentum und Islam seien die falschen Ringe, die der Vater seinen Söhnen zuliebe anfertigen ließ. Boccaccio habe allerdings aus einer religionskritischen oder gar antiklerikalen Perspektive geschrieben, was nicht dazu berechtige, aus ihm einen Verfechter des Judentums zu machen. Seine Erzählung wolle keine religiöse Polemik betreiben, sondern im Geiste des Humanismus die menschliche ›argutia‹ verherrlichen, die es Melchisedech ermöglicht, sich aus der Schlinge zu ziehen und von Saladin noch mehr geschätzt zu werden als vorher. Insofern sei Melchisedech ein »verschmitzter«20 Jude, bei dem es nicht auf eine bestimmte religiöse Überzeugung oder ethnische Zugehörigkeit ankomme, sondern auf die Fähigkeit, aus der jeweiligen Situation den größtmöglichen Gewinn zu schöp­ fen. Aus diesem Grund bliebe der Jude im Decameron viel glaubwürdiger als im Nathan, der keinen richtigen Charakter darstelle, sondern eher eine »Chimäre«21 verkörpere. Boccaccio hätte sich außerdem bemüht, seine Judenfigur Melchi­ sedech nicht nur als einen klugen, schlagfertigen Mann, sondern auch und vor allem als einen moralisch integren Menschen darzustellen. Lessing unterstellt Dühring eine besonders listige Strategie, die er erwar­ tungsgemäß als typisch jüdisch einstuft. Der weise Nathan hätte keine Ent­ sprechung in der Realität, da er eigentlich ein »Theaterjude« sei, wie Sebastian Brunner ihn bezeichnen wird.22 Er sei von Lessing künstlich zusammengebastelt,

20 Ebd., S. 76. 21 Ebd., S. 79. 22 Den zweiten Teil seiner Lessing-Polemik führt Brunner durch krasseste antisemitische Äußerungen zum künstlichen Charakter Nathans ein: »Reform- und Talmudjuden wollen den ›dummen Goyim‹ weismachen, Lessing habe sich den ›edlen, toleranzigen Mendelssohn‹ bei Schilderung seines Nathan zum Muster genommen; durch diese Praktik habe er den Mendelssohn verewigt und ihn der in Nacht und Finsterniß dahinlebenden Menschheit als den ächten ReformMessias vorgestellt. Um dem Bilde dieses Edeljuden eine schwarze, hässliche Unterlage zu geben, dass der ›edle Nathan‹ im Lichte seiner Aufklärung, seiner Toleranz, seiner weltumspannenden Menschenliebe um so strahlenreicher erscheinen könne, wurde der gehasste Pastor Goeze als Patriarch dem Haß und der Verachtung preisgegeben. Der edle Nathan ist der Repräsentant des edlen Judenthums, der verworfene Patriarch der Repräsentant des jämmerlichen, schuftigen […] Christenthums! Jubel in Israel über dieses größte Geisteswerk, welches der Menschheit zum ewigen Ruhme gereicht, denn seit zwei Jahrtausenden hat es noch – keinen solchen Juden gegeben. Aber diese verfluchten Goyim fangen an (durch Millionen weise Nathane aus der

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damit ihm das Publikum Vertrauen und Ehrfurcht entgegenbringt und all seine Äußerungen für unanfechtbar hält. Dühring wird nicht müde, auf Gestaltungs­ verfahren im Nathan hinzuweisen, die angeblich auf die Bevormundung des naiven Publikums abzielen. Nathans Auftritt auf der Bühne sei durch Anspielun­ gen auf seine große Weisheit sorgfältig vorbereitet. Vertreter entgegengesetzter Meinungen und Interessen wie der Patriarch würden systematisch diskreditiert und lächerlich gemacht. Nathans Erhebung über die anderen Figuren habe das Ziel, für eschatologische Theorien jüdischer Provenienz, insbesondere die Hoff­ nung auf einen kommenden Messias, zu werben. Die Gleichstellung der drei Reli­ gionen in der Ringparabel schaffe auf heuchlerische Weise nur eine scheinbare Angleichung. Der Verweis auf einen »weisren Mann«, der nach den Worten des Richters in Nathans Erzählung »auf diesem Stuhle sitzen […] und sprechen«23 wird, beruhe insgeheim auf einer messianischen Vorstellung und sei somit als der Versuch anzusehen, zugunsten eines ideologischen Modells jüdischer Prägung zu argumentieren. Die moralische Überlegenheit Nathans setze Lessing also zur Legitimierung des jüdischen Anspruchs auf Weltherrschaft ein  – ein Anliegen, das offensichtlich weniger mit einer verborgenen Seite der Aufklärung als viel­ mehr mit der Geschichte des Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert zu tun hat. Dührings stures Beharren auf der vermeintlichen Voreingenommenheit Lessings beruht nicht nur auf bizarren Vorstellungen und apodiktischen Aussa­ gen, sondern führt ihn auch auf interpretatorische Abwege und verleitet ihn zu einer charakteristischen Einseitigkeit. Während er z. B. den Umstand, dass sich in Boccaccios Novelle die Einzigartigkeit des echten Rings als ein positiv konno­ tiertes Zeichen von Authentizität lesen lässt, als ein Plädoyer für das Judentum wertet, erwähnt Dühring mit keinem Wort die Tatsache, dass Lessings Richter hingegen eine solche Vorstellung eindeutig zurückweist. Mit dem »Einen Ring« nämlich, so der Richter in der Parabel, hänge »eine Tyrannei« zusammen, die der Vater in seiner Großherzigkeit »nicht länger / In seinem Hause dulden«24 wollte. Dühring fehlt also jede Bereitschaft, Nathan und die Ringparabel text­ immanent zu verstehen. Lessing gilt ihm als verkappter Anhänger des Judentums und der Kult um sein Werk als Produkt einer jüdischen Kampagne. Das geläufige Bild von Lessing als weisem Aufklärer und Anwalt der Humanität sei anhand der

Verbrecherstatistik belehrt), an der Weisheit und Menschenliebe des Nathan zu zweifeln, weil ein Theaterjude doch am Ende gegenüber dem hereinbrechenden Heere der Verbrecherstatistik sich gar nicht mehr halten kann« (Sebastian Brunner: Lessingiasis und Nathanologie. Eine Religionsstörung im Lessing- und Nathan-Cultus. Paderborn 1890, S. 135). 23 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Lessing (Anm. 17), Bd.  9, S. 559 f. (III 7, 536 f.). 24 Ebd., S. 559 (III 7, 520 f.).



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Titelfigur seines letzten Dramas mit der Absicht geschaffen worden, jüdischen Herrschaftsansprüchen einen unanfechtbaren Eideshelfer zu gewähren. Lessings Popularität sei darum untrennbar mit der jüdischen Frage verbunden. Die Lösung Letzterer werde deshalb auch das Ende Ersterer mit sich bringen: Nicht als Vertreter der Literatur, sondern als Anwalt des Judenthums hat Lessing eine Hauptrolle gespielt und spielt sie mit seiner Hinterlassenschaft bis auf den heutigen Tag. Auch lässt sich mit ziemlicher Sicherheit veranschlagen, dass diese Rolle erst mit der Macht der Judenschaft ein Ende finden werde. Lessing und die Judenrace sind von Anfang an soli­ darisch gewesen.25

III Die Schriften des katholischen Theologen und Wiener Gelehrten Sebastian Brunner (1814–1893) zeugen von seinem Drang zur Universalgelehrtheit, aber auch von seiner radikalen Ablehnung aller Modernisierungserscheinungen.26 Der dem Benediktinerorden angehörende Brunner wirkte zunächst als Kaplan in einem Wiener Vorort, dann ab 1857 als Privatgelehrter ohne weitere Ämter, jedoch keinesfalls in weltfremder Abgeschiedenheit. Das große Interesse, das Brunner der Zeitgeschichte entgegenbrachte, wurde nicht zuletzt durch die diplomati­ schen Aufträge bestätigt, die er bis 1847 von Fürst Metternich erhielt. 1846 reiste Brunner mit einem Empfehlungsschreiben des Kanzlers durch Deutschland und Frankreich mit dem Auftrag, ihn regelmäßig über die politische Situation in den beiden Ländern zu informieren. 1848 setzte sich Brunner durch die Gründung der konservativ orientierten Wiener Kirchenzeitung öffentlich gegen die Revolution und für die endgültige Überwindung des Josephinismus ein. Der Lessing-Verriss von 1890 gehört zum literaturgeschichtlichen Teil seines nahezu unüberschaubaren Gesamtwerkes, das mehrere Wissensbereiche umspannt und auch viele fiktionale Schriften beinhaltet wie etwa patriotische Dichtung und humoristische Romane.27 Dühring selbst sollte ihm einen merk­

25 Dühring: Ueberschätzung Lessing’s (Anm. 4), S. 66 f. 26 Vgl. Erika Weinzierl: On the Pathogenesis of the Anti-Semitism of Sebastian Brunner (1814– 1893). In: Yad Vashem Studies 10 (1974), S. 217–239. 27 Ein Verzeichnis von Brunners bis 1888 veröffentlichten Schriften findet sich in der mit stark apologetischen Zügen belasteten Monografie von Joseph Scheicher: Sebastian Brunner. Ein Lebensbild, zugleich ein Stück Zeit- und Kirchengeschichte. Festgabe zur Secundizfeier des Dr. Phil. et Theol. Sebastian Brunner. Würzburg, Wien 1888, S. 341–348. Zu Brunners Tätigkeit als Romanschriftsteller vgl. Werner M. Bauer: Geniekritik und Restauration. Die Künstlerromane Sebastian Brunners und ihre Bedeutung in der österreichischen Literatur des Vormärz. In: Ders.:

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würdigen interpretatorischen Dienst erweisen, als er 1906 in der zweiten Ausgabe seines Lessing-Buches ausführte, dass der irritierende Titel Lessingiasis und Nathanologie als Anspielung auf das Wort Phthiriasis zu verstehen sei28 und die Abhandlung somit gleichsam eine ärztliche Leistung zur Behebung einer unan­ genehmen Erscheinung erbringen wolle. Dies sei Brunners Ziel.29 Die im Nathan so laut verkündete Toleranzbotschaft sei, wie schon Dühring behauptet hatte, nur eine scheinbare und äußerst trügerische Toleranz, die sich lediglich aus Hassgefühlen speise. Der ganze Nathan wird übrigens von Brunner als »Werk der Rache«30 abgewertet. Das Einzige, was diese »abstrakte Toleranz«, eine »einseitige und oberflächliche Toleranz des Verstandes«, stiften kann, sei ein »Abbild der wahren, der christlichen Toleranz«.31 Die in der Ringparabel geforderte Duldsamkeit betreffe nur Juden und Muslime, während Christen von diesem ökumenischen Friedenspakt eher ausgeschlossen blieben. »Unduldsam­ keit« sei im Grunde genommen alles, was der Nathan »gegen das Christenthum zeigt und lehrt«.32 Im Gegensatz zu Dühring besteht Brunner allerdings nicht auf einer mög­ lichen jüdischen Abstammung Lessings, sondern eher auf einer pragmatischen Interessenkonvergenz zwischen Lessing und dem Judentum. Beide Parteien seien ein Bündnis eingegangen, das auf gegenseitiger Unterstützung beruhe. Lessing habe insbesondere unter der Tarnkappe des Toleranzdiskurses ungestört seine deistischen Vorstellungen verbreiten können, die angeblich einer freimaureri­

Aus dem Windschatten. Studien und Aufsätze zur Geschichte der Literatur. Innsbruck 2004, S. 151–186. 28 Dühring: Ueberschätzung Lessing’s (Anm. 4), S. 106. Brunner selbst lässt Dührings Verdiensten um die Diffamierung Lessings gleich in einigen einleitenden Versen die gebührende Anerkennung zukommen: »Es gaukelt in der Bretterbude / Herum ein parfümierter Jude, / Er ist so edel und tugendreich, / Daß ihm kein andrer Jude gleich; / Bekanntlich ist ein Christ sein Vater, / Der ihn frisirt hat für’s Theater. / Hier steht gedrängt in kurzem Spruch, / Was Dühring sagt in seinem Buch« (Brunner: Lessingiasis [Anm. 22], S. 134). 29 Brunners eigene Zielsetzung wird in einer verstörenden, in eine unfreiwillige Parodie mün­ denden Absichtserklärung dargelegt: »Auch wir wollen Lessing kennen lernen, freilich nicht den Verhimmelten, den mit Mythenglanz umflossenen, den nimbusumstrahlten, den kunstreich gemalten, den aufgeputzten, zugestutzten, Weisheit blitzenden, Toleranz schwitzenden, zur Gott­heit gemachten, als Aufklärungsmessias gedachten, Flügel schwingenden, Licht bringen­ den, Apostel umrungenen, von Dichtern besungenen, hochgelehrten, preisenswerthen, Alles über­ragenden, Wahnbild zerschlagenden, Himmelssturm wagenden,  – sondern wir wollen ihn kennen lernen, wie er wirklich leib- und geisthaftig gewesen ist: den historischen Lessing« (Brun­ner: Lessingiasis [Anm. 22], S. 35). 30 Ebd., S. 40. 31 Ebd., S. 261. 32 Ebd., S. 267.



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schen Weltanschauung entstammen. Im Nathan habe man weniger mit universa­ len Idealen zu tun als vielmehr mit einer »Verherrlichung des im 18. Jahrhundert beginnenden Reformjudenthums«33 auf Kosten des Christentums.34 Brunner deutet die Ringparabel als Ausdruck einer subtilen Täuschungsstra­ tegie, die auf ein Ziel insgesamt antireligiöser Natur hinauslaufe, das in einem widersprüchlichen Verhältnis zu den eingesetzten Argumentationsmustern stehe. Die antisemitische Ausrichtung dieser Kritik besteht nicht wie bei Dühring in der Annahme, Lessing verfolge konsequent jüdische Interessen, sondern in der Tatsache, dass Brunner die Perspektive, die er Lessing zuschreibt, als ›in sich jüdisch‹ abstempelt. Ähnlich hatte 1879 auch Wilhelm Marr, der Gründer der Antisemitenliga, in seiner Schrift Der Sieg des Judenthums über das Germanen­ thum argumentiert, die Lessing als verkappten Juden darstellt, dessen Philose­ mitismus in dem paradoxen, zum Scheitern verurteilten Versuch zum Ausdruck käme, aus einem habsüchtigen, nur auf den eigenen Gewinn bedachten Juden eine positive, edle Figur zu machen.35 Zusammenfassend ist zu sagen: Dem Toleranzdiskurs im Nathan und ins­ besondere in der Ringparabel wird sowohl von Dühring als auch von Brunner keine echte Aufmerksamkeit geschenkt. Beide Autoren sind nur darum bemüht, ohne irgendeine kritische Auseinandersetzung mit Lessings Text seine gedankli­ che Substanz als reine Sympathiebekundung gegenüber dem Judentum zu dis­ kreditieren. Bei Dühring kommt neben dem nebulösen biografischen Argument, Lessing sei entweder selbst Jude gewesen oder habe im Interesse von jüdischen

33 Ebd., S. 162. 34 Dass Brunners Anliegen in seiner Lessing-Schrift weniger die Diffamierung Lessings als vielmehr das Festhalten an einem gegenaufklärerischen Katholizismus ist, hat Konrad Kienesberger: Sebastian Brunners Stellung zu Lessing, Goethe und Schiller. Ein österreichischer Beitrag zur antiliberalen Kritik an der deutschen Klassik im späteren 19. Jahrhundert. Wels 1965, S. 79–82, überzeugend ausgeführt. 35 »Die Sage von den ›drei Ringen‹ ist das schönste, was die Poesie der Toleranz je geschaffen hat. Aber wem legt Lessing diese erhabene und erhebende Wahrheit in den Mund? Einem jüdischen Rothschild unter dem Sultan Saladin! War das nothwendig in einem Tendenzdrama? – Konnte Nathan nicht ein jüdischer Gelehrter, ein anticipirter Baruch Spinoza sein? – Musste das widrige Element der Geldnegozianten hineinspielen? Und dennoch – versetzen wir uns psychologisch in die Stimmung des Dichters, so waren,  – ihm selber unbewusst, Jude und Geldmensch identisch. Dieser war von Jenem nicht zu trennen. […] Lessing konnte unbewussterweise nicht über die Identität von Jude und Geldnegoziant hinaus. Musste der Held des Drama’s ein Jude sein, warum stellte er diesen Juden nicht edelmetallfrei dar? Und so apotheosirte Lessing einen Ausnahmsjuden, der aber als Geldmann ein solcher war. Nathan ist ein Individuum, aber kein Begriff. […] Nathan ist ein Abstraktum, das in die höchste, idealste Poesie der Humanität, ja der Toleranzphilosophie als – Bankier eintritt« (Wilhelm Marr: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht confessionellen Standpunkt aus betrachtet. Bern 1879, S. 19 f.).

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Auftraggebern gehandelt, auch die Diffamierung des Literaten dazu, der über keinerlei dichterische Begabung verfüge. Brunner hingegen ist zwar aggressiver in seinen Formulierungen, doch subtiler in der Gedankenführung, insbesondere dort, wo er Lessing eine grundsätzliche Ablehnung der Religion bescheinigt, die den Vorstellungen des assimilierten Judentums nahestünde. Sowohl Dühring als auch Brunner sind letztendlich von kontingenten Zielsetzungen geleitet. Bei dem einen steht die obsessive Vorstellung einer von jüdischen Machtansprüchen beherrschten Gesellschaft im Vordergrund, bei dem anderen die panische Angst vor Liberalismus und Josephinismus.36

36 Eine anspruchsvolle publizistische Gesamtdarstellung der Haupttendenzen in Brunners Antisemitismus bietet Joachim Riedl: Mit Gott gegen die Juden. Hassprediger in der Soutane: Wie der Wiener Kaplan und Doktor der Theologie, Sebastian Brunner, zum Vorkämpfer des mörderischen Antisemitismus wurde. In: Die Zeit, 17. September 2011.

Liliane Weissberg

Freuds Ringe 1 Fragestellungen Im September 2012 wurde im Jüdischen Museum in New York eine Ausstellung eröffnet, die den Titel Crossing Borders: Manuscripts From the Bodleian Libraries trug.1 Handschriften und Bücher, die zuvor in einer etwas anderen Konstella­ tion in Oxford zu sehen waren und zum permanenten Bestand dieser Universi­ tät gehören, wurden hier ausgestellt: Papyrusfragmente, Thora-Rollen, Kodizes, sowie Einzelblätter mit Illustrationen, die sich auf die drei großen abrahamiti­ schen Religionen beziehen – auf das Judentum, das Christentum und den Islam. Die Ausstellungsgegenstände sollten dabei auf den wechselseitigen Einfluss ver­ schiedener Traditionen verweisen. So erfuhr die Betrachterin oder der Betrachter weniger über die Geschichte einzelner Objekte oder ihre unterschiedlichen histo­ rischen Interpretationen als vielmehr über das Gemeinsame, das sie verband; sie oder er wurde dabei Zeugin oder Zeuge eines in der Vergangenheit stattgefunde­ nen und nun neuinszenierten Gesprächs. Das Bild einer Frau mit einem Einhorn, das in der christlichen Handschrift auf Maria und das Jesuskind verweist, konnte demnach im jüdischen Manuskript als das einer Beschützerin des verfolgten Judentums verstanden werden.2 Crossing Borders kann mit diesem Ausstellungskonzept in einen Kontext gestellt werden, der bereits durch eine Interpretation von Gotthold Ephraim Lessings ›dramatischem Gedicht‹ Nathan der Weise und dessen Parabel von den drei Ringen gegeben ist. Vom Sultan befragt, welche der drei großen Reli­ gionen die wahre sei, antwortet Nathan mit einer Geschichte. Sie handelt von einem Vater, der, einer Familientradition gemäß, einen Ring an denjenigen seiner Söhne weiterreichen soll, den er am liebsten hat. Dem Vater aber ist die Entschei­ dung unmöglich. Er hat drei Söhne, die er alle gleichermaßen liebt. Also lässt er heimlich Kopien seines Ringes herstellen und vermacht jedem seiner Söhne einen Ring. Nach seinem Tode sind diese jedoch überrascht, als sie die Verviel­ fältigung des Rings bemerken. Jeder fühlte sich erwählt, nun scheint keiner von ihnen erwählt zu sein. Welcher ist der wahre Ring? Welcher Sohn war dem Vater

1 »Crossing Borders: Manuscripts from the Bodleian Libraries«. Ausstellung im Jewish Museum, New York City, 14. September 2012 – 3. Februar 2013. 2 Vgl. Edward Rothstein: What Books Said To One Another. In: New York Times, 15. September 2012, S. C 1 und C 6.

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der liebste? Die Söhne zanken untereinander und gehen zu einem Richter. Jeder schwört, des Vaters Ring zu tragen, der nicht nur für den liebsten Sohn bestimmt war, sondern seinem Träger auch die ewige Zuneigung der anderen versprach. An dieser Stelle nun berichtet Nathan von dem Urteil des Richters: Der Richter sprach: wenn ihr mir nun den Vater Nicht bald zur Stelle schafft, so weis’ ich euch Von meinem Stuhle. Denkt ihr, daß ich Rätsel Zu lösen da bin? Oder harret ihr, Bis daß der rechte Ring den Mund eröffne? – Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring Besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; Vor Gott und Menschen angenehm. Das muß Entscheiden! Denn die falschen Ringe werden Doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwei Von euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht Nach außen? Jeder liebt sich selber nur Am meisten? – O so seid ihr alle drei Betrogene Betrieger! Eure Ringe Sind alle drei nicht echt. Der echte Ring Vermutlich ging verloren. Den Verlust Zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater Die drei für einen machen.3

Die Lektion, die Nathans Richter in dieser Parabel – und Lessing mit seinem Drama – hier erteilen möchte, scheint seinem Konzept einer universalen Humani­ tät zu folgen, die alle Menschen verbinden soll, sowie der Idee einer allgemeinen religiösen Wahrheit, die allen Religionen innewohnt.4 Denn die eigentliche Lektion der Parabel besteht nicht darin, dass alle Ringe falsch sind, sondern dass alle echt sind auf ihre Weise. Alle drei Ringe bezeugen die Liebe des Vaters. Der Richter weist darüber hinaus darauf hin, dass die Frage der Söhne umzukehren sei, nicht als eine des Ursprungs – welcher ist der wahre Ring und das Original? –, sondern als eine des Effekts, der Kausalität: Welcher Sohn wird von allen geliebt und erweist sich dadurch als Träger des echten Ringes? Das Maß der Liebe des Einen (des Vaters) wird zum Maß der Liebe aller (der Liebe des Volkes zum neuen Träger des Rings).

3 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. von Wilfried Barner u. a. Bd. 9: Werke 1778–1780. Hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson. Frankfurt am Main 1993, S. 558 f. (III 7, 494–512). 4 Zu diesem Konzept der Humanität vgl. auch Liliane Weissberg: Ist Humanität ein deutsches Wort? Hannah Arendt liest Lessing. In: Lessings Grenzen. Hg. von Ulrike Zeuch. Wiesbaden 2005 (Wolfenbütteler Forschungen 106), S. 267–280.



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Die Rezeption des lessingschen Stückes ist lange von dieser Per­spektive bestimmt worden, und sie hat dazu beigetragen, dass Lessing bis heute als Klassiker gefeiert wird, der für Humanität und religiöse Toleranz eintritt. Dabei sind andere Fragen vernachlässigt worden, die ebenfalls in Bezug auf die Nathansche Parabel formuliert werden können. Eine bezieht sich zum Beispiel auf das materielle Objekt selbst: Warum geht es hier um einen Ring? Ein Ring hat auf­ grund seiner Kreisform weder Anfang noch Ende und wurde daher schon früh zu einem Symbol der Unendlichkeit. Liebende schenken einander Ringe als Zeichen ihrer immerwährenden Liebe und Treue, etwa bei einer Verlobung, einer Hochzeit oder einfach als Freundschaftsring. Im Gegensatz zu einer Schatulle oder anderen Geschenken trägt man einen Ring am Finger. Er geht daher eine besonders enge Verbindung mit dem Träger ein. Im Unterschied zu einem Hemd oder einem Rock, die ebenfalls am Körper getragen werden, besitzt der Ring einen höheren Wert, oft besteht er auch aus einem edlen Metall. Ein solcher Ring ist schon an sich wert­ voll, unabhängig von seinem Symbolgehalt; er kann Reichtum oder ererbten Besitz anzeigen. Er zeugt auch von der Kunstfertigkeit – technē – des Goldschmieds. Mit einem Edelstein besetzt – wie etwa einem funkelnden Opal in Lessings Parabel – dient er seinem Träger als Schmuckstück und reflektiert zugleich das Licht. Als Sie­ gelring kommt ihm eine zusätzliche Funktion zu. Ein solcher Ring kann nicht nur Gegenstand eines Gerichtsstreites werden, sondern auch Dokumente besiegeln, die einen gerichtlichen Wert besitzen. Er kann ein Petschaft sein. Warum wählt der namenlose Vater in Lessings Parabel ausgerechnet einen Ring, anhand dessen sein Träger identifiziert werden und der – als Siegel verwendet – auch weitere Akte der Identifizierung ermöglichen könnte? Warum ist es ein Vater, so ließe sich ferner fragen, der den Ring an seine Söhne weitergibt? Anders als bei einer traditionellen Verlobung oder Heirat, bei der ein Ring einen Mann und eine Frau verbinden soll, findet die Weitergabe in Nathans Parabel zwischen vier Männern statt. Lessing berichtet von keiner Mutter und keinen Töchtern. Was ist das für eine Liebe, die nur von einem Patriarchen weitergegeben wird und die nur einem Sohn zukommen kann? Entspricht diese Liebe nicht der aristokratischen Erbfolgeregelung im alten Europa? Jedenfalls ist es eine generationsübergreifende Liebe. Der sterbende Vater vermacht den Ring seinem Sohn. Damit ist der Ring Zeichen eines Bundes, der diachron, nicht synchron angelegt ist. Um diesen Bund zu vollziehen, muss der Spender dem Tode nahe sein, der Empfänger jedoch noch mitten im Leben stehen. Die Weitergabe des Ringes ist kein Bund zwischen Lebenden, sondern zwischen einem sterbenden Vater und seinem Sohn, der – dessen Liebe erhal­ tend  – sein Leben weiterführen soll. Aber was ist das für eine Liebe, die den Tod des Vaters voraussetzt, um sich zu manifestieren, und die dem Träger erst nach dessen Tod die Liebe aller verspricht? Was ist das ferner für ein Ring, der

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zunächst eine private Liebe (zwischen Vater und Sohn) zum Ausdruck bringt, dann aber zum Maß öffentlicher Liebe und allgemeiner Anerkennung wird? Er ist dabei Zeichen einer privaten Liebe, die in der Parabel in das Rampenlicht der Öffentlichkeit gezerrt wird, vor den salomonischen Richter treten muss, der nun nicht über die wahre Elternschaft eines Kindes, sondern über die wahre Liebe eines Vaters richten soll. Als Gabe ist der Ring dabei nicht nur Geschenk, sondern auch Nachlass und Testament. Er ist ein Liebesbeweis, aber zugleich Verpflichtung, diesen Ring und die Liebe, die man erhalten hat, weiterzugeben, damit sie auch von anderen emp­ fangen und erwidert werden kann. Der Ring wirkt nach dem Gesetz der ewigen, unwandelbaren Liebe. Wie ein Gesetz oder gar ein Religionsgebot ist dieser Ring unveränderlich und dauerhaft. Nicht einmal die Größe des Ringes scheint geän­ dert werden zu müssen. Dieser Ring als dauerhaftes Gesetz kann mit den Tafeln der zehn Gebote kon­ kurrieren. Im Unterschied zu den Geboten, deren Schrift in Stein gemeißelt war, ist das Gesetz, die Wahrheit dieses Ringes jedoch nicht lesbar. Ohne ausdeutbare Schrift scheint es in dieser Parabel des 18. Jahrhunderts keine Wahrheit geben zu können. Und obwohl der Ring gleich dreifach an die Söhne weitergegeben wird, stammt er nur von einem Vater. Die drei Ringe werden zwar drei Söhnen vermacht, aber die von der Parabel postulierte Toleranz scheint nicht für alle zu gelten. Denn es ist eine Parabel der monotheistischen Religionen. Zudem wird diese Geschichte von Nathan erzählt, einem Juden. Handelt es sich also um eine Parabel drei gleichwertiger monotheistischer Religionen oder um eine Geschichte, die aus jüdischer Perspektive erzählt wird? Ferner sollte man sich nicht nur die Frage nach dem Original, sondern ebenso die Frage nach dem Wert der Kopie stellen. In Nathans Parabel kommt der Kopie kein geringerer Status zu; auch die Kopien der Ringe sind von Künst­ lern gemacht, aus wertvollem Metall, mit funkelnden Opalen. Der besondere Wert und das höhere Alter des ursprünglichen Rings ist nicht mehr erkennbar. Was nun, wenn nicht das Original, sondern die Kopie erstrebenswerter wäre, die nicht nur ererbt, sondern um einen teuren Preis hergestellt wurde? Ist es nicht gerade die Kopie, welche die Liebe des Vaters beweist, und nicht nur die Tradition der Vererbung? Die drei Ringe, die der Vater seinen Söhnen gibt, verbinden außerdem nicht nur den Vater mit seinen drei Söhnen, sondern auch die Söhne untereinander. Sie tragen den gleichen Ring und gehören, wie in einem Ehe- oder Geheimbund, zusammen. Die Parabel erzählt vom Streit der Brüder; wir erfahren aber nicht, was die Ringe bewirken: Ihre Funktion ist es, brüderliche Einheit herzustellen, sie zu symbolisieren und nach außen hin sichtbar zu machen. Der Streit mag die Söhne zwar vor den Richterstuhl führen, die Ringe verbinden ihre Träger aber



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und stiften familiäre Einheit. So verändert der Vater den Symbolgehalt des Ringes vom Erbstück (dem Diachronen) zum Zeichen der Verbundenheit (dem Synchro­ nen). Ein solcher Bund bedarf keiner staatlichen Anerkennung, keiner Akzeptanz durch den Fürsten oder Sultan. Selbst das Gericht scheitert an der Feststellung seiner Existenz. Der Ring ist im Übrigen kein Zeichen für eine größere Organisa­ tion wie die Freimaurer oder eine wissenschaftliche Akademie. Der Bund ist klein und bleibt auf den familiären Kreis beschränkt; die Parabel berichtet nur von den drei Brüdern. Damit verweisen die drei Ausfertigungen des einen Rings nicht nur auf die Gleichheit ihrer Träger, sie schließen auch andere, potenzielle Träger aus. Der Ring mag zwar mehr als einen Träger haben, aber er zeigt auch an, wer den Ring nicht tragen darf. Die Welt außerhalb der drei Söhne bleibt ausgeschlossen, wie auch bei Lessings Vorstellung von einer universellen Religion die nichtabra­ hamitischen Religionen vernachlässigt werden. Gibt es Lesarten der lessingschen Parabel, die zumindest einige der hier ange­ deuteten Fragen stellen? Im Folgenden möchte ich mich einer alternativen Lektüre des Textes zuwenden, einem Leser von Lessings Nathan, der sich dem Autor und seinem Stück sehr verbunden fühlte: Sigmund Freud. Wie in vielen jüdischen Fami­ lien seiner Zeit wurde auch in der freudschen Familie Lessing gelesen und als Autor sehr geschätzt; Freuds jüngerer Bruder erhielt sogar den Namen Alexander Gott­ hold Ephraim. Und obwohl Freud vor allem seinen Vater verehrte und selbst der Vater von drei Söhnen wurde, war ihm sicherlich auch der Mädchenname seiner Mutter mehr als vertraut; sie hieß Nathansohn. Freud war also geradezu prädes­ tiniert dazu, Lessing zu rezipieren. Seine eigene Identifikation mit der Figur des Nathan war dabei vielleicht nur eine natürliche Konsequenz.

2 Die Verlobung Freuds Vertrautheit mit Lessings Drama Nathan der Weise zeigt sich deutlich in seinen eigenen Schriften und schlägt sich bereits in seiner frühen Korres­ pondenz mit Martha Bernays nieder. Freud lernte Martha, eine Jugendfreundin seiner Schwestern, in Wien kennen. Marthas Vater Berman Bernays war wenige Jahre zuvor mit seiner Familie aus Wandsbek bei Hamburg nach Wien gezogen. Nach seinem unerwarteten, frühen Tod übernahm Siegmund Pappenheim die Vormundschaft der bernayschen Kinder, jener Familienfreund der Bernays, dessen Tochter Bertha später eine Patientin von Josef Breuer und Freud werden

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sollte und als »Anna O.« Medizingeschichte schrieb.5 Freud und Martha Bernays hatten am 2. Juni 1882 anlässlich eines Ausfluges auf den Wiener Kahlenberg zum ersten Mal Gelegenheit zu einem langen Gespräch. Freud war sich seiner Liebe zu Martha schon bald bewusst, und bereits am 17. Juni erklärte er sich der jungen Frau gegenüber. Es kam zu einer heimlichen Verlobung. All dies geht aus ihrem Briefwechsel hervor.6 Warum verlobten sich die beiden heimlich? Freud war zu dieser Zeit noch Medizinstudent, der seinen eigenen Lebensunterhalt nicht verdienen konnte. Er lebte zu Hause, und auch seine Familie erschien ihm selbst oft erschreckend arm; an allem – selbst am Essen – musste gespart werden. Auch Martha war alles andere als finanziell abgesichert. Ihr Vater Berman Bernays war kurz vor seinem Tode arbeitslos geworden; nachdem er Insolvenz anmelden musste und ein Jahr im Gefängnis verbracht hatte, zog die Familie von Wandsbek nach Wien. Die finanzielle Situation war jedoch nicht die einzige Schwierigkeit, die das Paar zu überwinden hatte. Martha stammte aus einer angesehenen Hamburger Familie. Ihr Großvater, Isaak Bernays, genannt chochem bzw. ›der Weise‹, war ein bekannter Rabbiner und Gelehrter gewesen. Während Marthas Vater Berman Kaufmann wurde, schlugen dessen Brüder eine akademische Laufbahn ein. Jakob Bernays war ein bekannter Altphilologe, der als Privatdozent an der Universität Bonn lehrte und wissenschaftliche Abhandlungen über die griechische Literatur verfasste. Michael Bernays war Professor für deutsche Literatur an der Universität München und veröffentlichte Schriften zur deutschen Klassik, insbesondere zu Goethe. Mit solchen Männern konnte sich die freudsche Familie nicht messen. Freuds Vater Jakob war ein verarmter Wollhändler aus dem mährischen Freiberg; seine Familie stammte ursprünglich aus einem galizischen Schtetl. Auch dessen Bruder Josef hatte einst Schwierigkeiten mit dem Gesetz, allerdings saß er nicht wegen Bankrotts im Gefängnis, sondern weil er Falschgeld in Umlauf gebracht hatte.7 Zudem stand noch die Frage der Religion im Raum. Michael Bernays, der jüngste Sohn des Rabbiners Isaak, trat schon als junger Mann zum Christentum über  – ein Schritt, der ihm später die universitäre Laufbahn eröffnete. Jakob Bernays blieb Jude, wurde Bibliothekar und Privatdozent, widmete sich aber in seinen Schriften und Vorlesungen nichtjüdischen Fragen. Marthas Vater Berman

5 Die Fallstudie der »Anna O.« ist enthalten in Josef Breuer und Sigmund Freud: Studien über Hysterie (1895). Einleitung von Stavros Mentzos. 6. Aufl. Frankfurt am Main 2007, S. 42–66. 6 Vgl. Sigmund Freud und Martha Bernays: Die Brautbriefe 1882–1886. Ungekürzte Ausgabe in fünf Bänden. Hg. von Gerhard Fichtner u. a. Frankfurt am Main 2011 ff., hier Bd. 1. 7 Vgl. Liliane Weissberg: Ariadnes Faden. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 1 (2010), S. 99–115.



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hingegen blieb nicht nur orthodoxer Jude, sondern achtete auch auf die Einhal­ tung der religiösen Gesetze und Rechtsvorschriften. Im Gegensatz zu seinem Bruder Jakob, der Religion als Privatsache betrachtete, schien er keine Kom­ promisse eingehen zu wollen. Martha hatte einen Bruder, Eli, und eine jüngere Schwester, Minna. Alle drei waren orthodox erzogen worden. Dennoch zeugen die erhaltenen Bilder von einer gewissen Akkulturation. Isaak der Weise, der chochem, trägt in einem überlieferten Gemälde eine Kleidung, wie sie protestanti­ sche Prediger schätzten und vom Reformjudentum übernommen wurde. Michael, der Christ, ließ sich mit modernem Schnauzbart abbilden. Von Jakob jedoch exis­ tiert weder ein Gemälde noch eine Fotografie; wie die frommen Juden der Vorzeit schien er das Bilderverbot ernst zu nehmen. Von Berman, dem Kaufmann, hinge­ gen, ist eine Fotografie erhalten, auf der er als frommer, bärtiger Jude erscheint.8 So musste sich Freud, der Bücher des Reformjudentums gelesen hatte, aber an keinem jüdischen Ritual festhalten wollte, um ein junges Mädchen bemühen, das aus einem koscheren Haus stammte, den Schabbat hielt und die jüdischen Feiertage beachtete. Zwischen dem orthodoxen Haus, das Martha kannte, und jenem, welches Freud mit ihr führen wollte, lagen Welten. Freud machte es sich daher zur Aufgabe, Martha nicht nur von seiner Auffassung vom Eheleben zu überzeugen, sondern auch von seinen religiösen Ansichten. Die rasche Verlo­ bung war deshalb nur der Anfang eines langen Gesprächs über Religion, das sich über vier Jahre bis zu ihrer Hochzeit hinziehen sollte.9 Die lange Verlobungszeit zwischen Freud und Martha war durch ihre geo­ grafische Entfernung geprägt; es war eine Zeit des Briefeschreibens und nur sporadischer Besuche Freuds in Hamburg. Im Sommer 1882, bereits kurz nach ihrer heimlichen Verlobung, fuhr Martha mit ihrer Familie nach Wandsbek auf Urlaub, und bald sollte sich die Familie auch entschließen, dorthin zurückzu­ ziehen. Kurz vor ihrer ersten Reise schenkte Martha Freud einen Ring mit einer Perle zum Zeichen ihrer Verbundenheit. Dieser Ring hatte einst ihrem Großva­ ter gehört, doch die Mutter hatte ihn Martha gegeben. Freud trug diesen Ring an seinem kleinen Finger und ließ sogleich eine Kopie davon anfertigen, die er wiederum Martha gab. So trug er Marthas Ring, ohne dass ihre Familie das Fehlen des Schmuckstücks bemerken konnte.

8 Porträts des Vaters Isaak sowie der Söhne Michael und Berman Bernays finden sich bei Freud/ Bernays (Anm. 6), Bd.  1, S. 216. Zu Freuds Verhältnis zur Familie Bernays siehe auch Moshe Gresser: Dual Allegiance. Freud as a Modern Jew. Albany 1994, S. 59–108. 9 Implizit wurde es auch später noch weitergeführt, denn obwohl die Familie Freud kein religiöses Leben führte, scheint es immer wieder Kompromisse gegeben zu haben. Martha Freud kehrte nach dem Tod ihres Mannes in London angeblich zu einigen Ritualen, wie dem Anzünden der Schabbat-Kerzen, zurück.

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Freud selbst belegte den Ring mit allerhand Aberglauben. Bereits im August desselben Jahres brach eine Lötstelle am Ring, und Freud schrieb besorgt an Martha: Nun höre, ich sehe da eine gute Gelegenheit, einem Aberglauben den Garaus zu machen, besonders da uns viel Geheimnisvolles bereits passiert ist. Donnerstag zur bezeichneten Stunde [zwischen halb elf und halb zwölf] brach mir die Lötstelle an Deinem Ringlein, dort wo die Perle eingesetzt ist. Ich muss sagen, mir wurde gar nicht schwer ums Herz, ich wurde nicht von Ahnungen ergriffen, daß dieses Verlöbnis kein gutes Ende nehmen würde, kein schwarzer Verdacht, daß Du eben jetzt beschäftigt seist, mein Bild aus Deinem Herzen zu reißen, stieg in mir. Das hätte alles ein feinfühliger Mensch empfinden müssen, aber ich dachte an nichts anderes, als daß es bald gerichtet werden muß und daß solche Unglücks­ fälle bei der Prominenz der Perle kaum zu vermeiden sein werden. Nun ist es schon wieder gerichtet und ich weiß sehr genau, wie das Ereignis zustande kam.10

Soweit der aufgeklärte Freud, der trotz seines unbeeindruckten Gebarens dennoch fragen muss, wo Martha zum Zeitpunkt des Ringbruchs war und was sie damals tat: »Das war alles, aber wenn Du mir jetzt hilfst, diesen Aberglau­ ben durch ein gut beobachtetes Beispiel von bedeutungslosem Ringbruch zu ver­ nichten, so kommt es vielleicht noch manchem anderen Paar zugute.«11 Marthas Antwort, »soll ich ganz offen sein, zu derselben Stunde habe ich mit der größten Seelenruhe ein – Stück Kuchen verzehrt«,12 kann Freud beruhigen, sodass er über ein zweites Ringunglück später viel gelassener berichtet: »Die Perle löste sich.«13 Freuds Unsicherheit gegenüber Martha war allerdings nicht nur durch die familiären und religiösen Unterschiede bedingt, deren er sich in dieser frühen Zeit der Brautwerbung durchaus bewusst war, sondern auch durch seine große Eifersucht. Martha hatte viele Freunde und eine Anzahl von Bewunderern. Freud fürchtete, trotz der heimlichen Verlobung von ihr zurückgewiesen zu werden. Besonders in Fritz Wahle, einem Musiker, der Martha zu bewundern schien, sah Freud einen Rivalen, den er auszustechen trachtete. Offiziell war Wahle bereits vergeben, aber auch er schrieb regelmäßig Briefe an Martha, die auf seine Freund­ schaft nicht verzichten wollte. So machte Freud sich schon bald nach Marthas Abreise im Juli 1882 nach Wandsbek auf, um sich mit ihr auszusprechen. Der mehrwöchige Aufenthalt in Hamburg war keineswegs einfach. Freud wollte Martha sehen, musste aber die meiste Zeit in einem Hotel verbringen, da er nicht offen als Marthas Bewerber auftreten und sie daher nur selten sehen

10 Freud an Martha, 26. August 1882. In: Freud/Bernays (Anm. 6), Bd. 1, S. 323 f. 11 Ebd., S. 324. 12 Martha an Freud, 29. August 1882. In: Ebd., S. 330. 13 Freud an Martha, 1. September 1883. In: Ebd., Bd. 2, S. 198. Siehe dazu auch die Einführung von Ilse Gubrich-Simitis, ebd., Bd. 1, S. 43.



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konnte. Auch hier wurden Briefe gewechselt. Martha schrieb allerdings aus reli­ giösen Gründen nicht am Samstag und nicht am Tisha b’av, einem Fasttag, an dem man der Zerstörung des Tempels in Jerusalem gedenkt. Unter der Woche traf sich das Paar heimlich am Lessing-Denkmal auf dem Gänsemarkt in Hamburg, und wenig später schenkte Martha ihrem Verlobten eine Fotografie dieses Denk­ mals als Andenken.14 Offensichtlich war es Martha möglich, Freuds Eifersucht zu lindern, und um das Einvernehmen zu besiegeln, bestellte Freud für sie neues Briefpapier. Er suchte einen Hamburger Graveur auf, der ein Monogramm mit den ineinander verschlungenen Initialen der Liebenden, M und S, entwarf. Die auf diesem Papier verfassten Briefe konnte Martha an keinen anderen als an Freud senden. Freuds eigene Briefe an Martha sind auf dem Briefpapier seines Vaters geschrieben und tragen den Namen »Jakob Freud«. Noch in Hamburg, dem einstigen Wohnort Lessings, an dem sein Denkmal stand, schrieb Freud an Martha einen Brief, der mit einem Zitat aus Lessings Nathan beginnt – oder besser gesagt, mit einem von Freud nur ungenau wieder­ gegebenen Zitat aus diesem Stück: Nathan, heißt du Jude? (Ein seltsamer Jude, hm) Sprich weiter, wackrer Nathan. (Oder so ähnlich; ich kann jetzt nicht in die Stadtbibliothek laufen, um ein Zitat zu verifizie­ ren. Der auf dem Gänsemarkt wird’s verzeihen.)15

Was folgt, ist nun keine Anrede wie »Mein geliebtes Marthchen« oder »Du liebes süßes Mädchen«,16 wie sie in anderen Briefen dieser Zeit zu finden sind, sondern Freuds eigene Version der lessingschen Parabel: Ich hatte plötzlich ein kleines Mädchen sehr lieb und befand mich plötzlich in Hamburg. Sie hatte mir einen Ring geschenkt, den ihre Mutter einst von ihrem Vater bekommen hatte; ich hatte nach Muster dieses Ringes einen kleineren für ihren winzigen Finger nachmachen lassen, aber es schien, daß der echte Ring doch bei ihr geblieben, denn alle, die sie sahen und sprachen, hatten sie lieb, und das ist doch das Zeichen des echten Ringes. Mir war das beinahe unlieb, ich sann lange nach, wie ich sie so schlecht machen könnte, daß sie keiner mehr liebgewinnen dürfte, bis mir einmal einfiel, daß es nur darauf ankommt, ob sie mehrere lieb habe, nicht ob mehrere oder alle sie lieb haben.17

14 Vgl. Freud/Bernays (Anm. 6), Bd. 1, S. 522. Siehe dazu auch Freud an Martha, 12. Juli 1883. In: Ebd., S. 521. 15 Freud an Martha, 23. Juli 1882. In: Ebd., S. 214. 16 Siehe etwa Freud an Martha, 29. Juli und 11. August 1882. In: Ebd., S. 228 und 273. 17 Freud an Martha, 23. Juli 1882. In: Ebd., S. 214.

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In seinen aus dem Gedächtnis zitierten Zeilen ersetzt Freud den Namen »Nathan« – »Du nennst dich Nathan?«18 – mit dem Namen »Jude«: »[H]eißt du Jude?«19 Bald tritt auch ein weiser Jude in Freuds Geschichte auf. »Mein Mädchen war aus einer Gelehrtenfamilie und schriftstellerte – zunächst nur Briefe – mit unermüdlicher Hand und verbrauchte ihr kleines Geld für Briefpapier«, schreibt Freud.20 Wie sich herausstellt, war der Mann, bei dem Freud das Briefpapier bestellte, ein frommer alter Jude, der am Samstag sein Geschäft schloss, ein reli­ giöses Gebot, das von Freud durch die Bezeichnung »alte Sitte« sogleich säkula­ risiert wird.21 Der fromme Mann war außerdem einst Schüler des weisen Rabbis Isaak, Marthas Großvater, und kannte auch dessen drei Söhne: Das reiche Wesen des Vaters hatte sich in den Söhnen geteilt. Der Vater war Sprachforscher, Schriftausleger und hatte bedeutende Kinder hinterlassen. So blieb denn der eine Sohn bei der Sprache stehen, deren Material die wissenschaftliche Arbeit seines Lebens mit Beschlag belegte, der andere lehrt noch jetzt den feinen Geschmack und die Weisheit schätzen, die unsere großen Dichter und Lehrer in ihre Schriften gelegt haben. Der dritte, ein ernster, ver­ schlossener Mann, erfaßte das Leben noch tiefer, als Wissenschaft und Kunst es vermögen; er war rein menschlich und schuf neue Schätze, anstatt die alten auszulegen.22

Freuds Schilderung wertet den Stand des Kaufmanns gegenüber dem des Künst­ lers und Wissenschaftlers auf; schließlich ist es ja auch Berman, Marthas Vater, von dem hier die Rede ist. In den Ausführungen des frommen Graveurs – eben­ falls ein Kaufmann – kommen die unterschiedlichen Tätigkeiten der Söhne zur Sprache, aber nicht die Konversion von Michael Bernays. Alle drei sind Söhne ihres Vaters, des chochem Isaak, und Erben seiner Fähigkeiten. In der Geschichte stellt sich Freud dem alten Kaufmann nicht unter seinem eigenen Namen vor, sondern als ein Dr. Wahle aus Prag. Er behält also seinen eigenen Titel, nimmt aber den Namen seines Konkurrenten an und wählt eine andere Heimatstadt für sich. Der alte Kaufmann wird ebenfalls mit einem anderen Namen in Verbindung gebracht: »Er erzählte weiter von seinen Jugenderinnerun­ gen, und Züge des weisen Nathan tauchten in seinem Gesichte auf.«23 Die Erzäh­ lungen dieses ›Nathan‹ kreisten allerdings nicht nur um die Jugenderinnerungen und um die Familie Bernays, sondern auch um die jüdischen Feiertage  – den Schabbat und den Tisha b’av. Auch wenn Freud als Wissenschaftler in seinem

18 Lessing (Anm. 3), S. 551 (III 5, 283). 19 Freud an Martha, 23. Juli 1882. In: Freud/Bernays (Anm. 6), S. 214. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 217. 22 Ebd. 23 Ebd.



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Brief die angenommenen Tatsachen kritisch hinterfragt, wie etwa das Datum der Zerstörung des Tempels oder die jüdischen Speisegesetze,24 so bewundert er zugleich den frommen Mann, den eine tiefe Humanität auszeichnete. Er schien gleichsam Lessings Erziehung des Menschengeschlechts entsprungen zu sein: Die Religion war nicht mehr starres Dogma, sie wurde zum Gegenstand des Nachsinnens, zur Befriedigung des verfeinerten künstlerischen Geschmacks und gesteigerter logischer Anforderungen, und schließlich empfahl sie der Hamburger Lehrer, nicht weil sie einmal als geheiligt vorhanden war, sondern weil er sich des tiefen Sinnes freute, den er in ihr entdeckte oder in sie hineintrug.25

Dieser alte Mann bzw. neue Nathan war zwar fromm, aber er sprach sich für ein Judentum aus, das Rituale nicht als starre Gesetze verstand, sondern als Denkhilfen, die auf das eigentliche Wesen des Judentums verwiesen: »Der Jude, sagte er, ist die höchste Blüte des Menschen und für den Genuß geschaffen.«26 War dies nicht genau jene Auffassung, die nicht nur Freud vertrat, sondern die eigentlich auch der weise Isaak und damit Marthas Familie teilte? Das Leben genießen und froh bejahen: Das sollte schließlich auch die Grundlage für die Ehe sein, die Freud mit Martha führen wollte – in einem Haushalt, in dem dieser innerste Kern des Judentums erhalten blieb. In diesem Sinne sollte es ein durch­ aus jüdischer Haushalt werden. Und so maßt er sich an, auch für Martha zu sprechen und sie beide als Paar gesinnungsmäßig in einem ›wir‹ zu vereinen: Und für uns beide glaube ich: wenn die Form, in der die alten Juden sich wohl fühlten, auch für uns kein Obdach mehr bietet, etwas von dem Kern, das Wesen des sinnvollen und lebensfrohen Judentums, wird unser Haus nicht verlassen.27

Und wer konnte einen solchen jüdischen Haushalt mit mehr Lebensfreude erfüllen, schien der Briefschreiber anzudeuten, als er selbst, der immerhin den Namen ›Freud‹ trug?

24 Vgl. ebd. 25 Ebd., S. 218. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 219.

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3 Die Söhne Viele Jahre später kehrte Freud noch einmal zu Lessings Ringparabel zurück. Er war damals bereits mit Martha verheiratet und Vater von sechs Kindern. Diesmal ging es ihm allerdings nicht um das Wesen des Judentums, sondern um das der Psychoanalyse. Auch hier spielte jedoch die Frage der Liebe und Treue eine wich­ tige Rolle. Freud publizierte im Winter 1899 seine Traumdeutung, die er auf das Jahr 1900 vordatierte, um sie als Jahrhundertwerk auszuweisen.28 Zusammen mit den ersten Fallstudien und frühen Aufsätzen sollte dieses Buch die Grundlage einer neuen Disziplin und Wissenschaft bilden, ja ihr eigentliches Manifest sein. Bereits 1902 begann Freud, die an seiner Psychoanalyse interessierten Ärzte und Laien um sich zu sammeln – zunächst im Rahmen einer informellen Mittwochs­ gesellschaft, die sich in seiner Wohnung traf und dem Vorbild der Aufklärungsge­ sellschaften folgte. Dort wurden Ideen ausgetauscht, über Fallstudien berichtet, Skizzen vorgetragen; Künstler und Wissenschaftler aus verschiedenen Diszipli­ nen kamen zu Wort. Doch in diesem Kreis konnte die Psychoanalyse nicht weit verbreitet werden, nicht über ihren Gründer hinausgehen und die nächsten Gene­ rationen erreichen. Da Freud selbst eine ordentliche Professur versagt war – und damit die universitäre Weitergabe von Ideen an Studierende und Assistenten –, musste eine andere Form der Verbreitung gefunden werden. 1908 löste sich die Mittwochsgesellschaft auf und ging in eine eingetragene Gesellschaft über. Freud begründete eine psychoanalytische Vereinigung, die einen Leiter und Sekretär haben sollte; Statuten wurden geschrieben, Regeln für die Mitglieder aufgestellt, eine Zeitschrift ins Leben gerufen. Dieser Gesellschaft sollten bald ähnliche in anderen Ländern folgen, zum Beispiel in Ungarn, Deutschland und Holland. War Freud zunächst der erste Analytiker und, wie seine Traumdeutung zeigt, auch einer der ersten Patienten, so wurden nun ehemalige Patienten Freuds selbst zu Analytikern und konnten andere ausbilden. Im Bereich der Theoriebil­ dung entwickelte sich eine Kontinuität wie eine Konkurrenz. Alfred Adler bei­ spielsweise wandte sich schon früh von Freud ab, um eine eigene Art der »EgoPsychologie« zu verfolgen.29 Wilhelm Stekel ging ebenfalls bald eigene Wege.30 Freud selbst wollte nicht die Leitung der von ihm gegründeten Organisation über­

28 Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1899/1900). In: Ders.: Gesammelte Werke. Chrono­ logisch geordnet. Hg. von Anna Freud u. a. 18 Bde. 4. Aufl. Frankfurt am Main 1968–1978, hier Bd. 2/3, S. 1–642. 29 Vgl. Bernhard Handlbauer: Die Adler-Freud-Kontroverse. Frankfurt am Main 1990. 30 Vgl. Jaap Bos u. a.: The Self-Marginalization of Wilhelm Stekel. Freudian Circles Inside and Out. New York 2007.



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nehmen, sondern eher im Hintergrund wirken. Freud, der Rivalitäten befürchtete wie auch einen Angriff auf seine berufliche, ja väterliche Autorität, hatte Mühe, die Mitglieder der Gesellschaft zu einem einheitlichen Verständnis der Psycho­ analyse zu verpflichten. Dies zeigt sich in seiner reichen Korrespondenz, in der Freud seine Schüler und Kollegen anleitete und zurechtwies, sowie in Briefen, welche die Mitglieder untereinander austauschen sollten. Doch nicht nur das Verhältnis Freuds zu seinen Schülern war oft problematisch, diese versuchten zudem, sich gegenseitig auszustechen.31 Für Freud gab es jedoch noch ein anderes Problem als das Verhalten der Mit­ glieder einer Organisation, die er sehr wohl als die seine empfand, und einer Dis­ ziplin, die er mit seinem Namen und seiner Person verband. Freud war abergläu­ bisch und von seinem frühen Ende überzeugt; er glaubte, nicht älter als 61 Jahre zu werden. Es ging für ihn also nicht nur darum, eine Gesellschaft und die von ihr vermittelte Disziplin zu fördern, sondern auch darum, einen Nachfolger zu finden. Und hier erwies sich wiederum die Religion als problematisch. Nahezu alle Mitglieder seiner Vereinigung waren Juden oder jüdischer Herkunft. Um die Psychoanalyse auch jenseits von Wien zu etablieren und dem Vorurteil, dass sie lediglich eine »jüdische Wissenschaft« sei, begegnen zu können, musste er einen Nachfolger finden, der die Leitung in diesem Sinne übernehmen konnte. Aber der einzige Nichtjude des engsten Kreises in dieser frühen Zeit war Ernest Jones, ein Waliser, der zunächst in Kanada lebte und an der Universität von Toronto lehrte, wo ihm wegen seiner sexuellen Eskapaden mit Studentinnen jedoch die Entlas­ sung drohte.32 Daher siedelte er nach Wien über, unterzog sich dort einer Analyse und ließ sich schließlich selbst zum Analytiker ausbilden, was ihm eine neue berufliche Zukunft eröffnen sollte. Obwohl er Freud sehr ergeben war, schien Jones als Nachfolger nicht infrage zu kommen. Da stellte sich 1907 ein junger Schweizer Freud vor, der bereits eine Schrift zur Wortassoziation veröffentlicht hatte und sich der Psychoanalyse widmen wollte: Carl Gustav Jung. Er war Nichtjude, intelligent und wortgewandt. Freud erkor ihn schon bald zu seinem Lieblingsschüler und ersann biblische Verglei­ che. Gleich einem Moses würde es ihm selbst nicht vergönnt sein, die Vollendung seines Werkes – seine internationale Verbreitung und allgemeine Anerkennung – zu erleben: »Sie werden als Joshua, wenn ich der Moses bin, das gelobte Land der Psychiatrie, das ich nur aus der Ferne erschauen darf, in Besitz nehmen«,

31 Vgl. Phyllis Grosskurth: The Secret Ring. Freud’s Inner Circle and the Politics of Psycho­ analysis. Reading (MA) 1991. 32 Siehe dazu etwa Vincent Brome: Ernest Jones. Freud’s Alter Ego. New York 1983.

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schrieb Freud an Jung 1909.33 Jung wurde Leiter der Internationalen Psychoanaly­ tischen Vereinigung, die 1910 gegründet wurde, und sollte dies auch sein Leben lang bleiben. In Wien zumindest organisierte man sich monarchisch.34 Das Werben Freuds um Jung hielt an, selbst dann, als ihre Beziehung schwie­ riger wurde. Denn einerseits sah sich Freud als der Vater seiner Disziplin, ande­ rerseits sollte sein neuer Sohn keinem Vater-Sohn-Komplex anheimfallen und keiner Analyse mehr bedürfen. Im Unterschied zu Jones entpuppte sich Jung bald als eigensinnig. Er dachte laut darüber nach, ob die Sexualität wirklich als einzige Grundlage der psychoanalytischen Theorie angesehen werden könne; er widmete sich nun nicht mehr dem Studium der Religion, sondern der Mythologie. Viele Versuche Freuds, Jung im Zaum zu halten, scheiterten an dessen Eigensinn, aus dem heraus er nicht nur freudkritische Schriften veröffentlichte, sondern sich eigenmächtig aufmachte, in Amerika Vorlesungen zu halten – und dies nicht ohne Erfolg. Für Freud war es schließlich nicht mehr wichtig, einen Nachfolger zu finden, sondern Jung und die Schweizer Gruppe zu isolieren und möglichst an den Rand zu drängen. Aber wie konnte das am besten geschehen? Entweder Jones oder Freuds Schüler und enger Freund Sandor Ferenczi hatte 1912 eine Idee, die Freuds gelegentlicher Paranoia entgegenkam. Es sollte ein Komitee gebildet werden, das nur aus den engsten Freunden bestand, die Freud und seiner Psychoanalyse gegenüber absolut loyal waren. Das Komitee war als Gegenorganisation zur offiziellen Vereinigung gedacht. Statt eines einzigen Leiters – Jung – würde nun eine Gruppe von Freud nahestehenden Psychoanaly­ tikern an der Spitze stehen, zu deren Aufgaben es gehören sollte, die wahre Lehre zu schützen, Kritik an Jungs Schriften zu üben, zu publizieren, die Zukunft ihrer Disziplin zu sichern und untereinander freundschaftlich verbunden zu bleiben. Damit kam der Gründungsakt gewissermaßen einer heimlichen Verlobung gleich, und die Mitglieder gehörten fortan einem »Geheimen Komitee« an. Um diesen Geheimbund zu bestätigen, nahm Freud Anfang 1913 einen von ihm getragenen Ring mit einer in Silber gefassten antiken römischen Gemme. Er ließ weitere Ringe mit antiken Gemmen aus seiner Sammlung anfertigen und überreichte sie den Mitgliedern des Komitees, die gleichzeitig die Psychoanalyse in den drei Städten Wien, Budapest und Berlin vertraten: Ernest Jones, Sandor Ferenczi, Otto Rank, Hanns Sachs und Karl Abraham. Ferenczi leitete die unga­ rische Vereinigung in Budapest, Abraham die deutsche in Berlin, wo Sachs ihm

33 Freud an Carl Gustav Jung, 17. Januar 1909. In: Sigmund Freud und Carl Gustav Jung: Brief­ wechsel. Hg. von William McGuire und William Sauerländer. Frankfurt am Main 1974, S. 218. 34 Vgl. Michael Schröter: Freuds Komitee 1912–1914. Ein Beitrag zum Verständnis psycho­ analytischer Gruppenbildung. In: Psyche 49 (1995), H. 6, S. 513–563, bes. S. 552.



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zur Seite stand. Jones war zunächst in Wien und zog später nach England, Rank leitete die Publikationen von Wien aus. Für Freud waren die Mitglieder dieses Komitees nun seine »angenommenen Söhne«.35 Sie sollten nicht nur Freuds Schüler sein, sondern als Psychoanalytiker auch »Freunde« und »Brüder«.36 Alle besaßen nun einen Ring von Freud und ließen sich als Gruppe auf einem Foto abbilden; auf diesem Bild sind die Ringe von Sachs und Ferenczi deutlich sicht­ bar.37 Es gibt Einzelporträts der Mitglieder, in denen sie an ihrem kleinen Finger einen Gemmenring tragen.38 Freud selbst besaß den »ursprünglichen« Ring; seine dunkelgrüne Gemme zeigte den römischen Göttervater Jupiter auf einem Thron, gekrönt von der Siegesgöttin, an seiner Seite Minerva. Das Geheime Komitee traf sich nicht nur zu Sitzungen und Ausschüssen, sondern auch zum Urlaub, wo man gemeinsam wanderte. Die Mitglieder schrie­ ben einander Briefe. Anton von Freund, ein ehemaliger Patient Freuds und ein wohlhabender Budapester Bierbrauer und Kaufmann, der mit seinen finanziel­ len Beiträgen zu einem Hauptförderer der psychoanalytischen Zeitschrift wurde, erhielt 1919 von Freud einen weiteren Ring. Freund starb 1920, und Max Eiting­ ton, ein wohlhabender Arzt russischer Herkunft, wurde an seiner Stelle in den Kreis gewählt. Freunds Witwe jedoch weigerte sich, den Ring ihres verstorbenen Mannes zurückzugeben, worauf Freud Eitington seinen eigenen überließ. Der Plan der anderen Mitglieder, nun heimlich einen neuen Ring herstellen zu lassen und ihn Freud zu überreichen, scheiterte, als Freud davon erfuhr. So blieb es dabei, dass er allein die Ringe verteilte. Im Übrigen scheint die Frage des freud­ schen Rings bald gelöst worden zu sein, denn auf späteren Bildern trug Freud ihn wieder, wie üblich, über seinem Trauring.39 Während des ersten Weltkriegs wurden die Aktivitäten des Geheimen Komi­ tees eingestellt, und als sich der Kreis in der Nachkriegszeit wieder zusammen­ fand, wurde der Fingerring durch einen symbolischen Ring ersetzt. Außerdem entschied man sich statt der früher an einzelne Mitglieder gerichteten Briefe nun für ein Zirkular. Die Mitglieder des Komitees sollten sich nach einem festen

35 Grosskurth (Anm. 31), S. 53. 36 Vgl. ebd., S. 96–111. 37 Das Gruppenfoto von September 1922 wurde in Berlin aufgenommen und zeigt Freud, Otto Rank, Karl Abraham, Max Eitington, Ernest Jones, Sandor Ferenczi und Hanns Sachs. Es wurde vielfach reproduziert und ist unter anderem abgedruckt in: Grosskurth (Anm. 31), unpag. Seite nach S. 40. 38 Siehe etwa die Porträtfotos von Ernest Jones, Otto Rank und Max Eitington, abgedruckt ebd., unpag. Seiten vor S. 41. 39 Vgl. die Bilder Freuds in dem Fotoalbum von Edmund Engelman: Berggasse 19. Das Wiener Domizil Sigmund Freuds. Übersetzt von Brigitte Weitbrecht. Stuttgart 1977. In den Archiven der Freud-Museen in London und Wien sind noch Ringe und Fotografien von Ringen erhalten.

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Plan jede Woche einen Rundbrief schreiben und darin von ihrer Arbeit und ihren Ideen berichten. Der erste dieser Rundbriefe wurde am 20. September 1920 von Sandor Ferenczi in Budapest verschickt. Die Briefköpfe waren zunächst unter­ schiedlich, bald einigte man sich jedoch auf einen gemeinsamen; dafür wählte man keine Initialen wie etwa S und M, sondern ein Bild von Ödipus und der Sphinx. Mit der Zeit wurden die Abstände zwischen den Briefen immer größer und unregelmäßiger;40 der Brauch wurde jedoch noch bis 1927 fortgeführt, wobei sich aus den ursprünglich handschriftlichen Briefen an individuelle Mitglieder schließlich ein halb-öffentliches Zirkular entwickelte, das in Druckform erschien. 1914 trat Jung als Vorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Ver­ einigung zurück, womit dem Geheimen Komitee die Seinsberechtigung eigent­ lich entzogen war. Trotzdem bestand es noch einige Zeit fort. Nach dem ersten Weltkrieg gesellte sich auch Freuds jüngste Tochter Anna dazu. Zwischen 1927 und 1936 wurde die ehemals private Runde zur offiziellen Zentralleitung. Damit änderte sich auch die Bedeutung der Ringe, die nun vervielfältigt wurden. Unter anderem erhielt Freuds jüngster Sohn Ernst einen Ring. Sogar Frauen wurden Ringe überreicht, dazu gehörten etwa Lou Andreas-Salomé, Marie Bonaparte und Dorothy Burlington.41 Ein Ring ging an den Schriftsteller Arnold Zweig, obwohl ihn Freud nur als Brieffreund kannte und Zweig kein Analytiker war, sondern ein an der Psychoanalyse interessierter Patient. Das Bild der zweigschen Familie schmückte die freudsche Wohnung. Als Freud 1928 dem Psychoanalytiker Ernst Simmel einen Ring schenkte – einen Silberring mit einem dunkelblauen Stein, der eine pastorale Szene zeigte  –, reflektierte er über die Geschichte dieses Geschenks. »Sie haben recht«, schrieb er an Simmel, und seine Zeilen klangen fast wie ein Märchen oder die Beschreibung der goetheschen Turmgesellschaft, diese Ringe waren einmal Vorrecht und Abzeichen einer Gruppe von Personen, die sich in der Hingabe an die Analyse einig wußten, versprochen hatten, als »geheimes Comité« deren Entwicklung zu überwachen und untereinander eine Art von analytischer Brüder­ lichkeit zu pflegen […].42

Rank hätte den Zauber bzw. magischen Bann gebrochen, so Freud unter Verweis auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe, und nach Abrahams Tod

40 Vgl. Die Rundbriefe des »Geheimen Komitees«. Hg. von Gerhard Wittenberger und Christfried Tögel. 4 Bde. Tübingen 1999–2006, bes. Bd. 4 (Briefe der Jahre 1923–1927). 41 Grosskurth (Anm. 31), S. 195. 42 Freud an Ernst Simmel, 11. November 1928. In: Sigmund Freud: Briefe 1873–1939. Hg. von Ernst L. Freud. Frankfurt am Main 1960, S. 376.



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habe sich die Gruppe dann aufgelöst.43 Seine Tochter Anna hätte ihm geraten, den »alten Brauch«  – gleich der »alten Sitte« des Judentums, die er in seinem Brief an Martha erwähnt hatte  – zu erneuern und Simmel einen Ring zu überreichen.44 Denn selbst wenn es die Form nicht mehr gäbe, so könnte doch die Bedeutung überleben. Dies stimmte auch mit Freuds psychoanalytischer Theorie überein. In der Psychopathologie des Alltagslebens ging Freud bereits 1901 auf die große symbolische Bedeutung eines Ringes näher ein, indem er einen Doktor zitierte, der seinem Schüler als Zeichen der Verbundenheit einen Ring gab.45 Nicht alle Träger eines freudschen Ringes scheinen diesen jedoch in Ehren gehalten zu haben. Karl Abraham etwa wollte den Ring nicht tragen.46 Jones wurde der Ring gar gestohlen – ausgerechnet aus dem Kofferraum seines Auto­ mobils.47 Als Abraham 1925 starb, stand endlich auch der Nachfolger fest, der die psychoanalytische Vereinigung in Zukunft leiten sollte: Es war weder einer der »angenommenen Söhne« Freuds noch ein Komitee, sondern seine Tochter Anna. Nach Freuds Tod arbeitete sie seinen Jupiterring um und trug ihn fortan als Bro­ sche.48

4 Der Vater Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, zur Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Freud und Jung, der sich mit einer Form von ›Mythologie‹ beschäftigte, schrieb Freud an einem Buch, mit dem er der jungschen Mythologie begegnen wollte. Er veröffentlichte es 1913 unter dem Titel Totem und Tabu. In diesem Buch geht es nicht um die wahre Religion oder gar ihr Erbe, sondern um ihre Genese. Freud schreibt:

43 Diese Behauptung Freuds ist nicht ganz richtig. Abraham starb 1925, die Rundbriefe wurden jedoch noch bis 1927 fortgeführt. Zwischen 1934 und 1945 verfasste Otto Fenichel zunächst in Europa und dann in Amerika weitere Rundbriefe. Vgl. Otto Fenichel: 119 Rundbriefe (1934–1945). Hg. von Johannes Reichmayr und Elke Mühlleitner. 2 Bde. Frankfurt am Main 1998. 44 Vgl. Freud an Ernst Simmel, 11. November 1928. In: Freud: Briefe (Anm. 42), S. 376. 45 Vgl. Sigmund Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens [1904]. In: Ders.: Werke (Anm. 28), Bd.  4, S. 1–310, hier S. 227–230. Dort wird die Bedeutung eines Ringes und damit verbundenes Fehlverhalten unter den »Symptom- und Zufallshandlungen« besprochen. 46 Grosskurth (Anm. 31), S. 17. 47 Ebd. 48 Nach Information des Freud Museum London schenkte Freud seiner ehemaligen Patientin und Annas Freundin Dorothy Burlington bereits in den 1920er-Jahren eine mit Opalen besetzte Nadel. Siehe dazu auch Elisabeth Young-Bruehl: Anna Freud. A Biography. New York 1994, S. 468.

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Von der Psychoanalyse, welche zuerst die regelmäßige Überdeterminierung psychischer Akte und Bildungen aufgedeckt hat, braucht man nicht zu besorgen, daß sie versucht sein werde, etwas so Kompliziertes wie die Religion aus einem einzigen Ursprung abzulei­ ten. Wenn sie in notgedrungener, eigentlich pflichtgemäßer Einseitigkeit eine einzige der Quellen dieser Institution zur Anerkennung bringen will, so beansprucht sie zunächst für dieselbe die Ausschließlichkeit so wenig wie den ersten Rang unter den zusammenwirken­ den Momenten.49

Dennoch beschränkt sich Freud nach einer Übersicht über die anthropologische und psychologische Literatur zu diesem Thema im Wesentlichen auf eine Erklä­ rung des Totems bzw. des Totemmahls: Die Psychoanalyse hat uns verraten, dass das Totemtier wirklich der Ersatz des Vaters ist, und dazu stimmt wohl der Widerspruch, daß es sonst verboten ist, es zu töten, und daß seine Tötung zur Festlichkeit wird, daß man das Tier tötet und es doch betrauert. Die ambi­ valente Gefühlseinstellung, welche den Vaterkomplex heute noch bei unseren Kindern auszeichnet und sich oft ins Leben der Erwachsenen fortsetzt, würde sich auch auf den Vaterersatz des Totemtieres erstrecken.50

Auch hier beschreibt Freud die Geschichte eines Vaters und seiner Söhne, doch geht es nicht um das Erbe des Vaters, sondern um den zumindest potenziellen Vatermord: Verfolgen wir in Religion und sittlicher Vorschrift, die im Totemismus noch weniger scharf gesondert sind, bisher die Folgen der in Reue verwandelten zärtlichen Strömung gegen den Vater, so wollen wir doch nicht übersehen, daß im wesentlichen die Tendenzen, welche zum Vatermord gedrängt haben, den Sieg behalten.51

Hier geht es Freud also in einem gewissen Sinn auch um eine Gleichstellung der Religionen, und zwar aus ihrem gemeinsamen psychoanalytischen Ursprung heraus. Denn so wie der Oedipus-Konflikt bei allen Patienten auftritt, wie die individuelle Analyse gezeigt hat, so ist auch eine allgemeine psychische Struktur bei den verschiedenen Völkern nachweisbar, woraus sich die Notwendigkeit einer Religion ableiten lässt. Nicht der monotheistische Gott ist ihnen jedoch notwen­ digerweise gemeinsam, sondern ihr Verhältnis zu dem einen Vater. Nachdem die Veröffentlichung von Totem und Tabu vom Geheimen Komitee noch mit einer Art ›Totemmahl‹ als Siegeszug gegen Jung gefeiert worden war,52 wurde Freud immer klarer, dass der wahre Vater seiner Organisation nicht der Leiter der Internationa­

49 Sigmund Freud: Totem und Tabu [1913]. In: Ders.: Werke (Anm. 28), Bd. 9, S. 1–194, hier S. 122. 50 Ebd., S. 170 f. 51 Ebd., S. 176. 52 Grosskurth (Anm. 31), S. 60.



Freuds Ringe 

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len Vereinigung für Psychoanalyse sein konnte, sondern nur er selbst – ein alter und zunehmend kranker Mann. Freuds Identifikation mit Lessings Nathan-Figur – oder besser gesagt mit dem namenlosen Vater seiner Parabel – verband sich jedoch noch mit einer anderen Gestalt. Wie aus seinem Aufsatz Der Moses des Michelangelo von 1914 und seinem Brief an Jung vom 17. Januar 1909 bereits hervorgegangen ist, handelte es sich dabei um den Gründer der mosaischen Religion selbst. Diesem ging es allerdings nicht um die Bevorzugung eines bestimmten Sohnes, sondern um die Leitung des von Gott erwählten Volkes. In seinen letzten Lebensjahren widmete sich Freud dieser Figur. Er begann seine Abhandlung Der Mann Moses und die monotheistische Religion 1934 in Wien und vollendete sie 1938 im Exil in London. Er schrieb den Text wie immer mit der Hand, an der er den Ring des Jupiter trug. Moses, der Gott gleicht, dessen Gott aber auch seine Charakteristiken ange­ nommen haben mag, verkündet in Freuds Schrift die monotheistische Religion einer Horde von Menschen, wie sie als Urhorde bereits in Totem und Tabu begeg­ net. Doch es ist die Offenbarung dieser Religion, die die Horde vereint und sie zu einem Volk macht. Dieses Volk erhält »eine besondere Zuversicht im Leben«,53 eine Art Freude und Optimismus, wie Freud sie einst Martha versprochen hatte, durch den »geheimen Besitz eines kostbaren Gutes«. »Fromme würden es Gott­ vertrauen nennen«, schreibt Freud, der es als Psychoanalytiker besser deuten konnte. Denn »[w]ir kennen den Grund dieses Verhaltens und wissen, was ihr geheimer Schatz ist. Sie halten sich wirklich für das von Gott auserwählte Volk, glauben ihm besonders nahe zu stehen, und dies macht sie stolz und zuversichtlich.«54 Die Juden sind, mit anderen Worten, die Träger eines geheimen Rings. Dass diese Geschichte nicht konfliktfrei ist, erfahren wir ebenfalls. »Wenn man der erklärte Liebling des gefürchteten Vaters ist, braucht man sich über die Eifersucht der Geschwister nicht zu verwundern, und wozu diese Eifersucht führen kann, zeigt sehr schön die jüdische Sage von Josef und seinen Brüdern.«55 Aber es ist nicht nur die Eifersucht der Brüder untereinander, die zu Konflik­ ten führt. Die Liebe selbst, der Monotheismus, kann in seiner abstrakten Rein­ heit unerträglich werden. So antwortet die zum Volk gewordene Horde auf das Geschenk mit einem Vatermord. Sie tötet Moses. Und erst als ein zweiter Moses auftritt und abermals den Monotheismus verkündet, schließen sich die Juden

53 Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion [1939]. In: Ders.: Werke (Anm. 28), Bd. 16, S. 101–246, hier S. 212. 54 Ebd., S. 212. 55 Ebd., S. 213.

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 Liliane Weissberg

endgültig zu einem Volk zusammen. Nicht das Geschenk der Liebe des Vaters wird hier auf Dauer entscheidend, sondern die Schuld des Vatermords. So umschreibt Freud schließlich nicht nur den Ursprung der Religion an sich, sondern insbesondere die Entstehung der jüdischen Religion  – und zwar mit einer Geschichte, die eine Version von Lessings Parabel darstellt. Freuds Vaterfigur gibt jedoch nicht im Sterben sein Erbe an seine Söhne weiter. Vielmehr erwählt er einen Sohn, der ihn tötet und erst durch diese Tat zu seinem Erben wird. Die Geschichte dieser Religion, wie die Geschichte der Psychoanalyse, mag sich zwar an Lessings Ideen halten, lässt aber wenig Raum für seinen Gedanken der Toleranz.

Anhang

Zusammenfassungen der Beiträge in deutscher Sprache Jan Assmann Der Mythos von Isis und Osiris als Ursprung der Ringparabel? Bei Plutarch und Diodor findet sich die Legende, dass Isis 26 (Diodor) bzw. 14 (Plutarch) Repliken der Osiris-Mumie hergestellt und jedem Gau eine solche übergeben habe mit der geheimen Versicherung, es handele sich um den wahren Leichnam, den sie bestatten und in Ehren halten sollten. Der Beitrag führt die Legende auf das spätägyptische Ritual zurück, das ihr zugrunde liegt, und geht der Frage nach, inwieweit hier von einer Parallele der Ringparabel die Rede sein kann, bei der es ja ebenfalls um das Motiv der durch Vervielfältigung verborgenen Wahrheit geht. Annemarie C. Mayer Ramon Lull – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen Ein Beitrag zur mittelalterlichen Toleranzdebatte In Ramon Lulls Buch vom Heiden und den drei Weisen geht es weder um Ringe noch um Perlen, noch vererbt ein Vater seinen Söhnen irgendetwas. Dennoch steht dieses Werk im Schnittpunkt der religiösen Toleranzdebatte und hatte als einflussreicher mittelalterlicher (Vorlagen-)Text zumindest indirekt auch Auswirkungen auf das Denken Lessings. Nach einer Rekonstruktion des geschichtlichen Kontexts von Lulls Wirken und einem Überblick über die Textgeschichte des Buches vom Heiden und den drei Weisen zeichnet dieser Beitrag die religionstheologische Argumentation Lulls in seinem Werk nach: Dem letzten Ziel des ewigen Heiles entspricht die Suche nach der vera religio, der wahren Religion, die im Verlauf der von Lull erzählten Geschichte zur Suche nach der besten – oder zumindest der im Vergleich zu den anderen besseren – Religion wird und dem ›echten Ring‹ bei Lessing entsprechen dürfte. Zur Bestimmung dieser besten Religion stützen sich Lulls Protagonisten auf eine strikt vernunftgeleitete Methodik. Die Richterfunktion der Vernunft stellt sicher, dass die plausibelste Religion den Wettstreit für sich entscheidet, denn Lull setzt nicht auf Autoritätsbeweise, sondern auf den gesunden Menschenverstand. Für ihn können sich Glaube und Vernunft nicht widersprechen und auch Nichtchristen sind Menschen, die sich dem übergeordneten Ziel, Gott zu lieben, zu loben und zu ehren, verpflichtet wissen. Ist Lull deshalb schon als tolerant zu klassifizieren? Im heutigen, modernen Sinn sicher nicht, da sein Ziel nach wie vor die Bekämpfung religiösen Irrtums und die Bekehrung der sogenannten Ungläubigen ist. Doch ist seine Position durch ihre beschriebenen Charakteristika im Vergleich mit anderen Positionen seiner Zeit, aber auch mit heutigen Maßstäben eine erstaunlich offene, die durchaus Pate gestanden haben könnte für Lessings Ringparabel. Wolf-Dieter Stempel Die Ringparabel im Vorfeld der Decameron-Version (Étienne de Bourbon, Li dis dou vrai aniel, Gesta Romanorum, Il Novellino, Bosone da Gubbio) Ausgangsfrage der Analyse ist, wie sich die im Titel genannten Bearbeitungen der Ringparabel zu der kanonischen Version verhält, wie sie im Decameron I 3 erzählt wird. Es sind dabei drei

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 Anhang

Textgruppen zu unterscheiden. Die erste zeichnet sich dadurch aus, dass, so das kurze »exem­ plum« des Domenikaners Étienne de Bourbon, von vornherein als Zweck »der Erweis des wahren Glaubens« angegeben wird, während der beredte Verfasser des altfranzösischen Dis dou vrai aniel nicht nur durch moralische Abqualifikation der zwei konkurrienden Religionen die christliche Orthodoxie herausstellt, sondern darüber hinaus zur Erneuerung der ermatteten Kreuzzugsideologie und also zu offensiver Intoleranz aufruft. Die Texte der zweiten Gruppe, drei literarisch dürftige Exempla aus den Gesta Romanorum, mildern zwar die Abqualifikation der Konkurrenzreligionen, lassen aber, mit Ausnahme von cap. 31, am Vorrang der christlichen Orthodoxie keinen Zweifel. Novellino Nr. 73 und die chiosa e von L’avventuroso siciliano von Bosone da Gubbio scheinen dagegen eine ›tolerante‹ Version der Ringparabel zu bieten, die hinführt zur Decameron-Novelle I 3. Sie ist allerdings im Avventuroso siciliano (wohl einer Ausarbeitung von Nov. 73) überschattet durch einen als Belehrung gedachten antisemitischen Ausfall des Erzählers, was nahelegt, dass der Text der Parabel selbst keine Toleranzbotschaft transportiert, sondern mit seinen verschiedenen Verfahren ästhetischer Gestaltung als ein Stück Unterhaltungsliteratur zu verstehen ist. Valter Leonardo Puccetti Die Erzählung von den »Drei Ringen« im Novellino Das erste Zeugnis vom Motiv der drei Ringe in italienischer Sprache findet sich Ende des 13. Jahrhunderts im Novellino, der die erste ›organische‹ Novellensammlung der Romania darstellt. Im Vergleich zu Boccaccios Decameron schildert die anonyme Version des Novellino den Saladin als einen erbarmungslosen und vorschnellen machiavellistischen Herrscher, der vom reichen Juden überlistet und zum Schweigen gebracht wird. Die relativistische und tolerante Moral der Parabel erscheint im Novellino im Lichte eines immanenten Skeptizismus, wenn nicht gar eines höhnischen Laizismus, der im Einklang steht mit der Weltanschauung des anonymen Verfassers, wie sie sich in seinen Schriften niederschlägt, aber ebenso mit den übrigen Erzählungen im Umfeld des untersuchten Textes. Möglicherweise liegt auch eine Kontamination mit dem Motiv der tres baratores (›Drei Betrüger‹) vor, das von der guelfischen Tradition auf Friedrich II. und das ghibellinische Milieu zurückgeführt wurde. Berücksichtigt man jedoch den jüdischen Hintergrund stärker, so vermag die Erzählung einen positiven Gehalt zu gewinnen: Das ›Schweigen Gottes‹, der Tod des Vaters, mahnt die Kinder zur Verantwortung und konfrontiert sie mit einer Frage, die sie – ohne jeglichen Schutz durch die Transzendenz – mit ihren Entscheidungen und ihren Taten beantworten müssen. Andreas Kablitz Boccaccios Decameron-Novelle I 3 Während Lessings Nathan der Weise mit seiner Ringparabel den Inbegriff einer Toleranzgeschichte auf die Bühne gebracht hat, bietet seine Vorlage, die Novelle Boccaccios, dafür kaum eine Handhabe. Denn sie scheint im Umgang mit dem Dogma von einer Radikalität zu sein, die jede Frage nach dem Erfordernis von Toleranz ad absurdum führt, weil nichts übrig bleibt, gegenüber dem Toleranz zu üben wäre. Toleranz, so geben die Überlegungen am Eingang des Beitrags zu erkennen, beruht stets auf einer Zuordnung von Wahrheitsanspruch und Vernunft. Im Namen der Vernunft empfiehlt sich der Respekt vor konkurrierenden Geltungsansprüchen, weil alle Wahrheitspostulate der Irrtumsfähigkeit des Menschen unterliegen. Und schon die permissio comparativa der Scholastik unter-



Zusammenfassungen der Beiträge in deutscher Sprache 

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zog die Wahrheit einem rationalen Abgleich von Schaden und Nutzen einer Durchsetzung ihrer Geltung. Doch weder für das eine noch für das andere bleibt in der Welt des Decameron Raum. Denn Geltung ist in dieser Welt keine epistemische, sondern im Grunde (nur) eine soziale Kategorie, wie der vorliegende Beitrag zeigt. Das Sagen hat, wer sich auf valore – in seinen durchaus unterschiedlichen Erscheinungsformen  – stützen kann. Valore stiftet zeitweilige, ausgesprochen labile Ordnung, aber diese Ordnung hat nicht irgendeinen epistemischen Index. Die Reduktion des biblischen Gottes auf einen Gott der Macht, dem auch alle Wahrheitsprätentionen zu nichts anderem als dem Management seiner Macht dienen, betreibt neben ihrem religionskritischen Impetus im Grunde eine Analyse der Verhältnisse der irdischen Welt. Linus Möllenbrink Toleranz in einer apologetischen Ringparabel-Erzählung? Michel Beheims Lied Nr. 294 Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit einem kaum bekannten Zeugnis der deutschsprachigen Ringparabel-Tradition. Michel Beheims Lied Nr. 294 gehört dem sogenannten apologetischen Traditionszweig an, der vor allem im Kontext klerikaler Exempelsammlungen überliefert ist. Dieses Erbe lässt sich auch bei Beheim noch erkennen. Allein die Betitelung des Textes in den Handschriften als beispiel oder exempel verweist auf die Predigttradition. Allerdings setzt sich die lyrische Bearbeitung doch formal und inhaltlich davon ab. Im Vergleich mit den Vorlagen Beheims, zwei Erzählungen aus den Gesta Romanorum, werden die Besonderheiten des Liedes herausgestellt. Der Fokus der Untersuchung liegt dabei auf dem Verhältnis von ›Toleranz‹ und ›Apologese‹ sowie der Frage, inwieweit diese Kategorien überhaupt zur Beurteilung vormoderner Texte geeignet sind. Achim Aurnhammer Boccaccios Ringparabel im frühneuzeitlichen Deutschland (1476 bis 1608) Lange vor Lessings Ringparabel-Adaptation wurde Giovanni Boccaccios No­­velle I 3 in Deutschland intensiver rezipiert als bisher bekannt. Der vorliegende Beitrag widmet sich den Aktualisierungen der Melchisedech-Novelle im 15. und 16. Jahrhundert, für welche die Übersetzung von Arrigho di Federigho della Magna (1476) oft als Ausgangstext diente. In sprachlich-stilistischen wie narratologischen Vergleichen werden – Boccaccios italienische Novelle mitbedenkend – erörtert: die Statuenparabel im Liber divinae revelationis (1490), in der Boccaccios Skepsis in religiösen Fragen zugunsten einer religiösen Heilsgewissheit zurückgenommen wird, Hans Sachs’ Meisterlied Der Jued mit den dreyen ringen (1545), welches das Geschehen politisch aktualisiert, sowie das anonyme Gleichnus Eines Juden der Religion (1605), in dem die Streitfrage von den drei monotheistischen hin zu den drei christlichen Religionen verschoben wird. Untersucht wird außerdem die Rezeption der Ringparabel in der Schwanktradition, im Schertz mit der Warheyt (1550) sowie in Dietrich Mahrolds Roldmarsch Kasten (1608), in denen konfessionspolitische Konflikte die Bearbeitung prägen. Im interkulturellen Dialog mit Boccaccio erhielt die Ringparabel eine Deutungsdynamik, die dem zunehmenden konfessionellen Entscheidungsdruck im frühneuzeitlichen Deutschland Rechnung trug: Die Frage nach den drei monotheistischen Religionen wird konfessionspolitisch aktualisiert und erzähltechnisch vereinfacht.

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Mario Zanucchi ›Fashion Crisis‹ Jonathan Swifts A Tale of a Tub (1704) als satirische Variante der Ringparabel In seiner satirischen Adaptation der Ringparabel situiert sich Swift im apologetischen Lager, indem er das Bekenntnis zum Christentum als der einzig wahren Religion zum strukturellen Apriori seiner Fabel erhebt und die englische Nationalkirche gegen ihre Feinde im In- und Ausland in Schutz nimmt. Swift vertauscht Boccaccios Ringe durch die Röcke und nimmt insofern an der Debatte über die ›Fashion Crisis‹ des ausgehenden 17. Jahrhunderts teil, als er seine Apologie der anglikanischen Kirche mit einem Plädoyer für das englische Ethos gegen den zersetzenden Einfluss des französischen Luxus ›verwebt‹. Christian Rivoletti Les trois anneaux (1721) Eine französische Verserzählung zwischen Boccaccio und Lessing In der Istoria del Decamerone (Florenz 1742) von Domenico Maria Manni, die Lessing 1775 während seiner Italienreise erwarb, wird eine französische Verserzählung zitiert, die an Boccaccio inspiriert ist. Es handelt sich um Les trois Anneaux, ein anonymes Werk des frühen 18. Jahrhunderts, das ausdrücklich für religiöse Toleranz und die Beendigung der Verfolgung der Hugenotten plädiert. Ein intertextueller Vergleich hebt inhaltliche und strukturelle Aspekte hervor und präsentiert somit die französische Verserzählung als ein wichtiges Glied der Überlieferungskette, die Boccaccios Novelle (Dec. I 3) mit Lessings Drama Nathan der Weise verbindet. Winfried Schröder Religion und Betrug Die Ringparabel, die Wolfenbütteler Fragmente und der Traktat De tribus impostoribus Lessings Parabel von den drei Ringen hat manche Leser an das Schlagwort von den ›drei Betrügern‹ – Moses, Jesus und Mohammed – denken lassen. Dem Verfasser des Nathan waren übrigens die beiden einschlägigen Traktate Über die drei Betrüger (De tribus impostoribus / Traité des trois imposteurs) bekannt. Welche Rolle diese Texte bei der Entstehung des Nathan gespielt haben, ist unklar. Ein vergleichender Blick auf den Topos des Religionsbetrugs kann jedoch auf Besonderheiten und Defizite der lessingschen Toleranzkonzeption aufmerksam machen. Giulia Cantarutti Das italienische Umfeld von Lessings Ringparabel Skizze zur Erkundung verschütteter Wege Der Beitrag geht andere Wege als Lea Ritter Santinis Aufsatz Die Erfahrung der Toleranz. Melchisedech in Livorno in dem Band Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien 1775. Nicht wegzudenkende Grundlage sind allerdings die dort beschriebenen Büchererwerbungen. Dazu zählt die Istoria del Decamerone (1742) von Domenico Maria Manni, dem Leiter der Strozzischen Bibliothek. Darin sind u. a. zwei sehr wichtige, die Decameron-Novelle I 3 betreffende Lezioni sopra il Decamerone von Giovanni Bottari enthalten, die heute in Vergessenheit geraten sind, aber Lessing wohlbekannt waren, obgleich die übrigen Lezioni erst 1818 postum erschienen.



Zusammenfassungen der Beiträge in deutscher Sprache 

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Ferner wird auf die Rolle von Giovanni Lami als Herausgeber der Historiae Siculae pars prima (1739) und als Verfasser eines Artikels über die Novella del Giudeo Melchisedech hingewiesen. Dabei werden die Rezeption der Kirchenväter – u. a. am Beispiel der florentinischen Erfahrungen Jagemanns – und die Beziehungen sowohl zu der römischen ›Arcadia filosofica‹ wie auch zu Mazzuchelli und dem Kardinalbibliothekar Angelo Maria Querini herausgearbeitet. Letztere waren in Brescia tätig, wo auch Fortunato Bartolomeo De Felice, der Verfasser des Artikels Tolérance (1775) in der Encyclopédie d’Yverdon, seine Ausbildung erhalten hatte. Der Beitrag schließt im Vorfeld des Nathan mit einem in den Collectanea enthaltenen Eintrag zu Reimarus und Querinis Vermittlerrolle, der Lessings eingehende Lektüre der Nuova raccolta d’Opuscoli scientifici e filologici belegt. Friedrich Vollhardt Die Ringparabel in G. E. Lessings Drama Nathan der Weise Aktualität − Historizität – Kontiguität Der Beitrag bietet eine umfassende Darstellung und Interpretation der Ringparabel von Gotthold Ephraim Lessing in vier Schritten. Zunächst wird die Ringparabel analysiert, wobei ein Hauptaugenmerk auf den Abweichungen gegenüber dem von Boccaccio gelieferten Muster liegt. Diese Ergebnisse werden dann auf den engeren intratextuellen Kontext, das Drama selbst, bezogen, u. a. auf die Hiob-Szene im vierten Akt. Im Anschluss daran werden die von Lessing im Fragmentenstreit entwickelten Gedankengänge und theologischen Streitschriften einbezogen, um die Position genauer zu bestimmen, von der aus im Nathan die Frage nach der Wahrheit der Religion(en) gestellt und auch beantwortet wird. Schließlich findet noch eine weitere, etwas entferntere Konstellation Berücksichtigung, die aufschlussreich ist für das in der Zeit diskutierte Problem der reli­giösen Toleranz; gemeint ist die Italienreise Lessings mit den Gesprächen, welche er in Livorno führte, sowie den literarischen Quellen, vor allem den historischen Kommentaren zu Boccaccios Decameron, die er vor Ort kennengelernt und für die Wolfenbütteler Bibliothek erworben hat. Abschließend wird dann noch einmal die Frage nach der Modernität der Ringparabel gestellt. Francesca Tucci Nathan und die Ringparabel im Kontext antisemitischer Lessing-Darstellungen Eugen Dühring und Sebastian Brunner Der Aufsatz befasst sich mit zwei Fällen antisemitischer Lessing-Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Österreich. Dabei steht die Auseinandersetzung Eugen Dührings und Sebastian Brunners mit dem Drama Nathan der Weise und dem mit ihm verbundenen Toleranzdiskurs im Mittelpunkt. Zunächst werden einige philosophische und kulturkritische Grundpositionen Dührings betrachtet, die für seine Antisemitismus-Theorie relevant sind. Daran schließt sich der eigentliche, Lessing betreffende Teil des Aufsatzes an, in dem Dührings Schrift Die Ueberschätzung Lessing’s und dessen Anwaltschaft für die Juden (1881) ebenso untersucht wird wie Sebastian Brunners Aufsatz Lessingiasis und Nathanologie. Eine Religionsstörung im Lessing- und Nathan-Cultus (1890). Während Dühring behauptet, Nathan der Weise sei ein Werk, in dem die ganze Unzulänglichkeit Lessings als Dichter, Kritiker, Aufklärer und Mensch zutage trete, erklärt Brunner, mit seinem literarischen Angriff auf Lessing eine Art ärztliche Leistung zur Heilung einer lästigen Krankheit zu erbringen.

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Liliane Weissberg Freuds Ringe Sigmund Freud kannte die Werke Lessings gut, insbesondere dessen dramatisches Gedicht Nathan der Weise. Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit drei Beispielen freudscher LessingRezeption, in denen es um die Bestimmung von Judentum und Psychoanalyse sowie um sein eigenes Erbe geht: Freuds Auseinandersetzung mit der Ringparabel während seiner Verlobungszeit, wie sie im Briefwechsel mit Martha Bernays dokumentiert ist, Bezüge zur Ringparabel anlässlich der Etablierung der Psychoanalytischen Vereinigung und schließlich die Rezeption in Freuds letzter großer Arbeit Der Mann Moses und die monotheistische Religion.

Riassunti dei contributi in lingua italiana Jan Assmann Il mito di Iside e Osiride come origine della parabola degli anelli? In Plutarco e in Diodoro si trova la leggenda secondo cui Iside avrebbe creato rispettivamente 14 ovvero 26 repliche del corpo mummificato di Osiride, consegnandole poi ai vari distretti, di volta in volta con la segreta assicurazione che si trattasse del cadavere autentico, da inumare e onorare. Il presente contributo riconduce la leggenda al rituale tardo-egizio, che ne sta alla base, e indaga in che misura si possa parlare qui di un parallelismo con la parabola degli anelli, che, come noto, verte anch’essa sul motivo della verità celata dalle riproduzioni. Annemarie C. Mayer Raimondo Lullo – Il libro del Gentile e dei tre Savi Un contributo al dibattito medioevale sulla tolleranza religiosa Nel Libro del Gentile e dei tre Savi di Raimondo Lullo non si parla di anelli o di perle, né di un padre che lascia qualcosa in eredità ai suoi figli. Quest’opera tuttavia ha una posizione cruciale nel dibattito sulla tolleranza religiosa e come influente testo del Medioevo ha avuto per lo meno indirettamente anche un’incidenza sul pensiero di Lessing. Dopo una ricostruzione del contesto storico dell’operato di Lullo e una breve panoramica della storia testuale del Libro del Gentile e dei tre Savi, il presente contributo delinea l’argomentazione teologico-religiosa nell’opera lulliana: allo scopo ultimo della salvezza eterna corrisponde la ricerca della vera religio, che nel corso della storia narrata da Lullo diviene ricerca della migliore religione – o per lo meno della religione migliore in confronto alle altre –, legittimamente comparabile all’ »anello autentico« in Lessing. Per determinare quale sia questa religione migliore i protagonisti della storia lulliana si basano su un metodo rigorosamente guidato dalla ragione. La funzione giudicatrice della ragione assicura che vinca la contesa la religione più plausibile, perché Lullo non si affida a prove basate sull’autorità, ma al sano buonsenso. Per lui fede e ragione non possono contraddirsi e anche i non cristiani sono uomini che si sentono obbligati a un fine superiore: amare, lodare e onorare Dio. E’ sufficiente questo per classificare Lullo come tollerante? Nel significato odierno del termine sicuramente no, poiché il suo scopo è e rimane la lotta contro gli errori in materia di fede e la conversione dei cosiddetti miscredenti. D’altro canto però la sua posizione, se confrontata con altre posizioni coeve ma anche secondo parametri odierni, appare così straordinariamente aperta da avere potuto senz’altro tenere a battesimo la parabola degli anelli di Lessing. Wolf-Dieter Stempel La parabola dei tre anelli prima della redazione del Decameron (Étienne de Bourbon, Li dis dou vrai aniel, Gesta Romanorum, Il Novellino, Bosone da Gubbio) La questione di partenza dell’analisi è il rapporto fra i differenti adattamenti della parabola dei tre anelli indicati nel titolo e la versione canonica presentata dalla novella I 3 del Decameron. Occorre distinguere tre gruppi di testi. Il primo, il breve exemplum del domenicano Étienne de Bourbon, si qualifica per il fatto di indicare fin dal principio come scopo »la dimostrazione della vera fede«, mentre l’eloquente autore del testo francese antico Dis dou vrai aniel non soltanto

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mette in risalto l’ortodossia cristiana squalificando le due religioni concorrenti, ma fa anche appello al rinnovamento dell’ormai indebolita ideologia delle crociate e dunque a un’intolleranza aggressiva. I testi del secondo gruppo, tre exempla di scarso valore letterario, tratti dai Gesta Romanorum, attenuano invero la dequalificazione delle religioni concorrenti, ma non lasciano dubbio alcuno, ad eccezione del cap. 31, sulla superiorità dell’ortodossia cristiana del Novellino. Il nr. 73 e la chiosa e dell’ Avventuroso siciliano di Bosone da Gubbio sembrano invece offrire una versione »tollerante« della parabola degli anelli, che porta alla novella I 3 del Decameron. Nell’Avventuroso siciliano (che è probabilmente un’elaborazione del testo 73 del Novellino) su questa »tolleranza« grava peraltro un’ombra: un’invettiva antisemitica del narratore intesa come ammaestramento. Ciò induce a credere che il testo della parabola non veicoli un messaggio di tolleranza, ma che con i suoi diversi procedimenti di raffigurazione estetica rientri nella letteratura di intrattenimento. Valter Leonardo Puccetti La novella delle »tre anella« nel Novellino La prima attestazione del motivo delle »tre anella« in lingua italiana è nel fine-duecentesco Novellino, il quale è anche la prima raccolta ›organica‹ di novelle di area romanza. Rispetto alla versione che sarà fornita da Boccaccio nel Decameron, quella dell’autore anonimo del Novellino offre del Saladino un’immagine di brutale e sbrigativo sovrano machiavellico, che viene sconfitto e tacitato dal ricco ebreo. La morale generalmente relativistica e tollerante della parabola appare nel Novellino declinata secondo uno scetticismo immanentistico (se non proprio di laicità beffarda), coerentemente con l’ideologia dell’anonimo quale emerge dalla sua opera e con le altre novelle della sequenza in cui è compresa la nostra novella e forse contaminando col motivo dei tres baratores che la tradizione guelfa riconduceva a Federico II e all’area ghibellina. Ma uno studio più attento del retroterra cultural-religioso giudaico potrebbe forse enucleare la positività del messaggio del racconto del Novellino: il ›silenzio di Dio‹, la morte del Padre, responsabilizzano il futuro dei figli, consegnano loro un interrogativo che essi dovranno riempire con le loro opzioni, con le loro azioni, fuori ormai da ogni tutela trascendente. Andreas Kablitz La novella I 3 del Decameron di Boccaccio Mentre con la parabola degli anelli Nathan der Weise ha portato sulla scena la quintessenza di una storia di tolleranza, la novella di Boccaccio cui Lessing si ispira non offre propriamente un appiglio in tal senso. Nel suo rapporto con il dogma la novella appare infatti di una radicalità tale da condurre ad absurdum ogni interrogativo sull’esigenza di tolleranza, giacché non rimane più nulla verso cui ci sarebbe da esercitare tolleranza. La tolleranza – lo si evince dalle riflessioni introduttive del contributo – si basa sempre sul correlarsi di istanze di verità e ragione. In nome della ragione si raccomanda il rispetto dinanzi a istanze di validità in concorrenza reciproca, giacché tutti i postulati di verità sono soggetti all’umana fallibilità. E già la permissio comparativa della scolastica sottoponeva la verità a un bilanciamento del malum e del vantaggio conseguenti all’affermarsi della sua validità. Nel mondo del Decameron non rimane però spazio né per l’uno né per l’altro. In questo mondo infatti la validità non è una categoria epistemica, ma è in fondo (solo) una categoria sociale, come mostra il presente contributo. Ha voce in capitolo chi può basarsi sul »valore« nella sua



Riassunti dei contributi in lingua italiana 

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differenziatissima fenomenologia. Il »valore« fonda un ordine, che tuttavia è un ordine temporaneo, dichiaratamente labile, privo di qualsiasi indice epistemico. La riduzione del Dio biblico a un Dio del potere cui anche tutte le pretese di verità non servono se non al management del medesimo, finisce per esercitare, accanto all’impulso critico nei confronti della religione, un processo di analisi dei rapporti vigenti nel mondo terreno. Linus Möllenbrink Tolleranza in un racconto apologetico della parabola degli anelli? Il Lied Nr. 294 di Michel Beheim Il presente saggio si occupa di un documento assai poco noto della tradizione della parabola degli anelli nell’area linguistica tedesca. Il Lied Nr. 294 di Michel Beheim appartiene al cosiddetto ramo ›apologetico‹ della tradizione, tramandato soprattutto nel contesto delle raccolte di exempla clericali. Tale eredità è ancora riconoscibile anche in Beheim. L’intitolazione del testo nei manoscritti come Beispiel o exemplum rimanda però alla tradizione omiletica. Si discosta peraltro da essa, formalmente e contenutisticamente, la rielaborazione lirica. Le peculiarità del Lied in oggetto vengono enucleate nel confronto con i materiali su cui si basava Beheim, due narrazioni tratte dai Gesta Romanorum, focalizzando il rapporto fra ›tolleranza‹ e ›apologetica‹ come pure la questione dell’adeguatezza di tali categorie per la valutazione di testi premoderni. Achim Aurnhammer La parabola degli anelli di Boccaccio nella Germania della prima età moderna (1476–1608) Molto prima dell’adattamento da parte del Lessing della parabola degli anelli la novella I 3 del Boccaccio era stata recepita in Germania con intensità assai maggiore di quanto si creda. Il presente contributo è dedicato alle attualizzazioni della novella di Melchisedech giudeo nel XV e XVI secolo, che si valevano spesso come testo di partenza della traduzione di Arrigho di Federigho della Magna (1476). In una serie di raffronti linguistico-stilistici nonché narratologici e tenendo altresì conto della novella italiana di Boccaccio vengono esaminate, nell’ordine, la parabola delle statue nel Liber divinae revelationis (1490), in cui lo scetticismo di Boccaccio nei confronti della religione viene ritrattato a favore della certezza di una salvezza eterna, il Meisterlied di Hans Sachs Der Jued mit den dreyen ringen (1545), che attualizza politicamente la vicenda, e l’anonimo Gleichnus Eines Juden der Religion (1605), nel quale la disputa si sposta dalle tre religioni monoteiste alle tre confessioni cristiane. Viene inoltre studiata la ricezione della parabola degli anelli nella tradizione dello Schwank, nello Schertz mit der Warheyt (1550) come pure nel Roldmarsch Kasten (1608) di Dietrich Mahrold, improntati da conflitti politico-confessionali. Nel dialogo interculturale con Boccaccio la parabola degli anelli acquisisce una dinamica interpretativa capace di dare adeguato conto della crescente pressione per la scelta confessionale nella Germania dell’epoca: la questione delle tre religioni monoteistiche viene attualizzata in ottica politico-confessionale e semplificata dal punto di vista della tecnica narrativa.

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Mario Zanucchi ›Fashion Crisis‹ A Tale of a Tub (1704) di Jonathan Swift come variante satirica della parabola degli anelli Nel suo adattamento satirico della parabola degli anelli Swift si situa nel campo apologetico in quanto innalza la professione di fede cristiana a presupposto del suo racconto e prende le difese della chiesa anglicana nei confronti dei suoi detrattori. Inoltre Swift sostituisce il motivo degli anelli con quello degli abiti e prende parte al dibattito sulla ›Fashion Crisis‹ della fine del XVII secolo, nella misura in cui coniuga la sua apologia della chiesa anglicana con una difesa dell’ethos inglese dall’influenza nefasta del lusso francese. Christian Rivoletti Les trois anneaux (1721) Un racconto francese in versi tra Boccaccio e Lessing In un libro acquistato da Lessing nel 1775 durante il suo viaggio in Italia, l’Istoria del Decamerone (Firenze 1742) dell’accademico della Crusca Domenico Maria Manni, si cita il testo di un racconto francese in versi ispirato a Boccaccio. Si tratta di Les trois anneaux, opera anonima del primo Settecento, che contiene un appello esplicito alla tolleranza religiosa e alla cessazione delle persecuzioni contro gli ugonotti. Attraverso un confronto intertestuale, il contributo intende mettere in rilievo alcuni aspetti contenutistici e strutturali che fanno del racconto francese un anello importante della catena che collega la novella (Dec. I 3) di Boccaccio al dramma di Lessing Nathan der Weise. Winfried Schröder Religione e inganno La parabola degli anelli, I frammenti dell’Anonimo di Wolfenbüttel e il trattato De tribus impostoribus La parabola dei tre anelli di Lessing ha fatto pensare certi lettori allo slogan dei »tre impostori« – Mosè, Gesù e Maometto. All’autore del Nathan erano del resto noti entrambi i trattati Über die drei Betrüger (De tribus impostoribus e Traité des trois imposteurs). Non è chiaro quale ruolo abbiano svolto questi testi nella genesi del Nathan. Gettando uno sguardo comparativo sul topos dell’inganno religioso possono tuttavia scorgersi peculiarità e deficit della concezione lessinghiana di tolleranza. Giulia Cantarutti Dintorni italiani della parabola degli anelli di Lessing Per una ricognizione di percorsi dimenticati Uno schizzo Il contributo segue vie diverse da quelle seguite da Lea Ritter Santini nell’articolo relativo all’esperienza della tolleranza vissuta dall’autore del Nathan a Livorno, Die Erfahrung der Toleranz Melchisedech in Livorno nel volume sul viaggio di Lessing in Italia, Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien. Base irrinunciabile rimane però la lista dei libri acquistati in Italia ivi stilata. Proprio in uno di questi, l’Istoria del Decamerone (1742) di Domenico Maria Manni, bi­bliotecario della Strozziana, sono contenute due cruciali Lezioni sopra il Decamerone di Gio-



Riassunti dei contributi in lingua italiana 

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vanni Bottari concernenti la Novella I 3, lezioni che diversamente dalle altre, pubblicate postume solo nel 1818, sono oggi cadute in oblio. A Lessing invece tale fonte a stampa era ben nota. Viene altresì studiato il ruolo di Giovanni Lami come editore della Historiae Siculae pars prima (1739) e autore di un articolo sulla Novella del Giudeo Melchisedech. Si enucleano la valenza della ricezione dei Padri della Chiesa – anche sull’esempio delle esperienze fiorentine di Jagemann – e le relazioni sia con l’›Arcadia filosofica‹, sia con Mazzuchelli e il Cardinal Bibliotecario Angelo Maria Querini, attivi entrambi a Brescia, la città in cui si era formato Fortunato Bartolomeo De Felice, l’autore dell’articolo Tolerance (1775) nell’Encyclopédie d’Yverdon. In chiusura si apre lo scenario sulla fase preparatoria del Nathan: il ruolo di Querini mediatore di Reimarus registrato nelle Collectanee di Lessing, che si rivela lettore attento della Nuova raccolta d’Opuscoli scientifici e filologici. Friedrich Vollhardt La parabola degli anelli nel Nathan der Weise di G. E. Lessing Attualità – storicità – contiguità Il contributo offre un’interpretazione di ampio respiro della parabola degli anelli di Lessing scandendosi in quattro momenti. In apertura viene analizzata la parabola degli anelli, focalizzando in particolare le deviazioni rispetto al modello fornito da Boccaccio. I risultati di tale analisi vengono poi correlati al contesto intertestuale del dramma, tra cui la scena di Giobbe nel quarto atto. In seguito l’analisi si allarga alle riflessioni e alle polemiche teologiche che Lessing sviluppa nel corso del cosiddetto »Fragmentenstreit«, per potere determinare con maggiore esattezza la posizione da cui nel Nathan viene posta e ottiene risposta la questione della verità della religione / delle religioni. Si prende in esame infine un’altra costellazione, un po’ più remota, peraltro illuminante ai fini del problema della tolleranza religiosa quale era discusso all’epoca: quella del viaggio in Italia di Lessing, che comprende le conversazioni avute a Livorno come pure i commenti storici al Decamerone conosciuti in loco e acquistati per la biblioteca di Wolfenbüttel. Conclusivamente si ripropone la questione della modernità della parabola degli anelli. Francesca Tucci Nathan e la parabola dei tre anelli: due casi di ricezione in chiave antisemita di Lessing Eugen Dühring e Sebastian Brunner Il saggio si propone di analizzare due esempi di ricezione lessinghiana di impronta antisemita nella Germania e nell’Austria del XIX secolo; si tratta delle letture dell’opera Nathan der Weise da parte di Eugen Dühring e Sebastian Brunner e della feroce critica che entrambi muovono – sia pure a partire da assunti religiosi differenti – al concetto di tolleranza proposto da Lessing nel suo dramma. Nel presente contributo si procede analizzando in un primo momento la posizione di Dühring nell’ambito del panorama religioso e culturale in cui si muove, nel tentativo di evidenziare peculiarità e costanti delle sue teorie antisemite. La seconda parte del saggio si concentra con maggiore attenzione sulla figura di Lessing così come viene tratteggiata da Dühring nello scritto Die Überschätzung Lessing’s und dessen Anwaltschaft für die Juden (1881) e da Brunner in Lessingiasis und Nathanologie. Eine Religionsstörung im Lessing- und Nathan-Cultus (1890). Ancora una volta al centro dell’attenzione si trova il Nathan, opera in cui emergerebbe tutta la pochezza di Lessing come drammaturgo, critico e illuminista (Dühring), una sorta di personificazione dei mali del suo tempo, una vera e propria patologia, da estirpare con un intervento medico efficace e mirato (Brunner).

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 Anhang

Liliane Weissberg Gli anelli di Freud Sigmund Freud conosceva bene le opere di Lessing, in particolare il dramma Nathan der Weise. Il presente contributo analizza tre esempi della ricezione freudiana di Lessing, in cui si tratta della determinazione di ebraismo e psicoanalisi come pure della propria eredità spirituale: il confronto di Freud con la parabola degli anelli durante il suo (lungo) fidanzamento, quale è documentato nella corrispondenza con la fidanzata Martha Bernays, i rimandi alla parabola in occasione della fondazione dell’Associazione psicoanalitica e infine la ricezione nell’ultimo grande lavoro di Freud, L’uomo Mosè e la religione monoteistica.

Register Das Register umfasst die Namen historischer Personen und – sofern es sich um Autoren handelt – ihre erwähnten Schriften sowie die Titel anonym überlieferter Werke. Verfasser neuerer wissenschaftlicher Literatur sind nicht aufgenommen. Die italienischen Entsprechungen der verzeichneten Namen werden nur dann in Klammern ergänzt, wenn sie im vorliegenden Band Erwähnung finden.

Abraham, Karl 260–263 Abu Bakr di Tortosa 52, 55 Adler, Alfred 258 Addison, Joseph 150 Addison, Lancelot: First State of Mahumedism 151 al-Makīn ibn al-’Amīd: Historia saracenica 150 Albrecht IV., Herzog von Österreich 105 Albrecht Achilles, Kurfürst von Brandenburg 105 Alexander III., Papst (Alessandro III) 57 Amaduzzi, Giovanni Cristofano 195 f. Andreas-Salomé, Lou 262 Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-WeimarEisenach 199 Anna von Österreich 157 Annales Veronenses 57 Antologia romana 195 f. Aretino, Pietro 180, 186, 232 Arigo (Arrigho di Federigho della Magna): Decameron [dt.] XII, 99, 114–118, 120–122, 124–127, 271, 277 Ariosto, Ludovico 168 Arius 152 Augustinus von Hippo (Agostino d’Ippona) 195 Bandini, Angelo Maria 193 Barbieri, Lodovico 203 Basilius der Große 150 Baudier, Michel: Histoire Générale de la Religion des Turcs 150 Bayle, Pierre 165 Beheim, Michel XII, 87–89, 91, 93–96, 98–106, 114, 271, 277

– contra iudaeos-Lieder (Nr. 203–234) 103–105 – Lied Nr. 109 104 – Lied Nr. 204 103 f. – Lied Nr. 209 103 f. – Lied Nr. 210 103 f. – Lied Nr. 211 104 – Lied Nr. 231 104 – Lied Nr. 286 91 – Lied Nr. 288 95 f. – Lied Nr. 294 XII, 87–89, 93–111, 114, 271, 277 – Lied Nr. 309 104 – Pfälzische Reimchronik 104 Bernays, Berman 251–253, 256 Bernays, Eli 253 Bernays, Isaak 252 f., 256 f. Bernays, Jakob 252 f. Bernays, Martha 251–258, 263, 265, 274, 280 Bernays, Michael 252 f., 256 Bernays, Minna 253 Bianchi, Giovanni (Janus Plancus) 196 Bibel 5, 7, 55, 63, 77, 93 f., 149, 155, 177, 223 f. – Altes Testament 76, 81, 182 f., 186, 222, 238 – 1. Mose (Genesis) 59, 76, 119 – 2. Mose (Exodus) 149 – 5. Mose (Deuteronomium) 157 – Richter 5 f. – 1. Samuel 6 – Hiob 206, 222 – Psalmen 93 f. – Jesaja 184 – Daniel 182, 184 – Hosea 92

282 

 Anhang

– Neues Testament 40, 77, 93, 181 f. – Matthäus 77, 103, 182, 229 f. – Lukas 55, 77, 182 – Johannes 119, 186 – Apostelgeschichte 103 Blount, Henry: A Voyage into the Levant 150 f. Boccaccio, Giovanni XI–XII, 5, 44, 48, 50, 56, 63, 69–71, 74, 77–79, 82–85, 88, 91, 102, 113–122, 124–128, 139, 141–144, 148 f., 153, 158, 165–170, 172 f., 175, 191–197, 199 f., 202, 208 f., 212–214, 218, 228, 231 f., 240–242, 270–273, 276–279 – Il Corbaccio 199 – Decameron (Il Decamerone) XII, 33, 39, 44 f., 47, 49 f., 52, 55, 63, 69–74, 77–79, 85, 88, 91, 114–116, 120, 124, 126, 128, 142 f., 165–167, 169 f., 172 f., 191–194, 196, 198–201, 208 f., 212, 228, 231, 241, 269–273, 275–279 – Novelle I 1 72 f. – Novelle I 2 39, 72 – Novelle I 3 X, XII, 5, 33, 39, 44 f., 47 f., 50, 56, 63, 70–85, 88, 102, 113–120, 122, 124–128, 139, 141–144, 148 f., 153, 158, 165–167, 169 f., 172 f., 175, 191–194, 196–199, 202, 208 f., 212–214, 218, 240–242, 269–273, 275–279 – Novelle I 4 45 – Novelle VI 4 52 – Novelle VI 10 166 Bodin, Jean: Colloquium heptaplomeres 182 Boethius (Boezio) 51 Bonaparte, Marie 262 Bonifatius, Hl. (San Bonifacio) 57 Bosone da Gubbio 33, 38 f., 41, 44 f., 269 f., 275 f. – L’avventuroso siciliano 38 f., 41–45, 47 f., 55, 58, 170, 270, 276 Bottari, Giovanni Gaetano 165 f., 193–197, 201 f., 272, 278 f. – Lezioni sopra il Decamerone 166, 194–197, 272, 278 f. Bracciolini, Poggio 168, 232 Brentano, Franz: Die vier Phasen der Philosophie 19 Breuer, Josef 251, 253

– [Zusammen mit Sigmund Freud:] Studien über Hysterie 252 Bromyard, John: Summa praedicatorum 90, 102 Brucker, Johann Jakob 198 Brunner, Sebastian XIII, 235 f., 241, 243–246, 273, 279 – Lessingiasis und Nathanologie 236, 241 f., 244–246, 273, 279 Bulgaro (Bolghero) 57 Buonincontri, Lorenzo 196 f. – Historia sicula 196 f., 273, 279 Burlington, Dorothy 262 f. Bury, Arthur: Naked Gospel 152 Busbecq, Ogier Ghislain de (Ogier Ghiselin de Bousbecque) 151 Buturlin, Dmitrij Petrovič (Demetrio de Boutourlin) 194

Calogerà, Angelo 202 f. Campanella, Tommaso 56, 192 – Atheismus triumphatus 56 Castellio, Sebastian 211, 220 – De haereticis an sint persequendi 211 Castello, Abraham Isaak 192 Cato, Marcus Portius (Marco Porcio Catone) 51 Chamberlayne, Edward: Anglia Notitia 158 Choderlos de Laclos, Pierre Ambroise François: Liaisons dangereuses 65 Chronique d’Ernoul 48, 55 Cicero, Marcus Tullius 3 Clemens XII., Papst 165 Clemens XIV., Papst (Lorenzo Ganganelli) 196 Collins, Anthony: Discourse of Free-Thinking 151 Collins, Churton: Jonathan Swift 141 f. Conti di antichi cavalieri 48 f. Corneille, Pierre 65 Corpus Hermeticum 12 f. Corsini, Neri 195 The Courtier’s Calling 157 f., 164 Cyprian, Ernst Salomon: Vita et philosophia Th. Campanellae 233 Dante Alighieri: Divina Commedia 78 f. Darwin, Charles 237

Register  David, König von Israel (Davide) 54 De Felice, Fortunato Bartolomeo 196, 201 f., 273, 279 – Encyclopédie d’Yverdon 201, 273, 279 De tribus impostoribus XII, 56, 140, 165, 177–180, 184, 192 f., 202, 232, 272, 278 della Bella, Giano 54 Descartes, René 19, 66 Diderot, Denis: Encyclopédie 64–66 Diodor von Sizilien (Diodoro Siculo) X, 3–7, 13 f., 269, 275 – Bibliotheca Historica 3–7, 14 Dis dou vrai aniel XI, 33–40, 44, 91, 102, 106, 269 f., 275 Dolce, Lodovico 165 Dühring, Eugen XIII, 235–246, 273, 279 – Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres 237–239 – Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage 235 f., 238 f. – Die Ueberschätzung Lessing’s 236, 239–245, 273, 279 – Der Werth des Lebens 236 Eitington, Max 261 Eiximenis, Francesc: De triplici statu mundi 38 Engels, Friedrich XIII, 178 – Bruno Bauer und das Urchristentum 178 Eschenburg, Johann Joachim 171, 240 Étienne de Bourbon XI, 33–35, 44, 89 f., 102, 170, 269 f., 275 – Tractatus de diversis materiis praedicabilibus XI, 33–35, 37–40, 44, 89 f., 102, 106, 170, 270, 275 Evelyn, John 156 f. – Diary 157 – Tyrannus or The Mode 156 Eymericus, Nicolaus 18 f. – Directorium inquisitorum 19 Ezzelino III. da Romano 53 f. Fabricius, Johann Albert 201 Fenichel, Otto: Rundbriefe 263 Ferenczi, Sandor 260–262 Firmian, Karl Joseph von 200 Foggini, Giovanni Battista 194, 196

 283

Fontani, Francesco: Elogio del Dr. Giovanni Lami 193, 198, 200 Förster, Bernhard 237 Fortunato da Brescia 201 Franziskus von Assisi 16 Freud, Alexander Gotthold Ephraim 251 Freud, Amalia, geb. Nathansohn 251 Freud, Anna 262 f. Freud, Ernst Ludwig 262 Freud, Jakob 252, 255 Freud, Josef 252 Freud, Sigmund XIII, 247, 251–266, 274, 280 – Der Mann Moses und die monotheistische Religion 265 f., 274, 280 – Der Moses des Michelangelo 265 – Totem und Tabu 263–265 – Die Traumdeutung 258 – Zur Psychopathologie des Alltagslebens 265 – [Zusammen mit Josef Breuer:] Studien über Hysterie 252 Freund, Anton von 261 Friedrich I. Barbarossa, röm.-dt. Kaiser (Federico I) 57 Friedrich II., röm.-dt. Kaiser (Federico II) 56 f., 177, 270, 276 Friedrich III., röm.-dt. Kaiser 105 Galiani, Ferdinando (Abbé Galiani) 200 Galilei, Galileo 193 Gebler, Tobias Freiherr von 230 Genovesi, Antonio 200 f. Gentillet, Innocent: Discours d’Estat 142 Gerson, Johannes 18 Gesta Romanorum XI–XII, 33–35, 37–40, 44, 58, 88, 90–95, 98–100, 102, 106, 114, 121, 171 f., 213, 269–271, 275–277 Giannone, Pietro 200 Gifford, William [und William Rainolds]: Calvino-Turcismus 152 Gleichnus Eines Juden der Religion XII, 120, 122 f., 128, 271, 277 Goethe, Johann Wolfgang von 55, 240, 252, 262 – Die Leiden des jungen Werthers 240 Goeze, Johann Melchior 184, 209, 223, 227, 232, 241

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 Anhang

– Lessings Schwächen 232 f. Grazzini, Francesco 166 Gregor IX., Papst (Gregorio IX) 56, 177 – Descendit de mari 56 Gregor XI., Papst 18 Gregor von Nazianz (Gregorius Nazianzenus): Epistula de Trinitate 200 Grimm, Wilhelm 96 Gundling, Nicolaus Hieronymus: Vollständige Historie der Gelahrheit 232 f. Hadrian, röm. Kaiser (Adriano) 52 Hekataios von Abdera X, 3–5, 14 Herder, Johann Gottfried 205 f., 223 – Adrastea 205 f. Hertoch, A. 163 Hickeringill, Edmund: The Ceremony-Monger 156 Homer: Ilias 144 Hume, David: Natural History of Religion 217 Jagemann, Christian Joseph 199 f., 273, 279 – Briefe über Italien 199 f. – Italiänische Chrestomathie 199 Jakob I., König von Aragon 16 Jakob II., König von England, Schottland und Irland (James II) 156 Jakob II., König von Mallorca 17 Jans Enikel (Jans Enenkel) 58, 101, 114 – Weltchronik 58, 114 Joachim von Fiore 38, 200, 219 Johannes Chrysostomos 103, 200 – De Poenitentia Ninivitarum 200 – Matthäuskommentar 103 Jones, Ernest 259–261, 263 Josephus, Flavius (Flavio Giuseppe): Antiquitates Iudaicae 55 Julian Apostata (Flavius Claudius Iulianus), röm. Kaiser 181–183 Jung, Carl Gustav 259 f., 262 f., 265 Justin der Märtyrer 93 f. Kant, Immanuel 222, 225 – Ueber das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee 222

Karl I., Herzog zu BraunschweigLüneburg 209 Karl I., König von England, Schottland und Irland (Charles I) 156 Karl II., König von England, Schottland und Irland (Charles II) 157 f. Karl V., röm.-dt. Kaiser 121, 151 Kästner, Abraham Gotthelf 201 f. Keller, Adelbert von 92, 115 Kelsos 181–183 – Alethes logos 183 Kleist, Heinrich von: Die Hermannsschlacht 5, 7 Knolle, Richard: Generall Historie of the Turkes 151 Konrad von Weinsberg 105 Konrad von Würzburg: Der Trojanische Krieg 96 Koran 24, 119, 151, 181 La Croze, Mathurin Veyssière de 153 La Fontaine, Jean de 168 La Monnoye, Bernard de 192 Ladislaus V., König von Ungarn 105 Lami, Giovanni 193, 196–198, 200–202, 273, 279 – De eruditione Apostolorum 198 – De recta Christianorum […] sententia 198, 200 – Deliciae eruditorum 196 f. – Lettere sul Decameron del Boccaccio 193, 198 f. Laonicus Chalcocondyles (Laonikos Chalkokondyles): Historiae 151 Le Myésier, Thomas: Electorium magnum 18 Leibniz, Gottfried Wilhelm 19, 193, 225, 232 – Monadologie 225 Lens, Bernhard 153, 159–162 Lessing, Gotthold Ephraim IX–X, XII–XIII, 5, 14, 19, 63, 70, 84, 88, 91, 102 f., 113, 144, 165, 169–171, 173–175, 177, 179, 184–187, 191–196, 198, 200–203, 205–219, 221–235, 239–249, 251, 255, 257 f., 265 f., 269–280 – Anmerkungen zur GelehrtenGeschichte 202

Register  – 5. Anti-Goeze 227 – Collectanea 202 f., 273, 279 – Eine Duplik 224 – Emilia Galotti 239 f. – Die Erziehung des Menschengeschlechts 185, 218 f., 257 – Hamburgische Dramaturgie 222 – Nathan der Weise IX–X, XII–XIII, 27 f., 32, 63, 70, 84, 88, 91, 102 f., 113, 144, 169–171, 173–175, 177, 184–187, 191–193, 200, 205–223, 226–230, 232–235, 240–242, 244 f., 247–251, 255 f., 258, 265 f., 269–280 – Tagebuch der italienischen Reise 193 – Das Testament Johannis 186 – Über die Entstehung der geoffenbarten Religion 216 f. – Von Adam Neusern, einige authentische Nachrichten 229 – [Hg.:] Wolfenbütteler Fragmente XII, 177, 184, 208 f., 228–230, 272 f., 278 f. – Unmöglichkeit einer Offenbarung 229 – Von Duldung der Deisten 229 Lessing, Karl Gotthelf 209, 223 – G. E. Lessings Leben 191 Lessing, Theodor: Dührings Haß 235 f. Lessing, Theophil: De Religionum Tolerantia 233 Levier, Charles 153 Liber divinae revelationis XII, 117–119, 271, 277 Liebermann von Sonnenberg, Max 237 Locke, John IX, 225 – Letter concerning Toleration IX Ludwig XIV., König von Frankreich 175 Lull, Ramon (Raimundus Lullus) XI, 15–19, 21, 24–32, 269, 275 – Ars brevis 17 – Ars compendiosa inveniendi veritatem 17 – Blanquerna (Romanç d’Evast e Blaquerna) 27 f. – Das Buch vom Heiden und den drei Weisen (Llibre del gentil e dels tres savis) XI, 15, 18–29, 31 f., 269, 275 – Das Buch von den fünf Weisen (La disputació de cinc savis) 28

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– Cent noms de Déu 17 – Disputatio Raimundi et Averroistae 29 – Lectura super Artem inventivam et Tabulam generalem 30 – Liber de ascensu et descensu intellectus 30 – Liber de convenientia fidei et intellectus in obiecto 30 – Liber de demonstratione per aequiparantiam 29 – Liber de Deo maiore et Deo minore 16 f. – Libre de contemplació en Déu 31 – Scientia universalis 19 – Vita coaetanea 15–17 Luther, Martin 152 Mabillon, Jean 195 Macé, René 153 Machiavelli, Niccolò 142, 180, 200, 232 Magliabechi, Antonio 193, 201, 232 f. Mahrold, Dietrich: Schmahl vnndt Kahl Roldmarsch Kasten 124, 126–128, 131–137, 271, 277 Manuel I. Komnenos, byzant. Kaiser (Manuele I Comneno) 57 Manni, Domenico Maria 166–169, 191–194, 196, 198, 200, 202, 230–232, 272, 278 – Istoria del Decamerone 166–169, 191 f., 194, 196, 198 f., 230 f., 272, 278 Marchand, Prosper 140, 153 – Dictionnaire historique 140 Margarete von Navarra (Marguerite de Navarre) 168 Marin, François-Louis Claude: Geschichte Saladins 206 Marr, Wilhelm: Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum 245 Martino Gosia (Martinus Gosius) 57 Marx, Karl XIII Masius, Andreas 56 Maximilian Julius Leopold, Prinz von Braunschweig-Wolfenbüttel 200 Maximilian II., röm.-dt. Kaiser 122 Mazzuchelli Gianmaria 194, 202, 273, 279 – Notizie storiche e critiche intorno alla vita di Pietro d’Abano 202 – Gli scrittori d’Italia 194, 202

286 

 Anhang

Medici, Francesco Maria de’ 232 Medici, Leopoldo de’ 193 Meißner (Meissner), August Gottlieb 191 Mendelssohn, Moses 209, 216, 241 Mereau, Sophie: Nathan 191 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 243 Miege, Guy: The New State of England 158 Moreni, Domenico: Bibliografia storicoragionata della Toscana 198 Morhof, Daniel Georg 193, 232 – Polyhistor 232 Moritz von Hessen-Kassel, Landgraf 127 Mosheim, Johann Lorenz von 196, 201 Mozart, Wolfgang Amadeus: Die Zauberflöte 69 Müller, Johann Joachim 18

Pietro d’Abano 202 Pilatus, Pontius 183 Platon: Phaidros 8 Plutarch X, 4, 7, 13 f., 269, 275 – De Iside et Osiride 4 f., 14 Poiret, Pierre 220 Pope Blount, Thomas 195 Porphyrios 181–183 – Contra Christianos 182 Postel, Guillaume 56 Pridaux, Humphrey: The True Nature of Imposture 152 Pritius, Johann Georg 220 Ptolemaios I., König von Ägypten 3

Nachmanides (Moses ben Nachman) 16 Neferhotep, Gottesvater des Amun 8 Nero, röm. Kaiser (Nerone) 51 Neuser, Adam 229 Newton, Thomas: Notable Historie of the Saracens 150 Nicolai, Friedrich 203, 230 Nicolaus Germanus 114 Nikolaus von Cusa 19 Il Novellino XII, 33, 41 f., 44, 47–60, 80, 166, 170, 172, 196, 232, 269 f., 275 f.

Raimund von Penyafort (Ramon de Penyafort) 17, 69 – Summa de iure canonico 69 Rainolds, William [und William Gifford]: Calvino-Turcismus 152 Rank, Otto 260–262 Reimarus, Hermann Samuel 177, 179, 183 f., 201–203, 207, 216 f., 225 f., 228–230, 273, 279 – Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes 183 f., 223, 228 f. – Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion 202 f. Reimarus, Johann Albert Hinrich 179 Reß, Johann Heinrich 223 Riccardi, Vincenzo 193 Ricci, Gaspero 166, 194 Richard I., König von England (Riccardo I) 48 f., 53 Rinckhart, Martin: Der Eislebische Christliche Ritter 142 Rizzardo, Graf von San Bonifacio 57 Robert, Graf von Artois 36 Rycaut, Paul: History of the present State of the Ottomane Empire 151

Osborne, Francis: Political Reflections on the Government of the Turks 151 Oswald von Wolkenstein 98 Painter, William: Palace of pleasures 142 Pancirolli, Guido: Geschichte antiker und moderner Denkwürdigkeiten 144 Pappenheim, Bertha 251 f. Pappenheim, Siegmund 251 Paul IV., Papst 19 Pauli, Johannes: Schimpff und Ernst 124 Paulus 14, 226 Paulus Christianus 16 Pelli Bencivenni, Giuseppe: Efemeridi 197 f. Pepys, Samuel: Diary 157 Peter I., König von Aragón (Pietro d’Aragona) 52 Pfaff, Christoph Matthäus 230

Querini, Angelo Maria 201–203, 273, 279

Sachs, Hanns 260 f. Sachs, Hans XII, 95, 99, 120–123, 271, 277



Riassunti dei contributi in lingua italiana 

– Der Jued mit den dreyen ringen XII, 99, 120–122, 271, 277 Saladin, Sultan 43, 74, 205 f., 245 Salomo, König von Israel (Salomone) 54 Salviati, Leonardo 166 Salvini, Antonmaria 193, 196 – Discorsi accademici 196 Sangro, Raimondo di 201 Sarpi, Paolo 142, 200 Schertz mit der Warheyt 102, 124–127, 129 f., 271, 277 Schlegel, Friedrich: Über Lessing 223 Schumann, Johann Daniel: Über die Evidenz der Beweise 224 Scopon, Julien 153, 168 Seneca 51 Sharp, John 141 f. Simmel, Ernst 262 f. Sleidanus, Johannes: Comentarii 151 Spieker, Christian Wilhelm: Lebensbeschreibung des Herzogs M. J. L. von Braunschweig 201 Steinhöwel, Heinrich 115 Stekel, Wilhelm 258 Stoecker, Adolf 237 Struve, Burkhard Gotthelf 56, 192 Sturmy, Samuel 157, 163 Sturt, John 153, 159–162 Süleyman I., Sultan des Osmanischen Reiches 151 Swift, Deane: An Essay upon […] Dr. Jonathan Swift 139 Swift, Jonathan XII, 139–144, 147–158, 168, 272, 278 – Apology 149, 159 – Battel between the Antient and the Modern Books 140, 159 – Discourse concerning the Mechanical Operation of the Spirit 140, 152

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– Mr. Collin’s Discourse of Free-Thinking 150–152 – Ode to Dr. William Sancroft 149 – A Tale of a Tub XII, 139–162, 168, 272, 278 Temple, William 139, 142, 158 – An essay upon the ancient and modern Learning 142 – Of Heroick Virtue 151 Thomas von Celano: Vita Secunda Sancti Francisci 16 Timotheos I., Patriarch von Konstantinopel: Disputation mit dem Kalifen Al-Mahdī 13 Toland, John 225 Traité des trois imposteurs 178–180, 184, 272, 278 Treitschke, Heinrich von 237 Les trois Anneaux XII, 165–175, 272, 278 Valois, Yves: Entretiens sur les vérités fondamentales de la Religion 203 Vanini, Lucilio 180 Voltaire IX, 63 f., 67 f., 141 f. – Dictionnaire philosophique 63 f., 67 f. – Lettres philosophiques 141 f. – Traité sur la tolérance IX Wahle, Fritz 254, 256 Waring, Jane 139 Waring, Westenra 139 Wilhelm von Tyrus (Guglielmo di Tiro): Storia 48 Wolfram von Eschenbach: Willehalm 101 f. Wotton, William: Observations upon The Tale of a Tub 140 Zanotti, Francesco Maria 203 Zweig, Arnold 262