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German Pages [308] Year 2016
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Paul Janssen
Edmund Husserl Werk und Wirkung
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495860854
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Zu diesem Buch: Die Entwicklung des Husserlschen Denkens weist trotz einiger Wandlungen in sich eine gewisse Stimmigkeit auf. Diese lässt sich darin finden, dass Husserl an der Anschauung als dem legitimierenden Prinzip des Erkennens festhält. Die Anschauung aber ist an der Selbstgebungsmöglichkeit dessen, was Gegenstand des Philosophierens wird, ausgerichtet. Das so Zusammengehörige ermöglicht Deskription. Die Selbstreflexion und ihre Ergebnisse sind diesen methodischen Voraussetzungen einbehalten. Sie werden in einer Bewusstseinsphilosophie entfaltet, deren Ausgangsformel die synthetische Einheit des Bewusstseins-von-etwas ist. Die für die Neuzeit charakteristischen subjektivitätsphilosophischen Grundzüge des Husserlschen Denkens unterliegen im Fortgang seiner Entwicklung gravierenden Modifikationen, durch die Husserl Wegbereiter einer im 20. Jahrhundert aufblühenden phänomenologischen Bewegung geworden ist, die sich von der mit Descartes anhebenden Subjektivitätsphilosophie grundsätzlich unterscheidet: Das (transzendentale) Subjekt wird z. B. sich zeitigendes ursprüngliches Zeitbewusstsein. Ferner öffnet Husserls Zuwendung zur Lebenswelt den Blick für deren historische Eigenart. Von der Lebenswelt aus gesehen erweist sich das Weltbestimmungsresultat der objektiven Naturwissenschaften als eine idealisierende Substruktion, die Menschen in der Geschichte Europas über sich aufgerichtet haben, von der die Welt, in der sie leben, unterschieden ist. Mit der Lebenswelt hat sich der phänomenologischen Bewegung ein weites Themenfeld eröffnet. Indem die objektive Wissenschaft zur Herrschaft der Technik geführt hat, stürzt sie das menschliche Leben und seine Welt in eine Krise. Der Autor: Paul Janssen, geboren 1934 in Alpen/Niederrhein, 1964 in Köln promoviert, 1968 in Köln habilitiert; Professur in Köln; ab 1999 freiberuflicher Publizist.
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Paul Janssen
Edmund Husserl Werk und Wirkung
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495860854 .
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2008 www.verlag-alber.de Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48223-0
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Inhalt
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Vorbemerkungen zur phänomenologischen Bewegung und zum Denkweg Husserls . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 1 Husserls Werk und die phänomenologische Bewegung . § 2 Die Entwicklung der Husserlschen Phänomenologie . . .
19 28
Die Anfänge der Phänomenologie . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Erster Teil I
II
§ 3 Husserls vorphänomenologisches Denken zwischen Psychologismus und Objektivismus . . . . . . . . § 4 Das intentionale Bewusstsein als Grundbegriff einer erkenntnistheoretisch orientierten Phänomenologie a) Die Intentionalität des Bewusstseins . . . . . . b) Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung . § 5 Einige Grundprobleme einer reinen Logik . . . . .
. . .
41
. . . .
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45 48 54 60
Die transzendentale Phänomenologie . . . . . . . . . .
65
§ 6 Der transzendentale Standpunkt . . . . . . . . . . . . . § 7 Reines Bewusstsein und Welt. Gegebensein und Sein . . § 8 Die noetisch-noematischen Strukturen des reinen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Gliederung des Reiches der Noesen und Noemata . b) Der Aufbau des Noema . . . . . . . . . . . . . . . .
67 72
III
IV
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78 79 84
Wichtige Lehrstücke der transzendentalen Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 9 Evidenz, Gegebensein, Sein, Wahrheit . . . . . . . . . .
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Inhalt
§ 10 Die Konstitution des Allgemeinen . . . . . . . . . . . . 93 a) Die eidetische Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Das Formale. Seine Seinweise und seine Zugehörigkeit zum Logos des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . 99 § 11 Das transzendentale Ego . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 § 12 Die Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
V
Die Endgestalt der Phänomenologie . . . . . . . . . . . 129
Die Geschichte des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . Lebenswelt und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . Lebensweltliche und objektive Wissenschaftlichkeit . . . Der Übergang zur transzendentalen Einstellung von der Lebenswelt aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 17 Reine Psychologie und transzendentale Phänomenologie . § 18 Husserls Phänomenologie und die Gegenwart . . . . . . § 13 § 14 § 15 § 16
132 139 143 147 155 162
Zweiter Teil VI. Das ichliche Zeitbewusstsein als nie versiegender Konstitutionsquell für alles Seiend und ein durch es ermöglichter Selbstüberstieg seiner zu einem überzeitlichen Ich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 § 19 § 20 § 21 § 22 § 23 § 24 § 25 § 26
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Wegweisende Vorfragen und Hinweise . . . . . . . . . . Spezifika der Zeitkonzeption Husserls . . . . . . . . . . Nähe und Ferne zwischen Husserl und Descartes . . . . Fluss, Form und Synthetisierungsleistung des Zeitbewusstseins in der Passivität . . . . . . . . . . . . . . Probleme der Wiedererinnerung . . . . . . . . . . . . . Die Erzeugung von allzeitlichen Verstandesgegenständlichkeiten und ihr Zeitbezug . . . . . . . . . . . . . . . Das ichliche Bewusstsein-von-etwas, seine Bildung aus dem unthematisch-vorgegenständlich bewussten Zeitfluss und seine auf den Zeitfluss rückbezügliche Identität . . . Die aus einem Selbstüberstieg des Zeitflusses resultierende zeitfreie Identität des Ich . . . . . . . . . . . . . . . . .
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172 174 178 184 190 194 198 205
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Inhalt
VII Im Menschen-Ich liegende Grenzen der transzendentalphänomenologischen Fassung der Lebenswelt . . . . . . 217 § 27 Das Menschen-Ich in seiner Unangewiesenheit auf einen reflexionsabhängigen Rückstieg in sein transzendentales Ichsubjekt zum Zwecke der Konstitution seiner Lebenswelt als der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 § 28 Die Wahrnehmung als Weltbezug des intentionalen Bewusstseins und in ihrer Funktion für der Natur verhaftete Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 § 29 Zur Problematik des phänomenologischen Gegenstandsbegriffes und seiner Grundlagen . . . . . . . . . . . . . 239
VIII Lebenswelt und Geschichtlichkeit und deren Zeitlichkeit § 30 Prämundane transzendentale Ichsubjekte und die Geschichtlichkeit von Menschen-Ichen und deren Welten § 31 Sinngeschichtliche Individuierungen . . . . . . . . . . . § 32 Das lebensweltliche Menschen-Ich und die Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . § 33 Die teleologische Geschichte der Phänomenologie vor dem Hintergrund geschichtlicher Weltbildungen . . . . § 34 Die transzendentale Phänomenologie im Rahmen einer Konzeption des geschichtszeitlichen Weltwerdens von Sprachwelten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255 255 262 265 280 288
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Auf Husserls Werke wird mittels der abgekürzten Buchtitel verwiesen, wie sie sich im I. Teil der Bibliographie finden. Sekundärliteratur wird durch den Namen des Autors und durch das Jahr angegeben, in dem die Arbeit, auf die verwiesen wird, erschienen ist. A
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»Somit mag die bestimmte Vorerwartung täuschen, die Struktur des fortschreitenden Zeitbewusstseins und die Konstitution von neuen Gegenwarten ist doch starre Notwendigkeit. Darin liegt: Das Fortleben und das Ich, das fortlebt, ist unsterblich – notabene das reine transzendentale Ich, nicht das empirische Welt-Ich, …« (Analysen zur passiven Synthesis 378) Demnach sind der absolute Zeitfluss, seine Formgesetzlichkeit und das transzendentale Ich, das konstituiert und als selbstgegeben evident macht, zusammengespannt. Ihrer Einheit kann nichts entkommen. Sie umgreift unter der Herrschaft eines sich ihrer anschauend vergewissernden Ich das phänomenale Sein des Menschen-Ich und der Welt. Sie ist die Sache des Denkens, in die, sie er-denkend, die transzendentale Phänomenologie alles fügt; sich das Menschen-Ich und seine Welt ge-fügig macht. Gegen solche Fügung ist deren Eigenrecht einzufordern. Wohin entlassen das Menschen-Ich und seine Welt ein Philosophieren, welches trotz ihrer aufdringlich gewordenen philosophischen Un-Eindeutigkeit nicht davon ablässt, sie in eine Totalisierungsbewegung ein-zu-holen.
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Einleitung
Dieses Buch ist in seinem I. Teil eine erweiterte zweite Auflage des 1976 im Alber-Kolleg Philosophie erschienenen Bandes »Edmund Husserl. Einführung in seine Phänomenologie«. Diese Einführung zielte darauf ab, die Phänomenologie als auf Universalität, Totalität und Einheit abzielenden transzendentalen Subjektivismus zu interpretieren. Dabei ist es im I. Teil dieses Bandes geblieben. In einem zweiten Teil gehe ich über eine werkimmanente, aber gleichwohl nicht interpretations- und selektionsfreie Darstellung der Phänomenologie hinaus, indem ich einige ihrer zentralen Thesen von innen heraus an durch sie auslösbare Fragen heranführe, die ihre Grenzen auffällig und sie fragwürdig machen. Mehr noch: Die Grenzen der transzendentalen Phänomenologie sollen Aporien offenbaren, von denen aus sich Druck erzeugt, neue philosophische Wege zu suchen, wie sie z. B. in der Geschichte der phänomenologischen Bewegung er-schritten worden sind. Es werden nur solche systematischen Ansatzpunkte für phänomenologische Positionen aufgedeckt, die nicht mit der Position Husserls übereinstimmen. Ich begebe mich jedoch nicht in die Geschichte der phänomenologischen Bewegung hinein. Abgesehen davon, dass ich mich mit wesentlichen ihrer Ausprägungen andernorts befasst habe, ist es entscheidender für diese Grenzziehung, dass Aporien des Husserlschen Denkens so konstruiert werden, dass Auswege aus ihnen in die Richtung einer von mir selber präferierten Position führen, die am Philosophieren als Totalisierungsbewegung festhält, diese aber geschichtszeitlich endlich sein lässt, so dass die Welt auch immer als philosophischer Bestimmtheit entzogen außerhalb ihrer bleibt – wegen der stets unfreiwillig vielfältig bedingten Totalisierungsbewegung außerhalb ihrer bleiben muss, weil sie philosophischem Bestimmungs- und Einigungsbedarf gegenüber eine für sie qua Weltwerden eigentümliche Unbestimmtheit wahrt, der – philosophisch gesehen – eine außerphilosophische Selbstgenügsamkeit entspricht, die Wis-
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Einleitung
senschaften, Religionen und andere Gebilde für ihre Zwecke nutzen können. Der erste Teil des Bandes konzentriert sich auf die Durchsprache von Werken, die Husserl selber publiziert hat und auf einige Vorlesungen Husserls, die später in den Gesammelten Werken (Husserliana) erschienen sind. Im Zusammenhang mit Husserls später Konzeption des Logischen und Mathematischen wird auch der von Landgrebe aus Texten Husserls zusammengestellte Band Erfahrung und Urteil herangezogen. Auf vieles Sonstiges, was sich in den Manuskripten, die Husserl hinterlassen hat, findet, und das heute bereits in Husserliana-Bänden zugänglich gemacht ist, wird nicht eingegangen. Das hat seinen Grund nicht nur im Einführungscharakter des ersten Buchteiles, sondern auch in der Zielsetzung der Konzentration auf solche Grundprobleme, welche eine Phänomenologie der eingangs gekennzeichneten Art im Gefolge hat. Diesem Auswahlgesichtspunkt gesellt sich die Entscheidung zu, auf weite Strecken chronologisch vorzugehen, um einen Eindruck von der Entwicklung der Husserlschen Gedankenwelt zu geben: in ihrem Wandel wie in der diesen Wandel durchziehenden Kontinuität. Aufs Ganze gesehen vertieft sich Husserl immer mehr, wenn auch in sich modifizierender Weise, in die transzendentale Phänomenologie als letztbegründende universale Wissenschaft von der Welt in allen ihren Beständen und in ihrer Geschichte. Die selektiv isolierende Darstellung von vier »Ausgestaltungen« der Phänomenologie ist vielleicht nützlich, damit die systematische Einheit der Phänomenologie nicht überbetont wird, sondern Differenzen, Schwergewichtsverlagerungen und Konstanten leichter sichtbar werden. Dafür sind Wiederholungen und variativ wechselnde Akzentuierungen von selbigen Themen in Kauf zu nehmen. Unter diesem Gesichtspunkt werden die noch um das Verständnis von Phänomenologie ringenden »vor-transzendentalen« Logischen Untersuchungen von 1900–1901 und das I. Buch der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie von 1913, das zum ersten Male den transzendentalen Subjektivismus präsentiert, durchgesprochen. Für die zwanziger Jahre sind die Analysen zur passiven Synthesis und die Formale und transzendentale Logik (aber auch Erfahrung und Urteil) wichtig. Diese Arbeiten erhalten ihren Ort im Gang des ersten Teiles zugewiesen, weil die Genetisie10
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Einleitung
rung der Logik und der Mathematik endgültig eine wesentliche Zäsur offen legt, die das System der transzendentalen Phänomenologie durchzieht, die aber interpretationsbedürftig ist. Die Zusammenfügung des durch die Zäsur Unterschiedenen komplettiert das System einerseits zum allumfassenden urlogisch-vorlogisch-logischen Logos des Seins – dessen Explikation in den Logischen Untersuchungen noch nicht als Aufgabe der Philosophie im Blick stand. Diese Zäsur trägt aber andererseits in das System eine für es charakteristische Scheidung ein; und zwar diejenige von real-welthaftem Sein, das an das intentionale Bewusstseinsleben des Menschen-Ich und sein transzendentales Ichsubjekt gekoppelt ist, und von einem (überzeitlichen) irreal-idealen objektiven Sein, das sich laut Husserl allererst als Resultat von menschlichen Aktivitäten über einem Subjekt-relativen Seinsfundament erzeugt hat. Seine metaphysische Interpretation und seine neuzeitlich naturwissenschaftliche Verfälschung zur Welt beherrschenden Seinsidee des Ansichseins ist für die Geschichte Europas charakteristisch gewesen. Es ist die Frage, ob und eventuell wie Sein solchen Sinnes dem Logos des Seins der Welt qua Lebenswelt zugehören kann und damit dem sie konstituierenden transzendentalen Ichsubjekt, von dem aus durch das weltliche Menschen-Ich hindurch der Logos des weltlichen Seins aufgeht? Diese Frage drängt zu anderen Fragen, die Husserl im Spätwerk beunruhigen. Wie müssen Antworten auf sie ausfallen, damit die Phänomenologie sich durch sie vollenden kann und nicht in geschichtszeitliche Kontingenz hineingezogen wird? Die Cartesianischen Meditationen (1929–1931) und die Krisis der europäischen Wissenschaften und die Phänomenologie (ab 1935– 1936), die letzten umfassenden Einführungen in die transzendentale Phänomenologie, werden trotz ihrer verschiedenartigen Ansätze und ihrer verschiedenartigen Durchführung hier als »komplementär« genommen. Die straffe Systematik der Meditationen ist als eine Art Gerüst auch in den Ausführungen der Krisis-Abhandlung im Hintergrund festzuhalten. Die Lösung des Intersubjektivitätsproblems der Meditationen bleibt in ihr vorausgesetzt. Die Art und Weise, wie Husserl die Geschichte Europas und die geschichtlichen Sonderwelten der Menschen in der Welt behandelt, bleibt wiederum auf das Grundgerüst seines Systems abgestimmt. Die differentielle Spezifität von dessen Endgestalt muss deswegen nicht zu kurz kommen, auch wenn sie Probleme, wie die gerade zuvor genannten mit sich A
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Einleitung
bringt. Kann die Phänomenologie umhin, um sich selber geschichtszeitlicher Kontingenz zu entreißen, in die Geschichte ein sich transzendentalsubjektiv vermittelndes teleologisch wirkendes Absolutes hineinzusehen? Bedarf dieses der Ichsubjekte und der MenschenIche, um sich zur Welt zu objektivieren und so in allem Seienden zu sein? Müssen diese Fragen nicht als ketzerisch von der Phänomenologie zurückgewiesen werden, da sie, und erst recht Antworten auf sie, mit der Art und Weise, wie das Grundgerüst der transzendentalen Phänomenologie aufgebaut ist, nicht zusammenpassen? Trotzdem, derartiges rumort im Spätwerk Husserls. Er bleibt bei dem Versuch, es in sein System einzubauen. Er ist damit zu keinem allseitig befriedigenden Ende gekommen. Der jetzige erste Teil des Bandes sollte, wie gesagt, in seiner zweiten Auflage, abgesehen von einigen Veränderungen, seinen Einführungscharakter in das Denken Husserls bewahren. Allerdings haben sich im Verlauf seiner Überarbeitung nicht nur gewisse Verschiebungen und Erweiterungen aufgenötigt, sondern es ist auch in ihm schon zu kritischen Überlegungen gekommen, die die phänomenologische Denkart problematisieren. Im zweiten Teil des Buches geht es ausschließlich darum, das Systemgefüge der Phänomenologie so an Grenzen zu bringen, dass es durchbrochen wird. Nur zu diesem Zweck wird noch auf Inhalte der Husserlschen Phänomenologie zurückgegriffen. Dieses Unternehmen untersteht einer Vorgehensweise, mittels deren ich Sprachwelten, wie z. B. Philosophien als Totalisierungsprodukte, anzugehen pflege. Die Durchführung einer philosophischen Totalisierungsbewegung ist ihr zufolge damit gleichbedeutend, dass die Welt auch außerhalb der sich ihr verdankenden Bildung bleibt, weil sie anders in IstSinn hineingesagt werden kann; weil sie diejenige Bestimmtheit nicht aufweist, in die sie durch gewisse philosophische Ambitionen hineingebracht wird. Diese Eigentümlichkeit einer philosophischen Weltsicht erzeugt sich in der folgenden Weise: In einer Sprachwelt als Resultat einer Totalisierungsbewegung werden zu ihrer Realisierung erforderliche Grundbegriffe so konstruiert, dass sie der Sprachwelt einverwandelt und ihr zu eigen gemacht werden. In ihrem Gefüge tritt die Welt in die ihr zugedachte Bestimmtheit ein. Zugleich aber soll in diesem Geschehen das Seinsuniversum in dem Sinne einbegriffen sein, dass es nichts philosophisch Relevantes außerhalb des 12
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Einleitung
aufgespannten sprachweltlichen Gefüges gibt. Alles, was so ist, wie es als seiend gesagt werden kann, untersteht den ihm zugedachten Bestimmtheiten. Dazu ist es durch den Aufbau einer Sprachwelt gekommen. Nimmt man Philosophien der Tradition, aber auch Philosophien der Gegenwart als solche Sprachwelten, dann sind sie dadurch definiert, wider ihr eigenes Selbstverständnis nicht nur die Welt auch außerhalb ihrer zu belassen, sondern ein Außerhalb ihrer durch ihre Sprech- und Denkweise zu erzeugen. Dazu führen Universalisierungen, Letztbegründungen und Ausgriffe aufs Ganze. Sich totalisierenden Wissenschaftskonzeptionen kann in einer anderen Weise Ähnliches widerfahren; von religiösen, weltanschaulichen Weltbildungen ganz zu schweigen. Die Realisierung einer solchen Sicht auf Philosophien hat durch sich selber auch herauszustellen, dass es die Welt in anderen Weisen gibt, als eine bestimmte Philosophie sie seiend macht. Dass es so ist, ist von Menschen als lebendigen Sprachwesen in ihrer Geschichtlichkeit abhängig. In diese Abhängigkeit ist auch die herrschende objektive Wissenschaft von der Welt einbeziehbar. Eine solche Abhängigkeit determiniert allerdings nicht, wie die Welt Philosophien ausfällt. Das verdankt sich nämlich ihrer jeweiligen produktiven Eigenart, auf welche die Geschichte des Denkens Einfluss ausübt. Die angedeutete Vorgehensweise, welche die Geschichtlichkeit des Philosophierens, sofern es totalisierend auf die Welt ausgreift, betrifft, wird hier auf die transzendentale Phänomenologie angewandt. In diese wird zunächst hineingeführt und anschließend wird durch immanente Kritik hindurch gezeigt, wie sie von ihrem Totalisierungsdrang getrieben, sich die Dinge argumentativ so zurecht gelegt hat, dass diese auch außerhalb ihrer bleiben und es aufgrund dessen zulassen, dass sie in andersartige philosophische Entwürfe eingehen können, wie es z. B. in der Geschichte der phänomenologischen Bewegung geschehen ist. Unter dieser Direktive wird ein Durchbruch der universalen Bewusstseinsimmanenz der transzendentalen Phänomenologie bewerkstelligt. Er bringt die Aneignung der Welt und damit ihre Verwandlung durch eine sich ihre Konsistenz produktiv sichernde philosophische Sprachwelt in den Blick und weist ihr Grenzen zu, die es erlauben, aus ihr herauszutreten. Der Durchbruch hat die Wirkung eines Exodus »aus dem gelobten Land der Phänomenologie«, der in kein neues gelobtes Land führt, in dem philosophisches Wissen über die Welt herrscht. Dieser Exodus führt in die Welt als philosophisches Niemandsland hinein, A
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Einleitung
in dem man nur in geschichtszeitlich bedingter Weise und durch Entscheidungen der Welt philosophisch ein neues Ansehen abgewinnen kann, das sich zwar seiner eigenen Hervorbildung verdankt, das aber gleichwohl jede hermeneutische Selbstrelativierung von sich fernhält. Alles komme im Endeffekt darauf an, dass sich einige Konturen einer einzigen bestimmten Philosophie, nämlich der von mir angestrebten, abzeichnen. Durch einen Vorblick auf sie sind die vorgetragenen Sätze über Philosophien als Sprachwelten gelenkt gewesen. Diejenigen Setzungen, durch die sie sich selber bindet, entscheiden mit darüber, wie ihr andere Philosophien in den Blick fallen. Mit einem sonderlichen Interesse an der Geschichte von Philosophien im üblichen Sinn des Wortes hat mein Absehen also nichts zu schaffen. Es ist selber von Vorgriffen und Entscheidungen gesteuert, durch die hindurch es den von ihm aus produzierten Gedanken Bindekraft verschafft. Nur aufgrund philosophisch erzeugter Selbstbindung und aufgrund von Wissen, das für philosophische Abzweckungen in Anspruch genommen wird, kommen deswegen andere Philosophien zur Sprache. Was das des Näheren besagt, davon kann durch die Auseinandersetzung mit Husserl im zweiten Teil ein Eindruck gewonnen werden. Die geplante Sprengung der transzendentalen Phänomenologie wird nur an drei Punkten erfolgen, die alle auf das Problem des Bezuges von transzendentalem Ichsubjekt und Menschen-Ich in der Welt – in seiner Zeitlichkeit, seiner Naturverhaftung und seiner Geschichtszeitlichkeit – zentriert sind. 1. Die Zeit ist bei Husserl als absoluter Fluss der anfangs- und endlose Universalhorizont, in den alles Seiende als zeitmodal einrückt. Nötigt die diesem weltvorgängigen Fluss immanente Formgesetzlichkeit und Synthetik nicht zu einem Selbstüberstieg seiner in einem sich in ihm bildenden zeitüberlegenen Ich, dem die Welt auch in zeitunanfälliger, struktureller, ontologischer, eidetischer und formaler Allgemeinheit zugänglich ist. Können sich Menschen-Iche aus einem ihnen zugrundeliegenden ichlichen Zeitflussbewusstsein begreifen, von dem aus die endliche Lebenszeitlichkeit, die sie sich als Weltwesen zusprechen, als phänomenal abkünftig muss erklärt werden können? Treibt sie diese nicht zu einem anderen Zeitdenken? 2. Von Husserl wird das Wahrnehmen als originärer Weltzugang des Menschen-Ich in der Welt gesetzt. Dagegen ist die Funk14
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Einleitung
tion des Wahrnehmens in leiblich-organischen Menschen-Ichen in Stellung zu bringen. Husserl immanentisiert Gegenstandsein, Wirklichkeit, Transzendenz; und zwar unter der Voraussetzung, dass das Wahrnehmen in seinem Weltbezug aufgrund seiner phänomenologischen Wesensbestimmung zur Seinsthese des transzendentalen Subjektivismus weiter geleitet und mit ihr geeint werden kann. Dem steht die für Menschen-Iche als Sprachwesen charakteristische Differenzsetzung zwischen sich und der Welt ihrem Sein nach im Wege. Sie ist es, welche eine auch objektive Erkenntnis der Welt möglich werden lässt, die durch den Unterschied zur Welt als Korrelat des intentionalen Bewusstseinslebens bestimmt ist. Lassen sich die Reden von Sein und Transzendenz des Naturhaften nicht von ihr aus verständlich machen? 3. Menschen-Iche finden sich heute in einer objektiv wissenschaftlich gewussten Welt. Diese soll ihre Wurzeln nicht in methodischen Leistungen von Menschen haben, deren Resultate ihre Lebenswelt einer dieser fremden Idee von Ansichsein unterwerfen und der Einigung des mundanen intentionalen Bewusstseinslebens mit dem transzendentalsubjektiven Bewusstseinsleben im Wege stehen. Dagegen ist eine objektiv gewusste Welt als durch die Seinsdifferenz »des Menschen-Ich in der Welt« bedingte Welt zu akzeptieren, die Menschen veranlasst, da sie durch die objektive Welt (als nicht gewusste oder als gewusste) nicht hinreichend berücksichtigt sind, diese in geschichtszeitlichen Entwürfen, in die sie sich selber einbeziehen, zu übersteigen – sie aber trotzdem, wenn irgendwie möglich, in solche Deutungen heimzuholen. Zu solchen Deutungen wird Husserls transzendentale Phänomenologie gezählt. Innerhalb ihres Umkreises ist ihre Weise, die Welt als Seinsuniversum in sich zu befassen, zu Hause. Für eine Auseinandersetzung mit der Literatur bleibt in dem begrenzten Rahmen des angezeigten Vorhabens kein Raum. Von ihr habe ich gelernt und mit ihr habe ich mich auseinandergesetzt. Aber ihre Zielsetzung ist nicht die meinige. Diese versteht sich zwar als eine Einschreibung in die Geschichte der von Husserl ausgehenden Verwandlungen des Philosophierens, welche die phänomenologische Bewegung darstellt, die allerdings nicht Husserls System als eine eigengeartete Gestalt der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie interpretativ, selektiv oder aktualisierend weiterschreibt, sondern nur von ihm ausgelöst ist und es so zurückzulassen trachtet, dass sich Umrisse seines andersartigen Philosophierens abzeichnen. A
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I. Vorbemerkungen zur phnomenologischen Bewegung und zum Denkweg Husserls
§ 1 Husserls Werk und die phnomenologische Bewegung Das Wort Phänomenologie wird in dieser Darstellung als Titel für das philosophische Werk Husserls verwandt. Dieses grenzt sich aus einer vielschichtigen geistigen Bewegung des 20. Jahrhunderts aus, die ebenfalls Phänomenologie genannt zu werden pflegt. Die phänomenologische Bewegung, zu der vornehmlich philosophische, aber auch wissenschaftliche Bestrebungen gehören, bildet keine sachliche Einheit in einem engeren, strengeren Sinn. Sie ist als wesentliches und wirkungsträchtiges Moment in die Geistesgeschichte des Jahrhunderts verstrickt gewesen und lässt eine Kurzdefinition, die über ihre Wesensart befriedigenden Aufschluss gäbe, nicht zu. Die Philosophie und die Wissenschaften vom Menschen verdanken ihr gleicherweise die Eröffnung neuer methodischer Wege. Verschüttete Zugänge zur Welt in ihrer Fülle und Differenziertheit sind durch sie wieder erschlossen worden. Unter den Wissenschaften waren es vor allem Psychologie und Psychopathologie, die von der Phänomenologie belebende Impulse empfingen. Die Auswirkungen der Phänomenologie reichen weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Ihr Ende ist noch nicht abzusehen. Husserl ist der Initiator und eine zentrale Gestalt der phänomenologischen Bewegung gewesen. Sein Werk hat sie zunächst hervorgerufen und gelenkt, später beeinflusst und begleitet. Im Reichtum der Möglichkeiten, welcher der Phänomenologie als geistesgeschichtlicher Strömung eignet, bildet es jedoch nur einen der wichtigsten Wellenzüge, der keineswegs mit anderen harmonisiert. Ihm gilt unser Interesse. Edmund Husserl (1859–1938) hat ein umfangreiches Werk hinterlassen. Die von ihm selber publizierten Schriften machen nur einen Teil davon aus. Den größeren Teil bilden handschriftliche Niederschläge einer unermüdlichen Denkarbeit, die voll und ganz dem Aufbau der phänomenologischen Philosophie gewidmet war. Die A
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Vorbemerkungen zur phnomenologischen Bewegung und zum Denkweg Husserls
Publikationen, die die Vorstellung von Husserls Philosophie in der Öffentlichkeit vornehmlich formten, waren wenige an der Zahl. Sie lassen sich äußerlich und grob folgendermaßen kennzeichnen: Die 1900/01 erschienenen Logischen Untersuchungen machten Husserl als den Begründer einer neuen Art und Weise philosophischen Arbeitens berühmt. Sie galten und gelten als Geburtsurkunde der Phänomenologie. Im Jahr 1913 brachte Husserl die Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (I. Buch) heraus, die den Denker als Vertreter eines transzendentalen Subjektivismus auswiesen. Sie nannten sich im Untertitel Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Auch die beiden folgenden letzten grundlegenden Arbeiten Husserls sind, wenn auch sehr unterschiedliche, allgemeine Einleitungen in die (transzendentale) Phänomenologie geworden: die Cartesianischen Meditationen, die 1931 in französischer Übersetzung in Paris erschienen, und die beiden ersten Abschnitte des Werkes Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, die 1936 in der Belgrader Zeitschrift Philosophia veröffentlicht worden sind. Husserls letztes Lebensjahrzehnt ist immer wieder von dem Bemühen geprägt, für die allgemeinen Grundgedanken der Phänomenologie Verständnis zu erwecken. Diesem Bemühen liegen zwei eng miteinander zusammenhängende Erfahrungen des späten Husserl zugrunde: Die transzendentale Phänomenologie scheint ihm noch nicht klar genug dargestellt zu sein, und sie wird, wie die Reaktionen der philosophischen Mitwelt verraten, in der Öffentlichkeit nicht richtig aufgenommen. Artikel und Vorträge der Jahre 1927/28 zeugen von Husserls Sorge in diesen beiden Punkten. Auch das Nachwort zu den Ideen, das Husserl anlässlich der Fertigstellung der englischen Übersetzung der Ideen I durch W. B. Gibson 1931 verfasst hat, spiegelt diese Erfahrungen wider. Die Cartesianischen Meditationen und die Krisis, die Hauptwerke der Husserlschen Spätzeit, verdanken wir ähnlich wie die Vortragstätigkeit Husserls ebenfalls mehr oder weniger seinem Bedürfnis, die Eigenart der transzendentalen Phänomenologie endgültig klarzustellen. Das Echo, das die Cartesianischen Meditationen und die ersten Abschnitte des Krisis-Werkes in der Fachwelt fanden, war aus verschiedenen Gründen geringer als das der Logischen Untersuchungen und des 1. Buches der Ideen. Die zeitgeschichtlichen Umstände der dreißiger Jahres, aber auch ein Wandel im philosophischen Problembewusstsein haben für die Aufnahme dieser späteren Konzeptionen 20
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Husserls Werk und die phnomenologische Bewegung
der Phänomenologie eine wichtige Rolle gespielt. Sie haben das Interesse an der Phänomenologie für eine Weile zurücktreten, ja sogar abbrechen lassen. Erst nach dem Krieg wurde die Diskussion in einer gewandelten Situation wieder aufgenommen. Hauptgegenstand der Cartesianischen Meditation und der Krisis-Abhandlung ist die Grundlegung und systematische Durchgliederung der Philosophie als transzendentaler Phänomenologie. Dieses Anliegen Husserls hat die Aufmerksamkeit der Leser zu Recht besonders auf sich gezogen. In ihm erschöpft sich jedoch der Themenkreis, der von Husserl geleisteten Arbeit nicht, auch wenn es in den veröffentlichten Werken im Vordergrund steht. Die transzendentale Phänomenologie will Wissenschaft vom All des Seienden sein und muss daher vielen verschiedenen inhaltlichen Problembereichen gerecht werden. Sie muss z. B. klären, was Natur, Raum und Zeit sind; sie muss durchsichtig machen, wie sich die großen Seinsbereiche des Materiellen, des Animalisch-Seelischen und des Geistig-Personalen aufbauen. Das ist ihr nicht möglich, ohne Weisen menschlichen Welterfahrens wie Empfinden, Wahrnehmen, Sich-erinnern, Prädizieren, Appräsentieren, Werten u. ä. zu erforschen. Darüber hinaus muss die Phänomenologie die Fundamente von Logik, Mathematik und Naturwissenschaft freilegen. Die Lösung all dieser Aufgaben aber bleibt für Husserl zurückbezogen auf die erstmals von der Phänomenologie in Angriff genommene Erforschung der universalen Seinsregion des reinen Bewusstseins. Von ihr aus müssen alle anderen Probleme angegangen werden. Es ist für Husserls Fassung der transzendentalen Phänomenologie kennzeichnend, dass in ihr methodische Fundamentalbetrachtungen, die in die Transzendentalphilosophie hineinführen, und konkrete intentional-analytische Arbeit an den Sachen der aufgezählten Art Hand in Hand gehen. Das wird z. B. aus Werken wie den Ideen II, den Vorlesungen zum inneren Zeitbewusstsein, den Analysen zur passiven Synthesis, zu Ding und Raum, zu Erfahrung und Urteil, aber auch aus der Formalen und Transzendentalen Logik besonders deutlich. Die Analysen Husserls zu einzelnen Problemkomplexen der phänomenologischen Philosophie müssen in einer allgemeinen Einleitung wie der vorliegenden notgedrungen zu kurz kommen. Das ist ein Verstoß gegen die phänomenologische Denk- und Arbeitsweise. Husserl selber hat ihnen viel Zeit und Mühe gewidmet. Es belebte A
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ihn die Hoffnung, dass seine Mitarbeiter und Nachfolger an diesen Sachproblemen auf der Basis seiner transzendentalen Grundlegung einer wissenschaftlichen Arbeitsphilosophie weiterarbeiten würden. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Von Husserls phänomenologischen Analysen zu konkreten Themenkomplexen ist – abgesehen von Andeutungen und Skizzen in den publizierten Grundschriften – zu seinen Lebzeiten nur wenig veröffentlicht worden. Hier hat erst die 1950 einsetzende Publikation von Edmund Husserls Gesammelten Werken (Husserliana) Abhilfe zu schaffen begonnen. Durch sie ist unser Begriff von Husserls Phänomenologie vertieft und differenziert worden. Die Ausgabe der Gesammelten Werke ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Sie ist ihrerseits lückenhaft, und es lässt sich noch nicht überblicken, wie weit Husserls Phänomenologie in allen ihren Einzelheiten durch sie der Öffentlichkeit zugänglich werden wird. Eine Darstellung des Husserlschen Denkens zum gegenwärtigen Zeitpunkt muss sich dieser Schranke bewusst bleiben. Es ist noch eine andere Eigenart des Husserlschen Werkes zu erwähnen, die für jede Gesamtdarstellung gewisse Schwierigkeiten mit sich bringt. Husserls Denken kreist in den Hauptwerken immer wieder um einige zentrale Probleme, die ständig neu durchdrungen werden. Ihre Bearbeitung wandelt sich, so dass in späteren Werken Veränderungen und Verbesserungen gegenüber früheren Darstellungen auftreten. Dieser Prozess geht in der Entwicklung der Phänomenologie mit der Einbeziehung neuer Problemkreise Hand in Hand. Für eine kurze Darstellung der Phänomenologie ist daraus die Konsequenz zu ziehen, dass sie die Gehalte aus Husserls Schriften bevorzugt, die für das Verständnis der gesamten Phänomenologie in ihrer gereiften Gestalt wichtig sind. Was in früheren Studien nur vorläufig erarbeitet ist und später beiseite gelassen oder überholt und verbessert wird, muss demgegenüber zurücktreten. Eine erste Kennzeichnung mag die Husserlsche Phänomenologie aus der ihr nahestehenden philosophischen Umgebung abheben. Die im Folgenden anzuführenden Merkmale finden sich in ihrer Kombination bei keinem der übrigen phänomenologischen Denker. Die Phänomenologie Husserls ist zunächst und vor allem transzendentale Phänomenologie. Deren Thema ist die ganze Welt nach ihren wesentlichen Strukturen und Beständen. Diese will sie in ihrem Zustandekommen und 22
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Bestehen verständlich machen. Die Welt ist für sie jedoch nur in ihrem Bezug zum Welt-erlebenden Subjekt Thema – als bewusste, erlebte Welt. Das besagt über das Subjektive, von dem in der Phänomenologie gehandelt wird: Es ist Subjektives im Sinne des intentionalen Erlebens-von-etwas. Ein solches Erleben gehört jedem gegenständlichen Gehalt der Welt und in seiner Ganzheit als Erlebnisstrom der Welt selber, dem Universum des objektiv Seienden, zu. Im Bezug auf dieses Subjektive soll die Welt ihr Sein haben. Die Phänomenologie wendet sich dem intentionalen Bewusstseinsleben und seiner Welt zu, um beides ineins zu erkennen; »denn Seiendes ist für die Philosophie und so für die Korrelationsforschung der Phänomenologie eine praktische Idee, die der Unendlichkeit theoretisch bestimmender Arbeit«. (Cart. Med. 121) Unter diesen Voraussetzungen will die Phänomenologie wissenschaftliche Philosophie sein. Ihre Wissenschaftlichkeit ist allerdings von exzeptioneller Art. Sie reiht sich nicht dem Kreis der positiven Einzelwissenschaften als eine Wissenschaft mit einem besonderen Gegenstandsbereich innerhalb der Welt ein, sondern wendet sich den Grundlagen aller Wissenschaften zu. Das geschieht, indem sie die Welt, so wie sie von den übrigen Wissenschaften nur vorausgesetzt wird, ausdrücklich zum Thema macht. Trotzdem soll die Phänomenologie nach Husserl eine eigenständig arbeitende Wissenschaft mit einer eigenen »Domäne« bleiben, die noch von keiner anderen Wissenschaft erforscht wird. Die von Husserl zu keiner Zeit preisgegebene Charakterisierung der Phänomenologie als wissenschaftliche Arbeitsphilosophie ist für seine Art von Transzendentalphilosophie kennzeichnend. Durch sie werden einige weitreichende Fragen heraufbeschworen. Wie steht z. B. der Themenbereich der Phänomenologie zu den Themenbereichen der positiven Wissenschaften? Und: In welchem Sinne ist ihr Arbeitsfeld überhaupt ein Bereich – neben anderen? Wir halten hier nur fest, dass die Phänomenologie universale, erste und letztbegründete Wissenschaft von der Welt sein will. Die anderen Wissenschaften können mit ihren Methoden auf dem phänomenologischen Forschungsfeld des intentionalen Welterfahrens nichts ausrichten. Das gilt besonders für Logik und Mathematik, aber auch für jede andere Wissenschaft, die sich logisch-mathematischer Hilfsmittel sowie des Experimentes bedient. Solcher Wissenschaftlichkeit gegenüber wird die Arbeitsweise der Phänomenologie häufig als eine auf Sehen und Beschreiben des Gegebenen A
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abgestellte charakterisiert. Man muss der Vollständigkeit halber hinzufügen, dass die Reflexion – genauer gesagt, eine bestimmte Art von subjektiv gerichteter Reflexion – als methodisches Verfahren für die Phänomenologie genauso kennzeichnend ist, wie es Intuition und Deskription sind. In den transzendentalphilosophisch entscheidenden Punkten ist Reflexion allererst die Voraussetzung für den Einsatz des Anschauens und Beschreibens. (Vgl. z. B. Cart. Med. 72 ff.) Der originären Anschauung zu folgen, nur aus ihr zu schöpfen, und, was sie zeigt, in den Grenzen, in denen es sich zeigt, getreu wiederzugeben, gilt als »Prinzip aller Prinzipien« für das phänomenologische Arbeiten. Wissenschaften verschiedener Art haben sich dieses Prinzip erfolgreich zunutze gemacht. Für Husserl selber ist es kennzeichnend, dass er das unumstößliche Recht der originären Anschauung aufgrund von erkenntniskritischen Überlegungen legitimiert sieht. Anschauung gibt Evidenz. Das geschieht, indem das thematisch anstehende Seiende in ihr zur Selbstgegebenheit kommt. Darin aber kommt alles Erkennen an sein Ziel. Gegenüber der scheinbaren Einfachheit dieser Kennzeichnung ist zu beachten, dass nur aus der transzendentalen Phänomenologie selber genau zu entnehmen ist, was Anschauen und Beschreiben im Sinne Husserls besagen (Vgl. Seebohm 1962, 83 ff.) Aus dem besonderen Wissenschaftscharakter der Phänomenologie folgt, dass sie eine universale Ausweitung naturwissenschaftlicher Prämissen und Arbeitsweisen auf alles Gegenständliche als Naturalismus ablehnt. Sie hält z. B. am naturwissenschaftlich nicht erfassbaren Eigenwesen des Psychischen und des Lebendigen in einem weiten Sinn fest. Als Wissenschaft bekämpft die Phänomenologie gleichzeitig den Historizismus und die Weltanschauungsphilosophie, welche die Möglichkeit standhaltender theoretischer Arbeitsergebnisse leugnen. Husserl hat dieser Überzeugung in dem programmatischen Aufsatz Philosophie als strenge Wissenschaft, der 1911 in der Zeitschrift Logos erschienen ist, Ausdruck gegeben. Kämpferische Ablehnung gilt auch für das Verhältnis der Phänomenologie zur Existenzphilosophie und Anthropologie, die in den zwanziger und dreißiger Jahren das Feld der allgemeinen Aufmerksamkeit stärker beherrschten als die Phänomenologie. Auch sie geben nach Husserl die philosophische Wissenschaftlichkeit preis. 24
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Gegen alle empirische Wissenschaft und erst recht gegen eine empiristische Erkenntnistheorie hält die Phänomenologie an der Möglichkeit von Wesenserkenntnissen fest, die durch eine eigene Methodik gesichert wird. Sie erstrebt kein Erfahrungswissen von der Welt wie die empirischen Wissenschaften. Vielmehr ist sie eidetisch ausgerichtet und verhält sich, wie Husserl sagt z. B. zur empirischen Psychologie so ähnlich wie die Mathematik zur Physik; allerdings in einem Seinsbereich, der mathematisches Erfassen grundsätzlich ausschließt. (Vgl. Ideen I 160 ff.) Alles zufällig Individuelle und Faktische gilt der Phänomenologie nur als Exempel eines Wesensallgemeinen von irgendeinem Allgemeinheitsgrad. Vom Existenzcharakter des Individuellen und Faktischen, wie es sich in der Welt findet, soll dabei abgesehen werden. Das Individuelle und Faktische steht an den Erlebnissen und den erlebten Gegenständen des phänomenologisierenden Subjekts zur Verfügung. An ihre Stelle kann auch frei Phantasiertes von demselben Wesensgehalt treten. Die Phänomenologie Husserls steht, wie erwähnt, im Zusammenhang mit anderen zeitgenössischen philosophischen Strömungen. Gegen sie setzt sie sich später ab. Wir heben einige wichtige Stationen aus diesem geistesgeschichtlichen Prozess heraus. (Vgl. Landgrebe 1963) Zu Beginn des Jahrhunderts hatte es zunächst den Anschein, als könnte unter dem Titel Phänomenologie ein gemeinsames Philosophieren gelingen, zu dem sich Denker verschiedener Herkunft zusammengefunden hatten. Husserl sah sich z. B. 1904/05 in Gedankengemeinschaft mit den Münchner Philosophen Pfänder, Geiger, Daubert, die in den Logischen Untersuchungen ihrem eigenen Wollen Verwandtes entdeckt zu haben glaubten. Auch in Husserls Göttinger Umgebung sammelten sich jüngere und ältere Philosophiebeflissene, die in den Fußstapfen der Logischen Untersuchungen arbeiteten. Man sollte zwar die bereits zu dieser Zeit bestehenden Differenzen in den Auffassungen über die Phänomenologie nicht zu gering veranschlagen; nichtsdestoweniger aber waren die Gemeinsamkeiten so stark, dass es 1913 zur Gründung des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung kam, das hauptsächlich von Husserl und Pfänder getragen wurde. In diesem Jahrbuch sind viele wichtige Arbeiten phänomenologischer Art erschienen; z. B. Schelers Der Formalismus in der Ethik und die materielle WertA
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ethik (1913/16) und Heideggers Sein und Zeit (1927). Es wurde mit Husserls Ideen I eröffnet. Will man den optimistischen Glauben der frühen Phänomenologen an die Einheit der Phänomenologie verstehen, dann muss man auf die Logischen Untersuchungen, ihre Aufnahme und ihre ursprünglichen Auswirkungen, blicken. Dieses Werk begann einige Jahre nach seinem Erscheinen eine große Wirkung zu tun. Es wurde als ein Hammerschlag empfunden, durch den das Gehäuse überkommener philosophischer Fragestellungen gesprengt worden war. Keineswegs war es nur der Kampf gegen den Psychologismus, der auf breite Resonanz stieß; viel stärker war die positive Auswirkung, die als Befreiung zu einer vorurteilslosen Hinwendung »zu den Sachen selbst« aufgefasst wurde; als eine Eröffnung von neuen Horizonten für eine neuartige philosophische-wissenschaftliche Arbeit, auf die die Zeit gewartet zu haben schien. (Vgl. Plessner 1953) Die zur Charakterisierung der Wirkung der Logischen Untersuchungen gewählten Formulierungen verraten bereits, dass die Phänomenologie nicht als eine thematisch fixierte Philosophie aufgenommen wurde. Sie erweckte den Anschein, für die Behandlung vieler Themen offen und geeignet zu sein. Ja, sie schien allererst den Zugang zu vielen Themengebieten zu eröffnen, so dass man durch sie in die Lage versetzt wurde, ihnen sachlich gerecht werden zu können. Die Rede von der Phänomenologie als Arbeitsweise im Unterschied zu den traditionellen Philosophien, die durch irgendwelche vorliegenden inhaltlichen Titel und Grundgedanken näher gekennzeichnet werden konnten, macht diese Sicht der Phänomenologie deutlich. (Vgl. Reinach 63) Es konnte jedoch nicht ausbleiben, dass eine solche Offenheit und Weite in der Auffassung von Phänomenologie dazu führte, dass sich verschiedene philosophische Richtungen herausbildeten, die sich alle als phänomenologisch ausgaben. Das geschah sowohl im engeren Münchener und Göttinger Schüler- und Freundeskreis Husserls als auch im ferneren In- und Ausland, in dem seine Gedankengänge einen fruchtbaren Boden fanden. Die Ausweitung des Phänomenologiebegriffs führte mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zur Auflösung der bestimmten Konturen, durch die Husserl ihn umgrenzt hatte. Was in Husserls eigenem Sinne Phänomenologie ist, lässt sich aus den Logischen Untersuchungen noch nicht hinreichend bestimmt entnehmen. Sie waren und blieben für ihn ein Werk des Anfangs und des Durchbruchs. Gleichwohl wurden sie als Berufungs26
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instanz benutzt, um die Bedeutung dessen, was man Phänomenologie nannte, zu erläutern. Wir kümmern uns nicht um die verwickelten geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, in denen die Logischen Untersuchungen verstrickt sind. Die 1913 im Jahrbuch erschienenen Ideen I wurden zum Brennpunkt der Divergenzen unter den Phänomenologen. Seit ihrem Erscheinen ist das Wort Phänomenologie in seinem öffentlichen Gebrauch endgültig vieldeutig geworden. Husserl reklamierte es für seine transzendentalphilosophisch orientierten Bemühungen. In seiner Umgebung hielt man dagegen überwiegend an einem Gebrauch des Wortes fest, der es von transzendentalsubjektiven Implikationen freihalten wollte, der den Vorzug der Phänomenologie zum Teil sogar darin sah, dass die phänomenologische Methode es ihren Anhängern ermögliche, jenseits der philosophischen Entscheidung über Realismus und Idealismus zu arbeiten. Da Husserls Idealismus von ganz eigener Art ist, trägt seine Entgegensetzung gegen den Realismus zum positiven Verständnis der Phänomenologie nicht viel bei. Aber sie behält in ihrer negativ abgrenzenden Funktion ihr gutes Recht. Die phänomenologische Methode ist so geartet, dass sie von vornherein den Weg zum Realismus als einer sinnvollen Position versperrt. Eine philosophische These, die das Seiende in seinem Sein vom Subjekt abgelöst sein lässt, ist phänomenologisch gesehen »widersinnig«. Mit dem ersten Weltkrieg und Husserls Berufung nach Freiburg (1916) fand die frühe phänomenologische Bewegung ihr Ende. Kein Ende fand die Ausstrahlungskraft seiner Phänomenologie. Aber eine einheitliche phänomenologische Schule hat es zu dieser späteren Zeit noch weniger gegeben als in den Jahren zuvor. Husserl bemerkte enttäuscht, dass die Gefährten früherer Tage ihm auf seinen phänomenologischen Wegen nicht folgten. Das konnte er schon an den Arbeiten des Jahrbuches ablesen. Seine Bedenken gegen die älteren Weggenossen waren anderer Art als seine Einwände gegen die ihm nahestehenden Philosophen der jüngeren Generation. Die einen sah er Momente des Gegenständlich-Ontologischen und einer methodisch unkontrollierten Wesensschau isolieren, die anderen sah er die Wissenschaftlichkeit der Philosophie preisgeben. Ihnen allen aber pflegte er vorzuhalten, dass sie seine Zuwendung zum Transzendentalen nicht verstanden und mitvollzogen hätten. (Vgl. Krisis 431 ff.)
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Die großen Philosophen, die aus dem Umkreis des phänomenologischen Denkens hervorgegangen sind, haben am allerwenigsten Husserls Anweisung befolgt, sich auf den Grundlagen der transzendentalen Phänomenologie ihr Arbeitsfeld zu suchen. Heidegger, Scheler, Sartre, Merleau-Ponty und Levinas – um nur die bedeutendsten von ihnen zu nennen – sind im Namen der Phänomenologie zu anderen, nicht transzendentalen Grundlagen des Philosophierens vorgedrungen. Sie haben ihr eigenes Anliegen nur zeitweilig angemessen unter dem Titel Phänomenologie fassen zu können geglaubt. Im Gegensatz zur Philosophie Husserls kann ihre Lebensarbeit daher nicht vollständig und angemessen als phänomenologisch bezeichnet werden. Das ist nicht verwunderlich, da sie zwar aus dem Einflussbereich der Phänomenologie Husserls hervorgegangen sind, aber sich von ihm aus ihre eigenen philosophischen Wege gesucht haben. Für Husserl dagegen ist die transzendentale Phänomenologie das Ziel seines Strebens und Mühens geblieben, dem er auch für seine Zeitgenossen und Nachfolger verbindende Kraft zugesprochen wissen will. Seine Phänomenologie ist selber jedoch eine Antwort auf bestimmte Problemstellungen, die ihm aus seiner Zeit zugewachsen sind. Auch ist sie keineswegs als fertiges System dem Denken Husserls entsprungen, sondern hat sich in vielen Jahrzehnten intensiven Nachdenkens entwickelt. Es liegen bereits einige verdienstvolle Arbeiten vor, in denen die Entwicklung des Husserlschen Denkens dargestellt ist. (Vgl. Biemel 1959 u. Sokolowski 1964) Allerdings ist die Forschung in diesem Punkt noch nicht abgeschlossen. Wir skizzieren den Weg Husserls nur in Kürze, um einen Vorblick auf die Phänomenologie als eine einheitliche Gestaltung philosophischen Denkens zu gewinnen.
§ 2 Die Entwicklung der Husserlschen Phnomenologie Die geistige Umwelt, der Husserls Denken entstammt, ist uns fremd geworden. Ein Blick auf ihre Eigenart kann Manches an Husserls Problemstellungen und Lösungsvorschlägen erhellen. Das gilt besonders für den damaligen Stand der Grundlagenforschung in den formalen Wissenschaften. Husserl hatte sich keineswegs von Anfang an der Philosophie verschrieben. Als er im Wintersemester 1876 sein Studium in Leipzig begann, war die Philosophie für ihn nur ein Fach neben anderen in einem Studium, dessen Schwergewicht auf den exakten Wissenschaften lag, nämlich auf Physik, Mathematik und 28
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Astronomie. Während er ab 1878 sein Studium in Berlin fortsetzte, waren so bedeutende Mathematiker wie Kronecker und Weierstraß seine Lehrer. Vom Ernst des Husserlschen Mathematikstudium zeugt, dass er Januar 1883 in Wien mit einem mathematischen Thema über die Variationsrechnung promovierte und anschließend von Weiterstraß die Gelegenheit geboten bekam, für ihn persönlich in Berlin zu arbeiten. Doch die mathematische Arbeit fand für Husserl bald ein Ende. Er kehrte nach Wien zurück und studierte dort von 1884 bis 1886 vornehmlich bei Franz Brentano Philosophie, der einer von ihm selber konzipierten deskriptiven Psychologie große Bedeutung für ein wissenschaftliches Philosophieren zumaß. Seit dieser Zeit dominieren eindeutig die psychologischen und philosophischen Interessen bei Husserl; auch dort, wo er sich um die Anfangsgründe der Mathematik müht wie in der Philosophie der Arithmetik von 1891, einer Ausarbeitung seiner nicht im Buchhandel erschienenen, 1886/87 bei C. Stumpf in Halle angefertigten Habilitationsschrift. In Halle blieb Husserl bis 1901 als Privatdozent. Von allen philosophischen Lehrern Husserls hat zweifellos Brentano den größten Einfluss auf die Entwicklung seiner Philosophie ausgeübt. Dieser Einfluss lässt sich im Begriff der Intentionalität dokumentarisch belegen. Husserl hat Brentano zeit seines Lebens dafür Dank gewusst, dass er ihm mit diesem Begriff das Instrument zum Aufbau einer neuen Weise philosophischen Denkens an die Hand gegeben hat, obwohl Intentionalität für ihn bald anderes und mehr bedeutete als für Brentano. (Vgl. Landgrebe 1963) Man sollte jedoch auch nicht vergessen, dass Husserl aufs Ganze gesehen von der um die Jahrhundertwende vorherrschenden Sicht der Aufgaben und Probleme von Philosophie und Wissenschaft beeinflusst geblieben ist – zunächst mehr, später weniger. Den philosophischen Grundlegungsproblemen der Wissenschaft, und zwar zunächst der mathematischen und logischen, begegnet Husserl in einer Gestalt, die später durch seine eigenen und Freges kritische Bemühungen als (logischer) Psychologismus diskreditiert worden ist. Die von Husserl im 1. Band seiner Logischen Untersuchungen geübte Kritik am Psychologismus ist so durchschlagend gewesen, dass seit dem Beginn dieses Jahrhunderts ein logischer Psychologismus keine ernsthafte Gefahr mehr darstellt. Aber diese unsere Sicht der Dinge lässt leicht übersehen, dass in der zweiten Hälfte A
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des 19. Jahrhunderts eine psychologische Denkweise bei angesehenen Philosophen verbreitet war, mittels deren sie z. B. eine wissenschaftliche Grundlegung von Logik und Mathematik liefern zu können gedachten. Ein derartiges Grundlegungsdenken hatte für die damalige Zeit einen gewissen Selbstverständlichkeitscharakter. Und man darf sich ex post nicht verdecken, dass es einige einfache Überlegungen gibt, die ihm eine gewisse Plausibilität verleihen: Kommen Denken und Erkennen nur im seelischen Erleben vor, so scheint die Logik eine psychologische Disziplin sein zu müssen. (Vgl. Prolegomena 52) Diese psychologisierende Betrachtungsweise der Logik und Mathematik hängt eng mit der damals vorherrschenden Überzeugung von der fundamentalen Wichtigkeit einer wissenschaftlichen Psychologie zusammen, die auch Brentano und Husserls niemals preisgegeben haben. Sie wollten die Psychologie allerdings nicht (mehr) im naturwissenschaftlichen Sinn verstanden wissen. (Vgl. Ideen I 392 ff., Beilagen IX u. X) Warum diese Hinweise auf geistesgeschichtlich Vergangenes? Husserl hat sich nicht nur gegen die eigenen psychologischen Anfänge in der Philosophie der Arithmetik aus dem Psychologismus herausgearbeitet, sondern sein ganzes Werk ist der Auseinandersetzung mit den Ansprüchen des subjektiven Erkennens und des objektiven Erkenntnisgehalts gewidmet. Das zeigt sich bereits in den Logischen Untersuchungen, dem ersten Werk, in dem Husserl zu seiner eigenen Philosophie gefunden hat. Nachdem der erste Band des Werkes, die Prolegomena zur reinen Logik, scharf und zumeist einseitig die Objektivität des Logischen akzentuiert hat, rückt der folgende Teil des Werks, der aus sechs logischen Untersuchungen besteht, die subjektiven Akte, besonders die des Denkens und Erkennens, in den Vordergrund des Interesses. Mit dem Erscheinen der Logischen Untersuchungen war für Husserl persönlich im Jahr 1901 eine Berufung als a .o. Professor nach Göttingen verbunden. Hier wurde er 1906 zum o. Professor ernannt. In dem Jahrzehnt zwischen 1890–1900 sind einige Thesen der Phänomenologie herangereift, durch die Husserl den von ihm stark empfundenen Mängeln der Philosophie der Arithmetik Abhilfe verschafft hat. Diese Thesen greifen jedoch weit über den Rahmen der mathematischen Grundlegungsproblematik hinaus. Mit ihnen erreicht Husserl den universalen Horizont seines Denkens, innerhalb 30
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dessen Themen wie die Fundierung einer einzelnen Wissenschaft ihren begrenzten Wert haben. Aber darüber hinaus ist mit der von Husserl um 1900 eingenommenen Position die Behauptung verknüpft, dass Grundlegungen einzelner Wissenschaften nur im Rahmen einer allgemeinen Theorie des menschlichen Erlebens und Erkennens in wissenschaftlich zulänglicher Weise geleistet werden können. Eine solche Theorie aber führt notgedrungen hinter die speziellen Voraussetzungen und Problemstellungen einzelner Wissenschaften wie z. B. Mathematik und Logik zurück auf allgemeine Wesenszüge des menschlichen Bewusstseins-Lebens, in dem sich Erkenntnis jeder Art abspielt und aus dem sie sich erhebt. Damit ist die Voraussetzung der Philosophie der Arithmetik, die philosophische Aufklärung der Mathematik sei auf der Basis der in ihren Grundlagen ungeklärten einzelwissenschaftlichen Psychologie anzustreben, als naiv entlarvt. Es muss vielmehr zuerst einmal ausdrücklich die Frage gestellt werden, was das Subjektive ist, in dem sich alles Denken und Erkennen hält. Husserls entscheidende Antwort auf diese Frage, deren Explikation und Vertiefung in dieser Darstellung immer wieder ansteht, lautet: Das Subjektive ist von der Art, dass ihm ein gegenständlich Vermeintes, Bewusstes, Erlebtes unabtrennbar zugehört. Nimmt man einen Baum wahr, so gehört das Baum-Wahrgenommene dem Wahrnehmungserlebnis zu. Dem Wahrnehmen eignet sein gegenständlicher Wahrnehmungssinn: das Wahrgenommene als solches. Entsprechendes lässt sich für viele Erlebnistypen aufzeigen. Im Erinnern wird etwas erinnert, im Denken etwas gedacht, im Wünschen etwas gewünscht usw. In dieser Kennzeichnung des Erlebens liegt, wohlgemerkt, noch keinerlei Behauptung über das Sein dessen, was vermeint, bewusst, erlebt ist, vor. Sie bezieht sich zunächst nur auf eine Eigenart des Vermeinens, Bewussthabens, Erlebens. Kurz gesagt: Das Bewusstsein ist Bewusstsein-von-etwas. Es ist von intentionaler Art. Der Gedanke der Intentionalität bildet fortan den Grundpfeiler der Husserlschen Phänomenologie. Von gleicher Wichtigkeit ist es, zu sehen, dass die Hinsicht, unter der Husserl die Frage nach dem Subjektiven stellt, von Anfang an die des Erkennens und seiner objektiven Leistung ist. Die subjektiv gerichteten Analysen der zwei letzten logischen Untersuchungen haben Husserl in einem wichtigen Punkt nicht befriedigt. Sie handeln vom subjektiven Erleben, vom Bewusstsein und legen A
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ihre Kennzeichnung als deskriptiv psychologisch nahe. Wie zu erwarten, sind sie dem Denker auch als Rückfall in den Psychologismus angekreidet worden. Aber ein solcher Vorwurf ist unangebracht. Ihr Mangel liegt darin, dass sie die Frage nach der objektiven Leistungsfähigkeit des subjektiven Erkennens nicht in voller Schärfe hervortreten lassen. Ihre überwiegende Ausrichtung an der subjektiven Seite des Erlebens hat daher zur Folge, dass der Gegenstandsbezug des erkennenden Erlebens zu kurz kommt. Die Doppelseitigkeit des phänomenologisch Subjektiven – als »subjektiv und zugleich Gegenstandsbezug in sich tragend« – droht zugunsten eines Subjektiven im Sinne herkömmlicher Psychologie aus dem Blick zu geraten. (Vgl. Ideen I 314 f.) Nur mittels eines als doppelseitig gefassten Subjektiven aber ist die Phänomenologie nach Husserl in der Lage, die Probleme der Erkenntnistheorie und die mit ihr unlöslich verknüpften Seinsfragen zu klären. Die Vertiefung in diese Problematik führt zu einer neuartigen Differenzierung des Subjektiven in bloß Psychisches im herkömmlichen, nicht-phänomenologischen Sinn einerseits und aus verschiedenartigen Momenten aufgebautes doppelseitiges Subjektives im phänomenologischen Sinn andererseits. Der Begriff des Erlebens erfährt dementsprechend einen Bedeutungswandel. Erleben gilt nicht länger als nur reell – im Unterschied zum nicht-erlebten Gegenständlichen. Es wird vielmehr als Einheit von reellen und intentionalen Momenten verstanden, so dass das Gegenständliche ihm als Erleben zugehört. In dieser Weise haben wir oben bereits von Erlebtem gesprochen. Im I. Buch der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie hat Husserl einige radikale Konsequenzen aus den vorwiegend »aktphänomenologisch« ausgerichteten Logischen Untersuchungen gezogen. Diese nötigen ihn zu einer neuen Kennzeichnung seiner philosophischen Position. Die deskriptive Phänomenologie entwickelt sich zu einem transzendentalen Subjektivismus. In dieser Gestalt trat sie 1913 einem überraschten Publikum vor Augen. Ein genaues Studium der Logischen Untersuchungen hätte der philosophischen Mitwelt diese Überraschung ersparen können. Denn in ihnen war der Autor schon Gedankenbahnen gefolgt, die die Entscheidung für einen neuartigen Idealismus nahelegten oder zumindest doch offenhielten. Es finden sich auch noch Überlegungen, die in eine andere Richtung weisen. Die wichtigsten unmittelbaren geistes32
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geschichtlichen Auswirkungen der Logischen Untersuchungen sind auf jeden Fall nicht subjektiv-idealistischer Art gewesen. Der Schlachtruf »zu den Sachen selbst« und die Aufgabenstellung einer Freilegung des Gegenständlichen in seiner Eigenart unter Absehen von allen (theoretischen und außertheoretischen) Vorurteilen und Vormeinungen ließen den Gedanken an die Bedeutung der subjektiven Akte, deren Korrelate alle Arten von Gegenständlichkeiten sind und die das Hauptthema der letzten Logischen Untersuchungen bilden, nicht zu einer durchschlagenden Auswirkung kommen. Aber ein genaues Studium der Logischen Untersuchungen drängt einem trotzdem schon die Frage auf, wie die Zusammengehörigkeit des Subjektiven und Objektiven endgültig zu bestimmen ist. Ist das Gegenständliche aus seiner Verbundenheit mit den subjektiven Akten, in denen es erkannt wird, loszulösen? Eine Bejahung dieser Frage wird durch die Logischen Untersuchungen gewiss nicht nahegelegt. Aus Ihnen geht schon hervor, dass die Sachen, um die es der Phänomenologie geht, nicht die sich zeigenden Gegenstände der verschiedensten Art sind, sondern die subjektiven Erlebnisse, in denen die Gegenstände sich zeigen, d. h. erfahren und erkannt werden. (Vgl. Phän. Psych. 20 ff.) Dass die Logischen Untersuchungen weitgehend auch ohne Rücksicht auf dieses Zentralproblem aufgenommen wurden, trug wie erwähnt zum Überraschungseffekt bei, den die Ideen I auslösten. Er führte dazu, dass man auf dem Denkweg Husserls eine (Kehrt-)Wendung zum Idealismus glaubte konstatieren zu müssen. Eine solche Behauptung ist zu stark, wenn man die intensive Forschungsarbeit Husserls aus der Innenperspektive betrachtet. Sie verkennt die Konsequenz und Kontinuität, mit der sich Husserls Phänomenologie auch da entfaltet, wo sie zu neuen Entdeckungen fortschreitet. Wenden wir uns dem schwierigsten Punkt der Phänomenologie näher zu, der am meisten Ärgernis zu erregen pflegt, und versuchen wir, ihm etwas von seiner Befremdlichkeit zu nehmen. Husserls Phänomenologie ist Transzendentalphilosophie. Der Denker hat spätestens ab 1905/07 immer wieder den Weg in die transzendentale Phänomenologie zu begründen versucht. Er bedient sich, um in die »transzendentale Einstellung« zu gelangen, der reflexiven Maßnahmen der »Epoché« und »Reduktion«, von denen weiter unten im Text noch die Rede sein muss. Sie können auf verschiedenen Wegen zum Ziel führen. Die vollständige Entfaltung all dieser Wege würde den A
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Rahmen der Darstellung sprengen. Wir greifen im Haupttext einige Wegführungen heraus. Neben einem Ausblick auf Husserls ersten ausgereiften Versuch, die Transzendentalphilosophie zu begründen, im I. Buch der Ideen, werden wir uns nur mit den letzten Ausgestaltungen des transzendentalen Weges beschäftigen. Der leitende Grundgedanke der Husserlschen Phänomenologie betrifft die transzendentalsubjektive Entscheidung hinsichtlich des Seins der Welt, den Menschen (in der Welt) eingeschlossen. (Vgl. Fink 21) Um Zugang zu diesem Gedanken zu gewinnen ist wieder von der unaufhebbaren Zusammengehörigkeit des Subjektiven und des Gegenständlichen auszugehen. Man muss sich klarmachen: »Alles was für mich ist, ist es dank meinem erkennenden Bewusstsein, es ist für mich Erfahrenes meines Erfahrens, Gedachtes meines Denkens, Theoretisiertes meines Theoretisierens, Eingesehenes meines Einsehens.« (Cart. Med. 115) Diese Korrelation ist in universaler Weite zu nehmen. Der zusammenfassende Titel für ihre Gegenstandsseite lautet daher die Welt. Ihre ontologischen Strukturen müssen erforscht und erfasst werden. Der Universalität des gegenständlichen Korrelats entsprechend ist der subjektive Pol der Korrelation in der Phänomenologie thematisch. Husserl will letztlich immer auf einen so weiten und radikalen Begriff vom Subjektiven hinaus, auch wenn er vom Bewusstsein, vom Seelischen und Subjektiven in einem enger begrenzten Sinn spricht oder zu sprechen scheint. Die Rede von der Korrelativität ist noch zu unbestimmt, um die Eigenart des transzendentalen Gedankens zu verdeutlichen. Ihr muss sich der Nachweis zugesellen, dass in keiner anderen Weise sinnvoll vom Sein des welthaft Gegenständlichen gesprochen werden kann als im Rückbezug auf das subjektive Erleben. Nur in ihm und unabtrennbar von ihm soll sich zeigen können, was die Welt ist und was ihr Dasein besagt. Seinssinn und Seinsgeltung der Welt sind in ihm beschlossen. Mit Husserls Worten: »Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in solchen cogitationen bewusst seiende und mir geltende.« (Cart. Med. 8) Aus dieser These folgt die Aufgabe, welche die Phänomenologie sich stellt: die intentionalen Leistungen des Subjekts zu analysieren, in denen sich gegenständlicher Seinssinn und gegenständliche Seinsgeltung der Welt bilden. 1916 folgte Husserl, wie erwähnt, einem Ruf nach Freiburg, wo er bis zu seinem Tode blieb. In den langen Jahren seiner akademischen 34
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Die Entwicklung der Husserlschen Phnomenologie
Lehrtätigkeit in Freiburg hat er für die Klärung des Baus und der Gliederung des phänomenologischen Universums viel Arbeit aufgewandt. Er hat sich dies wissenschaftlich neue »Gelobte Land« allein und – abgesehen von seiner akademischen Lehrtätigkeit – in aller Stille erobert, ohne davon der Öffentlichkeit durch Publikationen viel Kunde zu geben. Erst nach seiner Emeritierung 1928 ist er wieder dazu gekommen, die Konzentrate seines langen Nachdenkens der Umwelt in Buchform mitzuteilen. In seinen späteren Jahren scheint er zudem meistens der äußeren Anstöße bedurft zu haben, um an die leidige Ausgestaltung eines Buches zu gehen. Zum Glück haben wir in den Cartesianischen Meditationen ein Werk vor uns, das, durch äußeren Anlass motiviert, die Grundgedanken der Phänomenologie in ihrer späteren gereiften Gestalt aufzeigt. Sie sind neben der Formalen und transzendentalen Logik von 1929 das einzige Werk, aus dem wir entnehmen können, wie Husserl den systematischen Aufbau seiner gesamten Philosophie nach eineinhalb Jahrzehnten »literarischer Zurückhaltung« sieht. Die Wirkung der Meditationen wurde dadurch verzögert und beeinträchtigt, dass sie erst 1950 im 1. Band der Husserliana, lange nach Husserls Tod, in deutscher Sprache erschienen. Man kann zwar auch aus der Formalen und transzendentalen Logik einen gewissen Durchblick durch den Bau der Phänomenologie gewinnen; er ist aber weitgehend an den Aspekt der formalen Logik und Mathematik gebunden. Haben schon die Cartesianischen Meditationen in einer für ihre Aufnahme ungünstigen Zeit kein großes Echo in der Öffentlichkeit mehr gefunden, so gilt das noch mehr für die abstrakten Spezialuntersuchungen der Formalen und transzendentalen Logik. Husserls Wille, endgültige Klarheit über den Aufbau der Phänomenologie zu schaffen, ließ ihn die Einleitung in die Phänomenologie, welche die Cartesianischen Meditationen enthalten, schon bald als unbefriedigend empfinden. Das hat verschiedene Gründe. Sieht man auf Husserls Arbeit aus den zwanziger Jahren, so stellt man fest, dass nur Weniges aus ihrem Inhalt in die Cartesianischen Meditationen eingegangen ist. Zumindest lässt sich aus ihren Ausführungen nicht entnehmen, dass und wie in die Phänomenologie alles von Husserl bisher Erarbeitete hineingehört. Außerdem aber bedrängen Husserl neue Gedankenkreise, z. B. das Geschichtsproblem und das Verhältnis von Lebenswelt und objektiver Wissenschaft, deren Einarbeitung in die Phänomenologie ihm unerlässlich zu sein schien. Dass ihn angeA
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Vorbemerkungen zur phnomenologischen Bewegung und zum Denkweg Husserls
sichts solcher Perspektiven auch die knappe Gedankenführung der Cartesianischen Meditationen nicht mehr befriedigen konnte, ist verständlich. Das ihn allseits zufriedenstellende »Haupt- und Grundwerk« der Phänomenologie zu schreiben, blieb auch nach 1931 ein unerfülltes, ihn quälendes Desiderat. So setzte Husserl noch einmal neu an, um eine letzte Einführung in die Phänomenologie zustande zu bringen. Die beiden ersten Teile dieses Versuchs sind noch von ihm selber zur Veröffentlichung gegeben worden. Anderes liegt mehr oder weniger ausgearbeitet vor, so dass es wenigstens mit jenen beiden publizierten Textstücken zu einem Buch ergänzt werden konnte, das wir in dem HusserlianaBand Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie besitzen. Der Rest von Husserls Arbeit zum Krisis-Komplex verliert sich in Manuskripten und hat keine feste Gestalt mehr gewonnen. Physische Schwäche und Krankheit, die schließlich 1938 zum Tod des Denkers führten, haben ihn in seinen letzten Lebensjahren trotz eines starken Arbeitswillens in seiner Schaffenskraft beeinträchtigt. Wir müssen mit den verbliebenen Fragmenten vorliebnehmen. Erst in der Krisis-Abhandlung erhält die Phänomenologie in aller Deutlichkeit eine systematische Gliederung, die für ihr angemessenes Verständnis von entscheidender Bedeutung ist: ihre systematische Differenzierung nach transzendentalsubjektivem Leben, Lebenswelt und objektiver Wissenschaftlichkeit – eingebettet in die Geschichte des europäischen Geistes. Es ist nicht so, als ob Husserl diese Begriffe erst im Spätwerk konzipiert hätte. Aber erst dort treten sie in ein solches Verhältnis zueinander, dass die Phänomenologie insgesamt in einem neuen Licht erscheint. Man hat vorübergehend Husserls Spätwerk von einer gewandelten geistesgeschichtlichen Situation aus so interpretiert, als ob es eine Abwendung von der wissenschaftlichen und transzendentalen Phänomenologie darstellte. Eine solche Sicht der Dinge stellt eine unzulässige Vereinfachung dar. Sicherlich hat Husserl Anregungen aus der als Krise empfundenen Gegenwart aufgenommen. Aber er hat die aufgenommenen Motive in seine wissenschaftliche Transzendentalphilosophie eingebaut. Diese hat dadurch eine Veränderung erfahren – aber innerhalb der Husserlschen Gedankenwelt. Die Gestalt der späten Phänomenologie ist stärker aus der inneren Entwicklung des Husserlschen Denkens als durch die allgemein vorherr36
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schenden Überzeugungen des zeitgenössischen Krisenbewusstseins geprägt. Es ist bezeichnend, dass Husserl in den dreißiger Jahren sein altes Konzept der Philosophie als strenger Wissenschaft noch einmal gegen den Ansturm einer Zeit, die am Sinn der Wissenschaft für das Leben zweifelt, verteidigt. Er bäumt sich gegen die Tendenzen der Zeit auf und denkt nicht daran, den Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit der Philosophie preiszugeben. Ähnlich ist es der phänomenologischen Theorie von der Lebenswelt ergangen. Sie sollte angeblich mit der Lehre vom transzendentalen Subjekt kollidieren. Die merkwürdige Einheit von Lebensweltlichkeit und Transzendentalität, die vorliegt, ist den Interpreten eine Weile verborgen geblieben. Sie haben beides, wie es sich aufgrund übernommener Denkschemata und einer aktuellen philosophischen Problemsicht aufdrängte, voneinander getrennt und entgegengesetzt. Husserls Streben galt dagegen der Darstellung eines von ihm entdeckten Gesamtzusammenhangs von Geschichte, transzendentalem Leben, Natur und universaler Wissenschaft. Die Mühe seiner letzten Jahre galt der Aufgabe, die Verhältnisse, in denen die Glieder dieses Zusammenhangs stehen, deutlich zu machen. Husserl sagt in seinem Vortrag Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie von 1935, in dem er seinen transzendentalen Subjektivismus mittels des alteuropäischen Geistbegriffes im Gefolge der Tradition und zugleich mit Anklang an die moderne Geisteswissenschaft ins Wort bringt: »Der Geist und nur der Geist ist in sich selbst und für sich selbst seiend, ist eigenständig und kann in diesem Eigenstande, und nur in diesem wahrhaft rational und von Grund auf wissenschaftlich behandelt werden. Was aber die Natur anlangt in ihrer naturwissenschaftlichen Wahrheit, so ist sie nur scheinbar eigenständig … Denn wahre Natur, in naturwissenschaftlichem Sinne ist Erzeugnis des naturforschenden Geistes, setzt also die Wissenschaft vom Geiste voraus«. (Krisis 345) Die Phänomenologie Husserls ist bis zu einem gewissen Grade bereits zur Historie geworden. Sie lässt sich als ganzes in der heutigen Situation nicht mehr in der Unmittelbarkeit ihres Geltungsanspruches und in der Gestalt, in der sie ursprünglich aufgetreten ist, wiederholen. Es lässt sich heute nur noch in kritischer Aneignung und Verwandlung aus ihr lernen. Das gilt nicht nur dort, wo Verwandtschaft zwischen aktuellen und phänomenologischen Fragestellungen A
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besteht. Das ist noch wichtiger an den Punkten, wo das gegenwärtige Problembewusstsein seine blinden Flecke hat. Ein solches Lernen kann seinen Anhaltspunkt an verschiedenen Aspekten der Phänomenologie finden. Wir heben den der denkwürdigen Einheit von Leben, Wissenschaft und Philosophie hervor, die sich im Werk Husserls findet. Sie lässt sich in zulänglicher Bestimmtheit nur aus dem Durchgang durch das Werk selber verstehen. Durch den Gedanken dieser Einheit ist die Phänomenologie der älteren philosophischen Tradition Europas verbunden. Husserl kennt die Scheidelinien, die wir zwischen Wissenschaft, Leben und Philosophie zu ziehen pflegen, noch nicht. Die Einheit, die er zwischen Leben, Philosophie und Wissenschaft erstellt, mag uns als nicht mehr zeitgemäß erscheinen. Sie mag auch der Wirklichkeit, d. h. der herrschenden Praxis und den herrschenden Überzeugungen, nicht mehr angemessen sein. Aber gerade als uns fremd gewordene kann sie zeigen, was uns verlorengegangen ist.
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II. Die Anfnge der Phnomenologie
Es lassen sich in den Logischen Untersuchungen drei Themenkomplexe unterscheiden: die antipsychologistische Klarstellung der Objektivität des Logischen, die Betrachtungen zum intentional Subjektiven und verschiedene gegenständlich ausgerichtete Analysen zu Grundproblemen der reinen Logik. Die drei Themenkreise können aus dem Blickpunkt des späteren Husserlschen Denkens als Einheit gesehen werden. Diese springt aber keineswegs von selbst in die Augen. Ein ausführlicher interpretativer Nachweis der systematischen Einheit der Logischen Untersuchungen steht noch aus. (Ansätze dazu liegen z. B. in einer Arbeit von Sokolowski vor. (Vgl. Sokolowski 1971) Der erste Band der Logischen Untersuchungen brachte seinem Verfasser den Ruhm ein, der Überwinder des Psychologismus und der Neubegründer eines gegenständlich orientierten philosophischen Denkens zu sein. Dieser Eindruck konnte vor allem durch Ausführungen der I., II., III. und IV. der folgenden Untersuchungen verstärkt werden. Es ist möglich, sie zum Teil so zu lesen, als ständen sie mit den Prolegomena in Einklang. Anders steht es mit den übrigen Untersuchungen, die ausschließlicher vom Subjektiven handeln. Es hat den Lesern immer Schwierigkeiten gemacht, die Zuwendung zum Subjektiven mit der Betonung der Objektivität der Logik in Übereinstimmung zu bringen. Diese Schwierigkeit kann nur durch die Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins behoben werden, die sich Husserl selber erst in den Logischen Untersuchungen erarbeitet. (Vgl. zu diesen Fragen Ströker 1975) Die I. Studie des II. Bandes der Logischen Untersuchungen hat vorbereitenden Charakter. Sie trägt den Titel Ausdruck und Bedeutung. Ihr erstes Ziel ist es, im Ausgang vom sprachlichen Ausdruck die ideale Bedeutung als homogenes Element der logisch-mathematiA
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schen – und aller wissenschaftlichen – Erkenntnis herauszustellen. Die phänomenologischen Grundbegriffe der bedeutungsverleihenden und bedeutungserfüllenden Akte, die Husserl bereits in der I. Studie einführt, werden wir erst später darstellen; und zwar in einer Skizze der VI. Untersuchung. Die II., III. und IV. Studie der Logischen Untersuchungen enthalten keine Darstellung des Systems der reinen objektiven Logik, wie es etwa im 11. Kapitel der Prolegomena entworfen ist. Sie bearbeiten vielmehr einzelne Themen, die für den Aufbau einer reinen Logik wichtig, ihrem Inhalt nach aber in sich relativ abgeschlossen und eigenständig sind. Es kommen hier vor allem folgende Probleme zur Sprache: die Seinsweise des Allgemeinen, das Verhältnis von den Ganzen und Teilen, die reine Grammatik und ihre Beziehung zur formalen Logik. Vieles in diesen Analysen kann isoliert für sich angeeignet werden, ohne dass Husserls spätere transzendental-subjektive Konzeption der Logik vorausgesetzt werden müsste. Diese Untersuchungen sind zumeist in ihren jeweiligen thematischen Grenzen aufgenommen worden. Sie haben viel zum Ruhm des Gesamtwerkes beigetragen und sind eine Fundgrube gewesen, aus der verschiedenartige Wissenschaften im Bemühen um ihre Grundbegriffe und auf der Suche nach neuen Unterscheidungen geschöpft haben. Wir folgen dem komplizierten inneren Gefüge der Logischen Untersuchungen nicht, sondern verfügen über sie, wie es für eine einführende Darstellung am besten ist. Zunächst rücken wir die Prolegomena mit Husserls erstem Werk, der Philosophie der Arithmetik, zusammen, um durch das Hilfsmittel einer Konfrontation von Gegensätzlichem einen Verständnisrahmen für die Fragestellung der Phänomenologie zu gewinnen. Anschließend entwickeln wir einige Grundgedanken der Phänomenologie als einer erkenntnistheoretischen Lehre vom intentionalen Bewusstsein. Da Husserl diese Gedanken ständig verfolgt und vertieft hat, kommen hier Dinge zur Sprache, auf die wir in gewandelter Gestalt auch in späteren Abschnitten wieder zurückgreifen müssen. Zum Schluss skizzieren wir einige Theoreme aus dem Bereich der reinen Logik, wie sie in der II., III. und IV. Untersuchung behandelt werden. Auch unter ihnen finden sich Gedanken, welche die Eigenart der Phänomenologie im Ganzen erhellen.
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Husserls vorphnomenologisches Denken
§ 3 Husserls vorphnomenologisches Denken zwischen Psychologismus und Objektivismus Durch einen Blick auf Husserls Frühwerk werden zwei gegensätzliche Positionen ins Licht gerückt, zwischen denen Husserl anfänglich geschwankt hat. Husserl findet durch den Versuch einer kritischen Bewältigung zweier Extremstandpunkte zu seiner eigenen Philosophie. Diese lässt sich bis zu einem gewissen Grad aus einer Reaktion auf zwei gegensätzliche Möglichkeiten der Stellungnahme zum Verhältnis von Erkenntnissubjektivität und Erkenntnisgegenstand verstehen. Eine gewisse Vereinfachung ist im Folgenden unvermeidlich, da es nur auf die Skizze eines Gerüstes ankommt, das den Einstieg in die Phänomenologie erleichtern soll. Die Philosophie der Arithmetik müht sich um eine Klärung des Begriffs der Anzahl aus psychischen Tätigkeiten, die an irgendwelchen Vorstellungsinhalten ausgeübt werden; mögen diese Dinge, Eigenschaften, Ideales, Phantasiertes oder was auch immer betreffen. An den Vorstellungsgehalten wird eine »totale Inhaltsentschränkung« vorgenommen. Dadurch gelangt man zu formalen Begriffen wie Vielheit, Einheit und Etwas, die noch nicht im strengen Sinne mathematisch sind. Mittels ihrer und des Begriffs der Vielheitsrelationen von Mehr und Weniger wird der Begriff der Anzahl gewonnen, der seinerseits erst den Ausgangspunkt bildet, aus dem durch komplikative-symbolisierende Prozesse »symbolische Zahlvorstellungen« und »signitive Zahlzeichen« als die Gegenstände hervorgehen, mit denen die Arithmetik arbeitet. Deren wesentliche Aufgabe besteht darin, »aus gegebenen Zahlen andere zu finden vermöge gewisser bekannter Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen«. (Philos. d. Arithmetik 256) Der fundamentale Begriff der Anzahl resultiert aus einer bestimmten Weise der Verbindung von Vorstellungsinhalten, die zuvor zum leeren Etwas formalisiert worden sind. Da das Ergebnis dieser »kollektivischen Einigung« (von Eins und Eins und …) nur durch einen eigenen, die Beziehung zwischen dem, was Eins ist, herstellenden Akt zustande kommen kann, ist sie gänzlich psychischer Natur. Ohne die psychischen Abstraktions- und Vereinigungsakte hat sie keinen Bestand. Und daher ist die Anzahl selber auch nichts anderes als eine abstrakte psychische Vorstellung. Das »Sein einer Anzahl« liegt einzig und allein darin, dass eine Vielheit A
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von Gliedern »in einem Akt zusammengedacht« ist. (Vgl. Philos. d. Arithmetik 73 ff.) Frege hat der Philosophie der Arithmetik den Vorwurf des Psychologismus gemacht. (Vgl. Frege 1967) Und in der Tat steht Husserl mit dieser Schrift in den Denkbahnen des damals herrschenden logischen Psychologismus – wenigstens für denjenigen, der noch nichts von der späteren intentionalen Bewusstseinslehre weiß. Wir überspringen die Argumentationsweise Husserls, von der er sich einige Jahre danach selber distanziert hat. Das soll nicht bedeuten, sie sei indiskutabel. Im Lichte späteren phänomenologischen Wissens ist Manches an ihr erwägenswert. Es ist daher auch nicht falsch, wenn Husserl die Philosophie der Arithmetik im Rückblick als ersten unreifen Schritt auf dem Wege zur Konstitutionslehre versteht. (Vgl. FTL 90 ff.) Uns sollen nur ihre grundsätzlichen Voraussetzungen beschäftigen. Sie werden mit den andersgearteten Prämissen konfrontiert, von denen im ersten Band der Logischen Untersuchungen Gebrauch gemacht ist. In den Prolegomena hat Husserl eine Position bezogen, die zu der seines Frühwerks im Widerspruch steht. Hier ist die Kritik am Psychologismus von Husserl aufgenommen und gegen sein eigenes anfängliches Denken gewandt worden. In ihr kommt Husserl gegen Husserl zu Wort. Es zeigen sich die gegensätzlichen Möglichkeiten, welche die spannungsgeladene Ausgangssituation der Phänomenologie bilden. So krass wie in den Prolegomena hat Husserl niemals wieder den objektiven Charakter des Logisch-Mathematischen gegen alles subjektive Erleben herausgestellt. Das logisch-mathematische Ideale tritt als völlig unabhängig von jedem subjektiven Bezug auf. Seine Herkunft aus abstrahierenden psychischen Tätigkeiten scheint es nicht in seinem Eigenwesen zu betreffen, sondern nur die Psychologie anzugehen. Es ist zwar nicht zu leugnen, dass die objektiven Gehalte von Logik und Mathematik auch subjektiv erfasst werden, aber diese Erfassung bleibt ihrem Seinsstatus gegenüber außerwesentlich. Greifen wir aus dem reichhaltigen Argumentationsarsenal der Prolegomena einen entscheidenden Punkt heraus, an dem in concreto deutlich wird, wie und warum Husserl hier Subjektives und Ideal-Objektives scharf trennen muss. Husserl radikalisiert seinen Angriff gegen den Psychologismus, indem er deutlich macht, dass der Psychologismus eine Theorie darstellt, welche gegen »die evidenten Bedingungen der 42
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Möglichkeit einer Theorie« verstößt. Eine solche Pseudo-Theorie ist ein skeptischer Relativismus. Dieser hat in der neueren Zeit die Gestalt des Anthropologismus angenommen. Er lässt die Wahrheit von der organischen Eigenart, der Konstitution oder den Denkgesetzen irgendwelcher urteilender Wesen abhängig sein. »Diese Lehre ist widersinnig. Denn es liegt in ihrem Sine, dass derselbe Urteilsinhalt (Satz) für den Einen, nämlich für ein Subjekt der Spezies homo, wahr, für einen Anderen, nämlich für ein Subjekt einer anderen konstituierten Spezies falsch sein kann«. (Prolegomena 117) Aber die logischen Wahrheiten haben keine »wesentliche Beziehung zu denkenden Intelligenzen« irgendeiner Art und Organisationsstufe. Husserl wendet sich am Schluss der Prolegomena noch einmal deutlich gegen die von ihm in der Philosophie der Arithmetik vertretene Überzeugung, dass die Mathematik ebenso wie die Logik in der Psychologie wurzeln müsse. Er führt an, dass kein Mathematiker seine Gegenstände und ihre Bestimmtheiten wie psychische Fakten betrachte. Die Zahlen unterstehen z. B. nicht zeitlicher Bestimmtheit wie die psychische Tatsache des Zählaktes. Sie sind auch von den Vorstellungen, in denen sie vorgestellt werden, verschieden. »Die Zahl Fünf ist nicht meine oder eines anderen Vorstellung der Fünf. In letzterer Hinsicht ist sie möglicher Gegenstand von Vorstellungsakten, in ersterer ist sie die ideale Spezies einer Form, die in gewissen Zählakten auf Seiten des in ihnen Objektiven, des konstituierten Kollektivum, ihre konkreten Einzelfälle hat«. (Prolegomena 170 f.) Alle Unterschiede, die das Logische und Mathematische in seinem Wesen vom Psychischen abschneiden, konzentrieren sich für Husserl im Unterschied von Idealem-Zeitenthobenem und Realem-Zeitlichem. Solange das Psychische-Subjektive zum Realen-Zeitlichen gerechnet wird, kann es für das ideale-objektive Logische nicht wesentlich werden. In diesem Punkt ist Husserl den Prolegomena treu geblieben. Die Frage ist, ob eine solche Fassung des Subjektiven ausreicht? Wird sie nicht durch den Gedanken der universalen Intentionalität des Bewusstseins als unzureichend erwiesen? Gegenüber dem Psychischen als einem realen-zeitlichen gilt auf jeden Fall: Die reine Logik hat sich nur auf die logischen-objektiven Bedingungen der Erkenntnis zu richten. Dies ist möglich, da es evident sein soll, »dass Wahrheiten selbst und speziell Gesetze, Gründe, Prinzipien sind, was sie sind, ob wir sie einsehen oder nicht. Da sie aber nicht nur gelten, sofern wir sie einsehen können, sondern da wir sie nur einsehen könA
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nen, sofern sie gelten, so müssen sie als objektive oder ideale Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis angesehen werden … Offenbar handelt es sich hier um apriorische Erkenntnisbedingungen, welche, abgesondert von aller Beziehung zum denkenden Subjekt und zur Idee der Subjektivität überhaupt, betrachtet und erforscht werden können«. (Prolegomena 238) Bereits in den Prolegomena finden sich neben Formulierungen dieser Art, die in den Augen des späten Husserl zumindest als sehr misslich gelten, andere Überlegungen, die ein Subjektives nicht realpsychischer Art ins Spiel bringen, das vom ideal-objektiven Erkenntnisgehalt nicht ferngehalten zu werden braucht. Das sind z. B. die idealen Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, die sich als noetische im Unterschied zu den logisch-objektiven auf der Seite des Subjekts finden. In ihnen liegt keine Rückbeziehung des idealen Urteilsgehaltes auf die besondere Organisation irgendwelcher Arten von psychischen (Lebe-)Wesen vor, sondern in ihnen erfolgt ein Rückgriff auf die subjektiven Evidenzbeziehungen, die für jedes mögliche Bewusstsein überhaupt, gelten, für das Ideales zur Gegebenheit kommt. Wir berücksichtigen diese Komplikation nicht, sondern konstatieren im Anschluss an einige Äußerungen Husserls einen scharfen Gegensatz zwischen dem Subjektiven und dem logischen-objektiven Erkenntnisgegenstand, um zu sehen, wie sich Husserl dem Dilemma dieser Entgegensetzung entzieht und so seine endgültige phänomenologische Entscheidung der erkenntnistheoretischen Grundfrage nach dem Verhältnis von erkennender Subjektivität und zu erkennendem Gegenstand trifft. Sind aus den Andeutungen über Husserls Stellungnahme zum Verhältnis von Subjektivem und Ideal-Objektivem nicht gewisse Konsequenzen bezüglich des Seins des Ideal-Objektiven zu ziehen? Frege zieht sie noch deutlicher als Husserl in den oben zitierten Sätzen. Ihm zufolge haben die Sachgehalte der Logik und Mathematik den Charakter des Ansichseins. Das ideale Reich des Gedankens ist der Seinsweise nach ohne Beziehung auf Subjektives, da die Gedanken keines Trägers bedürfen und wahr sind »unabhängig davon«, ob irgend jemand sie für wahr hält. Mit dieser ontologischen These ist der Gegenpol zu derjenigen Position erreicht, die in größerer Radikalität Frege, in etwas schwächerer Weise auch der Husserl der Prolegomena gegen die subjektive Erklärungsart des Mathematischen herausstellen. Damit ist zugleich 44
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Das intentionale Bewusstsein
Husserl an dem Punkt angelangt, der von seinem phänomenologischen Anliegen am weitesten entfernt ist. Wo Freges Gedankenbahn in der Bestimmung des Gedankenreiches endet, erhebt sich Husserls Frage nach dem Verhältnis von Subjektivität und objektivem Gedanken aufs Neue. Kann die Seinsweise von Gedanken nicht nur aus ihrem Rückbezug auf das subjektive Erfassen bestimmt werden, wenn man schon daran festhält, dass Gedanken subjektiv erfasst werden können? Husserls weiterer Weg darf nicht vergessen lassen, dass er an einer Überzeugung der Prolegomena unverbrüchlich festgehalten hat: am Eigenwesen und an einer gewissen Eigenständigkeit der ideal-objektiven Gegenstände als Bezugspole für das subjektive Erleben. In der skizzierten Entgegensetzung von subjektivem Erleben und objektivem Bestand von idealen Sachgehalten fallen subjektives Erleben und objektives Sein des Gegenständlichen beziehungslos auseinander. Muss es unter dieser Voraussetzung nicht zum Rätsel werden, wie das ansichseiende Gegenständliche überhaupt subjektiv soll erfasst werden können? Wie soll ein Subjekt, das seinem eigenen Seinsstatus nach vom Sein der Gegenstände getrennt ist, dazu befähigt sein, die Gegenstände, wie sie an sich sind, zu erfassen? Der extreme Pendelausschlag zwischen dem Psychologismus der Philosophie der Arithmetik und dem Objektivismus der Prolegomena bildet fortan den Spielraum, innerhalb dessen Husserl seine Philosophie ansiedeln wird. Diese sucht die beiden Extreme zu vermeiden, indem sie unverbrüchlich an der Korrelation von Subjektivem und Gegenständlichem festhält.
§ 4 Das intentionale Bewusstsein als Grundbegriff einer erkenntnistheoretisch orientierten Phnomenologie Plötzlich und ausgereift tritt Husserls neue Grundthese in der Einleitung des II. Bandes der Logischen Untersuchungen vor uns hin, ohne dass wir von den Wegen des Denkens wüssten, deren Ergebnis sie ist. Diese These wird von jetzt an Husserls philosophischer Leitfaden sein, der ihn mit einer gewissen Konsequenz zur Transzendentalphilosophie führt. Er hat seinen neuen Ausgangspunkt prägnant formuliert. Fasst man die erkenntnistheoretischen Grundfragen »in der weitesten Allgemeinheit – das ist offenbar in der formalen, die A
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von aller Erkenntnismaterie abstrahiert – dann ordnen sie sich mit in den Kreis der Fragen ein, welche zu einer vollen Klärung der Idee einer reinen Logik gehören. Die Tatsache nämlich, dass alles Denken und Erkennen auf Gegenstände, bzw. Sachverhalte geht, sie angeblich trifft, derart, dass ihr »Ansich-sein« als identifizierbare Einheit in Mannigfaltigkeiten wirklicher oder möglicher Denkakte, bzw. Bedeutungen, bekunden soll; die weitere Tatsache, dass allem Denken eine Denkform innewohnt, die unter idealen Gesetzen steht, und zwar unter Gesetzen, welche die Objektivität oder Idealität der Erkenntnis überhaupt umschreiben – diese Tatsachen, sage ich, regen immer von neuem die Frage auf: wie es denn zu verstehen sei, dass das »ansich« der Objektivität zur »Vorstellung«, ja in der Erkenntnis zur »Erfassung« komme, also am Ende doch wieder subjektiv werde; was das heißt, der Gegenstand sei »an sich« und in der Erkenntnis »gegeben«; wie die Idealität des Allgemeinen als Begriff oder Gesetz in den Fluss der realen psychischen Erlebnisse eingehen und zum Erkenntnisbesitz des Denkenden werden kann.« (LU II/1, 8) Die Klärung von logischen Begriffen wie Gegenstand, Eigenschaft, Sachverhalt, Gesetz soll auf Fragen dieser Art zurückführen. Darin liegt: Die philosophische Aufklärung des ideal Logischen bedarf des Rückgriffs auf die subjektiven Denk- und Erkenntniserlebnisse. Ihre Erforschung wird der deskriptiv verfahrenden »reinen Phänomenologie« zugewiesen. Diese Phänomenologie bildet eine Einheit mit der Theorie der Erkenntnisgegenstände. Aber sie hat erkenntnistheoretisch den Vorrang vor aller objektiv-gegenständlich gerichteten Betrachtung; denn sie erschließt »die Quellen«, aus denen die Grundbegriffe und die idealen Gesetze der reinen Logik »entspringen«, und bis zu welchen sie wieder zurückverfolgt werden müssen, um ihnen die für ein erkenntniskritisches Verständnis erforderliche »Klarheit und Deutlichkeit« zu verschaffen.« (LU II/1, 3) Zu dieser Position gehört die folgende Konsequenz. Die Phänomenologie macht die Erlebnisse des Subjektes zum Thema. Durch ihre deskriptive Erforschung will sie das Wesen der Erkenntnis klären. Es kommt darauf an, dass sich die Phänomenologie rein an die Erlebnisse hält und sie so, wie sie sich geben, untersucht. Sie hat keine darüber hinausgehenden Setzungen mitzumachen; Setzungen bezüglich der Existenz von Objektiven, wie sie z. B. in der Naturwissenschaft, der Psychologie, der Metaphysik vorgenommen werden, die sich aber im Bestand der Erlebnisse nicht vorfinden lassen. Nur soweit das Meinen solcher Objekte ein »deskriptiver Charakterzug 46
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Das intentionale Bewusstsein
im betreffenden Erlebnis« selbst ist, gehört es zum Thema der Phänomenologie. Die Frage nach dem Recht der Annahme von bewusstseinstranszendenten Realitäten psychischer und physischer Art fällt nicht in ihren Kompetenzbereich. In dieser Begrenztheit stellt sich die Phänomenologie –wenigstens zunächst – vor. Husserl hebt sein Vorgehen hier scharf von der psychologischen Betrachtungsweise ab. Er sieht den entscheidenden Unterschied zwischen phänomenologischer und psychologischer Analyse darin, dass die Psychologie es mit dem Subjektiven von als real welthaft gesetzten Menschen zu tun hat, die Phänomenologie dagegen mit dem von jedem Realbezug losgelösten Subjektiven, das in keinem kausalen Abhängigkeitsverhältnis zu Naturhaftem steht. Phänomenologisch interessiert das Subjektive einzig und allein seinem Wesen nach. Alles an psychophysischen Wesen vorkommende reale Subjektive dient für diese Auffassung nur als Exempel eines allgemeinen Wesensgehaltes. Von aller empirischen Faktizität und individuellen Vereinzelung wird dabei abgesehen. Eine solche Wesenswissenschaft ist keine empirische Psychologie, sie bildet vielmehr das apriorische Fundament der Psychologie. (Vgl. LU II/1, 17 ff.) Die Unzulänglichkeit dieser Unterscheidungen für ein angemessenes Verständnis der von ihm intendierten Phänomenologie wird von Husserl bald betont werden, denn sie muss bewusstseinstranszendentes Reales vom Charakter des Faktischen noch in ganz anderer Weise als auf dem Wege der Wesenserschaung hinter sich lassen. Ein wichtiger, Husserls Konzeption der Phänomenologie weitertreibender Punkt wird bereits in der Einleitung zu den den Prolegomena folgenden Logischen Untersuchungen mit Nachdruck hervorgehoben. Indem die Phänomenologie auf das reine Wesen der Erlebnisse geht, muss sie mit Widerständen rechnen. Diese rühren daher, dass das Erkennen normalerweise den zu erkennenden Gegenständen zugewandt ist, ohne sich um die Erlebnisse zu kümmern, in denen ihm seine Erkenntnisgegenstände gegeben sind. Gegen diese »schlichtobjektive Denkhaltung« muss sich die reflektierende, widernatürliche Einstellung der Phänomenologie durchsetzen. Denn nur in dieser Einstellung sind ihre reinen Wesensdeskriptionen durchführbar. Nachdem Husserl bereits in der I. und II. Untersuchung phänomenologisch verfahren ist, werden in der V. und VI. Untersuchung die A
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Die Anfnge der Phnomenologie
Grundzüge der phänomenologischen Lehre vom Subjektiven expliziert. Die V. Studie, Über intentionale Erlebnisse und deren Inhalte, entwickelt systematische Grundlagen von Husserls Subjektivitätstheorie. Die VI. Studie, Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis, verfolgt vornehmlich zwei Gedankenreihen. Es geht in ihr um die Erkenntnis als Synthesis der Bedeutungserfüllung und um die sogenannte kategoriale Anschauung, die eine ausgezeichnete Art von Bedeutungserfüllung darstellt. Wir erwähnen nur einige Hauptgedanken dieser beiden inhalts- und detailreichen Untersuchungen. a)
Die Intentionalität des Bewusstseins
Die phänomenologisch relevanten Erlebnisse sind als intentionale aus der Gesamtklasse der psychischen Erlebnisse auszugrenzen. Die intentionalen Erlebnisse werden von Husserl in den Logischen Untersuchungen – anders als in den Ideen I – noch insgesamt als Akte bezeichnet. Um das Wesen der Akte zur Klarheit zu bringen, geht Husserl von dem vieldeutigen Wort Bewusstsein aus. Er unterscheidet drei Begriffe von Bewusstsein: 1. »Bewusstsein als der gesamte reelle phänomenologische Bestand des empirischen Ich, …« 2. »Bewusstsein als inneres Gewahrwerden von eigenen psychischen Erlebnissen«, und 3. Bewusstsein als Gesamttitel für »intentionale Erlebnisse«. Die Diskussion der Begriffe leidet darunter, dass Husserls Fassung des eigentlich Phänomenologischen in der Zeit zwischen der ersten und zweiten Auflage der Logischen Untersuchungen (1901–1913) eine Entwicklung durchgemacht hat. Diese betrifft, wenn man es mit späteren Unterscheidungen Husserls ausdrückt, die Frage nach dem Bewusstsein als Einheit von reellen und intentionalen Momenten. (Vgl. z. B. LU II/1 397 A 1) Wir übergehen alle Schwierigkeiten, die der Text aufgrund dieser Tatsache mit sich bringt. Aufgrund des oben bereits Gesagten ist klar, dass sich die Phänomenologie der nächstliegenden und verbreitetsten Auffassung des Bewusstseins enthalten muss. Sie hat es nicht mit Bewusstseinserlebnissen und Bewusstseinsinhalten als realen Vorkommnissen psychischer Individuen im Sinne der üblichen Psychologie zu tun. Sie modifiziert den Erlebnisbegriff der Psychologie so, »dass alle Be48
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Das intentionale Bewusstsein
ziehung auf empirisch-reales Dasein (auf Mensch oder Tiere der Natur) ausgeschaltet bleibt«. (LU II/1 328) Damit ist auch der Begriff des Bewusstseins auszuschalten, der dieses als Bewusstsein eines empirisch-realen Ich versteht, dem alle Erlebnisse zugeschrieben werden. Zum phänomenologisch reinen Bewusstsein gehört dann wohl nur der reelle Bestand des Erlebens – abgesehen von seinem Realitätsbezug. Vom reellen Bewusstseinsgehalt muss man den Gegenstand zu unterscheiden, der dem Erleben zugehört, ohne als reeller, erlebter »Inhalt« in ihm enthalten zu sein. Husserl setzt im Folgenden den Begriff des inneren Gewahrwerdens von eigenen Erlebnissen in Beziehung zu diesem phänomenologischen Bewusstseinsbegriff. Im inneren Bewusstsein, z. B. in der inneren Wahrnehmung, ist der wahrgenommene Gegenstand reell beschlossen und adäquat und restlos erfasst. Dieser engere phänomenologische Bewusstseinsbegriff ist nach Husserl ursprünglicher als der zunächst erwähnte. Von ihm aus lässt sich ein Übergang zu jenem weiteren Begriff gewinnen, wenn man bedenkt: Das innere Wahrnehmen und sein adäquat Wahrgenommenes bilden den Kerngehalt dessen, was rein phänomenologisch fassbar ist. Dieser ist wesenhaft im Zeitbewusstsein mit dem vergangenen Wahrgenommenen und mit koexistierendem Wahrnehmbarem verknüpft. So erweitert sich der Begriff des Erlebnisses »vom innerlich Wahrgenommenen und in diesem Sinne Bewussten« zum sich »zeitlich fortsetzenden Erlebnisstrom«, der als »real in sich geschlossene Einheit« verstanden ist. (Vgl. LU II/1 358 f.) Erst bei der Analyse des dritten Begriffes von Bewusstsein entwickelt Husserl diejenigen Grundbestimmungen, die für ihn fortan fundamental sind. Hier wird von vornherein unter dem Titel psychische Akte eine Klasse von Erlebnissen gefasst, in denen Gegenständliches »intentional« vorstellig gemacht, gemeint wird. Erlebnisse dieser Art sind von bloßen Empfindungen zu unterscheiden. Empfindungen und Empfindungskomplexionen sind reelle Erlebnisinhalte, »aber diese Inhalte sind nicht etwa von dem Ganzen intendierte, in ihm intentionale Gegenstände«. (LU II/1 369) Die Akte lassen sich in ihrem intentionalen Grundcharakter nicht auf Psychisches anderer Art zurückführen. Die intentionale Beziehung des Erlebnisses auf seinen Gegenstand ist einzigartig. Manche Redewendungen, mit denen sie beschrieben zu werden pflegt, legen es nahe, sie misszuverstehen. Das ist z. B. der A
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Fall, wenn gesagt wird: Das Bewusstsein beziehe sich auf einen Gegenstand, der Gegenstand trete ins Bewusstsein, er sei ein mentales, immanentes Objekt usw. Dagegen ist zu betonen, dass die intentionale Gegenstandsbeziehung bereits den Akten als Akten zukommt. Der intendierte Gegenstand ist trotzdem nichts dem Erlebnis reell Immanentes. Man muss alle Vorstellungen fernhalten, die hier eine reale Beziehung zwischen Realem annehmen. Auch von einem realen Gegenstand, auf den sich der Akt bezieht, ist keine Rede. Der intentionale Gegenstand ist vielmehr ein nicht-reelles Moment des (nicht-realen) phänomenologisch reinen Aktes selber. In der Präsenz eines solchen Erlebnisses ist die intentionale Beziehung auf einen Gegenstand und der gemeinte Gegenstand selber einbeschlossen. Dass ein solcher intendierter Gegenstand existiere oder existieren könne, ist damit nicht gesagt. (Vgl. LU/1 372 ff.) Die gegenständliche Beziehung des Aktes und die Zugehörigkeit des Gegenstandes zum Akt ist also in dieser Bestimmtheit zu verstehen: »denn das Bewusstsein meint hier ein ganz anderes, als es nach Maßgabe der beiden früher erörterten Bedeutungen von Bewusstsein meinen kann.« (LU II/1 375) In einer Auseinandersetzung mit den Thesen, die Natorp in seiner Einleitung in die Psychologie vertreten hat, diskutiert Husserl die Frage nach dem Zusammenhang von Erlebnis und Ich. Er bestreitet die Notwendigkeit, ein reines Ich als Beziehungszentrum für alle Bewusstseinsinhalte annehmen und Bewusstsein durch eine Rückbeziehung auf ein Ich definieren zu müssen. Was sich allein als Gegenstand einer phänomenologischen Analyse finden lassen soll, ist das empirische Ich mit seiner empirischen Objektbeziehung. Und dieses Ich ist ein »Bewusstseinsinhalt«, genauer gesagt, ein intentionaler Gegenstand. Er konstituiert sich in der reellen-phänomenologischen Einheit des Erlebnisstromes. (Dieser wird gelegentlich phänomenologisches Ich genannt.) Zwar zeigt sich in einer Beschreibung, die sich aufgrund einer objektivierenden Reflexion vollzieht, die Beziehung der Erlebnisse auf das erlebende Ich, aber im unmittelbar gelebten Akt gehen wir im gegenständlich Intendierten auf, ohne etwas vom Ich als Bezugspunkt des Aktes zu bemerken. Selbstverständlich kann das Ich zum deskriptiv aufweisbaren »Teilinhalt« eines (zusammengesetzten) Aktes werden; dann nämlich, wenn das Sich-beziehen des Ich auf etwas ausdrücklich und daher deskriptiv aufweisbar im Akt auftritt. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Beziehung auf 50
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das Ich nichts »zum wesentlichen Bestande des intentionalen Erlebnisses Gehöriges« ist. (Vgl. LU II/1 376 f. u. 357 ff.) So lautete Husserls entschiedene Stellungnahme in der V. Logischen Untersuchung im Gegensatz zu seiner späteren Lehre. Zum reellen Bestand der intentionalen Erlebnisse gehören Empfindungen; z. B. Gesichts-, Geruchs-, Berührungsempfindungen. Ihnen kommt in den Akten eine wichtige Funktion zu. Denn durch ihre »beseelende gegenständliche Auffassung« (Deutung, Apperzeption) kommt das Bewusstsein von Gegenständlichem zustande: das Sehen eines Baumes, das Hören eines Klingeltones, das Ertasten eines Tisches. Die Empfindungsinhalte dienen in den intentionalen Erlebnissen als Bausteine, ohne selber von intendierendem Charakter zu sein. Sie sind reelle Bewusstseinsinhalte, in denen sich intentional Gegenständliches darstellt. Vom reellen Inhalt ist der intentionale Inhalt zu unterscheiden. Es sind drei wichtige Begriffe von intentionalem Inhalt auseinanderzuhalten: 1. der intentionale Gegenstand des Aktes, 2. die intentionale Materie des Aktes im Unterschied zu seiner intentionalen Qualität, 3. sein intentionales Wesen. Husserl widmet diesen drei Begriffen ausführliche Analysen. In ihnen hat die V. Untersuchung einen ihrer Schwerpunkte. Jeder intentionale Akt, aus wie vielen Teilakten er sich auch immer aufbauen mag, bezieht sich auf einen einheitlichen Gegenstand. Dieser ist im Akt immer als ein inhaltlich so und so bestimmter intendiert. Von ihm gilt – und das ist wegen seiner Wichtigkeit und Befremdlichkeit noch einmal in Erinnerung zu rufen: »Für die reell phänomenologische Betrachtung ist die Gegenständlichkeit selbst nichts; sie ist ja, allgemein zu reden, dem Akte transzendent«. Trotzdem ist der Akt auf sie gerichtet. Dabei ist es völlig gleichgültig, in welchem Sinne vom »Sein« dieses Gegenstands die Rede ist. Zu verstehen ist die Zugehörigkeit des Gegenstandes zum Akt nur aus dem intentionalen Charakter des Aktes. »Das sich auf den Gegenstand Beziehen ist eine zum eigenen Wesensbestand des Akterlebnisses gehörige Eigentümlichkeit, …« (LU II/1 412 f.) Akte mit verschiedenen intentionalen Gegenständen, z. B. Urteile verschiedenen Inhalts über Physisches, können gleichwohl Gemeinsamkeit in dieser Weise der intentionalen Gegenstandsbeziehung A
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aufweisen. Die inhaltlich verschiedenen Akte wären in unserem Fall z. B. beide Urteile. Andere solcher Bezugsweisen sind Vorstellen, Wahrnehmen, Erinnern, Wollen, Wünschen u. a. m. Husserl nennt solche subjektiven Weisen, in denen ein Inhalt intendiert ist, Aktqualitäten. Jeder Akt ist immer durch eine bestimmte Qualität charakterisiert. Was in den Qualitäten erscheint, ist der intentionale Inhalt, der als Materie bezeichnet wird. Nur die Materie sichert dem Akt seine Beziehung auf ein bestimmtes Gegenständliches. Durch die Materie wird nicht nur bestimmt, welches Gegenständliche überhaupt im Akt gemeint ist, sondern auch mit welchen Merkmalen, Beziehungen, kategorialen Formen das Gegenständliche aufgefasst ist. Die Materie ist als »gegenständlicher Auffassungssinn« gegen Unterschiede der Qualität gleichgültig. (Vgl. LU II/1 415 f.) Dieselbe Materie kann in verschiedenen Qualitäten gesetzt sein; z. B. in der Weise des Vorstellens, Urteilens usw. Es ist eben der Aktqualität nach etwas anderes, sich vorzustellen, es gebe auf dem Mars intelligente Wesen, und zu urteilen, es gibt auf dem Mars intelligente Wesen. Der Mannigfaltigkeit der Aktqualitäten ist bei gleichbleibender Materie die Verschiedenartigkeit der Materien bei gleichbleibender oder wechselnder Qualität an die Seite zu stellen. Jeder Akt baut sich aus den Momenten Qualität und Materie auf. Die beiden »einander wechselseitig fordernden« Bestandstücke von Qualität und Materie bilden noch nicht den vollständigen konkreten Akt. Ihre Einheit als Teil des Aktes nennt Husserl das intentionale Wesen. Ihr gesellen sich in der vollen Konkretion noch Momente der Fülle, Anschaulichkeit und Klarheit auf der Seite der Materie zu, durch die der Akt erst voll konkretisiert wird. In den letzten drei Kapiteln der V. Untersuchung findet sich eine tiefdringende und weit ausgreifende Analyse der mehrdeutigen These Brentanos, dass jeder Akt eine Vorstellung sei oder eine Vorstellung zur Grundlage habe. Die Analyse hat eine systematisch differenzierende Aufspaltung des traditionellen Vorstellungsbegriffs und eine Durchgliederung des Reichs der objektivierenden Akte im Gefolge. Es sind zwei grundverschiedene Begriffe von Vorstellung zu unterscheiden. Auf den ersten Begriff, der im Rahmen der Erkenntnisthematik keine besondere Bedeutung hat, stößt man, wenn folgendes bedacht wird: Akte verschiedener Qualität (wie Wahrnehmen, Urteilen, Vermuten, Wünschen, Wollen) können eine Modifikation er52
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fahren, durch die sie in bloß vorstellende verwandelt werden. Diese Modifikation betrifft ihre Qualität, nicht ihre Materie. Das bloße Vorstellen ist nicht nur eine Aktqualität neben anderen, sondern alle anderen Qualitäten treten ihm einheitlich gegenüber. Sie sind nämlich von der Art, dass in ihnen (wie z. B. in der Wahrnehmung und im Urteil) etwas als seiend gesetzt oder auch eine Stellungnahme vollzogen wird, indem in Wünschen und Wollensäußerungen etwas gewünscht und gewollt wird. In solchen Akten erfolgt ein Setzen, ein Glauben (belief), ein Stellungnehmen. In ihren Vorstellungsmodifikationen dagegen wird nicht wahrgenommen, geurteilt, gewünscht, gewollt. Es wird nur ein Wahrnehmen, Urteilen, Wünschen, Wollen vorgestellt. Wie es mit dem Sein der Sachen wirklich steht, bleibt dabei völlig dahingestellt. Von diesem Begriff der bloßen Vorstellung als einer qualitativen Aktmodifikation, die alle setzenden, Stellung nehmenden Akte in nicht-setzende, nicht-Stellung-nehmende überführt, ist derjenige Begriff von Vorstellung zu unterscheiden, der das Vorstellen als ein Vorstellig-machen von Materien versteht. Seiner bedarf jeder Akt, um Bestand haben zu können. Ein derartiges Vorstellig-machen liegt auch allen nicht-theoretischen, nicht-objektivierenden Akten wie Wünschen, Wollen, Begehren u. ä. zugrunde. Husserl weist die Abhängigkeit dieser Akte von vorstellig-machenden, objektivierenden in folgender Weise nach: »Ein intentionales Erlebnis gewinnt überhaupt seine Beziehung auf ein Gegenständliches nur dadurch, dass in ihm ein Akterlebnis des Vorstellens präsent ist, welches ihm den Gegenstand vorstellig macht. Für das Bewusstsein wäre der Gegenstand nichts, wenn es kein Vorstellen vollzöge, das ihn eben zum Gegenstande machte und es so ermöglichte, dass er nun auch zum Gegenstand eines Fühlens, Begehrens u. dgl. werden kann«. (LU II/1 428) Die sich auf den objektivierenden Vorstellungen aufbauenden intentionalen Charaktere sind nicht denkbar ohne fundierenden Vorstellungsakt. Gewünschtes, Begehrtes, Gewolltes kommt nicht ohne ein vorgestelltes Etwas, das gewünscht, begehrt, gewollt wird, vor. Die nicht-objektivierenden Akte und ihre Intenta sind unselbständig und können nicht isoliert, sondern nur »in inniger Verwebung mit einer Vorstellung« auftreten. »Diese letztere ist jedoch mehr als eine bloße Aktqualität, sie kann, im Gegensatz zu der durch sie fundierten Begehrungsqualität, als »bloße« Vorstellung sehr wohl für sich sein, d. h. als ein konkrete intentionales Erlebnis für sich bestehen«. (LU II/1 428 f.) Wir werden im folgenden nur noch die objektivierenden, A
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nicht mehr die fundierten Akte anderer Sphären wie Wünschen, Werten, Begehren u. ä. zum Thema haben. Husserl untersucht, wie das Vorstellig-machen in den objektivierenden Akten vor sich geht. Er schreibt es zunächst einer Aktkomponente, der Materie, zu. Diese Funktion der Materie deutet er aber wiederum als eine eigene Art von Akt. Das Vorstellig-(Gegenständlich-)machen von etwas geschieht in nominalen, einstrahligen, einfachen Akten. Diese unterscheiden sich von den bislang fast ausschließlich behandelten synthetischen, mehrstrahligen Akten, wie z. B. Urteilen, Vermutungen, Fragen. Alle synthetischen Akte können in einfache umgewandelt werden. Sie sind nominalisierbar. Nominalisieren wir eine Prädikation S ist p zu das Sp, welches in neuen Akten als Subjekt oder anderswie auftreten kann, so ist uns der geurteilte Sachverhalt in einem anderen Sinne gegenständlich als in dem ursprünglichen Urteile S ist p. Er ist dann ähnlich in einem Blick wie ein Ding in der Wahrnehmung oder Bildbeschauung gegeben. Aus dem Gesagten folgt, dass Vorstellungen und Urteile als Akte in der folgenden Weise unterschieden sind: Im Urteil werden Vorstellungen miteinander verknüpft. In dieser Verknüpfung konstituiert sich in der Einheit eines Bewusstseins ein Sachverhalt. Das geschieht aber in fundierter Weise, da nominal vorstellende Akte erst Basis und Bezugsglied der Verknüpfung liefern müssen. Der so mehrstrahlig konstituierte Sachverhalt kann wieder in einem einstrahligen Bewusstsein vorgestellt und nominalisiert werden. Letztlich sind alle synthetischen-zusammengesetzten Akte in nominalen, einfachen Akten fundiert. Husserl betont, dass die nominalen und urteilenden (propositionalen) Akte Gattungsgemeinschaft besitzen. Alle setzenden nominalen und propositionalen Akte samt ihren zugehörigen nicht-setzenden Modifikationen werden zu den »objektivierenden Akten« zusammengefasst. Sie scheiden sich durch Differenzierung ihrer Qualität in setzende und nicht-setzende und durch Differenzierung ihrer Materie in nominale und propositionale. b)
Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung
Husserl nähert sich den bedeutungsverleihenden Akten in den Logischen Untersuchungen vom Begriff des Ausdrucks her. Sprachliches, 54
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das als sinnbelebter Wortlaut auftritt, hat Ausdruckscharakter. Der Ausdruck ist das Ergebnis einer Einigung von zwei verschiedenartigen Akten: den sinnlichen, in denen sich das Erscheinen des Wortlautes vollzieht, und den bedeutungsverleihenden, den Bedeutungsintentionen, durch die ein sinnlicher Wortlaut zum Ausdruck wird. Mittels der Bedeutung bezieht sich ein Ausdruck auf Gegenständliches. Der Umkreis der bedeutenden Akte ist größer als der der Ausdrücke. Uns interessieren im Folgenden die Bedeutungsintentionen im weiteren Sinn im Hinblick auf ihre Erfüllbarkeit. Traditionell gesprochen steht das Verhältnis von Gedanke (Begriff) und korrespondierender Anschauung zur Diskussion. Zunächst ist zu sehen, dass es den Akten, die sich mittels der Bedeutung auf Gegenständliches richten, außerwesentlich ist, ob ihre Intention zur Erfüllung gelangt oder nicht. Gleichwohl gehören bedeutungserfüllende Akte den Bedeutungsintentionen als Ziele, in denen die Intentionen ihre Erfüllung finden, zu. »Wo sich nämlich die Bedeutungsintention aufgrund korrespondierender Anschauung erfüllt, m. a. W. wo der Ausdruck in aktueller Nennung auf den gegebenen Gegenstand bezogen ist, da konstituiert sich der Gegenstand als »gegebener« in gewissen Akten, und zwar ist er uns in ihnen – … – in derselben Weise gegeben, in welcher ihn die Bedeutung meint. In dieser Deckungseinheit zwischen Bedeutung und Bedeutungserfüllung korrespondiert der Bedeutung, … das korrelative Wesen der Bedeutungserfüllung, …« (LU II/1 50 f.) Die Klasse derjenigen Akte, in der sich Verhältnisse der Intention und Intentionserfüllung finden, ist weiter als die der objektivierenden Akte. Man denke an Wünschen und Wollen und die erfüllende Befriedigung solcher Erlebnisse. Die objektivierenden Akte aber sind dadurch ausgezeichnet, dass bei ihnen die Erfüllung den Charakter »der Erkenntnis, der Identifizierung«, der »In-Eins-Setzung« von »Übereinstimmendem« hat. (Vgl. LU II/2 3) Nur von ihnen ist hier die Rede. Im Falle einer Erfüllung einer Bedeutungsintention durch einen erfüllenden Akt kommt es zu einer Deckungseinheit zwischen zwei Akten. Bezüglich des in der Bedeutungsintention gemeinten und im erfüllenden Akt angeschauten Gegenstandes kommt es zu einer Identitätseinheit. In einem solchen Fall liegt eine geleistete Erkenntnis vor. Neben der Möglichkeit der Erfüllung besteht auch die der Enttäuschung. Diese beiden Möglichkeiten sind allerdings nicht A
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gleichgeordnet. Die Erfüllungssynthese verrät eine Ungleichartigkeit der beiden Korrelationsglieder; »derart, dass der erfüllende Akt einen Vorrang herbeibringt, welcher der bloßen Intention mangelt, nämlich dass er ihr die Fülle des »selbst« erteilt, sie mindestens direkter an die Sachen selbst heranführt«. (Vgl. LU II/2 65) Die Füllen der Erfüllungssynthese stehen in Steigerungsreihen und sind relativ auf die ideale Grenze eines letzten Erkenntniszieles; »das Ziel der adäquaten Selbstdarstellung des Erkenntnisobjektes«. (Vgl. LU II/2 66) Eine Bewusstseinsweise, in der Bedeutungsintentionen eine erfüllende Deckungssynthese erfahren, ist die äußere Wahrnehmung. Sie gibt Evidenz von Dinghaftem. Das besagt nichts anderes, als dass ein Gegenstand in ihr leibhaft zur Selbstgegebenheit kommt. Der Begriff der Evidenz ist gänzlich im Kontext der (nicht-psychologischen) phänomenologischen Erkenntnislehre zu verstehen. Er wird im IV. Abschnitt ausführlicher behandelt. Die äußere Wahrnehmung präsentiert den Gegenstand in einer ganz spezifischen Weise. Sie kann ihn z. B. nie voll und ganz geben. Er bleibt in ihr mit unerfüllten Intentionen behaftet. Es sei an die ungesehenen Seiten eines Dinges und unexplizierte Erfahrungshorizonte, in denen es steht, erinnert. Trotzdem ist daran festzuhalten, dass die äußere Wahrnehmung eine gewisse Selbstgebung des Gegenstandes leistet. Gegenständliches von nicht-dinghafter Art, wie Psychisches und Ideales, verfügt über andere Möglichkeiten, zur Evidenz zu kommen, als das Dingliche. Für seine Selbstgebung kommt die äußere Wahrnehmung nicht in Frage. Husserl kennzeichnet alle Bewusstseinsweisen, die Gegenständliches zur Selbstgebung bringen, als Wahrnehmungen und Anschauungen, später auch als Erfahrungen. Es ist klar, dass damit die Begriffe des Wahrnehmens, Anschauens und Erfahrens ungeheuer ausgeweitet werden. Husserl glaubt, diese Ausweitung aufgrund von Bedeutungsmomenten der üblicheren, engeren Begriffe von Wahrnehmen, Anschauen und Erfahren rechtfertigen zu können. Man sollte jedoch nicht übersehen, dass mit ihnen phänomenologisch etwas gemeint werden kann, was im »normalen« Wortgebrauch nicht liegt; z. B. das aktive und konstruktive Herstellen, das zur selbstgebenden Anschauung von allgemeinen Wesenheiten führt. Nicht jede Erfüllung einer Bedeutungsintention erfolgt durch Rückgang auf unmittelbare Anschauungen, in denen eine Sache zur abschließenden Selbstgegebenheit kommt. Es gibt Erfüllungen, die 56
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auf andere Erfüllungen weiter verweisen. Sie zeichnen eine Kette von Erfüllungen vor, an deren Ende erst eine letzte unmittelbare Anschauung steht. Besonders in der Mathematik finden sich Fälle für Erfüllungsketten, die sich aus signitiven Intentionen aufbauen, zu denen jeweils bestimmte mittelbare Erfüllungen gehören. Husserl gibt als Beispiel den Begriff (53 ) an, der durch schrittweise Auflösung bis in seine Grundlagen, nämlich in seinem Aufbau aus Operationen mit Einsen, zurückverfolgt werden kann. Wir haben es hier innerhalb der Rückverfolgung mit mittelbaren Erfüllungen von mittelbaren Intentionen zu tun, die aber nach einer endlichen Schrittfolge zu einer unmittelbaren Intention und Intuition führen. Signitive Intentionen sind »leer« und »der Fülle bedürftig«. »Die signitive Intention weist bloß auf den Gegenstand hin, die intuitive macht ihn im prägnanten Sinne vorstellig, sie bringt etwas von der Fülle des Gegenstandes selbst.« (LU II/2 76) Fülle pflegt in Stufen der Steigerung aufzutreten. Die vollkommene Fülle als Ideal würde den Gegenstand selber voll und ganz präsent sein lassen. Die Fülle gebenden Momente des Aktes sind aufseiten des Inhaltes zu finden. Die Qualität des Aktes spielt für sie keine Rolle. Sie sind »darstellende oder intuitiv repräsentierende Inhalte«. Im bloßen Begriff der Materie als demjenigen Aktmoment, aufgrund dessen ein Akt einen bestimmten Gegenstand vorstellt, ist von Fülle noch nichts enthalten. Der intendierte Gegenstand bleibt derselbe, wie immer die erfüllenden Vorstellungen variieren mögen. Gleichwohl gehören repräsentierende Inhalte neben Qualität und Materie notwendig zu jedem konkret vollständigen objektivierenden Akt; wenigstens wenn man das »erkenntnismäßige« und nicht nur das »bedeutungsmäßige« Wesen von objektivierenden Akten berücksichtigt. Der objektivierende Akt baut sich, so gefasst, aus den drei Komponenten »Qualität, Materie und intuitiv repräsentierendem Inhalt« auf, »wovon letzterer und mit ihm die Fülle bei den leeren Intentionen entfällt«. (Vgl. LU II/2 96 f.) Erfährt eine Intention ihre Erfüllung, so kommt es zu dem ausgezeichneten Bewusstseinsgeschehen, das die Tradition adaequatio rei et intellectus genannt hat. »Der Intellectus ist hier die gedankliche Intention, die der Bedeutung. Und die adaequatio ist realisiert, wenn die bedeutete Gegenständlichkeit in der Anschauung im strengen Sinne gegeben und genau als das gegeben ist, als was sie gedacht und genannt ist.« (LU II/2 118) Damit hat sich für das Subjekt EviA
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denz hergestellt: die »volle Übereinstimmung zwischen Gemeintem und Gegebenem als solchem«. Ihr entspricht als gegenständliches Korrelat die Wahrheit als Sachverhalt. Einen zweiten Begriff von Wahrheit bildet die zur Aktform gehörige Idee der absoluten Adäquation. Der in der Fülle als er selbst erlebte Gegenstand kann ebenfalls als das Wahre, als das, was Intentionen wahr macht, bezeichnet werden. Schließlich kann im Blick auf die Intention diese als richtige wahr genannt werden. Husserl entwickelt seine berühmte Lehre von der sinnlichen und kategorialen Anschauung in einem Abschnitt, der Sinnlichkeit und Verstand überschrieben ist. Der Sinnlichkeit korrespondiert letztlich ungeformtes Stoffliches, wie es die schlichte sinnliche Anschauung liefert. Das Stoffliche aber tritt uns zumeist als irgendwie geformt entgegen; z. B. in Urteilen, die einen Sachverhalt als S ist p darstellen. So Geformtes kann nach Husserl nur aufgrund der Tätigkeit des Verstandes zustandekommen, die an zugrundeliegendem sinnlichem Stoff durchgeführt wird. Wie sieht es mit der Erfüllbarkeit solcher kategorialen Formen aus, wie sie z. B. in den Urteilsformen vorliegen? Wie ist es möglich, dass objektive kategoriale Formen im intentionalen Erleben Erfüllung finden, d. h. angeschaut werden können? Einfach liegt die Sache im Falle der schlichten Wahrnehmungen. Sie haben für alle anderen Anschauungserfüllungen fundierende Funktion. Kategoriale Formen dagegen können nur als Formen fundierter Akte ihre anschauliche Erfüllung finden. (Vgl. LU II/2 134) Umgekehrt gilt: Nur die stofflichen Elemente einer Bedeutungsintention können in schlichten sinnlichen Wahrnehmungen ihre Erfüllung finden; ihre Formung, die ebenfalls Erfüllung heischt, kann das nicht. Und das gilt schon für das einfache Sein in der attributiven und existenzialen Funktion. Eine Farbe kann ich z. B. sehen, nicht dagegen das Farbig-sein usw. In den Akten der sinnlichen Wahrnehmung findet die Bedeutung des Wortes Sein eben keine Erfüllung, da sie darin kein objektives Korrelat hat. »Was vom Sein gilt, gilt offenbar auch von den übrigen kategorialen Formen in den Aussagen … Das Ein und das Das, das Und und das Oder, das Wenn und das So, das Alle und das Kein, das Etwas und Nichts, die Quantitätsformen und die Anzahlbestimmungen usw. – all das sind bedeutende Satzelemente, aber ihre gegenständlichen Korrelate (…) suchen wir vergeblich in der Sphäre der 58
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realen Gegenstände, was ja nichts anderes heißt, als der Gegenstände möglicher sinnlicher Wahrnehmung«. (LU II/2 138 f.) Husserls Lehre von der kategorialen Anschauung hat die These von den Fundierungsstufen, die zwischen Gegenständen verschiedener Art bestehen, zur Voraussetzung. Sinnliche oder reale Gegenstände gelten als Gegenstände unterer Stufe, die kategoriale Gegenstände höherer Stufen fundieren. In einfachen Wahrnehmungsakten wird ein Gegenstand in schlichter Weise konstituiert. An eine solche Gegenstandskonstitution können sich beziehende, verknüpfende oder sonst wie gliedernde Akte anschließen, die alle Komplikationen des einfachen Ausgangsaktes bedeuten und in denen Neuartiges zur Gegebenheit kommt. Die neuen Gegenständlichkeiten gründen in den einfacheren, alten und behalten eine wesentliche Rückbeziehung zu ihnen. Sie können nur in Akten fundierter Art zur Gegebenheit kommen. Wenn sich wahrnehmende Akte auf anderen wahrnehmenden Akten aufbauen, so liegt darin kein Fundierungsverhältnis. Fundierte Akte sind vielmehr dadurch bestimmt, dass sie ihrer Natur nach nur auf Akten von der Gattung der fundierenden aufbauen. Das besagt, ohne fundiert zu sein, kann der Gegenstand eines fundierten Aktes nicht bestehen; z. B. bedarf das anschauende Allgemeinheitsbewusstsein einer individuellen Anschauung als Grundlage. Gegen Ende der Logischen Untersuchungen tritt die fundamentale Bedeutung der sinnlichen Akte und ihrer Weise der anschaulichen Erfüllung deutlich hervor. Das Werk, das es sich zur Aufgabe gestellt hat, die ideale Objektivität des Logischen in seiner Eigenart und Unabhängigkeit zu sichern, endet mit einer Fundierungslehre, die die sinnlichen Bedeutungsintentionen und Anschauungen zum Fundament aller kategorialen Akte und ihrer gegenständlichen Korrelate macht. Das besagt selbstverständlich nicht, dass es die kategorialen Gegenstände in ihrer Eigenart nicht gebe. Es besagt nur, »dass eine kategoriale Anschauung, also eine Verstandeseinsicht, ein Denken im höheren Sinne, ohne fundierende Sinnlichkeit ein Widersinn ist. Die Idee eines »reinen Intellekts«, interpretiert als ein »Vermögen« reinen Denkens (hier: kategorialer Aktion) und völlig abgelöst von jedem »Vermögen der Sinnlichkeit«, konnte nur konzipiert werden vor einer Elementaralyse der Erkenntnis nach ihrem evident unaufhebbaren Bestande«. (Vgl. LU II/2, 183; vgl. auch ebd.196 ff.)
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Es gibt kategoriale Aktionen, die uns nicht nur zu Kategorien von gemischtem sinnlich-kategorialem Charakter, sondern zu reinen Kategorien führen, in denen das Sinnliche der Beziehungsfundamente ganz außer Spiel bleibt. Die reine Logik und die reine Arithmetik sowie die gesamte Mannigfaltigkeitslehre enthalten keinen sinnlichen Begriff. Die Herstellung von kategorialen Formen und Formzusammenhängen ist bis zu einem gewissen Grade in unsere Freiheit gestellt. Sie wird von idealen, analytischen Gesetzen begrenzt und geregelt, die auf den Stoff, aus dem die Formen erwachsen sind, keine Rücksicht zu nehmen brauchen. Überschreitet man die Schranken der kategorialen Gesetze, so gelangt man in die weitere Sphäre der rein logisch-grammatischen Gesetze, die Sinn und Unsinn voneinander trennen.
§ 5 Einige Grundprobleme einer reinen Logik Den bedeutungsverleihenden Akten entspringen Bedeutungen. Diese haben den Charakter von idealen-gegenständlichen Einheiten. Derartiges bildet den »homogenen Stoff« der Wissenschaften. Die Gebilde der Logik und Mathematik sind so geartet. (Vgl. LU II/1 95) Von dieser Wesensart ist das Gegenständliche, von dem in der II., III. und IV. Untersuchung gehandelt wird. Die idealen Einheiten der Bedeutungen, welche die Domäne der reinen Logik bilden, müssen in ihrem eigenständigen Gegenstandscharakter von den individuellen, realen Gegenständen unterschieden und gegen psychologisierende Missverständnisse gesichert werden. Durch den Nachweis ihres Eigenrechts wird das »Hauptfundament für die reine Logik und Erkenntnislehre« gelegt. Das ideal Objektive der reinen Logik hat allgemeinen Charakter. Diesem Allgemeinen wird von Husserl Sein zugesprochen. Es gilt, sofern es in einer eigenen Art und Weise ist, als allgemeiner Gegenstand. Was besagt die Ausweitung des Gegenstandsbegriffes auf die Sphäre der Logik und Mathematik sowie der allgemeinen Wesenheiten überhaupt? »Wer sich daran gewöhnt hat, unter Sein nur reales Sein, unter Gegenständen reale Gegenstände zu verstehen, dem wird die Rede von allgemeinen Gegenständen und ihrem Sein als grundverkehrt erscheinen; dagegen wird hier keinen Anstoß finden, wer diese Reden zunächst einfach als Anzeichen für die Geltung gewisser 60
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Einige Grundprobleme einer reinen Logik
Urteile nimmt, nämlich solcher, in denen über Zahlen, Sätze, geometrische Gebilde u. dgl. geurteilt wird, und sich nun fragt, ob nicht hier wie sonst als Korrelat der Urteilsgeltung dem, worüber da geurteilt wird, evidenterweise der Titel »wahrhaft seiender Gegenstand« zugesprochen werden müsse«. (Vgl. LU II/1 101) Die Rede vom Sein der allgemeinen Gegenstände ist dem Ansatz der Logischen Untersuchungen gemäß von den bedeutungsverleihenden Akten her aufzuklären. Das geschieht in der II. Untersuchung, in der Husserl die ideale Einheit der Spezies und die neueren Abstraktionstheorien behandelt. Das Allgemeine zeigt sich »in einer neuartigen Bewusstseinsweise, durch die uns eben die Spezies statt des Individuellen gegenständlich wird«. (Vgl. LU II/1 107) Dieser subjektiven Betrachtungsweise des Seins des Logischen folgt Husserl in der II. Untersuchung so konsequent, dass alle Erwägungen der Prolegomena über den rein objektiven Charakter des Logisch-Idealen vergessen zu sein scheinen. Husserl macht, wie zu erinnern, eine zusätzliche Voraussetzung. Er lässt das Meinen des Spezifischen fundiert sein in einem Meinen des Individuellen. Der Fundierungsbegriff darf nicht dazu führen, dass die eigenständige Seinsart des Allgemeinen nicht mehr gesehen wird. Er besagt, dass die Auffassung des Spezifischen auf der Grundlage einer Auffassung von Individuellem zustande kommt. Ein großer Teil der Studie über die ideale Einheit der Spezies ist der Auseinandersetzung mit verfehlten Theorien gewidmet, die in der neueren Zeit viel Verwirrung gestiftet haben sollen. Locke, Berkeley, Hume und Mill sind vor allem Gegenstand der Kritik. Husserl setzt seine eigene Konzeption scharf gegen mehrere Missdeutungen ab, die die Lehre von den allgemeinen Gegenständen beherrscht haben. Verfehlt sind 1) die metaphysisch-platonisierende Hypostasierung des Allgemeinen zur realen Existenz, 2) die psychologische Hypostasierung, die zur Annahme einer »realen Existenz von Spezies im Denken« führt, und 3) die Umdeutung des Allgemeinen in Einzelnes durch den Nominalismus. Die zweite und dritte Art von Missdeutungen ziehen Husserls Interesse auf sich. Gegen sie arbeitet er seine eigene Konzeption heraus, ohne dem ersten Missverständnis zu erliegen.
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Vor dem Hintergrund der von Husserl bekämpften Möglichkeiten, in denen er selber, wie die Philosophie der Arithmetik zeigt, verstrickt gewesen ist, nimmt sich die Rede vom Sein des Allgemeinen nicht mehr so platonistisch begriffsrealistisch aus, wie sie, aus dem Zusammenhang gerissen, wirken kann. Husserl arbeitet mit weiten Begriffen von Sein und Gegenstand, innerhalb deren physisch Reales sowie Ideales jeder Art ihren Platz haben. Die Differenzen zwischen dem Seienden verschiedener Art kommen innerhalb einer umgreifenden »begrifflichen Einheit«, nämlich der des gegenständlichen Seienden überhaupt, zu liegen. Im Rahmen dieser Einheit ist die Differenz zwischen ihnen auszuarbeiten. »Aber dieser Unterschied hebt nicht die oberste Einheit im Begriffe des Gegenstandes und korrelativ den der kategorischen Satzeinheit auf. In jedem Fall kommt einem Gegenstand (Subjekt) etwas (ein Prädikat) zu oder nicht zu, und der Sinn dieses allgemeinsten Zukommens mit den ihm zugehörigen Gesetzen bestimmt auch den allgemeinen Sinn des Seins, bzw. des Gegenstandes überhaupt; sowie der speziellere Sinn der generellen Prädikation mit den ihr zugeordneten Gesetzen den Sinn des idealen Gegenstandes bestimmt (bzw. voraussetzt).« (LU II/1 125) Die Abstraktionstätigkeit, aus der Husserl das Allgemeine hervorgehen lässt, ist demnach so zu verstehen, dass die Eigenart, die das Allgemeine als ein Seiendes sui generis charakterisiert, durch sie zur Gegebenheit kommt. Sie versucht nicht, das Allgemeine als etwas Problematisches auf Psychisches oder auf individuell Reales zurückzuführen. Derartiges gilt nicht als unproblematische Grundlage, auf der man ein problematisches Allgemeines erklären muss. Die ontologischen Grundlagen des Empirismus und Nominalismus sind es also, die Husserl nicht akzeptiert. Sein Gegenstandbegriff orientiert sich hier an der Geltungseinheit des Urteils, die eines Substrates bedarf, von dem etwas als wahr oder falsch prädiziert werden kann. Dies wird als phänomenologische Eigenheit auf die Akte und das Meinen des Subjekts zurückbezogen. Psychisch Reales wird nicht mehr als Grundlage für eine Erklärung des Allgemeinen in Betracht gezogen. Die subjektive Rückbezogenheit des Allgemeinen nötigt geradezu, davon zu sprechen, dass die idealen Gegenstände »wahrhaft existieren«. Von solchen idealen Gegenständen wie der Zahl 2, der allgemeinen Qualität Röte oder einem logischen Satz lässt sich Vieles prädizieren. Sie sind, so wahr derartige Prädikationen den Anspruch erheben, zutreffend zu sein. Es zeigt sich: Das Sein des Allgemeinen 62
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Einige Grundprobleme einer reinen Logik
und die Weise seines Gemeintseins werden von Husserl bereits hier als Einheit behandelt. Das hat zur Folge, dass die Aufklärung des Rechts der Rede vom Sein des Allgemeinen sich ausschließlich auf die evidente Meinung von besonderen Akten beruft. Besagt das nicht deutlich, dass jede platonistische Annahme eines Ansichseins des Allgemeinen für Husserl indiskutabel ist? Welche Möglichkeiten bleiben dann noch übrig, wenn der Psychologismus und der Nominalismus vermieden werden sollen? Kann nicht nur eine neuartige Fassung des Subjektiven weiterführen, die das Subjektive durch sein bedeutungsverleihendes Meinen von Gegenständlichem auszeichnet? Wir haben davon bereits gehört. Husserl macht von dieser neuartigen Fassung des Subjektiven am frühen Ort der II. Untersuchung Gebrauch, ohne ihre Entdeckung als den Weg, der aus dem Dilemma von Objektivismus und Psychologismus hinausführt, schon hinreichend klargestellt zu haben. Husserls III. Logische Untersuchung, Zur Lehre von den Ganzen und Teilen, ist formal-ontologischer Natur. Sie handelt von den zur Kategorie des Gegenstandes gehörigen Begriffen Ganzes und Teil. Die Ausführungen betreffen Grundverhältnisse der Gegenstandssphäre. Es wird gezeigt, was Selbständigkeit und Unselbständigkeit ontologisch besagen. Es wird die in den Prolegomena auftretende Differenz zwischen material-synthetischen und formal-analytischen Gesetzen in aller Schärfe herausgestellt. Husserl entwickelt an dieser Stelle den für sein ganzes Werk wesentlichen Begriff der Fundierung, von dessen konkreterer Anwendung wir oben schon gehört haben, in abstrakter Weise. Wir werden auf die zuletzt genannten beiden Themen in anderen Zusammenhängen der späteren Phänomenologie zu sprechen kommen. Die Bedeutung, die sie in diesen Zusammenhängen für den systematischen Aufbau der Phänomenologie haben, ist weitreichender und anders, als es der enge abstraktiv isolierte Rahmen der III. Untersuchung – mit ihren Anklängen an die Prolegomena – vermuten lässt. Die IV. Untersuchung trägt den Titel Der Unterschied der selbständigen und unselbständigen Bedeutungen und die Idee der reinen Grammatik. In ihr kommt eine rein logische Grammatik zur Sprache, wie sie später in der Formalen und transzendentalen Logik ausführlicher dargestellt wird. Die Gesetze der reinen Grammatik scheiden den Unsinn aus A
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dem Reich der Bedeutungen aus. Was ihnen nicht entspricht, bildet keine »Einheit des Sinnes« und kann daher für die reine Logik nicht mehr in Frage kommen. In der rein logischen Grammatik ist von aller Gegenständlichkeit abzusehen. Sie hat es nur mit der reinen »Formenlehre der Bedeutungen« zu tun und bildet die Voraussetzungen für die reine Logik im prägnanten Sinn. In ihr werden alle Ausdrücke und ihre Verbindungsmöglichkeiten auf Form gebracht. So ergibt sich ein geschlossenes syntaktisches Formensystem als Rahmen, innerhalb dessen die reine Logik ihren Spielraum hat. In ihn gehört demnach der Widersinn hinein, den die reine grammatische Syntax zulässt. Widersinn wird allererst durch die Gesetze der reinen Logik ausgeschaltet. Am Beispiel gesprochen: Sagt man ein Mensch und ist, so entspricht dem Gesagten keine einheitliche Bedeutung. Die Wortverbindung ist unsinnig. Das muss aufgrund eines grammatischen Gesetzes entlarvt werden können. Die Rede vom runden Viereck dagegen liefert eine einheitliche Bedeutung, »die ihre Weise der »Existenz«, des Seins in der »Welt« der idealen Bedeutungen hat; aber es ist eine apodiktische Evidenz, dass der existierenden Bedeutung kein existierender Gegenstand entsprechen kann«. (Vgl. LU II/1 326)
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III. Die transzendentale Phnomenologie
Husserl hat in den fünf einleitenden Vorlesungen seines Kollegs vom Sommersemester 1907 zum ersten Male vor einem größeren Publikum einige Kernthesen seiner transzendentalen Phänomenologie vorgetragen. Sie sind im Husserliana Bd. II unter dem Titel Die Idee der Phänomenologie veröffentlicht worden. Möglicherweise hängt ihre Ausarbeitung mit einer geistigen Krise des Denkers zusammen. Dies dürfte nur vor dem Hintergrund der philosophischen Ansprüche, die er an sich selber stellte, verständlich sein. Husserl scheint mit dem, was er bisher geleistet hatte, nicht zufrieden gewesen zu sein. Er stellte sich die Lebensaufgabe, eine Kritik der Vernunft – wie er es damals nannte – zuwege zu bringen. Und seiner eigenen Ansicht nach war er mit dieser Aufgabe trotz vorgerückten Alters noch nicht weit gekommen. (Vgl. Die Einleitung des Herausgebers zur Idee VII f.) Die Gedankengänge, die Husserl nach dem Abschluss der Logischen Untersuchungen zur phänomenologischen Transzendentalphilosophie drängten, haben ihren ersten endgültigen Abschluss in den Ideen I gefunden. Die fünf Vorlesungen der Idee vermitteln nur einen Einblick in den Stand der transzendentalphänomenologischen Reflexion um 1907. Es sind in ihnen jedoch schon wichtige Weichenstellungen erfolgt, die die weitere Richtung des Husserlschen Forschens anzeigen. In der Idee reiht sich Husserl mit seiner Problemstellung in den Zusammenhang traditioneller erkenntnistheoretischer Fragen ein und kündigt ihre Lösung an: Es geht um die Klärung des Rätsels der Erkenntnis. Husserl versucht von vornherein – im Unterschied zu seinem Vorgehen in den Logischen Untersuchungen – der Gefahr zu begegnen, dass sein subjektiv gerichtetes Absehen im Sinne einer deskriptiven Psychologie missverstanden wird. Phänomenologie, die in erkenntniskritischer Einstellung das Wesen des Erkennens aufhellen will, darf nicht mit psychologischen Untersuchungen von Bewusstseinserlebnissen eines Ich verwechselt werden, das als ein in A
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der Welt vorkommendes leiblich-seelisches Wesen aufgefasst ist. Es geht in ihr um das subjektive Erleben hinsichtlich seiner Leistung einer objektiven Welterkenntnis. Dabei ist es für Husserl fortan geblieben; auch dann, wenn er später auf das vorwissenschaftliche Leben und seine Erfahrungsleistungen zurückgeht. Zum cartesischen Charakter der Phänomenologie sei vorab Folgendes bemerkt: Descartes’ Vorgehen hat bis zu den Cartesianischen Meditationen von 1930/31 für Husserl vorbildhaften Charakter gehabt. Er hat seine Philosophie des öfteren als einen neuartigen, radikalisierten Cartesianismus gekennzeichnet. Wenn damit nur der von Descartes für die Folgezeit inaugurierte Rückgang aufs Subjektive als Fundament für alle Philosophie und Wissenschaft gemeint ist, dann ist die Phänomenologie stets Cartesianismus geblieben. Und Husserl hat sich als Endglied in der Geschichte des Denkens gesehen, die Descartes begründet hat. Aber mit dieser allgemeinen Charakterisierung wird das Spezifische, in dem die Phänomenologie von Descartes abweicht, nicht erfasst. Auf es wird in verschiedenen Zusammenhängen zurückzukommen sein. Wir gehen auf die Gedankenführung der Idee nicht näher ein. Sie ist noch mit Schwierigkeiten behaftet, die einer erstmaligen Problemexposition eines neuartigen Gedankenweges zugerechnet werden können. Stattdessen wenden wir uns sogleich der Einführung in die Transzendentalphilosophie zu, die sich in den Ideen I findet. Husserl lässt den phänomenologischen Fundamentalbetrachtungen in den Ideen I logische Überlegungen vorhergehen, in denen geklärt wird, wie es mit dem Verhältnis von Tatsachen und Wesen steht. Die Phänomenologie will von den Logischen Untersuchungen an Wesenswissenschaft sein. Dieser Anspruch wird auch für alle spezifischen transzendentalphilosophischen Ausführungen erhoben. Aber die wesenswissenschaftliche Eigenart wird fortan nicht mehr mit dem spezifisch transzendentalen Charakter der Phänomenologie zusammengerückt oder gar verwechselt. Allerdings rückt Husserl erst im Spätwerk, z. B. in den Cartesianischen Meditationen, seine Konzeption vom Wesen so entschieden in die übergreifenden Zusammenhänge seines Werks ein, dass eindeutig klar wird, was die Eidetik innerhalb der Phänomenologie leisten soll und was nicht. Das gilt besonders hinsichtlich des Verhältnisses der Eidetik zur Transzendentalphilosophie. 66
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Der transzendentale Standpunkt
Wir skizzieren vorweg die von nun an für Husserls Denken bestimmenden methodischen Grundgedanken, um dann einen kritischen Blick auf einige prinzipielle Schwierigkeiten zu werfen, die Husserls Verfahren in den Ideen I belasten. Erst danach geben wir einen Ausblick auf das von Husserl freigelegte neue Forschungsfeld des reinen Bewusstseins und seiner Strukturen.
§ 6 Der transzendentale Standpunkt In den Ideen I setzt Husserl das Thema der Phänomenologie in universaler Weite an. Es wird die ganze Welt samt allen Wissenschaften von ihr problematisiert. Dieser Ansatz führt die Phänomenologie von Anfang an über die Horizonte, in denen sich die einzelnen Wissenschaften halten, hinaus; denn diese pflegen irgendeinen Bereich der Welt vorauszusetzen und in ihm mit ihrer Arbeit Fuß zu fassen. Es ist also nicht so, als wende sich die Phänomenologie irgendwelchen inhaltlichen, in der Welt vorkommenden Gegebenheiten physischer, psychischer, sozialer oder geistiger Art zu. Der Ursprung des Alls des Seienden und seine Erkenntnis stehen für sie zur Diskussion. Husserl schlägt folgenden Weg ein. Damit es gelingt, die gesamte Welt zum Forschungsgegenstand der Phänomenologie zu gewinnen, muss der Mensch aus der natürlichen Einstellung, in der er normalerweise in der Welt lebt, herausgelöst werden. Dies setzt wiederum voraus, dass die natürliche Lebensweise des Menschen umgrenzt und hinsichtlich ihrer Art von Weltbezug bestimmt wird. Die Radikalität des phänomenologischen Ansatzes wird in den Ideen I öfter noch durch einige anspruchslosere Maßnahmen, die für den Zugang zur reinen Phänomenologie gefordert werden, beeinträchtigt, z. B. durch die Betonung ihres wesenswissenschaftlichen Charakters und des methodischen Grundprinzips der originär gebenden Anschauung. Aber weder das Absehen auf das Wesen noch die Beschreibung von Gegebenheiten gemäß dem Prinzip der originären Anschauung brauchten für sich genommen zu einer Einstellungsänderung zu führen, die den Seinsinn und die Seinsgeltung der Welt selber verwandelt. Husserls Beschreibung des Lebens in der natürlichen Einstellung erweckt in ihrer Einfachheit den Eindruck der Selbstverständlichkeit und Problemlosigkeit. Die Menschen leben in einer Umwelt, in der A
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durch die verschiedenen Weisen sinnlichen Erfahrens die Dinge für sie einfach da sind, ihre räumliche und zeitliche Ordnung haben, in einem offenen Horizont stehen u. ä. m. Das ist zunächst vor und unangesehen aller Wissenschaft der Fall. Wissenschaft wird von den Menschen in der Umwelt, in der sie leben, ausgebildet. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind Produkte aktiven Hervorbringens. Die gewöhnliche Welt aber, in der man (noch) nichts Wissenschaftliches produziert, liegt allem Wissenschaftlichen und allem anderswie Produziertem voraus. Ich finde sie vor, wenn ich und solange ich lebe. So wird sie von mir erfahren; so ist sie mir bewusst. Und mein Bewusstsein ist intentionales Bewusstsein von ihr. Die phänomenologischen Maßnahmen, von denen jetzt die Rede sein muss, betreffen diese Welt der natürlichen Einstellung, nicht dagegen Wissenschaftliches als Produkt des bereits in seiner natürlichen Umwelt lebenden Menschen. Darin liegt aber: Die Phänomenologie wird nicht selber, so wie alle übrigen Wissenschaften, unter Voraussetzung der Weltgegebenheit Erkenntnisse, deutlicher gesagt, neuartige Erkenntnisgegenstände hervorbringen. Sie strebt vielmehr die Erkenntnis der Welt an, wie sie der in der natürlichen Einstellung lebende Mensch als daseiend vorfindet und erfährt. Dieser Ansatz ist bemerkenswert. Er erschließt Husserl eine Fragestellung, zu der er von seinem geistesgeschichtlichen Ausgangspunkt her zunächst keinen Zugang hatte. Er führt ihn aus dem Umkreis der vorliegenden Wissenschaften heraus und auf ihren Ausgangspunkt zurück: auf die vorwissenschaftlich erfahrene Welt. Sie wird vorab zu beschreiben beansprucht – frei von aller Theorie und Wissenschaft. Aus dieser Beschreibung wird ein Moment benötigt, das für die Gewinnung der phänomenologischen Sicht der Welt entscheidend ist: Die Welt wird als wirklich, als daseiend vorgefunden und so, wie sie sich gibt, hingenommen. Dies zu tun, besagt, die »Generalthesis der natürlichen Einstellung« zu vollziehen. Auf der Basis der Generalthesis erheben sich erst alle Wissenschaften, ohne auf die sie tragende »Voraussetzung« zurückzufragen. Die Rede von der Generalthesis der natürlichen Einstellung weist auf die Weise hin, wie Menschen normal und naiv in der Welt leben. Nun soll in dieser Einstellung und der ihr zugehörigen Thesis etwas über die Seinsweise der Welt ausgemacht sein. Ist das, was die Generalthesis über die Welt »meint«, etwa von der Welt, wie sie in und an sich ist, abzutrennen? Das geschieht in der Generalthesis auf jeden 68
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Fall nicht; denn sie bezieht sich unmittelbar auf die Welt selber – und nicht auf ihre Meinung, ihre Vorstellung von der Welt o. ä. Die in der natürlichen Einstellung vollzogene Generalthesis hat den unmittelbaren Glauben an das Sein der Welt zum Inhalt. Die Welt ist in ihr als »daseiende Wirklichkeit« bewusst. (Vgl. Ideen I 63 f.) Aber sie ist eben als solche bewusst. Der Ausdruck Generalthesis der natürlichen Einstellung bedeutet nicht, dass diese Thesis in einem gesonderten und ausdrücklichen Akt des Lebens bestände. Sie geht durch alle Lebensvollzüge als ihnen dauernd zugrundeliegend hindurch. Sie ist eine ständige unangefochtene Überzeugung »vorprädikativer« Art, die alle einzelnen Erkenntnisse, Akte und Thesen des Lebens trägt. Da der Glaube an das Sein der Welt, wie er in der natürlichen Einstellung vollzogen wird, Sache des Subjektes ist, so steht die Möglichkeit einer Stellungnahme zu ihm auch in der Macht des Subjektes. Diese ist Sache seiner Freiheit. Husserl kommt es auf eine bestimmte Art von Stellungnahme zum natürlichen Seinsglauben an; und zwar auf eine solche, die in einen transzendentalen Subjektivismus hineinführt. Die Schritte, die dies leisten, werden von Husserl als Epoché und Reduktion bezeichnet. Sie führen aus der natürlichen Einstellung heraus und verwandeln die Bedeutung von Welt, die in ihr herrscht. Oft werden die Termini Epoché und Reduktion von Husserl ungefähr synonym gebraucht. Es lassen sich allerdings auch Bedeutungsnuancen zwischen ihnen finden. Durch eine Enthaltung (Epoché) erfolgt eine (reduzierende) Auswirkung auf das, gegenüber dem Enthaltung geübt wird. Wir sollen uns in einer bestimmten Weise zur Seinsthesis der natürlichen Einstellung verhalten. Diese soll nicht bestritten werden, wie es einem Skeptizismus naheliegen könnte. Sie soll aufgrund unseres reflexiven Tuns nur eine Modifikation erfahren. »… – während sie in sich verbleibt, was sie ist, setzen wir sie gleichsam »außer Aktion«, wir »schalten sie aus«, wir »klammern sie ein«.« (Ideen I 65) Das geschieht, indem wir uns des Vollzugs des natürlichen Seinsglaubens enthalten, indem wir ihn nicht mehr mitmachen, Epoché von ihm üben. In diesem Tun wird eine grundlegende, gewöhnlich unmittelbar vollzogene und darin wirkende Bewusstseinsweise durch eine andere, frei getätigte, betroffen. Indem das geschieht, tritt das reflexiv handelnde Subjekt aus dem Vollzug des natürlichen Seinsglau-
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bens heraus und wird zu seinem »Zuschauer«. Dieser steht nicht mehr im Vollzug des Glaubens an das Sein der Welt. Husserl kennzeichnet das Resultat dieses Schrittes für das reflektierende Subjekt später in folgender Weise: »Stelle ich mich über dieses ganze Leben und enthalte ich mich jedes Vollzugs eines Seinsglaubens, der geradehin Welt als seiende nimmt – richte ich ausschließlich meinen Blick auf dieses Leben selbst als Bewusstsein von der Welt, so gewinne ich mich als das reine Ego mit dem reinen Strom meiner Cogitationes.« (Cart. Med. 8) Zum reinen Strom meiner cogitationes gehört alles, was in ihm gegenständlich als welthaft wirklich bewusst ist. Als im natürlichen Seinsglauben unmittelbar bewusste gehört die gesamte Welt für den phänomenologischen Zuschauer den cogitativen Erlebnissen unabtrennbar zu. Und indem er im phänomenologisch modifizierten Sinne die Welt betrachtet, hat er es mit sich und seinem universalen Welt-bezogenen Erleben zu tun. Aus dem Vollzug der Epoché ergeben sich Konsequenzen für das, was als Welt der natürlichen Einstellung am Anfang vorausgesetzt und beschrieben worden ist. Indem ich für mich als phänomenologischen Betrachter den natürlichen Seinsglauben an die Welt durch die Epoché außer Vollzug setze, enthalte ich mich jeder Stellungnahme zu Sein oder Nichtsein der Welt, wie sie in der natürlichen Einstellung vollzogen werden könnte. Ich tue nur folgendes: Anstatt im unmittelbaren Glauben an eine schlechthin seiende Welt zu verharren, stelle ich mir die Welt in modifizierter-reduzierter Weise als in ihrem Sein geglaubte, bewusste, vermeinte vor Augen. Wenn so verfahren wird, ist klar, was mit der ursprünglich vorausgesetzten Welt der natürlichen Einstellung geschehen ist. Es zeigt sich in der Reflexion erstens, dass in der natürlichen Einstellung die Welt als schlechthin seiend gilt. Es zeigt sich ferner, dass das als schlechthin seiend Gelten der Welt für das natürliche Leben darin besteht, dass die Welt irgendwie bewusstseinsmäßig geglaubt, vermeint wird; z. B: wahrgenommen, erinnert, beurteilt wird. Mit dieser Reflexion hat sich das, was als Welt der natürlichen Einstellung beschrieben worden ist, verwandelt; allerdings in einer Weise, die der anfänglichen Beschreibung der Welt der natürlichen Einstellung entspricht. An die Stelle der im unmittelbaren Glaubensvollzug als seiend gesetzten Welt treten die Bewusstseinsweisen, in denen und durch die eben jenes als seiend Setzen geschieht, samt dem, was darin als gegenständlich seiend gesetzt wird. Halten wir in aller Schärfe fest – was Manche seiner Interpreten 70
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nicht immer ausdrücklich tun –, dass die Phänomenologie als transzendentale Weltlehre nur bis auf eine bestimmte Einheit von natürlich eingestelltem Leben und seinem unmittelbaren (Welt-) Seinsglauben zurückgeht. Sie setzt an dem an, was dem so eingestellten Leben als Welt gilt. Darüber geht sie nicht hinaus. Daraufhin biegt sie das Problem der Welt als transzendenter, an sich seiender Welt zurück. In einem bestimmten Sinne gilt also, dass die Welt durch die Epoché nicht verloren geht. Sie verliert nur ihren natürlichen Seinsinn als »transzendente Geltungseinheit«. Denn es wird durch die Epoché deutlich, dass die Welt ihrem ganzen Seinssinn nach als Korrelat zum cogitativen subjektiven Leben gehört. All das setzt aber voraus, dass das Sein der Welt gemäß der phänomenologischen Deskription schon für die natürliche Einstellung nichts anderes besagt, als in einem bestimmten Sinne für das natürliche Leben zu sein. Aufgrund dieser Zusammenhänge ist es nicht mehr befremdlich, wenn Husserl in den transzendentalen Vorüberlegungen der Ideen I formuliert, dass die transzendente Welt nichts anderes ist als Korrelat erfahrenden Bewusstseins, ausweisender Erfahrung. (Vgl. Ideen I 111) Das ist gegen missverständliche Redewendungen festzuhalten, durch die Husserl das merkwürdige Resultat der Epoché zu verdeutlichen trachtet – von der Not getrieben, keine passenden sprachlichen Ausdrücke zur Verfügung zu haben -: wie z. B. Ausschaltung oder Einklammerung der Welt. Entscheidend ist, dass das, was in der Epoché aufgedeckt und sichtbar gemacht wird, dasselbe sein muss wie das, was in der natürlichen Einstellung als Welt gilt, und dass die Welt das ist, was im natürlichen Leben als Welt gilt. Zugleich jedoch kommt es auf eine gewisse Differenz zwischen dem, was für die natürliche und für die transzendentale Einstellung Welt ist, an. Wird die Epoché als eine Maßnahme verstanden, durch die nur von etwas abgesehen wird, das durch sie in seinem Bestand und seiner Seinsweise nicht tangiert wird, so ist sie missverstanden. Husserl hat solchen Missverständnissen durch die Art und Weise, wie er in den Ideen I in die transzendentale Phänomenologie einleitet, Vorschub geleistet. Er unterscheidet zwischen Bewusstsein und Ding, verschiedenen Gegebenheitsweisen von Immanentem und Transzendentem; er spricht von verschiedenen Regionen und Seinsweisen von Seiendem. Aber diese ganze Begrifflichkeit ist unter dem Gesichtspunkt einer transzendentalphilosophischen Welterklärung problematisch. Das ist bald und oft bemerkt worden. Wir verdanken E. Fink A
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in diesem zentralen Punkt grundlegende Klarstellungen. (Vgl. Fink 1966) Im folgenden Paragraphen werden diejenigen Überlegungen der Ideen I, in denen Husserl mit den erwähnten Mitteln arbeitet, um in die transzendentale Phänomenologie einzuleiten, kritisch beleuchtet. Im Spätwerk hat sich Husserl dieser Problematik weitgehend entledigt. In ihm werden wir dasselbe Thema noch einmal in einer anderen Behandlungsart aufgreifen.
§ 7 Reines Bewusstsein und Welt. Gegebensein und Sein Was ist uns nach dem Vollzug der transzendentalen Epoché verblieben, fragt Husserl in den Ideen I und antwortet: Wir haben die absolute Seinsregion des reinen Bewusstseins übrig behalten. Sie ist die Sphäre des Erlebens im weitesten Sinn und seiner erlebten gegenständlichen Korrelate. Verloren haben wir den unmittelbaren Glauben an die in der natürlichen Einstellung als wirklich geltende Welt – einschließlich unserer eignen Realität als Menschen in der Welt. Wie steht es mit der realen Welt und den realen Dingen, die bewusst sind, die als seiend geglaubt werden? Husserl lässt sich in den Ideen I auf diese Fragen ein, die sich aufgrund seiner Kennzeichnung der Leistung der transzendentalen Epoché als Freilegung der reinen Bewusstseinssphäre der cogitationes nahelegen. Die neu eröffnete Region des reinen Bewusstseins muss phänomenologisch erforscht werden. Das kann bereits bis zu einem bestimmten Ausmaß in einer psychologisch-phänomenologischen Einstellung geschehen, die nur auf den subjektiven Zusammenhang von cogitatio und cogitatum achtet. In ihr ist die transzendentale Entscheidung über das Sein der Welt noch nicht gefallen, weil das Bewusstseinsmäßige, von dem hier die Rede ist, wie selbstverständlich als das eines Menschen-Ich in der Welt aufgefasst ist. In dieser Einstellung liegt also der Gedanke noch fern, dass das Subjektive als nicht-weltliches für das Sein der Welt (und damit auch des psychisch-welthaft Subjektiven) aufkommt. Die Welt bleibt als ihrem Sein nach durch das Subjektive unberührt vorausgesetzt. Nichtsdestoweniger lässt sich schon in der psychologisch-phänomenologischen Reflexion das »universale Feld des reinen Bewusstseins als ein in sich geschlossenes unendliches Feld möglicher Erfahrung« so durchmustern, »dass sie, von reinem Erlebnis zu reinem fortschreitend, nie anderes berührt 72
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und mit aufnimmt als wieder Bewusstsein – wohin alle Bewusstseinssynthesen gehören«. (Vgl. Ideen I 76) Man hält sich hier in einem universalen Feld reinen Bewusstseins im psychologischen Sinn, in einer Weltregion unter anderen – wie es scheint. Dass man es in ihr immer nur mit Bewusstseinserlebnissen und in ihnen gegenständlich Bewusstem zu tun hat, besagt doch noch nicht, dass die ganze Welt ihrem Sein nach, z. B. die Realsphäre des Naturhaften, in diese Region des Bewusstseins einzubeziehen wäre. Aber was ist dann über die Seinsweise der realen Dinge, die bewusst sind und als seiend geglaubt werden, zu sagen? Sie sind nicht von der Seinsweise der Erlebnisse und des gegenständlich Erlebten. Aber es geht doch, wie gezeigt, in der transzendentalen Phänomenologie um die Klärung ihrer Seinsweise. Die reale Welt selber muss sich in der Epoché ihrem Sein nach als Bewusstseinskorrelat erweisen. Was in der natürlichen Einstellung als Welt (qua Natur) bewusst und vermeint ist, wird durch den phänomenologischen Betrachter mit den cogitata identifiziert, die unmittelbar vollzogenen cogitationes unabtrennbar zugehören. Und genau dies muss Husserl auf dem Weg nachweisen, der seinen Ausgang in der psychologisch-phänomenologischen Einstellung nimmt und sich der Unterscheidung verschiedener Gegebenheitsweisen des Erlebens und des Dinglichen bedient, um von ihr aus zur Entscheidung über das Sein des Dinglichen im Sinne der transzendentalsubjektiven These vorzustoßen. Husserls Weg ist lang und verschlungen. Wird angenommen, dass die Dinge von anderer Seinsart sind als die Bewusstseinserlebnisse, so kann die reale Welt als ein Bewusstseinsfremdes gelten, das aus der Sphäre des reinen Bewusstseins ausgeschlossen ist. Beide lassen sich kontrastieren. Husserl vollzieht diese Kontrastierung in einer Analyse der verschiedenartigen Gegebenheitsweisen von realem Ding und Erlebnis. Reale Dinge gelangen in Wahrnehmungen zur Gegebenheit. Sie können in einem Wahrnehmungserlebnis grundsätzlich nicht immanent gegeben sein, sondern immer nur durch Abschattungen vermittelt, in denen sie selber sich darstellen, ohne jemals zur vollen Gegebenheit und Präsenz kommen zu können. »Die Abschattung, obschon gleich benannt, ist prinzipiell nicht von derselben Gattung wie Abgeschattetes. Abschattung ist Erlebnis. Erlebnis aber ist nur als Erlebnis möglich und nicht als Räumliches. Das Abgeschattete ist aber prinzipiell nur möglich als Räumliches.« (Ideen I 94 f.) A
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Von der Gegebenheitsweise der Dinge wird die Gegebenheitsweise der Erlebnisse abgehoben. In ihnen ist alles von der Art des Erlebens und Erlebten. Ihr Gegenständliches gehört als unselbständiges Moment dem Erlebnisstrom selber an. Es ist in ihm nicht reell, aber intentional »beschlossen«. Ist damit der entscheidende Unterschied zwischen Sein als Erlebnis und Sein als Ding gesichert? Dann bilden in der Tat die Erlebnisse eine Region für sich, die des reinen Bewusstseins, im Unterschied zu einer anderen Region, der der Dinge, die dem Erlebnisstrom gegenüber transzendent bleiben und sich in ihm nur durch Abschattungen melden. Es legt sich folgende Fortführung des Gedankenganges nahe: Im Falle der Erlebnisse decken sich Gegebensein und Sein, im Falle der Dinge kann es prinzipiell keine Deckung von Gegebensein und Sein geben. In der Region der Erlebnisse hat der Zweifel am Sein des Gegebenen keinen Platz. Ich kann mich seiner in einer reflexiven Schau vergewissern, die nichts als nicht gegeben außerhalb ihrer lässt. Bei der Erfahrung der Dinge ist das nicht möglich. Ihres Seins kann man nie vollständig gewiss werden. Das schließt das Kriterium für die Beurteilung dieser Problematik, die Weise des Gegebenseins, aus. Die Unterschiede in den Gegebenheitsweisen führen, wenn sie zur Entscheidung der Frage nach dem Sein von Erleben und Ding benutzt werden, zu einer Auszeichnung des Erlebens vor der Welt als dem Gesamtzusammenhang des Dinglichen. Diese Auszeichnung erreicht ihren Gipfel in der Behauptung: »Das absolut gegebene Bewusstsein ist als absolutes Sein das Residuum der Weltvernichtung, da es prinzipiell nulla »re« indiget ad existendum.« (Ideen I 115) Aber mit dieser einseitigen Konsequenz kann sich eine transzendentale Philosophie nicht zufrieden geben. Sie muss mit dieser Behauptung eine These über das Sein des Dinglichen koppeln, durch die dieses auf das Bewusstsein relativiert wird. Husserl tut das mit dem folgenden Satz, der sich unmittelbar an das zuletzt herangezogene Zitat anschließt: »andererseits ist die Welt der transzendenten »res« durchaus auf Bewusstsein, und zwar nicht auf ein logisch erdachtes, sondern aktuelles angewiesen.« Mit diesen Gedankengängen, an denen sich die allgemeine Auffassung von der Phänomenologie als einem transzendentalen Idealismus weithin auszurichten pflegt, hat Husserl einen Höhepunkt seiner Betrachtungen erreicht. Es drängt sich die Frage auf: Ist man mit diesem Ergebnis einer phänomenologisch-psychologischen Untersuchung überhaupt schon in der transzendentalen Sphäre gelandet? 74
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Reines Bewusstsein und Welt. Gegebensein und Sein
Husserls Ausführungen über das Sein des Icherlebens und der Welt scheinen eine bejahende Antwort auf diese Frage erforderlich zu machen. Im Rahmen unserer Überlegungen, die in diesem Punkt Husserls eigene Darstellung überschreiten, soll die Frage den Ausgangspunkt bilden, um auf den schwierigen und problematischen Übergang Husserls von der phänomenologisch-psychologischen in die transzendentale Betrachtungsweise aufmerksam zu machen. Der Übergang ist vor allem aus folgendem Grund auf den ersten Blick undurchsichtig: Die Betrachtung bedient sich zunächst der Unterscheidung von Seinsregionen und rechtfertigt die Rede von den verschiedenen Seinsweisen des regional geschiedenen Seienden durch den Rückgriff auf seine differenten Gegebenheitsweisen. Zugleich aber sollen die verschiedenen Regionen eine Seinseinheit der Art bilden, dass die Seinsweise des Seienden der dinglichen Region darin liegt, »in Seiendem von der Seinsweise des intentional Subjektiven« zur Gegebenheit, zur Erscheinung zu kommen. Ein Schluss von der inadäquaten Gegebenheitsweise von räumlich Dinglichem im Bewusstsein auf die Seinweise des Dinglichen ist sicher nicht unproblematisch. Ließe sich nicht aus der unvollkommenen Gegebenheitsweise der Dinge folgern, dass ihr Sein nicht darin aufgehe, gegeben zu sein; anstatt umgekehrt, ihr Sein durch die Weise ihres Gegebenseins zu bestimmen? Dann könnte man das Sein der Erlebnisse und ihres Erlebten dadurch bestimmen, dass ihr Sein sich mit ihrem absoluten Gegebensein decke. So klafften die Seinsweisen von Erlebnis und Ding regional auseinander. Eben dies wäre aus der Verschiedenheit ihrer Gegebenheitsweise zu folgen. Das Sein des Dinglichen könnte nicht aus dem Erleben verständlich gemacht werden, da das Erlebnis des Dinglichen selber auf ein Nicht-Erlebbares und Nicht-Gebbares verwiese. Die reale Welt bildete eine Region für sich, deren Seinsweise von der des reinen Bewusstseins getrennt wäre. Solche Gedanken sollen nach Husserl indiskutabel sein, da sich doch immer nur vom Erlebten und Gegebenen sinnvoll als seiend reden lässt. Ein prinzipiell Nicht-Erlebbares und Nicht-Gebbares als seiend anzusprechen und zum Gegenstand des Erkennens zu machen, das soll ein Nonsens sein. Im Gegensatz zu einer solchen Möglichkeit geht aus Husserls Analysen klar hervor, dass in der Weise des inadäquat abgeschatteten Gegebenseins der Dinge für das Bewusstsein die Art und Weise, wie A
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die transzendenten Dinge selbst sind, liegen soll. In dieser These stecken zwei Teilthesen, eine engere und eine weitere. Nehmen wir erstens an, die Dinge sind uns nur in Abschattungen zugänglich. Das ist eine Behauptung über die wesenhafte Gegebenheitsweise der Dinge. Es ist nicht ohne weiteres ausgemacht, dass durch sie schon etwas über das Sein der Dinge entschieden sein soll. Erst wenn zweitens der Bezug zum Bewusstseinsleben als für das Sein der Dinge wesentlich ausgewiesen wird, kann die Weise ihres Gegebenseins auch als Weise ihres Seins verstanden werden. In der reinen Bewusstseinsregion verhält es sich derart. Da das in ihr objektivierte Gegenständliche als Moment des Erlebnisstromes ist, in dem und durch den es auch zur Gegebenheit kommt, decken sich Sein und Gegebensein im Erleben. Es tritt nichts dem Bewusstsein Fremdes auf. Dies scheint nur der Fall zu sein, wo welthaft Dingliches zur Gegebenheit kommt. Dies ist aber nach Husserl nicht der Fall, wenn sich das transzendent Dingliche als korrelatives Moment des Erlebens und damit als der absoluten Region des Bewusstseins zugehörig erweist. Das heißt aber wiederum, dass dinglich Reale besitzt keine eigenständige, bewussteinsfremde Seinsart. Diese These wird von Husserl verdeutlicht, indem er zwei Gedanken miteinander verknüpft, deren Zusammenhang zum Problem gemacht werden kann. Er benutzt sie in den Ideen I, um seine transzendentale Deutung der Rede vom reinen Bewusstsein klarzustellen. Das Bewusstsein stellt einerseits einen für sich geschlossenen absoluten Seinszusammenhang dar, »in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann. Andererseits ist die ganze räumlichzeitliche Welt, der sich Mensch und menschliches Ich als untergeordnete Einzelrealitäten zurechnen, ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewusstsein hat als in Bewusstseinssubjekten durch Erscheinungen Erfahrbares …« (Ideen I 117) Husserls Zielstellung ist eindeutig, sein Vorgehen hingegen missverständlich. Stellt das reine Bewusstsein eine Region dar, die durch die Einzigartigkeit der Gegebenheitsweise ihres Gegenständlichen ausgezeichnet ist, und gibt es eine andere Region, deren Gegenstände grundsätzlich nicht so gegeben werden können, dann ist man geneigt, auf verschiedene Seinsweisen von Seiendem verschiedener Regionen zu schließen. Der Denker beugt der Möglichkeit eines durch sein eigenes Vorgehen heraufbeschworenen Missverständnisses vor, indem er darauf hinweist, dass die phänomenologische Re76
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Reines Bewusstsein und Welt. Gegebensein und Sein
duktion auf das reine Bewusstsein keine Einschränkung »auf ein zusammenhängendes Stück des gesamten wirklichen Seins, also nicht auf das im psychischen Sinne reine Bewusstsein« sei. Die Begrenzung auf besondere Gebiete der Wirklichkeit ist typisch für die Einzelwissenschaften. »Grundwesentlich anders verhält es sich mit der Domäne der Erlebnisse als absoluter Wesenheiten. Sie ist in sich fest abgeschlossen und doch ohne Grenzen, die sie von anderen Regionen scheiden könnten. Denn was sie begrenzen würde, müsste mit ihr noch Wesensgemeinschaft teilen … Sie ist ihrem Wesen nach von allem weltlichen, naturhaften Sein independent. … Existenz einer Natur kann Existenz von Bewusstsein nicht bedingen, da sie sich ja selbst als Bewusstseinskorrelat herausstellt; sie ist nur, als sich in geregelten Bewusstseinszusammenhängen konstituierend.« (Ideen I 120 f.) Also kann es keine Region der dinglichen Welt von eigener Seinsart neben der Sphäre des reinen Bewusstseins geben. In diesem Falle müssten die beiden Regionen und die verschiedenen Seinsarten des ihnen zugehörigen Seienden von einem umfassenderen Seinsbegriff überspannt werden. Aber alles, was überhaupt als seiend soll auftreten können, empfängt nach Husserl seinen Seinssinn und seine Seinsgeltung aus dem intentional vermeinenden Erleben des Bewusstseins. Dies muss das Resultat der transzendentalphänomenologischen Operationen und Überlegungen sein. Am Schluss der durchgesprochenen Gedankenkette nimmt Husserl noch einmal in erhellender Weise rückblickend zur natürlichen Einstellung und ihrer Generalthesis Stellung. In der natürlichen Einstellung sollen die Menschen ihre Erlebnisse unmittelbar vollziehen, sie sollen in ihnen leben und auf gegenständlich Erlebtes gerichtet sein. Die Generalthesis meint demnach eine bestimmte Vollzugsweise des menschlichen Welt-erfahrens. In ihr kommt etwas bezüglich des Seins der Welt zum Ausdruck. Was als natürliche Einstellung von Husserl charakterisiert wird, ist demnach nichts, was für die natürliche Einstellung selber bewusst ist und in dieser Weise als These vollzogen wäre. Hier vollzieht sich vielmehr diejenige Weise des Lebens, welche die Basis für eine reflexive Leistung bildet, durch die sie in dem, was sie bislang nur war, ins Licht gebracht und dadurch verwandelt wird. Sie stellt sich als etwas heraus, von dem sie als natürliche Weise des Lebens nichts weiß. Erst im Wissen um die naive Unmittelbarkeit des Lebensvollzuges kann dieser unterbrochen und eingeklammert werden. Er selber ist dadurch bestimmt, dass er ein solches A
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Wissen (noch) nicht hat. Die Beschreibung der natürlichen Einstellung, die um ihre Eigenart weiß, steht also bereits jenseits der natürlichen Einstellung und ihres »Wissens« um sich und die Welt. Sie ist auf dem Sprung zur aufdeckenden Verwandlung der natürlichen Lebensweise, in der die Menschen auf die Gegenstände ihres Erlebens »verschossen« sind. Eine solche Bedeutung ist mit dem Wort Beschreibung keineswegs wie selbstverständlich verbunden.
§ 8 Die noetisch-noematischen Strukturen des reinen Bewusstseins Wir wenden uns den beiden letzten schwierigen Abschnitten der Ideen I zu. In ihnen ist Manches noch unerforscht und zum Teil noch ungeklärt. Dem kann hier nicht abgeholfen werden. In den phänomenologischen Fundamentalbetrachtungen ist die Entscheidung darüber, was Sein der Welt besagt, gefallen. Alle folgenden phänomenologischen Analysen unterstehen dieser Entscheidung. Wenn in ihnen vom welthaft Seienden die Rede ist, so ist damit Seiendes in reduziertem Sinne gemeint, d. h. Seiendes als unabtrennbares Korrelat des Bewusstseinserlebens. Das zeigt sich darin, dass vom Seienden in diesem Sinne nur im Rückbezug auf das erfahrende, erkennende Bewusstsein gesprochen werden kann. Jeder Seinsbestimmung eines welthaft Gegenständlichen müssen also Bewusstseinsweisen entsprechen, in denen sich die Seinsbestimmungen des Gegenständlichen bilden. Das Bewusstsein kommt für das, was Dasein des Gegenständlichen besagt, und für den Sachgehalt von daseiendem Gegenständlichem jeder Art auf. Husserl deutet diese Differenz in der subjektiven Bildung des Seins von Gegenständlichem durch die Termini Seinsgeltung und Seinssinn an, von denen wir bereits oben gelegentlich Gebrauch gemacht haben. Sofern das Bewusstsein in dieser Funktion für Seingeltung und Seinssinn des welthaft Seienden betrachtet wird, ist es für das Sein des welthaft Seienden konstituierend. Wird das Bewusstsein als ein das transzendente Sein des welthaft Seienden konstituierendes genommen, so es ist als transzendentales verstanden. Die Erlebnisse als Einheiten des reinen Bewusstseins werden zum Thema und ihrem Aufbau und ihrer Funktion nach analysiert. Dem Bau der intentionalen Erlebnisse werden in den Ideen I weitgreifende Ausführungen gewidmet. Auszugehen ist von den 78
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Strukturmomenten, aus denen sich die Erlebnisse aufbauen. Jedes Erlebnis ist Erleben von etwas, von irgendeinem Gegenständlichen; sei es realer, idealer oder psychischer Art. Auf der Gegenseite ist alles Erleben als Erleben eines Ich in einem Ichpol zentriert. Erst hier bei der Analyse der Strukturen des Erlebens kommt Husserl auf das Ich als Bestandteil des cogito zu sprechen. Jetzt heißt es ausdrücklich, dass jedes cogito als Akt eines Ich charakterisiert ist. Dieses reine Ich verfällt nicht der Epoché wie das empirische Menschen-Ich. Husserl differenziert in den Ideen I zwischen Akt und Erlebnis. Das aktuell vollzogene Erlebnismoment wird fortan Akt genannt im Unterschied zum Erlebnis in seiner vollen Konkretion, das aus aktuell expliziten und potentiell-impliziten Momenten besteht. Akte heben sich aus Erlebnissen heraus. Sie sind als Ichvollzüge immer eingebettet in aktualisierbare subjektive Vermögen (des Tun-könnens). Entsprechendes gilt auch für ihre gegenständlichen Korrelate. Diese tauchen in einer Umgebung auf, innerhalb deren der aufmerkende Blick des Ich sie erfasst. Sie verweisen in Horizonte hinein, z. B. in räumliche und zeitliche, die vom Ich expliziert werden können. Alle Akte und Erlebnisse schließen sich zur synthetischen Einheit des Bewusstseinsstromes zusammen, in dem das Ich sein Leben als objektivierendes-konstituierendes Weltbewusstsein hat. (Vgl. z. B. EU, 59 ff., 231 ff.) Der gesamte Erlebnisstrom untersteht seiner eigenen phänomenologischen Zeit. Sie verbindet alle Erlebnisse in einer festen Form miteinander. In urimpressionalen Jetztpunkten hat alles Erleben seine Urpräsenz. Es steht im Schnittpunkt von Vergangenheits- und Zukunftsmomenten (Retentionen und Protentionen). Die Zeit umfasst dank ihrer apriorischen Form alle Erlebnisse eines Ich. (Vgl. EU 202) »Ein reines Ich – ein nach allen drei Dimensionen erfüllter in dieser Erfüllung wesentlich zusammenhängender, sich in seiner inhaltlichen Kontinuität fordernder Erlebnisstrom: sind notwendige Korrelate.« (Ideen I 201) a)
Die Gliederung des Reiches der Noesen und Noemata
Wenn man den Wesensbau des intentionalen Erlebens recht verstehen will, ohne ihn fälschlich zu verdinglichen, ist von seiner Funktion auszugehen. Es ist die Funktion der Erlebnisse, Bewusstseinsgegenständlichkeiten zu konstituieren. »Sie betreffen die Art, wie z. B. hinsichtlich der Natur, Noesen das Stoffliche beseelend und sich A
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zu mannigfaltig-einheitlichen Kontinuen und Synthesen verflechtend, Bewusstsein von Etwas so zustande bringen, dass objektive Einheit der Gegenständlichkeit sich darin einstimmig »bekunden«, »ausweisen« und vernünftig bestimmen lassen kann.« (Ideen I 212) Die subjektiven Erlebnisse finden ihre teleologische Erfüllung darin, objektive Seinseinheiten jeder Region und Kategorie synthetisch zu ermöglichen. Als dem Bewusstsein zugehörige gegenständliche Korrelate heißen diese Seinseinheiten Noemata. Zu untersuchen, wie die mannigfaltigen Bewusstseinserlebnisse diese gegenständlichen Einheiten zustande bringen, ist eine der großen Forschungsaufgaben der phänomenologischen Wissenschaft. Bevor die eigentlich intentionalen Bestände der Erlebnisse Thema werden, ist auf eine notwendige Voraussetzung ihres Fungierens zu achten. Sensuelle Erlebnisse (Empfindungsinhalte, hyletische Daten, primäre Inhalte) sind es, an denen das Erleben seine sinngebende Funktion vollzieht. Die sensuelle Empfindungs-Hyle bildet den Stoff für die intentionale Formung oder Sinngebung. An diesen Unterlagen übt das Bewusstsein seine intentionale Funktion aus, durch die der Stoff zum »beseelten« Etwas wird, von dem man Bewusstsein hat. Das Bewusstseinsmoment, das die sinngebende Funktion ausübt, nennt Husserl im Anklang an den Begriff Nous Noese. Noesen sind also die im engeren Sinne sinngebenden Momente des Bewusstseins, die auf den gegenständlichen Sinn gerichtet sind. In den Ideen I trifft Husserl eine endgültige Entscheidung in der Frage des reellen Erlebnisgehaltes, die ihn seit den Logischen Untersuchungen beschäftigt hat. Sensuelle Hyle und noetische Momente bilden die reellen Bestandstücke der intentionalen Erlebnisse. Man findet beide in einer Analyse des vergegenständlichten Erlebnisses. Wir beschränken uns auf die Darstellung des wichtigeren reellen Erlebnisbestandteiles, des noetischen. Das noematische Moment ist im Erleben nicht reell, sondern nur als intentional vermeintes enthalten. Zum intentional Vermeinten wird es durch das noetische Moment. Von ihm ist es nicht abtrennbar. Es bildet mit ihm diejenige Seinseinheit, die durch die Reduktion auf die Sphäre des reinen Erlebens erreicht worden ist. Die Epoché hat Wirklichkeit im Sinne der natürlichen Einstellung aus dem Erlebniszusammenhang ausgeklammert. Von ihr ist also keine Rede, wenn das noematisch Gegenständliche Thema ist. Dem Noematischen kommt nur ein »unselbständiges Sein« zu, das es dem intentionalen Vermeinen verdankt. Reales, Wirkliches tritt in der 80
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Phänomenologie nur noch als Moment im Noema auf. Am Beispiel gesprochen: Auch wenn die Wirklichkeit im Sinne der natürlichen Einstellung nach der Epoché für uns nicht mehr vorliegt, so ist sozusagen doch Alles beim Alten geblieben. »Auch das phänomenologisch reduzierte Wahrnehmungserlebnis ist Wahrnehmung von »diesem blühenden Apfelbaum, in diesem Garten usw.« … Husserl betont immer wieder, dass die in der Epoché-Einstellung benutzten, das Gegenständliche beschreibenden Ausdrücke – wie materielles Ding, Pflanze usw. – durch die Epoché eine radikale Bedeutungsmodifikation erfahren haben, obwohl sie »mit Wirklichkeitsaussagen gleichlauten« und obwohl das Beschriebene selbst sich als genau dasselbe gibt wie in Wirklichkeitsaussagen. (Vgl. Ideen I 221 f.) Die Noemata können für sich und in dem Zusammenhang, den sie miteinander bilden, untersucht werden. Einer solchen Formenlehre der Noemata entspricht auf der Seite der reellen Erlebnisbestände eine Formenlehre der Noesen. Beide stehen in einer gewissen Parallelität zueinander. Es bedarf jedoch diffiziler phänomenologischer Unterscheidungskunst, um die bestehenden Differenzen genau herauszuarbeiten. Ein wichtiger Punkt, der das Verhältnis von Noesis und Noema charakterisiert und auf den Husserl bereits in den Logischen Untersuchungen gestoßen war, ist das Verhältnis von subjektiv noetischer Mannigfaltigkeit und gegenständlich noematischer Einheit. Vielerlei Wahrnehmungen, die viele Aspekte eines Gegenstandes zur Gegebenheit bringen, bleiben z. B. doch alle Wahrnehmungen von einem identischen Gegenstand, der in ihnen gemeint ist. Allerdings kompliziert sich das Verhältnis zwischen konstituierenden noetischen Mannigfaltigkeiten und noematischer Einheit dadurch, dass den noetischen Mannigfaltigkeiten auch noematische Parallelen entsprechen müssen. Damit deutet sich schon an, dass das Noema seinerseits aus verschiedenen Schichten aufgebaut ist. In der Sphäre von Noesis und Noema treten viele der Unterschiede, von denen wir schon bei der Aktanalyse der Logischen Untersuchungen gehört haben, wieder auf. Großen Wert legt Husserl in den Ideen I auf die hierarchische Stufenordnung der Erlebnisse und ihres Erlebten. Die Aktarten und ihre gegenständlichen Leistungen stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander. Es gibt eine Urweise des intentionalen Bewussthabens und Vermeinens. Auf ihr bauen sich alle anderen Erlebnisweisen auf. Sie sind zum Teil Abwandlungen des Urmodus des Erlebens und weisen durch ihren eigenen Sinn auf ihre Herkunft A
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zurück. Das ändert nichts an ihrer eigenen Wesensart. Eine ausgezeichnete Stellung nimmt z. B. das originäre Bewussthaben von etwas ein, auf das sich alle erinnernden und bildlich veranschaulichenden Weisen des Bewussthabens von etwas zurückbeziehen. Unter dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit ist das originäre Bewusstsein der Selbsthabe von Gegenständlichem als gegenwärtiges Bewusstsein von anderen Bewusstseinsweisen als solchen der Vergegenwärtigung zu unterscheiden. Der Vorrang aller gegenwärtigenden Bewusstseinsmodi vor den vergegenwärtigenden ist für die hierarchische Sicht der Bewusstseinssphäre sehr wichtig. (Vgl. Fink 23, 19 ff.) Jeder Gegenstandsart kommt eine besondere Weise von originär gebendem Bewusstsein zu, in dem Gegenständliches wie Reales, Psychisches, Ideales, Werthaftes usw. selbst gegeben wird. (Vgl. Ideen I 340) Unter einer anderen Betrachtungshinsicht sind die Erlebnisse nach ihren noetischen Glaubens- und ihren noematischen Seinscharakteren aufzugliedern. Die doxischen oder Glaubenscharaktere eignen den Akten, sofern in ihnen etwas als in Gewissheit seiend, als vermutlich, fraglich usw. seiend geglaubt wird. An ihnen zeigt sich, dass die Akte »Sein-setzend«, thetisch sind; und zwar schon in ihrer schlichten Vollzugsgestalt, ohne dass eine ausdrückliche Stellungnahme des Aktvollziehers zu seinen Akten hinzutreten müsste. Auf der noematischen Seite gehören den Glaubenscharakteren Seinscharaktere zu, durch die das Gegenständliche sich in seinem Seinsmodus bestimmt zeigt. Ein in Gewissheit geglaubtes Noematisches gilt als wirklich seiend, ein nur vermutetes als nur vermutlich seiend und dergleichen mehr. Hier gewinnt nun die erwähnte hierarchische Gliederung der Erlebnissphäre ihre ausschlaggebende Bedeutung. Denn die unmodifizierte Glaubensgewissheit, wie sie sich elementar in der normalen Wahrnehmung eines Dinges äußert, tritt als die Urform des Glaubens auf. Ihr entspricht noematisch der Seinscharakter des wirklich seiend. Auf diesen Ursinn von Sein beziehen sich alle möglichen andersartigen Seinsthesen zurück. Er spricht sich im »Urglauben«, in der »Urdoxa« aus und bildet den Maßstab für die möglichen Abwandlungen, Modalisierungen, des Sinnes von Sein, wie sie in den intentionalen Erlebnissen auftreten können. (Vgl. Ideen I 256 ff.) Die gesamte thetische Glaubenssphäre und die in ihr herrschenden Seinscharaktere können durch eine Modifikation betroffen werden, von der bisher noch nicht die Rede gewesen ist. Diese Modifikation 82
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hält sich überhaupt nicht mehr in der Glaubenssphäre, sondern stellt ein Gegenstück zu allem setzenden Glauben dar. Es handelt sich um die bereits in den Logischen Untersuchungen durchdachte Bewusstseinsweise des Dahingestellt-sein-lassens, der Neutralisierung. Husserl beschreibt dieses »bewusstseinsmäßige Gegenstück alles Leistens« als Resultat einer freien Tat des Bewusstseins wie die Reflexionen und die Epoché. Im neutralisierenden Bewusstsein macht der Erlebende das Glauben nicht mehr ernstlich mit. Er denkt sich nur in es hinein, ohne irgendeine Seinsthese zu vollziehen. Nun erweitert Husserl seinen Begriff vom doxisch-thetischen Charakter des Bewusstseins durch den Nachweis, dass alles Bewusstsein, wenn schon nicht aktuell, so doch potentiell doxisch-thetisch ist. In dieser Weite scheidet Husserl das doxisch-thetische Bewusstsein als positionales vom neutralen. Zwischen den beiden Erlebnisvollzugsweisen der Positionalität und der Neutralität besteht ein Parallelismus. Allerdings hat das positionale Bewusstsein den Vorrang vor dem neutralen, wie innerhalb des positionalen Bewusstseins das aktuell doxisch-thetisch vollzogene eine Vorzugsstellung einnimmt. Husserl will die fundierten Aktsphären des Wertens, Wollens u. ä. in das Reich der Noesen und ihrer Noemata einbezogen sehen. Er behandelt die Akte des Wertens und Wollens konsequent als doxische, als Sein-setzende. Das unmodalisierte Werten kann beispielsweise doxisch charakterisiert werden als ein: als wert seiend setzen. Das Werten kann auch zu einem vermutenden, zweifelnden Werten modalisiert werden. Auch die Akte der Gemüts- und Willenssphäre sind also objektivierende. Sie konstituieren ursprünglich Gegenstände von neuartigem Gehalt und sind so »notwendige Quellen verschiedener Seinsregionen und damit auch zugehöriger Ontologien«. Zum Beispiel: Das wertende Bewusstsein konstituiert die gegenüber der bloßen Sachenwelt neuartige »axiologische« Gegenständlichkeit, ein »Seiendes« neuer Region, …« (Vgl. Ideen I 290) Dass ein solches Vorgehen gegenüber der Sphäre menschlichen Wertens und Handelns große Probleme aufwirft, sei nur erwähnt. Für Husserl ist diese Ausweitung des doxisch-thetischen Bewusstseins wichtig, weil nur so die universelle Weite der Bewusstseinsanalyse gewahrt werden kann. Aber daraus folgt auch die Universalität der Herrschaft des Objektivierens und des objektiv Gegenständlichen über alle menschlichen Bewusstseinsweisen. »Hier liegt die tiefste der Quellen, aus denen die Universalität des Logischen, zuletzt die A
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des prädikativen Urteils aufzuklären ist (…), und von da aus versteht sich auch der letzte Grund der Universalität der Herrschaft der Logik selbst«. (Ideen I 291. Diese Auffassung, die Husserl schon in den Logischen Untersuchungen erarbeitet hat, ist von ihm niemals widerrufen worden. b)
Der Aufbau des Noema
Bislang ist vornehmlich von der reellen noetischen Seite des Bewusstseins die Rede gewesen. In ihr ist als gegenständliches Korrelat irreell das Noema, der transzendental reduzierte Gegenstand, das vermeinte Gegenständliche als solches beschlossen. Im Begriff des Noema konzentriert sich das phänomenologische Problem der Beziehung des Bewusstseins auf Gegenständliches. Diese Beziehung in ihrer Allgemeinheit ist nicht mit der Frage nach der Bewusstseinsbeziehung auf wahrhaft seiendes Gegenständliches zu verwechseln, worüber erst im nächsten Paragraphen zu handeln ist. Jedem intentionalen Erlebnis wohnt sein gegenständlicher noematischer Sinn inne; dem Wahrnehmen sein Wahrgenommenes, dem Erinnern sein Erinnertes, dem Lieben sein Geliebtes. Dieser gegenständliche Sinn ist mit lauter objektiven Ausdrücken wiederzugeben, in denen nichts Subjektives liegt, die nur das Gegenständliche beschreiben, das bewusst ist. Sie geben z. B. an, wie ein Ding beschaffen ist, wie es sich verhält, welchen Gesetzmäßigkeiten es unterliegt. Hier sollte kein Platz sein für ein Wort, das ausdrückt, wie etwas bewusst und dem Subjekt gegeben ist – etwa wahrnehmungsmäßig, erinnerungsmäßig. (Vgl. Ideen I 319) Der Begriff des Noema nötigt zu Differenzierungen. Der gegenständlich-noematische Sinn enthält in sich Beziehung auf einen Gegenstand. Es muss daher im vollen Noema zwischen Inhalt und Gegenstand unterschieden werden. Mittels seines Inhalts ist Noematisches auf seinen Gegenstand als Träger für Eigenschaften bezogen. Dem Gegenstand kommt ein Bestand von »Noemen« zu, durch die er genauso beschrieben wird, wie er in seinen Eigenschaften vermeint ist. Alle derartigen Prädikate bestimmen als gegenständliche Sinne den Inhalt des sie tragenden Gegenstandes. Sie sind nicht selber der Gegenstand, sondern fixieren ihn im Wie seiner Bestimmtheiten. 84
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Wie ist der noematische Gegenstand selbst genauer zu bestimmen? In ihm treffen alle deskriptiven Prädikatnoemen zusammen. Er ist ihr »Träger« und Verknüpfungspunkt und bleibt daher von allen ihn betreffenden Prädikatnoemen unterschieden. Es kann also nicht der Fall eintreten, dass gesagt werden dürfte, es wäre erschöpfend ausgesagt, was der Gegenstand sei. Der Gegenstand selber bleibt als Substrat für mögliche Prädizierungen der Bestimmtheit entzogen. Er ist »das pure X in Abstraktion von allen Prädikaten«. Seine einzige positiv charakterisierbare Eigenart ist es, identischer Bezugspunkt von Prädikatnoemen zu sein. Der Terminus noematischer Sinn ist für den Gegenstand im Wie seiner noematischen Bestimmtheiten zu reservieren. Weder der Sinn noch sein zentraler Einheitspunkt und Träger können einem Noema fehlen. (Vgl. Ideen I 320 ff.) Der noematische Gegenstand ist nicht nur Gegenstand im Wie seiner sachhaltigen Bestimmtheiten, sondern er steht auch immer in irgendeiner Klarheitsfülle. Er kann z. B. dunkel, vage oder klar bewusst sein. Ein derartiges Wie seiner Gegebenheitsweise gehört zu seiner vollen Konkretion. In unterschiedlichen Weisen der Klarheitsfülle kann es sich um ein und denselben vermeinten Sinn handeln. Die Fülle der Klarheit des gegenständlich Vermeinten ist im Übrigen in der Erkenntnissphäre von großer Wichtigkeit. Husserl nennt den Sinn im konkreten Modus seiner Fülle den »vollen Kern« des Noema. Den noematischen Sinnen sind thetische Charaktere, Setzungsweisen zugehörig. Diese sind von verschiedener Art. Im Wahrnehmen z. B. ist ein Gegenstand im Wie seiner Bestimmtheit leibhaft anwesen, in der Erinnerung dagegen als leibhaft anwesend gewesener vermeint, in der Phantasie ist er schließlich als nur phantasiert gegeben, ohne als seiend gesetzt zu sein. Das, was in Erlebnissen von verschiedener Setzungsart als noematischer Sinn gemeint wird, kann dasselbe sein. Ist das der Fall, so weist der identische Gehalt gleichwohl aufgrund der Verschiedenartigkeit der setzenden Noesen und der ihnen entsprechenden Noemata Unterschiede auf. Er ist zu. B. einmal leibhaft Wirkliches, ein anderes Mal nur Erinnertes, dann wieder Phantasiertes. Durch Setzungscharaktere werden also Unterschiede in der Gegebenheitsweise des Gegenstandes selber bedingt. Die Gegebenheitsweisen des Gegenstandes zeigen sich genauso wie die setzenden Bewusstseinsweisen als hierarchisch gegliedert und ineinander fundiert. Erinnertes und Phantasiertes weisen z. B. in verschiedener Weise auf leibhaft Wahrgenommenes oder Wahrnehmbares zurück. A
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Die thetischen Charaktere haben eine besondere Beziehung zum noematischen Sinn. Sie werden mit dem Sinn zum »Satz« zusammengefasst. Husserl verwendet also den Terminus Satz in einer nicht üblichen Weite. Denn Sätze dieser Art sind nicht auf die Sphäre (prädikativer) Urteile, in denen Sachverhalte dargestellt werden, beschränkt. Sie finden sich bereits im Bereich des schlichten vorprädikativen Anschauens vor allem Urteilen, wie ja die Sphäre der Noesen und Noemata vorprädikatives Erfahren und sprachlich ausgedrücktes, prädikatives Erkennen umfassen soll. Die Schicht des sprachlichen Ausdrucks kann sich mit den vorprädikativen Erlebnissen und ihren Noemata »verweben«, so dass sich die Schicht des Ausdrucks über alles Erfahren legt. In den vorprädikativen Wahrnehmungen liegen nach Husserl »eingliedrige« Sätze vor. Sätze dieser beiden Arten haben in allen Aktsphären ihre Stätte. Den komplikativen Aufbau der Bewusstseinssynthesen, in denen sich höherstufige Gegenstände konstituieren, verfolgen wir hier nicht weiter.
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IV. Wichtige Lehrstcke der transzendentalen Phnomenologie
§ 9 Evidenz, Gegebensein, Sein, Wahrheit Durch die transzendentale Epoché hat das Universum des Seienden eine Modifikation seines Seinssinnes erfahren. Alles, was als seiend auftritt, gilt als unabtrennbares noematisches Korrelat von noetischen Bewusstseinsvollzügen und ist aus ihnen in seinem Seinssinn und seiner Seingeltung zu begreifen. Sind alle Gegenstände in der Phänomenologie nur als noematische Sinne und Sätze thematisch, dann ist nicht ohne weiteres klar, was es heißen soll, sie wirklich seiend, wahrhaft seiend o. ä. zu nennen. Denn es gibt Bewusstseinszusammenhänge, die in sich einheitliche gegenständliche Sinne tragen, ohne dass diesen deswegen schon die Bestimmung »wahrhaft seiender Gegenstand« zukäme. (Vgl. Ideen I 329 ff.) Das Universum des Vermeinens und des Vermeinten ist weiter als der Umkreis dessen, was im Vermeinen als wahrhaft seiend ausgewiesen werden kann. Durch die Prädikate Sein und Nichtsein wird im Reich des noematischen Sinnes eine Grenze aufgerichtet, der auf noetischer Seite die Prädikate Wahrheit und Falschheit entsprechen. Die Entscheidung über diese Grenze unterliegt der »Rechtsprechung der Vernunft«, die das Wesen der Wirklichkeit rein im Zusammenhang des (transzendentalen) Bewusstseins bestimmen muss, ohne ihn zu überschreiten, wie es die Problemstellung der traditionellen Erkenntnistheorie im Gefolge gehabt hat. (Vgl. Cart. Med. 114 ff.) Der Sinn wirklich seiender Gegenstand bildet sich nur in gewissen Bewusstseinssynthesen. In anders gearteten kommt er nicht zustande, da sie die Leistung nicht vollbringen, die es erlauben würde, zu sagen, man sei eines Gegenstandes als wirklich seiend gewiss. Nun kommt es in allem Erkennen darauf an, sich über das Wirklichsein der Gegenstände Gewissheit zu verschaffen. Das intentionale Meinen soll den Charakter der Wahrheit gewinnen. Das vermag es nur, wenn es seinem Vermeinen Erfüllung verschaffen kann. Darauf zielt die Vernunft ab. Sie verfolgt also im Universum der Noesen und A
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Wichtige Lehrstcke der transzendentalen Phnomenologie
Noemata ein fest umgrenztes Ziel. Wie sie ihr Ziel erreichen kann, wird im Kernstück der Ideen I, der Phänomenologie der Vernunft, untersucht. Diese hat aber nicht nur den Begriff des wirklichen, wahren Seins als Korrelat von Evidenz zum Gegenstand, sie befasst sich auch mit den Evidenzen, die zu Abwandlungen des Seinsbegriffe gehören wie Möglichsein, Wahrscheinlichsein, Zweifelhaftsein u. a. Der Aufstufung der Evidenzen gemäß verschiedenen Arten von Gegenständlichkeiten entspricht die in ihnen zustandekommende Wahrheit. (Vgl. z. B. EU 320 ff.) Von Wahrheit darf demzufolge bereits im Bezug auf vorprädikative Wahrnehmungsleistungen gesprochen werden. Sie ist nicht dem Urteil vorbehalten, sondern eignet jeder Art von selbstgebender Anschauung, wie sie Wahrgenommenem, Geurteiltem, eidetisch und formal Gegenständlichem zugehört. Auf Evidenz und Selbstgegebenheit aus sein heißt, auf Wahrheit aus sein. (Vgl. FTL 255) Auf diese Weise überträgt Husserl die traditionelle Problematik des vernünftigen Strebens nach Wahrheit und seiner Erfüllung durch das Seiende in die transzendentale Phänomenologie, in dem er konsequenterweise den Grundzug des Bewusstseins für die Realisierbarkeit des vernünftigen Wahrheitsstrebens verantwortlich macht. Die Evidenz ist die Bewährungsinstanz für jede Berufung auf Sein oder Nichtsein von etwas und ergibt sich aus dem Vollzug gewisser intentionaler Erlebnisse, in denen sich zeigt, dass etwas »existiert« oder so und so beschaffen ist. In der Formalen und Transzendentalen Logik, in den Cartesianischen Meditationen sowie in der Krisis-Abhandlung hat der Evidenzbegriff für das Spätwerk Husserls wichtige Darstellungen gefunden. Hat man einmal, wie es in der Wissenschaft der Neuzeit üblich gewesen ist, das Seiende als absolut seiend vom Subjektiven abgeschieden und sich damit in der Erkenntnistheorie ein unlösbares Problem von Transzendenz aufgelastet, so wird die Frage nach der Evidenz auf eine psychologische Ebene gedrängt. Ein psychischer Zustand soll von der Wahrheit der Erkenntnis eines Ansichseienden Rechenschaft ablegen. Für dieses Problem gibt es keine Lösung. Die ihm zugrundeliegende Problemstellung verfehlt die Eigenart des intentionalen Erlebens und die Seinsweise der in ihm erlebten Gegenstände. Intentionales Erleben und Seiendes müssen von vornherein als Einheit und universal korrelativ gesehen werden. Was die Gegenstände sind, zeigt sich in ausgezeichneten Formen des intentionalen Erlebens. Da88
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Evidenz, Gegebensein, Sein, Wahrheit
von ist auszugehen. Dahinter gibt es kein Zurück auf eine rätselhafte Transzendenz. (Vgl. hierzu u. zum folgenden Pass. Synthesis 253 ff.) Wo eine Einheit von Erleben und Selbstgegebenheit des Erlebten vorliegt, da ist von Evidenz zu sprechen. Diese Rede bezieht sich auf das Sein der Gegenstände, die als selbstgegebene erfahren werden und deren Sein darin aufgeht, so gegeben zu sein. Denn Husserl spricht den Evidenzen die eigentlich das Seiende konstituierende Funktion zu. Die originär gebende Anschauung ist das Entscheidungskriterium für alle Vernunftfragen, die sich auf die Wahrheit und Wirklichkeit von etwas richten. Das lässt sich nur aufgrund transzendentalphänomenologischer Gedankengänge verständlich machen. Und dadurch wird das Hinnehmen des Gegebenen, das bei Husserl mit dem originären Sehen und Beschreiben verbunden sein soll, in seinem Sinn mitbestimmt. Wie sollte andernfalls durch ein schlichtes hinnehmendes Anschauen dessen, was sich zeigt, über den Sinn von Sein in der Weise der Transzendentalphilosophie entschieden werden können? (Vgl. Pass. Synth. 430 ff., Beilage XXVII) Die Evidenz ist ein Urphänomen des Bewusstseins, das vor den anderen Bewusstseinsweisen, in denen keine Selbstgebung erfolgt, ausgezeichnet ist. (Vgl. Ideen I 315 ff.) Diese sind von der Art, dass in ihnen etwas nur »leer, vormeinend, indirekt, uneigentlich« bewusst ist, ohne im Endmodus des Selbst, unmittelbar anschaulich, originaliter gegeben zu sein. (Vgl. ebd. 92 f.) Evidenz ist es, die unter dem Titel des vernünftigen Bewusstseins, das die Wahrheit sucht, angestrebt wird. Das intentionale Leben ist »wesensmäßig auf Überführungen in Selbstgebungen angelegt, also auf Synthesen der Bewährung, die wesensmäßig zum Bereich des Ich kann gehören«. (Cart. Med. 93) Den Bewährungssynthesen korrespondieren Erlebnisse der Entkräftung, durch die sich etwas als nichtig und scheinhaft erweist. Die nicht-selbst gebenden Bewusstseinsweisen lassen sich auf selbstgebende zurückbeziehen. Indem die Phänomenologie sich dem Vermeinen und der erfüllenden Evidenz zuwendet, macht sie nur zum Thema, was im vortheoretischen Bewusstseinsleben bereits angelegt ist und immer schon vor sich geht. Dies wird in der theoretischen Einstellung bewusst aufgegriffen und aktiv verfolgt. Die Phänomenologie interessiert sich allerdings nicht für die Evidenzen des außertheoretischen Lebens und seiner praktischen Interessen. Sie geht den Evidenzen nach, sofern sich in ihnen die Welt und ihre Regionen bilden, um aus ihnen A
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Einsicht in die Seinsweise des Seienden jeder Art zu gewinnen. Zu diesem Zweck muss sie alle Horizonte, die das intentionale Leben umstellen, enthüllen. Indem sie das tut, deckt sie das Evidenzstreben als eine »apriorische Strukturform« auf, ohne die das Bewusstsein nicht sein kann. Das zeigt sich z. B. schon in der Sphäre der immanenten Zeit und im Strom des sinnlichen Erfahrens. (Vgl. FTL 295) Husserls bevorzugtes Beispiel für einen Fall von Selbstgebung ist der der Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes. Hier gibt das eigene Sehen des Dinges eine unüberbietbare Klarheit über den Gegenstand und alles, was hinsichtlich seiner rechtmäßig gemeint werden kann. Seine Wahrnehmung ist zwar notgedrungen inadäquat, da nur teilweise erfüllt und erfüllbar, aber das ist kein Mangel; denn es kann in der äußeren Erfahrung gar nicht anders sein. Hier gibt es nur unvollkommene Selbstgebungen. Das ändert nichts daran, dass in ihr eine vollwertige Evidenz vorliegt; eine vollwertige Evidenz, die wesensmäßig durch das Andersseinkönnen des sich in ihr Zeigenden charakterisiert ist. (Vgl. Ideen I 338 ff. u. Pass. Synthesis 3 ff.) Die äußere Anschauung wird nicht mehr am Ideal absoluter Selbstgegebenheit gemessen, wie es sich an einer immanenten Wahrnehmung aufdecken lässt, in der cogitatio und cogitatum Bestandstücke desselben Bewusstseinsstromes sind, ohne dass das cogitatum sich abschattete und noch unerfüllte Verweisungen enthielte. Ebenso wenig gilt sie als widersprüchlich, weil sie eine Einheit von Selbstgegebenem und Nicht-Gegebenem ist. Genau in dieser Weise kommt in ihr vielmehr das Seiende zur Evidenz. Wenn Wahrnehmungen täuschen oder miteinander in Widerstreit geraten, besagt das nur, dass sich neue Evidenzen herstellen, die besser standhalten als die alten. Aber auch sie halten sich im Rahmen der äußeren Erfahrung. Die Evidenzen dieser Erfahrung verflechten und steigern sich im Fortgang des Erfahrungsprozesses zu größerer Klarheit und Fülle, ohne allerdings jemals zu einer anderen Art von Selbstgebung (z. B. einer adäquaten) zu kommen als der Wesensstil der naturalen Erfahrung zulässt. Was das für die Seinsweise der Welt bedeutet, wird zu erörtern sein. Die innere Erfahrung bringt immanent Seiendes im zeitlichen Fluss der Impressionen, Retentionen und Protentionen zur Selbstgegebenheit, ohne dass es sich wie äußerlich Wahrgenommenes abschattete. Selbst im Erlebnis reell auftretende immanente Elementardaten unterstehen schon konstitutionellen Bewusstseinsvollzügen, in denen sie zur Selbstgebung kommen. 90
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Evidenz, Gegebensein, Sein, Wahrheit
Es ist aufschlussreich, wie Husserl die Konstitution eines immanenten Empfindungsdatums beschreibt und daran die Anfangsgründe der Konstitution des Seienden überhaupt verdeutlicht. Ein immanentes Datum tritt in einem impressionalen Jetzt auf, in dem es seine unanzweifelbare Dauer hat. Aber so, wie dieses hyletische Datum zunächst auftritt, ist es noch nicht voll als Gegenstand konstituiert. Erst wenn das Datum im Wandel der immanenten Zeit in die Vergangenheit hinein festgehalten wird, gewinnt es die Selbigkeit eines Gegenstandes. Ein solcher Gegenstand ist numerisch-einzelhaft identisch, indem er aufgrund des Zeitflusses, seiner Formgesetzlichkeit und seiner Synthetik für immer an eine bestimmte Stelle des Zeitstromes gebunden bleibt. (Vgl. FTL 291 u. Pass. Synthesis 125 ff.) Gleichwohl ist bereits immanent Erfahrenes nie isoliert für sich konstituiert, sondern in die synthetischen Verkettungen des Zeitbewusstseins einbezogen. Auf ihm und durch es hindurch baut sich höherstufiges, komplizierter gebautes Gegenständliches auf; z. B. Dingliches, wie es sich in der äußeren Wahrnehmung zeigt. Im Bewusstseinsleben werden alle Erfahrungen und ihr Erfahrenes dem Evidenzstreben untergeordnet und synthetisch zu einer in sich stimmigen Gesamteinheit gefügt. Dem Zusammenhang des gegenständlich Evidenten ist auf der Seite des Subjekts ein Gesamt von Strukturen und Vermögen zugehörig. »Gäbe es kein Vermögen der Wiedererinnerung, kein Bewusstsein, ich kann auf das, was ich da erfasse, immer wieder zurückkommen, wo es doch nicht mehr wahrgenommen ist, oder wo die Erinnerung, in der ich es gerade hatte, selbst wieder dahin gegangen ist, so wäre die Rede von demselben, von dem Gegenstand sinnlos«. (FTL 291) Es ist ein gravierender Fehler, als Evidenz nur absolute Evidenzen gelten zu lassen, die etwas in vollkommener Weise oder als notwendig seiend geben. Das kann dazu führen, dass am falschen Ort falsche Forderungen an das Seiende gestellt werden, dass z. B. das welthaft Seiende angezweifelt und als unzulänglich beiseite geschoben wird. Geschieht das nicht bei Descartes? Auf jeden Fall ist es eine Grundthese der Phänomenologie, dass das Bewusstseinsleben, auch und vor allem das sinnlich erfahrende, in allen seinen Erfahrungsmöglichkeiten auf Selbstgebungen abzielt, von welcher Art und von welchem Vollkommenheitsgrad sie auch immer sein mögen. Das intentionale Bewusstseinsleben hat demnach eine auf Erfüllung in Evidenz abA
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zielende teleologische Struktur. Diese findet Husserl auch im intersubjektiven Leben der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte der Philosophie wieder. Es gibt zwei Wege, wie sich in intentionalen Analysen zu Evidenzen gelangen lässt. In ihnen wird das konstituierte Seiende in verschiedenen Blickstellungen angegangen. Eine Art von Analysen hat ihren Leitfaden am statischen fertig seienden Gegenständlichen. Blickt man dagegen von der Synthetik des Zeitflusses auf die sich aus ihr bildende sinnliche Welt, so betrachtet man das Seiende in seiner passiven Genesis. Auf der passiven Genesis kann sich eine aktive aufbauen. Es wird hier nicht genau geprüft, wie die verschiedenen Arten von intentionaler Analyse zueinander stehen. (Vgl. Cart. Med. 87 ff. u. 111 ff.) Ein Prinzip der passiven Genesis ist die Assoziation. Assoziation meint in diesem Kontext kein Gesetz der empirischen Psychologie, sondern ein transzendentalphänomenologisches Prinzip, das neben der Identifikation den Aufbau der sinnlichen Erfahrungswelt regelt. Die Assoziation kommt für das Einheits- und Mehrheitsbewusstsein auf, durch das Eigenständiges als mehrheitlich in Koexistenz und Sukzession Zusammengehörendes betroffen wird. (Vgl. Pass. Synthesis 117 ff. und Cart. Med. 113 f.) Es wird der Motivation von Husserl zunächst eine wichtige Rolle für die Konstitution der Erfahrungswelt zugeschrieben. Allerdings erstreckt sich ihre Bedeutung auch auf das Feld des aktiven Leistens, des personalen menschlichen Lebens. (Vgl. Ideen 220 ff.; siehe dazu Rang 1973) Für alle aktiven höherstufigen Konstitutionsleistungen, die sich auf der Konstitution der rein sinnlichen Erfahrungswelt aufbauen, und in den wissenschaftlichen Erkenntnissen, aber auch in sonstigen »Kulturerzeugnissen« vorliegen, sind die Leistungen der Passivität in der sinnlichen Erfahrung vorausgesetzt. Ohne eine nach festen Regelmäßigkeiten im Zeitfluss aufgebaute sinnliche Natur-Welt hat keine höhere menschliche Kulturleistung eine tragfähige Ausgangsbasis. (Vgl. z. B. Cart. Med. 111) Die höherstufige Gegenstandswelt der Wissenschaften ist ein Produkt der »praktischen Vernunft«. Halten wir fest: Mögen sich die Evidenzen in der Erfahrung der Welt auch zu immer größeren Zusammenhängen größerer Einstimmigkeit verbinden, eine vollkommene Evidenz, in der die gesamte Welt ohne unerfüllte Implikationen und Antizipationen gegeben wäre, ist nicht 92
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Die Konstitution des Allgemeinen
denkbar. Insofern und in diesem Sinne bleibt die Welt dem intentionalen Leben immer transzendent. Aber diese Transzendenz ist eine nur dem Bewusstsein eigene Art, sich relativ auf einen bestimmten aktuellen Jetztpunkt in den endlosen Zeitstrom hinein zu transzendieren. In seinen Evidenzen bildet sich der Sinn des wirklichen Seins der Welt. Und eine andere Rede vom Sein der Welt soll keinen Sinn haben. »Letztlich ist es die Enthüllung der Erfahrungshorizonte allein, die die Wirklichkeit der Welt und ihre Transzendenz klärt und sie dann als von der Sinn und Seinswirklichkeit konstituierenden transzendentalen Subjektivität als untrennbar erweist«. (Cart. Med. 97) So wird die »wirklich seiende« Welt selber für die Phänomenologie letztlich »eine Korrelatidee zur Idee einer vollkommenen Erfahrungsevidenz, einer vollständigen Synthesis möglicher Erfahrungen«. (Ebd.) Vom endlos in die Richtung von einem Mehr an Erfüllung und Einstimmigkeit fortschreitenden, aber deswegen auch im Reich der inadäquaten Evidenzen verbleibenden Evidenzstreben des intentionalen Lebens sind diejenigen Evidenzen zu unterscheiden, zu denen die Einsicht in die teleologische Evidenzstruktur dieses Lebens und der es leitenden Idee sowie des Seins der Welt führt. Darum weiß das phänomenologisierende Ich, welches sich von seinem überlegenen Standort aus des Ganzen vergewissert und für diese Vergewisserung Wahrheit in Anspruch nimmt.
§ 10 Die Konstitution des Allgemeinen Das Problem des Allgemeinen nimmt in der Phänomenologie einen hervorragenden Platz ein. Husserl hat die Phänomenologie seit den Logischen Untersuchungen immer wieder durch ihr Abzielen auf das allgemeine Wesenhafte von allen empirischen Tatsachenwissenschaften abgehoben. Er hat die Wesenswissenschaft der Tatsachenwissenschaft vorgeordnet. Tatsachenwissenschaft soll sich im Rahmen der ihr durch die Wesenswissenschaft abgesteckten Grenzen halten müssen. Ein problematisches Beispiel zur Erläuterung des Verhältnisses von Wesens- und Tatsachenwissenschaft ist die Beziehung der Geometrie zur Physik. Wie die Geometrie dank ihrer idealen-apriorischen Erkenntnisse über den Raum der Physik den Möglichkeitsbereich vorschreibt, innerhalb dessen sie empirische Forschung betreiben kann, so oder ähnlich soll es überall sein, wo es um das Verhältnis von Wesen und Tatsachen geht. Dem Wesen eigA
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net Husserl zufolge eine Priorität vor allem Tatsächlichen. Tatsachen sind als Tatsachen eines allgemeinen Wesensgehaltes, an den sie gebunden sind. Sie können daher so thematisch gemacht werden, dass von ihrem Tatsachencharakter abgesehen und nur auf ihren Wesengehalt hin geblickt wird. Husserl hat an diesen Lehren stets festgehalten, auch wenn sich in seinem Werk wichtige Gedankengänge finden, die es ermöglichen, sie zu problematisieren. Wir lassen uns auf die Schwierigkeiten der Husserlschen Wesenslehre nicht ein, sondern versuchen, einen Überblick über sie zu geben. Zunächst ist daran zu erinnern, dass Husserl aufgrund seines weiten Gegenstandsbegriffes das Allgemeine als Gegenständliches fasst. Seit der VI. logischen Untersuchung ist auch schon darüber entschieden, dass die allgemeinen Gegenstände fundierte, höherstufige Gegenstände sind, die aus aktiven, spontanen Leistungen des Subjekts aufgrund bestimmter anderer Voraussetzungen und Leistungen des Subjekts hervorgebracht werden; aus Leistungen rezeptiver, passiver Art, wie sie sich im sinnlichen Erfahren abspielen. Bevor wir auf die Einzelheiten der Husserlschen Konzeption eingehen, ist eine wichtige Unterscheidung zu machen, durch die die phänomenologische Lehre von den allgemeinen Verstandesgegenständlichkeiten in zwei Teile aufgegliedert wird: in die Problematik der allgemeinen Formen, der kategorialen, syntaktischen Gegenstände einerseits und der Allgemeingegenstände im Sinne der sachhaltigen Wesen andererseits. Wir befassen uns zunächst mit der Husserlschen Lehre vom sachhaltigen Wesen, vom Eidos, ehe wir auf das Husserlsche Verständnis der formalen Gegenstände eingehen. a)
Die eidetische Reduktion
Beiden Teilen der phänomenologischen Theorie des Allgemeinen sind gewisse Grundzüge gemeinsam. Für beide ist die Auffassung vom objektivierenden-vergegenständlichenden Charakter des Bewusstseinslebens, der weite Gegenstandsbegriff der Phänomenologie und die Lehre vom universalen Fundierungszusammenhang, in dem alles Gegenständliche steht, vorausgesetzt. Im Prozess der Gewinnung und in der Seinsweise der zwei verschiedenen Arten von allgemeinen Verstandesgegenständlichkeiten liegen dagegen tiefgreifende Differenzen vor. Diese spielen für den Aufbau der Phäno94
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menologie eine Rolle, die sich aus den Logischen Untersuchungen noch nicht ersehen lässt. Der Begriff der Wesensschau hat, vor allem in der Frühzeit der Phänomenologie, häufig dazu gedient, die Eigenart der phänomenologischen Methode insgesamt zu charakterisieren. Durch ihr Absehen, das Wesen der Erlebnisse und der Gegenstände zu beschreiben, wurde die Phänomenologie vom empirisch psychologischen und vom naturwissenschaftlichen Verfahren abgesetzt. Diese vereinfachende Kennzeichnung der Phänomenologie ist durch manche Sprechweisen Husserls selber nahegelegt worden. Man denke etwa an die Einleitung zum II. Band der Logischen Untersuchungen. Die Ausdrücke Schau und Intuition haben oft zu Missverständnissen des phänomenologisch Gemeinten Anlass gegeben. Es ist aber bereits seit Husserls Ausführungen über die kategoriale Anschauung entschieden, dass das Wort Anschauung in diesem Zusammenhang keine schlichte, unmittelbare Schau meint, sondern formende-erzeugende Denkakte an schlicht und unmittelbar Anschaulichem voraussetzt, als deren Ergebnis kategoriale Formen und Eide entspringen und zu gegenständlich eigengearteter Selbstgegebenheit kommen. Mit der Zuwendung zum Wesen der Erlebnisse und ihrer gegenständlichen Gehalte verknüpfte sich für Husserl frühzeitig der Gedanke der Ausklammerung des Empirischen und Faktischen zugunsten apriorischer Wesensgehalte. Das scheint bereits der Fall gewesen zu sein, ehe Husserl die Frage nach dem Sinn des Seins der Gegenstände endgültig in transzendentalphänomenologischer Weise entschieden hatte. Mit dieser Trennung war für ihn auch über die Differenz zwischen eidetischer und transzendentaler Reduktion entschieden. Die Eigenart der Phänomenologie konnte nicht länger durch die eidetische Methode angegeben werden. Alle phänomenologischen Untersuchungen zielen auf das Wesen ihrer Gegenstände ab. Aber diese ihre Eigenart kennzeichnet sie nicht hinreichend als spezifisch transzendentalphänomenologische. Die Zurückdrängung der Wesensproblematik aus der methodischen Grundlegung der Phänomenologie geht bei Husserl so weit, dass die Reduktion aufs Eidos in der Formalen und Transzendentalen Logik wie in den Cartesianischen Meditationen erst erwähnt wird, nachdem die Grundlegung der Phänomenologie erfolgt ist. Die transzendentale Problematik ist gegen die Differenz von empirisch-faktisch und apriorisch-eidetisch gleichgültig, da sie sowohl an empirischen A
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wie an eidetischen Gegebenheiten durchgeführt werden kann. (Vgl. Cart. Med. 103 f.) Wie selbstverständlich beschreiben alle phänomenologischen Analysen ihre Gegenstände von vornherein in einer gewissen Allgemeinheit. Jeder Gegenstand und jeder Akt werden von vornherein als Exempel für etwas von einer bestimmten Art, einem bestimmten Typus genommen. Nichtsdestoweniger hat Husserl eine eigene Methodik ausgebaut, welche den Weg, der zur Selbstgebung des Eidos führt, genau beschreibt. Das ist unangesehen des von Husserl praktizierten Vorgehens deswegen notwendig, weil die Phänomenologie die Konstitution des Seienden im Rahmen eines Stufenbaus verfolgt und die allgemeinen Wesen als höherstufige Gegenstände behandelt, die wie alles Gegenständliche einer Konstitution bedürfen. Das an sich Erste, was erfahren wird, aber sind einzelne, individuelle Gegenstände. So stellt sich die Frage, wie gelangt man von ihnen zu dem Wesensallgemeinen, als dessen individuelle Vereinzelungen sie angesehen werden. (Vgl. EU 21 f., 66 ff.) Gehen wir von der empirischen Deskription von Individuellem aus, dann zeigt sich, dass uns immer schon verschiedene Stufen empirischer Allgemeinheit bekannt sind. Das hat seinen Grund darin, dass uns die Welt in ihrer allgemeinen Typik bereits aufgrund langjähriger Erfahrung vertraut ist, ehe wir uns theoretische Aufgaben stellen. Eine solche Typik ist vom Wesen zu unterscheiden. Im Wesensbegriff wird beansprucht, die Vagheit des empirisch Typischen zugunsten einer streng bestimmten Allgemeinheit zu überwinden. Um dies leisten zu können, bedarf es des bewusst vollzogenen Durchgangs durch die Allheit der möglichen Varianten und Besonderungen des empirisch Individuellen, dessen Invariantes und Allgemeines im Wesensbegriff fixiert werden soll. Die Bildung des Wesens als eines Gegenstandes eigener Art ist eine Leistung aktiven Denkens. Sein Ausgangsmaterial ist eine originär gegenwärtige, irgendwie vergegenwärtigte oder frei phantasierte Erfahrung eines Individuellen, das als ein Etwas von der oder jener Art angesprochen wird. Es wird zunächst nach all den Möglichkeiten variiert, die ihm als einem Individuellen seiner Art offenstehen. Offensichtlich kann die Variation unter verschiedenen Hinblicken erfolgen. Ihre Grenzen liegen jeweils dort, wo das zu variierende Ausgangsexempel aufhört, ein Seiendes der Art zu sein, auf die hin es anfänglich als Einzelnes angesehen worden ist. Es kommt im nächs96
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ten Schritt darauf an, dass das im Durchlaufen der Varianten gefundene Selbige festgehalten und zur Deckung gebracht wird. (Vgl. EU 411) Dann erfolgt die aktive Identifizierung des in allen Varianten Kongruierenden als das Eine und Selbige, allen möglichen Abwandlungen Gemeinsame, als ein »absolut identischer Gehalt«. Erst in der aktiven Einheitsstiftung kommt das Wesen zur Selbstgegebenheit. Sie herzustellen, dienen die vorausgehenden Schritte. Die Methode der eidetischen Variation ist eigens zu dem Zweck ausgestaltet worden, zu zeigen, wie unter der Voraussetzung der Evidenz eines sinnlich erfahrenen Individuellen ein evidentes Bewusstsein von dem einen identischen Gehalt zustande kommen kann, der vieles Individuelles übergreift, ohne jedoch nur ein seinsfreies, begriffliches Abstraktionsprodukt von ihm zu sein. Die Verständlichkeit einer solchen Problemstellung ändert nichts daran, dass sie den Husserlschen Wesensbegriff mit unlösbaren Schwierigkeiten belastet. Wie kommt es dazu, dass das Individuelle auf einen bestimmten Umkreis von Variationsmöglichkeiten hin angesehen wird? Muss dem Wesen nicht seinsmächtige Vorgängigkeit gegenüber dem Individuellen, das ein Einzelnes eines bestimmten Wesens ist, zugesprochen werden? Aber soll das Wesensallgemeine andererseits nicht erst aus der Variation als Konstitutum resultieren? Husserl sagt selber des öfteren, dass die Wesensmöglichkeiten, die sich in der aktiven Erzeugung durch freies »Phantasieren« erschließen, den Wirklichkeiten vorausgehen. Wie ist das mit der Auffassung vom Eidos als Resultat eines Prozesses aktiver Erzeugung verträglich, wenn diese nicht im Sein gründende, sondern frei getätigte Konstitution von Ichen ist? (Vgl. Eley 1962) Muss nicht die Anschauung eines solchen Konstituierens zur Schau seines Resultates als hochstufig fundiertem, selbstgegebenem, aber ontologisch abkünftigem, »degeneriertem« führen? Es sei noch auf einige weitere Eigenheiten der phänomenologischen Wesenslehre hingewiesen. 1) Allgemeine Wesen stehen auf mehr oder minder großen Stufen der Allgemeinheit. Sie können sich zu Wesen von größerer Allgemeinheit zusammenschließen. Sie bilden schließlich alle zusammen ein gegliedertes Reich von Wesenheiten, dessen höchste Allgemeinheitsstufe im regionalen Wesen erreicht wird, dem alle Wesen einer Region unterstehen. Solche Regionen sind physisches Ding, Animalia, Mensch, Sozialität. Sie sind durch unübersteigbare Grenzen voneinander getrennt. »Die regionalen Wesen haben keine A
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höheren Allgemeinheiten mehr über sich und setzen aller Variation eine feste, unübersteigliche Grenze. Ein Grundbegriff einer Region kann nicht durch Variation in einen anderen übergeführt werden. Es ist hier höchstens noch als weitere Leistung die Formalisierung möglich, durch die beide unter der formalen Kategorie des »Etwas überhaupt« gefasst werden. Aber das ist etwas wesentlich Anderes als Variation.« (EU 435) Im Formalisieren erfolgt kein Umfingieren von sachhaltigen Bestimmungen in andere sachhaltige Bestimmungen, sondern ein Entleeren von allen inhaltlichen Bestimmungen. 2) Wir haben bisher nur über Wesen in noematisch-gegenständlichem Sinne gesprochen. Vom Wesen muss jedoch auch auf der noetischen Seite gehandelt werden. Dem Wesen eines Wahrnehmungsdinges entspricht z. B. das Wesen des Wahrnehmens. Das Wahrnehmen hat seine feste Form, die alle seine faktischen Realisierungen beherrscht. Auch für es gilt: Die Wesenform ist das unzerbrechlich Selbige im Anders und Immer-wieder anders, das allgemeinsame Wesen – an das alle erdenklichen Abwandlungen des Exempels … gebunden bleiben«. (FTL 255; vgl. auch Cart. Med. 104 ff.) Dem gegenständlichen Wesen entsprechen Wesenszusammenhänge des intentionalen Lebens. Werden die gegenständlichen Wesen als Leitfäden für die phänomenologische Betrachtung genommen, so führen sie auf das konstitutive subjektive Apriori. (Vgl. Cart. Med. 87 ff. u. FTL 253) 3) Husserl lässt in den Cartesianischen Meditationen auf der subjektiven Seite »das empirisch-faktische transzendentale Ego« mit variieren, so dass ein Eidos Ego gewonnen wird, »das alle reinen Möglichkeitsabwandlungen meines faktischen und dieses selbst als Möglichkeit in sich fasst.« (Vgl. Cart. Med. 106) Versetze ich mich selber auf diesem Wege in die »Luft der reinen Erdenklichkeit«, so dass ich nur eine Möglichkeitsabwandlung eines allgemeinen transzendentalen Ego überhaupt bin? Wie steht es dann mit dem »aktuellen wirklichen Sein« dieses meines Ego als Urquell für allen Sinn von Sein? Kann sich das eine und einzige Ego, das ich bin, durch Variation seiner eigenen Faktizität entheben – und zwar bereits ohne dass schon auf die Intersubjektivität Rücksicht genommen wäre?
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b)
Das Formale. Seine Seinweise und seine Zugehörigkeit zum Logos des Seienden
Husserl hat im hohen Alter noch einmal seine Theorie des Formalen dargestellt. Sie findet sich in der Formalen und Transzendentalen Logik aus dem Jahre 1929. Zwar gehen viele Gedanken, die er bereits in den Logischen Untersuchungen erarbeitet hatte, in das späte Logik-Werk ein, aber dessen Gesamtkonzept ist doch neuartig. Ähnlich wie die Ideen I ist die Formale und Transzendentale Logik in kürzester Zeit in einem Zuge niedergeschrieben worden. Sie stellt eine Rechenschaftsablage über eine Gedankenarbeit dar, die sich über lange Zeit hin erstreckt hat. In ihr ist die formale Logik im Rahmen eines Begriffs von Logik thematisch, der sich auf eine allumfassende Auffassung des Logos und seiner Zugehörigkeit zum Seienden überhaupt stützt. Es hat sich schon gezeigt: Die Klärung der Logik und ihrer Strukturen geht Hand in Hand mit ihrer Fundierung in der Welterfahrung und den transzendentalen Leistungen des Subjektes. Die Erfahrungswelt ist in dieser Zusammengehörigkeit des subjektivitätsphilosophisch interpretierten Logos und des Seienden das Fundament für alles formal-Logische. Dieses ist hochstufig fundiert Gegenständliches innerhalb der Entsprechung von Logos und Seiendem, das einen Stufenbau von intentionalen Leistungen voraussetzt, aus denen es, wie oben gesagt, genetisch hervorgebildet ist. In diesen Rahmen ist Husserls Rede von der Erfahrungswelt als Welt der Doxa einzubetten, in die teilweise die von Platon her stammende ontologisch abwertende Bestimmung von Doxa hineinspielt. Husserl kehrt diese Bedeutung von Doxa um, indem er ihr vorrangiges, in der Sinnlichkeit zugänglich werdendes Sein zuweist, in dem sich wiederum primär Seinsglaube als doxisches Setzen des Bewusstseins niedergeschlagen hat. In seiner Bedeutung für ein genuines Verständnis der transzendentalen Phänomenologie in ihrer Ganzheit, auch in ihrer Endgestalt, ist das formal-Logische noch kaum gewürdigt worden. Es in dieser Funktion ernst zu nehmen heißt unter anderem auch, verschiedene Interpretationen der Phänomenologie Husserls als einseitig und partiell abzulehnen, weil sie diese verlassen und in die Geschichte der phänomenologischen Bewegung hineingehören. Die Lehre von dem in Erkenntnisfunktion genommenen Formalen muss in die Konzeptionen von Zeit, Lebenswelt und Geschichtlichkeit integriert werden. Das aber besagt: Diese direkt weltbezüglichen
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Konzeptionen müssen mit der Konzeption des Formalen nicht nur verträglich sein, sondern zu einem Ganzen zusammenstimmen. Sofern die statische Phänomenologie sich an (ontisch und ontologisch) vorgegebenem Seienden orientiert und Derartiges auf die ihm zugehörenden konstituierenden intentionalen Setzungen zurück bezieht, ist der erste Abschnitt der Formalen und Transzendentalen Logik ein Exempel für statische Phänomenologie. Die Rückverfolgung solcher Korrelationseinheiten auf ihre Ursprünge aus dem Zeitbewusstsein des transzendentalen Subjektes erfolgt in allgemeinen Zügen erst im zweiten Abschnitt des Werks in einem genetischen Verfahren. Die Resultate der statischen und genetischen Phänomenologie müssen sich zu einer Einheit zusammenschließen, die sich dem transzendentalen Subjekt verdankt. Die formale Logik ist also nicht nur zweiseitig (noetisch-noematisch) zu behandeln, sondern in ihre Ursprünge aus nicht-formalen Erfahrungs- und Erkenntnisleistungen des Subjektes hinein zu verfolgen. Nur dadurch, nicht schon durch eine bloß korrelative Betrachtung, findet sie ihre transzendentale Aufklärung. Diese hat zwar ihren Leitfaden an denjenigen objektiven Gebilden und Gesetzen, die als Gegenstand der traditionellen Logik bekannt sind, aber die Untersuchung zielt darauf ab, die formallogischen Gehalte aus demjenigen Subjektiven evident zu machen, aus dem sie hervorgegangen sind. Der zentrale Gliederungsgesichtspunkt für den ersten Abschnitt des Werks ist der der »Dreischichtung der formal-logischen Grundbegrifflichkeit«: in die reine Formenlehre der Urteile (die rein logische Grammatik der Logischen Untersuchungen), die Konsequenzlogik (Logik der Widerspruchslosigkeit) und die eigentliche Wahrheitslogik. Verworrenheit, Deutlichkeit und Klarheit heißen die Evidenzweisen, die den Schichten des Logischen zugeordnet sind. Für jede der Schichten lässt sich ein eigener Urteilsbegriff aufstellen. Die Kriterien, denen das Urteilen in den drei Schichten als Normen untersteht, verengen sich von Schicht zu Schicht. Die verworrenen Urteile der Formenlehre scheiden nur das Unsinnige aus ihrem Möglichkeitsbereich aus, die der Konsequenzlogik das Widerspruchsvolle. Wir lassen diejenige Schicht in der Dreischichtung, welcher der weiteste Urteilsbegriff zugehört, demzufolge grammatisch Aussagen korrekt formuliert sind, ohne Rücksicht auf den Satz vom Widerspruch nehmen zu müssen (Kein Viereck hat Vierecken), 100
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beiseite. Es kommt im Folgenden nur auf die Differenz von analytischer Konsequenzlogik und Wahrheitslogik an. Diese nennt Husserl ein von ihm aufgedecktes »grundlegendes Neues«. (Vgl. FTL 76) Einerseits beruht das Differenzierte auf bloßen Umstellungen der theoretischen Einstellung, andererseits aber hängt von diesen die Einheit der Welterkenntnis ab. Erst wenn in die Konsequenzlogik der Bezug auf Gegenständlichkeiten aufgenommen wird, gewinnen ihre Gesetze mittelbar den Sinn von allgemeinsten Bedingungen möglicher Wahrheit. Von hier aus führt der Weg in die Sphäre derjenigen Urteile, die auf anschauliche Erfüllung inhaltlicher Art und damit auf Seinswahrheit in einem engeren Sinne abzielen. Auch diese Sphäre hat ihr Allgemeines, das alle materialen Besonderungen übersteigt. Es herauszustellen, ist für das Verständnis des Formalen sehr wichtig. Das Formale enthält keinerlei Bestimmungen, die es erlauben würden, sich mittels seiner unmittelbar auf Sein und Nichtsein im Gesamtzusammenhang des Seienden, im Erfahrungszusammenhang der Welt zu beziehen. Dazu bedarf es zusätzlicher Grundbegriffe, in denen Kriterien für das Seinkönnen des weltlich Seienden liegen. Über sie verfügt keine formale Konsequenzlogik. Die Schichten der Logik stehen nicht mehr oder weniger gleichrangig nebeneinander. Welterkenntnis ist letzten Endes das Ziel aller Wissenschaft. Durch alle grammatischen Formen und formalen Konsequenzverhältnisse hindurch richtet sich die theoretische Intention darauf, die Wirklichkeit zu erfassen. Sicherlich können Formenlehre und Konsequenzlogik aus dieser teleologisch funktionalen Betrachtung herausgelöst werden. Sie werden auf diesem Wege zu eigenständigen Disziplinen. Wenn das geschieht, besteht die Gefahr, dass sie aufgrund der Universalität, mit der sie alles Seiende unangesehen seiner materialen Bestimmungen betreffen, hinsichtlich ihrer Bedeutung für die (inhaltliche) Erkenntnis der Welt falsch beurteilt werden. Dem wirkt Husserl durch seine Konzeption entgegen. Die formale Logik, als noetisch-noematische Einheit betrachtet, gliedert sich nach ihrer subjektiven und objektiven Seite auf. Als noematische Disziplin ist sie formale Gegenstandslehre. Ihr gibt Husserl den Namen Mathematik. Er ordnet dieser Gegenstandslehre die gesamte mathematische Wissenschaft ein. Die Grundbegriffe der Mathematik sind »syntaktische Gebilde in forma, Ableitungsformen des A
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leeren Etwas«. Sind derartige Gegenstände überhaupt auch hinsichtlich eines möglichen Sachgehaltes gänzlich unbestimmt, so stehen sie doch in gesetzlichen Zusammenhängen zueinander, durch die sie im formalen Sinne voll bestimmt sind. Der Gegenstandslehre korrespondiert eine Disziplin, die es nicht mit Gegenständen, sondern mit Urteilen (Sätzen) zu tun hat. Sie trägt in ihrer Ausgestaltung als wissenschaftliche Theorie den Namen formale Apophantik. Ihre Grundbegriffe sind nicht Gegenstandskategorien (wie Sachverhalt, Eigenschaft, Relation, Kollektion), sondern Bedeutungskategorien (wie Begriff, Urteil, Wahrheit). Die Bedeutungskategorien bilden das Äquivalent der Gegenstandskategorien. Da das apophantische und das formal-ontologische Apriori, als Korrelate genommen, eine Einheit bilden, kann der Titel formale Logik so verwandt werden, dass er im Unterschied zur traditionellen Gebrauchsweise das Apophantische und das ontologisch Gegenständliche übergreift. (Vgl. FTL 93) In Anbetracht der im Folgenden zu schildernden Verhältnisse ist es irritierend, dass und wie Husserl eine »höchste Stufe der formalen Logik« in die Entwicklung von für ihn wichtigen Themen in seine Darstellung einbezieht. Seine Lehre vom Formalen kann auch ohne diesen radikalen Aufstufungsschritt verstanden werden. Die Theorie der möglichen Theorieformen (als »Theorie im strengen Sinne«) oder die Mannigfaltigkeitslehre realisiert den Begriff eines »durch eine Theorie solcher Form zu beherrschenden Erkenntnisgebietes überhaupt«. (Vgl. FTL 90) Husserl kommt auf es in einem Rückgriff auf die Prolegomena zu sprechen und lässt es im Begriff eines durch Definitheit bestimmten deduktiven, nomologischen Systems gipfeln. Durch ihn legt sich Husserl auf einen bestimmten Begriff von Mathematik qua formaler Gegenstandslehre fest, dessen Problematik durch die mathematische Forschung aufgedeckt worden ist. Die formalen Disziplinen sollen in einer selbst deduktiv verfahrenden Theorie von deduktiven Systemen kulminieren. Dieser Gedanke tritt in der Formalen und Transzendentalen Logik genau in derselben Weise auf wie in den Prolegomena. Sein Ziel ist eine Mathesis universalis, die als Mannigfaltigkeitslehre vom Begriff einer definiten Mannigfaltigkeit geleitet sein soll, welche eines vollständigen Axiomensystems als Grundlage bedarf. Nur es kann dafür garantieren, dass ein unendliches Gebiet insgesamt nomologisch behandelt und so im strengen Sinne theoretisch erklärt werden kann. (Vgl. FTL 99 ff.) 102
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Die Aufgipfelung der formalen Logik in der Mannigfaltigkeitslehre ist an diesem Ort deswegen interessant, weil Husserl das, was in ihr deduktiv als seiend abgeleitet wird, den Charakter dessen hat, was im vorhinein an sich selber festgelegt ist. Ist es etwa eine Versuchung, der die neuzeitliche Naturwissenschaft erlegen ist, der Welt unter der Leitung eines ihr unangemessenen Erkenntnisdeals eine solche Seinsweise zu unterstellen? Eine solche Interpretation wird der mathematischen Naturwissenschaft nicht gerecht. Der von Gödel erbrachte Nachweis der beschränkten Leistungsfähigkeit von Theorien, die auf vollständigen Axiomensystemen basieren und die damit Hand in Hand gehende Abweisung der Mathematik als einer deduktiv nomologischen Theorie ist von Husserl wohl nicht mehr zur Kenntnis genommen worden. Er hätte seiner Theorie der Vollendung der Mathematik den Boden entzogen. Kehren wir von den metamathematischen Höhen der Mannigfaltigkeitslehre zum Thema formale Urteilslehre und Mathematik zurück. Husserl befasst sich intensiv mit der Differenz und dem Aufweis der Zusammengehörigkeit von formal-logischer Urteilslehre und Mathematik. Es wird eine Mathematik als ein bloßes »Spiel« mit Symbolen, das den Bezug auf mögliche Substrat-Gegenstände unbedacht lässt, von derselben Mathematik unterschieden, die dem wissenschaftlich sachbezogenen Erkenntnisinteresse folgt. Philosophisch relevant bleibt für Husserl die Mathematik, sofern sie als der apophantisch formalen Urteilslehre zugehörig wie diese primär kategorialen Gegenstandsbezug hat, also formal ontologisch genommen wird. Der Gegenstand der Analytik ist Gegenstand in Urteilen und ihrer Formgebung. Aus ihr gehen mathematische Grundbegriffe wie Menge, Anzahl, Reihe, Größe, Mannigfaltigkeit hervor (Vgl. FTL 112) »…, so tritt in pluralen Urteilen der Plural auf, der »nominalisiert« zum Gegenstand im ausgezeichneten Sinne umgestaltet – dem des Substrates des »Gegenstandes-worüber« – die Menge ergibt. (FTL 113) Kolligierend Mengen zu bilden vermag man im Bezug auf beliebige Substrate. Solche und ähnliche Tätigkeiten sind Gegenständliches bildende doxische Aktivitäten wie die prädikativen elementaren Sinnes. Konkretisierender gesprochen: Wird die Mathematik im Sinne einer formalen Ontologie der Urteilslehre eingeordnet, so wird in ihr doxisch-aktiv gesetzt: Z. B. man kolligiert und zählt dann nicht A
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zum Spiel …, sondern im Interesse des Gebietes (z. B. der Natur), letztlich also um die betreffenden Elemente und Einheiten als ihm zugehörige zu erkennen und prädikativ (apophantisch) zu bestimmen. (Vgl. FTL 114 f.) Vorgängig und primär gilt im Rückbezug auf die Geradehineinstellung des intentionalen Bewusstsein: »Der Urteilende ist gegenständlich gerichtet und indem er das ist, hat er das Gegenständliche nie anders als in irgendwelchen kategorialen (oder wie wir auch sagen syntaktischen) Formen, die also ontologische Formen sind«. (FTL 129) Urteile schließen sich zu Einheiten von Theorien zusammen, die durch jeweilige Substratgegenstände (z. B. eine in formal-ontologischer Absicht fungierende Mathematik oder die Natur) zusammengehalten sind. Auf derartige systematische Zusammenschlüsse von Urteilen zu Theorien kommt es Husserl an. Es gibt Theorien, in denen der zu erkennende Substratgegenstand durch Be-währungen und Ent-währungen fortschreitend herausgearbeitet werden muss. Für Disziplinen der Mathematik ist das nicht der Fall. Es ist aufschlussreich, wie Husserl in diesem Zusammenhang wiederum auf die Natur zu sprechen kommt. Es mag z. B. die Idee des wahren Seins der Natur, des sie vollständig bestimmenden Begriffes, angesetzt werden im Unterschied zur Natur, wie sie auf einem gegebenen Stand von zusammenstimmenden Urteilen ist. Solche nicht in die Erkenntnis einholbaren Arten von Ideen sollte es in der Mathematik nicht geben. Was bedeuten sie, wenn man sie endlosen Erfahrungs- und Urteilsprozessen vorspannt für diese? Läge darin nicht eine idealisierende-teleologische Deutung solcher Prozesse? Es heißt bei Husserl: »Im eigenen Sinngehalt des auf die Einheit des noch unbestimmten und zu bestimmenden Gebietes gerichteten Urteilens, in ihm selbstwerdend und geworden, liegt die Idee der möglichen Fortführung der bestimmenden kategorialen Bildungen und desgleichen der Fortbildung in einer möglichen Konsequenz ins Unendliche«. (Vgl. FTL 121) Die Natur rückt so unter eine aus einem theoretisch forschenden Bewusstseinsleben stammende Idee. Sie wird zum Korrelat eines einsinnig und einstimmig ins Unendliche sich durchhaltenden Urteilsprozesses. Dies wird von mir einem einzelnen Ich gedacht. Dieses gliedert sich wie viele andere einer Forschungsgemeinschaft von Subjekten ein, die sich einer die Natur prozessual betreffenden Idee unterstellen. Das universal wissenschaftlich philosophierende Ich entscheidet also, wie es weiter gehen wird – weiter gehen soll. Es legt in diesem Entwurf zugleich die Seinsweise der 104
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Natur und eine ihr zugehörige Richtung menschlichen Welterfahrens fest, die im universalwissenschaftlichen Philosophieren expliziert und aktualisiert wird. Fällt die Welt, in der die Menschen leben, so aus, wie sie sich in den Resultaten der naturwissenschaftlichen Gemeinschaft ergibt? Oder werden diese Resultate sich nur auf die Welt, in der die Menschen leben, auswirken? Ist man aufgrund der primären Gerichtetheit des intentionalen Bewusstseins auf thematisch Gegenständliches und nicht auf sein Urteilen und dessen Urteile gerichtet, so besagt das: Man hält sich innerhalb des eigenen Bewusstseins auf, ohne sich mit ihm zu befassen. Daran ändert sich nichts, wenn wir in der Sphäre der formalen Logik stehen und die Mathematik in sie einbeziehen. »Jederzeit ist aber, wie selbstverständlich, eine Änderung der Einstellung möglich, in der wir unsere Urteile, ihre Bestandstücke, ihre Verbindungen und Beziehungen zum Thema machen; das geschieht in einem neuen Urteil zweiter Stufe, in einem Urteil über Urteile, in dem Urteile zu Gegenständen der Bestimmung werden«. (FTL 117) Beschäftigen wir uns mit den subjektiven Vermeinungen des Gegenständlichen, so werden die Urteile, die sich wesensmäßig zuerst auf Gegenstände beziehen, selber zu Gegenständen gemacht – in einem Urteilen zweiter Stufe. Der Grund für das Aufkommen dieser Einstellungsänderung liegt in der Diskrepanz, die zwischen Urteilsmeinungen und ihren gegenständlichen Erfüllungsansprüchen auftreten kann. Das abstrahierende Absehen vom Übergang zur erfüllenden Selbsthabe im Urteilsvollzug lässt die Urteilsmeinung als bloße Meinung in den Blick treten. Statt des geurteilten Sachtverhalts wird der im Urteilen erster Stufe nicht gemeinte Sachverhaltssinn »gemeint«. Urteile in diesem Sinne sind das Thema der traditionellen formalen Logik gewesen. Genauer gesagt: Sie hat diejenigen Urteilsgestalten untersucht, die notwendige »Bedingungen möglicher Adäquationen an Seiendes« sind. Die Urteilsmeinungen (Aussagebedeutungen, Sinne) bilden eine eigene Region von Gegenständen. Die Anwendung des Gegenstandsbegriffes auf die Sinne von Gegenständen ist deswegen gerechtfertigt, weil die Sinne gegenüber den Akten, die sich auf sie richten, ebenso »ideale Einheitspole« darstellen wie Gegenstände, die keine Sinne sind. Jetzt kann das Thema der apophantischen Logik präzise angegeben werden: Sie erforscht das Seiende der Sinnesregion in seiner Wesenart. Eine solche Disziplin ist, richtig A
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verstanden, unselbständiges Korrelat in einer vollen, zweiseitigen formalen Logik. Sie kann jedoch in zweierlei Weise betrieben werden: Einmal losgelöst aus ihrem gegenständlichen Bezug, so dass eine nur den Gesetzen von Konsequenz und Inkonsequenz folgende mathematische Sinneslehre entsteht; ein anderes Mal unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung auf formal Gegenständliches als eine Mannigfaltigkeit von Denkobjekten, in der Möglichkeitsbedingungen für das Sein von Gegenständen liegen. Für die um ihre Anwendung auf Gegenstände unbekümmerte reine Sinneslehre sollte Husserl zufolge der Terminus Logik nicht verwandt werden. Sie ist ein an (Seins-)Erkenntnis nicht interessiertes Spiel mit Symbolen, eine pure »Mathematik der Mathematiker« ohne ontologische Ambitionen. Richten wir die Aufmerksamkeit auf den formalen Gegenstandsbegriff, um zu verstehen, wie er für Husserl trotz seines universalen ontologischen Charakters philosophisch nur von beschränkter Relevanz ist. Die Sinne werden zu Gegenständen, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Verhältnis zu den Gegenständen, deren Sinne sie sind, herausgelöst werden. Sie erfüllen –für sich genommen – keine formal-ontologische Funktion. Anders steht es mit den formalen Korrelat-Gegenständen der Sinne. Die für sie geltenden Gesetzmäßigkeiten betreffen alles Gegenständliche überhaupt. Aufgrund ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit gelten sie universal für Gegenstände eines jeden möglichen Sachgehaltes. Alles ist unter ihnen befasst. Zugleich aber ist zu bedenken, dass die formalen Gegenstände und ihre syntaktischen Beziehungen Resultate gewisser kategorialer Aktionen sind, ausgeübt an Gegenständlichem anderer Art. Das begrenzt den Seinssinn und die Weise der Universalität des formal Gegenständlichen. Um das zu verdeutlichen, sei eine andere Redemöglichkeit von Gegenständen herangezogen. Der Begriff des Gegenstandes wird von Husserl auch so gefasst, dass er formale Gegenstände, wie sie in der idealen logischen Sphäre auftreten, und reale, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände übergreift. Beide Arten von Gegenständen stellen ideale Einheiten dar, auf die sich mannigfaltige Erfahrungs- und Urteilsvollzüge richten, in denen sie als einheitlich dieselben identifiziert werden. Husserl schreibt ihnen je eine eigene Weise der Erfahrung und Selbstgebung zu. Die beiden verschiedenen Arten von Gegenständen werden zur Einheit eines weiteren Begriffs von Gegenstand, der gegen ihre Differenzen unempfindlich ist, zusammen106
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genommen. Durch dieses Vorgehen wird die Reichweite des formal Gegenständlichen trotz seiner Universalität eingeschränkt. Die Begrenzung des formalen Gegenstandsbegriffes und seiner Universalität zeigt sich in ihrer vollen Bedeutung erst, wenn zusätzlich folgendes bedacht wird. Der formale Gegenstand überhaupt, samt allen seinen Ableitungsgestalten und Formgesetzen, erstreckt zwar seine Herrschaft über alle möglichen Gegenstände, er selber ist jedoch als Resultat einer totalen formalisierenden Inhaltsentschränkung in seiner »Unbestimmtheit« nur eine Art von Gegenstand, auf die erfahrendes-urteilendes Bewusstsein gerichtet sein kann. Reale Gegenstände der sinnlichen Erfahrung sind für das intentionale Bewusstsein in demselben weiteren Sinne Gegenstände wie logisch-ideale. Beide Arten von Gegenständen kommen, wie erwähnt, zum Beispiel darin überein, intentionale Einheiten von noetischen Bewusstseinsmannigfaltigkeiten sowie Substrate von Prädikationen zu sein. Das ist keine Einsicht der formalen Analytik. Dieser Gegenstandsbegriff zeigt sich in einer Reflexion, die das formal Gegenständliche selber in seine Grenzen weist. Das Formale ist aus kategorialen Aktivitäten erwachsen und nur daraus in seiner Seinsweise evident zu machen. Die kategorialen Aktivitäten aber wurzeln in Erfahrungen von realen Gegenständen, die ihre Weise der Gegebenheit haben und Strukturen von eigener Art aufweisen. Unter diesem Aspekt kann es nicht dabei bleiben, dass die formal-ontologischen Gesetzmäßigkeiten die Seinsmöglichkeiten des Seienden schlechthin bestimmen. Denn es ist ein zentrales Lehrstück der Phänomenologie, dass den realen Gegenständen ein »Seinsvorzug« gegenüber dem ideal Gegenständlichen zukommt, welches sein Sein kategorialen Aktionen verdankt, aufgrund deren nur noch das von jedem Sachgehalt entleerte Formale und seine Gesetzmäßigkeiten als eine universale Gegenstandssphäre eigener Art übriggeblieben sind. »Realität hat einen Seinsvorzug vor jedweder Irrealität, sofern alle Irrealitäten wesensmäßig auf wirkliche oder mögliche Realität zurückbezogen sind«. (FTL 177) Die Formale und transzendentale Logik hat in ihrem zweiten, genetisch auf die Erfahrung rekurrierenden Abschnitt diese These zur Voraussetzung. Das Gegenständliche, von dem die formalen Disziplinen Aussagen machen, verstattet eine universale Anwendung auf alles material-inhaltlich bestimmte Seiende. Es selber ist dadurch charakterisiert, dass A
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es von allem Seins- und Sachgehalt leer ist. »Das Eigentümliche der Analytik, das ihren Formbegriff bestimmt, ist ja dies, dass sie die in den möglichen Urteilen und Erkenntnissen an bestimmte Gegenstandssphären bindenden Kerne (die Erkenntnismaterien) zu beliebigen, nur als identisch festzuhaltend gedachten Kernen macht, zu Modis des Etwas überhaupt«. (FTL 158) Das Formal-Gegenständliche hat also im Blick auf mögliche Sachgehalte den Charakter des unbestimmt-offenen, das durch beliebig variierendes Seiendes sachhaltiger Art gefüllt werden kann; und zwar ohne dass dessen allgemeine Eigenart für es zugänglich wäre, sofern man von ihm ausginge und es unmittelbar auf material-inhaltlich differenzierte Erkenntnismaterien bezöge. Es muss also als Vorgabe für eine formale Ontologie und ihre Anwendung auf Reales eine dieses betreffende mundane Ontologie angesetzt werden, welche die Form einer möglichen Erfahrungswelt erfasst; und in diesem Sinne – wenn man will – formal ist. Hinsichtlich der Anwendbarkeit der analytisch-formalen Ontologie gilt also, dass sie nicht unmittelbar auf material differenzierte (regionale) Ontologien, sondern auf eine allgemeine mundane Ontologie und deren Eidos bezogen ist. Die »Kerne« der analytisch-formalen Ontologie fungieren im Bezug auf alles, was den Formen der mundanen Ontologie untersteht, sozusagen als Leerstellen. Als sie selber sind sie völlig durch formal-logische Syntaxen bestimmt. Auf dem Wege einer solchen ontologischen Vermittlung sind die konstruktiv erzeugten, aus formalen Syntaxen resultierenden Kerne auf sachhaltige Individuen zurückbeziehbar. Genetisch konstitutiv besagt das, dass sie durch Abstraktion von diesen her verstanden werden müssen. Die Formalität und Universalität des Gegenständlichen der formalen Logik ist um den Preis einer völligen Entleerung von denjenigen Grundbestimmungen zustande gekommen, die das Seiende kennzeichnen, wie es als welthaftes von einem Subjekt, das selber in der Welt lebt, erfahren wird. Es steht – mit anderen Worten – nicht schlechthin in ontologischer Funktion, so dass es die Seinsmöglichkeiten des welthaft Seienden bestimmte. Das lässt sein formaler Gegenstandscharakter nicht zu, der das Resultat freier menschlicher Aktivitäten ist. Das erfahrene und erfahrbare Seiende der Welt kann nur durch eine Ontologie von nicht formal-analytischem Charakter hinsichtlich seiner Seinsmöglichkeiten bestimmt werden. Nur eine solche mundane Ontologie trägt der Welt, wie wir sie aus der Er108
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fahrung kennen, Rechnung. »Bestimmen wir den Begriff des analytischen Apriori durch die reine und in voller Weite gefasste formale Analytik, so steht also in Frage ein neues synthetisches Apriori, oder bezeichnender ausgedrückt, ein kernhaftes, ein sachhaltiges und des näheren ein universales Apriori dieser Art, das alle sachhaltig-apriorischen Sondergebiete in eine Totalität zusammenbindet. Mit anderen Worten, wir fragen: Ist alles Seiende, konkret sachhaltig bestimmt und bestimmbar gedacht, nicht wesensmäßig Seiendes in einem Seinsuniversum, einer »Welt«? … ist danach nicht jedes sachhaltige Apriori zu einem universalen Apriori gehörig, eben dem, das für ein mögliches Universum des Seienden die apriorische sachhaltige Form vorzeichnet? Es scheint also, dass wir jetzt auf eine sachhaltige, eine eigentliche Ontologie lossteuern müssten, durch welche die bloß analytisch-formale Ontologie zu ergänzen sei.« (FTL 158; vgl. auch ebd. 296 ff.) Zu einer solchen »real-sachhaltigen Ontologie« gehören als Grundbegriffe, die die Seinsweise des Seienden bestimmen, Zeitlichkeit, Individualität, sinnliche Anschauung und Invarianz in Spielräumen des Variierens. Allzeitlichkeit als Überzeitlichkeit, reine Denkbarkeit, Irrealität, exakte Bestimmtheit und strenge Identität gehören nicht zu den Eigenschaften des Gegenständlichen, das in einer eigentlichen Ontologie Thema ist. Die zuvor behandelte Eidetik ist also in einer anderen Seinssphäre zu Hause als die formale Logik. Eidetisch Allgemeines und formal Allgemeines sind dem Seinsstatus nach grundverschieden. Man muss sich angesichts der Unterscheidung von formal-analytischer und sachhaltiger, synthetischer Ontologie wiederum die Grundüberzeugung Husserls vor Augen halten, dass nur die Welt, wie sie in und aus Erfahrung ist, für uns ursprünglichen Seinssinn hat. Darüber hinaus kann sich das Subjekt nicht in ein Reich des reinen Denkens erheben, in dem es übersinnliches Seiendes als wahrhaft Seiendes erfassen könnte. Alles reine Denken kommt nur durch Loslösung aus dem welterfahrenen Leben zustande. Sein Gegenständliches bleibt in seinem Seinssinn an weltlich Erfahrenes und die Bedingungen seiner Erfahrbarkeit zurückgebunden. Das gilt für das gesamte Reich des Formal-Analytischen. Das Formale darf also nicht nur nicht als das, was in jeder möglichen Welt herrscht, aufgefasst werden, sondern es ist das, was in sich selber keine Anweisung enthält, wie sich zu unserer Welt und der sie »tragenden« Subjektivität sollte gelangen lassen. A
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Als Beleg für die vorgetragene These sei auf das Schlusswort der Formalen und Transzendentalen Logik zurückgegriffen. Dort heißt es von der analytischen (apophantisch-formalontologischen) Logik, dass sie einerseits »vermöge ihrer leer-formalen Allgemeinheit alle Seins- und Gegenstands- bzw. Erkenntnissphären umspannt«. (FTL 296) Andererseits aber enthält sie nichts für eine mundane Ontologie (und das ihr zugehörige Logische) Spezifisches. Mundane Ontologie stellt sich die Aufgabe, »dass sie das universale Apriori einer in reinem Sinne möglichen Welt überhaupt entfaltet, die als Eidos durch die Methode der eidetischen Variation von der nur faktisch gegebenen Welt aus, als dem dirigierenden »Exempel« konkret entspringen muss«. (FTL 296) Ist dann die formale Logik für die Philosophie als universale Weltwissenschaft nicht irrelevant? Kommen deren Deskriptionen und Variationen nicht ohne spezifisch Formales aus? Wenn es so ist, liegt darin nicht, dass die Welt von ihr her durch ein Ideenkleid idealisiert und verhüllt würde. (Vgl. EU 38 ff.) Eine solche These ist an eine geschichtliche Auswirkung der neuzeitlichen Naturwissenschaft gebunden, welche die Bezüge zwischen Welt, Welteidos und Formalität auf dem Wege einer geometrischen Idealisierung und Mathematisierung entstellt hat. Die Weltlogik hat eine Grundstufe. Husserl nennt sie »transzendentale« Ästhetik: »Sie behandelt das eidetische Problem einer möglichen Welt überhaupt als Welt »reiner Erfahrung«, als wie sie aller Wissenschaft im »höheren Sinne« vorangeht, also die eidetische Deskription des universalen Apriori, ohne welches in bloßer Erfahrung und vor den kategorialen Aktionen (…), einheitlich Objekte nicht erscheinen und so überhaupt Einheit einer Natur, einer Welt, sich als passive synthetische Einheit nicht konstituieren könnte«. (FTL 297) Das Formale ist demnach auch nicht das, was in jeder möglichen Welt Geltung hat. Es gilt, wenn es als Gegenständliches in seiner Seinsart genommen wird, nur für eine rein gedacht Welt als bloßes Gedankenkonstrukt. Unsere Welt aber ist in aktuellem Bewusstsein erfahrene Welt. Ihre invarianten-strukturellen Züge sind aus der methodisch variativen Abwandlung von Welterfahrung, die das Apriori einer Erfahrungswelt ergibt, zu gewinnen, nicht aus einer Formalisierung, die die grundlegenden Seinscharaktere des sinnlichen subjektiven Erfahrens und seiner gegenständlichen Korrelate preisgegeben hat – zugunsten eines formalisierten Gegenstandsbegriffes und der ihm zugehörigen ideal-exakten Bestimmungen. 110
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Sogleich anschließend vollzieht Husserl in problematischer Weise den Übersprung zu seiner späteren These, welche den Geist der Neuzeit betrifft. Er fragt sich: Wenn die Korrelationseinheit von apophantisch-(mathematisch)formaler Ontologie alle Seins- und Gegenstandssphären umspannt, was leistet sie dann im Rückbezug auf dasjenige, was in der mundanen Ontologie einer Welt-Logik geleistet wird? Beiden Ontologien verschiedene Begriffe von Gegenständlichkeit zuzuweisen, das reicht nicht aus. Die Indienstnahme des analytischen Logos und seines On zu Zwecken der Welterkenntnis im Rahmen der mundanen Ontologie ist ein Punkt, der Husserl interessiert. Könnte es dem analytisch formalen On widerfahren, dass es im Rahmen der Raumzeitlichkeit anwendbar würde und dabei die ihm eignende weltunbezüglich gewordene Reinheit verlöre, indem es mit Raum- und Zeitindices versehen in empirischen Theorien zur Darstellung von Erfahrenem in seiner Gesetzmäßigkeit angewandt würde? Schließen sich analytisch formales On und im Realen einer mundanen Ontologie auftretendes On, wie es in der neuzeitlichen Naturwissenschaft der Fall sein mag, zur Welterkenntnis zusammen, dann liegt keine Aufstufung von Ontologien vor, sondern mundane Ontologie ist als eine theoretisch-wissenschaftliche Grunddisziplin überflüssig geworden. Die hochstufige Konstituiertheit des analytischen Formalen zu einer eigengearteten Sphäre von Gegenständen ließe sich als nebensächlich abtun, wenn diese in der mathematischen Erfassung der Welt eingesetzt, als der Welt angemessen gelten würde. Husserls Rückgang auf die Welt als Korrelat und Konstitutum des Bewusstseinslebens könnte für eine solche Welterkenntnis nicht nur unergiebig, sondern auch irrelevant sein, weil dem empirisch Erfahrenen nur durch seine mathematische Darstellung Rechnung getragen würde. Und dies wiederum, weil die Welt einer solchen Darstellung gemäß verfasst wäre. Dann käme man nicht auf den Gedanken, die Erfahrungswelt würde der Seinsweise von formal Gegenständlichem so unterworfen, dass dadurch die Eigenart der Welt als Korrelat des intentionalen Bewusstseinslebens zum Verschwinden gebracht wäre. Diese Eigenart bliebe der objektivierenden Welterfassung gegenüber different. Sie aber handelte in einem gewissen Sinn von der Welt (ihrem Sein nach). Husserls Konzeption des Bezuges der Welt qua Lebenswelt und der Seinssphäre des Formalen steht der angezeigten Sicht auf den Zusammenhang von Formalwissenschaft und empirischer RealwissenA
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schaft im Wege. Diese wird plausibel, wenn das Weltverhältnis des Menschen-Ich in einer Weise bestimmt wird, die von seiner Beschreibung durch Husserl abweicht, insofern es selber die Welt in eine seiner Eigenartung gegenüber differente Objektivität entlässt.
§ 11 Das transzendentale Ego Indem Husserl sich konsequent in der Korrelation von Gegenstandserleben und (erlebtem) Gegenstand hält, stößt er auch auf das Ich, das Ego, das im Bezug auf seine Erlebnisse und die darin vermeinten Gegenstände lebt. Für das Ich, sofern es losgelöst vom Problem einer universalen Welterkenntnis in seiner Eigenart behandelt werden kann, bringt die Phänomenologie kein sonderliches Interesse auf. Wichtig ist ihr der unauflösbare Bezug des Ich zu den Gegenständen, der als konstitutiv verstanden wird. Eine solche Betrachtungsweise des Ich ist für das übliche »natürliche« Vorstellen befremdlich. Denn sie zieht ja Dasein und Sosein der Gegenstände in den Umkreis des Subjekts hinein. Sie nötigt dazu, das Ich so zu erfassen, dass es für die Objektivität der Gegenstände aufzukommen vermag. Dazu ist nur ein sehr ausgeweiteter und spezifischer Ichbegriff in der Lage. Nachdem das Ich als unumgehbares Thema der phänomenologischen Problemsphäre aufgedeckt ist, ist diese nach drei Titeln für verschieden gerichtete Forschungen aufzugliedern: nach ego-cogito-cogitatum. Damit ist das Ego als letzter Bezugspunkt aller phänomenologischen Gegenstandsthematik herausgestellt, was – wie zu erinnern – keineswegs selbstverständlich ist. Husserl spricht diesen wichtigen Sachverhalt in seiner Doppelseitigkeit deutlich aus: »Gegenstände sind für mich, und sind für mich, was sie sind, nur als Gegenstände wirklichen und möglichen Bewusstseins.« Aber zugleich gilt, »dass das transzendentale Ego (in der psychologischen Parallele die Seele) nur ist, was es ist, in Bezug auf intentionale Gegenständlichkeiten.« (Vgl. Cart. Med. 99) Innerhalb des Bezugsganzen von ego-cogito-cogitatum lassen sich am Ichpol einige Unterscheidungen vornehmen. Das Ich lebt nicht nur naiv oder reflektierend den Gegenständen oder seinen Erlebnissen zugewandt, sondern ist auch für sich selbst seiendes; d. h. es konstituiert sich kontinuierlich als identischen Pol aller seiner Erlebnisse. Über die leere Identität, Ichpol zu sein, hinaus gewinnt das Ich 112
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Das transzendentale Ego
aus dem konstituierenden Leben nähere Bestimmtheit. Erfahrungen, Erkenntnisse und Entscheidungen schlagen sich in ihm nieder. Es macht sie sich zu eigen, hält an ihnen fest, verwirft sie eventuell wieder usw. Es kommt zur Ausbildung bleibender Habitualitäten, durch die das Ich sich individuell besondert und schließlich personalen Charakter erwirbt. Diese absondernde Fixierung des Ich innerhalb der Struktureinheit von ego-cogito-cogitatum darf einen nicht daran hindern, zu sehen, dass das Ich sein konkretes Leben nur »in der strömenden Vielfalt seines intentionalen Lebens und den darin vermeinten evtl. als seiend für es sich konstituierenden Gegenständen« hat. (Vgl. Cart. Med. 102) Auch gehören dem Sein der Gegenstände aufseiten des Ich gewisse Habitualitäten zu, durch die es ihres Daseins und Soseins sicher ist, resp. sich dessen immer wieder vergewissern kann. Durch seine jeweiligen Erfahrungen mit Gegenständen ist dem Ich außerdem ein Rahmen vorgezeichnet, innerhalb dessen es seine weiteren Erfahrungen mit den Gegenständen macht. So vermag das Ich kommende Erfahrungen in einer gewissen Weise zu antizipieren. Husserl nennt das Ich, sofern es das wirkliche und potentielle Bewusstseinsleben in sich befasst, in Anlehnung an Leibniz Monade. Erst unter dem Gesichtspunkt des Monadenbegriffes wird die Phänomenologie zu einer universalen Ich-Philosophie. Aber unter diesem Aspekt wird zugleich das gesamte intentionale Leben und sein Erlebtes zur Bestimmung dessen, was das Ich ist, verwandt. Das Wort Monade ist also ein Titel für die nichts außerhalb ihrer lassende Einheit von Bewusstseinsleben und Welt unter dem Aspekt des Ego. Nur unter dieser Voraussetzung trifft es zu, dass die phänomenologische Auslegung des Ego alle konstitutiven Probleme in sich einbegreift, in universalem Sinne Egologie ist. Das Bewusstseinsleben des Ich besteht ja darin, gegenständliche Sinneseinheiten durch synthetische Verknüpfung von noetischen Mannigfaltigkeiten zu bilden. Schärfer gesagt: Im fließenden Strom des Erlebens und des Erlebten bildet sich dem Bewusstsein auch sein eigenes Sein. Davon kann nicht abgesehen werden, wenn es um eine philosophische Bestimmung des Ich geht. So ist es klar, dass das Problem der phänomenologischen Auslegung dieses monadischen Ego (das Problem seiner Konstitution für sich selbst) alle konstitutiven Probleme überhaupt in sich befassen muss. In weiterer Folge ergibt sich die Deckung der Phänomenologie dieser Selbstkonstitution mit A
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der Phänomenologie überhaupt. (Cart. Med. 102 f. u. 175 f. vgl. auch Pass. Synthesis 218 ff.) Als Einheit aufzufassen und als dasselbe zu identifizieren und unter der Leitung dieser Maßgabe zu unterscheiden, diese »Grundtätigkeiten« des Bewusstseins betreffen nicht nur die einzelnen Gegenstände, denen das Bewusstsein in abgehobenen Erlebnissen zugewandt ist, sie bewirken auch das Zustandekommen des Gesamtzusammenhangs aller Gegenstände zur Einheit einer Welt, die ihre feste Form hat. Sie ist das universale cogitatum, das im komplizierten, aber geregelten Zusammenspiel aller cogitationes seinen Seinssinn empfängt. Daraus folgt aber, dass die unhinterschreitbare Ausgangsbasis für die Bildung und Formung gegenständlicher Einheiten und ihrer Zusammenhänge die Icheinheit ist, von der gilt: »Ich bin für mich selbst und mir immerfort durch Erfahrungsevidenz als Ich selbst gegeben.« (Cart. Med. 102) Die Icheinheit bildet sich im inneren Zeitbewusstsein gemäß den Formgesetzen, die das Zeitbewusstsein beherrschen. Wie weit das Ego von sich selber apodiktische Gewissheit haben kann, muss eigens untersucht werden. Diese Aufgabe wird von Husserl einer Kritik der transzendentalphänomenologischen Erkenntnis zugewiesen. (Vgl. Cart. Med. 177 f.) Von dieser innersten Einheit aus erstreckt sich die Herrschaft der Formgesetze des Zeitbewusstseins und des ihnen unterstehenden Ich auf die Gesamtheit der cogitationes. Die Regeln des Zeitstromes geben allen Erlebnissen ihre unumstößliche Ordnung im Fluss der Impressionen, Retentionen und Protentionen, in dem sich die Einheit des Ich bildet. Die Einheit von fließendem, strömendem Erleben und festen, starren Strukturen, in denen sich das Fließen vollzieht, ist das Kennzeichen der Zeitlehre, wie sie in den Cartesianischen Meditationen angedeutet ist. Hier wie anderswo erweist es sich als unbefriedigend, dass Husserl Zeitlichkeit oft nur metaphorisch als Fließen und Strömen beschreibt, denen eine Formgesetzlichkeit zugeordnet ist, die das Fließen und Strömen ordnet. Wir übergehen hier die schwierigen Fragen, die die Zeitproblematik mit sich führt. Sie werden im zweiten Teil der Arbeit durchgesprochen. Wir haben gesehen, in welcher Weise Husserl das ichliche Leben in seiner Ganzheit bestimmt. Dabei gewinnen einige Charaktere des intentionalen Erlebens eine neue, wichtige Bedeutsamkeit. Jedes aktuelle intentionale Erlebnis hat seine Potentialitäten, die von ihm aus 114
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Das transzendentale Ego
aktualisiert werden können. Potentialitäten sind solche ichlichen Könnens. Die jedem aktuellen Erleben zugehörigen Potentialitäten geben dem Ich die Anweisung, die Horizonte, in denen sein aktuelles Erleben steht, zu enthüllen. Potentialität des Erlebens und Horizonthaftigkeit des Gegebenen sind die zwei Seiten eines Strukturganzen. Aus dieser Struktur des Erlebens des Ich folgt für jedes cogitatum und erst recht für das universale Weltcogitatum seine Unabgeschlossenheit und prinzipielle Unabschließbarkeit. Die Explikation der Erlebnishorizonte kann nicht zu einem Ende gelangen, da zur Struktur von Potentialität und Horizonthaftigkeit die Bestimmungsmomente der Offenheit und des Wandels gehören. Auf diese Weise wird jedes aktuelle cogito durch die Strukturen des Erlebens selber in eine dynamische Bewegung hinein genötigt, deren Endziel – wie schon ausgeführt- nur als eine Idee verstanden werden kann, die unerreichbar sein muss, weil ihre Einholung durch das intentionale Leben wesenhafte Strukturmomente dieses Lebens aufheben würde. (Vgl. Pass. Synthesis 211 ff., 433 ff., Beilage XXVIII, ferner Krisis 268 f., 349 ff., Beilage I u. II, u. 387 ff., Beilage IV) Aber wiederum muss zugleich festgehalten werden: Die Wandelbarkeit und Offenheit des monadisch-ichlichen Lebens darf nicht so verstanden werden, als stehe sie zur Lehre von den ontologischen Formen im Gegensatz. Das genetische Geschehen führt vielmehr zu einem Stufenbau mit festen noetischen Formensystemen und ontologischen Strukturen. »Erst durch die Phänomenologie der Genesis wird das Ego als ein unendlicher, in der Einheit universaler Genesis verknüpfter Zusammenhang von synthetisch zusammengehörigen Leistungen verständlich – in Stufen, die sich durchaus der universalen verharrenden Form der Zeitlichkeit fügen müssen, weil diese selber sich in einer beständigen passiven und völlig universalen Genesis aufbaut, die wesensmäßig alles Neue mit umgreift. Dieser Stufenbau erhält sich im entwickelten Ego als ein verharrendes Formensystem der Apperzeption und somit der konstituierten Gegenständlichkeit, darunter eines objektiven Universums von fester ontologischer Struktur, und dieses Sich-erhalten ist selber nur eine Form der Genesis.« (Cart. Med. 114) Passivität und Aktivität im Hinblick auf das ihnen zugehörende Seiende bringen ein Problem mit sich. Um es deutlich zu machen, sei an Voraufgegangenes angeknüpft. Die Untersuchungen zur Zeitlichkeit und zum Werden des Ich gehören mit zur genetischen Phänomenologie. Das besagt für ihre unterste Stufe: Icheinheit bildet sich priA
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mär bereits in den passiven Synthesen des Zeitbewusstseins. Durch die Wiedererinnerung und auf ihr aufbauende Aktivitäten wird sie zum bewusst gehabten »Besitz«, in dem Selbigkeit und Wandel des Ich zusammengehalten sind. Es ist also zuunterst die den Zeitfluss beherrschende passive Synthetik, die für Einheit und Selbigkeit des Ich aufkommt. Durch sie ist es zugleich an die »Sinnenwelt« gebunden, die von vornherein mit aus der Perspektive der Icheinheit gesichtet wird. Wenn die passive Ichbildung aus dem Zeitfluss heraus nicht »von selber« zu einem aktiv vermöglichen Ich führen würde, könnten dessen Leistungen im Bezug auf sich selber wie auf die höherstufige Weltkonstitution als sekundär angesehen werden, als Zutaten eines frei vermöglich tätig werdenden Ich zu einem fundamentalen IchWelt-Bezug. Wären in Menschen-Ichen nicht transzendentale Ichsubjekte tätig geworden, um den Stufungsbau, der uns heute in der fertig seienden Welt vorliegt, hervorzubringen, so wäre nicht einzusehen, wie er hätte zustandekommen sollen. Das heißt aber eben, dass in Menschen-Ichen und ihrer Wahrnehmungswelt transzendentale Ichsubjekte, ohne dass von ihnen gewusst worden ist, konstituierend aktiv gewesen sein müssen. An ihren wissenschaftlichen und kulturellen Leistungen knüpft die intentionale Analyse an und bezieht sie auf ihre verborgen gebliebenen transzendental ichlichen Konstitutionsquellen zurück. Bezieht man den Begriff genetisch auf eine so herausgestellte Sachlage, dann hat das gravierende Auswirkungen auf die Rede vom Konstituieren. Die Äquivalenz von Selbstgegebensein und Sein in der Hinsicht auf ihre Rückbezogenheit auf ein erschauendes Konstituieren problematisiert sich. Erst relativ spät stößt Husserl darauf, dass die Konzeption der Einigung von passiver Icheinheit und ihrem Weltbezug einerseits und frei vermöglich getätigter ichlicher Weltproduktion andererseits es nötig macht, ihr eine teleologische Geschichtskonzeption zugrunde zu legen. In sie muss der Rückgang auf das eine, einzige phänomenologisierende Ich eingebettet werden. Dieses kann sich dann auf eine menschengeschichtlich bereits konstituierte Welt, die Natur- und Kulturwelt ist, beziehen. Es muss aber dann auch selber eine es übergreifende Einbettung in das zeitlich-teleologische geschichtliche Weltwerden erfahren, deren Verträglichkeit mit dem Rückzug auf das transzendentale Ichsubjekt in einer aktuell zu tätigenden, den 116
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Die Intersubjektivitt
Zeitfluss in absoluter Freiheit durchbrechenden Epoché, die ihm die Welt als sein Konstitutum zugänglich macht, geprüft werden muss. Bei Husserl tritt die angedeutete Einigung zweier Konzeptionen, die keineswegs von vornherein zusammenpassen, wie eine komplettierende Ergänzung der einen früheren durch die andere spätere auf. Im übrigen dürfte sich das Zueinander von Passivität und Aktivität in der Bildung der Icheinheit schwerlich säuberlich aufdröseln lassen unter dem Gesichtspunkt der Individuierung von Monaden, bevor Menschen-Iche in Betracht kommen. Haben diese sich dann nicht bereits so konstituiert, dass der uninteressierte Zuschauer in der transzendentalen Epoché sie nicht mehr konstituieren kann? Für ihn bliebe nur das leer-allgemeine Wissen, dass es mit Ichmonaden so steht, übrig. Anders sieht es aus, wenn es um identisch durch Iche reproduzierbare Konstitutionsleistungen eines Ich geht, die zu allen Ichen zugänglichem Allgemeinem führen. Zum Ende des nächsten Paragraphen und im zweiten Teil der Arbeit wird auf die Probleme, die sich hier auftun, näher eingegangen.
§ 12 Die Intersubjektivitt Wir haben bisher nur vom einzelnen Ich gesprochen und die Intersubjektivitätsfrage ausgeschaltet. Dieses Vorgehen ist durch Husserls eigene Behandlungsweise des Problems der Ichmehrheit legitimiert. Es ist auch naheliegend, weil Husserl die Darstellung des Problems der Fremderfahrung erst spät und für sich isoliert veröffentlicht hat, so dass die Phänomenologie bis dahin eine thematische Lücke aufwies und Missverständnissen ausgesetzt war. In der fünften Cartesianischen Meditation zeigt Husserl, dass die Methode der intentionalen Analyse auch die Intersubjektivitätsproblematik bewältigen kann. Er sieht dadurch den Nachweis der Haltlosigkeit des Einwandes erbracht, die Phänomenologie sei ein Solipsismus. Die Konstitution der Intersubjektivität stellt ein spezielles Konstitutionsproblem dar und verwandelt zugleich die ganze Konstitutionslehre, indem sie diese auf eine höhere Ebene hebt, auf der sich die Phänomenologie vollendet. Husserl geht das Problem der Intersubjektivität konsequent im Sinne der Intentionalanalyse an. Er vermag es jedoch nur durch eine Konstitutionsleistung ganz eigener Art zu lösen. Es ist eine Folge dieses A
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Vorgehens, dass Husserls Lösung den Anschein der Konstruktivität und Künstlichkeit erweckt. Sie ist dementsprechend oft kritisiert worden. Der Vorwurf des Solipsismus ist allerdings von vornherein angesichts des methodischen Grundcharakters der phänomenologischen Erklärungsweise nicht so plausibel, wie es zunächst scheint. Wir wollen das Recht dieser Behauptung stärker machen und damit zugleich die Eigenart der Husserlschen Problemstellung verdeutlichen. (Vgl. Held 1972 u. Theunissen 1965) Ist das Gegebene aus den subjektiven Sinnesleistungen, in denen es zur Gegebenheit kommt, in seiner Seinsweise evident zu machen, so gibt es keinen Rechtsgrund, ein Gegebenes »wegzuleugnen«. Stößt man z. B. auf Erfahrenes, dass sich wie ein anderes Subjekt darstellt und wie ein solches aufgefasst wird, dann liegt darin für die intentionale Analyse die Aufgabe beschlossen, zu zeigen, wie diese Erfahrung zustande kommt. Allerdings liegt im Falle der Fremderfahrung eine durch ihre einmalige Besonderheit bedingte Schwierigkeit vor. Sie hat ihre Ursache im methodischen Aufbau der Phänomenologie selber. Die Reduktion auf mein eines und einziges transzendentales Ego lässt die gesamte Welt zum phänomenalen Seinssinn werden, der sich zunächst nur in meinem intentionalen Leben bildet. Eine andere Seinsweise als die der Relativität von gegenständlichen Sinneseinheiten, die im Bewusstseinsleben erscheinen, auf mein Bewusstseinsleben kommt dem welthaft Seienden nicht zu. Der Welt fehlt bislang der Charakter des mein Subjektives Überschreitenden. Zwar weist sie auch in dieser begrenzten Perspektive schon eine bestimmte Objektivität auf, aber nicht die Objektivität des für alle Menschen-Iche und für alle transzendentalen Ichsubjekte Gemeinsamen. Man setze diese Problemstellung mit der zum Ende des letzten Paragraphen exponierten Fragestellung in Beziehung. Die transzendentale Grundentscheidung und ihre Implikation machen erst die Frage nach den anderen Ichen schwierig, sofern diese nämlich zunächst auch als Objekte in der Wahrnehmungswelt begegnen. Die Anwendung der Reduktion und der aus ihr folgenden Seinsthese würde das andere Subjekt als ein in der Welt begegnendes Objekt zu einem phänomenalen, gegenständlichen, spezifisch menschlichen Seinssinn machen. Es soll aber transzendentales Subjekt sein, das selber Welt als gegenständliche Sinneseinheit konstituiert – wie ich selber als transzendentales Ego. Die Anwendung des üblichen phänomenologischen Konstitutionsverfahren auf andere 118
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Menschen würde in der Tat zur solipsistischen Leugnung des Seins anderer Subjekte als Subjekte führen. Aber das würde auch besagen, dass die anderen Menschen nicht so, wie sie erfahren werden, verständlich gemacht, sondern zu gegenständlichem Sein verfälscht würden. Und dies widerspricht wiederum der phänomenologischen Forderung, die Gegenstände so zur Selbstgegebenheit zu bringen, wie sie sich in der Erfahrung geben. (Vgl. Cart. Med. 177) Wir haben bereits im Falle der Welterfahrung gesehen, dass Gegenständen eine Art von Gegebensein eignen kann, die ein adäquates, voll erfülltes Gegeben-werden-können ausschließt. Kann es nicht etwas geben, das aus prinzipiellen Gründen nicht zur Selbstgebung kommen kann? Kann nicht der Fall eintreten, dass dies gerade an und in einem gegenständlich Selbstgegebenen evident wird? Seine transzendentale Phänomenologie hat Husserl in die schwierige Lage gebracht, eine solche merkwürdige Konstitutionsleistung konstruieren zu müssen, um dem Seinssinn anderes Ich, alter ego gerecht werden zu können. Die Aufklärung der Konstitution des alter ego erfordert einige vorbereitende Schritte, die der eigentlichen Intentionalanalyse noch vorausliegen, für ihre Durchführung aber unerlässlich sind. Denn auch die Fremderfahrung, die jedem von Kindestagen an vertraut ist, hat ihren komplizierten, verborgenen Wesensbau. Dass man diesen in seiner Erfahrung des anderen Menschen nicht wiederfindet, ist nicht ohne weiteres ein Argument gegen Husserls Theorie der Intersubjektivität. Diese Überlegung hat zum Beispiel dann kein Gewicht, wenn man Husserls Problemstellung und die aus ihr folgenden Voraussetzungen mitmacht. Wir gehen erst einmal diesen Weg. Die anderen Menschen werden nicht nur als besonders gestaltete Naturobjekte erfahren, sondern als psychophysische Einheiten. Darin liegt, sie kommen »als Subjekte für diese Welt, als diese Welt erfahrend« zur Anschauung. Das Intersubjektive spielt aber auch noch in anderer Weise in die Erfahrung hinein. Wird die Welt doch immer schon, wenn wir in der natürlichen Einstellung stehen, als Welt-für-jedermann erlebt, in der alles intersubjektiv zugänglich und allgemein »beredbar« ist. Hinzu kommt, dass unsere Erfahrungswelt zahllose Bestimmungen aufweist, die aus der geistigen Tätigkeit von Subjekten stammen. Die gesamte Kultur wird als intersubjektiv apperzipiert. Die Welt-für-jedermann, in der wir uns als Menschen unter Menschen finden, ist auch in diesem Sinne die obA
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jektive Welt. Der Sinn dieser Rede von Objektivität bestimmt sich durch den Bezug auf das Für-jedermann. Hat man sich darüber Klarheit verschafft, was alles zum intersubjektiven Bestand der Welt gehört, dann besteht die Möglichkeit, reflektierend zu diesem Bestand Stellung zu nehmen. Es soll in einer thematisch begrenzten Epoché von ihm abgesehen werden. Die Durchführung dieser Epoché lässt mein transzendentales Ego und das ihm Eigene (seine Eigenheits-, seine Primordialsphäre) übrig, indem sie alles, was aus fremden Sinngebungsleistungen stammt, und das Fremdsubjektive selber abstraktiv abblendet. (Vgl. Cart. Med. 124 ff.) Eine solche Abstraktion darf nicht im natürlichen Sinne missverstanden werden. Es geht nämlich nicht darum, sich vorzustellen, man sei als Mensch allein in der Welt. Dadurch würde man den natürlichen Weltsinn des Für-jedermann verlieren. Das Menschen-Ich gilt eben vorweg als eines unter anderen. Es soll aber erst geklärt werden, wie es dazu kommt, dass das Menschen-Ich diesen Sinn hat. Dies ist aus einem transzendentalen Konstitutionsgeschehen verständlich zu machen, das in seiner spezifischen Leistung nur durchsichtig wird, wenn das eine, einzige Ego in seiner Eigensphäre überschritten wird. Diese muss also zunächst hergestellt und umgrenzt und dann überstiegen werden, damit der neue Seinssinn eines alter ego, das eine Spiegelung meines Ego ist, evident werden kann. Nach der Epoché von allem Fremdsubjektivem verbleibt mir eine Schicht der Welt als primordiales »Eigentum«. Zu ihr gehört vor allem eine eigenheitliche Natur. In ihr nimmt ein Körper eine ausgezeichnete Stellung ein. Er ist nicht bloßer Körper, sondern mein Leibkörper. Als Leib ist dieser Körper unmittelbar von mir erlebt. Ich schalte und walte in ihm, schreibe ihm Empfindungsfelder zu und beherrsche ihn kinästhetisch in organisch differenzierten Bewegungen, in denen ich mich »empfinde«. Der Leib ist gewissermaßen Gesamtorgan meines intentionalen Erlebens. Wie die Übersetzung des intentionalen Erlebens ins Organisch-Physische vonstatten gehen soll, bleibt allerdings dunkel. Müsste nicht angenommen werden, der Leib sei genauso konstituiert wie irgendein anderer Naturköper – wie Husserl selber auch gelegentlich sagt – oder vielleicht wie ein von Leben erfüllter tierischer Organismus? Um in der Analyse weiterzukommen, schlägt Husserl folgenden Weg ein. In der Reduktion auf die Eigenheitssphäre halte ich meinen Leib 120
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und meine Seele als psychophysische Einheit, die der Welt eingeordnet ist, fest. Sie sind mir als dem transzendentalen Ego gegeben, das nach wie vor über seine konstituierenden Formensysteme verfügt und einen Bereich als Evidenzen hat, die ihm unabtrennbar zugehören. Ihm eignen z. B. immanente Daten und transzendente Gegenstände der äußeren Erfahrung. Ich habe also ein »Universum des Selbsteigenen« und bin, sofern es irreell in meinem intentionalen Leben beschlossen ist bereits in einem begrenzten Sinne Monade. Das in die Monade einbehaltene Seinsuniversum ist das der »immanenten Transzendenzen«. Nach der thematischen Epoché bleibt mir mein ganzes psychisches Leben samt seinen Korrelaten erhalten. Und dazu gehört auch »meine wirkliche und mögliche Erfahrung von Fremdem«. Was wird aber dann noch ausgeklammert? Meine Überzeugung vom Sein des Fremden? Geht es nur darum, sie aus ihren Rechtsgründen evident zu machen, dann ist die primordiale Epoché diesem Anliegen entsprechend zu verstehen. Ihren ersten Themenkreis findet die phänomenologische Forschung nach der transzendentalen Reduktion im Teiluniversum der dem Ego »für sich allein« zugehörenden Welt. Phänomenologie ist zunächst Monadologie der einzelnen Monade, Egologie im Unterschied zur intermonadischen, intersubjektiven Phänomenologie. Diese Aufteilung der phänomenologischen Arbeit hat Anlass zu Missverständnissen gegeben. Durch sie ist nicht behauptet, dass die Menschen in der Welt ursprünglich als isolierte Monaden in primordial begrenzten Bereichen lebten. Die phänomenologische Analyse geht vielmehr davon aus, dass dies für das natürlich eingestellte Leben, in dem die Menschen zunächst und zumeist dahinleben, nicht zutrifft. Sie unterstellt jedoch, dass geklärt werden müsse, wie es zu der Weltapperzeption, in der die Menschen unmittelbar leben, gekommen ist. Diese Aufgabe stellt sich der Phänomenologie unter der Voraussetzung eines für sie kennzeichnenden philosophischen Anspruches: Gegebenheiten der Erfahrung, die uns eventuell unmittelbar und einfach zu sein scheinen, als hochstufig-fundierte und komplikativ aufgebaute durch ihren Rückbezug auf ihre Herkunft aus einem geordneten Gefüge von Bewusstseinsvollzügen zu erklären. Dieses Erklären hat den Charakter des Evidentmachens, wie Seinssinn und Seinsgeltung von Gegebenheiten im Erleben zustande gekommen sind. Wenn diese Aufgabenstellung nicht akzeptiert wird,
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besteht die Gefahr, dass sich Bedenken gegen Husserls Vorgehen erheben, die seine Intention verfehlen. Erst nach diesen Vorklärungen kann die Konstitution des alter ego in Angriff genommen werden. Ihr erster Schritt ist die assoziativ verlaufende Paarung. Zur ihr gelange ich aufgrund meiner eigenen Leibkörpererfahrung, die mir in der Eigenheitssphäre zur Verfügung steht. Es treten – dies ist als Faktum zu konstatieren – Körper in meiner Umgebung auf, die sich nach außen hin so verhalten wie der Körper, den ich aufgrund einer nur mir zugänglichen originären Erfahrung als meinen Leib kenne. Ihm sind jene Körper ähnlich. Das urstiftende Original für diese Ähnlichkeitsauffassung ist mein eigener Leib. Der Leib eines Anderen darf nicht als bloßer Körper genommen werden. Als bloßer Körper präsentiert er sich in der Wahrnehmung, die für die Dinge die einzige Weise der Selbstgebung ihres Seinssinnes darstellt. Es müssen sich in der bloßen Wahrnehmung des fremden Leibes als Körper Momente bekunden, die dazu nötigen, den sich in Selbstgegebenheit darbietenden Körper als mehr und anderes aufzufassen. Dieser Überschuss findet seinen Niederschlag in der Analogisierung seiner als eines Leibkörpers mit meinem eigenen Leib. Er ist nicht mein Leib, sondern ein anderer Leib, der mit meinem eigenen zusammen ein Paar bildet, das sich durch die Aufnahme weiterer Glieder zu einer Gruppe, zu einer Mehrheit erweitert. Weil der andere Leib in der präsentierenden Körperwahrnehmung nur mit-gegenwärtig, nur appräsentiert ist, ohne mir so zugänglich zu sein wie mein eigener Leib, wird er als fremder, von meinem eigenen Leib unterschiedener bestimmt. (Vgl. Cart. Med. 141 ff.) Muss nicht gefragt werden: Kann der Paarungs-Sinn ein anderer Leib, der genauso wie mein eigener ist, aufgrund einer Ähnlichkeitsauffassung zustande kommen? Die in der Paarung hervortretende Einigung ist doch nicht nur eine der Ähnlichkeit. Vermag mir das allein in Originalität gegebene Körperhafte mehr zu verraten, als dass dieser Körper sich so verhält wie mein eigener, durch mein ichliches Erleben von Innen her erfahrener Leibkörper? Die analogische Repräsentation des Leiblichen scheint nicht mehr an Folgerungen zuzulassen, da sie auf die Vermittlung durch die Präsentation des Physischen angewiesen ist. Weil sie das ist, bedarf sie auch der kontinuierlichen Bewährung; einer Bewährung eigenen Stils, in der sich aufgrund einstimmig verlaufender neuer Appräsentationen bekräf122
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tigt, dass die in einer Präsentation fundierte appräsentierende Apperzeption zu Recht erfolgt ist, sich nicht getäuscht hat. (»Schein-Leib«) Gelangt man so über endlose Präsentationen hinaus? Auch die Appräsentation, die sich bewährt hat, kann Psychisches, das sie indiziert, niemals zu originaler Selbstgegebenheit bringen. Selbstgebung, wie sie die letzte Bewährungsquelle für alles gegenständlich Seiende ist, ist hier ausgeschlossen. Gleichwohl ist es Husserls These, dass in der Funktionseinheit von präsentierender Wahrnehmung und Appräsentation das Bewusstsein vom Selbst-Dasein des sich so darstellenden Gegenstandes hergestellt werde. Wir haben bisher, strenggenommen, nur darüber gehandelt, dass der Andere den Seinssinn eines fremden Leibes und einer fremden psychophysischen Einheit hat. Hiermit verbindet Husserl unmittelbar die Übertragung des Seinssinnes des transzendentalen Lebens auf das Andere. Zumindest scheint für ihn diese weitergehende Auffassung dessen, was sich in der Präsentation appräsentiert, keine Schwierigkeiten aufzuwerfen. Das sich in der primordial unerfüllbaren Erfahrung Indizierende ist Fremdes von der Art meines eigenen transzendentalen Ich. Es ist aufs Ganze gesehen so etwas wie eine Modifikation meines weltlich objektivierten und meines transzendentalen Ich. Ohne seine verweltlichende Objektivierung böte sich mir kein Weg zur Evidentmachung seines transzendentalen Seins. (Vgl. Ströker 1971) Nur dadurch, dass das alter ego auch als psychophysischer Mensch in der Welt ist, ist es mit mir in einer Gemeinschaft menschlich-mundanen und transzendentalen Lebens. Wie ich ist es Monade mit einer eigenen primordialen Weltschicht. Diese ist ihm von seinem Standort aus erschlossen, für den der eigene Leib das zentrale Orientierungsglied ist. Der Vielzahl von transzendentalen Ichen entspricht eine Mannigfaltigkeit von Weltperspektiven. Sie schließen sich zur Einheit der einen Welt, in der sich die Monaden objektiviert begegnen, zusammen. Es ist zuunterst die Natur, die von mir (trotz ihrer individuellen Orientierung und Gegebenheitsweise) mit der dem anderen Ich erscheinenden als ein und dieselbe identifiziert wird. (Vgl. Cart. Med. 153 ff.) Ähnlich wie das primordiale ist das intersubjektive Leben ein Leben der synthetischen Identifizierung von gegenständlichen Sinneseinheiten. Aber das Gegebene gewinnt jetzt den Sinn des Für-jedermann A
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und ist dadurch in einem neuen Sinn objektiv geworden. Was ein Ich in Evidenz erfährt, muss auch von anderen Ichen als dasselbe erfahren werden können. Kriterien der Übereinstimmungsmöglichkeit sichern die Wegrichtung der monadologischen Gemeinschaft. Es hat den Anschein, als sehe Husserl diese Gemeinschaft als eine vorwiegend von theoretischen Erkenntnisinteressen geleitete. Denn wie von selbst erwächst im gemeinschaftlichen Leben der Menschen eine objektive Welt, die eine stetige Vervollkommnung ihrer Objektivität erfährt. Das Gesagte erstreckt sich bisher nur auf die fundamentale Weltschicht der Natur. Zu jeder konkreten Welt gehören jedoch auch noch andere Seinsschichten wie Animalität, Sozialität und Kultur. In spezifisch sozialen Akten der Menschen untereinander bilden sich Gemeinschaften verschiedener Art aus. Diese sind engstens mit kulturellen Umwelten verknüpft. Die Grenzen der individuellen kulturellen Umwelten können auf Gemeinsames hin überschritten werden. Das geschieht von der jeweils eigenen Kultur aus, die der Nullpunkt meiner Orientierung über alle Kulturen ist – sowie mein Leib Zentralglied für die Konstitution der Natur und des Anderen ist. Über all dies finden sich in Husserls Phänomenologie zumeist nur Andeutungen. Deutlich ist, dass die Phänomenologie den Anspruch erhebt, mit ihrer methodischen Grundbegrifflichkeit auch diesen Gegebenheiten gerecht werden zu können. Werfen wir zum Abschluss einen kritischen Blick auf den Begriff von Konstitution, der zur evidenten Ausweisung des alter ego führt. Die Fremderfahrung stellt eine Funktionseinheit von physischer Präsentation, psychophysischem Paarungsvorgang und transzendentaler Appräsentation dar. Das analogisch Appräsentierte kann grundsätzlich nicht in meiner primordialen Sphäre original gegeben werden wie Gegenständliches, weil es dadurch seinen transzendental-konstitutiven Charakter verlöre. Es weist aufgrund seiner Seinsart die Möglichkeit der Selbstgebung von sich ab. Daher ist es den Bewusstseinsweisen gegenüber, in denen es zur Gegebenheit kommt, in anderer Weise transzendent als alles sonstige Seiende. Auch die Vergegenwärtigung, die in der Appräsentation des Anderen erfolgt, ist von jeder anderen Vergegenwärtigung wesentlich verschieden. Sie ist 124
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nicht auf Gegenwärtigung zurückbezogen. Sie muss ein von mir aus erfolgendes als gleichzeitig, als kompräsent Setzen besagen. Dies bedarf der Menschen-Iche in ihrer Welt und ihrer Zeit. Den von mir als selbst konstituierend konstituierten anderen Ichsubjekten wird dann derselbe Hervorgang aus einem Bewusstseinszeitfluss zugewiesen, in dem ich mich hervorgebildet habe. Das geschieht auf der Basis menschen-ichlicher Pluralität. Diese ist ja auch der Ausgangspunkt für die »Deklinierung« meiner als des phänomenologisch meditierenden Ich zu einem Ich unter anderen. Dem transzendentalen Ego kann auch ein alter ego nur auf dem Wege der Vermittlung über anschaulich Selbstgegebenes begegnen, das seinen Seinssinn als gegenständliches Korrelat des Bewusstseinslebens hat. In solcher Weise soll Seiendes bekunden, dass es einen Seinsgrund in sich trägt, dessen phänomenale Objektivierung es ist. Und nur sie ist selbst gegeben. Das besagt aber, dass im Falle des alter ego die Rede von der Konstitution eine neue Bedeutung angenommen hat. Nur in der primordialen Sphäre ist Konstitution durch evidente Ausweisung im eigenen Bewusstseinsleben möglich. Die sogenannte Konstitution des alter ego macht Annahmen erforderlich, die von anderer Art sind, als alles, was in der primordialen und später wieder in der intersubjektiven Welt Konstituieren heißt. Husserl verdeckt sich diesen Übergang von Präsentation zur Appräsentation, der zum evidenten Bewusstsein vom seienden alter ego führen soll. Kann ein fremdes konstitutives Lebenszentrum selber als seiend konstituiert werden? Verrät Husserls Rede von der analogischen Modifikation des Ego, durch die das Ego ein alter ego als seiend setzt, nicht, dass hier eine Seinsthesis erfolgt, die konstitutiv nicht ausweisbar ist? Wie sollte man in diesem Fall über Ähnlichkeits- und Analogieannahmen hinausgelangen können? Husserl bemerkt Schwierigkeiten, die sich aus der skizzierten Konstitution des Anderen ergeben. Er zieht aus ihnen phänomenologisch nicht unproblematische Konsequenzen. Das eine, einzige, einzelne transzendentale Ichsubjekt beginnt sich so auszunehmen, als ginge es aus einem im absoluten Zeitfluss sich realisierenden Absolutum hervor. Ist auch dieses Absolute noch ichlicher Art? Wenn viele transzendentale Uriche im Zeitfluss auftreten, die von der ihn regierenden Teleologie her dazu berufen sind, auf die vernünftige Realisierung des Weltverstehens hin zu wirken, muss ihre Vielheit im Zeitfluss so auftreten, dass einige Iche anderen folgen, um in ihrer Gesamtheit erst eine vollA
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kommene Vernünftigkeit zu verwirklichen, die es in ihren Fortschritten immer nur für einige transzendentale Uriche gibt. Hier ein Beleg für einen derartigen Denkversuch Husserls: »Und diese Weltkonstitution ist Konstitution eines immer höheren Menschen- und Übermenschentums, in dem das All seines eigenen wahren Seins bewusst wird und die Gestalt eines frei sich zur Vernunft oder Vollkommenheitsgestalt konstituierenden annimmt. Gott ist das Monadenall nicht selbst, sondern die in ihm liegende Entelechie als Idee des menschlichen Entwicklungstelos, des der »Menschheit« aus absoluter Vernunft«. (Vgl. Intersubjektivität III, 610 ff.; Beilagen XLV u. XLVII) Wie sollte ein solcher spekulativer Ausgriff in das uns überkommene System der Phänomenologie passen? Er würde eine neue andere Philosophie als die uns wohl vertraute erste, die die transzendentale Phänomenologie grundlegt, erforderlich machen. Außerdem: Im Blick auf die als welthaft seiend auftretenden Menschen-Iche fragt sich: Jedes einzelne muss Selbstobjektivierung seines transzendentalen Ich sein. Mein eigenes phänomenologisches Ichsubjekt findet zwar nur sich als Selbstkonstitution seines transzendentalen Ichsubjektes vor, aber es muss sich, wie aus der Intersubjektivitätskonstitution zu folgern ist, jedes als welthaft seiend, verkörpert auftretende Menschen-Ich als Resultat einer Selbstobjektivierung seines transzendentalen Ichsubjektes setzen. Müsste die Selbstobjektivierung allen transzendentalen Ichen zu dem Zweck als notwendig zugedacht werden, dass es die Welt als fertig seiende ein und dieselbe für alle geben kann? Also müsste das eine, einzige Ichsubjekt, über sich als Menschen-Ich vermittelt, auch notwendig »seinem Sein nach« mit der Welt als seinem cogitatum zusammengeschlossen sein. Es wäre auf die Welt und damit zuvor auch auf sich als Menschen-Ich angewiesen. Entsprechendes müsste für alle transzendentalen Ichsubjekte gelten. Das wäre auch für ein absolutes Telos, dem die transzendentalen Ichsubjekte untergeordnet sind, zu folgern. Auch diese These, die nur in einer spekulativen Philosophie behandelt werden könnte, fügt sich nicht in den transzendentalen Subjektivismus ein. Sie sprengt den Umkreis dessen, was mit der phänomenologischen Methodik geleistet werden kann. Aufgrund unseres Wissens um die Diskussionen, die im deutschen Idealismus geführt worden sind, sollte man es vermeiden, sich in solche Problemstellungen zu verstricken. (Man vgl. aber die Problemlage in der Krisis 188 ff.) 126
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Es wird nicht auf Heideggers Fassung des Mitseins in Sein und Zeit und auf Levinas Vorordnung des Anderen vor einem ihm begegnenden Wesen eingegangen, auf das die Worte Subjekt und Ich nicht länger zutreffen. Ebenfalls bleiben alle Fassungen des Menschen als eines ursprünglich sozialen Wesens, dessen soziale Bedingtheit sein Sein so bestimmt, dass sie für ihn die Absolutheit eines transzendentalen Ichsubjektes ausschließt, unberücksichtigt. Es sei nur auf die prekäre Stellung und Bestimmung des Menschen-Ich in der Phänomenologie hingewiesen, die sich auch und vor allem in der phänomenologischen Intersubjektivitätskonstitution zeigt. Sie wird im folgenden Teil der Arbeit im Mittelpunkt stehen. Menschen-Iche werden dort als in sich sperrig gegen ihre transzendentale Subjektivierung aufgewiesen. Und diese Sperrigkeit definiert sie auch als soziale Wesen. Anlässlich der Merkwürdigkeiten, welche das Auftreten von transzendentalen Menschen-Ichen im Zeitstrom mit sich brachte, sei abschließend die folgende Frage aufgeworfen: Die transzendentalen Monaden sind durch ihre Selbstobjektivierung als leibliche Menschen-Iche miteinander in einer Welt vereint. Nun gibt das Sterben als Menschen-Ich für sie keinen Sinn. (Vgl. Intersubjektivität III; Beilage XLVI, 610) Wie sich angedeutet hat, kommt Husserl nicht umhin, die transzendentalen Ichsubjekte im teleologischen Zeitfluss, aus dem heraus sie sich zur Menschheit objektiviert haben, auftreten und abtreten zu lassen. Könnten sie nicht, wenn sie wesentlich auf ihre Objektivierung zu Menschen-Ichen in der Welt angewiesen wären, durch deren Sterblichkeit mit betroffen werden? Gerieten sie dann nicht in eine Abhängigkeit von sich als Menschen-Ichen in der Welt? Das ist keine Überlegung, die im transzendentalen Subjektivismus ihren Ort hat. (Vgl. z. B. Intersubjektivität III, XV, 388) Muss dann nicht Husserls Fassung des Bezuges vom transzendentalen Ichsubjekt und Menschen-Ich in Frage gestellt werden? Das geschieht im II. Teil dieses Bandes, in dem z. B. auf die Gebürtigkeit und Sterblichkeit des Menschen-Ich als eines lebendigen Sprachwesens so vorgedeutet wird, dass sie einerseits seine Sprach- und Denkvermöglichkeit im Wissen um seine naturhafte Endlichkeit in Beschlag nehmen, dass aber andererseits gewisse ihrer Realisate es in dieser seiner Eigenart übersteigen. Dieses Ergebnis ist nur um den Preis des Verzichtes auf die Einheit des Ich, des Wissens und der Welt im Sinne der Phänomenologie zu haben. Bevor die sich in den letzten ParaA
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graphen aufdrängenden Fragen so beantwortet werden, dass sie die Antworten der Phänomenologie hinter sich zurücklassen, sei die Endgestalt der Phänomenologie dargestellt.
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V. Die Endgestalt der Phnomenologie
Husserl ist in seinen letzten Lebensjahren nicht mehr dazu gekommen, seine Phänomenologie zu seiner eigenen Zufriedenheit ausführlich darzustellen. Wichtige Grundzüge zeichnen sich ab. Manches bleibt im Dunkeln. Vieles ist nicht mehr zureichend ausgearbeitet. Trotz der beträchtlichen Ausstrahlung, die das Spätwerk Husserls in den fünfziger und sechziger Jahren gehabt hat, ist es in seiner Eigenart noch immer nicht allseits befriedigend erschlossen. Die Vertiefung und Verwandlung, welche die Phänomenologie in den dreißiger Jahren erfährt, betreffen ihre Gesamtgestalt und nicht nur einzelne ihrer Themenbestände. Das besagt jedoch nicht, dass Husserl seine früheren Zielsetzungen preisgegeben hätte. (Vgl. Ricoeur 1973) Es läßt sich ein Akzent der Krisis-Abhandlung, von dem her die sich in ihr findenden Wiederaufnahmen früherer Themen und Thesen in ein neues Licht treten, darauf legen, dass in ihr der Zusammenhang des Menschen-Ich und seines Psychischen mit dem transzendentalen Ichsubjekt so eng wird, dass beides nur noch durch eine Vorzeichenänderung, die sich aufgrund eines aufmerkenden, sich ausweitenden Beschreibens ergibt, unterschieden ist. Dadurch wird ihre »heimliche« Selbigkeit, das Enthaltensein des Einen im Anderen stark betont. Diese Selbigkeit aber ist unerlässlich dafür, dass die Einheit und Selbigkeit des Menschen-Ich, der Menschheit und der Welt gewahrt bleiben. Das Menschen-Ich und die Menschheit werden zum Resultat einer Selbstobjektivierung von Ichsubjekten. Diese aber müssen sich dann anscheinend zur Menschheit objektivieren, damit es zur Welt kommt. Woher kommt ihnen diese Angewiesenheit? Doch nicht aus einer weltvorgängigen Absolutheit, die die Welt zu ihrem phänomenalen Korrelat macht. Liegt in der Selbstobjektivierung eine Identifizierung zweier Iche vor, welche eine Ausgangseinheit bilden müssten, die allem Konstituieren und Phänomenalisieren vorweg ginge? Es hat sich eingebürgert, das Neue der späten Phänomenologie durch die Schlagworte von der Abwendung von der objektiven WissenA
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schaft, der Zuwendung zur Geschichte und zur vorwissenschaftlichen Lebenswelt anzudeuten. Diese Schlagworte sind zu unbestimmt, um das, was Husserl im Auge hat, genau anzugeben. In der Krisis-Abhandlung sind diese drei Komplexe zur letzten Gestalt der Phänomenologie gefügt, die sich so zuvor nicht findet. Sie macht den Versuch, die transzendentale Phänomenologie (auch den gewandelten denkgeschichtlichen Zeitumständen gemäß) als Universalwissenschaft zu vollenden; sie vor allem gegen die das Subjekt-relative Sein der Welt verdeckende objektive Wissenschaft stark zu machen und sie als Sinnerfüllung der Geschichte zu erweisen. Aber das besagt nicht, dass Husserl die Erträge seines arbeitsreichen Lebens nicht in diesen Systementwurf eingebaut hätte. Es ist z. B. nicht erforderlich, unser Wissen um die Wissenschaft von der Lebenswelt nur aus der Krisis-Abhandlung und einigen mit ihr gleichzeitigen Manuskripten zu schöpfen. Exempel für Lebensweltanalysen finden sich bereits früher. Viele Ausführungen zu Wahrnehmung, Ding, Raum und Zeit aus vorhergehenden Jahrzehnten gehen in die spätere Konzeption der Lebenswelt ein. Beim Stand der Publikation des Husserlschen Werkes ist es nicht möglich, genau die Grenze zu ziehen, durch die Husserl früher Erarbeitetes in Brauchbares und Wegzulassendes geschieden hätte. Nichtsdestoweniger scheint es sicher zu sein, dass Husserl die Fülle dessen, was er in langen Zeiten literarischer Zurückhaltung erarbeitet hat, als konkretisierenden Gehalt in alle seine systematischen Einleitungen in die transzendentale Phänomenologie aufgenommen wissen wollte. Besonders für die Durchsprache der Krisis-Abhandlung hat dies Wiederholungen und Überschneidungen mit bereits Gesagtem im Gefolge. Das ist in ihrem Fall auch deswegen nicht uninteressant, da es darum geht, Zusammenhang, Struktur und Zielstellung der Krisis-Abhandlung gegen Möglichkeiten falscher Akzentuierung und Interpretation herauszustellen. Das ist umso wichtiger, als das systematische Grundgefüge der Krisis-Abhandlung in vergangenen Jahrzehnten öfter zum Teil mehr verdeckt als freigelegt worden ist, weil die geistesgeschichtlichen Umstände einer adäquaten Aufnahme eher hinderlich als förderlich waren. Durch diese Lage lassen sich die folgenden Ausführungen ihren Weg vorschreiben, die Endgestalt der Phänomenologie zu beleuchten. Dabei kommt es zu ersten Problematisierungen, die den Ausstieg aus dem transzendentalen Subjektivismus vorbereiten. Sie betreffen Husserls Behandlung der 130
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menschen-ichlichen Lebenswelt, der Psychologie und der Geschichte. Diese wird als pseudodeskriptiv aufgedeckt, weil sie verdeckt, dass es das, worüber sie spricht, keineswegs so geben muss, wie sie sagt, dass es sei, so dass es auch abweichend von der Art und Weise, wie Husserl die Sachen als seiend sagt, ausfallen kann. Im Anschein der sich auf Anschauung stützenden Deskription, von angeblichen Selbstverständlichkeiten und in der Benutzung von Umgangssprachlichem geht unter, dass die Welt auch ganz anders angesehen und besprochen werden kann, dass vor allem vorphilosophische Menschen-Iche so gefasst werden können, dass sie sich gegen eine transzendentale Subjektivierung ihrer sperren. Husserl verwendet in der Krisis-Abhandlung die Geschichte des Denkens und ihren Endzustand, die gegenwärtige Krisensituation, zum Zwecke der Grundlegung der transzendentalen Phänomenologie. Seine These lautet: Das in der objektiven Wissenschaft der Neuzeit kulminierende Denken der europäischen Tradition übersieht den Grund seiner Herkunft: die Lebenswelt. Ihre Entdeckung ist dem objektivistischen Denken abzuringen, das in den exakten Wissenschaften heute eine universale Herrschaft über alle theoretischerkennende Weltbetrachtung gewonnen hat. Man muss zur Denkweise der objektiven Wissenschaft in einer eigenen Art von Epoché in Distanz treten. Erst dann kann eine angemessene Thematisierung der Lebenswelt selber zu neuartigen wissenschaftlichen Zwecken erfolgen. Die Geschichte des philosophischen Denkens rückt für Husserl mit der objektiven Wissenschaft in die Einheit des Objektivismus zusammen. Auch die europäische Philosophie hat das objektivistische Vorurteil nicht abschütteln können. Das ist für sie schwerwiegender gewesen als für die Wissenschaft, denn sie hat die angestrengtesten Versuche unternommen, es zu überwinden. Außerdem hat es die Wissenschaft zu gelungenem, standhaltendem Wissen gebracht, auch wenn sie nicht in der Lage war, dies Wissen letztlich zu begründen und aus seinen Quellen zu verstehen. Der Philosophie aber ist es trotz ihrer Suche nach dem letzten Grund der Welterkenntnis nicht gelungen, die Lebenswelt und die transzendentalsubjektive Erfahrungssphäre als Forschungsfeld einer letztbegründeten Wissenschaft aufzudecken. Dieses Scheitern der Philosophie hat in der Gegenwart zur Preisgabe der Idee einer letztbegründeten universalwissenschaftA
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lichen Philosophie geführt. In diesem Verzicht kulminiert die Krise der Gegenwart. Indem die Phänomenologie die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen objektiver Wissenschaft, Lebenswelt und transzendentalsubjektiver Erfahrungssphäre aufdeckt, gewinnt sie die systematische Gliederung ihrer Aufgaben. Sie hat die Genesis der objektiven Wissenschaft aus der Lebenswelt zu rekonstruieren, die Lebenswelt zu erforschen und ihre transzendentale Konstitution ans Licht zu bringen. Das Transzendentalsubjektive, das für den Seinssinn und die Seinsgeltung der Welt aufkommt, gehört zum vorwissenschaftlichen Leben in der Lebenswelt. Hier ist es in der sinnlichen Erfahrung in verborgener Weise am Werk. In ihm ist die Welt gebildet und kann deswegen zur Gegebenheit kommen. Die objektive Wissenschaft hat zu all dem keinen Zugang.
§ 13 Die Geschichte des Denkens An der Krisis-Abhandlung ist nicht verwunderlich, dass Husserl die Situation der Gegenwart zum Ausgangspunkt nimmt und einen Blick auf die Geschichte des Denkens wirft. Das hatte er schon früher getan. (Vgl. Erste Philosophie I) Aber neu ist der entschiedene Einbau der Geschichte von Philosophie und Wissenschaft, um sie zur Grundlegung und Rechtfertigung der Phänomenologie heranzuziehen. Die Geschichte des Denkens wird so angeeignet, dass ihre Grundgedanken erst in der Phänomenologie ihre endgültige Klärung erfahren. Husserl gelingt diese Vermittlung mit Hilfe einer Geschichtsbetrachtung, die er selber teleologisch nennt. Es ist kurz zu zeigen, wie Husserl die Geschichte des Denkens und die Krise der Gegenwart mit dem »Übersehen« der Lebenswelt durch das objektive Denken der Tradition verknüpft. Das abendländische Menschentum ist auf den Weg gebracht worden, indem die Griechen Philosophie und Wissenschaft entdeckten. (Vgl. im Krisis-Band die 3. Abhandlung: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie, 321 ff.) Platon, Aristoteles und Euklid haben Leistungen vollbracht, die für alles spätere Denken bahnbrechend und maßstäblich gewesen sind. Wichtiger als ihre großen Leistungen ist die universale theoretische Einstellung zur Welt, 132
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die sie vorgelebt haben, in der die Möglichkeit philosophisch-wissenschaftlicher Weltbetrachtung wurzelt. Das rationale »Ideendenken« der Antike, das seine einfachste Realisierung in der Geometrie gefunden hat, sieht sich vor die Frage nach dem Verhältnis der vielfältig wandelbaren Sinnendinge zum an sich Seienden gestellt. Dieses zeigt sich gegenüber den mannigfachen Gegebenheitsweisen, in denen das Subjekt die Dinge wahrnimmt, als ein identisch Selbiges. Die Griechen lösten das sich ihnen aufdrängende Rätsel, indem sie über die sinnliche Erfahrung und die erfahrene Realität hinausgingen. Sie behielten es dem »reinen Denken« vor, die Dinge in ihrem irrelativen, bleibenden Sein zu erfassen. Trotz aller späteren Unterschiede ist ihr Ideendenken für alle wissenschaftliche Welterkenntnis kennzeichnend geblieben. Auch die exakte Wissenschaft der Moderne bedient sich seiner noch in der von jedem Seinsgehalt entleerten Form der mathematischen Behandlung der Natur. Die Stellungnahme Husserls zum Verhältnis von Geist und Sinnlichkeit in der alten Welt verrät, wie fern es den Griechen im Gegensatz zu Husserl gelegen hat, die Welt des sinnlichen Erfahrens in den Umkreis des wahrhaft Seienden und Wissbaren aufzunehmen. Die Sphäre der Sinnlichkeit war für die Griechen noch der Idealisierung und mathematischen Erfassung unzugänglich. Dass das Ideelle aus dieser Sphäre als seinem »Seinsboden« erwachsen könnte, wie es nach Husserl der Fall ist, ist ein ihnen fremder Gedanke. Erst der Neuzeit gelingt eine, durch die geometrische Idealisierung vermittelte mathematische Erkenntnis der gesamten Welt. Durch sie konnte die Wissenschaft als universal-objektive zur totalen Herrschaft über das erkennende Leben des Menschen gelangen. Bedeutet das auch für die späte Neuzeit eine Krise, so ist diese doch nicht dem die Neuzeit leitenden Ideal einer universalen Philosophie und Wissenschaft zuzuschreiben. Seine Realisierung unter objektivistischen Voraussetzungen ist es allein, die zur »Krankheit« der gegenwärtigen wissenschaftlichen Kultur geführt hat. Von dieser traditionellen Voraussetzung abgesehen wird das Ideal der beginnenden Neuzeit von Husserl bejaht und für die Phänomenologie aufgenommen. In der beginnenden Neuzeit gehen der philosophischen Besinnung einige wissenschaftliche Großtaten vorweg, durch die der Lauf der weiteren Entwicklung vorgezeichnet wird: die Formalisierung des Mathematischen, die Arithmetisierung der Geometrie und – als A
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wichtigste – die Verbindung von geometrischer Idealisierung und mathematischer »Beschreibung«, als Mittel angewandt bei der Erkenntnis des Wirklichen, wie sie Galilei in seiner Arbeit exemplarisch vorgeführt hat. Wir gehen nicht auf die Schrittfolge ein, in der sich die Geometrisierung und Mathematisierung der Welterkenntnis vollzieht. Ihre Darstellung durch Husserl im § 9 der Krisis-Abhandlung hat nicht in erster Linie den Charakter der Schilderung eines historischen Verlaufs, sondern rekonstruiert den systematischen Weg, den eine solche Weise des Erkennens einschlagen muss, wenn sie von einem leiblich-sinnlichen Wesen, wie der Mensch es ist, soll geleistet werden können. Die Entwicklung der Philosophie der Neuzeit verläuft nicht so einsinnig und übersichtlich wie die der Naturwissenschaften. Zwar wird die Philosophie durch die neue Wissenschaft beeinflusst und steht zu ihr in einem ständigen Verhältnis der unruhigen Spannung, aber sie vermag es ihr ihm sicheren Aufbau und Fortschritt des Wissens nicht gleich zu tun. Sie wird dem öffentlichen Bewusstsein im Laufe der Zeit – an der Wissenschaft gemessen – suspekt. Schließlich gerät sie in den Verdacht der Unwissenschaftlichkeit und Überflüssigkeit. Sie wird für die Befriedigung von Bedürfnissen reserviert, für die das Wissen nicht zuständig ist. Gegen dieses Ergebnis der neuzeitlichen Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie stemmt sich Husserl mit aller Kraft. (Vgl. Krisis 508 ff., Beilage XXVIII) Wer seine Fatalität nicht einzusehen vermag oder wer ihm gar als einem fait accompli Rechnung trägt, indem er jenseits einer Konzeption der Einheit von Philosophie und Wissenschaft philosophiert, kann das Spätwerk Husserls schwerlich in der rechten Weise würdigen. Damit ist nicht darüber entschieden, ob Husserls Versuch, die Einheit von Philosophie und Wissenschaft noch einmal zu begründen, aufs Ganze gesehen einer kritischen Analyse standhält. Die neuzeitliche Philosophie gilt Husserl insgesamt als Beginn des Vollendungsweges der Philosophie, wie er in der Phänomenologie kulminieren soll. Dass soll der Fall sein, auch wenn die großen Systeme des neuzeitlichen Denkens gescheitert sind. In ihnen – nicht im vorsokratischen oder klassischen Philosophieren der Antike – sind die Grundgedanken enthalten, aus denen der Radikalismus der Phänomenologie Klarheit über das Telos des philosophischen Denkens schaffen soll. Der Weg zu diesem Ziel gipfelt nach Husserl in drei Stationen: 1. in Descartes’ Vertiefung in die Subjektivität zu Beginn 134
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der Neuzeit, 2. in der transzendentalen Wende Kants, die dieser nach dem Studium des von Husserl hochgeschätzten psychologischen Subjektivismus Humes vollzogen hat, 3. in der transzendentalen Phänomenologie Husserls selbst. Descartes’ Werk ist der Ausgangspunkt für die zwei das philosophische Denken der Neuzeit bestimmenden Richtungen des Rationalismus (Leibniz, Kant) und Empirismus (Locke, Hume). Mit Kant kommt die erste ausdrückliche Transzendentalphilosophie zum Durchbruch. Aber Kant ist zu sehr von der Erkenntnisleistung der Naturwissenschaften eingenommen. Er übersieht die fundamentale Rolle der vorwissenschaftlichen Erfahrungswelt für alle objektivwissenschaftliche Erkenntnismöglichkeit. Auch ist seine Unterscheidung zwischen empirisch-psychologischem und transzendentalem Subjektivem unzureichend. Die subjektiv gewendete Philosophie der Neuzeit rückt in der Sicht der Phänomenologie zwar mit dem vorneuzeitlichen Denken zum Objektivismus zusammen, aber sie ist doch immerhin bereits dem Subjektiven zugewandt. Ihr Mangel ist, dass es ihr nicht gelingt, das Subjektive in seiner universalen transzendental-konstitutiven Funktion zu fassen. Das Subjektive bleibt ihr ein beschränkter Seinsbestand, der in der Welt vorkommt. Selbst bei Kant scheint noch unter dem Titel Ding an sich ein Rest der Welt oder ihres Substrates außerhalb der transzendentalen Konstitutionssphäre zu verbleiben. Wie immer man aber hier zum Subjektiven Stellung nimmt, die objektiven Wissenschaften gehen ihren Weg, auf dem sie objektive Erkenntnis von der Welt gewinnen. Nimmt sich die Philosophie ihre Art der Erkenntnis zum Vorbild, dann verliert sie das Subjektive in seiner Eigenbedeutung aus dem Blickfeld. Aus der so verstandenen Problemlage der neuzeitlichen Philosophie will Husserl einen Ausweg weisen. Wir analysieren nur Husserls späte Sicht des Descart’schen Denkens, weil sich aus ihr am besten seine eigene Position kennenlernen lässt. Für Husserl ist Descartes der »urstiftende Genius« der gesamten neuzeitlichen Philosophie, in dessen Meditationen er auch noch in den letzten Jahren seines Lebens die radikale Richtung der Gedankenbewegung auf das Subjektive als beispielhaft und lehrreich bewundert. Durch sie hindurch, sei es über sie hinaus oder gegen sie, glaubt er die transzendentale Phänomenologie verwirklichen zu können. Er sieht Descartes mit seiner Fassung des Subjektiven in der Welt stecken bleiben. Zwar soll er zum ersten Male »die Erfahrung A
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im gewöhnlichen Sinne, die »sinnliche« Erfahrung – und korrelativ die Welt selbst« in Frage gestellt haben – und nicht nur die Wissenschaften; aber gleichwohl soll das ego cogito – als »mens«, als »anima« verstanden – von Descartes wie ein welthaft Seiendes bestimmt worden sein. Descartes findet im ego cogito dasjenige Sein, das allen anderen Seinssphären »als ihre absolut apodiktische Voraussetzung« vorausliegt. Darin ist Husserl mit Descartes einverstanden. Aber der cartesischen Auslegung dessen, was er mit dem ego cogito gewonnen hat, kann der Transzendentalphilosoph Husserl nicht mehr zustimmen. Was ist das apodiktisch gewisse ego cogito? Ich, das konkrete sinnlich-leibliche Menschenwesen, kann es nicht sein. Meine Sinnlichkeit und Leiblichkeit sind davon fernzuhalten. Was bleibt dann von mir übrig? Das Ego als »mens sive anima sive intellectus«? »Die Seele aber ist das Residuum einer vorgängigen Abstraktion des puren Körpers, und nach dieser Abstraktion …, ein Ergänzungsstück dieses Körpers. Aber (…) diese Abstraktion geschieht nicht in der Epoché, sondern in der Betrachtungsweise des Naturforschers oder Psychologen auf dem natürlichen Boden der vorgegebenen, der selbstverständlich seienden Welt«. (Krisis 81) Das Seelische steht dem (transzendenten) Physischen gegenüber. Es gibt eben zwei Arten von endlichen Substanzen. Das Psychische wird nicht selber als »bloßes Phänomen«, das als cogitatum in der Welt für ein Ego vorkommt, behandelt. Es ist demnach wohl zu Recht Thema einer besonderen Einzelwissenschaft, der Psychologie. Mit diesem Schritt hat Descartes den philosophischen Gehalt, der in seiner Entdeckung des cogito lag, preisgegeben. Die res cogitans tritt als Seele in der Welt auf – im Unterschied zur res extensa. Das Ego der Epoché aber kann dies nicht, da aus dem Fungieren seiner cogitationes die ganze Welt, auch die Seele, allen Seinssinn gewinnt. Weil es Descartes vordringlich um die sichere Erkenntnis der Welt qua Natur geht, muss er konsequenterweise im weiteren Verlauf der Meditationen den Versuch machen, das Ego qua anima »metaphysisch« auf nicht-subjektiv Seiendes hin zu übersteigen. Er wird genötigt, einen Gott zu Hilfe zu rufen, um wieder aus dem Ego heraus zu gelangen. Es fällt nicht schwer, nachzuweisen, dass eine transzendentale Auslegung des ego cogito für Descartes in seiner historischen Situation noch kein zugänglicher Gedanke gewesen ist. Aber auf diese histori136
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sche Richtigkeit kommt es nicht an. Von größerem Interesse ist, wie Husserl selber das ego cogito des Descartes auffasst und kritisch interpretiert, weil daraus seine eigene Fassung des transzendentalen Gedankens deutlicher werden kann. Husserl hält es Descartes zugute, dass er nicht nur die exakten Wissenschaften, sondern auch zum ersten Male die sinnliche Erfahrungswelt in Zweifel zieht. Descartes tut das in Anlehnung an eine alte Tradition und in einer traditionellen Weise. Bezeichnend ist, dass er mit dem Zweifel im Rahmen der Sinnlichkeit anfängt. Hier scheint ihm die Unsicherheit für jederman aufdringlich zu sein. Auch noch der Zweifel am eigenen leiblich-seelischen Leben und seiner Umwelt lässt sich durch das Traumargument ohne Mühe motivieren. Schwieriger wird es erst, dem Zweifel an den Sachverhalten der mathematischen Wissenschaften zum Durchbruch zu verhelfen. Soviel ist für Descartes auf jeden Fall klar: Die vorwissenschaftliche Welt als Bereich des sinnlichen Erfahrens kann für das gesuchte fundamentum inconcussum nicht in Betracht kommen. Nun ist es Husserl These, dass die sinnliche Erfahrungswelt von der traditionellen objektivistischen Philosophie in ihrer Bedeutung für die Begründung des Wissens übersehen worden ist. Aber soll Descartes nicht zum ersten Male sogar die vorwissenschaftliche, sinnliche Erfahrungswelt in Frage gestellt haben? Hat er sich damit nicht dem Gedanken eines nicht mehr weltlichen Ich, in dem alles Wissen gründet, genähert? Sieht man genauer zu, so zeigt sich die Fragwürdigkeit dieser Überlegung. Denn indem Descartes die Erfahrungswelt in Zweifel zieht, scheidet er sie aus dem Bereich dessen, was für das absolute Gewissheitsfundament und für eine Begründung des exakten Wissens von der Welt qua Natur in Betracht kommt, aus. Aber gerade dafür braucht Husserl sie. Er darf sie daher gar nicht in einer Zweifelsbetrachtung ausschalten, sondern muss sie als durch keinen Zweifel betreffbaren Lebensboden fassen, der bisher übersprungen worden ist, weil man mit dem Blick auf das vermeintlich wahrhafte Sein, dem die mathematischen Wissenschaften zugewandt sind, die sinnliche Erfahrungswelt als einen Gegenstandsbereich ansah, der für die Grundlegung wissenschaftlich strenger Erkenntnis nicht verwandt werden konnte. Erst nachdem sich Descartes der Klarheit und Deutlichkeit des Mathematischen als eines eingeborenen Ideellen vergewissert hat, tritt die Welt als Themenfeld mathematisch exakter Wissenschaft ihm wieder vor den Blick. Nur sofern sie dies ist, gilt sie Descartes A
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als »sicher erkennbar« und »wahrhaft seiend«. Das ego cogito und die Gegenstandswelt der exakten Wissenschaften rücken zusammen, die sinnliche Erfahrungswelt dagegen wird als für die wissenschaftliche Erkenntnis untaugliche Sphäre bloßer Doxa beiseite gelassen. Sie kann daher nicht aus den Leistungen des ego cogito ihren Seinssinn empfangen. In diesen und der durch sie konstituierten Erfahrungswelt können daher erst recht nicht die Gegenstände der exakten Wissenschaft fundiert sein. Die Voreingenommenheit durch die Gegenstände der exakten Welt lässt Descartes die Welt, so wie sie vorwissenschaftlich sinnlich erfahren wird, als für sein Absehen unbrauchbar beiseite rücken. Sie ist für ihn problematisch, nicht dagegen die Objektivität exakt wissenschaftlichen Erkennens; genauer gesagt: Diese ist es viel weniger. Auf sie darf sich der Mensch nach der Einschaltung eines Sicherheit garantierenden Gottes verlassen, denn sie ist als klar und deutlich erkannte allem subjektiven Belieben und Schwanken entrückt. Die sie garantierenden Ideen sind nicht durch die Vermittlung der Sinne in mich hinein gelangt, sondern sind ein Abbild ewigen Seins. Ihre Anwendung auf die sinnliche Erfahrungswelt lässt diese selber erst im strengen Sinne erkennbar werden. Der Grund ihrer Erkennbarkeit liegt in den Ideen der exakten Wissenschaften. Als bloße sinnliche Erfahrungswelt gibt sie für die Zwecke der Erkenntnisbegründung nichts her. So vertritt Descartes im Grund die von Husserl im Spätwerk aufgedeckte objektivistische Welttheorie der Neuzeit, der er seine Konzeption des erfahrenden Subjekts und seiner Konstitution der Sinnenwelt und der erst aus ihrer Bearbeitung resultierenden Gegenstandswelt der exakten Wissenschaft entgegenstellt. Husserls Descartesinterpretation kann diese Frontstellung verdecken, da sie Descartes sehr oft nur als Vorläufer des Durchbruchs zur transzendentalen Subjektivität interpretiert, die cartesische Fassung des Verhältnisses von Erfahrungswelt und exakter Wissenschaft dagegen seiner seiner eigenen Auffassung gemäß interpretiert. Die zwischen Husserl und Descartes bestehende Grunddifferenz zwischen Zeit und (Ansich-)Sein wird im I. Kapitel des zweiten Teiles detailliert durchgesprochen.
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Lebenswelt und Wissenschaft
§ 14 Lebenswelt und Wissenschaft Der nicht mehr von Husserl selber publizierte dritte Teil der Krisis versucht systematisch, unbekümmert um die Geschichte des Denkens, in die transzendentale Phänomenologie einzuführen. Zwischen der Entstehung und Veröffentlichung der beiden ersten Teile der Krisis und der Arbeit am dritten Teil hat eine längere Pause gelegen. Husserl setzt daher im dritten Teil, der nach der »Ouvertüre« die eigentlichen sachlichen Ausführungen enthalten soll, neu an. Er verknüpft den Neuansatz aber mit den Schlussgedanken des zweiten geschichtlichen Teiles über Kant. Die Kantkritik dient ihm dazu, in einem ersten Anlauf zu konkretisieren, was er unter der Lebenswelt und ihrer Analyse versteht. Wir nehmen diese Analysen nicht auf, sondern vergegenwärtigen uns vorab, wie sich Husserl dem Thema Lebenswelt nähert. Die Lebenswelt wird zunächst ohne jeden Vorblick auf das Transzendentale zum Thema. Sie wird allerdings sogleich im Rahmen eines wissenschaftlichen Absehens betrachtet, das auf objektive Feststellungen aus ist. Indem das geschieht, erhebt sich die Frage nach dem Verhältnis der lebensweltlichen Wissenschaftlichkeit zur objektiven Wissenschaft. (Vgl. Krisis 126 ff.) Husserl bedient sich eines einfachen Verfahrens, um hier Klarheit zu schaffen. Er vergleicht und kontrastiert. Das Verfahren macht von der Voraussetzung Gebrauch, dass die Wissenschaft von der Lebenswelt mit der objektiven Wissenschaft Gemeinsamkeiten aufweist. Diese sind recht allgemein und elementar. Nichtsdestoweniger sind sie sehr wichtig und entscheiden vorweg darüber, was die Lebenswelt für Husserl nicht bedeuten kann. Sollen über die Lebenswelt wissenschaftliche Feststellungen getroffen werden, die ein für allemal standhalten und von jedermann überprüft werden können, dann muss die Lebenswelt auch so verfasst sein, dass sie dies zulässt. Andernfalls müsste das Vorhaben einer Wissenschaft von der Lebenswelt scheitern. Das ist jedoch nicht nötig; denn diese vorwissenschaftliche Welt weist eine apriorische Strukturtypik auf, die in ihrer Reinheit, frei von faktisch kontingenten und wechselnden Gegebenheiten, durch eine eidetische Wissenschaft erfasst werden kann. Husserl skizziert in diesem Kontext sein nicht mehr ausgeführtes Programm einer Ontologie der Lebenswelt.
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Da die objektive Wissenschaft mit ihren Methoden in unserer Umwelt wie selbstverständlich als die einzige Art von Wissenschaft gilt, nützt es nichts, eine neue Art von Wissenschaft zu postulieren. Es muss dafür gesorgt werden, dass das objektiv Wissenschaftliche nicht unversehens in die Betrachtung eindringt und den Versuch, die Lebenswelt in nicht objektiv-wissenschaftlicher Weise zu erforschen, zum Scheitern bringt. Das wird nach Husserl durch eine Epoché von der objektiven Wissenschaft erreicht. Sie muss uns aus dem Umkreis der objektiven Wissenschaft so befreien, dass wir fortan die Welt zu sehen bekommen, wie sie ohne die Sichtweise und methodische Bearbeitung der objektiven Wissenschaft erfahren werden kann. Dies könnte unter bestimmten Voraussetzungen als ein schwer zu realisierendes Vorhaben angesehen werden. Unter den Voraussetzungen Husserls ist es jedoch leicht durchführbar. Es gilt zunächst, einen einheitlichen Begriff von objektiver Wissenschaft zu entwerfen. Ohne eine voraufgehende genaue Umgrenzung des Wesens der objektiven Wissenschaft ließe sich nicht durch den Vollzug einer Urteilsenthaltung aus dem Bannkreis der gesamten objektiven Wissenschaft heraustreten. Diese Umgrenzung gelingt Husserl dadurch, dass er die objektive Wissenschaft als eine spezifische Art von Menschenwerk fasst, das seinen Ausgang von der vorwissenschaftlichen menschlichen Umwelt genommen und das einer bestimmten Welterfahrung bedurft hat, um als Wissenschaft zustande kommen zu können. Die Tätigkeit, der das wissenschaftliche Werk sein Bestehen verdankt, beruht im konstruktiven Produzieren von rein Gedanklichem, von Ideen. Mittels ihrer ist eine objektiv wissenschaftliche Welterfassung möglich. Als Resultat von Tätigkeiten aber hängen die Grundlagen der Idealwissenschaften von der Wesensart der Tätigkeiten ab. Diese sind kontingente Äußerungen von Menschen, die in der Welt leben können und auch leben, ohne sich derartigem Tun hinzugeben. Die Grundlagen der objektivwissenschaftlichen Welterkenntnis haben am kontingenten Charakter jenes Tuns Anteil. Von ihm und von allen Erkenntnissen, die mittels seiner gewonnen worden sind, gilt es, Enthaltung zu üben und auf die Welterfahrung zurück zu gehen, wie sie sich unangesehen seines Vollzugs und seiner Erkenntnisresultate vollzieht. Das ist jederzeit möglich. Übt man diese Epoché, zeigt sich einem die Welt, wie sie frei von aller objektiver Wissenschaft ist. Husserl drückt diese Sachlage auch so aus, dass er sagt, die objektive Wissenschaft ist eine faktische histori140
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sche Kulturgestalt, die die Welt mit einem Ideenkleid von mathematisch ausdrückbaren Gedanken überzogen hat. Die objektive Wissenschaft bleibt auf ihre umweltliche Ausgangsbasis zurückbezogen. Jeder ihrer Schritte muss bis zu ihr zurückverfolgt werden können. Das besagt aber, dass diese Basis in aller objektiv-wissenschaftlichen Erkenntnistätigkeit anwesend bleibt. Enthält man sich der spezifisch objektiv wissenschaftlichen Betrachtungs- und Handlungsweise, so wird man zu diesem Fundament der objektiven Wissenschaft zurückgeführt. Nur dann hat die negative Epoché von den objektiven Wissenschaften den Effekt, positiv die Welt als ursprüngliche Lebenswelt aufzudecken. Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Welt in einer neuartigen wissenschaftlichen Weise zu betrachten. Es finden sich in der Krisis einige Analysen, welche die Richtung für den Aufbau der neuen Weltwissenschaft weisen. Unter dem Titel Lebenswelt werden zunächst die Dinge als Gegebenheiten der bloßen Wahrnehmungswelt zum Thema. In der Anschauung vollzieht sich ja nach Husserl die ursprüngliche Erfahrung der Welt. Sie bietet die Möglichkeit, zu einer Analyse von Strukturen, die für alle Dingerfahrung konstitutiv sind, fortzuschreiten. Die Dinge zeigen sich in der Wahrnehmung als leibhaft selbstgegeben. Auf diesen Urmodus aller Erfahrung sind abkünftige Modi wie die Erinnerung und die vorgreifende Vergegenwärtigung zurückbezogen. Sie empfangen ihren Sinn als Erfahrungsmöglichkeiten aus ihrem Rückbezug auf den Urmodus der Erfahrung. Sie gehören nichtsdestoweniger notwendig zur vollen Konstitution eines Erfahrungsdinges. Das in der unmittelbaren Anschauung Selbstgegebene ist trotz seiner Selbstgegebenheit immer nur inadäquat gegeben und verweist auf andere Selbstgebungen. Die gesamte Welt qua Natur ist so geartet, dass in ihr keine totale und apodiktische Selbstgebung möglich ist. Sie ist ein Gesamtzusammenhang von solchem, das nur inadäquat selbst gegeben werden kann, das aber nichtsdestoweniger auf Selbstgebung in möglicher Erfahrung angelegt ist. Wenn man die Horizonte, in denen sich ein Ding zeigt, radikal expliziert, zeigt sich, dass jedes Ding und jeder Dingzusammenhang letztlich im Welthorizont stehen. Das einfache Beispiel des Fortschreitens von der räumlichen Umgebung eines Dinges zu seinen äußeren UmgebungshoriA
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zonten kann die phänomenologische These von diesem Zusammenhang veranschaulichen. Ihm entspricht, noetisch gewendet, eine Einheit von Ding- und Weltbewusstsein. Zu verfolgen, wie sich die Welt als wahrnehmbarer Dingzusammenhang aufbaut, ist eine erste große Aufgabe für die Lebensweltwissenschaft. Die Wahrnehmung eines Dinges ist für uns untrennbar mit unseren kinästhetischen Vermögen verbunden. Ohne die Vielfalt sinnlich-leiblichen Sichbewegens ist keine Dingkonstitution vollziehbar. Das Ding zeigt sich gegenüber der Vielheit der Zugangsweisen, in denen wir es erfahren, als Einheit. Es wird als identisches im Wechsel von mannigfachen Abschattungen gemeint. Eine solche Gegebenheitsweise ist für die Seinsart von Dingen konstitutiv. Das »volle Ding« baut sich in der Wahrnehmung außerdem erst in mehreren Stufen auf. Zwischen ihnen liegen kategoriale Differenzen von großer Reichweite. Von ihnen hängt z. B. ab, ob etwas nur als Phantom oder als Ding mit substantial-kausalen Eigenschaften, das mit anderen seinesgleichen im Kausalkonnex steht, aufgefasst wird. (Vgl. Claesges 1964) Die Konstitution des Dinges hängt engstens mit der des Raumes zusammen. Erst vom erfahrenen Raum aus führt ein Weg zu den naturwissenschaftlichen Begriffen von Raum und räumlicher Realität. Die Wahrnehmung eines Dinges führt außerdem auf den Zeitcharakter des Wahrnehmens und des Wahrgenommenen. Alles Dingliche konstituiert sich im Zeithorizont. In ihm ist es gegenwärtig; in ihm sinkt es in die Vergangenheit zurück und bleibt doch an die Stelle seines Präsentgewesenseins gebunden. In dieser Weise in der Zeit zu sein, also nicht zu jeder Zeit in zeitlich unmodifizierter Identität zu verharren, das kennzeichnet das Dinglich-Reale in seiner Seinsweise im Unterschied zum Idealen als einem Allzeitlichen. Die schlichte Anschauung erfährt die Natur frei von allen Bedeutungsprädikaten, d. h. in der ursprünglichen Erfahrung begegnet die Welt als bloße Natur. Auf dieser Art der Welterfahrung bauen sich andere Erfahrungsmöglichkeiten auf, in denen das empfindendepraktische Lebewesen das Naturale im Bezug auf sich apperzipiert, z. B. als nützlich, abträglich, bedrohlich, schön, hässlich usw. Die Konstitution solcher Charaktere ist nach Husserl höherstufig. Sie sind in der naturalen Erfahrung fundiert, da es Dinglich-Reales sein soll, das als nützlich bedrohlich, schön usw. aufgefasst wird. Auch die großen Seinsbereiche des Animalischen und Personal142
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Geistigen müssen eigens konstitutiv ausgewiesen werden. Die Konstitution des Personal-Geistigen verläuft über die Aufklärung der Intersubjektivität, deren erster Schritt die Konstitution des alter ego darstellt. Erst wenn dies geleistet ist, können die Probleme konstitutiv in Angriff genommen werden, die das Zusammenleben der Menschen betreffen: z. B: soziale und kulturelle Gegebenheiten. Es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, dass Husserl auch in seinem Spätwert noch an einem gestuften Gang von konstitutiven Schritten festgehalten hat, auf dem aus abstrakten Momenten Gegebenheiten der Alltagserfahrung wie Ding, Raum und Zeit erwachsen. Er hat diesen Gang allerdings niemals in Allseitigkeit entwickelt. Alle Schwierigkeiten, die ein Aufbau unserer natürlichen, vorwissenschaftlichen Welterfahrung aus naturalen Elementen und Bestandstücken mit sich bringt, müssten also in der Lebensweltwissenschaft wieder auftauchen.
§ 15 Lebensweltliche und objektive Wissenschaftlichkeit Die späte Phänomenologie nimmt ein Verhältnis der Herkunft und Abhängigkeit zwischen lebensweltlicher Erfahrung und objektiver Wissenschaft an. Die Aufklärung dieses Verhältnisses ist in ihr nicht soweit gediehen, wie es wünschenswert wäre. Über die Zusammenhänge von Lebenswelt und objektiver Wissenschaft lässt sich am meisten aus dem § 9, der Beilage III Vom Ursprung der Geometrie, und aus einigen anderen Beilagen des Krisis-Bandes lernen. Es handelt sich darum, die elementaren Grundlagen der Idealwissenschaften Logik, Mathematik und Geometrie aus einer besonderen Art menschlichen Tuns herzuleiten und verständlich zu machen. Die aufzuklärenden Vorgänge lassen sich als 1) Idealisieren, 2) Mathematisieren und 3) Formalisieren unterscheiden. Nur weil die Elemente der Ideenwissenschaften aus der sinnlichen Welterfahrung herausgebildet worden sind, soll ihre Anwendung auf die erfahrene Welt in der exakten Naturwissenschaft möglich sein. Für Husserls Herleitung der idealwissenschaftlichen Grundbegriffe ist es, wie ausgeführt, ausschlaggebend, dass die Lebenswelt in einer bestimmten Weise verfasst sein muss, um die Konstruktion von idealen-exakten Begriffen zuzulassen. Das Vermögen des in der Welt lebenden Subjekts, durch dessen freie Betätigung das IdealwissenA
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schaftliche hervorgebracht wird, bedarf eines bestimmt gearteten Materials, an dem es sein idealisierendes und mathematisierendes Tun ausüben kann. Hätte die vorwissenschaftliche Umwelt z. B. nicht eine feste invariante Struktur, so könnte die Geometrie nicht zu ihren exakten Grundbegriffen gelangen. Herrschte in der sinnlichen Erfahrung nicht schon das Prinzip gegenständlicher Selbigkeit, dann wäre dem Menschen der Begriff des absolut fixen, aber material unbestimmten, leeren Etwas, mit dem die formalen Wissenschaften Logik und Mathematik operieren, nicht zugänglich. Husserl gibt diesem Zusammenhang folgendermaßen Ausdruck: »Von besonderer Wichtigkeit ist nun die Abhebung und Feststellung der Einsicht: nur soweit als der apodiktisch allgemeine, der in aller erdenklichen Variation invariante Gehalt der raumzeitlichen Gestaltensphäre bei der Idealisierung in Betracht gezogen wird, kann ein ideales Gebilde erwachsen, das für alle Zukunft und für alle kommenden Menschengenerationen nachverstehbar und so tradierbar ist, nacherzeugbar mit identischem intersubjektivem Sinn. Diese Bedingung gilt weit über die Geometrie hinaus für alle geistigen Gebilde, die unbedingt allgemein tradierbar sein sollen«. (Krisis, Beilage III, 385) Also: Nur aufgrund einer gewissen Strukturgleichheit zwischen Lebenswelt und idealwissenschaftlichen Elementarbegriffen lässt sich die phänomenologische Herleitung der objektiven Wissenschaft aus der Lebenswelt bewerkstelligen. Diese Strukturgleichheit darf nicht dazu verführen, den gewaltigen Unterschied in der Seinsweise zwischen den invarianten Strukturen der erfahrenen Welt und den exakten Grundbegriffen eines reinen Ideendenkens zu übersehen, wie es für die gesamte objektive Wissenschaft der Neuzeit kennzeichnend ist. Nicht grundlos ist die geometrische Idealisierung für die objektiv-wissenschaftliche Welterkenntnis von besonderer Bedeutung. Sie betrifft in den Jahrhunderten vor der Neuzeit nur die äußeren Formen der Dinge, ohne an ihren Gehalt heranzukommen. Das ändert sich in der Neuzeit. Die Welt erscheint hier zunächst ihrer raumzeitlichen Gestaltseite nach als Sphäre eines objektiven Ansichseins, wie es sich vorbildlich in der euklidischen Geometrie darstellt. Aber damit nicht genug. In der Neuzeit gelingt eine universale Quantifizierung der qualitativen Füllen der anschaulichen Welt. Von Galilei, dem Stifter der objektiven Wissenschaft, wird dem sinnlich Qualitativen zugedacht, dass es sich in mathematischen Verhältnissen fassen lässt. Es fügt sich quantitativen geometrisch-arithmetischen Darstel144
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Lebensweltliche und objektive Wissenschaftlichkeit
lungen und lässt sich so objektivieren. (Vgl. Krisis 35 f.) Diesem Vorentwurf ist die Wissenschaft der Neuzeit gefolgt, ihn hat sie ausgeführt und bewährt. Er führt sie nach Husserl zum Begriff einer Welt, die in mathematischer Bestimmtheit in sicht ruht, ohne eines sie sinnlich-wahrnehmend erlebenden Subjektes zu bedürfen. »Ist die anschauliche Welt unseres Lebens bloß subjektiv, so sind die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen, entwertet. Nur insofern sind sie nicht bedeutungslos, als sie, obschon falsch, ein hinter dieser Welt möglicher Erfahrung liegendes, ein ihr transzendentes An-sich vage bekunden«. (Krisis 54) Im 3. Kapitel des zweiten Teiles wird Husserls Konzeption der mathematisierenden Objektivierung der Natur in concreto skizziert, um unmittelbar und in aller Schärfe gegen sie eine objektiv gewusste Welt anderer Art abzuheben, die weder ein methodisch abkünftiges Substrukt der Sinnenwelt ist, das einer »falschen« Seinsidee unterliegt, noch als Korrelat eines intentionalen Bewusstseinslebens besteht. Das Ergebnis dieser Kontrastierung wird ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu dem Resultat sein, dass es keine Einheit die Welt gibt, die einem universalen wissenschaftlichen Wissen zugänglich ist. Es geht Husserl nicht nur um die Aufklärung des Zustandekommens der objektiven Wissenschaft und ihres Weltbegriffes. Diese Aufklärung hat vielmehr ihre Spitze darin, dass sie einen grundsätzlichen Mangel der objektiven Wissenschaft aufdeckt: nämlich die ihr zugehörende Ausschaltung und Vergessenheit des subjektiven Lebens, das diese Art der Welterkenntnis leistet. Nur die Aufdeckung beider Vorgänge ermöglicht ein angemessenes Verständnis des Leistungssinnes der objektiven Wissenschaft. Husserls Sicht des Verhältnisses von vorwissenschaftlicher Erfahrung und idealwissenschaftlicher Welterkenntnis vermag uns in einer Zeit hochentwickelter und komplizierter Wissenschaftlichkeit, in der die Menschen die Übersicht über die Wissenschaft zu verlieren drohen, darauf hinzuweisen, dass alle wissenschaftliche Erkenntnis aus schlichter, unmittelbarer vorwissenschaftlicher Welterfahrung erwachsen ist – und wieder muss rekonstruiert werden können, wenn sie standhaltende Erkenntnis ist. Daran ändert weder ihr Komplikationsgrad noch ihre verwickelte geschichtliche Herkunft etwas. Nur auf diesem Wege lässt sich die Fremdheit, die zwischen wissenschaftA
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Die Endgestalt der Phnomenologie
lichen Produkten und menschlichem Leben auftreten kann, grundsätzlich immer wieder beheben. Eine solche genetische erkenntnistheoretische Stellungnahme zum Problem der Entfremdung von Wissenschaft und Leben macht soziologische und psychologische Analysen zum Verhältnis von Wissenschaft und Leben, welche die Wissenschaft in anthropologischen und gesellschaftlichen Kontexten behandeln, nicht überflüssig. Derartige Analysen liegen Husserl allerdings fern. Die Darstellung Husserls, in der nach der Klärung der Differenz von Lebenswelt und objektiver Wissenschaftlichkeit die Lebenswelt selber wiederum Thema einer Wissenschaft wird, legt die Frage nahe, warum der Vor- und Außerwissenschaftlichkeit der Lebenswelt ein solches Gewicht beigelegt worden ist. Wenn es um den Aufbau einer Wissenschaft von der Lebenswelt geht, liegt doch gar kein Rückgang hinter die Wissenschaft vor. Wie kann dann die Zuwendung zur Lebenswelt die europäischen Wissenschaften radikal in Frage stellen oder hinter sich lassen? Fragen solcher Art können den Leser in die Irre führen. Ohne Husserls Konzeption des europäischen Objektivismus und seiner Wissenschaft lässt sich das Lehrstück von der Lebenswelt nicht verstehen. Es setzt den oben angedeuteten weiten, noch nicht spezifizierten Begriff von Wissenschaft voraus, dem Husserl sein Werk verpflichtet weiß. Diesem Begriff bleibt auch das Lebensweltthema unterstellt. Das Neue, das durch die Thematisierung der Lebenswelt im System der Phänomenologie auftritt, liegt in der Differenz von objektiver Wissenschaft und Wissenschaft eines anderen Sinnes beschlossen. Husserl kommt es im Spätwerk auf die Differenz der beiden Arten von Wissenschaft an. Indem die Geschichte des europäischen Denkens nur die objektive Wissenschaft und ihre Herrschaft gekannt hat – ohne dass es der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie gelungen wäre, eine wissenschaftliche Transzendentalphilosophie grundzulegen –, ist es zur Krise der Gegenwart gekommen. Nur eine neue Art von Wissenschaftlichkeit kann nach Husserl die Krise der europäischen Menschheit beheben. Denn auf rationale Selbstverantwortung und Wissenschaftlichkeit darf der abendländische Mensch nicht verzichten, will er nicht sich selbst und seine Idee vom Menschentum preisgeben. Die gesuchte neuartige Wissenschaftlichkeit aber ist die der Lebenswelt angemessene, die das subjektive Welterfahren in sich einbezieht. Nur diese Wissenschaftlich146
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keit führt zur transzendentalen Einsicht in den subjektiven Grund des Seinssinnes der Welt weiter. Objektive Wissenschaftlichkeit versperrt diesen Weg. Die Welt wird aufgrund ihres Verfahrens zu einem mathematisch erfassbaren All von Ansichseiendem. Das Menschen-Ich als erfahrend-leistende Quelle allen Sinnes von Sein kommt in ihr nicht vor. Die in ihm verhüllt sich tätigenden Leistungen bleiben der objektiven Wissenschaft erst recht verborgen. Da sie nur gegenständlich ausgerichtet ist und sich von einem idealisierten Gegenstandsbegriff leiten läst, entschwindet ihr das menschliche Leben als das sie hervorbringende und ausübende Subjektive. Es begegnet ihr nur noch in der Gegenstandsebene – in der ständigen Gefahr, zu einem Stück der Welt naturalisiert zu werden. Das kann der lebensweltlichen Wissenschaft nicht widerfahren. Sie hält sich, auch wenn sie noematisch gerichtet ist, in der Korrelation von subjektivem Erfahren und gegenständlich Erfahrenem. Alles gegenständlich Erfahrbare gilt ihr als dem Erfahren und Erkennen zugehörig. Die ihm eignende subjektive Seite kann nicht als für das erkannte Seiende in seiner Seinsweise außerwesentlich beiseite geschoben werden. Ohne sie und ihre Leistung ist nichts in der Welt das, was es als erfahrenes und erkanntes ist. Und jenseits dessen kann nicht vom Seienden gesprochen werden. Wird nach der Bedeutung der Unterscheidung von lebensweltlicher und objektiver Wissenschaft im Werk Husserls gefragt, so ist auf den oben skizzierten Horizont hinzuweisen. Ohne ihn kann sie nicht gewürdigt werden. Sie könnte andernfalls als relativ unwichtig erscheinen. Eine solche Beurteilung der Lage drängt sich vor allem dann auf, wenn man – was Husserl nie gewollt hat – aus dem Umkreis der Wissenschaft überhaupt heraustritt, um die Philosophie im nicht-wissenschaftlichen Leben, in der Praxis oder andernorts anzusiedeln und so der Wissenschaftlichkeit wie dem methodischen Erkennen überhaupt entgegenzustellen.
§ 16 Der bergang zur transzendentalen Einstellung von der Lebenswelt aus Nach knappen Andeutungen zu einer ontologisch ausgerichteten Lebensweltwissenschaft wendet sich Husserl einem anderen Aspekt der Lebensweltthematik zu, der für sein philosophisches Wollen wichtiger ist. Es wird die Art und Weise, wie die Menschen in der Welt A
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leben, in den Blick gerückt, um den Überstieg zum Transzendentalen vorzubereiten. In der Krisis-Abhandlung schlägt Husserl zwei Wege ein, die in die transzendentale Sphäre führen: den Weg von der vorgegebenen Lebenswelt aus und den Weg über die reine Psychologie. Es ist hier kein Raum, auf die Verwandtschaft und den Unterschied der beiden Wege näher einzugehen. Beide sind für die Endgestalt der Phänomenologie kennzeichnend. Wir besprechen zunächst den ersten. Der Zugang zum Transzendentalen kann nur gewonnen werden, wenn es dem Menschen gelingt, sich über die Seinsweise der Welt und seiner selbst als eines Wesens in der Welt Klarheit zu verschaffen. Um das zu erreichen, muss der Mensch sich der Welt, in der er selber eingeschlossen ist, so gegenüberstellen können, dass er als phänomenologischer Zuschauer erblickt, worin die Seinsweise des welthaft Seienden und seiner selbst beruht. Gehen wir wieder von einer Analyse der strukturierten Ganzheit allen Erfahrens und Erkennens aus, die sich in der Formel egocogito-cogitatum ausspricht. Wird diese Strukturbeschreibung in größtmöglicher Weite genommen, so tritt am Pol des cogitatum die Welt auf. Die Welt ist nicht cogitatum irgendeines einzelnen Aktes, sondern das Gesamtcogitatum des Lebens in allen seinen Vollzügen. Aber im Leben, wie es die Menschen zunächst in der Welt führen, wissen sie davon nichts. In all ihrem Erleben und Erfahren sind sie nur auf irgendetwas in der Welt gerichtet. Ihm sind ihre praktischen und theoretischen Interessen gewidmet. Das, worauf sie gerichtet sind, ist im Zusammenhang der Welt etwas, das einem größeren Ganzen zugehört und innerhalb seiner seine Bestimmtheit hat. Die Menschen, die so leben, sind eben nicht auf die Welt selber gerichtet. Gleichwohl ist die Welt in allem, womit sie befasst sind und befasst sein können, vorausgesetzt. Die Welt, in der die Menschen natürlich eingestellt leben, hat keine fixe Grenze. Die Weltgrenze ist ein sich verschiebender Horizont. Aber trotz der nicht-begrenzten Offenheit des Erfahrungslebens, in dem sich die Welt wandelt, bleibt doch alles Neue mit schon geltendem Altem in Zusammenhang. Es kann im Leben in der natürlichen Einstellung nichts Neues eintreten, das die Grenzen, die mit der natürlichen Einstellung gegeben sind, sprengt. Durch die Verschiebung des Horizontes wird immer nur welthaft Seiendes vermittelt, solange man sich in der natürlichen Einstellung hält. 148
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Für das weitere Vorhaben Husserls ist es wichtig, dass das natürlich eingestellte Leben in seiner Vielfältigkeit und unabgeschlossenen Offenheit von dieser einheitlichen Art ist. Wäre das nicht der Fall, könnten die folgenden Reflexionsschritte nicht vollzogen werden. Es könnte nicht gelingen, mit einem Schlage vollständig aus der natürlichen Einstellung herauszutreten. Sie ließe sich als schrittweise zu vollziehendes Außerspielsetzen all der Geltungen missverstehen, durch die sich im natürlichen Leben die Welt als Geltungseinheit aufbaut. Das ist im Auge zu behalten, wenn der Versuch gelingen soll, eine Einstellung zu erreichen »über der Geltungsvorgegebenheit« der gesamten Welt in ihrer durch die Erfahrung zustande gekommenen synthetischen Einheit. (Vgl. Krisis 153) In der jetzt anstehenden Epoché müssen sich die Menschen von der Weltvoraussetzung frei machen, die ihr Leben in der natürlichen Einstellung trägt. Sie müssen ihre natürlich-normale Lebensweise unterbrechen. Sie dürfen diese nicht länger mitmachen, sondern müssen an sich halten und Epoché üben. Im Vergleich zu dieser Epoché ist die Epoché von den objektiven Wissenschaften ein leichtes. In ihr handelt es sich um ein Absehen von aktiven Leistungsvollzügen, die von Menschen getätigt worden sind, die bereits in der Welt leben. Deren Ergebnis ist eine Totalität von Erkenntnissen, welche die Weltsicht verwandelt haben. Aber das ändert nichts daran, dass die Menschen, auch ohne objektive Wissenschaft zu treiben, in der Welt leben können und in der Welt gelebt haben. Nur auf dem Grund ihres vorwissenschaftlichen Lebens und seiner Erfahrung der Welt haben sie die objektive Wissenschaft und ihren Inbegriff der Welt hervorgebracht. Jetzt handelt es sich nicht mehr darum, von einer historischen Kulturgestalt Epoché zu üben, sondern von der Welt, in der der Mensch immer schon vorwissenschaftlich lebt und ohne die er sein Leben nicht kennt. Sie erscheint ihm als ein vorgängiger Boden, auf dem er sich vorfindet und der ihn trägt. Wie soll von diesem Vorgängigen Epoché geübt werden können? Von verschiedenen Seiten ist gegen Husserl die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens betont worden. Der Mensch soll danach so in die Welt hineingehören, dass er sich ihr nicht gegenüberzustellen und in seiner eigenen Seinsweise durch eine Differenz zum Sein des welthaft Seienden zu bestimmen vermag. Dies soll ihm jedoch nach Husserl möglich sein. Diesen Grundgedanken, der die Phänomenologie spätestens seit den Ideen I beherrscht hat, versucht Husserl im A
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Spätwerk noch einmal zu endgültiger Klarheit zu bringen. Was ist die Welt und der Mensch in ihr? Die Antwort auf diese Frage kann nur vom Menschen her gefunden werden. In ihr wird aufgedeckt, dass der Mensch seiner verborgenen Seinsweise nach – nicht als Mensch in der Welt – vor allem welthaft Seienden ausgezeichnet ist – als prämundanes, transzendentales Subjekt, in dessen Erfahrungsund Erkenntnisleistungen sich Seinssinn und Seinsgeltung des welthaft Seienden herstellen. Allerdings muss das Menschen-Ich zu diesem Konzept passend gefasst werden. Den Ausgangspunkt des Vollzuges der Epoché bildet das Leben in der natürlichen Einstellung. In der natürlichen Einstellung leben die Menschen in den Welthorizont hinein – »und das in normaler ungebrochener Beständigkeit, in einer durch alle Akte hindurchgehenden synthetischen Einheitlichkeit«. Diese Lebensweise wird von Husserl im Blick auf die Welt folgendermaßen beschrieben: Welt ist den so lebenden Menschen »vorgegeben«. Sie leben »in einem universalen unthematischen Horizont«. (Vgl. Krisis 148) Was ist in dieser Beschreibung geschehen? Husserls Beschreibung des Weltbezuges der natürlichen Einstellung erhebt den Anspruch, wiederzugeben, was im natürlichen Leben der Menschen vor sich geht und vorliegt. Der neue Ausdruck »Vorgegebenheit der Welt« bezeichnet also zunächst nichts Neues, sondern dient zur Beschreibung einer Sachlage, die mit dem natürlichen Leben gegeben ist. Die Rede von der Vorgegebenheit der Welt aber ist nicht mit dieser Weise zu leben gegeben. Sie wird erforderlich, wenn diese Weise zu leben beschrieben werden soll, und ist insofern neu. Sie tritt im »theoretischen Tun« desjenigen auf, der das natürliche Leben beschreibt. Er spricht von der »Vorgegebenheit der Welt«. Darin liegt für das natürliche Leben noch nichts sonderlich Befremdliches. Die Beschreibung seines Weltbezuges macht eben die Verwendung bestimmter Worte erforderlich. Aber damit gibt sich Husserl nicht zufrieden. Der Ausdruck Vorgegebenheit der Welt soll nicht nur die Art des Weltbezuges, die unabhängig von jeder theoretischen Zuwendung und Beschreibung in der natürlichen Einstellung vorliegt, kennzeichnen. Er dient dazu, darauf aufmerksam zu machen, dass vorgegeben zu sein besagt, einem Subjekt vorgegeben zu sein; und zwar in irgendwelchen subjektiven Gegebenheitsweisen. Das Vorgegebene und die Weisen seines Gegebenseins für das Subjekt gehören zusammen. Nur dann lässt sich von der Vorgegebenheit der Welt unmittelbar zu den Weisen 150
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ihres Gegebenseins gelangen, denn nur dann gehören die subjektiven Gegebenheitsweisen dem Gegebensein für und dem Vorgegebensein zu. Diese drei Schritte zwingt Husserl zusammen, indem er sich eine Vieldeutigkeit zu Nutzen macht, die mit dem Wort vor-gegeben verbunden werden kann. So schreibt er: »Anstatt aber in dieser Weise des »schlicht in die Welt Hineinlebens« zu verbleiben, versuchen wir hier eine universale Interessenwendung, in welcher eben das neue Wort »Vorgegebensein« der Welt notwendig wird, weil es das Titelwort für diese anders gerichtete und doch wieder universale Thematik der Vorgegebenheitsweisen ist. Nämlich nichts anderes soll uns interessieren als eben jener subjektive Wandel der Gegebenheitsweisen, der Erscheinungsweisen, der einwohnenden Geltungsmodi, welcher, …, das einheitliche Bewusstsein des schlichten »Seins« der Welt zustande bringt«. (Krisis 149) Die Beschreibung des Weltbezuges des natürlichen Lebens durch die Rede vom Vorgegebensein der Welt braucht nicht auf diesen Weg zu führen. Akzeptiert das natürliche Leben die Rede, ihm sei die Welt vorgegeben, ohne dass es davon wisse und dies sage, so muss es deswegen nicht meinen, dass die Welt ihm in subjektiven Weisen des Gegebenseins gegeben ist und dass davon ihr Sein abhängig ist. Es bleibt die Möglichkeit offen, dass es die Welt für vorgegeben hält, ohne dies Vorgegebensein als ein Für-es-gegebensein des Seins der Welt in subjektiven Gegebenheitsweisen zu verstehen. Es könnte ja gemeint werden, die Welt liege – unangesehen ihres Gegebenseins für das menschliche Leben – dem menschlichen Leben voraus. Weil sie dem Leben vorgegeben sei, darum könne sie ihm in subjektiven Modis gegeben werden o. ä. Würde die Rede von der Vorgegebenheit der Welt so verstanden, dann führte sie nicht wie von selbst weiter zu subjektiven Gegebenheitsweisen des Vorgegebenen. Durch sie würde vielmehr die Welt ihrem Sein nach von ihrem Gegebensein für das Leben getrennt gehalten. Und eben dies ist das, was Husserl durch seine Rede vom Vorgegebensein verhindern will. Dient ihm doch seine Beschreibung des natürlich eingestellten Lebens und der vorgegebenen Welt gerade dazu, das Aufkommen eines solchen Gedankens einer Trennung von Sein und Gegebensein von vornherein zu verhindern. (Vgl. hierzu die Husserl-Analyse in Tugendhaft 1967) Husserl rückt auf dem skizzierten Weg in die transzendentalsubjektive Erfahrungssphäre das Vorgegebensein und das in subjektiven Gegebenheitsweisen Gegebensein der Welt unmittelbar mit der transzendentalen Seinsthese zusammen, derzufolge das Sein der A
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Welt darin liegt, dass es sich in den subjektiven Gegebenheitsweisen herausstellt (bildet, macht). Wenn Husserl in dem soeben herangezogenen Zitat sagt, dass der subjektive Wandel der Gegebenheitsweisen »das einheitliche Bewusstsein des schlichten Seins der Welt zustande bringt«, dann ist damit eben gemeint, dass das Sein der Welt in den subjektiven Bewusstseinsweisen, in denen für das Subjekt Gegenständliches gegeben ist, zustande kommt. In diesem Bewusstsein und dem in ihm Bewussten soll das Sein der Welt liegen. Anderes ist unter dem Titel Sein der Welt nicht zu suchen. Die subjektiven Zugangsmodi in ihrer noetischen und noematischen Gesamtheit entscheiden darüber, was das Sein dessen ausmacht, was dem Subjekt zugänglich wird und von ihm in seiner Wahrheit erkannt wird. Mit anderen Worten: In der Krisis-Abhandlung hängt die transzendentale These über das Sein der Welt ganz eng mit der reflexiven Aufdeckung und Beschreibung des natürlich eingestellten Lebens zusammen. Diese Überlegungen lassen deutlich werden, warum der Rückgang auf das natürliche Leben und die Lebenswelt für Husserls Transzendentalphilosophie wesentlich werden konnte. Im Leben in der natürlichen Einstellung bleibt die Welt als vorgegebene an die Gegebenheitsweisen, in denen sich alles Gegenständliche dem Subjekt gibt, zurückgebunden. Die Einheit zwischen erfahrendem Leben, subjektiven Gegebenheitsweisen des erfahrenen Gegenständlichen und der Welt als dem Gesamt des Gegenständlichen bleibt hier von vornherein gewahrt. Das natürlich eingestellte Leben ist hier nicht länger dadurch bestimmt, dass ihm eine »Meinung« (eine Überzeugung, eine These, ein Begriff) über das Sein der Welt zugeschrieben wird – durch die es die Welt vom Subjekt als »ihm vorausliegend-vorgegeben«, »unabhängig an sich seiend« o. ä. abgetrennt sein ließe. Es wird vielmehr durch die Weise seines Lebensvollzugs ausgezeichnet, von der es selber nichts zu wissen braucht; strenger gesprochen: von der es seiner Definition gemäß nichts weiß. Vielleicht ist es sogar zulässig, anzunehmen, dass das natürlich eingestellte Leben falsche Meinungen über seine Lebensweise und die von ihm erlebte Welt haben kann. Auch dadurch würde seine von Husserl beschriebene Lebensweise nicht berührt. Nur auf diese kommt es in der späten Phänomenologie an. Das unterscheidet sie von anderen (idealistischen wie realistischen) Positionen, die daran festhalten, dass das natürlich eingestellte Leben eine theoretische Meinung bezüglich des Seins 152
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der Welt hat – die es (anders) zu verstehen oder zu erhärten gilt. Im Gegensatz zu derartigen Positionen wird die Eigenart der Phänomenologie klar, wenn die sinnvolle Redemöglichkeit vom Sein der Welt von vornherein in die von uns erfahrene Welt und die Art und Weise unseres Welterfahrens hineingezogen wird. Alle anderen Weisen, das Sein der Welt zu verstehen, wie sie aus der Geschichte von Philosophie und Wissenschaft bekannt sind, wären dann als »theoretische Zusätze« aus der Beschreibung des Lebens in der natürlichen Einstellung fernzuhalten. Wird das natürlich Leben aus seiner unmittelbar gegenständlich gerichteten Einstellung herausgedreht, wozu der Anfang mit seiner Beschreibung gemacht ist, so dass es das allem Gegenständlichen zugehörige subjektive Erleben gewahrt, dann ist damit bereits die Quelle aufgedeckt, die für das Sein der Welt aufkommt. Macht man das natürliche Leben, in dem sich die Welt für uns in subjektiven Gegebenheitsweisen »gibt«, zum Thema, so gewinnt man den Zugang zu einer Wissenschaft, die nicht mehr auf dem Boden der Welt steht. Es ergibt sich damit »eine Wissenschaft von dem universalen Wie der Vorgegebenheit der Welt, also von dem, was ihr universales Bodensein für jedwede Objektivität ausmacht«. (Vgl. Krisis 149) Die einzigartige Einstellungsänderung, welche die transzendentale Epoché darstellt, führt zu dem neuartigen Thema »Vorgegebenheit der Welt als solcher«. Ist die Welt in der Weise, wie sie uns in subjektiven Gegebenheitsweisen gegeben ist, so sind die Subjekte, denen die Welt gegeben ist, nicht länger Seiende in der Welt, da ihr Sein eben darin liegt, dem Subjekt in subjektiven Gegebenheitsweisen zur Erscheinung zu kommen. Hat die Welt ihr Sein darin, dem Subjekt gegeben zu sein, dann muss das Subjekt selber von anderer Art sein als alles Welthafte. Es ist transzendentales Leben, das fungierend-leistend für das transzendente Sein der Welt aufkommt. Diese seine Wesenart kann das Leben erst in den Blick bekommen, wenn es sich von der stärksten, universalsten und verborgensten inneren Bindung, der Bindung an die Welt, freigemacht hat. In dem Augenblick, wo das geschehen ist, gibt es für das Leben kein seinsmäßig Fremdes und Anderes mehr, das ihm von außen, selbständig und unabhängig entgegensteht. (Vgl. dazu u. dagegen Wagner 1953/54) Das besagt nicht, dass die Welt verschwunden und nur das Subjektive als begrenzter Teilbestand des Universums übriggeblieben wäre. Eine solche Auffassung würde eine transzendental-idealistische These anthropologisch-psychologisch missverstehen. Es hat sich A
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nur der Seinssinn der Welt gewandelt. Es steht die Welt im Blick »rein als Korrelat der ihr Seinssinn gebenden Subjektivität«, aus deren Gelten sie überhaupt »ist«. Das »Bewusstseinsleben »der die Weltgeltung leistenden Subjektivität« tritt als universaler Grund von Seinssinn und Seinsgeltung jedes welthaft Seienden auf. Welt ist zum »Phänomen« geworden. Das subjektive Vermeinen ist dem als seiend vermeinten Gegenständlichen also vorweg. Daraus ist die Konsequenz zu ziehen, dass die Welt als Gesamt des Gegenständlichen nicht als vorweg seiend vorausgesetzt werden darf. (Vgl. Krisis 154 f.) Es ist nicht möglich, die zentrale These der Phänomenologie über das Sein der Welt und des Subjekts in einer Einführung vollständig und befriedigend zu explizieren. Ihre Darstellung sollte außerdem in eine kritische Analyse übergehen. Wer wollte übersehen, dass sich hier mehr Fragen aufdrängen, als auf kurzem Raum beantwortet werden können. An diesem Ort ist es nur wichtig, deutlich herauszustellen, dass Husserl in seinem Spätwerk die Konzeption von der Lebenswelt dazu nutzt, den Überstieg in die transzendentale Sphäre so zwingend wie möglich zu gestalten, indem er den Zugang zur transzendentalen Lebenssphäre bereits aus der Beschreibung des natürlich-normalen Lebens erwachsen lässt. Von Diskrepanzen oder gar Widersprüchen zwischen Lebensweltkonzeption und Transzendentalphilosophie kann keine Rede sein. Es liegt auf der Hand, welchen großen Vorteil sich Husserl von einem derartigen Weg in die transzendentale Phänomenologie verspricht. Der Rückgang auf das ego cogito im Sinne des Descartes, den Husserl selber öfter vollzogen hat, brachte stets die Gefahr mit sich, dass die Frage nach dem Verbleiben oder der Wiedergewinnung der Welt auftauchte. Es musste zumindest im Anschluss an den cartesischen Rückgang aufgewiesen werden, wie und warum das ego cogito die Welt nicht verloren hatte. Eine solche Problematik taucht beim lebensweltlichen Weg in die transzendentale Erfahrungssphäre gar nicht mehr auf. Er verläuft so, dass die gesamte Welt von vornherein im subjektiven Erfahren als Korrelat einbehalten bleibt. (Vgl. Krisis 157 f.)
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Reine Psychologie und transzendentale Phnomenologie
§ 17 Reine Psychologie und transzendentale Phnomenologie Es muss noch einmal Husserls Zugriff auf das Psychische des Menschen-Ich in der Welt ins Blickfeld gerückt werden, sofern er in der Krisis-Abhandlung neben der Thematisierung der Lebenswelt erfolgt. Beide Zugangswege zum Transzendentalen sind nah verwandt. Im Zugang über die Psychologie knüpft Husserl an eine bestehende Wissenschaft an und versucht, diese phänomenologisch so zu reformieren, dass sie sich im Resultat ihrer Umformung nicht wiedererkennen dürfte. Die Psychologie hat bei Husserl für die Realisierung seiner philosophischen Absichten stets eine wichtige Rolle gespielt. In den zwanziger Jahren tritt sie wieder besonders stark in den Mittelpunkt des phänomenologischen Interesses. Vorlesungen und Vorträge zeugen davon. Husserl misst einer intentionalen Psychologie in dieser Zeit eine wachsende Bedeutung für eine wissenschaftlich haltbare Begründung der Transzendentalphilosophie zu. Sein Begriff von Psychologie ist mit keinem der üblichen Begriffe gleichbedeutend, ja mit den meisten nicht einmal näher verwandt. Er dient philosophischen Zwecken. Um diese erfüllen zu können, muss die phänomenologische Psychologie von eigener Art sein. Eine Klärung des Verhältnisses von transzendentaler Phänomenologie und Psychologie wird dadurch erschwert, dass Husserl den Ausdruck Psychologie oft so verwendet, als sei ohne weiteres klar, was mit ihm gemeint sei. Das ist jedoch nicht der Fall. Dass die Psychologie für Husserl immer wieder im Brennpunkt seiner Überlegungen gestanden hat, erklärt sich daraus, dass seine Transzendentalphilosophie das Sein der Welt im Subjektiven sucht und das Erleben des Menschen, wie er in der Welt lebt, nicht überspringt; denn gerade in diesem Subjektiven will sie ein Subjektives anderer Art aufdecken, dass den Seinsinn und die Seinsgeltung der Welt leisten soll. (Vgl. Biemel 1973) In der Philosophie der Arithmetik hat Husserl zunächst die Psychologie seiner Zeit positiv aufgenommen, um sie für die Grundlegung der Arithmetik zu verwenden. Diese Psychologie ist ihm bald darauf zum Problem geworden. Die in ihren Grundlagen ungeklärte Psychologie, von der er in der Philosophie der Arithmetik Gebrauch gemacht hat, ist ihm stets als für seine philosophischen Belange untauglich erschienen. Sie ist der Art von Psychologie verhaftet, die in A
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der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert vorgeherrscht hat. In den Prolegomena hat Husserl die Unzulänglichkeit einer solchen Psychologie für die Grundlegung der Wissenschaften aufgewiesen. Eine Psychologie als induktiv verfahrende Naturwissenschaft, die Experimente macht und seelische Kausalbeziehungen aufdeckt, ist für den Begründer der Phänomenologie fortan für seine Intentionen belanglos geblieben. Anders steht es mit einer deskriptiven, nicht naturwissenschaftlich verfahrenden Psychologie, die dem intentionalen Grundcharakter des Bewusstseinsleben Rechnung trägt. Nachdem Husserl einmal eine Psychologie dieses Sinnes entdeckt hat, hat er die Phänomenologie stets in Zusammenhang mit der Psychologie gesehen. Seine Stellungnahmen zur Psychologie sind eng mit dem jeweiligen Stand seiner Einsicht in die Wesensart des transzendentalen Subjektiven verknüpft. Er hatte die Gefahr einer Verwechslung des psychisch Subjektiven mit einem Subjektiven anderer Art vor Augen, über das er sich selber allererst Klarheit verschaffen musste. Erst als es ihm gelungen war, sich über den Begriff des transzendentalen Subjektiven Klarheit zu verschaffen, konnte das Subjektive der Psychologie in seiner Unterschiedenheit und Einheit mit dem transzendentalen Subjektiven eine endgültige positive Bestimmung erfahren. Für das letzte Stadium der Phänomenologie ist es charakteristisch, dass psychisch und transzendental Subjektives nur noch durch eine »Nuance« getrennt bleiben, wie als Resultat einer Einstellungsänderung klar wird. Im Subjektiven des psychologischen Sinnes gilt der Mensch in der Welt als Träger des Subjektiven. Das Subjektive wird dementsprechend als etwas, was in der Welt vorkommt, aufgefasst. Zwar findet in ihm ein Bezug auf die Welt statt, aber dieser richtet sich nur auf die als vorweg seiend angenommene Welt. Diese begrenzte Ansicht vom Subjektiven muss durchbrochen werden, wenn sein transzendentaler Charakter deutlich werden soll. Ein solcher Durchbruch hat eine Sinnverwandlung der Bedeutungen von menschlichem und welthaftem Sein im Gefolge: 1. Der Mensch und sein Subjektives werden als Ergebnis einer »objektivierenden Selbstapperzeption« erkannt, die es im natürlichen Leben verhindert, dass das Subjektive als transzendental weltkonstituierendes sichtbar wird. 2. Die Welt wird als ein sich im Subjektiven herausstellendes Sinngebilde durchsichtig, das seinem Seinssinn und seiner Seinsgeltung nach auf Subjektives relativ ist. Die neuzeitliche Psychologie hat das Seelische nicht in seinem 156
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Reine Psychologie und transzendentale Phnomenologie
reinen Eigenwesen zu fassen vermocht. Sie stand von Anfang an unter den als selbstverständlich angenommenen Voraussetzungen der exakten Naturwissenschaft. In dieser ist die Welt ausschließlich als Universum des Physischen Thema. Das Physische aber war für sie vornehmlich, sofern es ideal-mathematisch Erfassbares »indizierte«, von Interesse. Dies galt gegenüber dem sinnlich zugänglichen Naturhaften als das wahrhaft Seiende. Das Psychische konnte unter diesen Umständen nur noch als ein andersgeartetes Stück der Welt angesehen werden, das an Physisches gebunden zu sein schien, da es nur an Physischem aufzutreten pflegt. Die Psychologie hatte es aufgrund dieser Voraussetzungen mit dem Seelischen als einer Eigenheit des in der physischen Welt lebenden Menschen zu tun. Psychischem und Physischem wurde prinzipiell der gleiche Seinssinn zugeschrieben. Sie wurden als zwei reale Schichten der Erfahrungswelt behandelt. (Vgl. Krisis 215 ff.) Husserl handelt an dieser Stelle der Krisis nur vom »naturalistischen-naturwissenschaftlichen« Vorurteil der neuzeitlichen Wissenschaft. Er geht nicht darauf ein, dass bereits im vorwissenschaftlichen Leben Körperliches und Seelisches als verschiedenartig voneinander getrennt zu werden pflegt. Liegt nicht bereits hier der Grund dafür, dass das Seelische als ein eingeschränkter Bereich von Gegebenheiten eigener Artung neben dem des Physischen aufgefasst wird? Da dieser Bereich seiner Seinsweise nach begrenzt ist, kann seine Erforschung nicht das Ganze des Seienden zum Thema haben. Sie ist einzelwissenschaftlicher Art. Wird der Psychologie diese keineswegs naturalistisch-naturwissenschaftliche Voraussetzung zugeschrieben, so kann sie als Wissenschaft vom Seelischen nicht mehr universal werden und in die Transzendentalphilosophie hinüberleiten, deren Thema die Konstitution der Welt im Ganzen ist. Das naturwissenschaftliche Vorurteil führt über diese einfache Bestimmung des Psychischen hinaus. Die Naturwissenschaft sieht im Psychischen einen »fundierten Annex« des Physischen, den sie mathematisch zu erfassen bestrebt ist. Sie muss daher das Psychische, wenn auch in indirekter Weise zu metrisieren und zu messen versuchen. Die Möglichkeit dazu ergibt sich daraus, dass der Mensch (auch) eine psychophysische Einheit darstellt. Husserl wendet sich gegen eine Gleichstellung von Seelen und Körpern als Verband von je zwei verschiedenartigen, in ihrem RealiA
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tätssinn gleichzustellenden Realitäten«, weil er sieht, dass eine solche Gleichstellung die Basis für eine Psychologie als objektive, exakte Wissenschaft bildet. Diese kann nicht umhin, die Seelen wie der Naturkausalität unterstehende raumzeitliche Körper zu behandeln. (Vgl. Krisis 222) Ist gegen dieses nivellierende Vorgehen der neuzeitlichen Wissenschaft die Andersartigkeit des Seelischen ins Feld zu führen, wie es sich in der vorwissenschaftlichen »inneren« Erfahrung zeigt, damit das Seelische in seinem Eigenwesen deutlich vom Physischen getrennt wird? Diesen Schritt erwartet man aufgrund der voraufgehenden Überlegungen. Aber dann könnte es sich beim Husserlschen Bemühen um eine neue Psychologie doch nur darum handeln, eine Einzelwissenschaft in ihrer Selbständigkeit und Eigenart neu aufzubauen. Darum geht es in der Krisis nicht. Husserl tut daher überraschenderweise, aber in Übereinstimmung mit seinen weiterreichenden Ambitionen einen anderen Schritt. Durch diesen wird das Psychische nicht nur in seiner Seinsart vom Physischen unterschieden, sondern es wird von vornherein in universaler Weiter auf die gesamte Welt der physischen Onta bezogen, so dass nichts gegenständlich Seiendes außerhalb des Psychischen verbleibt. In diesem Vorgehen liegt eine indirekte Kritik an der Unterscheidung von innerer und äußerer Erfahrung. Husserl weist zunächst auf die vor aller Philosophie und Theorie als »schlicht seiend« erfahrene Welt des Lebens hin: auf »seiende Dinge, Steine, Tiere, Menschen«, die in der wahrnehmungsmäßig zugänglichen Gegenwart begegnen. Dann stellt er die Frage: »Warum fungiert nicht die ganze strömende Lebenswelt sogleich mit dem Beginnen einer Psychologie als »Psychisches«, und zwar als das erst-zugängliche Psychische, als erstes Feld der Auslegung in Typen unmittelbar gegebener psychischer Phänomene? Und korrelativ: warum heißt die Erfahrung, welche diese Lebenswelt wirklich als Erfahrung zur Gegebenheit bringt und darin – speziell im Urmodus Wahrnehmung – die bloßen körperlichen Dinge präsentiert, nicht psychologische Erfahrung, sondern in einem angeblichen Kontrast zur psychologischen Erfahrung »äußere Erfahrung«? (Krisis 222) Die sogenannte äußere Erfahrung wird so zu einer inneren Erfahrung, dass diese als universaler Weltbezug sichtbar wird. Alle Erfahrung ist demnach innere Erfahrung. »Natürlich ergibt es Unterschiede in der Weise der lebensweltlichen Erfahrung, ob man Steine, Flüsse, Berge erfährt oder ob man reflektierend sein Erfahren davon erfährt … Das mag ein für die Psychologie bedeutsamer Unterschied sein …, aber ändert das 158
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etwas daran, dass alles Lebensweltliche offenbar ein »Subjektives« ist? (Krisis 223) Die Formulierungen des angezogenen Satzes verdecken die Schwierigkeiten, die sich mit der Ausweitung der inneren Erfahrung auf die gesamte Welterfahrung auftun. Dass die Erfahrung von Steinen, Flüssen und Bergen (auch ihrer noematischen Seite nach) zum Thema der Psychologie werden kann, wird niemand bestreiten. Sie ist subjektives Erleben und mit Begriffen, die Seelisches und seine Gegenstandserfahrung beschreiben, erfassbar. Aber dass Steine, Flüsse und Berge zu dem in innerer Erfahrung Erfahrenen, zum Subjektiven zählen sollen, das ist merkwürdig. Es ist klar, dass die Rede von innerer Erfahrung hier die üblichere Bedeutung völlig verloren hat. Sie bezieht sich gar nicht mehr auf eine von ihr unterschiedene äußere Erfahrung. Diese neue Redeweise ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie in folgender Weise präzisiert wird: Im »inneren« Erfahren soll sich zeigen, was Steine, Flüsse und Berge sind. Der Seinssinn von gegenständlichen Einheiten soll sich im subjektiven Erfahren bilden. Dass dies geschehen soll, ist nicht wie selbstverständlich mit dem Ausdruck »innere« Erfahrung verbunden. Es kommt darauf an, dass das erfahrene Seiende seiner Seinsweise nach in das Erfahren einbehalten bleibt und nicht von vornherein als außerhalb des Erfahrens seiend vom Erfahren abgetrennt wird. Geschieht das, so kann seine Seinsweise nicht mehr aus dem subjektiven Erfahren geklärt werden. Dann ist das Erfahren seiner Seinsart nach von der Seinsart der erfahrenen Dinge geschieden. (Vgl. dazu das 2. Kapitel des II. Teiles) Gehört diese Meinung nicht üblicherweise zum inneren Erfahren hinzu, wenigstens wenn man vom Seelischen in einem alltäglichen Sinn spricht? Genau das soll nach Husserl nicht der Fall sein. Dem Husserlschen Begriff zufolge kommt dem Erleben, wenn es abstraktiv als subjektives im Sinne der reinen Psychologie genommen wird, jene Seinsthese nicht zu. Es ist dadurch ausgezeichnet, dass es alle gegenständlichen Einheiten als erfahrene sich zugehörig sein lässt, ohne zwischen sich und ihnen die angezeigte Differenz in der Seinsweise zu setzen. Das Differente wird vielmehr in eine Seinszusammengehörigkeit eingerückt. Angesichts dieses befremdlichen Gedankenganges ist wieder daran zu erinnern, dass der Grundzug des Psychischen universale Intentionalität ist. Zunächst könnte es den Anschein haben, als blicke die A
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Psychologie nur auf die psychische Seite des Menschen: auf die Person und ihr strömendes Bewusstseinleben. Liegt darin nicht eine Abstraktion parallel derjenigen vom Psychischen in der Naturwissenschaft? Husserl drückt sich in der Krisis gelegentlich so aus. Aber Naturwissenschaft und Psychologie stehen nicht aufgrund ihrer abstraktiven methodischen Einstellungen auf gleicher Ebene. In der konsequenten Thematisierung des Psychischen geht anderes vor sich als im Abstraktionsvorgang der Naturwissenschaft. Denn: Es ist das Bewusstseinsleben, in welchem und durch welches Welt für uns ist, was sie ist. (Krisis 235 f.) Zu dieser Einsicht lässt sich eben nur gelangen, wenn man bedenkt, dass das Bewusstseinsleben, wie es vorurteilslos in seiner lebensweltlichen Selbstgegebenheit aufzunehmen ist, einsinnig universal intentional auf Gegenständliches bezogen ist. Aufgrund der Intentionalität bleibt alles Gegenständliche der Welt als cogitatum dem Seelischen zugehörig. Dass dies der Fall ist, weiß weder die nur auf Körperliches eingestellte Naturwissenschaft, noch eine Psychologie, welche die Unterscheidung von physisch und psychisch unter der Voraussetzung der Weltgegebenheit macht. In ihr fällt der Seinsbezug des subjektiven Erlebens völlig aus. Deshalb kann in ihr die Welt ihrem Sein nach gar nicht zum Thema werden. Mag da geschehen, was das will, alles physisch Reale vermag an der »intentionalen Bezogenheit« des subjektiven Erfahrens auf das physisch Reale nichts zu ändern. Das intentionale Erfahren des Subjekts ist durch nichts objektiv welthaft Gegenständliches betreffbar. Es ist rein Subjektives, in das nichts Nicht-Subjektives hineingelangen kann, in dem sich gleichwohl Seinssinn und Seinsgeltung des objektiv welthaft Gegenständlichen bilden. Diese Eigenart des Psychischen erlaubt es, eine phänomenologisch-psychologische Reduktion zu vollziehen. In ihr enthält man sich jeder Stellungnahme zum Sein und Nichtsein des in der Welt erfahrenen Objektiven, wie man es vor dem Vollzug der Reduktion kennt und versteht. Hier zu Sein und Nichtsein der Welt Stellung zu nehmen, würde besagen, eine Entscheidung am unrechten Ort zu treffen; nämlich dort, wo sie gar nicht begründet getroffen werden kann. Sie kann erst nach der Reduktion begründet getroffen werden. Dann aber zeigt sich, dass sich das Sein des Welthaften im subjektiven Erfahren herausbildet. Durch die phänomenologisch-psychologische Reduktion hat man also nicht von der Welt abstrahiert. In ihr zeigt sich erst, was Sein der Welt besagt. Das geschieht, wenn der Psychologe reine, universale, de160
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skriptive Psychologie betreibt, die sich ausschließlich an das Eigenwesentliche der Subjekte und ihres intentionalen Lebens hält. Was ist aus den Gegenständen geworden, die vor der Epoché im Bewusstsein als real o. ä. seiende gesetzt waren, nachdem wir in der Epoché darauf verzichtet haben, zu ihrem Sein und Nichtsein Stellung zu nehmen? Husserl antwortet konsequent: Alles ist dem Psychologen in der Epoché erhalten geblieben: als intendierter Gegenstand von Intentionen. Also bleibt auch die gesamte Welt als Welt-Bewusstsein in intentionaler Weise in der psychologischen Reduktion erhalten; allerdings in der Betroffenheit durch die Reduktion, die es verbietet, irgendein Objektives in das Universum des psychischen Lebens hineinzulassen. Husserl geht in der Krisis sogleich unmerklich einen Schritt weiter, indem er feststellt, dass die gesamte Welt durch die universale psychologische Innenbetrachtung als Phänomen nicht verlorengehe. Hat die psychologische Reduktion demnach transzendentalen Charakter angenommen? Man fragt sich, wo die Differenz zwischen reiner Psychologie und Transzendentalphilosophie bleibt, wenn die Etablierung einer konsequenten psychologischen Einstellung den Psychologen dazu nötigt, sich radikal von der Naivität des natürlichen Weltlebens und der objektiven Wissenschaft zu befreien. Soviel scheint nach diesen Überlegungen Husserls klar zu sein: Die Realisierung der reinen psychologischen Einstellung treibt in die transzendentale Einstellung hinein. »Reine Psychologie kennt eben nichts anderes als Subjektives, und darin ein Objektives als Seiendes hineinlassen, ist sie schon preisgegeben.« (Krisis 262) Der zum transzendentalen Betrachter gewordene Psychologe soll in die natürliche Einstellung auf dem Boden der Welt zurückkehren und dort seine Arbeit wiederaufnehmen können. Er weiß hinfort um die transzendentalen Hintergründe seiner Themen, obwohl er sich jetzt für die in der Welt vorkommenden Menschen interessiert. Das Wissen, das er aufgrund transzendentaler Einsicht gewonnen hat, bereichert »den Gehalt der menschlichen Seele«, indem es unter geändertem Vorzeichen in die natürliche Einstellung »einströmt«. Nur der transzendentale Psychologe weiß um die transzendentalen Korrelate, die zu allem weltlich Seelischen gehören. Was aber, wenn dieses sich gegen seine Transzendentalisierung sträubt und sich im Eingeströmten nicht wiederfände? A
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Es sei zum Abschluss dieses Paragraphen daran erinnert, dass Husserl in den Ideen I mit Hilfe der Differenz von innerer und äußerer Erfahrung, immanentem Gegebenem und transzendentem NichtGegebenem, in die transzendentale Sphäre hineinführt. In der Krisis wird unter den Titeln Lebenswelt und Psychologie die in der äußeren Erfahrung gegebene Welt von vornherein in die psychologische, innere Erfahrung hineingenommen. Das Transzendenzproblem verschwindet. Es taucht schon im natürlich-normalen Leben gar nicht mehr auf, da dieses nur noch als unmittelbar mit dem Gegenständlichen zusammengeschlossenes gefasst wird. Mit seiner Beschreibung durch die Phänomenologie ist es über seinen Unmittelbarkeitsmodus hinaus und damit zugleich in die universale Korrelativität des Erfahrens der subjektiven Gegebenheitsweisen des Gegebenen und des Gegebenen selber hineingestellt. Diese Korrelativität ist sein universales Lebensmedium, von dem es zunächst nur noch nichts weiß. Was Sein der Welt besagt, liegt ganz in ihr beschlossen. Gegen diese Weise der Subjektivierung des Seins von Gegenständlichem und der Eliminierung des Transzendenzproblems, die bereits in der zu phänomenologischer Reinheit gebrachten Psychologie zum Durchbruch kommt, ist das 2. Kapitel des zweiten Teiles gerichtet, der von den Widerständen handelt, die im Menschen-Ich, seinem Weltbezug und seiner Weise über die Natur zu sprechen, liegen und sich gegen die alles gegenständliche Sein in sich einbeziehende Universalisierung seines Subjektiven sperren, weil das Resultat der phänomenologischen Operationen nicht dem Sein entspricht, das Menschen-Iche sich selber zusagen .
§ 18 Husserls Phnomenologie und die Gegenwart Werfen wir einen Blick zurück auf den Weg der Phänomenologie und sein Ende. Wer den Versuch machen wollte, Husserls Phänomenologie insgesamt und unverwandelt in unseren Tagen für die Grundlegung der Wissenschaften oder zu anderen Zwecken zur Geltung zu bringen, würde ihre geschichtliche Bedingtheit übersehen. Er würde z. B. der Wissenschaft und dem Wissenschaftsverständnis unserer eigenen Situation nicht genügend Rechnung tragen; denn Husserl ist in wichtigen Grundzügen seines Denkens einer älteren Tradition verwandt, die sich nicht mehr wieder-holen lässt. Das gilt vor allem für Husserls 162
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Auffassung des Verhältnisses von Leben, Philosophie und Wissenschaft. Diese Unzeitgemäßheit betrifft nicht einzelne Gedankengänge und Themenkomplexe. An ihnen ist die Phänomenologie reich. Sie können bis zu einem gewissen Grad aus dem Gesamtgebäude herausgelöst und im Rahmen irgendwelcher Problemstellungen fruchtbar gemacht werden. Das ist in der Vergangenheit geschehen und wird auch weiterhin geschehen. Davon soll hier nicht gesprochen werden. Wir lenken unsere Aufmerksamkeit nur auf einige verborgene Grundüberzeugungen, die die gewaltige Denkarbeit Husserl durchpulsen. Der Weg, den Husserl gegangen ist, um die Wissenschaft im Leben zu begründen, ist durch die seither erfolgte Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie verschüttet worden. Wie Leben, Philosophie und Wissenschaft zueinander stehen, kann heute überhaupt nicht mehr durch den Gedanken der (absoluten, letzten) Begründung im Sinne der philosophischen Tradition geklärt werden. Und in der Tat sind diese Gedanken in der Zeit nach Husserl auch preisgegeben worden. Vom heutigen Standpunkt aus muss Husserls Sicht der Wissenschaft, und zwar der objektiven wie der nicht-objektiven, als zu anspruchsvoll, ja als überschwänglich erscheinen. Wenn man sagt, dass es Husserl vornehmlich um den Rückbezug der Wissenschaft auf den Menschen gegangen ist, wie er auch von heutigen Richtungen der Philosophie bedacht wird, so wird durch eine solche Rede Husserls Bestimmung des Verhältnisses von Wissenschaft und Leben nicht hinreichend genau gekennzeichnet – obwohl sie nicht falsch ist. Husserl stützt sich vielmehr auf eine rationale, philosophische Bestimmung des menschlichen Lebens. In diese Bestimmung gehören der erkennende Weltbezug des Menschen und die Welt selber, sofern sie in ihrem Sein zu erkennen prätendiert wird, hinein. Die Einheit und den Zusammenhang dieses Ganzen auszumachen, aber ist Sache der Philosophie. Das geht weit über das, was die einzelnen Wissenschaften tun, und über ihre Verankerung in der Vielfalt der Möglichkeiten menschlichen Lebens hinaus. Es ist nämlich auf die philosophische Erstellung einer Einheit von Mensch, Welt und wissenschaftlichem Erkennen abgezielt, die weder im menschlichen Leben, so wie es sich vor-philosophisch abspielt, vorliegt, noch in den Wissenschaften, so wie sie betrieben und analysiert werden, zu finden ist. Diese Kennzeichnung des phänomenologischen Absehens besagt zugleich: Die phänomenologische PhiA
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losophie gibt sich nicht damit zufrieden, die Erkenntnisgewinnung der positiven Wissenschaften in methodischer Beschränkung oder in geschichtlich-anthropologischer Ausweitung zu rekonstruieren. Sie will selber Erkenntnis des Seinssinnes und der Seinsgeltung der Welt im eminenten Sinne leisten. Was demgegenüber die positive Wissenschaft als Welterkenntnis zu leisten vermag, will sie von sich aus »anders« verstehen und in seinen Schranken festsetzen. Die philosophische Phänomenologie ist eben keine Wissenschaftstheorie in einem beschränkten modernen Sinne. Sie will erkennen, was keine positive Wissenschaft je geleistet hat und je leisten wird, was auch durch keine Reflexion auf ihre als gelungen vorausgesetzte Welterkenntnis geleistet werden kann. Diesen Anspruch vermag die Phänomenologie nur einzulösen, indem sie hinter das wissenschaftliche Tun und hinter die wissenschaftliche Erkenntnis zurückgreift auf das, was aller Wissenschaft zuvor bereits als seiend vorausgesetzt ist. Sie thematisiert das menschliche Leben und seinen Weltbezug, aus dem sich die Wissenschaft erhebt und den sie auf ihrem Weg bald hinter sich lässt. Für die fortgeschrittenen wissenschaftlichen Problemstellungen gibt eine solche Fragestellung gewöhnlich nichts her. Sie wird erst dann von aktueller Relevanz, wenn das menschliche Leben insgesamt und sein Weltbezug in Frage gestellt und wissenschaftlich zu erfassen versucht werden, wenn man darüber hinaus in einer solchen Zielstellung die Wesensaufgabe des Lebens sieht. Unsere heutige Situation und die in ihr vorherrschende Wissenschaft ist durch den Verzicht auf derartige Ansprüche gekennzeichnet. Wie sieht die Realisierung dieses Vorhabens der späten Phänomenologie aus? In den dreißiger Jahren hat Husserl die Phänomenologie im Gegenzug gegen den mathematisch-physikalischen Objektivismus der Neuzeit aufgebaut. Dieser sieht nur die physische Seite der Welt, das Psychische wird ihm ausschließlich in seiner geregelten Verbundenheit mit dem Physischen zum Thema. Es gehört als vom Physischen abhängiges Psychophysisches in den Umkreis der Wissenschaften von der Natur hinein. Diese sind universal, indem sie die ganze Welt ihrer Betrachtungsweise unterwerfen. (Vgl. Landgrebe 1963) Hinzu kommt, dass seit der Neuzeit die Mathematik das eine und einzige Medium der Erkenntnisdarstellung der gesamten Wissenschaft von der Natur geworden ist. Lässt sich ein Sachverhalt noch nicht mathematisch darstellen, so scheint er nicht streng wissenschaftlich erkannt zu sein. Kennzeichnend für diese Art von Wissenschaftlichkeit ist es, dass sie der Forderung nach mathematischer Erfassung all des164
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sen, was ihr zum Gegenstand wird, als Maßstab für wissenschaftliche Erkenntnis folgt, dem, soweit es geht, ausnahmslose und bestmögliche Anwendung zu verschaffen ist. Nur wenn man sich dieses Geschehen und seine Beurteilung durch Husserl vor Augen hält, lässt sich seine Thematisierung des Subjektiven angemessen verstehen. Sie ergibt sich aus dem Entwurf einer universalen Wissenschaft, der gegen die objektive Wissenschaft der Neuzeit gerichtet ist. Wie diese die Welt insgesamt als mathematisch erfassbare Natur nimmt, so soll hier die Welt als geschlossenes Universum subjektiven Seins zum Thema werden. Man sollte die späte Phänomenologie nicht schlechthin als eine extreme Gegenposition gegen den naturalistischen Objektivismus ansehen. Das wäre mit ihrem Selbstverständnis als sachorientierter wissenschaftlicher Arbeits- und Forschungsphilosophie nicht verträglich, auch wenn das, etwas äußerlich gesehen, zutreffen mag. Allerdings muss man auf dem Stand des heutigen neurologischen Wissens, einer Denkrichtung, die zu einem theoretischen transzendentalen Subjektivismus gegenläufig ist, mehr Durchsetzungschancen als diesem einräumen – wenn, ja wenn sich nicht in MenschenIchen dagegen Widerstände regen würden, die sich aber nicht mehr in universalwissenschaftlicher phänomenologischer Manier Ausdruck zu verschaffen pflegen. Die neuzeitliche Naturwissenschaft hat einer solchen Wissenschaft gegenüber allerdings den Vorsprung, bereits realisiert vorzuliegen. Sie gilt als gelungene Wissenschaft, deren Wirklichkeit täglich durch neue Erkenntnisfortschritte bewiesen wird. Mit der reinen phänomenologischen »Seelenwissenschaft« dagegen steht es anders. Husserl hat sie ihren Umrissen nach vorgezeichnet. In seinem Werk liegen auch einige Stücke standhaltender Erkenntnis dieser Wissenschaft, wie er es zu nennen pflegte, ausgeführt vor. Aber dabei ist es geblieben. Es scheint auch im Gegensatz zu Husserls Überzeugung keine Hoffnung zu bestehen, dass sie zu einem wissenschaftlichen Gegengewicht gegen die mathematische Naturwissenschaft werden könnte. Wohl dagegen reiht sich ihr Entwurf in die immer wieder auftretenden neuzeitlichen Reaktionen gegen den Universalitätsanspruch der mathematischen Naturwissenschaften ein, wie sie in unserem Jahrhundert z. B. von seiten der verstehenden und beschreibenden Psychologie im Namen des erlebenden, erfahrenden Subjekts vorgetragen worden sind. Sicherlich kann die Phänomenologie beA
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hilflich sein, die Rechtsgründe einer anderen Art von Wissenschaftlichkeit aufzudecken und zu legitimieren. Aber das wäre Husserl zu wenig gewesen. Er legt, wie gezeigt, einen eigenen universalen Gegenentwurf gegen die mathematische Wissenschaft von der Welt qua Natur vor und begrenzt den Seinssinn und Universalitätsanspruch dieser Wissenschaft. Indem er auf der lebensbestimmenden und -erfüllenden Auffassung des wissenschaftlichen Erkennens insistiert, spricht er der objektiven Wissenschaft von der Welt die Fähigkeit ab, durch ihre Art der technisch-symbolischen Rationalität den vernünftigen, theoretisch lebenden Menschen befriedigen zu können. Die objektive Wissenschaft bedarf des subjektiven Lebensbezuges nicht. Logik, Mathematik und exakte Naturwissenschaft lassen sich von dem sie betreibenden Leben ablösen und auf die Ebene der Wiedergabe reiner Gegenstandsbeziehungen rücken. Aber es ist Husserl zufolge ein rationaler Mangel, wenn diese Wissenschaftlichkeit ihre Sphäre als die eines frei schwebenden, in sich ruhenden Ansichseins nimmt und nicht sieht, dass sie ein Resultat methodischidealisierenden Verfahrens ist. Dies will die Phänomenologie zeigen. An diesem Ort ist ihr Verhältnis zur objektiven Wissenschaft zu diskutieren. Zwar kann sie nicht den Wissenschaftsbetrieb ändern, aber sie kann ein mögliches Selbstmissverständnis der objektiven Wissenschaft aufklären. Dem subjektlosen Universum der objektiven Wissenschaft stellt Husserl die phänomenologische Weltbetrachtung entgegen, welche die zu erkennende Welt in das Erleben des Subjekts einbehalten sein lässt, so dass es sein eigenes Telos durch das Ziel des Erkennens bestimmen kann. Hier tut sich ein wissenschaftliches Universum auf, das von dem die Neuzeit beherrschenden wesensmäßig geschieden ist. Wenn der Glaube der objektiven Wissenschaft an ein Ansichsein der Welt in seiner subjektiven Bedingtheit aufgedeckt wird, zeigt sich, dass dem Gegenstand der Naturwissenschaft kein Eigenwesen und keine Eingeständigkeit zukommt. Es ist vielmehr ans Licht gebracht, dass die gesamte äußere Welt ihren Seinssinn und ihre Seingeltung nur dem Subjektiven verdankt. Dieses ist in seiner Seinsweise dadurch ausgezeichnet, dass es durch real und formal Seiendes nicht betroffen werden kann. Das gegenständlich Seiende dagegen empfängt seinen Seinssinn aus dem Subjektiven. »Das einzig wirkliche Erklären ist: Transzendental verständlich machen. Alles Objektive steht unter der Forderung der Verständlichkeit. Naturwissenschaftliches Wissen von der Natur gibt also von der Natur keine 166
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wirkliche, erklärende, keine letztliche Erkenntnis, weil sie überhaupt nicht Natur in dem absoluten Zusammenhang, in dem ihr wirkliches und eigentliches Sein seinen Seinssinn enthüllt, erforscht, also an dieses Sein thematisch nie herankommt.« (Krisis 193) Das Subjektive aber kommt an das Sein der Welt heran. In ihm bildet sich dieses, denn es ist immer schon von fungierend leistender, objektivierender Art, wenn auch im Menschen-Ich in Anonymität. Husserl teilt mit der älteren philosophischen und wissenschaftlichen Tradition die Grundvoraussetzung, dass das Subjekt auf die Erkenntnis der Welt angelegt ist, ohne selber ein Stück der Welt zu sein. Diese Überzeugung trennt ihn abgrundtief von der Art und Weise, wie die heutige Wissenschaft betrieben wird. Die gegenwärtige Wissenschaftspraxis lässt dem, der sich auf sie besinnt und sie zu verstehen sucht, nicht mehr die Wahl, Wissenschaft anders zu verstehen, als sie betrieben wird. Und dann erweist sie sich wohl oder übel als indifferent gegenüber dem Problem einer Wesensbestimmung des menschlichen Lebens durch die Welterkenntnis. Es ist von ihr aus nicht mehr einzusehen, warum es die höchste Aufgabe des Menschen sein sollte, eine wissenschaftliche Philosophie grundzulegen und aufzubauen. Dass die objektive Wissenschaft das nicht mehr zu leisten vermag, was er von der wissenschaftlichen Erkenntnis für den Menschen erwartet, wird von Husserl gesehen. Er sucht die Gründe dafür aufzuzeigen. Gleichzeitig hält er aber daran fest, dass es eine Wissenschaftlichkeit geben müsse, in der das Subjektive als erkenntnisleistende Kraft dem zu erkennenden Seienden zugehörig bleibt. Diese Wissenschaftlichkeit soll es dem Menschen ermöglichen, seinen »Beruf« zur wissenschaftlichen Welterkenntnis zu verwirklichen. Teilt man diese Überzeugungen Husserls nicht mehr, dann stellt sich das Unternehmen seiner universalen Subjektivitätswissenschaft ganz anders dar, als es sich in Husserls eigenen Augen ausnimmt.
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VI. Das ichliche Zeitbewusstsein als nie versiegender Konstitutionsquell fr alles Seiend und ein durch es ermglichter Selbstberstieg seiner zu einem berzeitlichen Ich Es ist hier nicht Bezugssystem-indifferent über die Einheit die Zeit zu handeln, sondern über Husserls Fassung der Zeit als eines sein System durchherrschenden, für es spezifischen Konzeptes. Das besagt nicht, dass es innerhalb dieses Zeitkonzeptes keine Deskriptionen gibt, denen sich auch außerhalb seiner zustimmen lässt, weil sie Eigentümlichkeiten menschlicher Zeiterfahrung betreffen. Aber diese erschöpfen nicht die Bestimmtheit, die der Zeit aufs Ganze gesehen bei Husserl zukommt. Sie ist eben, wie sich zeigen wird, systemspezifisch; in anderen Philosophien fällt demnach die Zeit anders aus als bei Husserl. Fällt Zeit nicht unterschiedlich aus, wenn sie in verschiedenen Wissenschaften bestimmt wird? Aber dem trägt man gewöhnlich Rechnung, indem man die Zeit attribuiert; z. B. als physikalische Zeit. Dann muss man nicht eine übergreifende Einheit die Zeit er-denken. Diese Bemerkungen verleiten zu der Frage, wie sich zeitbezügliche Vielheit in eine Einheit versammeln lässt, in der die Vielheit argumentativ befriedigend untergebracht werden kann. Wäre das Resultat dieser Einigung eine Einheit die Zeit, aus der sich verschiedenes Zeitlichsein abzweigt? Sofern philosophische Totalisierungsbewegungen auf Zeit abzielen, dürften diese Versuche, zu einer Sache selber des Namens die Zeit vorzudringen, die alles – als zeitlich seiend und als zeitbezogen – in sich vereinigt, wohl kaum gelingen. Vielleicht sind philosophische Totalisierungsbewegungen, indem sie von der Zeit handeln, unfreiwillig dazu verdammt, die Erreichbarkeit dieses Vorhabens zu blockieren. Sieht man die Problemlage so, dann muten Fragen wie Was ist Zeit?, Was ist das Wesen der Zeit? u. ä. Formulierungen altertümlich an. In dem sich dieser Fragestellung zuordnenden weiteren Problemfeld sei Husserls Zeitdenken in seiner Besonderheit angesiedelt und problematisiert. Wenn Zeit auch anders gedacht zu werden fordert, als es in der Totalisierungsbewegung des Husserlschen Denkens geschieht, soll es ein Effekt ihrer Distanzierung sein, dass sich im A
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Folgenden Ausblicke auf ein andersartiges Zeitdenken eröffnen. Die sich aufdrängende Fragwürdigkeit der Zeitlehre Husserls, die in Aporien mündet, sei vorweg umrissen, bevor sie in differenzierter Weise anhand von Husserl-Texten aufzuweisen versucht wird.
§ 19 Wegweisende Vorfragen und Hinweise Es sei wiederum von Husserls Grundentscheidung ausgegangen. Sie sei hier auf das Zeitbewusstsein als die eine ursprüngliche, alles Seiende irgendwie betreffende Zeit fokussiert. Unter dieser Hinsicht seien noch einmal die folgenden Sätze Husserls gelesen. »Das einzig wirkliche Erklären ist: transzendental verständlich machen. Alles Objektive steht unter der Forderung der Verständlichkeit. Naturwissenschaftliches Wissen von der Natur gibt also von der Natur keine wirklich erklärende, keine letztliche Erkenntnis, weil sie überhaupt nicht Natur in dem absoluten Zusammenhang, in dem ihr wirkliches und eigentliches Sein seinen Seinssinn enthüllt, erforscht, also an dieses Sein nie herankommt.« Die Eigenleistung des natürlich eingestellten Lebens bleibt dabei gewahrt: »so wie das Sein der objektiven Welt in der natürlichen Einstellung und diese selbst nichts verloren haben dadurch, dass sie in die absolute Seinssphäre s. z. s. zurückverstanden werden, in der sie letztlich und wahrhaftig sind.« (Krisis 193) Die absolute Seinssphäre ist die des sich aus dem Zeitbewusstsein erhebenden und mit ihm sich zusammengeschlossen findenden transzendentalen Ichsubjektes und seines weltbezogenen-weltentzogenen Lebens. Kann es nicht sein, dass durch ihr Zurückverstanden werden in die absolute Seinssphäre das Menschen-Ich und die Welt, der es verhaftet bleibt, und die von ihm objektiv gewusste Natur in dem, was sie ihrer zeitlichen Verfasstheit nach sind, verloren gehen; und zwar so, dass sich ihrer andere Konzeptionen von Zeit bemächtigen können, in denen keineswegs ein absoluter Zeitbewusstseinsstrom der ichliche Konstitutionsgrund des Menschen-Ich und seiner Welt ist? Das Zeitbewusstsein ist auch zur Aufklärung von AllzeitlichÜberzeitlichem, ja selbst der Wesensart des transzendentalen Ich heranzuziehen. Wie soll das geschehen? Gesetzt: Das transzendentale Ich sei zu seiner Selbstidentifizierung befähigt, die sich in einem durch die Modifikabilität des Zeitflusses nicht betreffbaren, frei ergreifbaren Können realisiert; wobei zugleich das Können als ein solches erkannt wird, das immer wieder realisiert werden kann. Wäre 172
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Wegweisende Vorfragen und Hinweise
das nicht gleichbedeutend damit, dass das Ich sich in einer durch den Zeitfluss nicht modifizierten Identität erfasst? Kommt in einem solchen Ich die zum Zeitfluss als Formmoment gehörende urquellend strömende Gegenwart zum Stehen? Kann der Zeitfluss das ermöglichen, indem er sich über sich selber hinaus transzendiert? Wäre es nicht so, müssten eventuell zwei verschiedene Letztinstanzen angesetzt werden: der absolute Zeitfluss, in dem ein prämundanes-vormenschliches Ich lebt, und das auf ihn zeitmodale Sein von Welt und Mensch einerseits und ein reines Ich, das sich all dem gegenüber zum Zwecke der Erschauung seiner Konstitution einfindet, andererseits. Das doppelseitige transzendentale Ich kann aber die vorgefundene, fertig seiende Welt nicht aus dem bloßen Zeitfluss, seiner Formgesetzlichkeit und Synthetik gewinnen, sondern muss sie sich eben vorgegeben sein lassen, um sie im Rückgang von ihr auf sich von sich her konstituieren zu können. Legt sich bei dieser Lage der Dinge nicht die Versuchung nahe, dem absoluten Zeitfluss selber eine Teleologie einzulegen, aus deren Realisierung sich das All des Seienden als All konstituierter Objektivität hervorgebildet hat und weiter hervorbildet. Dann vermag sich das phänomenologisierende Ich vielleicht zum Funktionär dieses teleologisch gesteuerten Prozesses des Weltwerdens zu machen. Aber wäre damit nicht aus ihm etwas anderes geworden als das durch die Epoché auf sich gestellte und nur auf seine Selbstgebungsvermöglichkeit angewiesene Ich, das sich alles Seiende zum ihm gemäßen Gegebenen macht? Wie soll derart spekulativ Konstruiertes mit dem phänomenologischen Prinzip aller Prinzipien in Übereinstimmung gebracht werden können? Die Problemlage verschärft sich, da Husserl alles geschichtliche Werden und seine menschenweltlichen Ergebnisse, samt ihrer Zukunftsvorzeichnung in das durch das eine einzige Ur-Ich zu leistende Konstituieren einbezogen wissen will. Im Rahmen der aufgeworfenen Fragen haben Eigenart und Leistungsanspruch des transzendentalen Ichsubjektes verschiedene Aspekte angenommen. 1. Das Subjekt kann alle fertig seienden Weltgehalte im Ausgang von ihnen und im Rückgang (auch) auf ihre zeitliche Genesis konstituieren – ohne dass sie vom Zeitbewusstsein in seiner Formgesetzlichkeit und Synthetik her zugänglich wären. 2. Es kann alles welthaft Seiende verschiedener Art aus einem teleologisch dirigierten, den Aufbau der Welt durch Menschen-Iche hindurch produzierenden Zeitbewusstseinsfluss heraus konstituieren, wenn dieA
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ser die Welt als auf ihn zeitmodal zurückbezogen hervorgebracht hat. In dieses Weltwerden findet sich das transzendentale Ichsubjekt ein, ohne dass es dazu allein aufgrund der methodischen Maßnahmen, die die Welt für es zum konstituierten Korrelat gemacht haben, schon in der Lage wäre. 3. Es kann sich in seinem transzendentalen egologischen, alle Seinsgehalte einbegreifenden Werden im Zeitbewusstseinsfluss konstituieren und sich selber als konstituiert erschauen. Dann hätte sich alles Konstituieren relativ auf ein ihm zuschauendes Ichsubjekt von selbst gemacht und wäre diesem zum Gegebenen geworden. Das transzendentale Ich wiese in sich eine Dopplung auf zwischen sich als sich und alles Seiende konstituierendem und sich als dem dieses Seinsuniversum nicht-konstituierenden, sondern als gegeben Erschauenden. Wäre diese Dopplung mit der von Husserl angesetzten universalen Korrelativität von konstituierendem Ich und als konstituiert seiender Welt kompatibel? Die aufgeworfenen Fragen, welche die transzendentale Phänomenologie im zweifachen Sinne des Wortes fragwürdig machen, mögen einen Leitfaden für die folgenden Ausführungen abgeben.
§ 20 Spezifika der Zeitkonzeption Husserls Es liegt bei Husserl der für das 20. Jahrhundert naheliegende Fall vor, Zeit zu fundamentalisieren, wie es z. B. andernorts geschieht, wenn Zeit als wesentlich in ihrer Funktion für das Weltwerden in Anspruch genommen wird. Von Husserl wird eine sich auf den Seinssinn des Seienden auswirkende Fundamentalisierung der Zeit im Rahmen einer Phänomenologie durchgeführt, deren letzter Grund ein absolutes Welt-konstituierendes Ichsubjekt ist, das einerseits selber zeitlich verfasst ist und aus seiner Selbstzeitigung heraus die zeitmodale Welt konstituiert, das andererseits dem Ganzen der Zeit gegenüber wissend geöffnet ist, ohne durch die Zeit selber verendlicht zu werden – wie es Menschen-Iche sind, die sich nicht als Objektivationen ihres transzendentalen Ich wissen, das sich ihnen verhüllt hat, indem es sie in der natürlichen Einstellung unter der Voraussetzung der Welt auf Welthaftes ausgerichtet sein lässt? Die gerade benutzte Formulierung ist nicht korrekt; unterstellt sie doch, dass die Objektivierung vom transzendentalen Ich selber so ausgehe, dass sie zu seiner Verdeckung geführt habe. Aber diese Gedankenbewegung ist ihrer Richtung nach derjenigen entgegen174
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Spezifika der Zeitkonzeption Husserls
gesetzt, durch die Husserl von der transzendentalen Sphäre aus Welt und Menschen-Ich ansieht; nämlich so, dass nur die natürliche Einstellung selber das Menschen-Ich daran hindert, das in ihm verhüllt wirkende transzendentale Ichsubjekt zu gewahren. Dieses wäre dann nicht zum Zwecke der Weltbildung aus einem teleologisch wirkenden Absoluten zur Selbstobjektivierung als Menschen-Ich genötigt. Ist es überflüssig nach der Herkunft der natürlichen Einstellung zu fragen, weil sie das Gegebene ist, von dem auszugehen ist? In der fortschreitenden Ausgestaltung seines Werks gewinnt das innere Zeitbewusstsein für Husserl immer stärker die zentrale Funktion für den Ausbau seiner Sicht der Welt und damit innerhalb ihrer für die Welt selber. Also muss das Zeitbewusstsein so gedacht werden, dass es für verschiedene Weisen des Zeitlichseins, die sich aus ihm heraus über es erheben, die Basis bildet. Von ihm aus muss auch dem Zeitfluss gegenüber Resistentes verständlich gemacht werden können. Denn: Alle konstitutiven Leistungen des als Bewusstsein lebendigen Subjekts und alles ihnen entsprechende Seiend sind vom Zeitbewusstsein her charakterisierbar. Die Welt ist ihrem Ursprung und ihrem Bestand nach der Zeitbewusstseinszeit und ihrer Form einbehalten. Es heißt in der Krisis-Abhandlung, »dass alle Konstitution jeder Art und Stufe von Seiendem eine Zeitigung ist«. (172) Alle Zeitigungen finden in der einen Zeit statt, die als anfangsloser und endloser Fluss, in seiner ihm als innerem Zeitbewusstsein eignenden Geformtheit, alles umspannt und einigt. Alles, was erlebt werden kann durch ein Ich, ist zeitbezogen. Und die Einheit des Ich selber liegt in dem »alle Bewusstseinserlebnisse in sich fassenden cogito«, dem das allumspannende Zeitbewusstsein zugeordnet ist, das sich deswegen aber auch der Zeit in ihrer offenen unendlichen Einheit und Ganzheit vergewissern und in ihr sein ichlich frei vermögliches Erkenntnisstreben realisieren kann. (Vgl. Cart. Med. 79 ff.) Dieser das Ich auszeichnende Bezug zum Zeitfluss und seiner starren Formgesetzlichkeit ermöglicht dem Ich auch ein Agieren, das über das zeitlich Seiende hinausreicht, das dessen Wesenserfassung und die Erzeugung der allzeitlich-überzeitlichen Gegenstände der Logik und der Mathematik erlaubt. Kann man ihm selber allzeitliche Überzeitlichkeit vorenthalten? Es sei die Komplexionseinheit der Husserlschen Zeitkonzeption abstraktiv nach ihren verschiedenen Komponenten vorgestellt, um aufA
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fällig zu machen, wie sie dazu befähigt wird, die phänomenologische Totalisierungsbewegung zu tragen und zu strukturieren: 1. Ursprüngliche Zeit als immanente, innere Bewusstseinszeit. Primäres Bewusstsein gleich Zeitbewusstsein? 2. Zeitbewusstsein als absoluter Fluss. 3. Zeitfluss in starrer Formgesetzlichkeit. 4. Passiv synthetischer Charakter des zeitlichen Fließens als Bildung von Einheit und Identität. 5. Die Sphäre der Passivität als Sphäre der die Wahrnehmungswelt und damit die Welt selber eröffnenden Sinnlichkeit. 6. Einsatz der Aktivierung von Vermöglichkeit des Ich (z. B. schon in der Wiedererinnerung auf der Basis der passiven Bewusstseinszeitigung, die sich ohne jedes Zutun des Ich von selber macht). 7. Reichweite des so vermöglich Ermöglichten bis zum Allzeitlich-Überzeitlichen, dem eine eigene Art von Identität eignet, die durch den Zeitfluss nicht modifiziert wird und die durch das bisher gekennzeichnete Zeitbewusstsein ermöglicht sein muss. 8. Die Bewusstseinszeitigung als eine in verschiedenen Bedeutungen teleologische, auf die Produktion von Vernunftgebilden in der Welt ausgerichtete. Den aufgezählten Komplexionsmomenten zugehörige Gehalte sind bereits oben anlässlich verschiedener Themen besprochen worden. Deren Behandlung bringt es in vielen Darstellungen der Husserlschen Philosophie mit sich, dass aus ihrem Anlass die Zeit beiläufig mit besprochen oder dass ihr ein kleineres Sonderkapitel gewidmet wird. Diesem legitimen Vorgehen schließe ich mich in diesem Kapitel nicht an, damit deutlicher werden kann, wie die Konzeption des Bewusstseins als Zeitbewusstsein das System Husserls prägt. Aus der Fundamentalisierung und Totalisierung der Zeit bei Husserl folgt: Zeit hat die primäre »Seinssinn bildende Funktion«. (Vgl. Krisis 172) Eine Entgegensetzung von Sein im eigentlichen Sinne und zeitlich Seiendem hat bei Husserl nicht statt. Aber im Unterschied zu Heideggers Analysen der Zeitlichkeit in Sein und Zeit bauen sich aus der Synthetik des Zeitbewusstseins primär Einheit und Identität des Naturhaften in seiner zeitinvarianten Strukturtypik auf; und zwar fundamental in den Gestalten der Wahrnehmung – ohne die kein Bewusstsein sein kann –, so dass die den Objektivierungsprozess der Welt beginnende Wahrnehmung den Zugang zur Welt in ihrer Realität, in ihrem Sein bildet. Dieses Geschehen kann im Lichte von Heideggers Sein und Zeit der Weltverfallenheit des uneigentlichen Existierens zugerechnet werden, die das Bewusstseinsleben Husserls 176
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Spezifika der Zeitkonzeption Husserls
in seiner Art der Selbstzeitigung mitbetreffen müsste. Gegen dieses Geschehen wäre das sich ursprünglich in der Sorge um sich zeitigende Dasein (in seiner Uneigentlichkeit wie in seiner Eigentlichkeit) abzuheben. Für Husserl ist es unvermeidlich, seinen Weg zu gehen, da er das innere Zeitbewusstsein ursprünglich durch sinnlich-hyletische vorgegenständliche Daten besetzt sein lässt, die allein den Zugang zur Welt vermitteln, die allein also den absoluten immanenten Bewusstseinsfluss mit der Welt zusammenschließen. Daher kann eine Abkünftigkeit der als Wahrnehmungswelt ins Blickfeld geratenen Welt gar nicht mehr bemerkt werden. (Vgl. Pass. Synthesis 233 ff.) Sein und Zeit zufolge kann eine Einigung des bloßen Wahrnehmens (und in seinem Dienst stehender Vermögen) mit der Welt, um deren gegenständliche Einstimmigkeit und Einheit zu sichern, als ein Verstehen der Welt auf den Seinssinn des Vorhandenseins hin verstanden werden, durch den das Zeitlichsein aufs bleibende Standhalten, auf dessen Fortschritt, aufs identifizierende Reproduzieren hin reduziert und nivelliert worden ist. Das besagt aber u. a., dass es die Natur nur Weisen des Verstehens gemäß gibt, dass sie nur in Seinsentwürfen auftritt. Dies ist ein Gedanke, der Husserls Konzeption der Welt fremd ist, die in ihrem fundamentalen Seinssinn Wahrnehmungswelt ist. Heidegger könnte diese Weltsicht als abkünftig aufweisen: als eine ontologische Degeneration aus fundamentalontologisch Ursprünglichem, der bei Husserl eine Sicherung der Ichidentität in der Zeit durch die Zeit selber zugrundeliegt, die als unendlicher anfangs- und endloser Fluss für ein transzendentales Ichsubjekt das Sterben als Menschen-Ich in der Welt sinnlos werden lässt. Das transzendentale Ichsubjekt hat sein Wesen anders als das existierende Dasein nicht darin, sich zu seinem Tod vorlaufend, endlich zu zeitigen. Zwei wahrhaft differente Konzeptionen von Zeitlichsein. Es sollte auch nicht, wie gegen Husserls eigene, sich auf Kant beziehende Formulierung zu monieren ist, die Zeit in einem Kant nahe stehenden Sinn als Form der Sinnlichkeit verstanden werden. Denn von der Kantischen Form der Sinnlichkeit sind das übersinnliche IchSubjekt und seine Verstandeskategorien getrennt. Das Ich alleine stiftet aufgrund seiner Spontaneität gegenständliche Einheit. Es und seine Kategorien sind allererst, sofern es um die Möglichkeit der Erkenntnis der Welt durch den Menschen als Sinnenwesen geht, auf die Zeit angewiesen. Sie lassen sich nicht aus der Zeit heraus aufbauen. A
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Sie sind vielmehr abgelöst aus ihrem Bezug auf die Realisierung der Verstandeserkenntnis, durch die die Welt – in einem differentiellen Sinn zu einer übersinnlichen-intelligiblen Welt – Sinnenwelt, Erscheinungswelt wird, zeitfreie Größen. Die durch die apriorischen Sinnlichkeitsformen von Raum und Zeit den gegebenen Mannigfaltigkeiten auferlegten Ordnungsrelationen haben keineswegs den Charakter synthetischer Stiftung von Gegenstandseinheit. Zeitfolge als solche führt nicht zur Bildung von gegenständlicher Objektivität. Das, worum es für den Menschen geht, und das deswegen dem Menschen auch als das, worauf es ankommt, gemäß sein muss, ist bei Kant im Gefolge der Mertaphysik von Zeitangewiesenheit frei. Es kann als Übersinnliches nicht von Zeit her verstanden werden. Sein im Sinne des der Vernunft zugänglichen Intelligiblen steht in einer Differenzbestimmung zur Zeit. Es wird als Dominante über Zeit von Kant nicht außer Kraft gesetzt. Ihm bleibt die im Menschen als praktischem Freiheitswesen sich äußernde reine Vernunft überantwortet. In ihm ist der Hintersinn der Kantischen Rede von einem Ansich zu suchen, das Husserl als mit seiner Philosophie des theoretisch auf Welterkenntnis abzielenden intentionalen Bewusstseins unverträglich abweist, um es durch ein Ansichsein zu ersetzen, dessen Hervorbildung bereits in einem passiven Zeitflussbewusstsein und der ihm eignenden Formgesetzlichkeit beginnt, welches sinnlich-hyletische Daten verarbeitet und von dem aus im Rückbezug auf es alles objektive Ansichsein verständlich gemacht werden kann. Die von Kant in der transzendentalen Deduktion A akzentuierten Leistungen, welche die Sinnlichkeit betreffen, aber unter dem Einfluss der Kategorien stehen, sind nicht mit der fundamentalen Bedeutung von Einheitsbildungen des sinnlichen Zeitbewusstseins zu vergleichen, die aller Verstandestätigkeit vorausgehen.
§ 21 Nhe und Ferne zwischen Husserl und Descartes Nach diesen ersten Hinweisen auf die Eigenheit des Husserlschen Zeitdenkens und einigen Abhebungen seiner gegen Heidegger und Kant sei noch einmal auf Husserls Verhältnis zu Descartes eingegangen. Husserl weiß sich Descartes in einem seiner Grundgedanken engstens verwandt. Nun ist es aber gerade die Zeitproblematik, die ihn abgrundtief von Descartes trennt. Die Diskussion dieser Differenz lässt die zentrale Funktion der Zeit für die Bildung des Seins178
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sinns von gegenständlich Seiendem bei Husserl scharf ins Auge fallen. Die Fundamentalisierung der Zeit für das Ich und den von ihm her erfolgenden Weltaufbau unterscheidet Husserl auch und vor allem von Descartes’ Sicherung der Selbst-Seins-Gewissheit des Subjekts, auf die Husserl immer wieder zurückgegriffen hat, um eine gewisse Gemeinsamkeit zwischen Descartes und sich selber herauszustellen. Dieses Bemühen ist fragwürdig; nicht nur weil Husserl im Verlauf seines Denkens den Cartesianismus hinter sich gelassen hätte, sondern weil er bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Ich, Welt und Sein von einem im Zeitfluss befindlichen ego cogito aus angeht. Dieser Ansatz steuert nicht auf eine neue mathematischmechanistische Wissenschaft von der Welt zu, um die es Descartes nach der Erledigung metaphysischer Fragen geht. In ihm geht es darum, die Welt dem sich in zeitlichen cogitationes artikulierenden Bewusstsein einzubehalten und in diesem Bezug, aus dem alles objektive Zeitlichsein von Natur und Welt herauszuhalten ist, den Sinn des Seins der Welt zu finden. Dabei bleibt Husserl durch einen Gedanken Descartes’, den er in seiner Weise versteht, verhext. Das ändert nichts daran, dass er bereits durch seine Zentralstellung des Zeitbewusstseins für das Sein des Ego selber von Descartes denkgeschichtlich weit entfernt ist. Indem Descartes die Selbstvergewisserung des Ego, eher en passant, damit zusammenbringt, dass die Reflexion auf das Ego zeitlich momentan ist, hätte sich für ihn die Gefahr auftun können, nur eine jeweils aktuell gegenwartsbezogene Selbstgewissheit gefunden zu haben, die eine zeitüberlegene Substanzselbigkeit nicht gewährleisten kann. Wäre es so, wäre sein Unternehmen gescheitert; denn eine Augenblicksgewissheit, die nicht auf Kontinuität gestellt werden kann, ist nicht verlässlich. Anstatt einer standhaltenden gesicherten Erkenntnis käme nichts zum Stand, weil das gesuchte fundamentum inconcussum selbst dem ständigen Dahinschwinden ausgesetzt wäre. Worauf sollte sich dann die Gewissheit seiner Selbigkeit stützen? Sie erwiese sich als unfähig, Zeitdauer zu überspannen. Auf keinen Fall konnte für Descartes die Zeit dafür in Frage kommen. Er ist so sehr traditionellem metaphysischem Denken verpflichtet, dass diese Problematik bei ihm nicht in der von Husserl formulierten radikalen Weise durchschlägt. Er kann sich vor ihr retten, indem er ontotheologisch argumentiert, was im Sinne späterer kritischer Subjektphilosophie argumentativ nicht zulässig ist, weil dadurch nichts erklärt A
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wird. Aber wie soll man sonst das subjektive Fundament einer zeitlichem Wandel überlegenen Erkenntnis stabilisieren können? Es liegt Descartes eben noch fern, in der Zeitlichkeit und einem ihr zugehörigen, der metaphysischen Seinsphilosophie entzogenen Ich, das Fundament einer wissenschaftlich verstandenen Transzendentalphilosophie zu suchen. Im Zeitfluss zutage tretende zweifelsfreie sinnliche Selbstgebungen von Naturhaftem sind für ihn ein Unding. Von den Versuchen Husserls, zu einem Zeitkonzept zu gelangen, mittels dessen er das im Anschluss an Descartes aufgeworfene Problem der Grundlegung einer neuartigen Subjektphilosophie lösen kann, zeugen Vorlesungen und Manuskripte aus den beiden ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts. Ich beziehe mich im Folgenden auf eine Vorlesungspassage, die als Anhang in der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins abgedruckt ist, weil in ihr das angedeutete Problem in einer Auseinandersetzung mit Descartes scharf heraustritt. Der Ausgang von reflexiv zu absolut gegebenem Gemachtem und ihm zugehörigen abkünftigen zeitlichen Abwandlungen bleibt für Husserls Gesamtwerk bestimmend. Sofern sich in ihm die Frage nach der Transzendenz (z. B. der objektiv gewussten Natur) aufdrängt, ist sie von dem ergriffenen Ausgangspunkt her zu beantworten. Andernfalls würde man nach Husserl in unaufgeklärte, gar widersinnige Bedeutungen von Sein qua transzendentem Ansichsein zurückfallen. Jedoch: Solange das der Erkenntnis zugängliche Seiende ihr als intelligibel vorgeordnet war, war diese Husserlsche Problemsicht inexistent. Erst mit der neuzeitlichen Gründung der Philosophie auf das Subjekt, beginnt sich die Problemlage zu wandeln. Weltbezug des Subjekts und Sein der Welt treten in eine neue Konstellation. Welt rückt (ihrem Sein nach) vom Subjekt her in den Blick. Es fragt sich, was sein Transzensus zur Welt zu leisten vermag. In der frühen Neuzeit war die Philosophie noch in der Lage, diese Frage durch Rückgriffe auf Gott zu entschärfen. Das ist noch bei Descartes der Fall. Es gab für ihn deswegen das Transzendenzproblem als Problem, das sich vom zur Welt transzendierenden Subjekt her stellte und innerhalb seiner zeitlichen Verfassung zu lösen war, nicht. Die vorgetragene These sei im Rückgriff auf einige Sätze Husserls, die noch aus dem Beginn des Jahrhunderts stammen, belegt. Reflexiv getätigte, sich in die intentionale Immanenz des Bewusstseins zurückziehende Selbstvergewisserung, die aber zugleich das im Be180
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wusstsein als zweifelsfrei geschaute Gegebene im Auge behält, muss sich sagen: »Jede Erfahrung eines dauernden Phänomens impliziert mit der Dauerauffassung auch Retention. Sollen wir also sagen, nur das absolute Jetzt sei wirkliche Gegebenheit und sei frei vom Problem der Transzendenz und schon die geringste Erstreckung in die Vergangenheit, die doch zur Dauer wesentlich gehört; sei problematisch?« (Zeitbewusstsein, Ergänzende Texte, Nr. 52, 350) Man beziehe diesen Satz auf den modus cogitandi des Wahrnehmens und seines unmittelbaren Absinkens in die (retentionale) Vergangenheit. Es ist kontrastiv aufschlussreich, wie Descartes die modi cogitandi behandelt. Er weist die modi cogitandi des ego cogito zunächst dem Umkreis der absoluten Gewissheit des cogito zu, ehe er das ungewiss bleibende Sein des Sinnenweltlichen zum Thema macht und auf metaphysischen Umwegen absichert. Er rückt also die modi cogitandi, ihre cogitata und mit ihnen das ego cogito nicht in ein Bewusstsein als Zeitbewusstsein und Zeitfluss hinein, das aus seiner Zeitlichkeit heraus wissbares Ansichsein aufbaut. Die Sinnen-Außen-Welt lässt sich für Descartes nicht in die Gewissheitssphäre des ego cogito hineinziehen. Sie wird erst durch die Mathematik wissenschaftlich erkennbar. Das reine Denkgebilde der Mathematik aber steht dem intentionalen Bewusstseinsleben des ego cogito fern. Dass in der sinnlich erfahrenen Welt das Problem ihres durch das ego cogito zu stiftenden Seinssinnes liegen könnte, das ist für Descartes nicht denkbar. Husserl aber ist positiv auf die Sinnenwelt konzentriert, indem für ihn das Wahrnehmen und sein Wahrgenommenes den Zugang zu der Welt eröffnen, von der er handeln wird; zu einer Welt, die fundamental Sinnenwelt bleibt und als solche in das auf Selbstgebungen ausgerichtete Bewusstsein einbezogen wird. Dass die traditionell sogenannte Sinnenwelt dabei ihre Bedeutung verwandelt, versteht sich. Unter diesen Vorentscheidungen steht die Art und Weise, wie Husserl das Thema der Transzendenz angeht. Schon in der Einleitung zur 1907 gehaltenen Vorlesung Ding und Raum exponiert Husserl die Problemstellung, wie sich von einer in der natürlichen Einstellung, aber auch in der Wissenschaft mit uneinsehbarem Recht in Anspruch genommenen Transzendenz wegkommen lasse. Das wird möglich durch eine phänomenologische Reduktion, die der eingesehenen Nichthaltbarkeit natürlicher Transzendenzansetzung aus dem Wege geht. Diese handelt von etwas, das in der Erkenntnis nicht (als Bestandstück) zu finden ist und daher A
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auch nicht zur (absoluten) Selbstgegebenheit kommen kann. Um dieser Aporie, die für Descartes nicht besteht, zu entgehen, nimmt Husserl seine Zuflucht zur cartesischen Fundamentalbetrachtung. Die cogitatio ist eine absolute Gegebenheit, die nicht mit dem Problem der Transzendenz belastet ist. Das klingt zunächst vorübergehend nach einer Ausschaltung der Transzendenz, so wie sie in der Erkenntnis der natürlichen Geisteshaltung vorkommt, und damit nach einer missverständlichen Immanenzphilosophie des Bewusstseins. Man dürfte dann nicht sagen, es sei von der Transzendenzansetzung der natürlichen Einstellung Enthaltung zu üben. Setzungen gegenüber lassen sich Enthaltungen einfordern. Es wäre vielmehr die Sphäre des Transzendenten, von dem in der natürlichen Einstellung gehandelt wird, dadurch beiseite zu rücken, dass man phänomenologisch reduktiv in die Sphäre des intentionalen Bewusstseins eintritt. In ihr würde zum Transzendenten der der Kritik nicht unterworfenen außerphänomenologischen Sphäre gar nicht mehr Stellung genommen. Aber eine solche Entscheidung würde dem Anspruch der phänomenologischen Philosophie im Wege stehen, universale Wissenschaft sein zu wollen. Sie kann auf den ersten Blick verdunkeln, dass für Husserl gerade durch seinen Rückgang auf dem ego cogito in seiner Zeitlichkeit absolut Gegebenes das Problem der Transzendenz aufgeworfen und gelöst wird. Die Voraussetzung dafür ist Husserls Einigung des Bewusstseins als Einheit von Bewusstseinsreellem und ihm zugehörigem intendiertem ideal gegenständlich-einheitlichem Bewusstem. Die Geeintheit dieser beiden Momente wird ja in der Strukturformel des intentionalen Bewusstseins als Bewusstsein-vonetwas gemeint. Im Rückbezug auf diese Geeintheit wirft die Rede vom Bewusstseinsreellen Fragen auf. 1909 heißt es einmal probeweise bei Husserl in einer Art Vergleich seiner eigenen Überlegungen mit einer im Hintergrund stehenden cartesischen These. »Naturerkenntnis ist problematisch. Aus welchen Gründen? Weil sie auf unmittelbare Natursetzungen rekurriert, die prinzipiell, ihrem Wesen nach, nicht den Charakter von selbstgebenden Setzungen haben, oder was dasselbe, weil sie prinzipiell die Möglichkeit offen lassen, dass Naturwahrnehmung, trotz ihrer Prätention, Natur zur Gegebenheit zu bringen, täusche, also in Wahrheit keine Natur zur Gegebenheit bringe«. (Zeitbewusstsein Nr. 51, 342). Naturerkenntnis wird als unmittelbare Natursetzung, aus der dann wohl Transzendentes resultiert, bezeichnet. Sie kennt die gesuchte 182
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selbstgebende Setzung nicht. Diese nimmt sich im anschließenden Satzstück so aus, als könne sie nicht täuschen; so, als läge das Wesen der Selbstgebung darin, nicht täuschen zu können. Aber das ist ein Punkt, der für Husserl gar nicht entscheidend ist. Die Einbettung von Selbstgebungen in den Zeitfluss entnimmt diese nicht der Täuschungsanfälligkeit. Sie sichert aber die Korrekturfähigkeit von Täuschungen zugunsten von neuen Selbstgebungen im Zeitbewusstseinsfluss. So bringt sich Natur dem Ich im Zeitfluss zur Gegebenheit, indem es als sinnlichkeitsbezogenes zeitlich auf Selbstgebungen aus ist. Und an diese Weise ihrer Gegebenheit ist auch ihre Art von Transzendenz gebunden. Für Descartes dagegen steht fest: Man muss sich vom Täuschungsanfälligen und damit von der Sinnenwelt ab- und dadurch dem Bewusstsein und der zeitunanfälligen Mathematik zuwenden. (Vgl. FTL 286 ff.) Nun tut Husserl den ganz uncartesischen Schritt, der für seine Phänomenologie wesensbestimmend ist, dass nämlich in der im Jetzt erfolgenden absoluten Selbstgegebenheit ihr Absinken in die retentionale Vergangenheit »impliziert« ist, die ein Jetzt gewesen ist usw. Und dieser zeitliche Fortgang ist es, der phänomenologisch für das Transzendenzproblem berücksichtigt werden muss, weil an ihm sich zeigt, dass und wie das Bewusstsein hsichi »selbst transzendiert« und dadurch Gegenständlichkeiten bestimmen kann. (Vgl. ebd. 347) »Damit ist schon gesagt, dass die in der Erfassung der Dauer abklingenden Phasen des eben verflossenen Jetzt nicht verloren gegangen sind, und es ist offenbar als absolute Selbstgegebenheit in Anspruch zu nehmen, dass der Wahrnehmung schon eine Retention einwohnt, in der Eben-Vergangenes in seiner Einheit mit dem Jetzt und dem immer neuen Jetzt zur absoluten Selbstgegebenheit kommt. Blicken wir den blühenden Baum entlang, so kommt der Baum in einer Zeitgestalt zur Gegebenheit, …« (Ebd. 343) Das soll sich phänomenologisch reduktiv, unter beständiger Ausschaltung gegenwärtiger oder gewesener Naturwirklichkeit zeigen. Und darüber sollen sich Aussagen machen lassen, die ungleich den Aussagen über Natur, nicht nur gültige, »sondern fraglos gültige Aussagen« sind; fraglos, sofern sie eben nichts weiter tun, als absolut Gegebenes zum absoluten Ausdruck zu bringen innerhalb eines zeitlich strukturierten Feldes im Bezug auf Zeitliches. (Vgl. ebd. 349) Ist jetzt nicht die absolute Selbstgegebenheit dessen, was in einem Jetzt gegeben ist, übergegangen zur absoluten Gegebenheit der zeitlichen Art und Weise, wie sich A
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das Bewusstsein als Verkettung von Impressionen und Retentionen gewahrt und dabei Natur zur Gegebenheit kommen lässt – unter der Auflage, dass diese Sphäre niemals mehr verlassen werden darf – zugunsten von Transzendenz, Wirklichkeit, Objektivität, die außerhalb der Bewusstseinszeitlichkeit liegen – wie es in der Erkenntnis des natürlich eingestellten Lebens der Fall zu sein scheint? Es ist nicht erforderlich, das im Vergangenheitshorizont Abgesunkene oder im Zukunftshorizont Anstehende als der Bewusstseinszeitlichkeit Unterliegendes zum absolut Selbstgegebenen zu machen. Es kann Selbstgebungen zugewiesen werden, die nur inadäquate Evidenzen zulassen, die nie zweifelsfrei sind. Das ichliche Zeitflussbewusstsein ist vielmehr das Absolute, in dem alles, was gegeben und selbstgegeben werden kann, seinen Platz hat. Halten wir fest: Es ist für Husserl, der nie von der Anknüpfung an Descartes gelassen hat, kennzeichnend, wie Descartes’ Rückgang auf die Selbstgewissheit des Ich und die clara et distincta perceptio in sein Blickfeld getreten sind. Die Auszeichnung des cogito sum spielt dabei nicht die allein entscheidende Rolle, sondern es kommt auf die Bewusstseinsmodi an, die aufgrund ihrer unabtrennbaren Zugehörigkeit zum cogito in seiner Zeitlichkeit, an der Gewissheit des cogito teilhaben. Indem das der Fall ist, lässt sich ersehen, worin das Sein des sum liegt. In den cogitata der verzeitlichten cogitationes des cogito wird das Eigene des cogito nicht auf ein bewusstseinsexternes, ihm gegenüber transzendentes Ansich hin überschreiten. Aller Sinn von Ansichsein bildet sich im Zusammenhang von cogito, cogitatio und cogitatum. Descartes gilt das als Unzulänglichkeit im Hinblick auf das, was er sucht: eine möglichst gewisse wissenschaftliche Welterkenntnis. Um zu ihr zu gelangen bedarf er Gottes und der Mathematik. Für Husserl dagegen ist ein solches Vorgehen ohne Leistungswert.
§ 22 Fluss, Form und Synthetisierungsleistung des Zeitbewusstseins in der Passivitt In der Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins will Husserl klären, wie »objektive Zeit und subjektives Zeitbewusstsein in das rechte Verhältnis zu setzen sind, wie sich zeitliche Objektivität überhaupt im subjektiven Zeitbewusstsein konstituieren kann.« (368) 184
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Der Lösung dieser Aufgabe geht die Analyse des immanenten Zeitbewusstseins voraus, da die Aufgabe aufgrund von Konstitutionsleistungen zu lösen ist, die vom immanenten Zeitbewusstsein ausgehen und auf ihm aufbauen. Denn in der phänomenologischen Fragestellung ist ja zunächst einmal alles, was zur objektiven Zeit zählt, beiseite gerückt, da diese genauso wie die sogenannte wirkliche Welt, der sie zugehört, kein »phänomenologisches Datum« ist. »Was wir aber hinnehmen, ist nicht die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer dinglichen Dauer u. dgl., sondern erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche. Das aber sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre. Sodann nehmen wir allerdings auch eine seiende Zeit an, das ist aber nicht die Zeit der Erfahrungswelt, sondern die immanente Zeit des Bewusstseinsverlaufes.« (Ebd. 369) In der immanenten Zeit erscheint zwar »Zeitliches im objektiven Sinne«, aber wenn objektiv Zeitliches keinen erlebnismäßigen Erscheinungscharakter aufwiese, wäre es nicht mehr Thema der Phänomenologie. Es wäre dem phänomenologisch Zugänglichen gegenüber transzendent. In ihm ließen sich die subjektiven »Ordnungszusammenhänge«, aus denen sich Objektivität und Transzendenz hervorbilden, nicht mehr auffinden (Vgl. ebd. 372 f.) Die angeführten Formulierungen Husserls seien kritisch beleuchtet, um ihnen innerhalb des jetzigen Kontextes die phänomenologisch erforderliche Präzision zu verschaffen. Das individuell Objektive, das Dingliche, in seiner Zeitlichkeit muss, wie es scheint, im Zeitbewusstsein zur absoluten Gegebenheit gebracht werden. Wenn die absolute Gegebenheit nur besagt, dass keine natürliche Transzendenzsetzung in Kraft gelassen wird und das, was seiend bedeutet, völlig in seiner Gebbarkeit im immanenten Zeitbewusstsein und der ihm eignenden Leistungsart aufgeht, dann hat das Wort absolut eine an dieser Stelle akzeptable Bedeutung, weil gewisse Weisen von Gegeben-werden-können die Bedeutung von Seiend ausschöpfen. Der gerade formulierte Satz enthält ein Bedeutungsmoment, das Husserl ent-fremdet worden ist. Es könnten sich eventuell verschiedene Bedeutungen von Seiend unterscheiden lassen. Eine davon beträfe seine Gebbarkeit innerhalb des im transzendentalen Sinne immanenten Zeitbewusstseins. Vom Seiend in anderer Bedeutung würde phänomenologisch nicht gehandelt. Husserl operiert jedoch so, dass diejenige Bedeutung, die er – in problematischer Weise – gegenstandsbezogen artikuliert, als bezöge sie sich auf Seiend, so auf die von ihm positiv anvisierte Bedeutung zurückgeführt wird, dass ihr gar kein Seiend entspricht. Das ist das VerA
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fahren der Phänomenologie. Es befasst sich mit der in einer natürlichen Geisteshaltung erfolgenden erkenntniskritisch nicht einlösbaren Setzungsweise von Transzendentem, sofern diese alles transzendiert, was im Zeitbewusstsein zur Gegebenheit kommen kann; in einem Zeitbewusstsein, das aufgrund der Reduktion nichts mehr enthält, was seine Immanenz überschreiten könnte. Die Zeit als unendliches kontinuierliches passives Zeitbewusstsein ist es, die, aller ichlichen Selbstbemächtigung zuvor, als Weltbildungsgrund dafür sorgt. Ein diesem Grund entkommendes Seiend gibt es nicht. Negativ, polemisch gegen die Phänomenologie formuliert: Es wird von der Phänomenologie weg-erklärt. Noch einmal: Alle Reden Husserls, die den Anschein nähren, sie nähmen die Existenz einer objektiven Weltzeit und des in ihr Seienden nicht hin und die daher eine Setzung von Seinsdifferentem als Ausgangspunkt für die Phänomenologie zu enthalten scheinen, täuschen. Sie entsprechen nicht einem Vorgehen, das die Immanenzsphäre des Zeitbewusstseins verabsolutiert, damit die Bedeutung von objektiv in der Weltzeit Seiend sich in dem erfüllt, was ihrer eigenen apriorisch konstituierenden Wesensart gemäß zur Gegebenheit kommen kann. Husserl strukturiert den in der angedeuteten Weise absolut gewordenen immanenten Zeitfluss, dem, wie zu erinnern, reell Immanentes und noematisch-ideal Transzendentes inhärieren, durch die Formmomente von aktuell gegenwärtigen Impressionen, deren Absinken in vergangene Retentionen bei gleichzeitiger Offenheit jeder Impression zum Zukunftshorizont, der sich in Protentionen artikuliert. So bilden sich die zeitmodalen Differenzen von gegenwärtig, vergangen und zukünftig aus gemäß der einlinig von einer zukunftsoffenen Gegenwart in die Vergangenheit ablaufenden Zeit. In diesem Zeitbewusstseinsstrom sind Natur und Weltall ihrem Sein nach einbehalten. Ihnen kommt keine andere Bedeutung von Sein zu. Der Zeitbewusstseinsfluss hat synthetischen, Einheit stiftenden Charakter. Die Ursynthesis ist die Übergangssynthese, die mir bei jeder impressionalen Gegenwärtigung in der kontinuierlichen Fortsetzung der Kette von Retentionen unthematisch bewusst ist. Vorgegenständlich bin ich schon des gleitenden Herabsinkens von Retentionen und komplementär dazu des kontinuierlichen Heraufkommens von Protentionen inne und erlebe, wie sich jede Gegenwart durch eine gewisse Erstreckung von Impressionen und Protentionen hindurch sozusagen zu einem Präsenzfeld »dehnt«. Die drei Strukturierungs186
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momente des Zeitbewusstseinsflusses sind nicht durch objektivierbar fixe Grenzen gegeneinander abgesetzt. Indem das Fließen der Zeit sich vollzieht, bleibt das zur Retention Gewordene im Bezug auf eine aktuelle Präsenz, auf die hin es als vergangene Präsenz festgehalten wird. Es hat durch das Verfließen der Zeit den Stempel aufgeprägt bekommen, dass es, weil es nicht gegenwärtig ist, nur noch vergegenwärtigt werden und als Vergegenwärtigtes sein kann. Davon ist zunächst jedes Eingreifen von ichlicher Aktivität fernzuhalten. Das ist nur um den Preis einer Komplikation zu haben. Das zeitliche Urgeschehen muss nämlich als endloser Verkettungs- und Komplikationsprozess des geschilderten Einzelvorganges genommen werden, in dem sich alle Retentionen qua vergangene Jetzt-Impressionen so auf ein jeweils aktuelles Jetzt beziehen, das sie innerhalb der Abfolge eine durch diese bedingte bestimmte Stelle einnehmen und in dieser ihrer sie individuierenden Stelle auf ein jeweils aktuelles Jetztbewusstsein zurückbezogen sein müssen. Müssen sie deswegen auch darauf zurückbezogen werden können durch ein Ich, das zu dem Zweck nicht umhin könnte, aktiv zu werden? Ichliche Aktivität setzt als differentiell abhebbar ein, wenn man sich an etwas retentional Vergangenes wiedererinnert. Davon ist im nächsten Paragraphen zu sprechen. Selbstverständlich ist das strukturierte Strömen des Zeitbewusstseins nicht psychologisch-erlebniszeitlich unbewusst. Dann könnte es ja nicht universal für die Bedeutung von allem Seiend zuständig sein. Darf man trotzdem Eindrucks- und Spannungsfaktoren in ihm wirken lassen? Hat Derartiges im starr formgesetzlich ablaufenden Zeitbewusstsein und dessen Synthetik etwas verloren? Kommt es nicht nur durch Regungen eines Ich ins Spiel, das sich noch nicht zur Einsicht in die Struktur des Zeitbewusstseins und der sich in ihm passiv »objektiv« zutragenden, durch individuelle Zufälle nicht beeinflussbaren Leistung erhoben hat? Diese Leistung betrifft doch auch und vor allem seine wesenhaft allgemeine Selbst- und Weltkonstitution in dem Sinne, dass alles, was ihm widerfährt, ihr gemäß konstituiert wird. Dafür sind affektiv bedingte und individuelle Zufälligkeiten irrelevant; es sei denn, man nehme Derartiges nur als empirisch Faktisches von struktureller Eigenart. Philosophiegeschichtlich gesehen ist durch Husserls Konzeption die alte Jetztpunktproblematik vermieden, die auftaucht, wenn jedes Jetzt ständig so ins Nicht-Jetzt hinein entschwindet, als wäre es nicht A
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mehr. Operiert man im Bezug auf eine solche Auffassung vom Jetzt mit der Rede von Sein und Nichtsein (und schiebt man diese »Schwindsucht« des Jetzt noch einer metaphysisch interpretierten Sinnlichkeit zu), dann kann sich die Zeit nicht als Grund von Sein stabilisieren. Von einem Jetzt zu sagen, »es sei«, höbe sich auf, da das gesagte Jetzt schon nicht mehr wäre. Unter einem solchen Ausblick auf die Zeit gerät man in die Zwangslage, andere Instanzen als die Zeit dafür in Anspruch nehmen zu müssen, dass etwas in der Zeit Bestand hat. Dagegen ist die immanente Bewusstseinszeit so verfasst, dass sie selber für den Aufgang und Bestand zunächst der Welt qua Natur aufkommen kann, indem sie zugleich Welthaftes und die Welt selber stetig aufgrund aktuellen Bewusstseins, in dem zugleich Vergangenes als gegenwärtig gewesen aufbewahrt ist, präsent sein und so sein lässt. Es ist das phänomenologisch tätig gewordene Bewusstsein, das all dies im Bezug auf jedes seiner Erlebnisse und des in ihnen als seiend Gesetzten er-schaut als etwas, das sich von selber macht, ohne dass an diesem Geschehen etwas durch es selber bedingt wäre. »Kein Erlebnis ist denkbar und in keinem Bewusstseinszusammenhang ohne dem Gesetz der Zeitkonstitution zu unterliegen, d. h. es ist nur, sofern es sich in dem starr vorgezeichneten Gesetzesrahmen von urimpressionalen, retentionalen und protentionalen Intentionen konstituiert. Es ist nicht nur, es ist auch als originaliter seiend im Werden und Soeben-geworden-sein bewusst.« (Pass. Synthesis 233). Wie sagt sich das phänomenologisch tätig gewordene Bewusstsein dies zu? Als etwas, das ihm zuvor verborgen war. Als Verborgenes war es ihm vorgängig; war als sein Wesenseigenes das, was ihm zugrunde liegt und was es sich zugleich als erschaubar zum Gegebenen macht, worin es sein eigenes, auch es selber betreffendes konstituierendes »Wirken« am Werk findet. Dieses passive ichliche Leben ist der Untergrund für alle aktiven Leistungen des Ich. Lebte es nur unmittelbar in der Passivität, so bliebe alles, was ihm aufgrund seiner Aktivität als Seiend aufgeht, verborgen. Es wäre für all das »geistig blind«. (Vgl. ebd. 209) Nichtsdestoweniger wäre all das als sich machend und dabei gewisse konstitutive Leistungen vollbringend in Kraft. »Aber in jedem Fall, und schon in der Passivität, ist doch all das bereit, was die Leistung des aktiven Ich ermöglicht, und es steht unter den festen Wesensgesetzen, nach denen die Möglichkeit dieser Leistung verständlich werden kann.« (Ebd.) Und: »Der Bewusstseinsstrom bis zum Jetzt ist für das Ich, ob es hihni konstatiert oder nicht 188
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Fluss, Form und Synthetisierungsleistung des Zeitbewusstseins in der Passivitt
konstatiert.« (Ebd. 208) Trüge die in ihrer Form fließende Zeit nicht schon »nach Urbedingungen der Passivität, welche aktive Erkenntnis ermöglichen« ein »Ansich«, ein »wahres Sein« in sich, gäbe es zunächst kein Menschen-Ich und seine Art objektiver Welt. Dieses wahren Seins kann sich das aktive Ich »nachher in seiner Freiheit bemächtigen«. Seine Tätigkeit führt zu ausgezeichneten, zu jeder Zeit wiederholbaren Selbstgebungen von zeitlich unmodifiziertem Selbigem. Schon an dieser Stelle, wo die ichliche Aktivität als konstituierende noch nicht in Aktion getreten ist, legt sich eine Frage nahe, die sich in anderen Zusammenhängen noch mehrmals aufdrängen wird: Wie stellt sich der Phänomenologe aufgrund seines frei vermöglich getätigten Wissens zu denjenigen, die über dieses Wissen nicht verfügen, die für es blind sind – wenn sie in ihrer Blindheit Resultate passiv zeitlich sich vollziehender Konstitution sein sollen? Wagen wir einen Vorgriff. Ließe sich folgern: Ein frei vermöglich aktiv gewordenes Ich kann das passive ichliche Leben als die ihm einwohnende, aber vorausliegend-zugrundeliegende Wirklichkeit nur erkennen, aber nicht in dem Sinne konstituieren, wie jene Wirklichkeit Konstitution leistet. Aber das hieße: Das transzendentale Ichsubjekt als Ergebnis frei vermöglich durch ein Ich getätigter Epoché ist nicht das Weltzeit und Welt konstituierende, sondern es deckt das konstituierende Ich auf, erschaut, beschreibt, erforscht es. Das phänomenologisch tätig gewordene Ich entdeckt in sich ein konstituierendes Ichsubjekt, um den Preis, dass es dessen Konstituieren nicht konstituiert. Es liegt im natürlich eingestellten Menschen-Ich und seiner Welt diesem Ich verborgen Konstituiertes vor. Dessen Konstitution hat sich in ihm zugetragen. Dies wird aufgedeckt und dadurch wird vom phänomenologischen Ich das in ihm tätig gewesene transzendentale Ichsubjekt als gegeben gefunden. Für die so herausgestellte Sachlage und die in ihr auftretenden Differenten ist Husserls methodisches Vorgehen, alle für das Bewusstsein uneinlösbaren weltlichen Transzendenzsetzungen des natürlich eingestellten Ich einer Epoché zu unterwerfen, nicht von Belang. Durch diesen Schritt mag der Zugang zur Welt der Phänomenologie erschlossen werden, aber er sagt nichts darüber aus, wie sich die Grundverhältnisse innerhalb dieser Welt ausnehmen. Und wenn diese so sind, dass das aus der Epoché hervorgehende Ich sich als im Korrelationsverhältnis von Konstituierendem und Konstituiertem stehend zur GegeA
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benheit bringt, schließt es sich auch aus diesem Verhältnis aus. Vom natürlich eingestellten Ich ist dagegen zu sagen: Es ist als dem Korrelationsverhältnis einbehalten. Es fehlt ihm nur das Bewusstsein davon. Vollzieht sich das Konstitutionsgeschehen also in ihm und durch es hindurch? Könnte es sich demnach fortsetzen, ohne aufgedeckt zu werden?
§ 23 Probleme der Wiedererinnerung Es sei jetzt die elementare Differenz von Passivität und Aktivität, zu deren Setzung ein Ich im passiv sich von selber machenden, starr geformten Zeitverlauf vermöglich geworden sein muss, in den Mittelpunkt gestellt. Der Zeitverlauf ist dem Bewusstsein als in der Aktivierung seiner Intentionalität bewusst gewordener dasjenige, worauf sich das Bewusstsein in Aktivitäten, die letztlich an einer universalwissenschaftlichen Zielsetzung orientiert sind, zurückbeziehen kann. Eine solche Zielsetzung setzt die Klärung des Zustandekommens von Ansichsein fort; eines Ansichseins, auf das hin die ganze Welt in ihrem Werden angesehen wird; so angesehen wird, als sei es durch die Geeintheit des Zeitflusses und seiner Formgesetzlichkeit vorgezeichnet. Ist das nicht eine sehr einseitige Sicht auf die Wiedererinnerung? Zweifellos. Aber sie scheint zu dominieren, wenn es Husserl um die Durchsetzung seines philosophischen Anliegens geht. Husserl lässt die Wiedererinnerung allerdings auch passiv in irgendeinem Jetztpunkt so aufsteigen, dass in ihr keine aktiv getätigte Identitätssynthese stattfindet, sondern eine zufallsbedingte, die mit vergangenen Erlebnissen eines Menschen-Ich oder einer Monade zusammenhängen mögen. Dass dies dann aktiv verfügbar werden kann, ist möglich, aber nicht notwendig. Darunter kann seine ursprüngliche Artung leiden. Darauf muss es gar nicht ankommen. Man denke an die Madeleine-Episode in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Aber solche Fälle besagen noch nicht, dass bei der Wiedererinnerung von Husserl die Ausrichtung auf Identität verlassen wird, die aufgrund des Zeitflusses und seiner Formgesetzlichkeit sich müsste realisieren lassen können. Die Differenzen, die sich zwischen Wiedererinnerungen finden, seien schärfer pointiert. Was kann theoretisch-wissenschaftliche Ak190
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tivität aufgrund der Wesensart des passiven Zeitflusses leisten, wenn retentional Abgesunkenes in einer aktuellen Gegenwart vergegenwärtigt wird? Sollte das an seiner retentionalen Zeitstelle individuiert Fixierte, genau von ihr abgerufen werden, weil es an ihr als gegenwärtig Gewesenes retentional aufbewahrt ist? Aber müsste dann nicht die gesamte Folge der bis zu ihm abgelaufenen Retentionen durchlaufen werden? Wenn man an diesem Ort bereits eine objektivierte, Abzählbarkeit ermöglichende Zeitskala zur Verfügung hätte, wäre dies machbar. Aber dazu brauchte es des Anhalts an Naturvorgängen, die im immantenten Zeitbewusstsein nicht zur Verfügung stehen. Von dieser Frage aus lässt sich das, was gewöhnlich als Wiedererinnerung verstanden wird, genauer bestimmen. Es komme zu Wiedererinnerungen dadurch, dass sie durch unbewusste oder bewusste assoziative Weckungen, die irgendwelchen Gesichtspunkten unterliegen, ausgelöst werden. Retentionales wird dann je nach Assoziation oder Motivation in Zusammenhängen, die nicht vom Bewusstsein reguliert werden, in aktueller Gegenwart zugänglich. Es folgt: Aktuell aufsteigende Assoziationen und Motivationen müssen nicht an die Abfolge der vorausgesetzten Protentionen-Impressionen und Retentionen gebunden sein. Das Wiedererinnerte braucht nicht der Zeitabfolge gemäß in ihr auf eine bestimmte Zeitstelle fixierbar zu sein, in der die Retentionen und ihr Gehalt in einer Impression individuiert waren, an der es objektiv-selbig in der »primären Erinnerung« aufbewahrt geblieben ist. Lässt man die Wiedererinnerung in einem geschichtlich-individuierten transzendentalen Ich oder in einem Menschen-Ich (z. B. in der Abhängigkeit von Biographien, Assoziationen, von Schlaf und Traum) wirken, so tritt ihre Funktion als Leistung für das Zustandekommen von Ansichseiendem durch Identitätssynthesen in den Hintergrund. Ihre Leistungen entziehen sich dann der ihr von Husserl zugewiesenen ur-logischen Aufgabe. Sie wären selber z. B. lebensgeschichtlich individuiert und könnten so verschieden ausfallen, dass ihre Leistungen nicht für den Sinn sich zeitlich durchhaltender Selbigkeit von gegenständlichem Sinn in mannigfaltigen Bewusstseinserlebnissen in der Richtung der Einheit der Welt und ihrer endgültigen Bestimmtheit aufkämen. Eine sich ihnen zuwendende, auf Allgemeines abzielende Thematisierung würde von Andersartigem handeln, als es dasjenige ist, wofür Husserl die Wiedererinnerung vor allem in Anspruch nimmt. Es lassen sich Schwierigkeiten finden, A
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die Affektion und Assoziation, auch als transzendental wirksame »Prinzipien«, einer Abzielung auf das wahrhaft Seiende als Ansichseiendes in den Weg stellen. (Vgl. Pass. Synthesis 153 ff.) Letztendlich geht es Husserl um Strukturelles und nicht um empirische Besonderungen, die bis ins Individuelle reichen. »Nichts kann in einem Bewusstsein bzw. einem Ich bewusst werden, ohne dass dieses Bewusstsein nach schlechthin unaufhebbaren Gesetzen und aus einem Material hyletischer Bestände die entsprechende intentionale Genesis vollbracht hat, deren Ausschlag das betreffende Objektbewusstsein ist und deren Niederschlag das betreffende retentionale System ist, in welchem die Vorbedingungen für das Ansich eines so gearteten Typus intentionaler Objektivität und für seine Normierung liegen.« (Pass. Synthesis 218) In der Reihenfolge dieser Leistungen kommt es zunächst zur Konstitution einer »objektiven Welt als physischer Natur als konstitutiver Unterschichte der ganzen uns vorgegebenen Welt.« (Vgl. ebd. 216) Empirisch, individuell Kontingentes wird dem allgemeinen Wesensgesetzlichen untergeordnet. Über es wird Husserl durch die folgenden Wesenseigentümlichkeiten des Bewusstseins Herr: 1. durch die Ansetzung des allem zugrundeliegenden von Formgesetzlichkeit beherrschten Bewusstseinstromes, 2. durch die passive Tendenz des Ichsubjektes auf Selbstgebungen und deren Steigerung auf Einstimmigkeit hin, 3. durch das sich frei vermöglich realisierende Wirken des Ich auf Objektivität, Identität und Einheit hin – wobei dem Bewusstsein diese Zielrichtung seines Lebens als Idee eingeschrieben wird. Liegt darin nicht, dass Husserl in neuzeitlich subjektivitätsphilosophischer Weise an zeitresistenter Einheit orientiert ist? Ändert die gegen alle im Objektiven verbleibende Philosophie gerichtete Fundamentalisierung der Zeit daran etwas? Nein. Diese erfolgt gerade so, dass von der Zeit her die Zielvorgabe des phänomenologischen Ansichseins für die ganze Welt, als ihr Einstimmigkeit und Einheit verbürgend, entworfen ist. Auf der elementaren passiven Ebene sind die Grundbestimmungen des Seiend durch die Organisation des Bewusstseins selber bereits vorgeschrieben. »Denn mögen wir uns ein Bewusstsein noch so regellos erdenken wollen und mögen wir dabei denken, jede neue Gegenwart bringe ganz regellos neue Daten, gewisse Bindungen schreibt das allgemeine Wesen des Bewusstseins überhaupt doch vor, und es schreibt auch in der Hinsicht, wie wir erkannten, eine feste Ordnungsregel vor, dass sich jedes urimpressional Aufgetretene retentional erhalten und dass sich dadurch für das Ich eine feste eigene 192
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Vergangenheit konstituieren muss.« (Ebd. 216) Die Einheit des Ich hängt davon ab, dass der Zeitfluss sich als Kontinuum bis zu einer urquellenden Gegenwart fortgesetzt hat. Das gilt zunächst formal für das phänomenologisierende Ich, ohne Rücksicht auf seine individuelle Besonderheit. Sie untersteht dieser formalen Struktur und der sich in ihr vollziehenden Synthetik. Sie garantieren die Einheit der Weltwirklichkeit für alle Iche. Es sei Husserls Zentrierung der Wiedererinnerung auf ihren Beitrag zur Identitätsstiftung von gegenständlich Welthaftem und seiner allen gemeinsamen Einheit hin noch ein wenig dokumentiert. Der erste Schritt auf dem Weg zur Entfaltung freier Aktivität ist die Vermöglichkeit, sich wiedererinnern zu können. »Und nur darum sprechen wir schon in der passiven Sphäre von einem konstituierten Selbst, weil schon da die Bedingungen für die freie Verfügbarkeit vorgezeichnet sind. Sie sind es für die immanente Konstitution der inneren Wahrnehmung durch die entsprechenden Wiedererinnerungen, die, wenn auch in beschränktem Maße, ein Reich der Freiheit, der freien Erzeugbarkeit sind.« (Ebd. 203) Die keineswegs dem Zeitfluss unterliegende Formgesetzlichkeit in ihrer Geeinheit mit der auf den Zeitfluss angewiesenen sich unbeeinflussbar von selbst machenden synthetischen Einheitsbildung trägt die Wiedererinnungsaktivität und ihre Leistung. »Die Zeitform ist, …, Form von Gegenständen, die als Gegenstände ihr Ansich zu haben prätendieren. Jede Rede von Gegenständen führt so auf Wiedererinnerung zurück.« (Ebd. 278) Selbst im »momentan Gegenwärtigen« soll schon liegen, dass wir es in wiederholten Erinnerungen vergegenwärtigen und identifizieren können. Was sich in der Sphäre der Passivität zuträgt, fällt in den Vermöglichkeitsspielraum eines ihr gegenüber aktiven auf Einheit und Identität hin orientierten Ich. Der Erfolg seiner Aktivität ist so abgesichert. (Vgl. ebd. 215) Der Zeitfluss in seiner starren Formgesetzlichkeit ergibt für die Wiedererinnerung, sofern ichliche Aktivität ins Spiel kommt, ideell betrachtet, die Möglichkeit »in unendlicher Mannigfaltigkeit« immer wieder auf »dasselbe« zurückgreifen zu können. Es wird immer derselbe gegenständliche Sinn reproduziert, aber dieser wandelt sich dem »starren Gesetz« des Zeitflusses folgend. »Mit anderen Worten, der Zeitgegenstand selbst, die Melodie, der Ton ist zwar in einer solchen Wiedererinnungskette individuell derselbe – wie er selbst, so ist seine Dauer individuell einzig und in der Dauer jeder tonal erfüllte Zeitpunkt. Aber der Modus der A
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Vergangenheit und damit der Orientierung zur immerfort neu erquellenden aktuellen Gegenwart ist unaufhörlich gewandelt: vorhin, gestern, vorgestern usw.« (Ebd. 331; vgl. auch ebd. 327) Und das besagt, um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen: Die Wiedererinnerung erinnert den gegenständlichen Sinn in seiner Dauer in der Zeitstelle, an der er aufgetreten ist. »Nur so wird es möglich, dass sich für uns eine einheitliche, universale Zeit konstituiert, in der alles, was uns je durch eine Vergegenwärtigung bewusst werden kann, seine feste Stelle hat. Die Zeit ist das starre Stellensystem, in dem jede individuelle Dauer mit ihrem Punktsystem starr gelegen ist.« (Ebd. 331) Diese Selbigkeit des gegenständlichen Sinns wird also durch den Zeitverlauf nicht berührt, sondern es ändert sich nur seine Stellung im Zeitverlauf und damit der zu seinem noematischen Sinn gehörende zeitliche Orientierungsmodus. In diesem Sinne ist die Zeit bei Husserl ein transzendentalisiertes principium individuationis.
§ 24 Die Erzeugung von allzeitlichen Verstandesgegenstndlichkeiten und ihr Zeitbezug Es kommt in diesem Paragraphen nur auf die Herausstellung einiger wesentlicher Differenzen von Zeitverhältnissen an, die reale Erfahrungsgegenstände von irrealen Verstandesgegenständlichkeiten trennen, die aber gleichzeitig deren Zusammengehörigkeit garantieren müssen. Die Konstitution der prädikativen Urteilsform aus ihr zugehörigem und zu ihr passendem Vorprädikativem ist aktives Erzeugen von etwas, das, erzeugt, als selbstgegebener Gegenstand auftritt. »Was hierbei an Bestimmungen (prädikativen Bestimmungen) des Gegenstandes sich ergibt, ist nicht bloß Hingenommenes, aufgrund der Affektion in der Zuwendung Rezipiertes, sondern es ist alles in sich intentional charakterisiert als Erzeugnis des Ich, als durch sein erkennendes Handeln von ihm aus erzeugte Erkenntnis.« (EU 237) Es ist also von den passiven Synthesen des Zeitbewusstseins und dem affektiv gesteuerten, rezeptiv aktiven vorprädikativen Wahrnehmen aus zu einem aktiven, theoretisch handelnden Ich gekommen. Es fragt sich wiederum: Wie hat es mit dem Ich gestanden, bevor es frei vermöglich theoretisch selbsttätig wurde? War es der Affektion 194
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durch Sinnliches, in der sich ihm etwas aufdrängt, ausgeliefert; so ausgeliefert, dass es sich ihm nolens volens zuwendete? Wirkten sich in ihm affektiv geweckte Tendenzen aus, die dem ego des cogito überhaupt noch vorausliegen? (Vgl. dagegen z. B. EU 244 ff.) Aber eine derartige affektive, nach Möglichkeit bloße, reine passive Rezeptivität brauchte, wenn man sie aus dem durch Husserls Interesse begrenzten Zusammenhang herauslöste, keineswegs zur allgemeinen in der Wahrnehmung sich machenden Identitätsbildung des Dinglichen zu führen. Sie wäre verschiedenen Wegen geöffnet, auf die sich Iche ziehen lassen könnten, ohne deswegen zu den Grundlagen der Urteilstheorie und damit zu den in ihr aufgeklärten Urteilen zu gelangen. Dem Anschein zum Trotz, den solche und ähnliche Passagen erwecken, ist es entscheidend, dass Husserl das sinnliche Geschehen in einem Vorgriff in (vortheoretisch-)theoretischer Funktion benötigt und fasst. Entfernt ähnlich, wenn auch völlig anders, als es bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft geschieht. Ist die Sinnlichkeit nur in einer so restringierten Fassung für eine Grundlegungstheorie zur Logik bedeutsam, weil sie nur so zu diesem Zweck tauglich ist? In der Krisis-Abhandlung heißt es einmal, »dass schon in der schlichtesten Wahrnehmung, und so in jedem Bewusstsein, in dem man Seiendes schlicht geradehin in Seinsgeltung hat, ein Abzielen liegt, das sich in der Einstimmigkeit immer neuer Seinsgeltungen (…) verwirklicht, …« (181) Aber im Lebensvollzug von sich leiblich durchlebenden, affektiv in ihre Umwelt eingespannten Menschen-Ichen, die sich als naturverhaftet erfahren, fungiert die Sinnlichkeit ganz anders, komplizierter. Darauf wird bei der Durchsprache des Lebensweltproblems zurückzukommen sein. Alles in der Wahrnehmung als individuell Konstituierte hat aufgrund der Art und Weise, wie es zeitlich ist, in der Einmaligkeit seines impressional präsenten Auftretens eine Dauer. Diese ist eine gewisse zeitliche Begrenztheit. Dieser allgemeine Satz besagt im Bezug auf das, wovon in ihm die Rede ist: Es ist einzelhaft Einmaliges, das anfangen, sich verändern und aufhören kann, ohne dass es deswegen im Zeitbewusstsein ins Nichts verschwinden würde. Denn: Im Zeitbewusstsein gibt es nichts Vergängliches, weil es in ihm keine Vergänglichkeit gibt. Es gibt nur ein Absinken in die Vergangenheit. Aber alles Vergangene bleibt in ihm aufgrund seiner Einheit stiftenden synthetischen Struktur aufbewahrt. Als Aufbewahrtes behält es seinen Bezug zu jeder impressionalen Gegenwart – selbst wenn es A
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nicht mehr gelingen sollte, das retentional Abgesunkene in die Gegenwart hinein als erinnert zu vergegenwärtigen. Schon bei der Wiedererinnerung kam die freie Vermöglichkeit, die auf Reproduzierbarkeit durch Vergegenwärtigung abzielte, ins Spiel. Im Erkenntnisstreben, das sich zum Urteilen erhebt, will das Ich, wie schon belegt, das Erkannte ein für allemal festhalten, es als das Selbe und als Substrat für ihm zukommende Bestimmungen durchhalten. Auf so konstituierten Gegenständen hat eine genetisch erklärende Theorie dessen, was ein Urteil ist, aufzubauen (Vgl. z. B. EU 188 ff. und 276 ff.) Ein Urteil ist etwas, das nicht in der Weise des Individuellen zeitlich ist und daher auch nicht in dessen Weise ist. Urteile sind als konstituierte Gegenstände, im Blick auf ihr Verhältnis zur Zeitlichkeit durch die retentionale Modifikation nicht an sich selber betreffbares sinnidentisch Reproduzierbares. In einem bestimmt gearteten, logisch zielgerichteten Tun werden Urteile als Irreales konstituiert. »Sind sie »in« der ursprünglichen Erzeugung, so sagt das, sie sind in ihr als einer gewissen Intentionalität von der Form spontaner Aktivität bewusst, und zwar im Modus des originalen Selbst. Diese Gegebenheitsweise ist nichts anderes als die ihr eigene Art der »Wahrnehmung«. (FTL 176) Die zur Identitätsbildung eines Dinges gehörende Verkettung von Impressionen und Retentionen sinkt in die Reihe der Retentionen als ein für allemal vergangen ab. Als Ding Identifiziertes kann zwar als in einem Kontext von Impressionen und Retentionen aufbewahrtes vergegenwärtigt, in eine impressionale Gegenwart zurückgeholt werden, aber einem solchen Identifizierten haftet die Bestimmtheit, vergegenwärtigtes-gegenwärtig-gewesenes Präsentes zu sein, an. Diese in sich differentielle Bestimmtheit ist für die Sinnidentität des Urteils außerwesentlich. Es kann reproduziert werden, ohne dass für den Urteilsgehalt als solchen die durch das Absinken in die Vergangenheit erforderlich werdende Vergegenwärtigung von Belang wäre. Er wird in seiner Sinnidentität nicht tangiert, wenn er auf das Zeitlichsein des individuell Realen und den Zeitfluss, in den es eingebettet ist, zum Zwecke des Erkennens zurückbezogen wird. Der Versuchung, das Interesse des Urteilenden von sinnlich-zeitlichen Gegenständen abzuwenden und primär auf immer seiende Gegenstände hinzurichten, ist hier nicht nachzugeben. Was bietet Husserl sozusagen als Ersatz für diesen metaphysischen Ausweg? 196
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Also: Die Weise der Identität eines überzeitlich Irrealen ist strikt zu unterscheiden von dem, was Identität des individuell zeitlich Realen besagt. Das Reale ist und bleibt durch einmalige Raum-Zeitstellen individuiert und wird als Individuiertes identifiziert. »Irreal aber histi jede Bestimmung, die zwar ihrem raum-zeitlichen Auftreten nach in spezifisch Realem fundiert ist, aber an verschiedenen Realitäten als identische – nicht bloß gleiche – auftreten kann.« (EU 319) Seine Art Identität ist nicht an zeitliche Individuiertheit gebunden. Sie kann zu jedem Zeitpunkt reaktualisiert werden, ohne dass für sie retentionale Modifikationen als Identitätsbildungsfaktoren benötigt würden. Husserl betont des öfteren die Differenz zwischen individuell Zeitlichem und Verstandesgegenständlichem sehr stark, obwohl er auch wiederum Parallelen und Analogien zwischen den verschiedenen Seinsregionen und ihren Gegenständlichkeiten hervorhebt. Das ist wichtig, damit der Zusammenhang der Fundierung, der Aufstockung, der Rückbezogenheit des Einen auf das Andere, die genetisch konstitutive Einheit des Ganzen gewahrt bleiben. Einige Sätze Husserls mögen die Differenz zwischen den verschiedenen Seinsregionen belegen. Ein Urteil ist nicht wie ein realer Gegenstand in einem objektiven Zeitpunkt individuiert, »sondern er ist ein Irreales, das sozusagen überall und nirgends ist.« (EU 311) »Es liegt zufällig (…) in der Zeit, sofern es, dasselbe, in jeder Zeit »liegen« kann.« Und: »Nämlich es geht durch die zeitliche Mannigfaltigkeit der Urteiltätigkeit eine darin liegende überzeitliche Einheit hindurch: diese Überzeitlichkeit besagt Allzeitlichkeit.« (Ebd. 313) Das bereits rezeptiv aktiv konstituierte Dinghafte ermöglicht einem frei vermöglich über zeitlich Individuiertes verfügenden Ich die Konstitution eines gemäß der Urteilsform konstituierten Gegenständlichen. Dieses ist eine Verstandesgegenständlichkeit. Sie eröffnet mannigfache neue Blickwendungen. »Alle diese Blickwendungen, die erst möglich sind nach der abgeschlossenen Erzeugung des Urteils und in denen dem Erzeugten in mannigfacher Richtung Verstandesgegenständlichkeiten entnommen werden, sind vollkommen unterschieden von der Blickwendung, durch die wir von einem sinnlichen Gegenstand zurückgehen auf die Darstellung, Erscheinung, in denen er sich für uns konstituiert.« (EU 303) Der Wahrnehmungsverlauf ist auch zeitlich gesehen von völlig anderer Art als das Urteilen und A
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seine Fortbewegung. Man muss auf diese Differenz achten, auch wenn Individual-Wahrnehmungsurteile die Basis für alle höheren Verstandeserzeugnisse sind. Es sei noch einmal an einen Satz aus der Formalen und transzendentalen Logik erinnert. Für alle im Urteilsbereich sich aufstufenden Urteile gilt, dass ihre substantivischen Kerne, die dem Begriff des Etwas überhaupt unterstehen, auf »letzte Substrate«, auf »absolute Subjekte« hin müssen zurückverfolgt werden können. »Für die mathesis universalis als formale Mathematik haben diese Letztheiten kein besonderes Interesse. Ganz anders für die Wahrheitslogik; denn letzte Substratgegenstände sind Individuen, von denen in formaler Wahrheit sehr viel zu sagen ist.« (FTL 211) Z. B. in Zahlen- und Mengenlehre. Analytisch aber lässt sich von Individuen nicht einmal sagen, dass ihnen eine bestimmte Zeitform eignet. Wenn Zeit principium individuationis ist, so sollten Zahlen u. ä. besser nicht Individuen genannt werden. Es fehlt ihnen gerade der für diese wesentliche Zeitbezug. Dieser aber kommt ihnen aus ihrem Rückbezug auf die im intentionalen, Welt erfahrenden Bewusstseinsleben wirkende Zeit zu. Sie haben, ontologisch und transzendental gesprochen, die Einheit von Zeitlichsein und Sein verloren. Das ist der Preis für ihre allzeitliche Identität. Für den Menschen betreffendes philosophisch Relevantes kommen sie daher primär nicht in Frage.
§ 25 Das ichliche Bewusstsein-von-etwas, seine Bildung aus dem unthematisch-vorgegenstndlich bewussten Zeitfluss und seine auf den Zeitfluss rckbezgliche Identitt Husserl schreibt in der Formalen und Transzendentalen Logik: »Intentionalität überhaupt – Erlebnis eines Bewussthabens von irgendetwas – und Evidenz, Intentionalität der Selbstgebung sind wesensmäßig zusammengehörige Begriffe«. (168) Wie ist das Bewussthaben von irgendetwas auf sich passiv synthetisierendes Zeitflussbewusstsein zurückbezogen, welches das explizite Bewussthaben-von-etwas aus sich entlässt, indem es durch alle fließenden Phasen hindurch die Identität des Ich macht und so nur zu einem sich passiv machenden Sich-mit-sich-identifizieren führt, aus dem ein Ichbewusstsein als Bewussthaben von irgendetwas (nicht ichlich Seiendem, nicht als ichlich Identifiziertem) aufsteigt. Husserl kommt immer wieder darauf zurück, dass die Identität des Ich eine sich zeit198
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lich konstituierende ist. Es sei auf einen Satz der Krisis-Abhandlung zurückgegriffen, der auch im Zusammenhang mit der Intersubjektivitätsproblematik als aufschlussreich zu berücksichtigen ist, der jetzt wegen seiner eindeutigen Formulierungen zur Eigenart der zeitlichen Identitätsbildung des Ich interessiert. Er schließt sich an eine Analogisierung von Fremderfahrung und Ichbildung an. »Das wird analogisch verständlich, wenn wir von der transzendentalen Auslegung der Wiedererinnerung her schon verstehen, dass zum Wiedererinnerten, zum Vergangenen (das den Seinssinn einer vergangenen Gegenwart hat) auch ein vergangenes Ich jener Gegenwart gehört, während das wirkliche originale Ich das der aktuellen Präsenz ist, zu der, über das als gegenwärtige Sachsphäre Erscheinende hinaus, auch die Wiedererinnerung als präsentes Erlebnis gehört. Aber das aktuelle Ich vollzieht eine Leistung, in der es einen Abwandlungsmodus seiner selbst als seiend (im Modus vergangen) konstituiert. Von hier aus ist zu verfolgen, wie das aktuelle Ich, das strömend ständig Gegenwärtige sich als durch »seine« Vergangenheiten hindurch dauerndes in Selbstzeitigung konstituiert. Ebenso konstituiert das aktuelle Ich, das schon dauernde der dauernden Primordialsphäre, in sich einen Anderen als Anderen. Die Selbstzeitigung sozusagen durch Ent-Gegenwärtigung (durch Wiedererinnerung) hat ihre Analogie in meiner Ent-Fremdung (Einfühlung als eine Ent-Gegenwärtigung höherer Stufe – die meiner Urpräsenz in eine bloß vergegenwärtigte Urpräsenz).« (189) Zwei Fragen seien an diese These geknüpft: 1. Wie macht sich das Bewusstsein von sich im passiven Zeitfluss, »bevor« es sich als dazu differentes Bewusstsein-von-etwas nicht-ichlich seiendem Bewusstem macht, und was geschieht, indem es sich im Rückbezug auf seine passive Selbstbildung als Bewusstsein-von-etwas nimmt und findet? 2. Reicht es für das transzendentale Ichsubjekt aus, wenn es sich als im Zeitfluss sich bildende individuelle Icheinheit identifiziert, die vom Zeitfluss und seiner Art von Synthetik abhängig ist und wenn es sich als solche zur Gegebenheit bringt – in einem »Urbewusstsein? Die erste Frage wird in diesem, die zweite im folgenden Paragraphen behandelt. Einheit und Identität des Ich bilden sich im Zeitbewusstsein, ohne dass der Phasendurchlauf und die in ihm wirkende Synthetik schon gegenständlich bewusst sind. In jeder retentionalen Phase bleibt die A
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vorangehende impressionale als impressional- gegenwärtig gewesene bewusst. Jedes impressionale Urbewusstsein ist bewusst. Nur jeweils dank seiner ist bis zur Gegenwart unthematisch-vorgegenständlich, passiv durchlaufenes Zeitflussbewusstsein seiner bewusst. »Eben dieses Urbewusstsein ist es, das in die retentionale Modifikation übergeht – die dann Retention von ihm selbst und dem in ihm originär bewussten Datum ist, da beide untrennbar sind.« (Zeitbewusstsein 119) Husserl fährt fort: »Im übrigen ist es nicht aus Gründen Erschlossenes, sondern in der Reflexion auf das konstituierte Erleben als konstituierende Phase genauso wie die Retentionen erschaubar. Man darf nur dieses Urbewusstsein, …, nicht als einen auffassenden Akt missverstehen … Ist aber jeder »Inhalt« in sich selbst und notwendig »urbewusst«, so wird die Frage nach einem weiteren gebenden Bewusstsein sinnlos.« Stellt sich das Urbewusstsein-von-sich (in jedem Jetzt?) als in jedem retentional vergangenen Jetzt als selbig gewesenes gegenständlich vor? Bringt es sich so zur erschauten Gegebenheit unter der Vorgabe, dass eine blind passiv sich vorgegenständlich von selber machende Ichbildung ihren Verlauf genommen hat? Sind dieses Sich-passiv-vorgegenständlich-unthematisch-Machen und sein in einem Bewusstsein-von in einem aktiven Aufmerken als bewusst Zur-Gegebenheit-kommen notwendig geeint? Macht diese Geeintheit das »Wesen« des Bewusstseins aus? Immerhin sagt Husserl gelegentlich, dass, wenn gewisse Aktivitäten nicht in Aktion träten, Bewusstsein blind für »wissendes Bewusstsein« von sich bleiben würde. Muss die Aktivität nicht in der passiven unthematisch bewussten Synthetik der Ichbildung als vermöglich vorgebildet sein? Ich weiß es nicht, sondern treibe meine Fragen in eine andere Richtung weiter. (Ebd.) Zunächst sei modifiziert gefragt, wie das intentionale Bewusstsein-von-etwas als Bewussthaben-von … zu einem unthematisch sich vorgegenständlich passiv bildenden Bewusstsein steht, in dem es seine Genesis der Art hat, dass es sich mit ihrem Ergebnis identifiziert. Muss es nicht seine eigene konstitutive Bildung in sich als Urbewusstsein erschauen und sich selber daraufhin in ihr wiederfinden? Aber das sollte sich eben einem Urbewusstsein verdanken, das sich seiner als zeitlich geworden bewusst ist. Das Bewusstsein-von-sich sollte sich mit dem Identifizierungsresultat der passiven Ichbildung identifizieren zu einem: Ich bin dasjenige, was sich so bildet und von dem ich deswegen Bewusstsein nur in dem Sinne haben kann, dass ich in dem Gehabten mich selber wieder finde, mich also mit ihm identifiziere. Das mag 200
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ein Erschauen seiner eigenen Genesis sein. Ist es nicht zu wenig, von dem angedeuteten Vorgang zu sagen, das Bewusstsein-von-etwas erschaute in ihm Selbstgegebenes? Brächte er nicht das Bewusstseinvon … zu der nur ihm eigenen Weise, sich selber als Ergebnis der Konstitution seiner zu erschauen; d. h. aber, sich erst dank eines Identifizierungsgeschehens als selbstgegeben bewusst zu haben. Husserl selber ist stärker darauf konzentriert, dass sich im intentionalen Bewusstseinsich in subjektiven Vielheiten (gegenständliche) Identität und Einheit bilden. Darum geht es in der hier thematischen (Selbst-) Konstitution des Bewusstseins-von … als eines expliziten Bewusstseins-von-sich nicht; es sei denn, die Blickrichtung würde verschoben und ein seiner bereits zustandegekommenen Identität bewusstes Ich würde eine Zuwendung zu sich selber als sich gehaltvoll individuell im Zeitfluss konstituiert habenden menschlichen-monadischen Ich vollziehen. Natürlich in einem aktuellen Urbewusstsein, das sich in diesem Falle mit sich als einem zeitlich gewordenen besonderen Individuum identifizieren würde. Ist das nicht eine andere Problemlage, als die zuvor besprochene? Müssen beide nicht sorgsam getrennt werden? Im III. Kapitel wird unter dem Titel Sinngeschichtliche Individuierung darauf zurückzukommen sein. Von dem Selbstkonstitutionsprozess, der sich bereits zum intentionalen Bewusstsein-von-etwas »aufgestockt« hat, so dass es sich seiner Genesis bewusst ist und unter dieser Voraussetzung etwas bewusst haben kann, ist die mit dem Bewusstsein-von-etwas gewöhnlich verbundene Thematik des sich durch die sinnlichen Daten im immanenten Zeitbewusstsein vermittelnden Weltbezuges fernzuhalten. Die Beseelung dieser Daten zum gegenständlichen Seienden in den Noesen untersteht der vorgängigen Bildung der Einheit des Bewusstseins. Eine Möglichkeit, das von Husserl Gemeinte zu verstehen, wird von ihm ausgeschlossen. Könnte das innere Zeitbewusstsein als vorgegenständliches Bewusstsein-von-sich in dem Sinne ein vorreflexives Sich-Bewusstsein sein, dass darin die Eigenart seines Seins im Unterschied zu einem anderen Seinstypus wie dem des Ansichseins bestände, auf den das Sich-Bewusstsein als intentionales Bewusstsein-von-etwas so bezogen wäre, dass es ohne diesen Bezug gar nicht zu seiner ontologischen Genesis gekommen wäre. Diese von Sartre in Das Sein und das Nichts vorgenommene Umdeutung des intentionalen Bewusstseins-von-etwas impliziert auf dessen TotalisierungsA
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bewegung hin gesehen seine Nichtigkeit. Diese kommt ihm von seinem Ansichseinsbezugspol zu, den es nicht zu ihm eigenen Immanenten machen kann. Im intentionalen Bewusstsein-von-etwas liegt bei Sartre eine Selbstunterscheidung des Bewusstseins, in der es sich von einem es abstoßenden Sein seinem Sein nach als getrennt gesetzt findet. Eine solche Fassung des intentionalen Bewusstseins ist Husserl fremd. Das Bewusstsein als immanentes Zeitbewusstsein fungiert für alles Sein konstitutiv. Als intentionales Bewusstsein-von … ist es als den Sinn von Seiendem bildendes auf dessen Totalität bezogen. Selbstkonstitution und Konstitution von allem welthaft Seienden gehen zusammen, so dass alles Seiende vom anfangs- und endlosen Zeitbewusstsein übergriffen ist, in dem sich aufgrund einer Selbstkonstitution des Ich das Bewusstsein-von-Seiendem erzeugt. Die Einigung des Bewusstseins-von-etwas mit der sich in der passiven Synthetik des Zeitbewusstseins bildenden Bewusstseinseinheit liegt allem zugrunde, was als seiendes Korrelat für das Bewusstseinvon-etwas in Frage kommt. Diese Geeintheit selber ist das absolut Seiende, das nicht als Glied dem Korrelationsverhältnis unterliegt, in dem Bewusstsein-von-etwas sich als Seinssinn bildendes von Seinssinn nicht bildendem Seiendem unterscheidet, ohne sich mit dem Seienden zu identifizieren. Dieses geht auf, »nachdem« sich Bewusstsein so mit sich zusammengeschlossen hat, dass alles Nicht-Bewusstsein nur von ihm aus zugänglich wird als Konstituiertes, das sich nicht selber konstituiert – sieht man von der Konstitution von sich selber Konstituierendem ab. Zu dem so gefassten Bewusstsein gibt es nichts Differentes; nur in ihm: nämlich dasjenige, das sich von ihm her aus ihm gewinnen lässt und Differentes in seiner absoluten Seinssphäre ist. Halten wir unter dem Eindruck, dass sich Husserls Rede von Bewusstsein qua Zeitbewusstsein zu problematisieren begonnen hat, fest: Im Bezug auf die herausgestellte Geeintheit sollte vom Bewusstsein nicht einsinnig als intentionalem Bewusstsein-von-etwas gesprochen werden. Das Bewusstsein-von-etwas kann nicht den sich von selber machenden Zusammenschluss des Bewusstseins mit sich als sein Intentum in sich einbeziehen. Richtet es sich auf ihn, so setzt es seine einheitstiftende Synthetik als geschehen voraus. Deren Resultat ermöglicht ihm seine weltbezogene Intentionalität. Mit ihm findet sich das ichliche Bewusstsein-von-etwas (Nichtichlichem) als mit seinem Ursprung geeint. Diese Einigung hat den Charakter eines 202
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sich identifizierenden »Sich-zu-sich-verhaltens«, das von jenem sich im ichlichen Zeitbewusstseinsfluss von selber machenden zu unterscheiden wäre – durch eine Bewusstseinsdifferenz, die aufgetreten wäre, die nur Ichbewusstsein im Bezug auf sich selber beträfe. Dadurch hält Husserl den Begriff des Unbewussten vom Bewusstsein fern, indem die Differenten der Differenz als verschiedene Weisen des Sich-identifizierens des Bewusstseins selber auftreten. Auf das sich passiv in der Formgesetzlichkeit des Zeitflusses machende Sichmit-sich-identifizieren sollte der Begriff des Gegebenen nicht vorschnell angewandt werden. Und auf das im ichlichen Bewussthaben von etwas erfolgende Sich-identifizieren mit der sich passiv synthetisiert habenden Icheinheit, ebenfalls nicht. Es kommt primär auf verschiedene Vorgänge des Sich-identifizierens an. Das ichliche Bewusstsein-von-etwas verhält sich in diesem Falle nicht anschauend zu Gegebenem vergegenständlichend zu dem sich zeitlich-konstituierenden Ichbewusstsein, sondern findet sich als auf es so zurückbezogen, dass es Selbigkeit mit ihm in der Icheinheit setzt. Von welch einem Ich werden diese ichlichen Vorgänge geschaut und zu Gegebenem gemacht, mit dem es sich wiederum identifiziert? Darf die so hervorgebildete ichliche Bewusstseinseinheit den Modifikationen des Zeitflusses unterworfen werden, als zeitige sie sich in der Zeit? Es heißt in der Krisis: »Hier sei nur, als Wichtigstes, auf das Allgemeinste seiner Form hingewiesen – auf die ihm hdem Ichi eigene Zeitigung zu einem dauernden sich in seinen Zeitmodalitäten konstituierenden Ich, dasselbe Ich, das jetzt aktuell gegenwärtige, ist in jeder Vergangenheit, die die seine ist, in gewisser Weise ein anderes, eben das, was war und so jetzt nicht ist, und doch in der Kontinuität seiner Zeit das eine und selbe, das ist und war und seine Zukunft vor sich hat.« (175) Das sich passiv machende Sich-mit-sichidentifizieren führt in dem zitierten Satz zu einem dauernden zeitlich selbigen Ich. Aber in diesem Fall dürfte es nicht mehr heißen Etwas dauert in der Zeit und endet in der Zeit, sondern die Zeitigung der Zeit selbst ist gleichbedeutend mit der Identitätsbildung des Ich. Dieses ist nicht in der Zeit als dauernd. Sein sich zeitigend Identifizieren kann nicht enden. Kommt zu enden nur für welthaft in der Zeit Seiendes, wie z. B. Menschen-Iche, in Frage? Kann es bei der geschilderten Sachlage sein Bewenden haben? * * *
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Es ist in einem kleinen Exkurs die sich nahe legende Vermutung zu prüfen, ob Husserls Lehre vom zeitlichen Bewusstseinsfluss nicht die Unterscheidung von bewusst und unbewusst zulässt. Die mehr konstruierte als rekonstruierte durch ichliche Bewusstseinseinheit übergriffene Differenz im Bewusstsein verleitet zu der Frage: Könnte man hier nicht auch von einer in das Bewusstsein selber verlegten Differenz von bewusst und unbewusst sprechen. In der psychoanalytischen Unterscheidung von bewusst und unbewusst kann sich beides gegenseitig beeinflussen. Deswegen ist auch dort das Unbewusste dem Bewussten zugehörig. Aber diese Zugehörigkeit ist anders als die Zusammengehörigkeit der Differenten in Husserls Begriff vom prämundanen-vormenschlichen Zeitbewusstsein und seiner Icheinheit. Durch sie wird menschlich-ichliches Bewusstsein in seiner Begrenztheit und Uneindeutigkeit fixiert. Es ist bereits klar geworden, wie Husserl selber einen Unterschied zwischen Bewusstem und Unbewusstem eskamotiert. Dieses seiner Bewusstseinsphilosophie immanente Vorgehen hat eine Seite, die in ihm zu kurz kommt, die aber für die Bestimmung von Menschen-Ichen und ihrer Weise zeitlich zu sein wesentlich ist. Husserls Strategie zur Vermeidung des Unbewussten ist, wie gezeigt, eine Differenzsetzung im Bewusstsein, die in der Einheit des Ichbewusstseins aufgehoben wird. Diese Einheit aber ist keine der Spannung zwischen Momenten, von denen das eine dem Bewusstsein Schwierigkeiten bereitet. In ihr schließen sich der passive, ohne zum Bewussthaben-von … führende Ich-bildende Bewusstseinsfluss mit dem aus ihm aufsteigenden Seiner-selbst-bewusst-sein als einem Sich-selbstgegeben-sein zusammen. Dieses Konzept steht schon in der Umgebung der transzendentalen Sicht des Ichbewusstseins. Dadurch ist vorprogrammiert, dass es nicht zur Ansetzung einer (affektiven, triebbedingten) Spannung zwischen Unbewusstem und Bewusstem kommt, die im Leben von Menschen-Ichen in der Welt ausgetragen wird. Mann kann manche Sätze Husserls so lesen, als gingen sie auf Derartiges ein. Darauf ist von mir schon angespielt worden. – Nichts verbietet es, theoretisch-vernünftig orientierte Affekte und Triebe anzunehmen. Um diese geht es hier nicht. – Sich aber auf es in relevanter Weise einzulassen, würde bedeuten, die bei Husserl dominierende Bewusstseinsphilosophie und ihre universalwissenschaftlich vereinheitlichte Begrifflichkeit zu verlassen. Also: Husserl verfährt so, dass die im Bewusstsein gesetzte Differenz im absoluten und uni204
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versalen Bewusstsein untergebracht wird. Dagegen sträubt sich die geläufige Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem. Ihr sind Menschen-Iche nicht länger vornehmlich auf evidentes Wissen abzielende und dementsprechend lebende intentionale Bewusstseinswesen. In ihnen wirken sich Kräfte aus, durch die ihr Leben geprägt wird. Ihre Weise, zeitlich zu sein, ist ihnen deswegen als Lebenskampf aufgenötigt. Ihm lässt sich theoretisches Evidenzstreben zuordnen; es bleibt ihm jedoch gewöhnlich untergeordnet, wenn es sich nicht disziplinär verselbständigt. Ihre Lebenszeitlichkeit bringt Menschen auch zu theoretischen Auseinandersetzungen mit der Zeit. Diese pflegen anders auszufallen als die transzendentalsubjektive ichliche Verabsolutierung der Zeit.
§ 26 Die aus einem Selbstberstieg des Zeitflusses resultierende zeitfreie Identitt des Ich Die eindeutigen Auskünfte Husserls zur zeitlichen Selbstkonstitution des Ich mögen den Ausgangspunkt bilden, um die folgende Möglichkeit plausibel zu machen: Der Zeitfluss kann auch dahingehend interpretiert werden, dass es aus ihm heraus zu einem Selbstüberstieg seiner kommt, durch den ein frei vermöglich gewordenes Ich, sich einer zeitüberlegenen Identität vergewissert, die aus der Einbettung in den Zeitfluss herausgesetzt und von allem Selbst- und Weltgehalt frei ist, die diesen, wie alles ihm zugehörige ichliche Konstitutionsgeschehen zu vergegenständlichen und zu wissen erlaubt. Erschaut dieses Ich aufgrund seiner Identität den Weltgehalt als konstituiert, als gegeben, als seiend? Trägt sich die Konstitution dieses Seiend etwa nur in dem sich zeitlich selbst konstituierenden Ich zu? Oder führt die phänomenologische Reduktion nicht nur auf das dank seiner zeitlichen Selbstkonstitution alles Seiend konstituierende Ich, sondern auf das dieses Ich und seine Leistung erschauende Ich, das aus einem Selbstüberstieg des sich zeitlich konstituierenden Ich hervorgegangen wäre und sich auf dieses zurückbezöge. Kann dieser Bezug nicht anders pointiert werden, als es, wenigstens zumeist, bei Husserl geschieht; und zwar so, dass die Einheitsstiftung der Zeitflusssynthetik gebrochen wird? Husserl geht durch Epoché und Reduktion vom natürlich eingestellten Ichbewusstsein des Menschen auf das transzendentale Ichsubjekt A
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zurück, das die fertig seiende Welt, das menschliche Ich eingeschlossen, als konstituiert aufdeckt und ihre Konstitution vollzieht. Dem transzendentalen Ichsubjekt ist das Seiende zu einem in seiner absoluten Immanenz erschaubaren Gegebenen und zugleich damit zum durch sich Konstituierbaren und auch schon Konstituierten geworden. Seine Konstitution erfolgt aus einer zeitlichen ichlichen Selbstkonstitution heraus, die alles welthaft Seiende zeitmodal sein lässt. Aber erfolgt die Erschauung des Konstituierens und des als konstituiert Seienden nicht aus der Perspektive eines gegenüber allem Zeitfluss indifferent-resistent gewordenen Ich? Hat es die Position einer zeitunabhängig gewordenen Absolutheit gegenüber dem absoluten Zeitfluss gewonnen? Es wäre dann in ihm ihm gegenüber in omni tempore als identisch präsent, da sich seine Allzeitlichkeit dank des von ihm erfüllten urquellenden Jetzt so als Identität herstellte, dass es sich als zeitfrei identisch setzte und dieser Setzung gemäß fände; sich also auch zeitfrei identisch sein ließe. Husserl hebt sein sich zeitigendes und gleichwohl identisches Ich gelegentlich in einem Gedankenspiel von dem unendlichen Bewusstsein Gottes ab, das in dem Sinne unzeitlich wäre, das ihm alles zumal und zugleich präsent wäre. Von einer solchen Art ist das in der Zeit der Zeit entzogene phänomenologische Ich nicht. Es bleibt zur Erschauung und Erforschung dessen, was ist, auf den absoluten Zeitfluss angewiesen, in dem das Seiende, es selber als Identifizierungsresultat eingeschlossen, sich macht. Wenn vom Ich in urquellenden »Jetzten« als »stehend-strömend« gesprochen wird, ist dieses Ich dann nicht dasjenige Ich, das seine Differenz als unzeitliches und sich zeitigendes durch Identifizierung der Differenten geeinigt hat? Ist das so bestimmte Ich das wahrhaft absolute Ich? (Vgl. dazu u. dagegen Intersubjektivität III 668 ff.) Mit den Begriffen Schau und Selbstgegebenheit kann man den dargestellten Verhältnissen schwerlich gerecht werden. Dieses sein Sein wäre ihm als Ergebnis der Realisierung eines selbstreflexiven Könnens gewiss, das sich selber wiederum als Realisierung eines Immer-wieder-könnens wüsste, das immer wieder zu demselben Ergebnis führte: zur Identität eines Ich. In einer äquivoken Benutzung des Wortes Konstituieren konstituierte sich dieses Ich selbst als leer von jedem Seinsgehalt und anders als sich seine Selbstkonstitution im Zeitbewusstsein vollzöge. Sofern sich jedoch aus ihm heraus und von ihm her alles Seiende konstituierte, sollte vom Zustandekommen dieses unzeitlichen Ich nicht als zeitlicher Selbstkonstitution gesprochen werden. 206
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Käme die Phänomenologie dann nicht auf zwei Pfeilern zu ruhen? Dem absoluten Fluss des ichlichen Zeitbewusstseins einerseits und dem ihm und seinen Erzeugungen transzendental zuschauenden Ich andererseits, das ihn und das ihm korrelierende Seiende als ihm wiederum Immanentes erforscht? Das als transzendental immanentisierendes Ichsubjekt-Seiende wäre so durch das es und seine ichlich-zeitliche Konstitution erschauende Ichsubjekt zu ihm Immanentem geworden. Rückt dann nicht das eine Ich auf die Seite des schauend Wissenden und das andere auf die Seite des alles Seiend Konstituierenden? Träten die in dieser Weise differenten Iche wieder in ein konstitutives Abhängigkeitsverhältnis? Oder: Wie käme es zu ihrer Selbstidentifizierung – in einer potenziert absoluten Seinssphäre? Gehört die hier als Problem vorgetragene Differenz mit Selbstverständlichkeit zu Husserls Grundthese, oder lehrt er etwas anderes? Husserl zufolge sind Evidenz, ihr zugehöriges Wahrsein und Sein Grundzüge jedes intentionalen Bewusstseinserlebens in seinem Bezug zur Welt. Diese ist »Korrelatidee« einer vollkommenen Erfahrungsevidenz. Jeder seiende Gegenstand »indiziert« ein System auf ihn bezogener Evidenzen. Die Wesensstruktur aller Seiendes gebenden Evidenzen klarzulegen, ist die Aufgabe der transzendentalen Konstitution seiender Gegenständlichkeit (Vgl. Cart. Med. 93 ff.) In der Konstitution konstituiert sich durch das transzendentale Ichsubjekt Seiendes. Dieses wird durch die Epoché erschaubar gemacht und damit zur Selbstgegebenheit gebracht. Aber: Kann man diese Sätze nicht anders lesen; nämlich so: Das transzendentale Subjekt konstituiert Menschen-Ich und Welt derart, dass diese dabei zu ihrem evident machbaren selbstgegebenen Sein kommen. Also braucht das Konstitutionsgeschehen selber hinsichtlich des Konstituierten nicht automatisch zu Selbstgebungen und einem ihnen entsprechenden Seiend zu führen. Die gesamte Selbstgebungs-, Evidenz- und Seinsthematik wäre Angelegenheit desjenigen transzendentalen Ichsubjektes, dem es aufgrund seiner Zielsetzungen um Derartiges ginge, das sich dadurch von dem durch es aufgedeckten, sich und alles Seiend aus dem Zeitbewusstsein heraus konstituierenden transzendentalen Ichsubjekt unterschiede. Um diesen Unterschied realisieren zu können, müsste es sich von dem alles Seiend im Zeitbewusstsein konstituierenden transzendentalen Subjekt unterschieden haben. Wäre es selber so konstituiert? A
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Husserl weist der durch die transzendentale Epoché bedingten Dopplung des aus dem Konstitutionsprozess entlassenen, um Evidentmachung des Seienden bemühten, an keinem zeitlichen Konstitutionsprozess und seinen Wirklichkeitsresultaten beteiligten unzeitlichen Zuschauer einerseits und dem auf ihn dem Sein nach nicht angewiesenen konstituierenden transzendentalen Ichsubjekt andererseits nicht diejenige Bedeutung zu, die ihr hier durch einen konstruktiven Eingriff zugewiesen werden soll. Die Zeit ist als Fluss, Form und Synthetik Bewusstseinszeit, in der sich eine Icheinheit bildet, ohne dass irgendeine Vermöglichkeit passiver oder aktiver Art des Bewusstseins ins Spiel kommen sollte. Sie ist sozusagen in einem subjektivitätsphilosophischen Sinne ontologisch fundamental; d. h. nicht durch irgendetwas betreffbar, das sich zeitigend ereignen könnte. Das Ichbewusstsein selber unterliegt als Selbstzeitigung der durch die genannten Momente bestimmten Zeit. Diese Bewusstseinszeit sollte ichlich sein, weil das transzendentale Ich andernfalls hinsichtlich aller seiner Vermöglichkeiten seinen Charakter als Selbstbegründungsinstanz verlöre. Hat es doch in ihr sein Fundament. Müsste man es sonst nicht aus einem anonymen Bewusstseinsfluss auftauchen lassen? Es würde sich aber dann nicht durch eine reflexive Rückwendung von der Welt auf deren ichlichen Grund als ein alles Seiende konstituierendes Ichbewusstseinssubjekt aufdecken können. Es selber ginge aus nicht-ichlich Anderem hervor. Derartiges deutet sich in späten Überlegungen Husserls an. Aber würde sich dann nicht das Grundgefüge der transzendentalen Phänomenologie verändern? Die Konsequenz, auf die es hier zunächst nur ankommt, ist: Es muss aus der Wesensart der ichlichen Bewusstseinszeit verdeutlicht werden, wie sich diese zu einem zeitlos selbigen Ich übersteigt. Bis jetzt ist Stand der Dinge der folgende. Nur wenn die absolute Zeit ichlich ist, können von ihr her alle Leistungen verständlich gemacht werden, über die ein transzendentales Ich als Welt konstituierend verfügen muss, die es zur Erkenntnis des Ganzen befähigen, das in Form und Fluss eines ihm selber zugrundeliegenden ichlichen Zeitbewusstseins einbehalten ist. Von ihm weiß nur das phänomenologisierende Ich als seinem Lebenselement. Es selber konstituiert sich wiederum zeitlich, indem es impressional urquellend präsent wird, also eine Gegenwart erfüllt, die sich zeitlich modifiziert. Und in die208
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ser Modifikation und durch sie wird die Identität des Ich hergestellt. Kann es dabei bleiben? Nehmen die im Zeitfluss auftretenden Einigungen der Formmomente von Urimpressionen und Retentionen auf die Selbigkeit des Ich hin gesehen nicht einen anderen Charakter an, wenn man sie aus dem Strukturganzen des Flusses herauslöst und sie nur hinsichtlich der Eigentümlichkeit fixiert, die ihnen als einzelhaften eignet, sofern sie sich nicht dem Zeitfluss und seiner synthetisierenden Bildung von Identität einfügen? Jede Geeintheit von urimpressionalem Jetzt und vergangenem retentional modifiziertem Jetzt erbringt immer nur dasselbe Resultat. Die Retention weist in das urquellende Jetzt und sein Ich so »zurück«, dass die zeitliche Modifikation von ihm als dem die urquellende Gegenwart stetig erfüllenden auf Abstand gehalten wird. Genauer gesagt: So fungiert die Retention in dem anstehenden Fall von Ichselbigkeit. Für diese ist das Absinken in die Reihe der Retentionen irrelevant, in deren Synthetik sich seine Selbigkeit so hervorgebildet hat, dass sie in jedem urimpressionalen Jetzt aufbewahrt ist. Die Synthetik des Zeitflusses braucht nicht die Selbigkeit des Ich zu garantieren, weil diese sich durch den Abstoß von ihrer zeitlichen Leistungsart bildet. Sie unterscheidet sich dadurch von derjenigen Einigung und Identifizierung, die sich im Zeitfluss zwischen »Ich-Jetzten« und ihren Retentionen zuträgt. In ihr ist aufbewahrt, dass das Ich sich seiner als eines durch die Vergangenheit durchhaltend dauernden selbig gebliebenen vergewissern kann. Aber für sie als solche ist das Sich-vergegenwärtigen-können insofern überflüssig, als sie die retentionale Modifikation, durch die sie in den Zeitfluss hineingeriete, als sie nicht betreffend abweist, weil sie sich im Fluss ständig als urquellend gegenwärtig aktuell erhält. Sie ist eine der sich ständig wiederherstellenden Gegenwart zugehörige Identität, in der sich das fließende Zeitlichsein des ichlichen Bewusstseinslebens selber einen ihm entzogenen, von ihm ab-gelösten, absoluten Fixpunkt verschafft hat, durch die Herstellung einer einzigartigen Identität, der das im Zeitfluss sich bildende Identitätsbewusstsein als das, worum das sich zeitfrei selbig nehmende Ich weiß, zugehört. Es hätte sich eine Sprengung des Zeitbewusstseins ergeben, sofern dieses nur aufgrund seiner Kontinuität und in ihr Einheitsbildung ermöglicht. Entscheidend ist, dass in diesem Fall die in jedem Jetzt eingeschachtelten Retentionen von der Art sind, dass sie zum gegenwärtigen Ich einer urquellenden Impression keine Modifikationsdifferenz ausmachen, weil dieses Ich nicht auf die durch sie ermöglichA
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ten Vergegenwärtigungen und damit auch nicht auf sein Impliziertsein in ihnen angewiesen ist. Dadurch ist der Zeitcharakter der Ichidentität aufgehoben, weil die Verzeitigungsfunktion der Retention wegfällt. Man kann dann nicht mehr von Zeitigung und Dauer dieses Ich sprechen. Das ist so, weil das Zeitbewusstsein selber eine zeitindifferente Selbstgebung des Ich gewährleistet, deren sich das Ich reflexiv vergewissern kann. Diese These wird trotz mancher Formulierungen, die sich bei Husserl finden, nicht als mit der Lehre vom transzendentalen Subjekt und seiner Zeitigung verträglich angesehen. Zwar heißt es z. B. bei Husserl: »Die subjektive Zeit konstituiert sich im absoluten zeitlosen Bewusstsein, das nicht Objekt ist. Überlegen wir nun, wie dieses absolute Bewusstsein zur Gegebenheit kommt.« (Zeitbewusstsein 112) Ein zeitloses Bewusstsein kann es nicht ohne weiteres geben. Es kann bestenfalls geklärt werden, wie es aufgrund der Eigenart des Zeitflusses zu einem solchen sich in ihm bildenden, sich aus ihm heraussetzenden identischen Ichbewusstsein kommt. Dass Husserl einer solchen Ansetzung von Ichidentität nicht entgehen kann, mag der folgende Gedankengang weiter bekräftigen. Husserl komponiert die Zeit durch Formgesetzlichkeit, Synthetik und Fließen. Von der Form gilt: »Verbleibend ist vor allem die formale Struktur des Flusses. D. h. das Fließen ist nicht nur überhaupt Fließen, sondern jede Phase ist von einer und derselben Form, die beständige Form ist immer neu von »Inhalt« erfüllt, aber der Inhalt ist eben nichts äußerlich in die Form Hineingebrachtes, sondern durch die Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt … Diese bleibende Form trägt aber das Bewusstsein des ständigen Wandels, das eine Urtatsache ist.« (Zeitbewusstsein 114) Das Ich als Resultat der sich im Fließen machenden Einheitsbildung braucht nicht in der Lage zu sein, die unzeitlich stehende Formgesetzlichkeit der Zeit zu gewahren. Dazu ist es nämlich erforderlich, dass ein Ich sich die Einheit der Form und der sich in ihr vollziehenden Urtatsache des Fließens vor-stellt. Dieses Ich muss sich in der der Zeitigung entzogenen Form als sich zeitigend gewahren und sich mit dem sich in ihr zeitigenden Ich identifizieren. Sollte es dies vermögen, muss ihm eine Position außerhalb seiner Selbstzeitigung im Bewusstseinsfluss zugewiesen werden. Da phänomenologisch keine andere Möglichkeit offen ist, als diese zeitlose-unzeitliche Position aus der Eigenart zeitlicher (eventuell teleologisch gesteuerter) Einheitsbildung hervorgehen zu lassen, muss die Zeit bei Husserl als absolute Grund210
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lage aller Einheitsbildungen, auch derjenigen, in der sie sich selber überstiegen hat, angesetzt werden. Das ist kein zur phänomenologischen Denkart Husserls passender Gedanke; denn in ihm produziert sich in der Zeit ein auf sie bezogenes, aber von ihr unterschiedenes Ich, das sich aber mit einem sich selbstzeitigenden Ich identifizieren muss, damit die Zeit einerseits Konstitutionsquelle von allem Seiend, auch dem Ichsein, und andererseits durch ein ihr entsprossenes unzeitliches Ich, den Spielraum bilden kann, in dem alles sich konstitutiv machende Seiend von diesem Ich er-schaut und zur Selbstgegebenheit gebracht werden kann. Ähnelt das entworfene Szenario nicht einer Einigung von Selbst- und Welterschaffung? Kann ein Philosoph für sie unter Berufung auf zur Schau gebrachte fraglose Selbstgegebenheiten das »Sprachrohr« sein? Gewinnt man innerhalb eines solchen Szenarios die Berechtigung, zu behaupten: »Nur der phänomenologische Idealismus gibt dem Ich und gibt der absoluten kommunikativen Intersubjektivität (die das Absolute der Menschheit ist) die wahre Autonomie und gibt ihm Kraft und sinnvolle Möglichkeit der absoluten Selbstgestaltung der Welt nach seinem autonomen Willen.« (Erste Philosophie II 506) Diesem Selbstverständnis des phänomenologischen Idealismus gehören teleologische und theologische Forschungen zu, die auf Fragen nach Entwicklung und Sinn aller Geschichte antworten. »Die Geschichte ist das große Faktum des absoluten Seins« – das einen absoluten Sinn haben muss. Dieser lässt sich aber schwerlich aus transzendentalen Ichsubjekten schöpfen. (Vgl. Intersubjektivität III 669 f.) Man sträubt sich dagegen, eine derart spekulativ erzeugte absolute Einheit, die einen absoluten Zeitfluss, seine synthetischen Einheitsbildungen und ein unzeitlich gewordenes alles Seiend zu erschauen befähigtes Ich, in sich befasst, unter dem Dach Zeit firmieren zu lassen. Das geschieht bei Husserl auch nicht eindeutig. Aber wie könnte er einer aus dem absoluten Zeitfluss sich ergebenden Differenzbildung zu ihm entgehen, wenn er nicht in eine neuzeitliche Subjektmetaphysik zurückfallen wollte, in der die Einheit die Zeit aus einer Differenz zu einem von Zeit völlig frei gehaltenen Ich oder Absoluten, anvisiert ist? Festzuhalten ist: Der in dem absoluten Seinsuniversum aus der Perspektive des unzeitlich gewordenen Ich dominierende Sinn von Sein ist insofern selber nicht zeitlich, als
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er das im Zeitfluss sich machende Seiend und sein Telos als erschaubar und gebbar betrifft. Im absoluten, sich selbst konstituierenden ichlichen Zeitbewusstseinsstrom soll ein Ich aufgetreten sein, das das im Zeitbewusstseinsfluss lebende Ich als selbstgegeben erschaut und mit ihm identifiziert. Wenn es so ist, dann sollte dieses immer, auch schon im passiv urbewusst-unbewusst sich vollziehenden Zeitbewusstsein »anwesend« gewesen sein, also immer von ihm und seiner Einheits- und Identitätsbildungssynthetik abgelöst gewesen und von dem sich in ihr konstitutiv bildenden Ichsubjekt unterschieden gewesen sein. Muss diese Entdeckung nicht auch zum Resultat der phänomenologischen Reduktion gehören? Wird das Ergebnis der transzendentalen Reduktion in der vorgetragenen Weise interpretiert, so treten sich zwei Iche gegenüber, die der Leistungseigenart und dem Sein nach differieren. In ihrem Bezug aufeinander erst liegt das absolute Seinsuniversum beschlossen. Gelingt Husserl das Kunststück, aus dem Strömen des Zeitbewusstseins ein zeitlos selbiges Ichbewusstsein hervorgehen zu lassen, das einerseits auf die im Strömen sich erzeugende urquellende Gegenwart angewiesen ist und nur in dieser seine Aktualität hat, in dieser aber sich als vom Strömen unabhängig selbig erfährt und weiß. In diesem Ich hat sich durch Entzeitigung ein nunc stans realisiert. Ist das Ich aus dem Strom der Zeit heraus, sofern dieser synthetisierend-konstituierend Einheit und Identität bildet, zu einem solchen Ich geworden, dann müsste sich dieser im zeitlos gewordenen Ich still gestellt haben. Zeitfreie Ichselbigkeit und zeitmodales Sein wären dann unter dem Primat zeitfreier, alles zu erschauen vermögender Ichselbigkeit in eine Entsprechungseinheit eingerückt. Ist das nicht mit einer sehr spezifischen subjektivitätsphilosophisch modifizierten, die Zeit in ihren Dienst nehmenden Metaphysik gleichbedeutend? Husserl spricht gelegentlich auch in der zuletzt genannten Weise von einem absoluten Ich, das er von der zeitlichen Selbstkonstitution der transzendentalen Monaden unterscheidet. »Während die Monaden seiend sind, konstitutive Einheiten, in einer monadischen Zeit einer monadischen Welt gezeitigt (obschon gegenüber den Menschensubjekten und Tiersubjekten und gegenüber der Welt transzendental), ist das absolute »ego« unzeitlich, Träger aller Zeitigungen und Zeiten, aller Seinseinheiten, aller Welten, auch in einem zweiten Sinn transzendentaler«. (Intersubjektivität III 587) Allerdings ist in 212
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diesem Satz ausgelassen, dass das Ich sich im Unterschied zu einem sich mit »Seinsgehalt« konstituierenden monadischen Ich auch auf eine Selbigkeit hin zeitlich konstituiert haben muss, die von allem »Seinsgehalt« frei ist, wenn dieser vom Ich sich soll evident gegenständlich gegeben werden können, damit er als konstituiert erschaut werden kann. Andernfalls könnte irgendein das monadische Ich bestimmender Seinsgehalt (z. B. eine individuierende Erfahrung oder eine Habitualität) seine Erschaubarkeit beeinflussen, die auf die Gebung der ihm zugehörigen Konstitution angewiesen ist und deswegen nicht durch ihn bedingt sein darf. An einer anderen Stelle heißt es bei Husserl jedoch auch wiederum, dass das Absolute absolute Zeitigung ist. Diese Zeitigung soll ich als meine stehend-urströmende »vorfinden«. Alles ist nur aus Zeitigung (Vgl. ebd. 666) Welches Ich findet sich so vor? Etwa ein Ich, das sich als aus und in einem teleologisch-sich-zeitigenden Absoluten hervorgegangen setzt, welches darauf hinwirkt, in Ichen zum Bewusstsein seiner Zielsetzung zu gelangen? Wie sollte sich in der Phänomenologie ein Ausgriff auf ein solches Absolutes ausweisen lassen? Auf dem hier eingeschlagenen Weg haben sich die beiden genannten Pfeiler der Phänomenologie als nicht konstitutiv-korrelativ aufeinander bezogen herausgestellt. Sind sie aufgrund dieser Art von Unterschiedenheit mit der Phänomenologie Husserls im Einklang, wenn sie sich in der beschriebenen Weise nach Sein und Wissen differenziert haben und dies Differente wiederum in einer Icheinheit untergebracht werden müsste? Diese könnte doch in der Phänomenologie nicht als absolute, einzige, urströmende transzendentale Iche aus sich entlassende gedacht werden – sozusagen wie ein Ichgott, der Iche generiert, oder, wenn man sich, zu einer ausdrucksstarken, aber die begriffliche Darstellung pervertierenden Metapher hinreißen ließe, gebiert. Solche fragwürdigen Fragen kommen bei Husserl nicht zum Zuge, da seine Fragestellung zumeist darauf abhebt, das transzendentale Ichsubjekt als sich selbst zeitlich konstituierende Seinsquelle für das Menschen-Ich und die Welt aufzudecken und dies Seiende in sie einzubehalten. Aber davon ist hier nicht die Rede gewesen. Die Rede war von Schwierigkeiten, die in der absoluten transzendentalen Seinssphäre hinsichtlich ihrer Ichlichkeit auftreten. Diese Schwierigkeiten werden durch die Husserl leitende Fragestellung verdunkelt. In der absoluten Seinssphäre sollte ein absolutes Ich wirken und schauen. Es haben sich aber zwei Iche ergeben, von denen A
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sich nicht absehen lässt, wie sie sich aus einem Einheitsgrund differenziert haben könnten, die vielmehr immer schon unterschieden gewesen sein müssen. Nur eines von ihnen ist in der Konstitution von Menschen-Ich und Welt am Werk. Kann es abweichend von Husserl so sein: Das eine Ich tut seine Arbeit, ohne dass das zweite Ich sich seiner als zeitlos selbiges zu vergewissern und seine Tätigkeit des Erschauens von Selbstgegebenem aufzunehmen braucht. Also wäre die phänomenologische Reduktion im Hinblick auf das ichliche Konstituieren und seine Seinsleistung sekundär; ja, irrelevant, wenn man nicht Husserls Fragestellung mitmacht, die auf eine Reduktion von Sein auf Schaubarkeit und Gebbarkeit und damit auf transzendentale Immanentisierung abzielt. Verrät sich das Ergebnis des Auseinander-tretens des Ich als Resultat seiner Selbstzeitigung einerseits und des allgegenwärtigen der Zeitigung entrückten Ich andererseits nicht darin, wie dem Ich die Reduktion als schlechthin frei vermöglich zu tätigende zur Verfügung steht? Ist es doch in diesem Tun seiner selbst als einer schlechthin selbigen Einheit gewiss, deren es sich in vollkommener Freiheit – unangesehen all dessen, was sich im Verlauf seiner zeitlichen Selbstkonstitution zugetragen hat – vergewissern kann; immer wieder vergewissern kann. Weiß es um diese seine Freiheit und dem aus ihrer Realisierung resultierenden Wissen um sich, dann setzt es seine Identität aus dem Zusammenhang des Zeitflussbewusstseins heraus. Aber diese Freiheit ist strikt daraufhin konzipiert, die phänomenologische Wissbarkeit der (fertig seienden) Welt aus ihren ur-logischen konstitutiven Gründen, die zur Ergreifung des Logos des Seins befähigen, zu ermöglichen. Ohne diesen Bezug ist sie in den systematischen Durchführungen von Husserls Hauptwerken funktionslos. Sie kann also nicht als praktische Freiheit dem Menschen die Nichtwissbarkeit dessen, was sein wird und sein soll, enthüllen. Wäre das nicht die Voraussetzung dafür, dass Menschen Verantwortung übernehmen müssten für eine vermutete oder geplante Zukunft in Anbetracht deren eine Gegenwart dämmrig und widerspenstig ist. Es ist verständlich, dass Husserl angesichts solcher sein universalwissenschaftliches theoretisches Vorhaben bedrohenden Gefahren auf eine geschichtsteleologisch wirkende Vernunfteinheit zurückgreift, die in der Phänomenologie kulminiert und dieser praktische Relevanz im Zukunftshorizont zuweist. Das hat seinen Preis. Das Vorhaben realisiert sich im Wissen des sich durch sein Wissen bestimmenden Wesens. In es und sein Wissen wer214
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den alle »Dinge« – darunter alle Menschenwelten in ihrer Geschichtlichkeit – hineingezogen und bestimmt. Werden in der Welt lebende menschen-ichliche Sprachwesen, die aus einer absoluten ichlichen Seinsphäre heraus als Vermittler des Absoluten mit der Welt objektiviert sind, sich als so bestimmte Objektivationen wiederfinden – in ihrer endlichen Zeitlichkeit? –, ohne dass sie sich dazu bestimmt hätten, solche Wesen zu sein – wozu sie aufgrund von philosophischem Wissen in der Lage wären? Wie können sie sich gegenüber der ihnen angetragenen Entobjektivierung in die absolute doppelgesichtige zeitlich-zeitlose ichliche Zeit hinein verhalten? (Vgl. z. B. dagegen Intersubjektivität III 554 f., 638 f.) Werden ihnen die in und aus dieser Sphäre gewonnenen Evidenzen für sich als evident erscheinen? Dass Menschen-Iche, einer gewissen Neigung, zum Ganzen Stellung zu nehmen folgend, sich und die Welt in geschichtszeitlicher Weise unterschiedlich sagen und verstehen, so dass das als seiend Gesagte und Verstandene keine eindeutige Bestimmtheit aufweist, wie sie z. B. aus einem (evtl. teleologisch gesteuerten) ichlichen Zeitbewusstseinsfluss resultieren könnte, ist Husserl als Ausgangspunkt des Philosophierens nicht zugänglich gewesen. Wird er ergriffen, dann ist die Ansetzung des Menschen-Ich als Selbstobjektivierung eines absoluten Ichsubjektes, das sich, in transzendentalen Ichsubjekten pluralisiert, in der Gestalt der Menschheit findet und auf Einstimmigkeit und Einheit der Welt hin bewegt, aufzugeben. Sie ist zum Resultat einer philosophischen Totalisierungsbewegung geworden, der sich Menschen-Ich und Welt in ihrer Bestimmtheit verdanken. Sofern sie ihrer nicht ansichtig werden, wäre das selbstverschuldet. Aus dieser ihnen philosophisch auferlegten Verschuldung sind sie zu entlassen. Das Philosophieren sieht sich dann auf seine Geschichte und auf seine eigene Geschichtszeitlichkeit verwiesen, ohne den Ausweg der Selbstauszeichnung durch eine sich in einer Gegenwart vollendenden Teleologie zu ergreifen. Es muss nicht nur sich selber geschichtszeitlich situieren, sondern auch sein (als seiend) Gesagtes derart in eine geschichtszeitliche Bestimmtheit hineinsagen, dass sie mit einer Selbstrelativierung nichts zu schaffen hat, weil sie sich gegen andere Sichtungen und Gewichtungen des unganzen Ganzen »argumentativ« immun gemacht hat. In eine solche Bestimmtheit möge Husserls Zeitdenken hineingeraten sein. Dies ist ihm angetan worden; denn dass eine Einheit die Welt eine Bedeutung nur innerhalb von endlichen geA
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Das ichliche Zeitbewusstsein als nie versiegender Konstitutionsquell
schichtszeitlichen Horizonten haben könnte – das widerstreitet dem absoluten Zeituniversum, in dem das Ich sich bildet und zugleich, als zeitlich absolut gewordenes frei vermöglich, die Schau von selbstgegebenem Seienden realisierend, herrscht. (Vgl. Cart. Med. 180 f.) Sind nicht gerade und in ausgezeichneter Weise philosophische Totalisierungsbewegungen nur als geschichtszeitlich endliche realisierbar? Steht ihnen als Produkten von einigen lebendigen Sprachwesen, die als Menschen-Iche durch Sprachlichkeit verwandelte Naturwesen sind, eine andere Möglichkeit offen sofern sie Produzenten von Weltdeutungen sind, die alles übersteigen, was die Natur, die selber deutungsanfällig ist, hergibt?
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VII. Im Menschen-Ich liegende Grenzen der transzendentalphnomenologischen Fassung der Lebenswelt § 27 Das Menschen-Ich in seiner Unangewiesenheit auf einen reflexionsabhngigen Rckstieg in sein transzendentales Ichsubjekt zum Zwecke der Konstitution seiner Lebenswelt als der Welt Fixieren wir die erreichte Ausgangsposition konzentriert auf die Geeintheit von Menschen-Ich und transzendentalem Ichsubjekt. Husserls Weise, beide zu einen, von der das Gelingen der Phänomenologie abhängt, wird in diesem Paragraphen zunächst nur aufgelockert und fragwürdig gemacht, bevor sie später durch eine andersartige Bestimmung des Menschen-Ich zurückgewiesen wird. Die Einheit von unzeitlich selbigem, nicht-konstituierendem Ich und sich zeitigend- konstituierendem Ich, das Menschen-Ich und Welt konstituiert, ist auf menschen-ichliche Weltkinder angewiesen. Damit diese zur Einheit ihrer Erfahrung und der erfahrenen Welt zu gelangen vermögen, werden sie von Husserl in einer durch seine Phänomenologie bedingten Weise angesetzt. Das geschieht unauffällig in einer Beschreibung ihrer, in der sie sich als intentionale Bewusstseinswesen und die Welt als ihrem Bewusstsein korrelativ finden – vorurteilsfrei und von aller Theorie entlastet wiederfinden sollen. Sie sind sich dabei ihrer transzendentalsubjektiven Ichlichkeit nicht bewusst. Husserl stellt sich die Aufgabe, ihnen die Unbewusstheit dessen, was in ihnen das Bewusstsein ist, zu nehmen. Bei dieser Aufgabenstellung handelt es sich um die Aufdeckung einer Bewusstseinsdifferenz, deren Differente eine hierarchisch geordnete Bezugseinheit bilden. Die Aufgabe ist als eine solche theoretisch reflexiver Überlegung gestellt, die zu einer frei ergriffenen Blickwendung führt. Dieser entspricht für die sie ergreifenden Menschen eine Umstellung ihrer natürlichen Einstellung in eine befremdlich neuartige Einstellung auf sich selber und die Welt. Husserl gibt dieser Aufgabe gelegentlich eine dramatische Note, als ständen ihrer Lösung andere Schwierigkeiten als die einer gewissen Bewusstseins- und WissensA
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beschränktheit, die eine leicht behebbare Blindheit genannt werden kann, im Wege. Aber das täuscht. Denn solche Schwierigkeiten müssten in der Phänomenologie eine wesentliche Stelle einnehmen – wenn z. B. das transzendentale Ichsubjekt zur Selbstobjektivation in einem Menschen-Ich in der Welt genötigt wäre und damit seine Verweltlichung einerseits aus seiner Wesensart resultierte, aber andererseits gegen diese widerspenstig wäre. Indem die Phänomenologie mit solcher Nötigung und Widerspenstigkeit nicht rechnet, tut sie einen entscheidenden Schritt, der mit über ihren Begriff vom Menschen und seiner Welthaftigkeit entscheidet. Verweilen wir noch: Der Mensch lebt in der Welt als einer ihm vorgegebenen in Schranken der Endlichkeit, »sofern ihm notwendig im natürlichen Leben als Mensch sein transzendentales Sein als transzendentale Subjektivität verhüllt bleibt, oder was einerlei ist, in seiner Menschlichkeit die transzendentale Subjektivität als verhüllt lebt.« (Intersubjektivität III 389) Die daraus resultierende Verblendung durch das Sein der Welt macht das Transzendentale »notwendig unzugänglich«. Diese Verhülltheit des Transzendentalen ist eine metaphorisierte Unwissenheit, die mit Selbstverständlichkeiten der Lebensweise in der natürlichen Einstellung zusammengeht, aber ohne dass in diesem Leben etwas Eigentümliches wirkte, das sich – um seiner Selbstbehauptung willen gegen seine Aufklärung über sich sträubte –; was unterstellt werden könnte, wenn das verhüllte Leben des Transzendentalen dem menschlichen Leben »notwendig unzugänglich« wäre. Seine Unwissenheit kann der Mensch, wie es sich für ein denkendes, erst recht für ein aufgeklärtes, um Wissenschaft bemühtes Wesen gehört – wer möchte etwas dagegen einwenden – aufheben. Zu dieser Fehlsicht auf sich und die Welt verhilft der Phänomenologe dem Menschen-Ich. Aber: Wenn es so bleibt und gleichzeitig von einer Selbstobjektivierung des transzendentalen Ichsubjektes im Menschen-Ich, in dem dieses als verhülltes lebt, gesprochen wird, weist das System der Phänomenologie dann nicht eine Fragwürdigkeit auf? Husserl nahe formuliert scheinen hier gar keine Schwierigkeiten zu liegen. Die Enthüllung des Transzendentalen beginnt durch eine sich an eine Beschreibung des natürlichen Lebens anschließende Überlegung. Das geschieht unter Anleitung des Phänomenologen, der seine Beschreibung des menschlichen Weltbezuges als dessen Selbstbeschreibung aussehen lässt, indem er z. B. von wir und uns spricht. Er beschreibt aber das menschen-ichliche Leben in der Lebenswelt als ein Welthaftem hingegebenes, welt218
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Das Menschen-Ich in seiner Unangewiesenheit
gläubiges der Art, dass es sich dabei seiner mannigfachen Beschränktheit bewusst wird. Sie zu gewahren und sie zu überschreiten auf das in jenem Weltglauben liegende, für das Sein der Welt wesentliche Glauben hin – das geht wie problemlos zusammen. Entspricht das der Art und Weise, wie sich im Menschen-Ich eine Seinsdifferenz zwischen ihm und der Welt erzeugt? Folgt man dem Vorgehen Husserls nicht, sondern setzt man das Seiende, wie es im Sprechen des lebensweltlich-menschlichen Lebens auftritt, als indifferent gegen die Wissbarkeit seiner subjektiven Herkunft an, so verändert sich das Verhältnis des Wissens von der Welt zur Welt ihrem Sein nach. Setzt man die Eigenart des menschlichen Wissens von der Welt mit Husserl in ein Bewusstsein, das über die in ihm liegende Geeintheit seines Wissens von der Welt mit der Welt ihrem Sein nach aufgeklärt ist, dann verwandelt sich ein auf einer Seinsdifferenzsetzung zwischen Menschen-Ich und Welt beruhendes Verhältnis in eine von Wissen übergriffene Einheit, in der das nach Wissen und Sein Differente in einer subjektiv absoluten Seinseinheit, einem absoluten Seinsuniversum, übergriffen ist. Diese Unterscheidung ist nicht durch dasjenige Problem der Transzendenz von bewusstseinstranszendentem Seienden belastet, mit dem Husserl sich abmüht, um durch seine Ausschaltung in das phänomenologische Beschreiben hinein zu gelangen. Husserls Fassung des Überganges vom intentionalen Bewusstsein des Menschen-Ich zu dem in diesem lebenden Bewusstsein des transzendentalen Ich stößt auf keinen Widerstand, weil in diesem Übergang die Welt ihrem Sein nach als dem um ihn wissenden Ich zugehörig immanentisiert wird. Es gibt keine im Menschen-Ich und seiner Stellung zur Welt begründete, gegen den geschilderten Übergang sperrige Seinssetzung, an der die Menschen festhalten, um sich als Wesen in der Welt in einer nicht seinsmäßig von ihnen abhängigen, nicht auf sie einseitig relativen Differenz zu ihr zu erhalten – mag diese Differenz auch durch sie selber bedingt sein. Ist man einmal davon überzeugt, dass das menschliche Wissen um sich und die Welt so ist, wie phänomenologisch gewusst wird, dann spricht man unter dieser Voraussetzung vom Menschen und der von ihm gewussten Welt. Aber dann sind diese bereits zu etwas anderem geworden, als sie ohne diese ihre phänomenologische Aufgeklärtheit sind – nämlich so sind, wie sie sich selber und die Welt auch anders sagen. Sie sind in eine bestimmte Philosophie gemäß deren Begriffen von Wissen und Sein und deA
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ren Geeintheit einbezogen worden. In deren Sprachwelt ist dann von Menschen-Ichen und ihrer Welt die Rede. In der in ihr erzeugten Bestimmtheit ist so von Menschen die Rede, als wären diese schlechthin so und könnten nicht anders bestimmt werden. Was soll wohl, wenn es so steht, Beschreiben besagen? Was kann es wohl alles besagen? Der konzeptionelle Entscheidungscharakter des Husserlschen Vorgehens im Bezug auf den Menschen in der Welt und seine (nur durch seine Intentionalität bedingte, innerhalb einer Korrelation liegende) Differenz zur Welt ist, außer durch Husserls Verständnis vom Beschreiben, auch durch die folgende, für sein Werk charakteristische Vorgehensweise verdeckt. Wenn das fertig Seiende der vorgegebenen Welt in seinem zeitlichen Strömen von struktureller, eidetischer, formaler, also allzeitlich sinnidentischer Art ist, sind die es konstituierenden Leistungen diesem Seiend entsprechend gleichförmig, d. h. so reproduzierbar durch das transzendentale Subjekt, dass sich immer dasselbe Seiend ergibt. Das transzendentale Subjekt erschaut, wie sich in einem Konstituieren solcher Art das Seiend durch den Menschen hindurch macht. Dieser wird dann philosophisch vornehmlich in dieser Funktion für eine Weltkonstitution der gerade angedeuteten Art genommen. »Seiendes jeden konkreten oder abstrakten, realen oder idealen Sinnes hat seine Weisen der Selbstgegebenheit auf Seiten des Ich seine Weisen der Intention in Modis der Geltung, …« (Krisis 169) In alldem findet sich Wesensnotwendigkeit, die Wesensallgemeinheiten aufzudecken gestattet als apriorische Wahrheiten. Subjektive Gegebenheitsweisen und ichliche Geltungsmodi sind das jenen Wahrheiten entsprechende Apriori: »durch sie wird, …, die für uns seiende Welt verständlich gemacht, verständlich als ein Sinngebilde aus den elementaren Intentionalitäten. Deren eigenes Sein ist nichts anderes als Sinnbildung mit Sinnbildung zusammen fungierend, in der Synthesis neuen Sinn »konstituierend«.« (Ebd. 171) Im Rahmen einer solchen Sicht werden als konstituiert Seiendes und das ihm vorgeordnete Konstituieren im Rückgang von fertig Seiendem, dem man seine Konstituiertheit noch nicht ansieht, auf die subjektiven Mannigfaltigkeiten erschaut, in denen es sich gemacht hat und macht, und zur Gegebenheit gebracht. Die Konstitutionsleistungen müssen dem Seiend der Weltstruktur und des Eidetischen entsprechen, denn es muss aus ihnen resultieren. Sie können nicht an220
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ders verlaufen sein. Und es geht bei ihnen um nichts, das von solcher Direktion abweichen dürfte. An allem Seienden wird nur »beispielhaft« Derartiges demonstriert. Die Darstellung der Konstitutionsleistungen in der Erschauung fällt mit dem seienden Ergebnis ihrer zusammen. Seine Rekonstitution deckt sich mit dem Ergebnis seiner Konstitution. Ist das eine Stütze für die phänomenologische Berufung auf das Sehen und Finden des Vorgegebenen, das nur Enthüllen des im vorgegebenen Seienden enthaltenen Seinssinnes sein will? (Vgl. Cart. Med. 177) Wiederum fragt sich: Aber wie steht es dann mit einem zukunftsoffenen zeitlichen Strömen? Was sich in ihm zutragen kann, soll keinem vorgängigen Ansichsein unterliegen, das es immer schon in seine Grenzen eingesetzt hätte. Diese These Husserls schließt es nicht aus, dass das Strömen auf die Bildung von sinnidentisch Seiendem und ihm zugehörigen Strukturen ausgerichtet ist. Radikalisiert man sie gegen die Intentionen ihres Urhebers, würde die Zukunft dem Umkreis der Konstitutionsleistungsfähigkeit des transzendentalen Ich entzogen. Es gäbe dann keine fertig seiende Welt, welche die Intentionalanalyse als Ansatzpunkt benötigt. Es gäbe auch keine Teleologie, die die Zukunft auf Selbstgebungen und Sinnidentitäten hin festlegt. Auf jeden Fall finden sich im Werk Husserls wesentliche Positionen, die verhindern, dass das zeitliche Strömen als zukunftsoffenes sich der Kontrolle durch das absolute transzendentale Ich und seinem am Seiend orientierten Konstituieren entzieht. Dieser Kontrolle muss also ebenfalls das Menschen-Ich in der Welt unterstellt bleiben, damit Wesensverfassung und Einheit ein und derselben Welt gesichert bleiben. Es ist ja die These aus den Ideen I von Husserl nie revoziert worden, dass das von der Welt gereinigte, absolut gewordene Bewusstsein keiner Welt bedürfe, die eventuell – gemessen an den Regelstrukturen und der Identitätssynthetik des Bewusstseins, ein regelloses Chaos werden könnte. (Vgl. auch Erste Philosophie II 87) Müsste nicht das Menschen-Ich als Selbstobjektivierung des transzendentalen Ichsubjektes aufgrund seines Bezuges zum fertig Seienden in diese These einbezogen werden? Die Welt qua Wahrnehmungswelt bildet sich doch notwendig nur durch es hindurch. In seinem Eigentümlichen ist doch transzendental Subjektives verhüllt am Werk. Aber wie stände es dann mit einem reinen Bewusstsein, von dem gilt: indiget nulla re ad existendum? – Ein Chaos dürfte die
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Welt auch aus anderen als transzendentalsubjektiven Gründen nicht werden können. Das Menschen-Ich und seine Welt werden in die vom transzendentalen Ichsubjekt erbrachten Konstitutionsleistungen eingespannt. Entlässt man das Menschen-Ich aus diesem Kontext, so wird seine soziale Pluralisierung wesentlich, weil Menschen-Iche als Produzenten kultureller Welten fungieren können, die die Grenzen des wissenschaftlich Wissbaren überschreiten, in denen es keine die Welt totalisierend in sich einbegreifende Einheit von philosophisch-wissenschaftlichem Wissen zu geben braucht. Die Vereinheitlichung solcher Welten zur Welt kann der Phänomenologie nur durch sie selber bedingte Maßnahmen gelingen. Ihrer aber kann das geschichtliche Werden spotten. Es sei in kritischer Distanz zu Husserl zunächst die Sachlage folgendermaßen fixiert. Das Konstitutionsgeschehen und das in ihm fungierende Ich könnten unberührt in Kraft bleiben, wenn das MenschenIch, in seiner Welterfahrung und in seinem Weltwissen, nicht von ihnen wüsste. Kann man dann nicht schließen, dass die Reduktion hinsichtlich von allem, was das Menschen-Ich in der Welt angeht, auch unterbleiben könnte – wenn man sich nicht Husserls Cartesianismus, seiner sich deskriptiv gebenden Annäherung des natürlich eingestellten intentionalen Bewusstseins an den Übergang ins transzendentale Bewusstsein, seiner Ausrichtung an Sinnidentität und einer in der Phänomenologie kulminierenden Geschichtsteleologie anschließt? Wie steht es mit dem Einfluss dieser Faktoren auf das, was im Sinne der Phänomenologie ist und sich keiner philosophischen Produktion verdanken will? Sagen Menschen-Iche sich und die Welt so, dass sie nicht in der Art und Weise sprechen, wie sie von Husserl unter den genannten phänomenologisch-philosophischen Vorentscheidungen beschrieben werden, dann lassen sie sich nicht, wie es bei Husserl geschieht, in transzendentale Ichsubjekte überleiten. Man muss sie also auch nicht so thematisieren, wie Husserl es tut. Man denke z. B. daran, wie Merleau-Ponty aufgrund seines Verständnisses der Lebenswelt das menschen-ichliche Sein als Zur-Weltsein der Skylla eines sich reflexiv installierenden Subjektivismus und der Charybdis einer Naturalisierung entgehen lässt. Husserl vermag einen solchen Weg nicht einzuschlagen; denn die transzendentalphänomenologische Bedingtheit des konstitutiven Aufbaus der Welt 222
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durch die Wahrnehmung kann durch die Lebensweltthematik nicht beeinträchtigt werden, weil Husserl das ursprüngliche weltvorgängige Zeitbewusstsein in seiner Besetzung durch sinnlich-hyletische Daten als dasjenige Absolute, von dem her sich alles Seiende muss konstituieren lassen, zum unmittelbaren Konstitutionsgrund des Wahrnehmens und seiner Welt macht. Dieses phänomenologisch Erste dirigiert die Richtung, der folgend Husserl auch die Lebenswelt qua Wahrnehmungswelt konzipiert. Husserl steht so sehr im Bann der Suche nach im Subjektiven liegenden, Seiendes begründend-hervorbringenden Leistungen, dass der Gedanke der Selbstgenügsamkeit des Seienden aller Art, das sich schon hervorgebildet hat und nicht auf das Wissen seiner transzendentalsubjektiven Herkunft angewiesen ist, für ihn keine Durchschlagskraft gewinnt. Schließt man sich den für Husserls Konzeption wesentlichen Entscheidungen nicht an, so nimmt sich ein in der Unbewusstheit hinsichtlich seiner weltkonstituierenden Wesensart verbleibendes intentionales Bewusstsein in seinem Weltbezug in dem Sinne wie ein Ansich aus, dass es nicht auf das Wissen um seine in ihm für es verhüllte Transzendentalität angewiesen ist. Tendenz und Zugangsmöglichkeit zu diesem Wissen könnten ihm als ihm von Husserl zugedacht gelten. Wenn allerdings dem vom Menschen-Ich als seiend Gewussten aufgrund seiner Art von Wissen die Eigenart zukäme, zu bestehen, ohne Wissen um die subjektiven Leistungen, aus denen es hervorgegangen ist, zu haben oder zu benötigen, so wäre das Phänomenologisieren ein Tun, das für den Bestand der fertigen Welt und ihrer Fortbildung nicht erforderlich wäre. Spricht man dem Menschen-Ich zu, dass es von der Art ist, dann verstößt man gegen die bei Husserl dominierende Bedeutung von Sein, die dem Wissen vom transzendentalsubjektiven Konstituieren zugehört. Der Mensch vollzieht in diesem Fall nicht den Glauben an eine als fertig seiend vorgegebene Welt, sondern er nimmt die Welt so hin und beschreibt sie so, dass er nicht zu wissen braucht, wie sie sich auf der Grundlage seiner als eines universell intentionalen Bewusstseinswesens transzendentalsubjektiv als seiend gemacht hat. Es sollte sich dadurch eigentlich nichts an ihr ändern. Der Mensch könnte z. B. von der Bildung der Dingeinheit in subjektiven Gegebenheitsweisen wissen, aber sein Umgang mit Dingen und sein aus dem Operieren mit Dingen resultierendes Wissen von ihnen bedürften jenes Wissens um das subjektive als seiend Konstituieren nicht. Diese UnA
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bedürftigkeit des Wissens von der (seienden) Welt gegenüber ihrer Einbehaltenheit in verborgenem Transzendentalsubjektivem könnte den Menschen positiv charakterisieren, und er könnte unter dieser Voraussetzung über das Sein der Welt entscheiden. Dem will Husserl abhelfen. Aber dagegen steht: Er dürfte dann auch dementsprechend beschrieben werden. Unter der entwickelten Hinsicht nimmt sich die von Husserl ergriffene Freiheit für den Vollzug der Epoché anders aus als für ihn selber. Sie führt zu einer Welt, die sich nicht transzendentalsubjektiv ein- und heimholen lässt, weil sie gar nicht von der Art ist, dass phänomenologisches Wissen in ihr zur Herrschaft kommen kann. Es sei ein Satz Husserls zitiert, der keineswegs transzendentalsubjektiv gemeint ist, der vielmehr eine Selbstverständlichkeit aussagt, die jedem Menschen-Ich in der Welt einleuchten sollte, weil seine Negierung zu Widersinn führt. Die Ablehnung dieses Satzes muss keineswegs zu Widersinn führen. Er sei hier nur benutzt, um eine weitere Problematisierung der Husserlschen Seinsrede vorzubereiten. Zur Komplettierung muss ihm dann sein Gegen-Satz zugefügt werden. Husserls Satz lautet: »Ich sehe aber, dass alles Sein nicht ist vor meinem Bewusstsein und Ich-sein, sondern aus ihm und in ihm selbst seinen Sinn und seine Geltung erhält, sich in mir konstituiert.« (Intersubjektivität III 591) Wenn dieser Satz nicht gegen die Meinung Husserls vor transzendentalphänomenologischem Hintergrund gelesen wird, müsste er in folgender Weise ergänzt werden: Ich sehe aber zugleich, dass ich alles Sein als von mir abgelöst und mich als in ihm nicht vorkommend nehmen kann; nicht nur unangesehen meines subjektiven Weltbezuges, sondern weil dieser mich dazu befähigt, mich so zu nehmen. Frage: Ist ein Menschen-Ich, wer sich durch den Satz Husserls kennzeichnet oder ist ein MenschenIch, wer zumindest auch an dem zweiten Gegen-Satz festhält? – Gerät die Konstitution bei Husserl manchmal in die Nähe eines Fürmich-seins als eines Seins, in dem sich Konstituieren tätigt. »Vor dem Sein der Welt als Für-mich-sein aus meinem erfahrenden Leben und dem sich darin notwendig Bilden von habitueller Erfahrungshabe steht immerzu mein eigenes Sein.« (Erste Philosophie II 416; vgl. auch ebd. 410 ff.) Die phänomenologische Einigung von Fürmich-sein, Konstitution und Welt führt in eine bestimmte Philosophie hinein. Sie taugt nicht zu einer Kennzeichnung, die alle Iche so bestimmt, dass sie in die transzendentale Phänomenologie hinein224
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passen. Im Für-mich-sein liegen viele Möglichkeiten, Differenzen von Ichen zur Welt zu bilden, in denen nicht liegt, dass alles Sein korrelativ vom Für-mich-sein abhängig wird; z. B. in Verhältnissen von Ichen zur Natur, zur Geschichte, aber auch zu sich selber und zu anderen Ichen. Die Kombination einer Reflexion, aufgrund deren schlechthin über Sein entschieden wird, da sie ein Seiendes aufdeckt, auf das alles sonstige Seiend korrelativ zurückbezogen ist, mit einem dem Ich zugesprochenen Für-mich-sein ist unzulässig. Mit mir geht für mich die Welt unter. Das ist so für mich, aber als das Für-michsein löschend, da damit nicht die Welt als durch das Für-mich-sein untergehend gesetzt ist. Das lässt sich bereits sagen, ohne dass ein in der Welt inkarniertes Ich in Aktion tritt. Die Eigenart des Reflektierens, einer solchen Setzung wiederum ein Für-mich-sein vorzuspannen und so in infinitum verfahren zu können, setzt sie nicht außer Kraft. Auf diesem Weg ist kein Zugang zum transzendentalen Ichsubjekt als vor-seiendem gegenüber dem Menschen-Ich und seiner Welt zu gewinnen. (Vgl. dazu Erste Philosophie II 412 f.) Auf das Problem der Stellung des Menschen-Ich zum transzendentalen Ichsubjekt stößt Husserl, wie schon angeklungen ist, und wie im nächsten Kapitel weiter zu vertiefen ist, in seiner Spätzeit besonders, als ihm die Geschichte der Menschheit zum Problem wird. Es ist zwar die Welt, in der und auf die hin die Menschen immer gelebt haben, genau die eine und selbe Welt, die Husserl transzendentalsubjektiv verstehen will, aber in der Geschichte und ihren Kulturwelten ist sie nie in transzendental Subjektivem gegründet worden, das ihre Einheit und sonderweltliche Abweichungen von dieser konstituiert hat. Das Wissen der geschichtlichen Menschheit hat nie zur transzendentalen Phänomenologie geführt, diese vielmehr verhindert. Abgesehen davon, dass eine so angesehene Geschichte zur teleologischen Deutung verleitet, sei hier nur auf Folgendes aufmerksam gemacht. In Anbetracht der Menschheit wird der Phänomenologe daraufhin zum Anwalt ihrer noch ausstehenden Selbstbesinnung auf das in jedem einzelnen Menschen-Ich »schlummernde« transzendentale Ichsubjekt. Er versteht sich als Funktionär der transzendental-phänomenologisch geläuterten Vernunft im Dienste der Menschheit und ihrer einen und selben Welt. Die transzendentale Phänomenologie wird dazu berufen, das Selbstverständnis der Menschheit zu verwandeln. Das erfordert eine »neuartige Praxis« der Kritik aller Lebensziele und Werte, die sich in Kultursystemen der Menschheit finden und der A
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Menschheit selbst, und in weiterer Folge eine Praxis, die darauf aus ist, durch die universale wissenschaftliche Vernunft die Menschheit nach Wahrheitsnormen aller Formen zu erhöhten, sie zu einem von Grund auf neuen Menschentum zu wandeln, befähigt zu einer absoluten Selbstverantwortung aufgrund absoluter theoretischer Einsichten«. (Krisis; Abhandlung: Die Krisis des europäischen Menschentums und die Philosophie aus 1935, 329) Wenn die Menschheit sich nicht als transzendentalsubjektive Intersubjektivität ergreift, können ihre Weltbildungen von der fertig seienden Welt und von der sich vervollkommnenden Einstimmigkeit der Welterfahrung abweichen und insofern nicht mehr durch die Konstitutionsleistungen, auf die es Husserl ankommt, hervorgebracht werden. Sie wären dann nicht mehr von der phänomenologischen teleologischen Vernunftidee beherrscht. Wenn die Menschen als Weltkinder nicht nur nicht auf ihre Transzendentalisierung angewiesen sind, sondern wenn in ihnen außerdem gewisse Mechanismen wirken, die dieser im Wege stehen, weil sie sich z. B. als naturbezogen-naturabhängig zeitlich erfahren und dem nicht transzendentalsubjektiv abzuhelfen vermögen, dann wird die ihnen von Husserl zugedachte Bewusstseinswendung, durch die sie von unbewusstem zu allumfassend bewusstem Selbstbewusstsein werden, als eine Angelegenheit erscheinen, die zu einer neuen Art von wissenschaftlicher Philosophie führt, die ihr Leben, ihre Zeitlichkeit und ihre Welt nicht wesentlich tangiert, sondern nur in einer neuen Weise wissbar macht. Das menschheitliche Ich verharrte dann in einem Zustand, der von Husserls Immanentisierung des Transzendenzproblems nicht verändert würde, der für andere Beschreibungen und Sinngebungen offen stände, in denen sein Weltbezug und seine Welt anders ausfielen.
§ 28 Die Wahrnehmung als Weltbezug des intentionalen Bewusstseins und in ihrer Funktion fr der Natur verhaftete Menschen Es sind einige Schwierigkeiten aufzudecken, die sich in der Bestimmung der Wahrnehmung als der fundamentalen Leistung zum Aufbau der Welt durch das intentionale Bewusstsein und sein Ich finden. Diese Aufdeckung wird aus einer Perspektive gewonnen, die das Wahrnehmen im Kontext des Lebens von naturverhafteten leiblich inkarnierten Menschen-Ichen ansieht, mit denen sich das Ichsubjekt 226
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der transzendentalen Phänomenologie zufolge geeint haben soll, da es in der Geeintheit mit ihnen die Welt konstituiert. Die in dieser Betrachtungshinsicht ans Licht tretenden Fragwürdigkeiten der phänomenologisch gefassten Wahrnehmung lassen deren Einbau in die transzendentalsubjektive Weltkonstitution durch ein Ichsubjekt scheitern. Das besagt, anders gewendet, Husserls Wahrnehmungsbegriff hat eine Bedeutung, die in wesentlichen Bestimmungsmomenten durch das phänomenologisch-transzendentalphänomenologische Absehen bedingt ist. Mit Bedeutung mag gemeint sein, dass dem Begriff in zutreffenden Beschreibungen eine Angemessenheit an gewissen Sachen selber gesichert wird. Solche Beschreibungen sind im ersten Teil skizziert worden. Sie sind jetzt in ihrer Bedingtheit durch die Vorgehensweise der Phänomenologie zu problematisieren. Diese Bedingtheit besagt, dass es sie außerhalb ihrer in anderen Bestimmtheiten geben kann, die von anderen Philosophien genutzt werden können. Sowohl die Abschattungscharaktere, die in die Einheitsbildung des Dinglichen einbezogen sind, als auch die inadäquaten Evidenzen der Wahrnehmung, die der Idee einer adäquaten Evidenz unterstehen, als auch die frei vermöglich zu tätigenden Kinästhesen, ohne die es kein Wahrnehmen gibt, sind interpretative Zutaten zu einem Wahrnehmen von Wesen, die in der Natur als ihr einbehaltene MenschenIche leben. Als solche erfahren und setzen sie sich nicht als unbewusst die Natur konstituierend, sondern als natureinbehalten und naturabhängig und als sich dabei zugleich von ihr unterscheidend. Nähern wir uns dem Wahrnehmungsbegriff vom Prinzip der selbstgebenden Anschauung aus, das der phänomenologischen Philosophie voranleuchtet und zugleich im intentionalen Bewusstsein waltet. Wahrnehmen ist im Bewusstseinsleben und seinem Weltbezug eine ausgezeichnete Weise des vielgearteten Anschauens, auf welches das Bewusstseinsleben aus ist. Dieses Aussein-auf ist in dem Sinne subjektontologisch zu verstehen, als es sich von selber macht. Das Bewusstsein hat keine Möglichkeit, dieser seiner Wesensart gegenüber anders zu sein. Diesem seinem Wesensgesetz unterstehen seine Passivität und seine Aktivitäten. Die Zentralstellung eines Wahrnehmungsbegriffes, der selbst im Hinblick auf seine sinnliche Leistungsfähigkeit, einseitig akzentuiert wird, ist für die Phänomenologie Husserls charakteristisch. A
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Dabei bleibt es bis zur späten Krisis-Abhandlung. Und das ist so, weil Wahrnehmung ontisch und ontologisch für den Aufbau der Welt fundamental ist. Zwar beginnt der Fundierungszusammenhang, dem der Aufbau der Welt folgt, nicht mit der Wahrnehmung von Dingen, aber das ändert nichts daran, dass sie der exemplarische Fall intentionalen Bewusstseins überhaupt ist. Diese These ist der Voraussetzung zu unterstellen, dass die Wahrnehmung von Husserl der reflexiv getätigten Immanentisierung des Wahrgenommenen, seines Gegenstandsbezuges und des Gegenstands selber eingefügt werden kann. Andernfalls könnte sie die ihr von Husserl zugewiesene Aufgabe nicht erfüllen. Es heißt in den Analysen zur passiven Synthesis: »Wo immer wir von Gegenständen sprechen, sie mögen welcher Kategorie immer sein, da stammt der Sinn dieser Gegenstandsrede ursprünglich her von Wahrnehmungen, als den ursprünglich Sinn und damit Gegenständlichkeit konstituierenden Erlebnissen. Konstitution eines Gegenstandes als Sinnes ist aber eine Bewusstseinsleistung, die für jede Grundart von Gegenständen eine prinzipiell eigenartige ist. … Für jede Grundart von Gegenständen ist dafür eine prinzipiell verschiedene intentionale Struktur erfordert. Ein Gegenstand, der ist, aber nicht und prinzipiell nicht Gegenstand eines Bewusstseins sein könnte, ist ein Nonsens.« (19 f.) Wahrnehmung leistet im Rahmen des auf klare selbstgebende Anschauungen ausgerichteten Bewusstseins die Selbstgebung von individuellen, dem Zeitstrom unterliegenden Gegenständen. Ist diese Bestimmung des Wahrnehmens, wie behauptet, eine sich aus der Konzeption der Phänomenologie ergebende Interpretation? Diese Frage kann unter Berufung auf das phänomenologische Prinzip und die ihm zugehörige deskriptive Methode zurückgewiesen werden. Geht es nicht der Phänomenologie um die »Sachen selber« in ihrer Selbstgegebenheit? Wie können diese dann durch ihren eigenen Entwurf und ihr eigenes Vorgehen bedingt und also auch anders sein? Die Phänomenologie Husserls hat eine ihrer Eigenarten darin, dass sie diese beiden Seiten, die außerhalb ihrer getrennt sind, als Einheit er-denkt. Dafür dass das geschieht, lässt sich vielleicht ein geistesgeschichtlich wirksam gewesenes Motiv anführen. Im Wahrnehmen möge man sich der Welt so zuwenden, wie sie sich dem durch keine philosophischen und wissenschaftlichen Theorien vorbelasteten Bewusstsein zeigt. Sofern das gesetzt wird, gehört Husserls Philosophie einer denkgeschichtlichen Strömung zu, die auf eine ursprüngliche Erfahrung und ihre Welt zurückgehen will und die Welt entspre228
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chend beschreibt. Ein solches Unternehmen braucht aber mit der für die Phänomenologie charakteristischen Kombination einer universalisierenden Relativierung von allem Seienden auf Bewusstseinsleistungen nichts zu schaffen zu haben. In ihm legt es sich nahe, deskriptiv von Gegebenem zu handeln, wobei philosophische Totalisierungen, die dem Seinsuniversum irgendwie Grund verschaffen wollen, (noch) nicht anstehen. In Husserls Vorgehen herrscht ein Deskriptionsglaube, der durch die gerade angedeutete Sicht auf die Welt mitbedingt sein könnte. Aber die Vermöglichkeit, den Sachen selber deskriptiv gerecht werden zu können, wird ja bei Husserl in den transzendentalen-konstitutiven Subjektivismus eingebaut, der sich mit der Welt, so wie sie vorgegeben ist und erfahren wird, als ihr Seinsgrund zusammenschließt. Der Zusammenschluss erfolgt im Namen einer Anschauung, die einerseits Vorgegebenes als Sache selber zur Gegebenheit kommen lässt, die andererseits jedoch das so Gegebene aufgrund reflexiver Maßnahmen als durch Bewusstsein konstituiert und daher seinem Sein nach als bewusstseinsrelatives ebenfalls in der Anschauung zur Gegebenheit bringt. Darin liegt, dass das Sein des Gegebenen (und dies erschöpft die Bedeutung von Sein) als im Bewusstsein sich erzeugend in einer Anschauung zur Gegebenheit gebracht wird. Es liegt also in der transzendentalen Phänomenologie eine Verflechtung von zwei Gedankensträngen zu einer Einheit vor. In ihr ist die Wahrnehmung angesiedelt. Daher handelt Husserl so von ihr, dass ihr Vorkommen in der Menschenwelt nur diejenige Seite an ihr ist, die sich des Wesens des Wahrnehmens selber noch nicht phänomenologisch bewusst geworden ist. (Vgl. die Einleitung des Herausgebers zu Pass. Synthesis) Sofern der von Husserls ergriffene Weltzugang dank der Funktion der Wahrnehmung zum Aufbau der dem Seienden wesentlichen Identität und einer sich stabilisierenden Einstimmigkeit des Erfahrungszusammenhanges führt, sind alle inhaltlichen Wahrnehmungsdifferenzen, mit denen im menschlichen Leben umgegangen zu werden pflegt, irrelevant. Sie betreffen binnenweltliche Differenzen und erfüllen dadurch die Aufgabe der Stiftung von Ordnungszusammenhängen in der Welt, in der naturverhaftete lebendige Sprachwesen wahrnehmen, denen der Zusammenschluss des Wahrnehmbaren zum Letzthorizont der Welt als Totalität nur eine in weiter Ferne liegende Idee ist, da sie, als lebend wahrnehmende, nicht universalwissenschaftlich interessiert sind – indem sie die individuell zeitliche A
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und zugleich strukturell nicht-zeitliche Bildung von dinghafter Identität klären wollen. Inhaltlich-anschauliche wahrnehmungsbezügliche Differenzen, die Husserl als allgemein vertraut aufgreift, dienen nur als Exempel für strukturell-ontologische Abzweckungen. Es wird im nächsten Paragraphen gezeigt, wie sich von ihnen aus die phänomenologische Denk- und Sprechweise an ihre Grenzen bringen lässt. Dann erweist sich das, was Husserl zum Exempel für seine phänomenologische Sicht der Dinge macht, als einer anderen Weltsicht und ihrer Sprache zugehörig. In der Binnenperspektive der phänomenologischen Grundbegriffe bedingt die unaufhebbare abgeschattete Gegebenheitsweise der Dinge u. a., dass sie nur inadäquate Evidenzen zulassen. Diese Kennzeichnung muss im Rahmen der Totalisierungsbewegung der Phänomenologie komplettiert werden. Einer solchen Gegebenheitsweise gemäß wahren die Dinge ihre Identität in mannigfachen Erlebnissen. Diese aber sind der Tendenz des Bewusstseins eingeordnet, die auf Bewährung und Steigerung des in ihnen transzendental-immanenten Identischen hindrängt – bezogen auf den offenen Zukunftshorizont. Für die Dinge gibt es keine erschöpfend allseitige Evidenz wie für das dem Bewusstsein abschattungsfrei Immanente. Daher lässt sich mit der Evidentmachung der Wahrnehmungswelt in ihrer Horizonthaftigkeit an kein Ende gelangen. Die durch das immanente Zeitbewusstsein ins Zeitlichsein hineingezogenen Dinge bleiben zwar ihrer Vergangenheit nach als solche, die in Vergegenwärtigungen wieder identifiziert werden können, dieselben, aber hinsichtlich des Zukunftshorizontes, der für sie immer offen steht, kommen sie nie zu einer Bestimmtheit, die nichts mehr an ihnen unbestimmt lässt. Im Fortgang des Wahrnehmens baut sich der Sinn weiter aus, der sich mit anfänglichem Wahrnehmen eingestellt hat. Dieser Sinn ist prinzipiell im Wandel begriffen. Sofern es sich um das Wahrnehmen eines individuellen Gegenstandes handelt, expliziert sich dessen Sinn immer weiter im Wie der Bestimmungen, die dem Gegenstand im Wahrnehmen zuwachsen. »Aber durch diesen fließenden Sinn durch all die Modi »Gegenstand« im Wie der Bestimmung« geht die Einheit des sich in stetiger Deckung durchhaltenden, sich immer reicher bestimmenden Substrates X, des Gegenstandes selbst, der all das ist, als was ihn der Prozess Wahrnehmung und alle weiteren möglichen Wahrnehmungsprozesse zur Bestimmung bringen und bringen würden. So gehört zu jeder äußeren Wahrnehmung eine im Un230
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endlichen liegende Idee, die Idee des voll bestimmten Gegenstandes, des Gegenstandes, der durch und durch bestimmter, durch und durch gekannter wäre und jede Bestimmung an ihm rein von aller Unbestimmtheit.« (Pass. Synthesis 20) Wichtiger als die Unerreichbarkeit einer solchen Idee durch das Sinn stiftende Wahrnehmen ist, dass sie dem Wahrnehmen so vorgeschaltet ist, dass es wie von selbst in die durch die Idee vorgeschriebene Richtung verläuft. Das Wahrnehmen ist also aus dem Wesen des Bewusstseins heraus von der Idee der adäquaten Evidenz geleitet. Es kann zwar kein Gegenstand jemals der Idee entsprechen, aber es bewegt sich der Wahrnehmungsprozess auf voll Durchbestimmtes hin; so, als wenn in der ihm zugehörigen vollkommen gewordenen Evidenz das »absolute Selbst« eines Gegenstandes, »seines absoluten individuellen Wesens« liegt (Vgl. Pass. Synthesis 21 u. 431) Die Wahrnehmungswelt untersteht dem Limes vollkommener Selbstgebung, in der Undurchstreichbarkeit des Gegebenen gesichert wäre. Diese starke, ein an Ideen teleologisch orientiertes intentionales Bewusstsein setzende These führt sehr viel weiter als die Analysen eines bloßen Fortgangs des Wahrnehmungsprozesses, der nicht an ein Ende kommen kann und daher abbricht. Gibt eine Analyse des Wahrnehmens äußerer Dinge mehr her, wenn das intentionale Bewusstsein nicht teleologisch an Ideen ausgerichtet wird? Wenn die Wahrnehmungswelt strukturell korrelativ in der Abhängigkeit zu einem so bestimmten intentionalen Bewusstsein steht, dann sollte das für wahrnehmende menschliche (Lebe-)Wesen besagen, dass sie nicht danach streben, sich an den Prozessen des Fortgangs der inadäquaten Evidenzen zu verausgaben. Von ihnen aufgrund von Erfahrung und Wissen überzeugt zu sein, würde sie dazu veranlassen, den strukturell ermöglichten endlosen Fortgang in den inadäquaten Wahrnehmungen zu unterlassen und die Reichweite ihres Eindringens in Horizonte des Wahrnehmens hinein durch irgendwelche Interessen zu begrenzen, unter deren Voraussetzung es heißt: Bis hierhin – das reicht. Die phänomenologische Erkenntnis, dass es in der Wahrnehmungswelt keine adäquate Evidenz geben kann, wird dadurch nicht berührt. Es wird dadurch nur auffällig, dass Husserl einen theoretisch-phänomenologischen abstrakten Blick auf die Wahrnehmungswelt von Menschen geworfen hat. Man pflegt zu sagen: Das liegt eben an den begrenzten Interessen des praktischen Lebens, nicht am Wahrnehmen selber – gemäß seiner philosophischen Erfassung. Praktisches Interesse zeichnet nur ein relatives Selbst vor: Das, was praktisch genügt, gilt als das Selbst. Eine A
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solche Stellungnahme macht sich die Sache zu leicht. Es muss heißen: Also hat die theoretische Einstellung der Phänomenologie einen anderen Begriff vom »Wesen« des Wahrnehmens als ihn die Menschen des praktischen Lebens haben. Deren Wahrnehmen ist für ihre Zwecke hinreichend. Leider wird es dem Wahrnehmen in seinem Wesen nicht gerecht. Das besagt im Klartext: Begriffe des Wahrnehmens der Menschen dürften anders ausfallen als Husserls Begriff, da sie sich an Kontexte des praktischen Lebens binden und durch diese geleitet werden. Dadurch kommen für das Wahrnehmen ganz andere Bestimmungshinsichten ins Spiel als für Husserl. Das weiß dieser selbstverständlich auch, aber er nötigt sich als Phänomenologen, Derartiges als philosophisch wenig relevant zu behandeln und hinter ihm das zu er-finden, was seiner Philosophie gemäß das Wesen des intentionalen Bewusstseins ausmacht. Das Abgeschattetsein von Dingen ist im Leben von (erwachsenen) Menschen ein sekundäres Phänomen. Es wird der Ansetzung der Selbigkeit von Dingen nachgeordnet aufgrund von Erfahrungen, die Kinder als leiblich inkarnierte Wesen mit ihrer Umwelt gemacht haben. Diesen Erfahrungen eignet zwar ein spezifisch menschliches Moment, aber dieses führt nicht zu einer Vorgängigkeitssetzung von Bewusstseinserlebnissen für die Bildung des Seinssinnes von Dingen, sondern zu deren Setzung in einer gewissen Abhängigkeit von den Dingen. Diese zeigt sich darin, dass man auf die Dinge Rücksicht nehmen muss. Dieser Dingbezug ist nicht phänomenologisch, sondern empirisch und dementsprechend beschreibbar. Warum sind solche Selbstverständlichkeiten erwähnenswert? Sie sind gegen diejenigen Operationen, durch die sich die Phänomenologie ihre Sicht der Dingbildung aus konstituierenden Bewusstseinserlebnissen sichert, resistent. Die ihnen gemäße Sprache spricht nicht über das, worüber phänomenologisch gesprochen wird. Die sich von Heideggers Sein und Zeit her aufdrängende Frage, ob hier nicht eine durch eine Theorie verfehlte Fassung der Art und Weise, wie Menschen in der Welt wahrnehmen und Wahrnehmungsurteile vollziehen, ist in Anbetracht der Konzeption Husserls nicht gut gestellt. Husserls Rede vom lebensweltlichen Wahrnehmen ist im System der genetisch-konstitutiven Phänomenologie zu fixieren. Sie ist durch die Frage nach der lebensweltlichen Realität von Menschen, um in ihr Seinsweisen aufzudecken, die durch theoretische Zugriffe verdeckt gehalten werden, gar nicht unmittelbar betreffbar. Wichtig ist: Geht man von der Frage Heideggers nach einer ursprünglichen Welterfahrung des Menschen als Dasein z. B. im be232
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sorgenden Umgang und der ihm aufgrund seiner zuzusprechenden Seinsart aus, so verfehlt man zwar die Husserlsche Konzeption, die zum Aufbau der Welt qua Wahrnehmungswelt aus einem inneren Zeitbewusstsein und einem transzendentalen Ichsubjekt nötigt, aber man eröffnet sich damit den Weg zu einer anderen Philosophie, welche die transzendentale Phänomenologie in eine Außenperspektive rückt, wodurch sie zu etwas Anderem wird, als sie in sich und für sich selber ist. Nach diesen Vorbereitungen sind wir am entscheidenden Punkt der Problematisierung des weltbezüglich konstitutiv interpretierbaren Wahrnehmungsprozesses angelangt. Zur Absicherung des Angriffes sei auf einige Sätze aus den Analysen zur passiven Synthesis zurückgegriffen. Im Wahrnehmen erfolgt dank der Einlagerung des Wahrgenommenen in den Zeitfluss der Erwerb eines jederzeit »frei verfügbaren Besitzes«. Aber außer der Wiederwahrnehmung aufgrund der jetzt schon aktiv ergriffenen Retention, die, wie gezeigt, im Zustand der Passivität des Bewusstseinsstromes bereits als der freien Vermöglichkeit des Ich unterstehend angelegt sein muss und von daher in die Aktivierung herausdrängt, wird jetzt die freie Verfügung über leibliche Kinästhesen erforderlich. »Herumgehend, näher tretend, mit den Händen tastend etc. kann ich alle schon bekannten Seiten wiederersehen, wieder erfahren, sie sind wahrnehmend bereit.« (Pass. Synthesis 10) Es soll gelten: Dank dieser sich leiblich-sinnlich realisierenden freien Vermöglichkeit eines Ich, als dasselbe wiederwahrnehmen zu können, gibt es eine bleibende Welt als vorgegebene für uns. Der Leib in seiner Beweglichkeit fungiert als »Wahrnehmungsorgan«. Rückt er damit auf die Seite der Konstitution der Welt qua Wahrnehmungswelt? »Also in der Tat in besonderer Weise ist das System der Leibesbewegungen bewusstseinsmäßig charakterisiert als ein subjektives freies System. Ich durchlaufe es im Bewusstsein des freien »Ich kann.« (Ebd.; vgl. auch Erste Philosophie II 491 ff.; Beilage XXXI. Auf das dort entscheidend wichtige Leitthema wird hier nicht eingegangen.) Es sind die gegen die Philosophie des Bewusstseinslebens sperrigen Konsequenzen zu ziehen, die sich aus der Einbeziehung der Kinästhesen in die Wahrnehmungsleistung ergeben. Ohne dass diese potentiell zur Aktualisierung zur Verfügung ständen und aktuell A
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fungierten, hätten Bewusstsein und Rede vom Wahrnehmen und seiner Welt keinen Sinn. Phänomenologisch scharf pointiert: Fungierten sie nicht im Spielraum von Potentialität und Aktualität, so gäbe es nichts, worin sich der Sinn des Seins der Welt und damit das Sein der Welt selber für Menschen als intentionale Bewusstseinswesen bilden könnten. Die Kinästhesen sind leibgebunden. Sie haben damit zugleich die Seite des Psychophysischen und des Organischen. Das Organische aber ist für die Phänomenologie außerwesentlich, sofern seine Erkenntnis den Organismus unter die Dinge versetzt, die er sich in seiner spezifischen Weise begegnen lässt. Das Fungieren der Kinästhesen braucht den Menschen, die nicht phänomenologisch reflektieren, nicht bewusstseinsmäßig gegeben zu sein. Es kann bewusst werden und bewusst gemacht werden. Darin liegt noch nichts von einer transzendentalphänomenologischen These. Das kann zu (empirischen) Deskriptionen führen, wie sie in den herangezogenen Sätzen anklingen. Man könnte zu sagen geneigt sein: Die Kinästhesen so zu beschreiben, ist phänomenologisch zulässig, weil das intentionale Bewusstsein unmittelbar Welt-hingegeben lebt und die Selbstreflexion es noch nicht behelligt hat. Das besagt aber: Die Kinästhesen lassen sich so beschreiben, dass sie durch ihre Thematisierung nicht beeinflusst werden. Ihr »unbewusster« oder bewusst gemachter Vollzug im Übergang zum Umgang mit Naturhaftem weist gewisse Eigentümlichkeiten auf, die man in der eigenen Erfahrung und in der Erfahrung anderer finden kann, die sich in einer Einheit von Können und Tun äußern. Durch das Bewusstwerden des Könnens und Tuns wird dieses zur Gegebenheit gebracht. Diese seine Gegebenheit für das Bewusstsein mag es sogar begleiten – obwohl das im Normalfall eher hinderlich als förderlich sein dürfte. Aber auf keinen Fall kann das Bewusstsein als konstitutiv für die Realisierung des Könnens im leiblichen Tun auftreten. Denn in diesem ist vorausgesetzt, dass ein (Lebe-)Wesen agiert, das sich in der Natur findet, die es seiner Eigenart gemäß auffasst. Aber diese Eigenart setzt es in eine Differenz zur Eigenart der Natur, wodurch es sich als Wesen in einer Welt situiert, die es in ihrer von ihm als von sich different gesetzten Eigenart nicht konstituiert hat. Dass das so ist, liegt zwar an ihm, aber nicht an ihm als einem intentionalen Bewusstseinswesen, das sich allererst zu einem Menschen-Ich in der Welt hätte objektivieren müssen und dadurch seiner universalen transzendental konstitutiven Funktion verlustig gegangen wäre, sondern daran, dass es sich als lebendiges Sprachwesen und die Welt 234
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ihrem Sein nach auseinander-setzt. Aber das ist kein Husserlscher Gedanke. Wie lässt sich dieser Gedanke durchführen? Gehen wir an ihn mit Husserls Termini des Bewusstseins und der freien Vermöglichkeit heran. Über vorbewusstes Können hinweg ergibt sich ein Bewusstsein dieses Könnens, das sich wiederum in Inaktualität speichert, so dass es immer wieder abgerufen werden kann. Einem solchen frei vermöglich gewordenen Ich kann mich bewegen ist ein So und so kann ich mich nur schwerlich bewegen immanent mit der Grenzsituation Ich kann mich nicht mehr bewegen. Diese Begrenzungen aber sind dem frei vermöglichen Ich kann mich bewegen zu eigen, weil dem Ich kann, auch dem bewussten Ich kann, die Leibangewiesenheit wesentlich zugehört und weil dieses mit solchem rechnet, was Leiblichem Widerstand entgegensetzt, weil es mit ihm darin übereinkommt, physisch-körperlich zu sein. Diese Begrenztheit ist als eine dem theoretischen Ich kann differentiell zugehörige Bestimmtheit zu nehmen, die sich nicht auf das Ich als Ichbewusstsein und seinen Vermöglichkeitsspielraum gegenüber seiner Leiblichkeit übertragen lässt; ganz zu schweigen davon, dass dem Ichbewusstsein als solchem eine solche Bestimmtheit abgeht – wenn es sich als different gegenüber physisch Außenweltlichem erfährt und nimmt. Andernfalls wäre es durch den Bezug auf Physisches als es begrenzendes zu definieren. Aber wie sollte Physisches in einer Subjektivitätsphilosophie ein seiner selbst bewusstes Ichsubjekt als ihm zugehörig begrenzen können. Also: Sofern man leiblich-kinästhetisch fungierend auch in der Natur leben muss, kann man nicht umhin seine freie Vermöglichkeit als durch die Natur begrenzt zu setzen. Es muss ihr ein naturhaftes Moment eignen. Sie muss durch subjektiv lebendiges Naturhaftes betreffende Deskriptionen gefasst werden können. Diese implizieren Deskriptionsmöglichkeiten von objektiv Naturhaftem. Die Differenz zwischen ihm und dem leiblich-kinästhetischen Fungieren betrifft naturhaft Differentes. Beides setzt das Sein von Dinghaftem voraus. Von sich selber aus kann dieses sich nicht zur Sprache bringen. Das transzendentalsubjektive Ich wäre in einem leiblichkinästhetischen Ich schon in ein in der Welt lebendes Ich und damit in ein in der Welt sich durch die Natur begrenzendes Ich übergegangen, das nicht aus einer phänomenologisch einsehbaren Objektivierung des transzendentalen Ich hervorgegangen sein kann. Andernfalls müsste dieses als absoluter Seinsgrund preisgegeben und als genötigt angesehen werden, sich zu Naturhaftem zu objektivieren. Ein freies Ich braucht nicht so gedacht zu werden. Ichen kann als A
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Menschen-Ichen in der Welt Freiheit zugedacht werden, ohne dass sie die Welt konstituiert haben müssten. Leibliche Kinästhesen zu vollziehen, das bringt für das frei vermöglich tätige Ich-kann z. B. Müdigkeit und Überdruss mit sich; und in einem Sprichwort heißt es: Tout homme qui marche agonise. Ihre Tätigung ist an organischen Kraftaufwand und Energieverbrauch gebunden. Wenn man sagt, das sei nicht mehr dem intentionalen Bewusstsein gemäß phänomenologisch gesprochen, so ist zu erwidern: Von Augenbewegungen und Schritten zu sprechen, impliziert unausweichlich ein körperlich-organisch-leibliches Realitätsmoment, für welches die Konstitution durch ein Ichsubjekt im Sinne des intentionalen Bewusstseins irrelevant ist. Wendet sich ein solches Ichsubjekt den so bestimmten Kinästhesen zu, dann muss es deren Eigenart und Leistung als nicht durch sich konstituiert, sondern nur als erkennbar setzen. Was in dieser Weise erkannt wird, ist seinem Sein nach nicht bewusstseinsrelativ. Das in diesen Kinästhesen lebend-waltende Ich findet sich als different gegenüber einem konstituierenden Ichsubjekt. Es weist diesem eine theoretische Position zu, die nicht die eines es konstituierenden Ichsubjekts ist. Voilà: Die Einheit der phänomenologischen Fassung des Bewusstseinslebens ist zerbrochen. Man kann hinsichtlich des Wahrnehmens anders verfahren als Husserl, indem man es z. B. in seinen Funktionen in der Komplexionseinheit eines verständigen Lebewesens nimmt, das kein intentionales Bewusstseinswesen im Sinne Husserls ist – das in einer nicht-phänomenologischen Sprache dargestellt zu werden fordert für denjenigen, der sich ihm zu theoretischen Darstellungszwecken zuwendet und es in einen ihm gemäßen Ist-Sinn bringen will. Dieser besagt: Nimmt sich das leiblich-kinästhetisch wahrnehmende Menschen-Ich in der geschilderten Weise, so setzt es sich als im Naturzusammenhang durch die Natur betreffbar und zerstörbar. Indem es sich selber so nimmt, lässt es die Welt seines intentionalen Bewusstseinslebens ermangeln. Sie hat für es nichts Gleichwertiges aufzubieten. Und unter dieser Hinsicht nutzt es dem Menschen-Ich nichts, dass es sich zum transzendentalen Ichsubjekt und damit zum Residuum der Weltvernichtung erhoben hat. Es gewahrt sich vielmehr auch als die Kehrseite dieser Medaille, der zufolge die Welt es, sofern jenes Subjekt sich in Menschen-Ichen inkarniert findet, damit es die Welt für es geben kann, vernichtet. Verhält es sich so, dann muss die Welt von Menschen-Ichen auch in der Weise erkannt werden können, dass sie 236
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selber kontingente Vorkommnisse in der Welt sind, wie immer es mit der Welt als konstituiertem Resultat ihres transzendentalen Ichsubjektes stehen möge. Sie werden sich als solche ichlich betreffen lassen. Aber dem in dieser Ichlichkeit verhüllt-selbstobjektiviert lebenden transzendentalen Ich kann das nicht widerfahren. Oder? Und wenn man es dann noch dieser Welt zutrauen kann, derartiges Kontingentes produziert zu haben, dann nimmt sie sich völlig anders aus als in der transzendentalen Phänomenologie. Welches sind die der Kritik der phänomenologischen Wahrnehmungslehre im Menschen-Ich zugrundeliegenden Voraus-Setzungen dafür, dass Menschen-Iche als kinästhetisch agierende leibliche Wesen wahrnehmend auf die Dinge Rücksicht nehmen und sich auch so verhalten, dass sie von den Dingen abhängig sind? Der Rekurs auf die Differenz von praktischer Beschränktheit und theoretischer Entgrenzung des Wahrnehmungshorizontes ist als unzureichend zurückgewiesen worden, der Differenz von phänomenologischem und menschlichem Wahrnehmen angemessen Rechnung zu tragen. Der Kritik am phänomenologischen Wahrnehmungsbegriff liegt die folgende Bestimmung des in der Welt lebenden Menschen-Ich und seiner Naturwahrnehmung zugrunde, die nicht nur die transzendentalphänomenologische Einigung von transzendentalem Ichsubjekt und Menschen-Ich abweist, sondern auch eine Vorbedingung dafür anzeigt, dass Iche abgesehen von Selbstbestimmungs- und Selbstverständnismöglichkeiten, in denen sie sich sein lassen, keine Selbigkeitseinheiten sind und dass dafür die Welt, in der sie leben aufgrund ihrer nicht fertig seienden Unbestimmtheit, verantwortlich ist – aufgrund einer Unbestimmtheit, die sie nicht konstituiert haben, die sie aber irgendwie ausfüllen müssen. Daraus resultierende Welten sind in ihrer Weise zu sein nicht absolut zu gründen. Wie ihr geschichtliches Sein ausfallen wird, kann kein sich ihnen vorschaltendes transzendentales Ichsubjekt wissen. Die Voraussetzung für diese These ist, dass diejenige Welt, in der sie wahrnehmen und die eventuell universelle Züge aufweist, die sie als ein und dieselbe Welt für alle zugänglich sein lässt, ihnen gleichwohl nicht genügt – besonders dann nicht, wenn sie sich mit der Welt totalisierend zu einer Geeintheit zusammenzuschließen suchen. In der gegen Husserl realisierten Darstellung sind Menschen-Ich und transzendentales Ichsubjekt auseinandergetreten. Das hat sich durch die Setzung einer Seinsdifferenz ereignet, die das sich in der Welt findende Menschen-Ich vollzieht A
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und durch die es sich in der Welt belässt. Diese Setzung trägt wesentlich dazu bei, dass sich Menschen-Iche erzeugen, indem sie sich als eine der Differenten dieser Differenz in sie einrücken und sich so finden. In diesem Ineins liegt ihr Spezifisches. Es trennt sie von Tiersubjekten, aber auch von intentionalen Bewusstseinswesen, in denen, ihnen unbewusst, transzendentale Subjekte als das Sein der Natur konstituierende am Werk sind. Die sich in Menschen-Ichen in der angegebenen Weise machende Seinsdifferenz kann von ihnen als denkenden Sprachwesen unterschiedlich »genutzt« werden; z. B. so, dass sie sich als der Natur entwachsen und überlegen bestimmen. Sie legt nicht fest, als was die Natur ihnen begegnet oder wie die Natur von ihnen verstanden wird. Sie eröffnet für Menschen als lebendige Sprachwesen einen Spielraum. Sie verstattet Religionen, Philosophien und Wissenschaften verschiedene Zugriffe, die zu verschiedenen Ergebnissen führen. Das heißt aber eben: Die Natur, so wie sie in der dem Menschen-Ich eigentümlichen Seinsdifferenz auftritt, ist hinsichtlich der Befriedigungsmöglichkeit vom Selbstauszeichnungs- und Totalsierungsbedürfnissen von Menschen unbestimmt. Sie erlaubt ihnen eine Erkenntnis ihrer, in der sie nicht ihrem Sein nach konstituiert wird, so dass sie als konstituierte ihrem Seinssinn und damit ihrem Sein nach dem Subjekt immanent wird und als selbstgegeben erschaut werden kann. Ihre Erkenntnis leistet vielmehr nur eine symbolische Darstellung, der sich ihr Sein nicht verdankt, weil sie zwischen sich und der Natur ihrem Sein nach unterscheidet. Hingegen lässt Husserl das der als fertig seiend vorgegebenen Natur zugrundeliegende, sie hervorbildende Konstituieren in der Schau so zur Selbstgegebenheit kommen, dass ihr Sein im doppelten Sinn des Wortes darin auf-geht, anstatt dass dieses durch das Erkennen sich selber auch entzogen würde. Wie sich die erörterte Seinsdifferenz für Begriffe wie Gegenstand, Wirklichkeit, Transzendentes auswirkt, ist im folgenden Paragraphen zu zeigen. Aus ihr folgt, dass die Welt von Menschen-Ichen in einer Weise beschrieben wird, die sie von der phänomenologisch beschriebenen Welt trennt. Von einer natürlichen Einstellung sollte in Anbetracht der so konstruierten Sachlage nicht mehr gesprochen werden. Der menschen-ichlichen Weltbeschreibung liegt eine andere Weise zu sprechen zugrunde, als es diejenige Husserls ist. Und ihr gemäß fällt die Welt als nicht dem Seinssinn und damit ihrem Sein nach durch das Mensch-Ich konstituierbar aus. 238
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Zur Problematik des phnomenologischen Gegenstandsbegriffes
§ 29 Zur Problematik des phnomenologischen Gegenstandsbegriffes und seiner Grundlagen Nach der dem Husserlschen Text nahe gebliebenen Durchsprache des noematischen Sinnes und des ihm einwohnenden Gegenstandsbezuges sind die Maßnahmen kritisch zu beleuchten, durch die Husserl seine Begriffe von Gegenstand, Transzendenz und Wirklichkeit erzeugt. Aus der Kritik resultiert, dass man sich den Setzungsresultaten der Phänomenologie entzieht, die als Gegenstand, Transzendenz und Wirklichkeit auftreten und so den Charakter ihrer Bedingtheit durch die phänomenologische Vorgehensweise verleugnen. Das besagt: Husserl bringt es nur zu bestimmten Begriffen von Gegenstand, Transzendenz und Wirklichkeit, die gerade, indem sie universell die Sachen selber treffen sollen, nur differentieller Art sind und andere, ebenfalls mögliche, nicht-philosophische und philosophische, Begriffe von genauso Benanntem ausschließen – zugunsten der Einheit des Systems der transzendentalen Phänomenologie. Anstatt universal das All des Seienden einfangen und grundlegen zu können, hat dann das phänomenologische Vorgehen den Effekt, eine Philosophie unter anderen gegen andere zu erzeugen – und in diesem Sinne widerwillen in sich selber geschichtlich zu sein. Es sei zunächst auf bereits herangezogene Sätze der Ideen I zurückgegriffen, um in ihnen Gesetztes in eine Schwebe zu bringen, die sie der eindeutigen Schlüssigkeit ihres Ist-Sinnes beraubt. Durch die phänomenologische Reduktion erfahren Wirklichkeitsaussagen eine »radikale Sinnesmodifikation«. In ihr erhalten die Worte jener Aussagen eine »Bedeutungsmodifikation«; mögen sie auch mit denen der Wirklichkeitsaussagen »gleichlauten«. (Vgl. Ideen I 221 f.) Wirklichkeitsaussagen und noematische Aussagen unterscheiden sich dann wohl. Noematische Aussagen sind abkünftig, aber untrennbar noetischen Aussagen zugehörig. Nur in der Geeintheit mit ihnen ist dasjenige Seiend, das in den noematischen Aussagen gesetzt ist. Der Ausdruck Wirklichkeitsaussagen kann einmal in der Differenz zu noematischen Aussagen genommen werden und ein anderes Mal besagen, dass sie ihren Ort in der Einheit von noetischen und noematischen Aussagen haben. Aber diese Art zu unterscheiden, ist nicht Sache der Phänomenologie, weil sie diesen Unterschied bewusstseinstheoretisch-reflexiv aufhebt und dadurch Wirklichkeitsaussagen in noematische Aussagen verwandelt. Das hat zur Folge, A
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dass die Art und Weise, in der zunächst als different Formuliertes und auch als different seiend Gesetztes von noetisch bedingten noematischen Setzungen her als identisch in Anspruch genommen wird. Wirklichkeitsaussagen sind dann zu noematischen Aussagen geworden. Ist das nicht (schon) eine transzendentalphänomenologische Sprechweise? Dies braucht nicht der Fall zu sein, sofern sie als Beschreibung der Welterfahrung und ihrer Welt verstanden wird, der nur Vorüberzeugungen, Vorurteile, Theorien u. ä. im Wege stehen. Der Zugang zur transzendentalen Phänomenologie über eine phänomenologisch gereinigte Psychologie macht das klar. Eine bloß psychologisch-phänomenologische Reduktion müsste den Seinssinn von Aussagen und dem in ihnen auftretenden Seiend nicht so verwandeln, dass es zur Geeintheit von noematischen Aussagen und Wirklichkeitsaussagen und ihrem als seiend Gesetzten käme. Sie könnte zwei verschiedene Gebiete im Seiend unterschieden sein lassen, deren eines phänomenologisch unzugänglich ist, ohne deswegen von dem anderen abhängig zu sein. Das ist so, weil man über äußerlich Wahrgenommenes und Psychisches sprechen kann, ohne dass es erforderlich wäre, dazu eine reduktive Einstellungsänderung zu vollziehen. Diese wird von Husserl vorgenommen, um sich philosophisch unproblematisiert tätigende Wahrnehmungsurteile philosophisch zu problematisieren und nicht etwa, um Sätze über Dinge und über Psychisches zu unterscheiden. In einer solchen Reduktion müsste nicht der Ausgangspunkt für Operationen liegen, die erkenntniskritisch auf den einem gesuchten Erkennen zugehörigen Seinssinn abzielen, der Entscheidungen über die allgemeine Bedeutung von Sein im Gefolge hat. Aber für Husserl ist die psychologisch-phänomenologische Reduktion nur eine Maßnahme, deren Fortsetzung, wie gezeigt, zu einer alles Gegenständliche in sich einbeziehenden Universalität und einer Ent-menschung eines Wahrnehmungen in der Welt tätigenden Wesens namens Mensch führt, durch die das im Wahrnehmen und in Wahrnehmungsurteilen gesetzte Dinghafte ineins als Wahrgenommenes und als Seiendes in der Bewusstseinssphäre beheimatet wird. Verhält es sich so, dann ist die transzendentale Sphäre und das in ihr anschauende und agierende Ich erreicht. Das ergibt sich aus der Radikalisierung der psychologisch-phänomenologischen Reduktion. Dass in einer nicht zu universalwissenschaftlichen philosophischen Absichten weiter geleiteten psychologisch-phänomenologischen Reduktion das erkennende Subjekt als Mensch in der Welt in 240
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Zur Problematik des phnomenologischen Gegenstandsbegriffes
Aktion ist, das pflegt von Psychologen nicht bestritten zu werden. Dass sie selber psychophysische Einheiten sind auch nicht. Aber beides ist für ihr Tun als Psychologen und für dessen Aussagenergebnisse, die Psychisches als Seiendes betreffen, nebensächlich. Mit diesen Selbstverständlichkeiten, welche von der Unterschiedenheit zweier Seinsbereiche bei gleichzeitigem engen Konnex Gebrauch machen, kann sich der Phänomenologe aus Gründen, die auf eine philosophische Einheitsstiftung des Seienden in einem zu ihr befähigten nichtmenschlichen Subjekt abzielen, nicht zufrieden geben. Unter dem Gesichtspunkt des Transzendenzproblems nimmt sich die psychologisch-phänomenologische Reduktion folgendermaßen aus. Sie beginnt damit, das intentional erlebende Bewusstseinsleben zum alleinigen Zugang zur Welterkenntnis zu machen, weil es sonst mit dem (ohne es nicht zu bewältigenden) Problem der Transzendenz von Transzendentem belastet ist, das, wenn man erkenntniskritisch hinsieht, alle sonstige Welterkenntnis philosophisch inakzeptabel macht. Die Zuwendung zum bewusstseinsmäßig Psychischen, das intentional, d. h. als sein bewusstes Gegenständliches an ihm selber betreffend, genommen wird, kann dann ein Schritt sein, der dem argumentativ nicht haltbaren Sprechen über ein in sich selbst nicht-bewusstseins-bezogenes Transzendentes aus dem Wege geht. Dies ist ein philosophischen Überlegungen zugehöriges Argument, um das sich Menschen, die unphänomenologische Wirklichkeitsaussagen machen und kein Transzendenzproblem haben, nicht zu kümmern brauchen. Müssten sie nicht, wenn sie phänomenologisch philosophierten, das, was sich in ihren Wirklichkeitsaussagen tut, wiederfinden? Nun ist wiederum der folgende Punkt zu erwähnen, durch den Husserl die Sachlage kompliziert. Es leitet ihn beim Rückgang auf das intentionale Bewusstsein das Bemühen, auf absolut (zweifels-unanfällig) dem Bewusstsein Gegebenes zurückzugehen, das die Reichweite dessen, was dem Bewusstsein bewusst werden kann, nicht überschreitet und es in diesem Sinne nicht als ihm prinzipiell unzugänglich transzendiert. Von Andersgeartetem wie von einem Ansichseienden zu sprechen, das erscheint Husserl »widersinnig« (Vgl. Cart. Med. 116) Dieser Gedanke ist stärker der cartesianischen Denkart verhaftet als der zuvor angeführte. Er macht es für die Phänomenologie noch schwieriger, die nicht-philosophisch gesagte Welterfahrung mit dem von ihr Gesagten zu einer Einheit zusammenzuschließen. Eignet die A
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Verpflichtung, eine solche Einheit aufzuweisen, nicht jeder philosophischen Totalisierungsbewegung, die universale Verbindlichkeit für sich einfordert. Es seien jetzt die allgemeinen Vorüberlegungen verlassen, um ihr Gemeintes an einem Beispiel der Art zu demonstrieren, die sich in Husserl-Texten immer wieder finden, wenn es um Wahrnehmungen und Wahrnehmungsurteile geht. »Der Baum schlechthin, das Ding in der Natur, ist nichts weniger als dieses Baumwahrgenommene als solches, das als Wahrnehmungssinn zur jeweiligen Wahrnehmung unabtrennbar gehört. Der Baum schlechthin kann abbrennen, sich in seine Elemente auflösen«. (Ideen I 222) Ob der Baum schlechthin abbrennen kann, weiß man nicht, weil das eine merkwürdige Sprechweise ist. Aber es ist üblich, von Bäumen zu sagen, dass sie etwas sind, was abbrennen kann. Dann müssen sie in dieser Sprechweise genauso als seiend gesetzt sein und nicht als Substrat, das sich in noematisch-gegenständlicher Bestimmbarkeit erschöpft. Die angedeutete Differenz ist gegen Husserl stark zu machen. Indem aller Seinssinn bewusstseinsrelativ aufgeklärt wird, wird auch die Bedeutung von Sein bewusstseinsrelativ bestimmt. Dadurch werden andere mögliche Bedeutungen von Sein und ihnen eventuell zugehörige Seinssinne ausgeschlossen, mittels deren man z. B. vorwissenschaftliches und wissenschaftliches Urteilen interpretieren kann; so interpretieren kann, dass sie nicht in ein transzendentalphänomenologisch intentionales Bewusstsein hineinpassen. Die hier anstehende Frage sei so zugespitzt, dass hervortritt, wie Wirklichsein in eine Bewusstseinszugehörigkeit hineingeholt wird, die einen, vom Bewusstsein her gesehen, gegen es sperrigen Charakter nicht mehr zulassen kann – obwohl dieser Charakter des Wirklichen für Menschen, die in der Natur leben, ein Faktor ist, dem sie allzeit auch in ihrem Wahrnehmen und Urteilen Rechnung tragen – schon um überleben zu können; aber alsbald so, dass es nicht (nur) ums Überleben geht; und weiterhin so, dass das genannte Rechnung-tragen die Relativität auf das Leben des hier anstehenden elementaren unphilosophischen Sinnes überhaupt verliert. Aber Derartiges ist in einer nicht-phänomenologischen Sprache darzustellen. Greifen wir wieder auf die phänomenologische These zurück und problematisieren sie am zitierten Beispiel des brennenden Baumes. Noematische Gegenstandssinne können nicht brennen. Von Prädika242
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ten im üblichen Sinne des Wortes so etwas zu sagen, wäre komisch. Transzendentalphänomenologisch gilt: »Alles, was dem Erlebnis rein immanent und reduziert eigentümlich ist, was von ihm, so wie es in sich ist, nicht weggedacht werden kann und in eidetischer Einstellung eo ipso in das Eidos übergeht, ist von aller Natur und Physik und nicht minder von aller Psychologie durch Abgründe getrennt – und selbst dieses Bild, als naturalistisches, ist nicht stark genug, den Unterschied anzudeuten.« (Ideen I 222) Lässt sich dagegen nicht setzen: Dasjenige Ist, das im thematischen Wahrnehmungsurteil im Ist-Sinn steht, kann nicht nur von Wahrnehmungserlebnissen weggedacht werden, sondern von Wahrnehmungserlebnissen kommt man nicht an es heran, weil in ihm der Rückbezug auf Erlebbarkeit getilgt ist durch die Art und Weise, in der der Ist-Sinn sich auf sein Ist bezieht; nämlich so, dass das Ist, in seiner Weise, objektive Realität zu sein, den Ist-Sinn dank seiner Weise objektivierend zu fungieren, nicht tangieren kann – als von ihm wegdenkbar produziert ist; wenn von einem Bewusstsein, dann von einem Bewusstsein, das im Sinne Husserls nicht intentional ist. Ein so fungierendes Bewusstsein würde es sich selber zwar verwehren, von der Art einer solchen objektiven Realität zu sein, es würde sich aber auch nicht als Erleben nehmen, auf das die Natur relativ ist. Es hätte ja alles Naturhafte seiner intentionalgegenständlichen Erlebbarkeit als dem ihm Vorbehaltenen entzogen. Die Möglichkeit, so zu prozedieren, versperrt sich Husserl. Noematischer Sinn wird im scharfen Unterschied zum Gegenstand schlechthin fixiert. Dieser Sinn schließt alles wahrnehmungsmäßig Erscheinende in sich ein als seine intendierte-ideale Komponente, die zwar von den reellen Beständen des Bewusstseins unterschieden, aber nur als diesen und damit der Gesamtverfassung des intentionalen Bewusstseins zugehörig ist. Der gegenständlichen Sinnkomponente gehört auch das als wirklich bewährte Erscheinende zu: genau in der Gegebenheitsweise, in der es »eben in der Wahrnehmung Bewusstes ist«. (Vgl. Ideen I 222) Als gegenständlicher Sinn im Modus des als wirklich Erscheinens Bewusstseinseigenes zu sein, tritt in den Umkreis von Modalisierungen seiner (z. B. Phantasien und Erinnerungen), in denen ebenfalls gegenständlicher Sinn vermeint wird. Aus der Differenz zu ihnen wird dann phänomenologisch über Wirklichsein entschieden. Die sich anfangs noch unverfänglich ausnehmende, getreu dem, was A
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sich dem wahrnehmenden Bewusstsein zeigt, anpassende phänomenologische Reduktion ist dazu benutzt worden, eine bestimmte Bedeutung von Wirklichsein zu produzieren, indem ein Wahrnehmen von einem andersartigen mittels des Anspruchs unterschieden worden ist, ein Wahrnehmen (dasjenige in einer unmittelbaren natürlichen Einstellung) überschreite die Kompetenz, die ihm aufgrund seiner Eigenart, Erlebnis des intentionalen Bewusstseins zu sein, zukomme, während hingegen nur das phänomenologisch reduzierte Wahrnehmen dem intentionalen Bewusstsein in seinem Eigenwesen gerecht werde. Und im Gefolge der so bestimmten Wahrnehmung ist die Bedeutung von Wirklichsein anzusiedeln. (Vgl. Ideen I 226) Darin liegt, transzendentalphänomenologisch gesehen, dass sich in einer bestimmten Art von Evidenz als Korrelat evidenter Bewährung Wirklichkeit so macht, dass sich in ihr Wahrheit und Wirklichkeit decken – was nur innerhalb des intentionalen Bewusstseins möglich ist. (Vgl. Cart. Med. 92 ff.) Dies ist die transzendentalsubjektive Umkehrung und zugleich Variante der altmetaphysischen These, dass das Seiende als das in Offenbarkeit Anwesende das Denken in seine Wahrheit gelangen lasse. Sie liegt den ihr unterzuordnenden Thesen zugrunde, dass in der sinnlichen Erfahrung aufgrund ihres weltweiten Horizontcharakters keine endgültige Wahrheit zu finden sei und dass die Wahrheiten von wissenschaftlichen Theorien sich über die basale Erfahrungswelt erheben (ins Reich des irreal Seienden). (Vgl. z. B. Phänomenologische Psychologie 58 f.) Solche Differenzierungen sind bei Husserl dadurch übergriffen, dass das intentionale Bewusstsein in der Sphäre seiner alles Transzendente in sich einbeziehenden Immanenz auf Wahrheit als Evidenz des sich selber verdankten Selbstgegebenen aus ist. Damit die Möglichkeit einer durch Differenzerzeugung sich eröffnenden anderen Position in der thematisierten Frage sich scharf konturiere, sei noch einmal auf das Schicksal hingewiesen, das dem Transzendenzbegriff widerfahren ist, sobald sich Husserl einmal in der Phänomenologie eingerichtet hat und Transzendenz in ihr versteht. Die angedeutete, von Husserl abweichende Position ist keineswegs auf einen Begriff von Transzendenz von Transzendentem angewiesen; weder auf den eines unphänomenologischen Ansichseienden noch auf den phänomenologisch immanentisierten. Sie hat auch nichts mit theoretisch wissenschaftlichen Vorüberzeugungen über die Welt und ihre verschiedenen Seinsbereiche zu tun, die sich unter Titeln wie Natur und Geist gegen eine vom intentionalen Bewusst244
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sein geforderte Einheit sträuben. Sie soll in der Art und Weise, wie Menschen in der Welt leben und deswegen in einer bestimmten objektivierenden Weise zu sprechen vermögen, ihren Grund haben. Was aus ihr dann philosophisch und wissenschaftlich gemacht werden kann, das folgt ihr nach. Aber was ihr folgt, führt nicht notwendig zur transzendentalen Phänomenologie. Im Wahrnehmen liegt Husserl zufolge ein glaubendes Setzen, das, sich totalisierend, die Welt als den weitesten Horizont des Wahrnehmbaren mitbetrifft und so vorweg auf Welteinheit ausgerichtet ist, von der man im vortheoretischem Leben überzeugt sein soll, weil man in die Welt hineinlebt. Solange ein Wahrnehmen um dieses sein Wesen nicht weiß, spricht es in Urteilen so, dass es sein Sich-transzendieren zu Welthaftem und zur Welt hin nicht bemerkt. Wird es selbstreflexiv seines glaubenden-doxischen Charakters bewusst, so weiß es um das, was sich in ihm abspielt und unterlässt ein falsches Sprechen über Transzendentes und Wirkliches. Es sieht, dass Derartiges relativ auf sein glaubendes Setzen ist und dessen Eigenart nicht überschreitet. Der Begriff Wirklichkeit hat im Gefolge der Eliminierung der unphänomenologischen Transzendenz von Transzendentem seine Bedeutung im Evidenzstreben des Bewusstseins und seiner Erfüllung angenommen. (Vgl. FTL 174) Es heißt in den Ideen I: »Vollziehen wir nur die phänomenologische Reduktion, so erhält jede transzendente Setzung, also vor allem die in der Wahrnehmung selbst liegende, ihr ausschaltende Klammer, und diese geht auf all die fundierten Akte über, auf jedes Wahrnehmungsurteil, … Darin liegt: Wir lassen es nur zu, alle diese Wahrnehmungen, Urteile usw. als die Wesenheiten, die sie in sich selbst sind, zu betrachten, zu beschreiben, was irgend an oder in ihnen evident gegeben ist, festzulegen. (225) Von der Thesis des wirklichen Dinges und der transzendenten Natur wird kein Gebrauch zugelassen. Dieser wird nicht mitgemacht. Man enthält sich solcher Setzungen und betrachtet sie als zum Erleben, seinem Erlebten und dem darin immanent seienden Phänomen gehörig. Damit ist das Problem von Transzendenz und Wirklichkeit, das zum Aufbau der Phänomenologie führte, in ihr durch sie erledigt. Aber im entwickelten Kontext kam es auf Folgendes an: Normales gegenstandsbezogenes und gegenstandsbestimmendes Sprechen »in der natürlichen Geisteshaltung« führt keineswegs dasjenige Problem der Transzendenz mit sich, das Husserl ziemlich früh in einer erkenntniskritischen Perspektive zu phänomeA
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nologisch reduktiven Maßnahmen nötigte. Diese Maßnahmen erweckten ja vorübergehend den Anschein, als werde durch sie die natürliche Welterkenntnis außerhalb des Umkreises gelassen, den sich die Phänomenologie eröffnet. Aber dann käme es zu zwei verschiedenen Welt- und Seinsbegriffen. Die Phänomenologie vermöchte sich nicht als philosophische Universalwissenschaft zu etablieren, die alle Welterkenntnis verständlich macht und so die Einheit der Welt aus der transzendentalen Subjektivität heraus sichert. Dagegen sei gesetzt: Im philosophisch unbelasteten Sprechen und Urteilen schaltet sich die Bewusstseinsrelativität des im Urteilen Gesetzten in einer schlichten, dem Urteilenden zunächst unbewussten Weise, ab. Das geschieht, indem Subjekt und Prädikat so synthetisiert werden, dass die sich in der Synthesis bildende Einheit in einer Art von Seinssinn steht, dessen Bezugs-Ist sich nicht auf das Eigentümliche des Urteilens und eines sich ihm zuordnenden Urteilenden auswirken kann; der sich im Urteilenden erzeugt und zugleich dabei aus diesem herausgesetzt wird. In der Tätigung des Urteilens erfolgt demnach ineins ein Sich-heraushalten seiner und seines Geurteilten und ein Objektivieren des Geurteilten, dessen Resultat als vom Geurteilten abgetrennt gesetzt wird. Das so Gesetzte wird als seiend gesetzt aufgrund dessen, dass im sich tätigenden Urteilen dieses sich selber als durch Jenes als seiend Gesetzte nicht betreffbar setzt und es in diesem Sinne von sich unterschieden sein lässt: ineins zum von sich Unterschiedenen macht und von sich unterschieden sein lässt. Dass keine einheitliche Bedeutung von seiend das, was so auseinander-gesetzt ist, übergreift – das ist zunächst einmal zu belassen. Etwas als Baum Gesetztes kann brennen. Dass dies einem Baum zustoßen kann, sei in einem wahrnehmungsbezogenen Urteil gesetzt, das dem Bewusstsein zu eigen sein mag. Durch die Art seines Fungierens in dieser Art von Urteilen möge das Bewusstsein es von sich ausschließen, brennen zu können; eben weil es zu einer Darstellung dessen, was ist, die es für sich in Anspruch nimmt, befähigt ist. Darin liegt kein Sich-transzendieren des Bewusstseins zu einem bewusstseinsfremden Transzendenten, sondern ein Sich-ausschalten und ein Sich-heraushalten zum Zwecke eines objektivierenden Setzens. Auf ein solches Verhalten der Natur gegenüber mag es für Menschen als naturverhaftete-lebendige Sprachwesen ankommen. Es mag sich in ihnen durch sie hindurch wie von selbst machen. Sie stehen sich dann auch durch ihr eigenes Aussagen im Wege, sich als vorgängige kon246
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stitutive Glieder in einer Korrelation von Bewusstsein und Welt aufdecken zu können. Sich so verhaltende Wesen klammern nicht eine ihnen (noch nicht) bewusste Generalthesis der Welt ein, sondern schalten sich aus einer durch sie in die Objektivität geratenen Natur aus, indem sie sich aufgrund von ihnen als vermöglich Eignendem von Naturhaftem unterschieden sein machen und unterschieden sein lassen. So verhelfen sie der Natur zu einem gewissen Selbststand – unerachtet dessen, dass dieser durch sie bedingt ist. Was so gesetzt ist, ist kein Noema und kein Gegenstand im Sinne der Phänomenologie. Wenn man einmal in dieser Weise in der Welt Fuß gefasst hat, kann man sich in ihr festsetzen und die gesamte Natur in diese Art von Urteilen hineinziehen. Von einem Baum hat dann nur gesagt zu werden, was ihm als Stück Natur in der Natur zukommt und widerfahren kann. So bliebe die Natur außerhalb der Phänomenologie. Und diese wäre nur eine spezielle Zugangsweise zur Welt, die sich bestimmten theoretischen Abzielungen und methodischen Maßnahmen verdankte. Also gibt es Sachverhalte, in die Gegenstände einbehalten sind, für welche die phänomenologische Reduktion irrelevant ist, weil an ihnen durch sie keine Erkenntnisleistung vollbracht wird. Im Falle phänomenologisch reduzierter Gegenstände gilt dagegen, dass sie durch die Reduktion in einer neuen Weise ihrem »in der natürlichen Einstellung« verborgenen Seinssinn nach sichtbar und erkannt werden. Diese Art der Erkenntnis ist die philosophisch gesuchte. Legt man sich diese Sachlage unphänomenologisch zurecht, so gibt es zwei Gegenstandsbereiche, die das Seiende aufteilen. Ihnen gehören zwei verschiedene Erkenntnisarten zu. Die phänomenologische Methodik grenzt einen Gegenstandsbereich für die phänomenologische Wissenschaft aus. Unter dieser Voraussetzung braucht sie nichts über den ihr nicht zugänglichen Gegenstandsbereich auszusagen. Sie hat z. B. über die Natur, so wie sie physikalisch erkannt wird, nicht zu befinden; ihr keine Natur zu unterstellen, die ursprünglich erfahren zur Gegebenheit gebracht und als solche ausgezeichnet werden kann. Sie hat sich der Stellungnahme zu der ihr fremden, andersartigen wissenschaftlichen Erkenntnisweise der Natur zu enthalten. Der Grund dafür hat nichts mit der objektiven Naturwissenschaft und ihrer Idee von erfahrungsvorgängig bestimmtem Ansichsein zu tun. Er liegt in einer Darstellungsfähigkeit des in der Natur lebenden und zugleich zu ihr in Differenz stehenden Menschen-Ich. Diese erzeugt sich im objektivierenden Sprechen von lebendigen Sprachwesen durch ein sich quasi von selbst machendes Übergehen der A
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Rückbezogenheit des Gesagten auf sich als Wesen, deren Zugang zur Welt sinnlich ist. Dieser Zugang fällt aufgrund der im objektivierenden Sprechen sich herstellenden Einigung des sprachlichen Ist-Sinnes und des Ist, auf das dieser sich beruft, als irrelevant für das, was wie gesagt ist, beiseite – als in vielen Fällen für die im Sprechen getätigte Einigung von Ist-Sinn und Ist unerheblich. Das im objektivierenden Sprechen sich vollziehende, den sinnlichen Weltzugang des lebendigen Sprachwesens Übergehen schlägt sich also in Aussagen (in sich sinnlich artikulierenden Sätzen) nieder, die zugunsten des in ihnen als seiend im Ist-Sinn Auftretenden übergangen werden. Auf dieser Basis wird gesprochen, sich verständigt, gelebt, sich verhalten. Unbezweifelbares gibt es hier nicht. Man ist in der Erfahrungswelt im üblichen Sinne gelandet, deren Ausstehendes nicht in relevanter Weise durch subjektiv Apriorisches vorgezeichnet ist. Blickt man von hier auf die eingangs angeführte psychologisch-phänomenologische Reduktion zurück, wird ihr philosophischer Hintergrund für sie entscheidend. Sie kann nicht länger als ein schlichtes Unterscheiden genommen werden, dessen Unterschiedene es so gibt, dass aufgrund der Art und Weise, wie sie unterschieden worden sind, von einem der Unterschiedenen in einer Bereichswissenschaft gehandelt werden kann. Diese ist nicht für einen anderen, sagen wir einen physischen, Bereich zuständig. Um die Eigenartung der Unterschiedenen zu wahren, ist es ratsam, nicht das Problem eines Ganzen aufzuwerfen, aus dessen Einheit sie sich differenziert haben. Vielleicht lässt sich ein solches Ganzes in seiner Einheit nicht in einer Universalwissenschaft unterbringen, ohne dass sich Schwierigkeiten ergeben, die rein wissenschaftlich nicht bewältigt werden können. Die philosophischen Totalisierungsbewegungen unserer Tradition haben positive Lösungen dieses Problems zu produzieren vermocht. Sie sind nicht wiederholbar. Es ist in diesem Paragraphen aufgezeigt worden, dass die als Bereiche apostrophierten Differenten sich einer Seinsdifferenzsetzung verdanken, die sich im Menschen-Ich erzeugt; genauer gesagt: deren Ursprung in einer differentiellen Realisierung der Sprachvermöglichkeit von naturhaft lebendigen Menschen-Ichen liegt. Diese können sich auf die Welt beziehen, indem sie einerseits ihnen Eigentümliches ins Spiel bringen und andererseits dieses außer Spiel setzen. Ist dies auffällig geworden, so ist das, was sich in dieser Weise auseinander gesetzt hat, nicht länger in einer Seinseinheit zusammenzubringen. Die Karten für das Spiel von Totalisierungsbewe248
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gungen um die Einheit des Ganzen, für das die Seinsrede nicht mehr passt, sind neu ausgeteilt. Für die Setzung einer Seinsdifferenz, durch die das Menschen-Ich die Natur sich in gewissen Sätzen zu einem Gegenüber werden lässt, auf Realisierungen der Sprachvermöglichkeit von menschen-ichlichenweltlichen Sprachwesen zurückzugreifen besagt, von der Natur nicht mehr unter Absehung davon, dass sie in einen gewissen sprachlichen Ist-Sinn eintritt, zu handeln. Sofern sich diese Sprachwesen jedoch als lebendige in den Naturzusammenhang eingelassen finden, setzen sie sich zugleich als naturhaft, als kontingente Dinge, für die die Natur eine Wirklichkeit ist, die sie einschließt und von sich abhängig sein lässt. Dann gibt es diese Natur (wenn man ihr noch die Hervorbildung solcher Wesen zutraut) als dasjenige, was das von ihr durch einen Selbstüberstieg ihrer von ihr aus sich heraus in eine Distanz zu sich gebrachte Sprachwesen hervorgebracht hat; das sich die Natur in Geeintheiten von sprachlichem Ist-Sinn und Ist vom Leibe hält; ja sich als ihr entwachsen und überlegen, als von ihr nicht ausgefüllt nehmen muss – die für sie zugleich aber auch die sie in sich wieder einbeziehende Wirklichkeit ist – das alle Menschen wie die sonstigen Lebewesen »verschlingende Ungeheuer«. Aber auch dies von der Wirkmacht der Natur über das sie distanzierende sprachmächtige Menschen-Ich Gesagte betrifft wiederum die Natur nur, sofern sie in einer Realisierung der Sprachvermöglichkeit aufgegangen ist. Durch die Realisierung der Sprachvermöglichkeit hindurch setzt das Menschen-Ich sich als in der Einheit mit seiner Sprachvermöglichkeit durch die Natur betreffbar, als auslöschbar. Das tut nicht die Natur, sondern das sagt sich das ihr ent-sprungene lebendige Sprachwesen als der Natur einbehaltenes zu – was an der Tatsache des Sterbens selbstverständlich nichts ändert. Die in meine Sprachwelt hineinführenden Andeutungen seien an dieser Stelle abgebrochen. Von ihnen aus mag noch einmal abschließend ein Kontrast schaffendes Licht auf Husserls Verfahren fallen. Dieses zielt von vornherein darauf ab, den Seinssinn des Ganzen so aus einem intentionalen Bewusstseinsleben aufgehen zu lassen, dass seine transzendentalsubjektive Verwandlung unauffällig wird. Das führt zu dem Effekt, dass von dieser Maßgabe her alle Differenzen, die auftreten innerhalb eines phänomenologisch gewonnenen absoluten Seinssinns zu liegen kommen. Das Differente wird nicht auf A
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differentielle Realisierungen der Sprachvermöglichkeit zurückgebracht, welche die Einheit von Menschen-Ich und Welt bedrohen, sondern als Differentes innerhalb einer vorgängigen Bezugseinheit traktiert, die in einem absoluten Seinsuniversum ihren Ort hat. Husserl schreibt in der Phänomenologischen Psychologie »Von dem Verständnis dieser Methode hder sich universalisierenden psychologisch-phänomenologischen Reduktioni hängt das Verständnis der gesamten Phänomenologie ab, nur durch sie gewinnen wir Phänomene im Sinn der Phänomenologie, und das, ob wir es (wie ich neuerdings scheide) auf eine philosophisch transzendentale Phänomenologie abgesehen haben oder wie hier auf eine Phänomenologie, die uns das rein in sich geschlossene Reich der psychischen Phänomene in deren konkreter Gesamtheit liefern soll.« (188) Uns dessen zu vergewissern ist etwas, »das unserer Willkür zu Gebote steht.« Aber wenn Menschen, die in der Welt leben das, was ihrer Willkür zu Gebote steht, nicht ergreifen, so kommt der Phänomenologe zu dem Resultat, dass sie ohne Wissen das tun, sind und sagen, was er, der das der Willkür zu Gebote Stehende ergriffen hat, sagt, denn er schaut ja nur an und beschreibt, was in ihrem Lebensvollzug und seinem Resultat liegt. Er hat eine Einstellungsänderung gegenüber einer ihr vorgängigen Einstellung vorgenommen, durch die das, was in der vorgängigen Einstellung und dank ihrer ist, zur Gegebenheit gebracht wird. (Vgl. ebd. 189 f.) Dieses Vorgehen und die in ihm als vorgängig gesetzte natürliche Bewusstseinseinstellung des Menschen zur Welt ist hier nicht akzeptiert worden, sondern es hat sich gezeigt, wie in der Welt lebende Menschen sich und die Welt so auseinander-setzen, dass ihr in weltbezüglichen Urteilen Gesetztes eine Einheit der Art ausschließt, wie sie ihm phänomenologisch zugedacht wird. Das alles besagt wiederum: Die universale Intentionalität des Bewusstseins ist gebrochen. Damit ist ein Grundproblem der Phänomenologie aufgedeckt: Ihr Versuch, das Bewusstsein qua intentionales zugleich als universalen Grund und Rückbezugspunkt für alles Ist zu etablieren, vermag sich nicht durchzusetzen, da er zu Resultaten führt, die durch bestimmte operative Maßnahmen bedingt sind. Sie treffen daher nicht auf so etwas wie das Seiende, die Welt, alles Gegenständliche. Nimmt man an, sie täten dies, so wären sie als nicht durch philosophisches Tun bedingt gesetzt. Darauf aber ist hier insistiert worden. Husserls Methode der Einigung von Anschauung, Deskription und Reflexion und ihre universalwissenschaftliche und transzendentalsubjektive Anwendung führen zu 250
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einem solchen nicht-hermeneutischen und nicht-konstruktiven Resultat, das sich als sachgebundene, forschende Arbeitsphilosophie versteht, welche die Welt nicht aus dem universalwissenschaftlichen Anspruch freigibt und in eine Unbestimmtheit entlässt, die philosophischen Totalisierungsbewegungen jeden wissenschaftlich verbindlichen Charakter nimmt und sie der Geschichte und ihren Vielheiten zuweist. N a cht ra g – den zu unterdrücken mir seiner Schlusspointe wegen schwer fällt, auch wenn die verkürzte Darstellung verhindert, einer gewissen »antiphilosophischen« Tendenz durch eine neuartige philosophische Wende genügendes Gegengewicht zu verschaffen. Ich skizziere drei Szenarien; die zwei ersten um der Differenz willen, in die das dritte zu ihnen tritt. 1. Bei Husserl gilt: Im Bezug des intentionalen Bewusstseins auf naturhaft Gegenständliches kann dieser nicht auf das Gegenständliche hin so transzendiert werden, dass er in einem Außerhalb seiner endet. Daher muss das, was als Gegenstand-seiend vermeint wird aus einer Eigenart intentionalen Meinens aufgeklärt werden. Soweit, so gut – bewusstseinsphilosophisch gesehen. 2. Ich schreibe jetzt diese aus der Phänomenologie resultierende These in ein sprachphilosophisches Vokabular um, in dem sich die Problemlage verändert. Spricht man über naturhaft Gegenständliches, erweckt sich der Anschein: 1. es gebe dieses; 2. man spräche darüber und 3. es gebe dieses als Außersprachliches in seiner sprachlichen Bestimmtheit. Diese Setzungen sind nicht sinnvoll, wenn im Sprechen allererst der Sprachraum eröffnet ist, in dem es etwas als naturhaft Gegenständliches gibt. Hält man sich in ihm, tritt alles nur noch in der Einheit des »wie gesagt seiend« auf. Nur die Gegenstände selber, so möchte man sagen, können in ihm nicht auftreten. Aber die Unterscheidung von »wie gesagt seiend« und den Gegenständen selber ist offensichtlich eine Unterscheidung, die vom Sprechen ausgeht. Andernfalls müsste man das »wie gesagt seiend« des Sagens und die Gegenstände wie zwei als seiend Unterschiedene ansehen, von denen das eine eine einseitige Beziehung zum anderen aufnimmt, die sich so artikuliert, dass das andere dem Ist (dem Sein) nach im Ist-Sinn des wie gesagt seiend zu liegen käme. So zu sprechen verstößt wiederum gegen die im Aus-Sagen sich vollziehende Differenzsetzung, dass sein Worüber der Vermittlung im Sprachraum auch entzogen sei. Kann das A
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nicht-sprachliche Gegenstands-Ist mit dem, als was es versprachlicht im Ist-Sinn auftritt, irgendwas zu tun haben? Aber wenn man das Wort Gegenstand für es benutzt, setzt man wieder zwei seiend Unterschiedene an: Aussagensubjekte und Gegenstände. Produziert man laut Voraussetzung jedoch immer nur Aussagen und reiht »Zeichenverbindungen« aneinander, kommt man an die Gegenstände nie heran, obwohl man in Aussagen nicht von Aussagen handelt, sondern von Gegenständen? Ich breche auch dieses Spiel philosophischer Problematisierung ab, zu dem in diesem Paragraphen schon Einiges bemerkt worden ist, und verwandle, indem ich hinter es zurückgehe, die Sicht, so dass sich eine Sachlage eröffnet, die sich von der bewusstseins- und sprachphilosophischen unterscheidet. Und jetzt komme es, nach allem, was bisher schon gesagt worden ist, nur noch auf den folgenden Punkt an: Weder Bewusstsein noch Sprache, noch Menschen, noch Iche, noch Subjekte sind die »Größen«, von denen gehandelt werden soll. Was sich in und durch lebendige Sprachwesen macht, soll sich zu allererst in ihnen wie naturhaft machen. In einem unvollkommenen Versuch sei der Anschluss dessen, was sich zur Natur differentiell sprachvermöglich in der Natur ereignet hat und noch ereignet, so dicht wie möglich gemacht. Die Seinsdifferenz zwischen Menschen-Ich und Welt soll sich anfänglich wie ein anonymes Naturgeschehen machen, im Verhältnis zu dem die Situation von Menschen-Ichen und ihrer Sprachvermöglichkeit bereits einem späteren nicht mehr »naturgeschichtlichen« Entwicklungsstand zugehört. 3. Im Sprechen-über naturhaft Gegenständliches entzieht sich ein lebendiges Sprachwesen, sofern es sich im Sprachraum dieses Sprechend hält, dem Umkreis der naturhaften Gegenstände. Es hält sich, sie objektivierend, aus ihm heraus. Ihre im Sprechen irgendwie nicht preisgegebene außersprachliche Realität könnte einem Wesen, sofern es sich durch ein solches Sprechen »definiert«, nicht auf seinen Leib rücken, von dem es sich abhängig erfährt und setzt. Menschen nehmen als lebendige Sprachwesen darauf Rücksicht, dass ihnen Gegenstände, z. B. brennende Bäume, auf den Leib rücken können. Und diese Rücksichtnahme gehört zu ihrer Realität. Das ist so trotz ihres Vermögens, sich durch objektivierendes Sprechen aus der Betreffbarkeit durch naturhaft Gegenständliches heraushalten zu können. Soweit war die bisherige Gedankenführung gedie252
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hen. Jetzt gilt es auf die Art und Weise zu achten, in der diese Sätze gesprochen sind und wovon sie handeln. Was hat sich in der Evolution zugetragen, damit es zu dieser menschlichen Selbstverständlichkeit kommen konnte? Darüber ist gegenstandsbezogen-gegenstandsbestimmend zu sprechen als von Etwas, dass sich irgendwann in Menschen qua lebendigen Sprachwesen so vollzogen hat, dass von der Einbehaltenheit ihrer in eine Zusammengehörigkeit mit Naturhaftem zu sprechen ist. Das Zusammengehörige unterliegt, wie es für sog. Wirkliches der Fall ist, kraftmäßigen Abhängigkeitsbeziehungen. Innerhalb ihrer reguliert sich, was wirksame Wirklichkeit von Gegenständen besagt – vor allem sich aus der Natur heraushaltenden objektivierenden Sprechen. Was sich so macht, macht sich wie ein evolutiver die Evolution sprengender Naturmechanismus. Seiner Darstellung sollte man nicht durch eine leichtfertige Verwendung von Worten wie Mensch, Ich o. a. eine missliche Verständlichkeit geben. Er braucht nur weitere Entwicklungsmöglichkeiten zuzulassen. Ist die skizzierte Sachlage Resultat eines Ereignisses der Evolution, das sich in einem Selbstüberstieg ihrer in lebendigen Sprachwesen ereignet hat, jedoch sich zunächst sozusagen wie naturhaft zuträgt? Dieses fortdauernde Resultat ist von allem, was im Ausgang von ihm in der Geschichte ausgegangen ist und er-dacht wurde, getrennt zu halten. Es möge gewissen sich radikal gebenden Bewusstseins- und Sprachphilosophien, die lebendige Sprachwesen trotz ihrer Differenz zur Natur nicht als Evolutionsprodukte verstehen, Grenzen setzen. Es ist nicht als Auszeichnung des Menschen aufzugreifen, durch die dieser in die Lage versetzt wird, sich der Natur im Ganzen gegenüber zu postieren und sich über sie zu erheben – weil der Mensch aufgrund von Logos, Bewusstsein und Sprache nichts Naturhaftes-Dinghaftes ist. Das Gegenteil mag zutreffen. Sich als Ding unter Dingen zu finden, sich deswegen so zu nehmen und dem auch im Sprechen Rechnung zu tragen, das ist etwas, das sich in Menschen qua lebendigen Sprachwesen als durch die Natur aus ihr herauskatapultierten Wesen wie von selbst macht. In diesem die Evolution sprengenden Evolutionsgeschehen gründet die Seinsdifferenzsetzung von Menschen-Ichen in der Welt zur Welt, von der oben gesprochen worden ist. Der Differenzsetzung geht ein Sich-als-Natur-einbehalten-gefunden-haben voraus. Zu ihm gehört die sich von selber machende Setzung der Differenz, durch die es dem lebendigen Sprachwesen widerfährt, dass es sich A
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als in der Welt der Welt entfremdeter Teil der Welt gewahrt – was in der Zivilisationsgeschichte lange Zeit verdeckt geblieben ist. Lebendige Sprachwesen können also Gegenständen eine weder transzendente noch transzendentale noch realistische »Wirklichkeit« zukommen lassen, indem sie sich mit ihnen in einem Zusammenhang finden, in welchen sie sich im Verhalten und Sprechen einrücken. Darin dokumentiert sich ihre Zusammengehörigkeit, ja auch eine gewisse physische Gleichgeartetheit mit den sog. Gegenständen. Dem intentionalen Bewusstseinsbezug sind die Gegenstände von vornherein entzogen.
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VIII. Lebenswelt und Geschichtlichkeit und deren Zeitlichkeit
Aus der Perspektive einer Konzeption, die das Philosophieren als geschichtszeitliche Totalisierungsbewegung begreift und zu praktizieren versucht, sei abschließend auf die transzendentale Phänomenologie und ihr Geschichtsdenken zurückgeblickt.
§ 30 Prmundane transzendentale Ichsubjekte und die Geschichtlichkeit von Menschen-Ichen und deren Welten Der Lebenswelt kommen besonders in späteren Werken Husserls so verschiedenartige Bestimmungsmomente zu, dass ihre zentrale Funktion im System der Phänomenologie, aber zugleich das Problem der für sie von Husserl in Anspruch genommenen Einheit ins Auge fallen. Einige ihrer Bestimmungen, von denen keine preisgegeben werden darf, sind bereits durchgesprochen worden. Einige weitere sind in den Fokus zu rücken. Die Verträglichkeit aller miteinander hat zum Problem zu werden. Es sei jetzt Husserls Ansetzung menschenweltlich-kultureller-geschichtlicher Weltbestände in ihrem Zusammenhang mit der sie übergreifenden teleologischen Gesamtkonzeption der Geschichte ins Spiel gebracht. Anstatt es bei geschichtlichen Weltbeständen zu belassen und ihnen eine transzendentalsubjektiv zentrierte teleologische Vernunft vorzuschalten, die aus dem absoluten Fluss des inneren Zeitbewusstseins heraus wirkt, gehe es darum, diese Konzeption als eine sich ihrer Art von Totalisierungsbewegung verdankende geschichtliche Weltbildung zu interpretieren, in die ihre Art, Geschichtliches als Bestand in der Welt zu fassen, hineinpasst; in der das sonderweltlich Geschichtliche und die der Phänomenologie vorausliegende Tradition am Telos der Geschichte gemessen werden, von dem her all dieses beurteilt und zur Vorgeschichte herabgestuft wird. In dem durch die Phänomenologie erreichten Telos wird die Geschichte auf eine neue Stufe gehoben, auf der sie den Einsichten der transzendentalen SubA
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jekte gemäß weiter geführt werden kann. Die der so verstandenen Geschichte zugehörige Zeit ist im Umkreis derjenigen (metaphysischen) Zeitbegriffe zu situieren, die philosophische Weltbildungen benötigen, um sich zu vollenden, wodurch sie selber unfreiwillig geschichtszeitlich werden. Wird Derartiges dem Denken suspekt, so kommt es zu Umstürzen der Weltsicht und eines sich um sie mühenden Philosophierens. Es geht dann nicht länger an, das soeben menschenweltlich-kulturell-geschichtlich Genannte in eine universalwissenschaftliche teleologische Weltschau einzufügen. Diese Weise seiner Thematisierung problematisiert sich, weil sie im Bezug auf ihren Gegenstand fragwürdig ist und sie selber in die Problemsituation hineingehört, über die gesprochen werden soll. Dadurch aber wird zugleich das Unternehmen einer universalwissenschaftlichen Erkenntnis von Welt und Mensch in eine geschichtliche Kontingenz hineingezogen, die es wie andere Philosophien als Deutungen eines Etwas sichtbar macht, das verschiedenartiges Wissen und verschiedenartige Deutungen seiner zulässt, die sich nicht als durch dieses Etwas begründbar nehmen können. Aber deswegen kann sich dann auch kein Wissenswesen mehr diesem Etwas zugrundelegen und es im Rückbezug auf sich als fertig seiende Welt oder als teleologisch dirigiertes Weltwerden bestimmen. Die Unbestimmtheit des Etwas gegenüber dem, was gewisse zu ihm in einer Differenz stehende Wesen wie Menschen-Iche benötigen, sollte diesen keine andere Möglichkeit offen lassen, als gewisse Bestimmungen seiner sich so zuzuschreiben, dass eine die Zeit übergreifend ausfüllende, geschichtlich unkontingente Einzigkeit und Totalität dessen, was durch sie im Bezug auf die Welt geleistet werden kann, dafür nicht in Frage kommen. Man beginnt dann von Deuten und von einem nicht mehr durch das Bestimmungsvermögen des Verstandes dominierten Verstehen zu sprechen. Das ominöse, bisher als unbestimmt apostrophierte Etwas ist die Welt als eine Welt, die so erfahren werden kann, dass in Differenz zu ihr stehende lebendige Sprachwesen sich mit ihr nicht zufrieden zu geben pflegen, die aber zugleich, wie wir wissen, in einer Weise gewusst werden kann, in der sie sich als so durchbestimmt erweist, dass sie solche Wesen hervorgebracht haben kann. Es ist die so gewusste Welt, mit der sich abzufinden, den zu ihr in Differenz stehenden Wesen so schwer fällt, dass sich spezifisch geschichtliche Sprachwelten in ihnen und durch sie erzeugen. Von einem solchen Husserl fremden Blickwinkel aus sei jetzt 256
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abkürzend sein Begriff einer menschen-ichlichen, menschheitlichen Lebenswelt und ihrer geschichtlichen Bewegungen angegangen. Von ihm aus nehmen sich mit dem Anspruch der Universalität und des Wissens aufgetretene Philosophien anders aus, als sie in ihrem eigenen Selbstverständnis gewesen sind. Ich erinnere an Heidegger und, allgemeiner, an Positionen radikalen Geschichtlichkeitsdenkens, deren Pointe eine Endlichkeit-Geschichtlichkeit des philosophischen Denkens selber ist, die sich nicht dem obsolet gewordenen Muster einer teleologisch ideengeleitet fortschreitenden Geschichte einpasst. Derartige denkgeschichtliche Ereignisse wirken sich in Husserls Thematisierung von Geschichtlichem nicht aus. Husserl baut alle geschichtlichen Weltbestände in seine Weise, die Einheit der Welt zu konzipieren, ein. Das besagt vollständiger formuliert: Die ganze Lebenswelt samt allem ihrem Geschichtlichen ist in das sich als transzendental konstitutiv er-schauende, absolut einzige, sich zum einzigartig einzelnen machende Ichsubjekt, das phänomenalisierend tätig ist, und zugleich in die indirekt appräsentativ, aber mit ihm »kompräsent« konstituierte, ins Menschheitliche universalisierte transzendentale Intersubjektivität einbehalten. Darin empfängt sie ihre abschließende Bestimmtheit – wenigstens wenn man sie nicht noch einmal durch eine sich verabsolutierende Teleologie hinterschreitet. Es sei, um eine Abstoßbasis gegen Husserls Gedanken der Einigung von transzendentalem Ichsubjekt und seiner Selbstobjektivität im Menschen-Ich zu erzeugen, auf Menschen-Iche als gebürtige und sterbliche Wesen in einer Natur hingewiesen, in die sie durch ihre Geburt unentrinnbar hineingeraten sind und in der sie sich, vom Tode bedroht, erhalten müssen. (Vgl. Krisis 192 und Intersubjektivität III 609 f.) Diese Gegebenheiten wirken sich in ihrem Fall so aus, dass sie Sinn-Kulturwelten als Heimstätten über sich aufgehen lassen, die ihnen das Wissen um ihre sich der Geburt verschuldende Sterblichkeit ermöglicht und aufzwingt. In meiner Sicht, die nicht anthropologisch interessiert ist, kommt es darauf an, dass sich derartige Welt-einbegreifend-übergreifende Bildungen in sprachlichen Ist-Sinn niederschlagen. Transzendentalphänomenologisch wird so gedacht, dass – abgesehen von in der Welt vorkommenden geschichtlichen Sonderwelten – Weltbildungen solcher Art von prämundanen Ichsubjekten stammen sollten, die nicht geboren werden und nicht sterben, die in dem benutzen Sinne des Wortes auch nicht lebendig sind. Das Weltwerden auf seiner geschichtszeitlichen Stufe befindet A
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nicht über prioritäre Durchsetzungen und Realisierungen von solchen Sprachwelten. Über sie muss in ihnen durch Totalisierungsbewegungen und andere Faktoren entschieden werden. Den Menschen-Ichen stehen verschiedenartige Auswege offen, auf denen sie sich über ihre natürliche Lebendigkeit zu einer höheren Lebendigkeit, z. B. auch der des transzendentalen Bewusstseinslebens, aufschwingen können. Aber das geschieht in geschichtszeitlichen Weltbildungen, in denen Menschen-Iche am Werk gewesen sind, die durch Selbstunterscheidungen und Selbstbestimmungen hindurch Weltbildungen erzeugen. Wie können sie sich gegenüber ihrer transzendentalen Entobjektivierung und dem Verlust ihrer Lebendigkeit verhalten? Auf die Geschichte des Denkens hin gesehen ist es nicht eindeutig vorbestimmt gewesen, wie sie sich gegenüber ihren philosophischen Transzendierungen als Menschen-Iche und deren Weltüberschreitungen verhalten würden. Sie unterstehen aufgrund der Differenz, in der sie sich zur Natur finden, nicht jener eindeutigen Bestimmtheit, die ihnen als Selbstobjektivationen eines absoluten transzendentalen Subjekts in der Phänomenologie zugesprochen wird; eines Subjektes, für das es sinnlos ist, geboren zu werden und zu sterben. Phänomenologisches Anschauen, Beschreiben und Reflektieren hebt die zwischen Menschen-Ichen in der Welt qua Natur und ihnen einwohnenden transzendentalen Ichsubjekten gesetzte Differenz in eine Einheit auf, die durch philosophische Maßnahmen bedingt ist und ihnen ihre Unbestimmtheit – als Spielraum für geschichtliche Weltbildungen – nimmt. Vom transzendentalen Absoluten her gehen Menschen-Iche, ihre Welten und die Welt im Wissen des sich aus dem Umkreis der Nötigung geschichtlich-endlicher Weltbildungen heraushaltenden phänomenologischen Zuschauers und wissenschaftlichen Forschers als Einheit ins Sein hervor. Genauer gesagt: Sie gehen in ein Sein des Sinnes hervor, das die Einheit die Welt betrifft, ohne dass in ihr durch das phänomenologische Tun eine ihm gegenüber unbestimmte Welt in eine Differenz zu ihr gesetzt würde. Durch den jetzt erfolgenden Rückgriff auf MenschenIche wird akzentuiert, dass sie und durch sie hindurch das Weltwerden selber unbestimmt und in neuartiger Weise bestimmungsfähig und bestimmungsbedürftig geworden ist. Es sei zweierlei unterschieden: 1. Eine allen gemeinsame Welt erfordert auch Gemeinsamkeit der sie zu einer solchen Einheit konstituierenden Ichsubjekte, die sich 258
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als selbstobjektiviert in der Welt derart wiederfinden, dass dieser trotz aller (auch geschichtlich sonderweltlichen) Differenzen eingeschrieben ist, ein und dieselbe zu sein und alle Prozesse ihres Werdens in Einstimmigkeit des Erfahrens und Erkennens münden zu lassen. Diese Art Einheit aber besteht nur durch ein und für ein transzendentales Ichsubjekt und die von ihm mit-gesetzten kompräsenten Subjekte. Sie halten sich in einer »Evidenzsphäre, hinter die zurückzufragen ein Unsinn ist«. (Vgl. Krisis 192) Das setzt die Hinterschreitung der Selbstverständlichkeit, dass Menschen in sie bedingender und bestimmender Weise in besonderten, geschichtlich gewordenen gesellschaftlichen Abhängigkeiten leben, voraus; eine Hinterschreitung, die durch die Epoché erfolgt, deren Vollzug jedem Ich als das Sein des Welthaften, auch des soziokulturellen Welthaften, phänomenalisierendem zugedacht ist (Vgl. Krisis 187; vgl. auch Cart. Med. 159 ff.) 2. In dieser Blickrichtung kommt man an das Problem, das sich abzuzeichnen begonnen hat und das eine transzendentale Phänomenologie aufsprengt, nicht heran. Menschen als leiblich-psychophysische Weltvorkommnisse kann es so geben, dass ihnen ihre universale transzendentale Ichlichkeit fremd bleibt. Sie können sich, ohne Wissen von dieser Fremdheit, die nur für den Phänomenologen als Entfremdung existiert, nehmen und sagen. Sie brauchen also nicht einmal auf Husserls Beschreibung ihrer einzugehen und sich in ihr auch nicht wiederzufinden. Das ist merkwürdig, wenn Husserl nicht theoretisiert und spekuliert, sondern nur beschreibt, was für jedermann problemlos als für ihn auffindbarer Befund vor Augen liegt. Werden die Menschen nicht fraglos als vernünftige Wesen – so werden sie von Husserl im Spätwerk zwar in einem phänomenologisch verwandelten Sinn, aber in bewusst ergriffener Zugehörigkeit zur Tradition angesprochen – dem ihnen von Husserl vor-erschrittenen Weg in ihr transzendentales Ich folgen? Aber die vorgetragene Formulierung der Sachlage besagt doch, dass es menschenweltliche Weltvorkommnisse geben kann und auch gibt, die sich nicht in die transzendentale Sphäre hineinbegeben, denen diese unerkannt und daher unbekannt bleibt. Sie können sich genauso beschreiben und beschreiben lassen. Und dann sind sie auch so. Husserls Beschreibung ihrer führt sie aber wie von selbst in die Transzendentalität hinein. Also ist in dieser Art Beschreibung bereits die Richtung auf die Aufhebung der Selbstverblendung vom intentionalen Bewusstseinswesen als Weltvorkomm-
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nis eingeschlagen. Diese Richtung muss Husserls Begriff von Beschreibung mitbedingen. Gründe dafür, dass die phänomenologisch gewusste Selbstobjektivierung von transzendentalen Ichsubjekten zu Menschen dazu führt, dass sie der Durchsetzung der Erkenntnis der vorgegebenen Welt als einer von ihnen konstitutiv abhängigen Größe Widerstand entgegensetzen, sind bereits mehrfach ins Feld geführt worden. Diese Erkenntnis ist für sie befremdlich. Dem sucht Husserl durch phänomenologische Aufklärungsarbeit abzuhelfen. Diese rechnet nicht damit, dass sich in Menschen als der Natur verhafteten Wesen die bereits angezeigten Widerstände gegen eine ihnen vorgeführte transzendentale Subjektivierung regen, die ihnen ein Selbstverständnis ihrer als Menschen aufnötigen, das mit der Fassung des Menschseins als Resultat einer Selbstobjektivierung nicht zusammengeht. Das mag dadurch verursacht sein, dass diese Wesen sich mit der Natur auseinandersetzen müssen, indem sie sich, wie gezeigt, unangesehen ihrer Unterschiede von Naturhaftem als von diesem abhängig finden und mit dieser Abhängigkeit in einer für sie als lebendige Sprachwesen, die auf Einheit und Ganzheit aus sind, eigentümlichen Art fertig zu werden versuchen. Daraus resultiert eine Auseinander-Setzung. Sie schlägt sich in philosophischen, theologischen, wissenschaftlichen, weltanschaulichen Sprachsystemen nieder, die Spezifischem, das Menschen als lebendige Sprachwesen von Naturhaftem trennt, in geschichtszeitlich sich wandelnden Weisen Rechnung tragen. Solche Gebilde negieren nicht notwendig die Einheit der Welt. Aber sie können sie in verschiedenen Weisen verstehen, auch wenn eine gewisse Einheit der Welt als Lebens- und Verständigungsbasis für sie, wenn sie miteinander in Beziehung treten, unerlässlich ist. Aber die so in Anspruch genommene Welt reicht nicht aus, um an die Bestimmungs- und Verstehensresultate heranzukommen, die sich im Geschichtsgang der Menschheit erzeugt haben und erzeugen. In diesen ist sie ständig überschritten. Sie bilden in dem ihnen eigenen Ausgriff auf Einheit und Totalität der Welt Vielheiten. Prozesse ihres Ausgleiches, ihrer Annäherung, ihrer Vereinheitlichung bilden ein wesentliches Moment in der Auseinandersetzung von Menschengruppen miteinander. Diese Auseinandersetzungen sind, auch phänomenologisch gesprochen, Angelegenheiten von Menschen in der Welt. In ihnen geht es um Macht und Deutungshoheit. Müsste sich das transzendentale Subjekt von seinem überlegenen Wissenstand260
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punkt aus mit ihnen zu einer Einheit der Identität zusammenschließen? Geschieht das, so dürfte dieses Geschehen kein konstitutives sein. Das transzendentale Subjekt müsste aus irgendeinem in ihm selber liegenden Ungenügen genötigt sein, sich zu verweltlichen und so zu verendlichen; sich zu vereinzeln und in einen Umkreis von Menschen-Ichen zu setzen, die es zwar als Seinesgleichen wüsste, die sich aber nicht als Seinesgleichen verhielten. Müsste es sich mit ihnen kämpfend und kompromissbildend arrangieren? Oder richtet es nur über das von ihnen Gesagte phänomenologisch gewusste Ideen auf, deren Erkenntnis und Realisierung prinzipiell von jedermann freiwillig getätigt werden müsste. Andernfalls könnte es durch ihre »Machtergreifung« zu verschiedenartigen, uns aus der Geschichte vertrauten Ereignissen kommen. Aber das sind zu einem Teil Gedanken spekulativer, idealistischer Art; zum anderen Teil aber weisen diese Gedanken auf unsere Erfahrung mit der Geschichte hin. Offensichtlich sind solche Selbstverständlichkeiten im Umkreis der Phänomenologie Husserls irrelevant. Lassen sie sich als Vorkommnisse des natürlich eingestellten Lebens genauso wie dessen objektive Welt traktieren, so dass von ihnen gilt: »so wie das Sein der objektiven Welt in der natürlichen Einstellung und diese selber nichts verloren haben dadurch, dass sie in die absolute Seinssphäre s. z. s. zurückverstanden werden, in der sie letztlich und wahrhaft sind?« (Krisis 193) Würden sie in diesem Fall nicht um die in ihnen vorausgesetzte kraftaufwendige Wirklichkeit und deren Bewältigung im Denken gebracht? Aber eben dagegen würden sich um Deutungshoheit in der Welt kämpfende Menschengruppen zur Wehr setzen und es dadurch ablehnen, sich zu evident erschaubaren Konstitutionsprodukten eines von ihnen in sich auffindbaren transzendentalen Subjektes zu machen. Wie könnte sich Derartiges in ihm wiederfinden? Konzentrieren wir uns in dem umrissenen Gesamtkomplex, ohne ihn erschöpfend behandeln zu wollen, auf drei Facetten: 1. die Ichbildung als sinnesgeschichtliche Individuierung, 2. die idealisierend-objektivierende Verdeckung der Lebenswelt durch die neuzeitliche Naturwissenschaft, 3. das geschichtszeitliche Werden von Kollektiveinheiten und die mit ihm einhergehende Bildung von Sprachwelten in ihrer Geschichtlichkeit, denen Philosophien zugehören. Das Schwergewicht der Überlegungen sei auf den zweiten und dritten Punkt gelegt. A
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§ 31 Sinngeschichtliche Individuierungen Innerhalb der Bildung von Ichen stößt Husserl auf deren Werdegänge, deren Erwerbe und ihre Habitualitäten. Wird dies jedem Ich als einer egologischen Monade zugedacht, so kann die so zustandegekommene Einheit zu vielen besonderten-individuierten Ichen führen. Es kann in Anbetracht ihrer folgende Entscheidung getroffen werden: Falls sie sich nicht aufgrund phänomenologischer Reduktionen als transzendental konstituierend nehmen und auf Struktur- und Wesenserkenntnis ihrer und der Welt abzielen, mögen sie von phänomenologisierenden Ichen unbeachtet gelassen werden, da diese alle egologischen Monaden als ihresgleichen ansetzen und als solche konstituierend am Allgemeinen ausgerichtet tätig sein lassen. Was geschieht, wenn diese aus dem von ihnen selber getätigten Wissen resultierende Gleichsetzung, nicht von allen Ichen und egologischen Monaden mit vollzogen wird und wenn diese sich selber nicht so konstituieren, wie sie sich als transzendental reduzierte Monaden konstituieren sollten und wenn sie als besonderte-individuierte Thema von transzendentalen Subjekten, von Geisteswissenschaftlern oder schlicht von anderen Menschen werden? (Vgl. dazu und dagegen Krisis 502 ff. und Cart. Med. 161 ff.) Sind Iche Monaden im Sinne von durch und durch individuierten Einheiten, so braucht deswegen Allgemeines, das ihnen in mehrfacher Hinsicht eignet, nicht ausgeschlossen zu werden. Das brauchte auch nicht ihrem Zusammenschluss in intersubjektiven Gebilden im Wege zu stehen. Wären sie alle transzendentale Subjekte? Oder würde ihnen das (nur) in der Phänomenologie zugedacht? Abgesehen davon, dass man ihre Betrachtung empirischen Wissenschaften von der Biologie bis zur Anthropologie, Ethnologie und Soziologie zuweisen möchte, sei hier nur darauf geachtet, dass die Blickrichtung auf in seiner Bestimmtheit radikal Individuiertes anders verläuft als jene, in der alles aufs Strukturelle, Allgemeine, einigend Gemeinsame abgestellt wird – wie es sich für eine gewisse Art des Erkenntnisstrebens nahelegt, dass auch in der Phänomenologie dominiert. Wenn man damit rechnet, dass sich zu Individuellem besondernde Einzelne in Prozessen ihres Werdens in ein Allgemeines, das in irgendeiner Menschengruppe als Normalität und Norm herrscht, eingepasst würden, so wäre dies nur eine ihnen als Gruppenmitgliedern widerfahrende Formierung, die ihnen durch Erfahrung zukäme und die sie internalisierten. Das wäre kein sich transzendentalsubjektiv 262
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vollziehender Ausgleich zwischen Individuierung und allgemeiner Normalität. Er beträfe Menschen in der Welt und wäre durch ihr menschliches Zusammenleben bedingt. Er vollzöge sich im Bezug auf dieses, welche transzendentalen und ideellen Maßgaben ihm auch vorgeschaltet würden. Warum sollten sich Theorien des Sozialen an Derartiges binden, das sich frei getätigten totalisierenden, begründungs- und einheitssüchtigen philosophischen Konzeptionen verdankt, die von ihren Gegenständen nicht vollzogen worden sind, die nur aufgrund phänomenologischen Wissens über sie verhängt werden? Liegt hier nicht eine durch die phänomenologische Philosophie bedingte, sie selber betreffende Fragwürdigkeit, die nicht für die Individuen der Menschenwelt und ihre Zusammenschlüsse und deswegen auch nicht für die sie thematisierenden Theorien besteht? Sich in der angedeuteten Weise individuierende Wesen, bei denen passives Sich-finden und ein Sich-erfahren schwerlich von einem Sich-konstituieren unterscheidbar sein dürfte, mögen alles, was ihnen widerfährt und was sie sich aneignen, ihrer jeweiligen Eigenart gemäß verarbeiten. Es sei in Anbetracht ihrer auch noch unterstellt, dass sie als intentionale Bewusstseinswesen zu allem Seienden Zugang hätten und die Welt ihnen dementsprechend ausfiele. Aber deswegen müsste ihre Welt nicht so ausfallen, wie sie sich für ein transzendentalsubjektiv forschendes Ichsubjekt ausnähme. Solche Wesen können einmalig individuierte Welten in Sonderwelten ausbilden, die in der einen allgemeinsamen Welt der Menschen liegen. Allgemeines wäre im Bezug auf bis zur Individuierung Besondertes Unbestimmtes, das zahllose Besonderungen zuließe und auch unvermeidlich machte. Tendenzen des intentionalen Bewusstseins auf Allgemeinheit, Einstimmigkeit und Einheit wären in dieser Sicht auf Iche als Individuen, die jeweils ihre eigene Geschichte haben, auf die Seite gerückt. Dabei mögen die Iche als Menschen-Iche, als transzendentale Ichsubjekte oder als beides ineins genommen werden. Bleibt man der eingeschlagenen Blickbahn treu, nötigt man sich, jedes individuierte Ich ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen und es in dieser Einstellung zu erforschen, wobei das Allgemeine in die Unterschwelligkeit gerät. Wendet man auf dieses prozessuale Sich-individuieren von Ichen und egologischen Monaden das Wort Konstituieren an, so macht sich das Konstituieren in jenen Individuierungsprozessen. Ist es als solches ein transzendentales Konstituieren, aus dem das Sein A
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von Konstituiertem hervorgeht? Wenn sich die genannten Wesen in der bestimmten Weise als Individuen konstituieren, dann tritt nicht nur der Gesichtspunkt in den Hintergrund, dass sie als Einzelwesen des Allgemeinen fähig sind, in dem sie alle übereinkommen und das sie alle auf Einheit hin orientiert sein lässt, sondern es differiert die Individuiertheit der Monaden als sich transzendental konstituierender Subjekte und als Menschen in der Welt. Sie steht in der Weise gegen ihre Gleichförmigkeit, dass sich in jeder Monade ihre Selbstkonstitution in einer Weise verwirklicht, die einem anderen transzendentalen Subjekt, wenn es sich selber ebenfalls individuierend konstituiert, nicht zugänglich ist. Wenn ein Individuum sich aber fremde Monaden solcher Art konstituierend-erschauend zur Selbstgegebenheit bringt, so differiert dieses Konstituieren von der Selbstkonstitution anderer individuierter egologischer Monaden. Die Weltkonstitution kann nicht in der Selbstkonstitution aufgehen (Vgl. dagegen Cart. Med. 102 f.) Müsste, wenn man weiterhin für die Rede von Konstitution Eindeutigkeit einfordert, diese nicht in verschiedene Begriffe von Konstitution aufgespalten werden? Einmal macht sich das Konstituieren von selber, so dass das leistende Konstituieren und seine Gebilde nicht transzendental reduziert werden müssen, um zu sein, was sie sind. Über egologische Monaden als Individuen würde so gesprochen, als konstituierten sie – nur sie – in ihrem Lebensvollzug sich selber. Also wäre das, was sie sind und was für sie als seiend auftritt, nicht davon abhängig, dass sie die transzendentale Reduktion vollzögen, um sich als konstituierend für ihre (individuell-besonderte) Weltansicht erschauen und dabei konstituieren zu können. Zum anderen aber wäre genau dies erforderlich, damit im Bezug auf sie von Konstituieren gesprochen werden könnte. (Man vgl. dagegen Husserls Vorgehen in Cart. Med. 166 ff.) Würden solche Individuen nicht die Welt im Licht ihrer Geschichte gewahren, also individuell zentrieren? Und wirkte das für sie nicht wie eine Art Sperre dagegen, sich transzendental zu universalisieren und zu einheitlich allgemein Invariantem zu machen. Man braucht hier nur einmal wieder auf das bei Husserl übliche frei vermöglich zu realisierende Können zurückzugreifen und es zu unterlassen, dieses cartesianisch transzendental letztbegründend abzusichern, dann fallen einem zwei verschiedene Möglichkeiten in den Blick, die sich nicht in derjenigen Einheit der Phänomenologie unterbringen lassen, die Husserl anstrebt. (Vgl. dazu z. B. Cart. Med. 167 f.) 264
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Selbstverständlich ist alles hier über Individuen Gesagte allgemein gewesen. Aber dies Allgemeine verwehrt sich den Zugang in das in ihm als wesentlich gesetzte Sich-individuieren und seine Resultate. Es gelingt ihm nicht, dessen Sein in Selbstgegebenheit aufgehen zu lassen. Die bei Husserl vorherrschende Denkrichtung ist nicht auf eine Konzeption von Ich-Monaden Leibnizscher Art, deren jede einen fensterlosen Sonderaspekt der Welt darstellt und deren harmonische Einigung zum Universum dem perspektivlosen Allblick Gottes vorbehalten ist, eingeschwenkt. Diese ist mit der Intention Husserls nicht verträglich.
§ 32 Das lebensweltliche Menschen-Ich und die Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaft Der Rückgang auf die Lebenswelt findet sich bei Husserl in zwei differierenden Lesarten. In der einen ist er rein erkenntnistheoretischgenetisch-historisch dem universalen Logos des Seins zugehörig, ohne dass die Geschichte der europäischen Wissenschaften ihm als ein zu bewältigendes Hindernis in den Weg träte. In der anderen Lesart wird die Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft als ein Hindernis auf dem Weg zum Durchbruch der transzendentalen Phänomenologie so angesetzt, dass ihre genetische Rückführung auf die Lebenswelt als ihren Sinnesboden eine dem Sein der Welt nicht gemäße Seinsidee der objektiven Wissenschaften aufdecken muss. Durch den Rückgang auf die Lebenswelt wird das die Welt Verfälschende an der Seinsidee der objektiven Wissenschaft eliminiert und ihr Kontakt mit der Lebenswelt des intentionalen Bewusstseins wieder hergestellt. Dadurch steht dem Durchbruch der phänomenologischen Universalwissenschaft nichts mehr im Wege. Ihr Ziel ist die Entfaltung des Logos des Seins, die vom Telos der Geschichte des europäischen Menschentums geleitet ist und gegen den totalisierenden Objektivismus des neuzeitlichen Denkens im transzendentalen Subjektivismus zum Siege geführt werden muss. Die Aufdeckung der Lebenswelt ist dann zwar der Geschichte der neuzeitlichen Naturwissenschaften abgerungen, aber das geschieht wiederum in einer erkenntnistheoretisch-genetisch-historischen Weise, welche die Lebenswelt selber nicht in eine sie verwandelnde geschichtliche Bewegung einbezieht, deren Welt-Resultat von einem totalisierenden Denken als seine geschichtliche Umwandlung erfordernd genommen A
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wird. Eine Parallelisierung der beiden Rückgänge macht deutlich, dass Husserl diese Sicht auf die Geschichte des Denkens zu vermeiden weiß. Wie lässt sich aus dem zweiten Rückgang gegen Husserls Interpretation der Geschichte des wissenschaftlichen Objekivismus dessen die Menschen-Iche und deren Welt geschichtlich verwandelnde Macht herausbringen? Der erste der beiden Rückgänge auf die Lebenswelt führt ohne Umschweife zur Einsicht in die ur-logische-logische, vortheoretischtheoretische Einheit der Welt unter der Ägide des sie konstituierenden transzendentalen Lebens. Die geschichtliche Entwicklung von Menschengruppen und der sich ihr verdankende Wandel von Menschenwelten sind für ihn belanglos. Der zweite betrifft, wie zu erinnern, das Geschehen einer Geschichtsepoche, die auf ihrem Weg des theoretischen Erkenntnisfortschrittes einer Verfehlung und Verfälschung ihres lebensweltlichen Fundamentes und damit des Seins der Welt erliegt. Die Richtigkeit der Erkenntnisse der neuzeitlichen Naturwissenschaft wird nicht bestritten. Der Sinnverlust, den sie für die lebensweltlich lebenden Menschen im Gefolge haben, wird akzentuiert. Ihnen zugrunde liegt die eine und selbe Wahrnehmungswelt, die allen Menschen immer zugänglich gewesen ist und zugänglich ist. Diese Wissenschaft selber ist sozusagen ein Fehlschritt auf dem Wege des Erkenntnisprozesses, um den es in der Geschichte Europas geht, der durch die Phänomenologie korrigiert wird. Der durch die objektiven Wissenschaften und ihre Folgeerscheinungen herbeigeführte gegenwärtige Weltzustand verschuldet sich einem theoretischen Manko der Unaufgeklärtheit der neuzeitlichen Wissenschaft hinsichtlich ihres Ursprungs. Die Möglichkeit der Überwindung der Sinnkrise, die die sich absolut setzende neuzeitliche Art von Wissenschaft für den von der Idee der Universalwissenschaft geleiteten europäischen Menschen bedeutet, hängt davon ab, dass Husserl das in der Welt lebende Menschen-Ich als intentionales Bewusstseinswesen nimmt, dem die Welt der Intentionalität gemäß zu eigen ist, das aber im Laufe der Geschichte der Seinsidee eines Ansichseins folgt, die den der subjektiven lebensweltlichen Intentionalität zugehörigen Sinn von Sein (qua Ansichsein) verfehlt. Eine der Intentionalität unangemessene Idee von Sein wirkt sich im objektiven Weltwissen aus. Diese Gedankengänge Husserls erweisen sich als unhaltbar, wenn das Menschen-Ich in der Welt nicht in einer dem totalisierenden Objek266
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tivismus entgegengesetzten Weise als universal weltbezogenes Bewusstseinsleben begriffen wird, wenn es vielmehr so in der Welt sein soll, dass es sich in eine Differenz zu ihr setzt und sich als ein Differentes jener Differenz bestimmt, die nicht immer schon durch einen die Welt subjektivierenden intentionalen Bezug überbrückt ist, sondern aufgrund deren das Menschen-Ich das ihm Eigentümliche vom Welthaften, wie es als objektiv von ihm gewusst werden kann, unterschieden hält – und in ganz anderer Weise als unterschieden zusammenhält, als es durch die Intentionalität des Bewusstseins geschieht. Wie sich Menschen-Iche in der Welt und eine eventuell von ihnen her objektiv gewusste Welt ausnehmen, ist oben besprochen worden. Wenn die objektive Weltwissenschaft darin ihren Ausgangspunkt haben sollte, muss dieser keineswegs zur Naturwissenschaft der Neuzeit führen. Kann eine auf dieser menschen-ichlichen Differenzsetzung basierende, sich kontingent-geschichtlich hervorbildende objektive Wissenschaft die Welt ihrem Sein nach als ihrem Wissen gemäß betreffen – gerade indem sie mathematisch verfährt, ohne der Welt eine ihr als Lebenswelt unangemessene Seinsidee zu substituieren? Kann sich eventuell gerade dadurch Menschen-Ichen die Notwendigkeit auferlegen, die Welt auch als nicht konstante Wahrnehmungswelt oder als nicht objektiv gewusste Welt anzusehen. Diese Fragen steuern hintergründig die folgenden Überlegungen. Die vorweggestellte Unterscheidung zweier Rückgänge auf die Lebenswelt ist zu konkretisieren. Es kommt auf die Skizze der zweiten Lesart an. Sie bedarf zu ihrer genauen Fassung der Abhebung gegenüber der m. E. bei Husserl dominant bleibenden ersten Lesart. Die Problematisierung der zweiten Lesart kann zu einer von Husserl abweichenden Erklärung der menschen-ichlichen Voraussetzungen und zugleich auch des mathematischen Charakters des naturwissenschaftlichen Wissens genutzt werden, welche Husserls Erstellung des Logos des Seins in seiner Einheit an einem menschheitlich geeinten Menschen-Ich scheitern lässt, das in sich zwiespältig ist und die Welt deshalb nicht als eine einem universalen Wissen zugängliche Einheit, die es in allen seinen Bedürfnissen befriedigt, erscheinen lässt. Die Folge ist, dass es nicht umhin kann, sich in geschichtliche Bestimmtheiten hinein zu pluralisieren und die Welt in geschichtlichen Weisen zu »deuten«, gerade weil sie von selbiger objektiver Art ist.
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1. In Erfahrung und Urteil wird das In-die-Welt-hinein-leben des Menschen nicht nur so, wie es zur Genealogie des Urteils erforderlich ist, als Wahrnehmen, sondern als eine Einheit von Vortheoretischem, Theoretischem, Praktischem und geschichtlich Gewordenem angesetzt. Für diese Einheit wird der Titel Lebenswelt verwandt. (Vgl. EU 38) Es rücken Logik, Mathematik und neuzeitliche Naturwissenschaft in ihrer weltprägenden Wirkung und als deren Sedimentierungen in die Lebenswelt ein. Der Begriff der Lebenswelt müsste als eine solche Komplexionseinheit gefasst werden. Ihr zufolge hätte es die »Idee der Bestimmtheit des Seienden »an sich« mit allen ihr zugehörigen wissenschaftlichen Exaktheiten« zur Herrschaft gebracht. Die ursprüngliche intentionale Bezugseinheit von Bewusstseinsleben und Welt und die ihr zugehörigen anschauungsgesättigten Evidenzen wären zurückgedrängt. Welt zeigte sich nicht mehr in ihnen, sondern als durch Idealisierungen überformt. Dann wäre das Resultat derjenigen Konzeption der Naturidee des neuzeitlichen Geistes, die bei Galilei zum ersten Male »als fertige« auftritt, dass die Aufgabe der Wissenschaft, die Welt selbst, die Natur selbst zu erkennen, zugunsten einer vorgefassten Seinsidee aus dem Blick gerät. (Vgl. Krisis 56) Gegen diese Fassung der Lebenswelt ist festzuhalten: Eine solche verschiedenartige Momente einschließende komplikative These hat nichts mit der genetischen Konstitution des Urteils und des Formalen aus einer Welt der ursprünglichen Erfahrung von sinnlichen Individuen, ihrer Zeitlichkeit und der dieser zugehörigen Bildung von Dingidentität zu tun. Aus ihr müssen, wie ausgeführt, genetisch konstitutiv Logik und Mathematik als Sphären des allzeitlich Irrealen hervorgebildet werden können. Das genetisch phänomenologische Unternehmen kann ohne jede Rücksicht auf das durchgeführt werden, was in der Geschichte der europäischen Wissenschaften substruktiv idealisierend der Welt angetan worden ist, so dass eine dieser geschichtlichen Seinssinnentstellung zuvorliegende Welt verdeckt, übersehen worden ist. Diese aus der Krisis-Abhandlung vertraute These ist geschichtsphilosophisch interpretativ. Nennt man sie sinngeschichtlich, so ist sie von der genetisch phänomenologischen Sinngeschichte, in der von der Wahrnehmungswelt aus höherstufige Verstandesgegenständlichkeiten konstituiert werden, zu unterscheiden. Der Formalen und transzendentalen Logik liegt eine solche Verbindung zweier verschiedener Sinngeschichten noch recht fern. Sie ver268
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Das lebensweltliche Menschen-Ich
führt zu einem undeutlichen Umgang mit dem Wort Lebenswelt. Handelt man nur von Verstandesgegenständlichkeiten, ihrem Rückbezug auf Lebensweltliches und ihrer Anwendbarkeit auf die Welt, so liegt darin (noch) nicht die These, dass durch diese Verhältnisse der Welt ein ihr unangemessener Seinssinn von ideal-objektivem Ansichsein unterschoben wird. Der systematisch aufgeklärte Seinssinn der Verstandesgegenständlichkeiten als abkünftig ideal-irreal seiender lässt das gar nicht zu. Ihre Allzeitlichkeit hält einen wesentlichen Unterschied ihrer zur realen-zeitlichen Welt fest. Was geschieht in Sachen Zeitlichsein, wenn in der Neuzeit ideales Ansichsein der Welt als ihr wahres Sein substruiert wird? Im folgenden Satz aus Erfahrung und Urteil verrät sich die monierte Undeutlichkeit, die durch Husserls Rückgang auf die Lebenswelt hervorgerufen werden kann: »Wollen wir auf eine Erfahrung in dem von uns gesuchten letztursprünglichen Sinne zurückgehen, so kann es nur die ursprüngliche lebensweltliche Erfahrung sein, die noch nichts von diesen Idealisierungen kennt, sondern ihr notwendiges Fundament ist und dieser Rückgang auf die ursprüngliche Lebenswelt ist kein solcher, der einfach die Welt unserer Erfahrung, so wie sie uns gegeben ist, hinnimmt, sondern er verfolgt die in ihr bereits niedergeschlagene Geschichtlichkeit auf ihren Ursprung zurück – eine Geschichtlichkeit, in der der Welt erst der Sinn einer »an sich« seienden Welt objektiver Bestimmbarkeit zugewachsen ist auf Grund ursprünglicher Anschauung und Erfahrung«. (Vgl. EU 43 ff.) Es begibt sich zu Beginn von Erfahrung und Urteil also etwas Merkwürdiges. Es wird der Eindruck einer gewissen Zusammengehörigkeit von Logik, Mathematik und neuzeitlicher Naturwissenschaft erweckt. Nun gehören aber Logik und Mathematik dem universalen, im transzendentalen Subjekt verankerten Logos des Seins zu. Ihr Rückbezug und ihre Anwendbarkeit auf die Lebenswelt ist durch ihre Herkunftsklärung erledigt. Passt sich die neuzeitliche Naturwissenschaft nicht dieser Sicht der Dinge ein? Steht dem eventuell nur die ihr von der Phänomenologie unterstellte Idee vom Sein als Ansichsein und ihre scheinbar selbstzwecklich gewordene mathematische Formalisierung im Wege. Aber die neuzeitliche Naturwissenschaft kommt ohne diese beiden philosophisch interpretativen Hinsichten auf sie aus. Sie wird im übrigen durch sie auch nicht getroffen. Was bleibt, so gesehen, von der vielberufenen Krisis der Wissenschaft in einem neuzeitlichen Menschentum, dessen LebenstriebA
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kraft auf universalwissenschaftliche Welterkenntnis ausgerichtet sein soll? Ist sie mehr als ein vorübergehender »Betriebsunfall«, der durch den Rückgang auf die Lebenswelt und die durch ihn ermöglichte Universalisierung des Logos des Seins behoben werden kann? Aber dann könnte die neuzeitliche Naturwissenschaft mitsamt ihren Auswirkungen in Technik und Industrie als intakte und berechtigte Ausgestaltung der Lebenswelt genommen werden. Sie gehörte in die Entfaltung des Logos des Seins hinein. Diese ist zwar in Europa auf eine Geschichte angewiesen gewesen. Sobald jedoch die Phänomenologie auf den Plan tritt, endet diese Geschichte, und es beginnt eine neue Geschichte des universalwissenschaftlichen Erkenntnisfortschrittes, zu dem die von ihrer falschen Seinsidee befreite objektive Wissenschaft gehören könnte. Aber diese Rechnung ist ohne Menschen-Iche aufgemacht, die sich nicht als universal intentional auf die Einheit die Welt bezogene Bewusstseinswesen verstehen. Verständen sie sich so, dann müssten sie in sich das transzendentalsubjektive Ich als Seinsgrund der Welt entdecken können. Aber was sollte dieses Resultat einer theoretischen Operation im Bezug auf ein Leben, das kein phänomenologisches Bewusstseinsleben ist? Hier ist ein Punkt, an dem es sich nahelegt, auf eine Interpretation der Phänomenologie als praktische Philosophie einzuschwenken. Das liegt außerhalb des Interpretationshorizontes, der meine Interessen begrenzt. 2. Es wird auf eine ausführliche kritische Analyse der Paragraphen 9 ff. und einiger ihnen zugehöriger Beilagen der Krisis-Abhandlung, die eine Herleitung der neuzeitlichen Genesis der »Natur als eines mathematischen Universums« und dessen Charakterisierung enthalten, verzichtet. In allen diesen Textpartien ist dieselbe Denkart am Werk. Nach einer Kontrastierung von Husserls Thesen mit einer ihnen zuwiderlaufenden Charakteristik des modernen, naturwissenschaftlichen Weltwissens und seiner Verankerung in welthaften Menschen-Ichen lässt sich die phänomenologische Konzeption einer ihren universalwissenschaftlichen Anspruch im Subjekt gründenden Welteinheit durchbrechen. Es sei jetzt die oben angekündigte Analyse von Husserls Verständnis der Welt in ihrer objektiven Gewusstheit nachgeholt, damit gegen es die objektiv gewusste Welt als etwas ganz Anderes herausgestellt werden kann. Husserl knüpft den Beginn des Irrweges von Philosophie und 270
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Wissenschaft an Descartes und Galilei an. »Die Konzeption dieser Idee eines rationalen unendlichen Seinsalls mit einer systematisch es beherrschenden Wissenschaft ist das unerhört Neue«. (Krisis 19) Im § 9 der Krisis-Abhandlung hat Husserl am Beispiel Galileis als eines urstiftenden Denkers exemplifiziert, wie sich die Mathematisierung der Natur vermittelt durch die Geometrie zugetragen hat. Dazu war es erforderlich, die Natur so zu idealisieren, dass sie das Anwendungsfeld der exakten Physik der Neuzeit werden konnte. In alles anschaulich Gegebene der Umwelt mussten zu diesem Zweck zu vervollkommende Limes-Gestalten hineingedacht und experimentell-technisch realisiert werden. War das gelungen, war Exaktheit erreicht. Man konnte »in der geometrischen Welt idealer Gegenständlichkeiten« operieren. Die so erreichte Evidenz zum Problem zu machen, lag dem Geometer Galilei fern. Die Sinnlichkeit und der dadurch eröffnete Zugang zur Welt wurden abgewertet. Konnte ihre Leistung doch selber objektiviert werden. Der Sinnlichkeit und der Welt wurde eine exakte Kausalität eingelegt. Idealisierendes Messen begann seinen Siegeszug: »Ist das aber anders möglich als dadurch, dass die Methode der Messung in Approximationen und konstruktiven Bestimmungen hineinreiche in allen realen Eigenschaften und real-kausalen Bezogenheiten der anschaulichen Welt, … (Ebd. 31) Irgendwann ist es soweit, dass auf die Physik bezogene Mathematiker, die in der arithmetischen Raum-Zeit-Sphäre angesiedelt sind, mit Experimentalphysikern zusammenarbeiten. Beide sind auf die »Zahlengrößen, auf allgemeine Formeln« ausgerichtet. »Alle Entdeckungen der alten wie der neuen Physik sind Entdeckungen in der sozusagen der Natur zugeordneten Formelwelt.« (Ebd. 48) Diese Vorgehensweise endet mit einer äußerlichen Technisierung, in der es vornehmlich auf das mathematische Denken ankommt. Der Formelsinn überlagert seine eigene Sinngenesis. Phänomenologisch entscheidend ist, dass sich von Galilei an eine »Unterschiebung der mathematisch substruierten Welt der Idealitäten« für die in lebendiger Intentionalität erfahrene Welt abzeichnet. Diese Unterschiebung einer als ideal ansichseiend zu erkennenden Welt widerfährt der als wahrnehmungsmäßig erlebten Welt. Darin liegt das Problem. Die Unterschiebung erfolgt auf dem Boden einer bereits in Geltung stehenden euklidischen Geometrie, die schon nicht mehr als Idealisierungsleistung verstanden ist, so dass sie auch nicht mehr lebendig getätigt werden musste. (Vgl. hierzu Husserls Abhandlung Vom Ursprung der Geometrie, die sich in der Beilage III A
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zu Paragraph 9a in der Krisis-Abhandlung auf Seite 365 ff. findet.) Gegen die Resultate der geschichtlich von weither kommenden Verbindung von Rationalität und mathematisierendem Denken ist ihr ursprungsechter Sinn durch Rückgang auf die Lebenswelt wieder ans Tageslicht zu befördern. Das philosophisch Verwirrende der Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft soll letztendlich, wie oben angedeutet, darin liegen, dass man der Einheit von angewandter Mathematik und physikalisch Seiendem die Seinsweise des Existenten der reinen Mathematik als formal-analytischer Ontologie unterstellt. Die Natur ist in ihrem »wahren Sein an sich mathematisch«. Von diesem An-sich bringt die reine Mathematik der Raumzeitlichkeit eine Gesetzesschicht in apodiktischer Evidenz, als unbedingt allgemein gültige, zur Erkenntnis: unmittelbar die axiomatischen Elementargesetze der apriorischen Konstruktionen, in unendlichen Mittelbarkeiten die übrigen Gesetze. Hinsichtlich der Raumzeitform besitzen wir eben das uns (wie es später heißt) »eingeborene Vermögen«, wahres Ansichsein als Sein in mathematischer Idealität (vor aller wirklichen Erfahrung) bestimmt zu erkennen. Implizite ist sie selbst uns eingeboren«. (Krisis 54 f.; vgl. auch ebd. 387 ff.; Beilage IV, in der Husserl der Physik des 20. Jahrhunderts Rechnung zu tragen versucht) Es soll sich eine Verwandlung des Seinssinnes der Welt zugetragen haben, die als eine Verwechslung des Seins der Welt mit den Resultaten einer gewissen Methode der Welterkenntnis zu verstehen ist. »Das Ideenkleid Mathematik und mathematische Naturwissenschaft, oder dafür das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befasst alles, was wie den Wissenschaftlern so den Gebildeten als die »objektiv wirkliche und wahre« Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, dass wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist - …« (Ebd. 52; vgl. auch ebd. 357 ff.; Beilage II) Es dient dem Zweck, lebensweltlich »rohe Voraussichten« zu verbessern. Die Ergebnisse dieses methodischen Vorgehens kommen an das Sein der Welt, so wie es im intentionalen Bewusstseinsleben sich macht und gibt, nicht mehr heran. Aber sind sie nicht genauso wie Beschreibungen in Ist-Sinn formuliert. Kann dieser umhin, sich auf die Welt selber (ihrem Sein) nach zu berufen? An diesen Punkt knüpft die gleich zu führende Attacke an, die behaupten wird, dass die Welt (auch) so ist, wie sie in der objektiven Wissenschaft gewusst wird. Husserl schreitet in folgender Weise fort: Die sich universalisierende objektivierende Wissenschaft von der Welt greift 272
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auch auf den Menschen über. Sie macht ihn zu einem Teil der objektivierten Natur. Sein psychisch und geistig Subjektives leidet dabei Not. Es sucht sich unzulängliche Auswege, die keinen Zugang zu lebensweltlich und transzendental universal leistendem Subjektivem verstatten. Gegen die Aufspaltung der Welt nach Objektivem und ihm gegenüber in Notwehr stehendem, als Weltbestandteil begrenztem Subjektivem werden Lebenswelt, intentionale Psychologie und transzendentaler Subjektivismus ins Feld geführt, um so die Einheit der Welt von einem universalisierten und fundamentalisierten Subjekt aus zu retten. (Vgl. z. B. Krisis 61 ff.) Aber ihre Einheit ist nicht in einer solchen Art von Wissen zu retten. Es ist dabei zu bleiben: Die Lebenswelt ist für Husserl ungeachtet aller physikalischen Welterkenntnis dieselbe, die dem intentionalen Bewusstsein – wenigstens in seiner phänomenologischen Beschreibung – immer gegeben war. Sie wird als ein fundierendes Apriori bestimmter wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen nicht selber zu einer geschichtlichen Lebenswelt des Sinnes, dass eine solche Lebenswelt es erforderlich macht, von verschieden gearteten Lebenswelten und ihren jeweiligen geschichtlichen Menschentümern zu sprechen; und zwar so zu sprechen, dass auch die uns heute zugängliche Welt (objektiv gewusste wie sogenannte Lebenswelt eingeschlossen) eine bestimmte geschichtliche Welt des Sinnes ist, dass für sie Ontologisches, Strukturelles, Zeitinvariantes oder teleologisch wirkende Ideen nicht ihre wesentliche Bedeutung ausmachen. Was ist geschehen, wenn eine so bestimmte geschichtliche Gegenwart zu fragen genötigt ist, was philosophisch als Welt zu denken ansteht? Wohlgemerkt, ohne dass unterstellt wird, dass das, was der Welt durch die mathematische Naturwissenschaft der Neuzeit widerfahren ist, einem Missverständnis des Seins der Welt, das einer bestimmten Methode zugeschrieben wird, verschuldet sein soll. Bei Husserl ist es der Fall, dass nach der Dekouvrierung und Aufklärung des in der Neuzeit zur Herrschaft gekommenen universalwissenschaftlichen Ideals der Einordnung der Neuzeit in eine ihr phänomenologisch unterstellte Teleologie, deren Telos die Phänomenologie selber ist, keine Hindernisse mehr im Wege stehen. Die Erreichung dieses Telos ermöglicht aber die zur Realisierung einer philosophischen Universalwissenschaft benötigte Einigung von Welt und Menschen-Ich und transzendentalem Ichsubjekt, die sich Zeit und Geschichte in ihrer Weise zudenkt; so zudenkt, dass die neuzeitA
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liche Naturwissenschaft für die Welt und das sich in ihr haltende Menschen-Ich keine geschichtszeitliche Revolution bewirkt hat. 3. Es sei zunächst gegen Husserls Konzeption die Eigenart der heutigen Physik angedeutet. Die Physik hat sich, wie es scheint, in ihren selektiven Anwendungen der Mathematik zur Beschreibung der Welt nie zu einer Identifizierung von mathematischer mit physikalischer Existenz hinreißen lassen. Eine rein mathematisch verfahrende Mathesis universalis, geschweige denn ein sich verselbständigendes Formelspiel mit Symbolen hätten sie als Realwissenschaft in die Irre geführt. Ihre Angewiesenheit auf den Fortschritt der experimentellen Möglichkeiten, deren Ergebnisse in Theorien ihren Ort haben, hindern sie daran, sich dem Bild auszuliefern, das Husserl von ihr zeichnet. Die vielen Feinabstimmungen, die im Universum und in der Natur vorliegen, lassen sich nur experimentell feststellen. Von der reinen Mathematik her betrachtet sind sie unzugänglich und kontingent. Auch grundlegende Naturkonstanten entkommen diesem Verdacht nicht. Selbst eine Weltformel, wenn es sie denn geben sollte, beträfe vielleicht nur unser Universum als raumzeitliche Lokalität. Selbst sie wäre an mathematische Beschreibungen der Welt gebunden, an die sich durch die reine Mathematik als Mathesis universalis, als Strukturwissenschaft oder als Konstruktionsgebilde nicht herankommen lässt. Im Bezug auf das der reinen Mathematik zugehörige Vorgehen sollte das Wort Beschreiben nicht verwendet werden. Kurzum: Von einer sich in der Physik auswirkenden Idee einer An-sich-Bestimmtheit des Universums und der Natur sollte keine Rede sein. Die Physik versteht deswegen auch umgekehrt Universum und Natur als Prozesse und Resultate eines Weltwerdens. Sie sind auf physikalische Zeit als Moment der Raumzeitunion angewiesen. Die Resultate des Weltwerdens sind nicht von Ausgangsgegebenheiten her determiniert gewesen. Das betrifft auch den Menschen als Produkt der Naturevolution. Die Bewegungsrichtung der Naturwissenschaft ist gegenläufig zu der ihr durch Husserl von der Eigenart des Mathematischen her zugeschriebenen. Sie greift nicht auf eine Vorausbestimmtheit dessen, was ist, aus, sondern berücksichtigt dessen Hervorbildung aus Zuständen heraus, die insofern unbestimmt-offen sind, als sie Hervorbildungen von im Allgemeinen bestimmtem Besondertem wie Atomen, Sternen, Lebendigem zulassen. Die Zeitmodalität des Weltwerdens, dem, von Ausgangspunkten her gesehen Unbestimmtheit im Horizont der Zukunft zu eigen ist, ist 274
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der mathematischen Naturwissenschaft eine Selbstverständlichkeit. Mathematischem geht sie ab. Was haben solche laienhaften, unphilosophischen Bemerkungen zur naturwissenschaftlichen Weltsicht mit Husserls Rückgang auf die Einheit von Menschen-Ichen als intentionalen Bewusstseinswesen und ihrer Lebenswelt zu tun? Sie haben ihre Pointe nicht etwa darin, dass Husserl die neuzeitliche Naturwissenschaft falsch gesehen hat, sondern darin, dass Menschen-Iche in der Welt keine universell weltbezogenen intentionalen Bewusstseinswesen sind, weil sie sich und die Welt auseinander-setzen. Aufgrund dessen unterscheiden sie ihnen als lebendigen Sprachwesen im Bezug auf die Welt eigentümlich Zukommendes von dem, was der Welt, sofern sie aus dieser Rücksicht entlassen ist, eignet. Sie scheiden dann die Welt einer objektivierenden Darstellungsweise von anderem Ihrigem, das sie im Wissen jener Darstellungsweise nicht wiederfinden, das fordert, die Welt auch in anderer Weise zu sagen. Das aber so, dass sie zwischen beidem keine Begründungseinheit herstellen, die nicht von ihnen, sondern von einem Ichsubjekt in ihnen geleistet werden muss. Diese Art der Stiftung von Welteinheit ist das Problem. Unter dieser Voraussetzung aber gilt, dass ihre Verwandlung der einen, alles Seiend umfassenden Welt nicht mehr von der Art sein kann, dass sie diese ihrem Sein nach zu ihrem Konstitutum immanentisieren kann; denn diese Welt lässt Weisen von Wissen und Deutungen ihrer zu, deren sie, um es altmodisch auszudrücken, als schöpferische natura naturans nicht bedarf, deren ihre Geschöpfe aber bedürfen. Wie die der entphänomenologisierten Welt immanente Zeit allerdings vom absoluten Zeitfluss des inneren Zeitbewusstseins aus zugänglich werden könnte, ist ein Rätsel. Kein Rätsel ist, wie aufgrund der Zeitlichkeit des Universums und der Evolution Menschen in der Welt haben hervorgebracht werden können, die als solche erst zu transzendentalen, Welt konstituierenden und dadurch die Welt verwandelnden Ichsubjekten er-dacht zu werden vermochten, denen eine eigengeartete Zeitlichkeit zu eigen ist – welche die Welt in Verwandlungen hineinzuziehen gestattet. Sobald dies gewusst wird, können sie sich selber ein-schließende gedankliche Totalisierungsbewegungen im Bezug auf eine in bestimmter Weise als seiend gewusste Welt als geschichtlich-kontingent verstehen. Das Wissen der neuzeitlichen Naturwissenschaft nimmt sich selber in dieser Weise. Aber es nimmt nicht das in ihm maßgebende, seinen symbolischen Ist-Sinn A
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bestimmende Ist, nämlich die Welt, in dieser Weise. Das hat seinen Grund nicht in seiner die Lebenswelt als Sinnesboden vergessenden Objektivierungsart, sondern in der im voraufgegangenen Kapitel analysierten Weise des Menschen-Ich, sich und die Welt durch eine Seinsdifferenz auseinander-zu-setzen. Die Naturwissenschaft der Neuzeit kappt deswegen nicht den Bezug zur Einheit von intentionalem Bewusstsein und Lebenswelt. Diese Einheit ist bereits durch die sich im Menschen-Ich erzeugende Seinsdifferenz so zerbrochen, dass sie zu zwei Differenten führt – nicht nur zu psychisch Subjektivem im Unterschied zu Physischem, sondern zu einem die Welt selber in differenter Weise in sprachlichen Ist-Sinn einbeziehenden Subjektiven einerseits und zu einer aufgrund der Differenz zu diesem Subjektiven objektiv beschreibbaren Welt andererseits. Aus ihr kann von Menschen das zuerst genannte Differente zunächst herausgelassen werden. Von ihm aus kann die Welt in eine andere (z. B. hermeneutische) Art von Ist-Sinn hineingebracht werden in geschichtszeitlich bedingter Weise. So gesehen ist die objektive Wissenschaft der Neuzeit zwar ein kontingentes geschichtliches Vorkommnis, das die Welt verändert hat, aber zugleich ein Tun, das sich von der Eigenart der menschenichlichen Welterfahrung her unter bestimmten geschichtlichen Umständen nahelegte, durch das die Lebenswelt nicht verdeckt wurde. Ihre Aufdeckung als Sinnesboden der objektiven Wissenschaft, sofern deren Relevanz in der Rückgewinnung der Einheit von intentionalem Bewusstseinsleben und in ihm gegebener Lebenswelt liegen soll, berührt die objektive Wissenschaft insofern nicht, als sie von einem durch das Menschen-Ich in der Welt sich erzeugenden Unterschied, durch den diese Einheit negiert ist, ausgeht. Geht man hinter diesen Unterschied auf ein transzendentales Subjekt zurück und hebt ihn dadurch auf, so ist man in einer anderen Welt gelandet, als es diejenige ist, die sich von Menschen-Ichen her im Wissen der objektiven Wissenschaft hervorgebracht hat. Aus diesem geschichtlichen Dissoziationsvorgang resultieren verschiedene Reden von Welt, die Husserls Vorhaben desavouieren. 4. Es sei abschließend der Versuch gewagt, die Einheit der durch die Seinsdifferenzsetzung des Menschen-Ich in der Welt erzeugten Objektivität der Welt und eines ihr immanenten Mathematischen anzudeuten. Diese Einheit rechtfertigt den Anspruch der objektiven Wissenschaft, die Welt so zu erkennen, dass ein intentionales Bewusstseinsleben für sie nicht als Welt-stiftender Weltbezug in Frage 276
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kommt. Wie sich die im Gefolge der objektivierten Welt auftretende Sinnleere auf den Weltbezug von lebendigen Sprachwesen problematisierend auswirkt, ist die weiterführende Frage. Der ohne Rücksicht auf die Geschichte genommene Zusammenhang der Resultate von objektivierenden Aussagen mit der Anwendung von Mathematischen auf sie, lässt sich vielleicht in der folgenden Weise herstellen: In den Geeintheiten von Ist-Sinn und Ist, welche sich in objektivierenden Aussagen erzeugen, stellen sich die Tatsachen so dar, dass sie keine Rückbeziehung auf das Aussagen und auf das es tätigende Wesen zulassen, mittels deren sich dieses selber als solche Aussagen tätigendes bestimmen könnte. Es schaltet sich in seinem Eigentümlichen aus dem Umkreis der Tatsachen aus. Unter dieser Voraussetzung lässt sich Mathematisches auf das, was so entsubjektiviert-objektiviert worden ist, beziehen; zur Darstellung, zur Beschreibung von, wie es scheint, ihm außerwesentlichen Naturhaften nutzen. Aber diese Ausdrucksweise ist misslich. Denn, ist erst einmal dafür gesorgt, dass es Naturhaftes als von einem es objektivierenden Menschen-Ich von sich unterschiedenes gibt, und passt Mathematisches auf derart ins Sein gesetztes Welthaftes, so tritt dieses in mathematische Bestimmtheit, auch wenn und sofern es einem Weltwerden eingeordnet wird, das evolutiv pro-zediert. Der Welt als dem zeitlichen Weltwerden ist es dann immanent, mathematisch zu verfahren. Gegenüber dieser Einigung von Weltwerden und Mathematischem tritt der in lebendigen Sprachwesen, die als Evolutionsprodukte nicht von mathematischem Denken dominiert sind, sich sprachlich tätigende Entsubjektivierungs-Objektivierungsprozess in den Untergrund, der die Tatsachenwelt schafft, indem er das lebendige Sprachwesen im Spielraum seiner weiteren Möglichkeiten und Bedürfnisse ausschaltet. Ein sich nur in seinem Rahmen haltendes Beschreiben von Tatsachen wird naturwissenschaftlich unergiebig. Das mag zu der abkürzend missverständlichen Formulierung verleiten, die Naturwissenschaft verfahre mathematisch. Aber sie verfährt, genauer gesagt, nur mathematisch, sofern sie das aus der Mathematik von ihr benötigte Mathematische an naturbezogenen Beobachtungen, Experimenten und Theorien ausrichtet. An diesen Naturbezug und die sich aufgrund seiner ergebenden Bestimmtheiten käme die reine Mathematik nicht heran. Wie sollte es möglich sein, dass zeitenthobene Denkgebilde der reinen Mathematik auf nur empirisch zugängliches zeitlich Welthaftes passen; z. B. so passen, dass durch das Mathematische dem vom A
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Menschen-Ich erfahrenen Welthaften nicht eine Verfälschung widerfährt oder dass es für den menschlichen Weltbezug schädliche Auswirkungen hat oder dass sich Wahrheiten über Fakten und ewige Wahrheiten in die Quere kommen? Es sei eine Blickrichtung auf den Bezug zwischen Naturerkenntnis und rein mathematischer Erkenntnis, die zu solchen Fragen verleitet, verlassen. Versuchen wir uns einmal in eine andere hineinzubegeben – mag diese auch auf den ersten und zweiten Blick als verrückt erscheinen. Warum sollte es ein Weltwerden, das in kontingenten, sich komplikativ steigernden mathematischen Bestimmtheiten prozediert, nicht in einigen lebendigen Sprachwesen als seinen »Geschöpfen« zur Ausbildung der reinen Mathematik gebracht haben, die selektiv benutzt werden kann, um die von ihr aus unzugänglichen, weil kontingenten empirisch besonderten Prozesse des Weltwerdens zu beschreiben, indem die Mathematik auf deren Erforschung angewiesen bleibt – was die Mathematik als reine Mathematik nichts anzugehen braucht. Manko und Belanglosigkeit der Mathematik für die geschilderten Prozesse, die sich in lebendigen Sprachwesen abspielen können, springen in die Augen, wenn man bedenkt: Diese halten sich aus dem Weltwerden heraus, benutzen dazu im Extremfall zu einer Objektivierung die ihm durchaus angemessene Mathematik. Eine solche Welt lässt trotz aller Vorzüge für die sie so wissenden Wesen diese in mehrfacher Hinsicht leer ausgehen. Sie kann sie nicht damit versöhnen, dass sie als natureinbehaltene, sich als vom Naturhaften unterscheidende den Unterschied auch in einen sprachlichen Ist-Sinn hineinbringen müssen, der Welt und Mathematik nicht berührt. Sie kann sie auch nicht aus ihrer Natureinbehaltenheit als einer Naturverfallenheit erretten und ihnen einen Weg über sie hinaus eröffnen. Es sollten also zunächst mathematische Verhältnisse dem Weltwerden und dann sollte die Mathematik selber der in Menschen sich übersteigenden Naturevolution zugedacht werden: als ein sich in ihnen produzierendes Gebilde, das sich in seiner Art von Wissbarkeit von aller Naturbezogenheit abgelöst hat. Durch dieses Gebilde einige Menschen derart über die Natur und das Weltwerden zu erheben, dass es die Menschen als weltüberlegene geistige Wesen auszeichnet, und ihren »Besitz« zu einem Moment ihrer Selbstbestimmung zu machen – so zu denken, verpasst der vorgeschlagenen Interpretation zufolge die Zusammengehörigkeit von Weltwerden, Naturevolution und an sie anschließender Entwicklung menschlichen Denkens. 278
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Unerachtet der Mathematik sollten sich Menschen der Naturevolution in dem Sinne zugehörig sein lassen, dass sie von ihr aus sich herausgesetzt sind und dabei zugleich auf sie zurückbezogen bleiben, ohne dass ihnen durch die Mathematik ein Ausweg über die Natur hinaus eröffnet wäre. Solche Auswege sind nur von der zur Naturverhaftung der Menschen gehörenden Distanz zur Natur zu gewinnen, nachdem einmal Metaphysik und metaphysische Philosophie und Idealismus abgetreten sind. Situiert man die so gesehene Sachlage im Rahmen der lebendige Sprachwesen auszeichnenden Sprachvermöglichkeit und von weltbezüglichen Realisierungen dieser Vermöglichkeit, so ist zu sagen: Die sich in lebendigen Sprachwesen ereignende Differenzsetzung zwischen sich und der Welt, hat zwei Differente erzeugt, von denen eines bezüglich der Welt, die jene Wesen aus sich entlassen hat, in einen Unbestimmtheitshorizont hineingeraten ist, den diese durch Realisierungen von Sprachvermöglichkeit so ausfüllen können, dass nicht mehr vorweg entschieden ist, wie ihnen die Welt ausfallen wird; unangesehen dessen, dass die Welt von ihnen so als seiend gewusst werden kann, dass sie als autonomes Weltwerden, das mathematisch pro-zediert und in ihnen und durch sie mathematisch beschreibbar geworden ist, sie auch als in sich einbehaltene und zugleich ihr entfremdete Wesen hervorgebracht hat. Von einem sich in dieser Weise übersteigenden Weltwerden her können sich lebendige Sprachwesen als Naturwesen bestimmen, ohne dass von der Mathematik her dagegen ein Einwand zu erfolgen braucht. Auf diese Seite ihrer wird hier nicht eingegangen. Sie wird dem Gesichtspunkt von Realisierungen von Sprachvermöglichkeit untergeordnet. Die Sprachvermöglichkeit lebendiger Sprachwesen aber begreife in sich, dass diese sich selber als fragwürdig gewahren können: Sie vermögen sich zum Zweck objektivierender Erkenntnis aus der Welt herauszuhalten und so das eigene Leben nicht zu engagieren, nicht aufs Spiel zu setzen. Einen Höhepunkt erreicht dieses Sich-heraushalten-können von lebendigen Sprachwesen aus der Natur, wenn es in der Gestalt der mathematischen Objektivierung auftritt. Was lebendige Sprachwesen, die ihrer selbst innegeworden sind, zur Selbstbestimmung im Unterschied zum mathematisch prozedierenden Weltwerden und zur Mathematik benötigen, können sie aus beiden nicht gewinnen. Sie müssen sich als lebendige Sprachwesen das Ihrige, sofern sie nicht durch das als objektiv seiend Gewusste des Weltwerdens und der Mathematik beA
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stimmbar sind und sich durch seine Berücksichtigung nicht erschöpfend sagen lassen, in anderer Weise besorgen; nämlich sich die Welt anders aufgehen lassen, so dass sie nicht im Universum des als objektiv seiend Gewussten aufgeht. Die Welt und ihre Mathematik und die lebendigen Sprachwesen lassen sich nicht zu einer Seinseinheit vereinigen, weil das Weltwerden lebendige Sprachwesen erzeugt hat, die in sich selber keine Seinseinheiten sind. Im Rückbezug auf sie und ihnen als Vernunft, Geist, Subjekt oder Anderes zugedachte Bestimmtheiten lässt sich keine Einheit des Wissens von der Welt gründen.
§ 33 Die teleologische Geschichte der Phnomenologie vor dem Hintergrund geschichtlicher Weltbildungen Thema dieses Paragraphen ist die teleologische Einheit die Geschichte, wie sie einer sich durch die transzendentale Phänomenologie verwandelnden Menschheit ansichtig werden soll, vor dem Hintergrund von geschichtszeitlichen Weltbildungen, die Menschen-Ichen durch die objektiv gewusste Welt qua Weltwerden abgenötigt sind. Das Vielheitliche jeder Art, das in der Welt als Lebendiges, als Menschenweltliches, als Geschichtliches aufgetreten ist und auftritt, sei zunächst wieder in der Weise in den Blick gerückt, welche die phänomenologische Methode gemäß der ihr zugehörigen transzendentalsubjektiven Grundlage und ihrem konstitutiven Anspruch erfordert. Der Zugang zum Sein des Geschichtlichen ist dann durch das in sich reflektierte, einzige, absolute Ichbewusstseinssubjekt erschlossen, das, indem es zur Selbstgegebenheit bringt, konstituierend tätig ist und als Selbstgegebenes anschaut. Mit dem so als seiend Erschauten muss menschenweltlich Geschichtliches zusammenstimmen. Hat es sich selber konstituiert und ist dementsprechend oder wird es vom Phänomenologen konstituiert und ist es, was es ist, dessen Leistung entsprechend, so dass die Leistung des Bewusstseins des konstituierenden Subjektes von dem, was ist, sich von der Selbstkonstitution von Geschichtlichem unterscheidet? Bewusstseinsleben ist intentional leistendes Leben auch im Falle des Geschichtlichen der Lebenswelt, die in ihm Sinn und Geltung gewinnt. »Konstituierte Leistung in diesem Sinne ist alle real mundane Objektivität, auch die der Menschen und Tiere, auch die der 280
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Die teleologische Geschichte der Phnomenologie
»Seelen«. Demnach gehört jedes seelische Sein, gehört auch objektive Geistigkeit jeder Art (wie menschliche Gemeinschaften, Kulturen) und desgleichen die Psychologie zu den transzendentalen Problemen«. (Krisis 208; vgl. auch Cart. Med. 109 ff.) Es folgt später, wie üblich: »Ich kann aber die transzendentale Umstellung – in welcher sich die transzendentale Universalität erschließt – vollziehen und verstehe dazu die einseitige verschlossene natürliche Einstellung als eine besondere transzendentale, als die einer gewissen habituellen Einseitigkeit des genannten Interessenlebens.« (Krisis 298) Das kann man tun, aber man kann es auch unterlassen. Wenn aber das frei vermöglich Getätigte, dasjenige ist, in dem der Seinssinn alles Seienden aufgeht und von dem dieser abhängt, so ist es Weltursprungseröffnung. Diese Bedeutung wird ihm von dem ihm zugedachten Resultat her zugeschrieben. Unterlässt man seine Tätigung, wird man des Ursprungs und des Sinnes des Seienden nicht ansichtig. Man ist dann in anderer Weise und versteht sich und sagt sich in anderer Weise, wie Menschen in der Welt dies tun können und tun. Geschieht das, so ist die Phänomenologie in den Augen von weltlichen Menschen-Ichen weniger wissende Herrin über das Sein der Welt als selber ein sonderweltliches Luftgespinst. Dem so für die Phänomenologie blinden Weltwerden in geschichtlich-kulturellen Menschentümern können sich andersartige Philosophien zugesellen, die die Lebenswelt nicht als Resultat einer verschlossenen einseitig natürlichen, sich ihrer Transzendentalität nur nicht bewussten Einstellung setzen. Solchen Möglichkeiten, welche der Korrelationseinheit zwischen transzendentalem Subjekt, Mensch und Welt nicht bedürfen, beugt Husserl durch die für die Phänomenologie vereinnahmte geschichtlich-herrschende Vernunftteleologie vor, wie sie im I. und II. Teil der Krisis-Abhandlung vorgestellt ist und im Schlusswort, das diesem Werk vom Herausgeber beigefügt worden ist, pathetisch zum Ausdruck kommt. Der Geschichte wird hier eine zunächst unbewusst sich auswirkende teleologische Richtung, der sich Hindernisse in den Weg stellen, eingelegt. In ihr erwachsen Zweckideen und ein diesen gemäßes Zweckleben. In ihrem Gefolge bildet sich das Menschentum im Sinne der europäischen Kultur, ihrer Philosophie und Wissenschaft um. »Die dritte Stufe ist Umwandlung der Philosophie in Phänomenologie, mit dem wissenschaftlichen Bewusstsein von der Menschheit in ihrer Historizität und der Funktion, sie in eine Menschheit zu verwandeln, die sich bewusst von der Philosophie als Phänomenologie leiten lässt.« (Krisis 502; BeilaA
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ge XXVI) Diese hat als »apodiktisch begründete und begründende Wissenschaft« zugleich den Charakter einer Idee, die als Lebenstriebkraft wirkt und menschheitliche Autonomie sichert. (Vgl. ebd. 273) Vorläufig sind allerdings erst, wie gesagt, die phänomenologisch Philosophierenden die beruflichen Funktionäre dieser Idee. Wenn es unter Husserlschen Voraussetzungen darum geht, die Welt in ihrem geschichtlichen Werden mitsamt ihrer unbestimmten Zukunft einzuholen, bleibt dann etwas anderes übrig, als ihr eine Teleologie einzulegen, die sich an einem als erreicht in Anspruch genommenen Telos bemisst? Jedoch: Ist ihre Einführung nicht gleichbedeutend mit einem Geschichte totalisierenden Entwurf, der sich schwerlich mit den Grundzügen der phänomenologischen Methode in Einklang bringen lässt – selbst wenn man für das intentionale Bewusstsein in seiner Ausrichtung auf Evidenz und deren Realisierung in einem begrenzten Rahmen eine teleologische Struktur akzeptieren würde. Auf diese alles menschliche Maß überschreitende und überfordernde Konzeption sei nicht näher eingegangen, sondern es sei nur noch Husserls Zugriff auf das Geschichtliche der Lebenswelt so beleuchtet, dass ihm geschichtszeitliche Weltbildungen entzogen werden; dass diese ihre phänomenologische Sicht von sich abweisen. Denn sie machen sich so, dass in ihrer konstitutiven Erschauung nicht ihr Sein liegt; dass sie nicht phänomenologisch (nämlich als ein fertiges Endprodukt des Konstituierens) von einem ihnen sich zuwendenden Ichsubjekt konstituiert werden können. Das transzendentale Ichsubjekt muss sich als Menschen-Ich in der Lebenswelt wiederfinden. Wie nimmt sich dieses Wiederfinden transzendentalphänomenologisch aus? Von woher wird es dirigiert? »Aber in der Epoché und im reinen Blick auf den fungierenden Ichpol und von da auf das konkrete Ganze des Lebens und seiner intentionalen Zwischen- und Endgebilde zeigt sich eo ipso nichts Menschliches, nicht Seele und Seelenleben, nicht reale psychophysische Menschen – all das gehört ins »Phänomen«, in die Welt als konstituierten Pol.« (Krisis 187) Etwas Derartiges zeigt sich nicht, wenn Menschen sich in geschichtlich-kulturell-sozialer Bestimmtheit finden und verstehen und als so bestimmte und sich bestimmende Thema eines theoretischen Interesses werden. Gegenüber Husserls philosophisch motiviertem Vorgehen ist der Spieß umzudrehen. Das transzendentale Ichsubjekt muss sich als Menschen-Ich in der Le282
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benswelt unter Menschen-Ichen wiederfinden, nicht aber das Menschen-Ich im transzendentalen Ichsubjekt. Treten Menschengruppen in geschichtliche Prozesse ein, so verwandelt sich ihre Auffassung ihrer selbst und der Welt. Werden in dieser Verwandlung Philosophie und Wissenschaft und deren Art von Wissen diejenigen Auszeichnungen von Menschen, durch die sie sich definieren, so kann das ein geschichtszeitlich partikulärer und kontingenter Vorgang sein. Nur wenn man sich in ihm findet, sich in ihn hineinbegibt und in ihm eine Gedankenwelt aufbaut, die den Anspruch erhebt, den Weltgrund im transzendentalen Subjekt und dem absoluten Zeitfluss gefunden zu haben, nötigt man sich, die geschichtlichen Prozesse als vorbereitende Hinführung zu dem, was ist und sein wird, zu nehmen. Dieses Nehmen kann sich nicht als Interpretieren verstehen. Es kann nicht umhin, zu setzen, dass es schlechthin so sei, weil es in einer Weise endgültigen Wissens über alles Seiende befindet. Husserl baut auf dem Fundament der Erfahrungswelt qua Wahrnehmungswelt Bedeutungszuwächse auf. Genauer gesagt: Die Lebenswelt weist in menschenweltlichen Kulturen und Geschichten Bedeutungssphären auf, die sich von der Eigenart einer bloß wahrgenommenen Dingwelt unterscheiden und sich über ihr im Sinne des Husserlschen Fundierungstheorems aufbauen. Dieser Satz ist pseudodeskriptiv. Er darf nur als Ausgangspunkt für die folgende Frage gelesen werden: Wie geht das so als unterschieden Gesetzte in Einheiten ein, wie findet es sich in solchen Einheiten wieder? Es gibt keine eindeutige Antwort auf diese Frage, weil eine jede Antwort relativ ist auf Erfahrungen von Menschen, auf Resultate der Geschichte im allgemeinen und der Denkgeschichte im besonderen; auf philosophische Konzeptionen, welche Weltbildungen betreffen und selber Weltbildungen sind. Sie müssen sich nicht Husserls Konzeption fügen. Wie sollte man umhin können, in dem grob angezeigten Raster Entscheidungen zu treffen, wenn man sagen will, die Lebenswelt sei so oder so verfasst? Die Ansetzung der fundamentalen Lebenswelt als Gegenstand eines zu Selbstgebungen des welthaft Seienden führenden Wahrnehmens und des in ihm fundierten Aufbaus höherer Bedeutungssphären, ist eine solche Entscheidung. Diese Entscheidung ist durch die phänomenologische Methode und durch die Bindung des transzendentalen Ichsubjektes an ein inneres Zeitbewusstsein, das zum Zwecke primärer Weltkonstitution auf sinnlich-hyletische Daten angeA
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wiesen ist, bedingt. Husserls Sätze zur Lebenswelt treten als anschauungsbezogene Deskriptionen auf. Der in ihnen erfolgende Zugang zur Welt ist nicht entscheidungsunabhängig möglich gewesen. Geschichtlich aufgetretene kulturweltliche Differenzen sind ein wesentliches Ingredienz, dessen Menschen-Iche bedürfen, an dem sie aufgrund von Herkünften festhalten, die keineswegs universal anthropologisch und lebensweltlich ontologisch sind. Zwischen verschiedenen Kulturwelten wird um Bestand, Einfluss und Ausweitung gekämpft. Wissenschaftliches Wissen kann dabei ein Wirkfaktor sein. Aber in ihnen pflegt es um mehr als um wissenschaftlich Wissbares zu gehen. Sie hängen mit der Befriedigung von Totalisierungs- und Vereinheitlichungsbedürfnissen zusammen. Es kann in der Weltgeschichte vorkommen, dass diese auch durch philosophisch-wissenschaftliches Wissen befriedigt werden. Wenn das durchsetzungsfähig ist, so ist das ein geschichtszeitlich kontingentes Vorkommnis in der Welt. Die Anwendung des Begriffes Konstituieren auf das, was in dieser Weise geschichtlich ist, muss zu einer Aufspaltung des Begriffes in zwei verschiedene Bedeutungen für zwei verschiedene Sachlagen führen. Geschichtlich-kontingent Gewordenes ist von der Art, dass es nicht zum Seienden werden musste, weil es relativ auf irgendeinen geschichtlichen Standort aus einer nicht vorweg determinierten Realisierung hervorgegangen ist, so dass es also auch zu einer andersartigen Lebenswelt hätte kommen können. Hat sich eine Lebenswelt in dieser Weise konstituiert, so lässt sie sich nicht in die absolute und die eidetische Seinssphäre des transzendentalen Subjektes »zurückverstehen«, ohne dass ihr etwas verloren ginge, sofern sie aus dieser konstituiert würde. (Vgl. dagegen Cart. Med. 104 ff.) Das transzendental reduzierte Ichsubjekt könnte bestenfalls konstituieren, wie sie sich konstituiert hätte, ohne das Ergebnis ihrer Selbstkonstitution sich selber zuschreiben zu können. Also: Wird Geschichtliches unter dieser Voraussetzung zum Thema der Phänomenologie, bringt sie nur zur Gegebenheit, was sich bereits durch sich selber konstituiert hat. Sie vollbringt gerade nicht diejenige Leistung, die zu leisten sie transzendentalphilosophisch zu leisten in Anspruch nimmt. Sie bringt etwas zu einer durch sie selber bedingten Gegebenheit, die aber nicht diejenige ist, die das sich konstituierende Gebilde im Bezug auf sein eigenes Werdensresultat eventuell herstellen könnte; denn es vollzieht nicht diejenigen Operationen, durch die etwas in 284
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seinem Sein so zur Selbstgegebenheit gebracht wird, dass diese aus seinen Konstitutionsleistungen entspringt. Sein Konstituieren würde sich von selber machen mit dem Ergebnis, dass es selber so seiend wäre, wie sich das Konstitutionsgeschehen zugetragen hätte. In dieser Weise zu sprechen ist aber gleichbedeutend damit, das Wort Konstituieren gegenstandsbezogen-gegenstandsbestimmend zu benutzen, ihm also die Bedeutung zu nehmen, den Seinssinn des Gegenständlichen durch den transzendentalen Zuschauer zu erzeugen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Husserl auch in diesem Sinne von Sich-konstituieren von Ichen, Monaden, Individuen, Kindern, Geschichtlichem spricht. Sofern das der Fall ist, gilt: Das sich so machende Konstituieren kann durch die Beschreibungsleistung desjenigen, der sich ihm zuwendet, um es zur »Gegebenheit« zu bringen, nicht vollbracht werden. Es beschreibt nur und weiß, was sich im geschichtlichen Leben und Sagen ereignet hat, was jetzt als (vieldeutig bleibendes) Resultat für »Verstehen« vorliegt. Die Ausdrücke Beschreiben und Wissen haben in diesem Kontext ihre phänomenologische Bedeutung verloren. Beschreibend zurGegebenheit-bringen ist dann nicht länger jenes auf Anschauung und Selbstgebung ausgerichtete Tun, auf das es phänomenologisch ankommt, sondern eine theoretische Tätigkeit, die ihren Gegenstand so belässt, dass er nicht durch sie konstituiert werden kann. Beschreibend bringt man den Gegenstand, die »Sache selber« nicht in eine konstitutive Abhängigkeit von einem Subjekt, dem sie sich verdanken soll. Geschichtliches hat sich hervorgebildet. Seine Hervorbildung und deren Ergebnisse mögen erkannt werden können. Sie können dabei aber nicht in ihrem selbsteigenen Sein konstituiert werden. Im Spätwerk Husserls findet sich die Tendenz, der Aporetik eines transzendentalsubjektiv universalisierten Konstituierens, wie sie sich schon mehrmals abzuzeichnen begonnen hat, zu entgehen: durch ein absolutes Telos, das sozusagen im Rücken aller transzendentalen Ichsubjekte als eigentlicher »Konstitutionsmotor« in einer Welt-humanisierenden, auf Einheit hin orientierten Richtung wirkt. Von ihm her werden transzendentale Ichsubjekte und MenschenIche dirigiert. Damit ist Husserl der aufgewiesenen Schwierigkeiten ledig; aber um den Preis einer im Sinne der phänomenologischen Gewissheits- und Evidenzforderung grundlosen absoluten Teleologie, in die er den transzendentalen Subjektivismus glaubt einbauen zu können, obwohl diese Konzeption sich gegenüber dem Rückgriff auf das sich frei vermöglich seiner Absolutheit für allen Sinn von A
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Sein vergewissernden, einzig-einzelnen transzendentalen Subjekt unphänomenologisch metaphysisch ausnimmt. Hier sei der Akzent nur darauf gelegt, dass dieser überschwängliche teleologische Absolutismus durch Unzulänglichkeiten des transzendentalen Subjektivismus bedingt und insofern für die Vollendung der Welt der Phänomenologie konsequent ist. In ihr sind sowohl die Realgeschichte wie die skizzierten geschichtszeitlichen philosophischen Weltbildungen aus dem Blickfeld geschwunden. Beide sind unzugänglich geworden. Wenn die transzendental reine Selbsterfahrung mir einen neuen »Seinsboden« gibt, der immer schon bestand und in Geltung war, ohne dass er mir, der ich die Epoché vollzogen habe, auch schon »vorgegeben« war, so gilt nach Husserl: »Vorher ist die transzendentale Subjektivität für sich selbst absolut anonym – und nicht nur unbemerkt da, außerthematisch; und offen, erfahrungsmäßig da, vorgegeben da ist nur Weltliches, und darunter das Ich nur als Ich-Mensch, als »Weltkind«. (Erste Philosophie II 417) Wären transzendentales Ichsubjekt und Menschen-Ich jedoch trotzdem dasselbe Ich, so könnte das nur dadurch verständlich gemacht werden, dass sich das transzendentale Ichsubjekt zu einem Menschen-Ich objektiviert und dadurch phänomenalisiert hätte. Aber müsste das ihm nicht wie ein Widerfahrnis in seinem Eigenwesen als unentrinnbar zugesprochen werden? Es wäre keine Konstitutionsleistung. Wie sonst, wenn nicht aus der Angewiesenheit des transzendentalen Ichsubjektes sich zu verweltlichen, sollte es zur Ichselbigkeit zwischen ihm und dem Menschen-Ich kommen können? Es heißt einmal bei Husserl: »So kann ich ja, mich als reines und absolutes Ich erfassend und dann objektiv als Menschen-Ich, nicht anders als sagen: ich bin derselbe, nur bin ich einmal als Menschen-Ich apperzipiert – natürlich durch mich selbst als transzendentales Ich«. (Erste Philosophie II 450; Beilage XXIII) Das reicht nicht aus. Warum kommt ein transzendentales Ichsubjekt zu einer Selbstidentifikation mit einem welthaften Ich? Und weiter: Warum kommen alle transzendentalen Ichsubjekte zu solchen Selbstidentifikationen, die sie als Menschen-Iche gleich setzen und auf die Vollendung der Erkenntnis und Gestaltung der Welt ausgerichtet sein lassen? Die Antwort ist klar: Weil all das vom absoluten Telos her so sein muss, weil es letztlich auf all dies ankommt und nicht auf die Sicherung der absoluten Seinssphäre des transzendentalen Subjektes als eines reinen Bewusstseins, in dessen Leistungen 286
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sich jeder Sinn von Sein macht, von dem die Welt konstituierenderschauend zur Gegebenheit gebracht wird. (Vgl. z. B. Intersubjektivität III 388, 639; vgl. dagegen Erste Philosophie II 128) Stimmen transzendentaler Subjektivismus und absolute Teleologie zusammen? Passt das für sie in Anspruch genommene Wissen zueinander? Es sei gegen den phänomenologischen Überschwang gesetzt: Mit der absoluten Teleologie ist es inkompatibel – wenn man ihr nicht theologisch anmutende Hintergedanken zumuten will –, dass die Selbstobjektivierung der transzendentalen Ichsubjekte als ein zum Aufgang der Welt erforderlicher Fall in die Weltlichkeit angesehen würde, der ihre »Selbstverblendung« bezüglich ihrer Identität mit sich als transzendentalen Ichsubjekten und bezüglich ihres Weltverständnisses bewirkt hätte. Ein solcher Gedanke ist aus dem absoluten teleologischen transzendentalen Seinsuniversum nicht herleitbar. Gegen ihn, aber auch gegen die von mir anvisierten geschichtszeitlichen philosophischen Weltbildungen sei Husserls Verfahrensweise als eine Variante in die Nähe alteuropäischer Einigungen des Erkennenden, des Erkennens und des Seins mit einem den Erkennenden favorisierenden Absoluten gerückt. Geschichtlich zu sein sollte in der Gegenwart bedeuten, dass dieses konzeptionelle Schema untergegangen ist. Halten wir abschließend fest: Das neuzeitliche, philosophisch zur Weltüberlegenheit befähigte Ichsubjekt, das aus seiner Weltentzogenheit auf sich als Menschen-Ich zurückkommt – wenn denn an einem Ich festgehalten werden sollte –, ist zunächst in eine der Weltentzogenheit gegenüber antipodische Position einzurücken, in der es sich als natureinbehaltenes inkarniertes Menschen-Ich identifiziert. Mit Icheinheit und Ichselbigkeit ist es an dieser Position nicht weit her; erst recht nicht mit ihrer Sicherung aus prämundanen Quellen. Sie gibt es nur noch, sofern das objektive, aber ihnen gegenüber blinde Weltwerden für sie als lebendige Sprachwesen einen Spielraum der Unbestimmtheit eröffnet hat, den sie irgendwie in der Geschichtszeit auch zur weltüberlegenen Stabilisierung ihrer Einheit und Selbigkeit nutzen können. Einer solchen Einheit aber präsentiert sich das Weltwerden, sofern sie seine Produkte sind, als Gegenspieler, indem es sich ihr gegenüber als um sie unbekümmert und dabei in sich selbstgenügsam ausnimmt – ausnehmen kann in lebendigen Sprachwesen als seinen »Geschöpfen«. Sich in einer durch sie selber erzeugten Welt sagend sein zu lassen, bedeutet nicht, sie zur Selbstgegebenheit zu bringen. Eine Zuwendung zu ihr schließt einen solA
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chen Effekt ebenfalls aus. Sie hat eventuell eine neue philosophische geschichtszeitliche Weltbildung im Gefolge, deren immanenter Verbindlichkeitsanspruch sich nicht relativieren muss.
§ 34 Die transzendentale Phnomenologie im Rahmen einer Konzeption des geschichtszeitlichen Weltwerdens von Sprachwelten Sieht man auf die Einbeziehung der Welt in das Vor-sein der transzendentalen Ichsubjekte und ihre konstitutive Einigung mit ihnen zum absoluten Seinsuniversum, dann könnte, wenn man einen Satz Heideggers aus Sein und Zeit nicht ganz unpassend missbrauchen will, sagen: Im Wandel von der transzendentalen Phänomenologie zur Daseinshermeneutik hat das Seinsverständnis umgeschlagen. Im Rahmen meiner Sprachweltkonzeption treten sowohl die transzendentale Phänomenologie als auch die Daseinshermeneutik so ins Blickfeld, dass sich die folgende, ihnen beiden fremde Aufgabe stellt: Philosophische Totalisierungsbewegungen (und auch andere Sprachwelten) sind jeweils daraufhin zu prüfen, wie sich ihre Darstellungstätigkeit gegenüber dem, was sie in ihrem Ist-Sinn in sich einbezieht, einreguliert. Davon hängt ab, wie ihnen die Welt ausfällt. Diese darstellungstheoretische Distanzierung hat im anstehenden Fall zum Ergebnis, dass die Sprachwelt Husserls sich nicht dem Geschichtlichen anzumessen vermag, so wie es in diesem Kapitel gekennzeichnet worden ist. Diese These schließt nicht aus, sondern ein, dass die transzendentale Phänomenologie Geschichtliches und Geschichte in ihrer Weise sein macht und sein lässt. Durch diese Vorgehensweise können Abgründe, die zwischen Philosophien als Sprachwelten liegen, offenbar werden, weil es nämlich zwischen ihnen keinen verbindenden einheitlichen Bezug auf Ist gibt; d. h. dass in ihnen eine fundamentale Eigenart des Sprechens außer Kraft gesetzt ist. Also sollte von ihnen so gesprochen werden, dass dabei Differenzen von Welten heraustreten. In konkretisierender Andeutung sei schlagwortartig an einige geläufige Möglichkeiten erinnert, die von der transzendentalen Phänomenologie abweichende Zugänge zum Geschichtlichen anzeigen. Geschichtliche Welten lassen sich als Seinsentwürfe des Sein-verstehenden Daseins nehmen. Geht es in ihnen um das Seinkönnen des Daseins? Oder ist das eine allgemeine vereinheitlichende Bestim288
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mung, die geschichtlichen Welten in ihren geschichtlichen Prägungen nicht gerecht wird? Ist der Anschein einer Pluralität von geschichtlichen Welten zu vermeiden, weil diejenige Welt, die das Resultat der Geschichte ist, dem philosophischen Denken seine Sache zuweist, hinter die es nicht auf ein transzendentales Ichsubjekt, das als Vollstrecker einer absoluten Teleologie fungiert und die von ihm indizierte Einheit die Welt zurückgreifen kann. Die Welt als objektiv gewusste gibt auf das, was eine geschichtliche Welt zu ihrem Verständnis erfordert keine Antwort. Sie fordert solche Antworten heraus. Der Ist-Sinn ihres Wissens bleibt für lebendige Sprachwesen unzureichend. Diese verhelfen in ihrer Notlage dem Wort Sinn, das einige mit Lebenssinn gleichsetzen, zu einer vieldeutigen Karriere, die weder von Husserl noch von Heidegger, denen es um Seinssinn geht, intendiert war. In dieser Situation florieren Auslegen, Verstehen, Deuten, Interpretieren. Glauben erlebt in Differenz zu Wissen Hochkonjunktur. Derartiges lässt wieder theoretische, auch wissenschaftliche, Thematisierungen zu. Deren eventuelle Wissensleistung kann sich auf ihre sprachweltlichen Gegenstände verschiedenartig auswirken. Diese können sich gegen das über sie von außen Gesagte zur Wehr setzen (z. B. im Namen des Menschen oder Gottes). Eine friedliche Dominanz der Wissenden ist, nachdem dies aus dem Wissen geworden ist, mehr als unwahrscheinlich – genauso wie eine im herrschaftsfreien Dialog wachsende, sich der Kraft des besseren Argumentes verdankende Einstimmigkeit aller Weltkinder. Diese Situation ist Husserl fremd. Anstatt den angedeuteten vertrauten Redeweisen zu folgen sei flüchtig der Rahmen skizziert, innerhalb dessen all das, was in diesem Kapitel zur Sprache gekommen ist, in meiner Sprachweltkonzeption untergebracht werden kann. Geschichtliche Weltbildungen sind Menschen-Ichen unerlässlich, weil das Weltwerden, auf allen seinen Stufen, die ihm von ihnen selber (z. B. von Philosophien) zugedachten Bestimmtheiten als standhaltend-bleibend gewusste schon deswegen nicht aufweist, weil sie selber darin engagiert sind, sich und die Welt in Ist-Sinn hineinzusagen. Das sollen sie in einem anspruchsvollen Sinn nur in geschichtszeitlich differenter Weise vollbringen können, gerade weil in diesen Weltbildungen die Menschen-Iche sich übergreifen – sich in sie hinein auf-hebend und dadurch sich in sie einfügend. Wie sollA
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ten sie (als lebendige Sprachwesen) anders ihre Einheit zu entwerfen vermögen? Derartigen Sprachwelten werden heute keine sie vorgängig tragenden oder aus dem Zukunftshorizont anziehend-lenkenden Gründe mehr zugestanden. Die dieser heutigen Geläufigkeit hier gegebene Pointe lag darin, aufzuzeigen, dass Sprachwelten aufgrund des Standes, den das Weltwerden geschichtszeitlich in einigen Sprachwesen erreicht hat, in keinem ihr Gewusstes oder Gesagtes bestimmenden Ist Halt finden können, ohne dem (für andere Sprachwesen berechtigten) Anschein entgehen zu können, sich diesen selber verschafft und ihn dadurch bedingt zu haben. Weder die transzendentale Seinssphäre der Phänomenologie noch die objektiv gewusste Welt dürfen unangefochten als Kandidaten für die Beschaffung eines solchen Halts im Ansehen stehen gelassen werden. Sofern die Welt als objektiv gewusste in den Bezug zu lebendigen Sprachwesen tritt, denen als Menschen-Ichen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen, ihre Sprachvermöglichkeit so zu realisieren, dass die Welt irgendwie in Ist-Sinn hinein gesagt wird, ist die Einigung von objektiv-wissenschaftlichem Wissen und Welt nur eine unter anderen (andersartigen) Einigungen. Bringen sich diese Wesen als selber nicht eindeutig durch ihr objektives Weltwissen bestimmt ins Spiel, sondern als »Komplexionseinheiten«, die sich im Sagen in verschiedener Weise die Welt »zurechtlegen« können, so ist die Einheit von Wissen und Weltganzem verloren. Diese evolutiv zustandegekommene Uneindeutigkeit und Unbestimmtheit, in der lebendige Sprachwesen aufgrund dessen stehen, dass sie sich durch ihre Sprachvermöglichkeit von anderen Evolutionsprodukten unterscheiden, lässt sie als lebendige Sprachwesen, die sich durch Ist-Sinn irgendwie auf Ist berufen, in geschichtliche Zusammenhänge eintreten. In ihnen verschaffen sie ihrer durch die Naturevolution erzeugten Unbestimmtheit in Realisierungen ihrer Sprachvermöglichkeit Abhilfe. Das geschieht, wie man heute sagt, in jeweiligen Welt- und Selbstverständnissen, die in irgendeiner Zeit in Menschengruppen prävalieren. Der Spielraum, in dem diese Realisierungen statthaben, ist durch endliche Vergangenheitshorizonte (Traditionen) und Zukunftsorientierungen eingeengt. Innerhalb ihrer kann sich ein nicht determiniertes Hervorbilden von geschichtlichen Welten zutragen, synchron und diachron; auf übergreifende Einheit abzielender oder sich in differentieller Besonderheit haltender Art. In ihnen muss nicht das moderne objektive Wissen von der Welt einen dominierenden Einfluss ausüben; denn es befriedigt, wie gesagt, die Bedürfnisse 290
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der lebendigen Sprachwesen, die Welt in Ist-Sinn hinein zu sagen, nicht. Sie können sich in Mythen, Religionen, Philosophien und Theologien einbehalten und sich dadurch binden, so dass sie in solchen Sprachwelten inständig sprechend zu leben vermögen. Damit kann die objektiv gewusste Welt nicht aufwarten. Den Maßgaben ihres Wissens genügen jene Sprachwelten nicht, sie leisten aber für ihre »Ein-wohner« mehr und anderes als die objektiv gewusste Welt hergibt. Die so aufgebaute Sachlage ist zu der Konsequenz fortzuschreiben, dass aufs Ganze des Weltwerdens hin gesehen, inständig gesagte Welten, in denen lebendige Sprachwesen eine Heimstatt in einer Welt finden, die mit dem Ihrigen nichts zu schaffen hat, auch in ein außenständiges Sagen müssen fallen können, d. h. so müssen dargestellt werden können, dass in dieser Darstellung ihre Einheiten von Ist-Sinn und Ist in einen anders gearteten Ist-Sinn hineinbefördert werden, der sich aus ihnen ausschließt, da er diejenige Leistung nicht erbringt, an der für die in ihnen lebenden, sich durch ihn bindenden Wesen alles gelegen ist. Die abgekürzt vorgeschlagene Konstruktion der Differenz von inständig und außenständig sagbaren Welten postuliert außenständige Sagbarkeit für inständig gesagte Welten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese von einer anderen inständig gesagten Welt aus getätigt wird; wenn z. B. eine Philosophie eine andere kritisch als nicht mehr haltbar hinter sich lässt; oder wenn die Einheit der Gott die Rede von der Göttervielheit indiskutabel macht. Auf einem fortgeschrittenen Wissensstand legt es sich näher, das Weltwerden, die lebendigen Sprachwesen selbst eingeschlossen, in eine außenständige Sagbarkeit fallen zu lassen und inständig gesagte Welten zu Menschenwelten als binnenweltlichen Produkten in der außenständig sagbaren Welt zu machen. Indem solche Positionen eingenommen und in der Verständigungssprache des gebildeten Bewusstseins formuliert werden, pflegt die von mir konstruierte Aufspaltung des Weltwerdens verunklärt oder auch aufgehoben zu werden – eine Gespaltenheit, die sich in lebendigen Sprachwesen im Rückgriff auf verschiedenartige unvereinbare Realisierungen ihrer Sprachvermöglichkeit aufrecht erhält. In ihnen findet derjenige Streit statt, in dem, auf der Stufe der Geschichtszeitlichkeit von lebendigen Sprachwesen, sich die Lebendigkeit des Weltwerdens forttreibt, das in den Zwiespalt seiner Suffizienz und seiner Insuffizienz hineingeraten ist. A
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Von diesem Zwie-Spalt sollen die hier als lebendige Sprachwesen apostrophierten Menschen-Iche, sofern es ihnen um Totalisierungsbewegungen geht, zeugen – allerdings zumeist unfreiwillig gezeugt haben, indem sie aufgrund der gefährdeten Erfahrung ihrer eigenen Einheit und ihres eigenen Einigungsbedürfnisses auch für das Weltwerden selber der Einheit Priorität eingeräumt haben; und zwar so, dass alle polemischen Differenzen der Einheit untergeordnet werden konnten. Wenn das Weltwerden in einer philosophischen Konstruktion ein solches Aussehen gewonnen hat, dann besagt das, dass in seinem Namen das, was bisher als objektiv gewusste Welt und als Sprachwelt bezeichnet worden ist, gegeneinander geschieden ist. Lebendige Sprachwesen können sich in Anbetracht des sich so ausnehmenden Weltwerdens in die durch sie objektivierte, sie in sich einbehaltende »tote« Natur als sie löschend setzen, sich aber auch in eine Sprachwelt einbehalten. Im Namen dieses Weltwerdens sollte sich keine Totalisierungsbewegung (für ihre Anhänger) vor einer anderen Vorteile verschaffen dürfen. Sich Vorteile aufgrund von Wissen, Glauben oder sonst etwas zu verschaffen, das würde der Eigenart der Anhänger einer Totalisierungsbewegung zugerechnet werden können, die jedoch durch das in der vorgetragenen Weise angesehene Weltwerden desavouiert würde. Von ihnen lässt sich zwar fordern, ihre Ausgriffe aufs Menschen-übergreifende Ganze und dessen Verankerung in einem Ist durch sprachlichen Ist-Sinn preiszugeben, aber das wäre mit einer Selbstaufgabe ihrer gleichbedeutend, sofern sie sich nicht auf differente Realisierungen von Sprachvermöglichkeit gründen – was sie bekanntlich nicht zu tun pflegen. Mit dem angeforderten Verzicht ginge den Totalisierungsbewegungen die in ihrer »Katholizität« verborgene Differenzsetzung zwischen einem Innen und einem Außen und eine auf diese angewiesene Identität verloren. Das minderte die Macht, der ihre Weltbestandsfähigkeit bedarf. Darf so, im Anklang – aber nur im Anklang – an Nietzsche, formuliert werden, wenn die abendländischen Grundpfeiler von weltüberlegenem Wissen und Wahrheit zerbrochen sind. Solange die geschichtlichen Weltbildungsprozesse unter der Ägide von Wissen und Wahrheit standen oder solange es ihnen gelingt, sich irgendwie mit irgendeiner Wissenssorte vorteilhaft zu arrangieren – solange war und ist diejenige Situation noch nicht in der Schärfe konturiert, dass sich die Welt des der objektiven Wissenschaft zugewiesenen Wissens und ein ihm 292
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nicht gemäßes Sagen der Welt, das in lebendigen Sprachwesen durch das Weltwerden selber freigesetzt worden ist, als unversöhnlich, gleichberechtigt dissoziiert, haben. Gegenteiliges liegt im Werk Husserls vor. Mit diesen unvollständigen Andeutungen der Konzeption, durch die ich eine mich bedrängende Totalisierungsbewegung auf die Welt hin an eine Grenze bringe, die für einen oberflächlichen Blick zum Scheitern verurteilt ist, sei endgültig vom Geschichtsdenken Husserls, in dem die Ausrichtung auf eine sprachweltlich erzeugte Welteinheit dominiert, Abschied genommen. Philosophische Totalisierungsbewegungen können sich dem Kampf des geschichtszeitlichen Weltwerdens nie ganz entziehen; selbst wenn ihre Art von Darstellung den Anschein erweckt, dass sie zu ihm in Erkenntnisdistanz stehen und aus ihr heraus über es urteilen – wie es z. B. bei Husserl im Namen eines sich zeitigenden teleologisch wirkenden, die transzendentalen Ichsubjekte leitenden Absoluten geschieht. (Vgl. z. B. Intersubjektivität III 610) Aber um es zu einer durch gebildetes Bewusstsein vermittelten Einwirkung auf Weltbestandsfähigkeit in Menschenwelten zu bringen, bedarf es für Philosophien günstiger geschichtlicher Umstände. Den Versuch zu machen, sie herzustellen oder sich in sie als menschenweltliche Machtzustände einzuklinken, bekommt ihnen oft schlecht. Zugleich ist jedoch darauf aufmerksam zu machen: Eine neutralisierende Darstellung des Weltwerdens, in der ein Blick auf es als Ganzes zu werfen versucht wird, weist ebenfalls Negativität auf; und zwar auch, wenn ohne sie dem Weltwerden etwas zu ermangeln scheint. Liegt in ihr nicht ein Verstoß derjenigen lebendigen Sprachwesen, die eine solche Totalisierung anstreben, gegen sich selber als Wesen, die sich auch wiederum in ein Weltwerden »ein-gemischt« finden vor, weil sich ein Blick aus dem Nirgendwo auf es herab für sie als eine Verfehlung spürbar macht. Das aber nicht etwa aufgrund der objektiven Wissbarkeit des Weltwerdens in seiner Art von Selbstgenügsamkeit, sondern aufgrund der Insuffizienz, die es im Bezug auf sich selber in lebendigen Sprachwesen erzeugen kann. * * * Ich verabschiede mich jetzt vom Werk Husserls. Da mir an Differenzen liegt, die um trennscharf zu sein, konstruiert werden müssen, fasse ich Husserls Denkweise zum Ende, in A
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einen zentralen Gedanken; geleitet von der gegen ihren Vereinheitlichungsanspruch gerichteten Denkweise, der ich folge. Es ist für Husserl charakteristisch, dass er das, was er, motiviert durch sein philosophisch-wissenschaftlichen Wollens, kann, indem er sein Können realisiert, zu dem, was in welcher Bedeutung auch immer ist, übergehen lässt. Er lässt also nie sein Wollen, sein Können und dessen realisierende Tätigung dafür aufkommen, wie ihm die Welt ausfällt – so dass sie deswegen auch anders ist und sein kann. Er lässt das Sein seinem philosophischen Wollen, Können und dessen Realisierung entsprechen. (Man vgl. Cart. Met. 177 dafür, wie sich diese Realisierung für ihn selber ausnimmt.) Dass sich dies zuträgt ist in der Welt, die sich aus seiner philosophischen Totalisierungsbewegung an ihrem geschichtszeitlichen Ort als ein Spezificum erzeugt hat, auffällig – was sich mir aus Sätzen wie den folgenden, auf die ich immer wieder gestoßen bin, aufdrängt. »Welchen Sinn hat es, von einer transzendentalen Erfahrung von der Welt zu sprechen? Das hieße doch, in der Einstellung der Epoché die universale Welterfahrung und Weltwissen und Weltleben überhaupt vollziehende Subjektivität, diejenige, in der alles Weltliche Seinssinn hat, zum Thema zu machen und darin, als darin konstitutiv Mitbeschlossenes, zum Mitthema zu machen, die in diesem universalen Leben konstitutiv vermeinte und ausgewiesene und auszuweisende Welt. Das ist aber doch gar nichts anderes als die Welt des Lebens, die darin bald richtig, bald falsch, bald mythologisch, bald wissenschaftlich positiv vermeinte und geltende Welt, nur eben als solche, d. h. vom transzendentalen Zuschauer gesehen, und gesehen als konstitutive Einheit der transzendentalen monadischen Subjektivität. Eine andere haben wir nicht und kann niemand haben, eine andere hätte keinen Sinn. Die Epoché eröffnet überhaupt die transzendentale Erfahrung in ihrer offenen Unendlichkeit, eröffnet das transzendentale All des Absoluten, …« (Intersubjektivität III 75) Es gibt keinen transzendentalen Zuschauer, der dem Konstituieren und dem konstituierten Seienden zuschaut und es beschreibt – es mache sich denn jemand zu einem solchen mit Folgen für das, was es als bestimmt seiend gibt. Wenn ein solches Unternehmen sich als universalphilosophische Stiftung der Entsprechungseinheit von Wissen und Sein nimmt und zugleich als forschende Wissenschaft versteht, hat es sich ein weltumgreifendes Arbeitsfeld beschafft. In ihm kann die Bedingtheit durch das zu ihm führende und in ihm wirkende Tun nicht mehr gewahrt werden. 294
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Die teleologische Geschichte der Phnomenologie
Wer so denkt, kann sich nicht zugestehen, dass mythische, wissenschaftliche, religiöse, aufgeklärte, heutige Welten – auch ihrer eigenen Gesagtheit nach – etwas leisten und sind, dem sich das transzendentale Ichsubjekt entzogen hat, anstatt dass es sich Derartiges in seinem Sein zugänglich gemacht hätte. Der Preis, den Husserl zahlen muss und gegen dessen Zahlung er im Gefolge der abendländischen Philosophie sein Werk errichtet hat, liegt vor Augen: Alles wird zu dem, wozu es sich macht, indem es zu dem gemacht wird, wozu es sich macht. Der sich so verstehende Philosoph ist als Repräsentant des universellen vernünftigen Wissens die in seinem Werk verborgene »vormenschlich-übermenschliche« menschheitliche Größe. Dagegen stehe, dass vor allem philosophisches Tun, wenn es denn noch an Ausblicken auf das unganze Ganze interessiert ist, als Schutzwall gegen das Bestreben, sich in Menschenmengen weltbestandsfähig zu machen, sich selber dafür aufkommen lassen sollte, wie ihm die Welt ausfällt. Da es sich zwar auf Distanz zu allem, was in der Welt als Machtfaktor wirken kann, begibt, aber sich gleichzeitig im Allgemeinen hält und sich nur durch seine Gedanken bindet, sollte es nicht private Selbsterschaffung genannt und in die Nähe von Literatur gerückt werden. Der für es unterscheidend-entscheidende Akzent liege darauf, dass es rücksichtslos frei getätigt ist – und nur den beeinflusst oder bindet, der sich, ohne irgendeinen anderen Rückhalt zu ergreifen, ihm anschließt – wie wenn der Anschluss eine frei getätigte Selbstbestimmung wäre. Der in einer solchen Totalisierungsbewegung erzeugte Ist-Sinn taugt offensichtlich nicht dazu, über den Menschen als verbindlich verhängt zu werden; und zwar u. a. deswegen nicht, weil er ein alles in seinen Differenzmöglichkeiten übergreifendes Ist, das diese nicht zu einigen vermag, ins Ansehen aufgehen lässt. Aus der Art der abendländischen Tradition, die Einheit des Ganzen zu suchen oder sogar wissend-glaubend zu sichern, ist dann eine andere Welt aufgegangen. Der geschichtszeitlich wirksame Weltverwandlungsdrang (des Weltwerdens), in den Menschen eingespannt sind, ist trotz ebenfalls wirksamer Gegenkräfte so leicht nicht still zu stellen. Nachdem die Welt in ein solches Ansehen hervorgebracht worden ist, ist es an der Zeit abzubrechen, weil ein neuer Einsatz des Philosophierens ansteht, über dessen Ausgang noch nicht entschieden ist. Ohne Entscheidungen ist er nicht zu haben. Aber davon andernorts mehr. A
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Bibliographie
1.
Werke E. Husserls
Husserliana – Edmund Husserl, Gesammelte Werke. Aufgrund des Nachlasses veröffentlich in Gemeinschaft mit dem Husserl-Archiv an der Universität Köln vom Husserl-Archiv (Louvain) unter Leitung von H. L. Van Breda. Den Haag 1950 ff. Es werden nicht alle, sondern nur die für dieses Buch benutzten und interessanten Bände der Husserliana-Reihe aufgelistet. Zitiert wird gewöhnlich nach den 1. Auflagen. Da es in der vorliegenden Darstellung um die Grundzüge des systematischen Gefüges der Phänomenologie in seiner Entwicklung geht und da sie unangesehen des Einführungscharakters ihres I. Teiles eine bestimmte Interpretation verfolgt, mag es auf Entwicklungsdifferenzen und Mehrdeutigkeiten im Werk Husserls von geringerer Reichweite sowie auf vielfältige Auslegungsmöglichkeiten, die zu anderen als der hier präferierten Interpretation führen, nicht ankommen. Bd. I: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. (1950, 2. Aufl. 1991) (Cart. Med.) Bd. II: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. (2. Aufl. 1973) (Idee) Bd. III: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. (Ideen I; jetzt in zwei Bänden. 1. Halbband: Text der 1.–3. Aufl.; 2. Halbband: Ergänzende Texte (1912–1929) 1976. Bd. IV: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch, Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution. 1991. (Ideen II) Bd. V: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Drittes Buch, Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften. (Darin abgedruckt: E. Husserl, Nachwort zu meinen »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie«, S. 138 ff.) 1971. Bd. VI: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. (Nachdruck der 2. verbesserten Auflage 1976 (Krisis) Bd. VII: Erste Philosophie (1923/24). Erster Teil. Kritische Ideengeschichte. (Erste Philosophie I) 1956.
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Bibliographie Bd. VIII: Erste Philosophie (1923/24). Zweiter Teil. Theorie der phänomenologischen Reduktion. (Erste Philosophie II) 1959. Bd. IX: Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen Sommersemester 1925. (Phän. Psych.) (2. Aufl. 1968) Bd. X: Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917). (Zeitbewusstsein) (2. Aufl. 1969) Bd. XI: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926. (Pass. Synthesis) 1966. Bd. XII: Philosophie der Arithmetik. Mit ergänzenden Texten (1890–1901). (Philos. Arithmetik) 1970. Bd. XIII: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Erster Teil. 1905–1920. 1973. Bd. XIV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil. 1921–1928. 1973. Bd. XV: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil. 1929–1935. (Intersubjektivität III) 1973. Bd. XVI: Ding und Raum. Vorlesungen 1907. 1973. Bd. XVII: Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft. (FTL) 1974. Bd. XXIX: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Ergänzungsband. Texte aus dem Nachlass 1934–1937. 1973. Bd. XXX: Logik und allgemeine Wissenschaftstheorie. Vorlesungen Wintersemester 1917/18. Mit ergänzenden Texten aus der ersten Fassung von 1910/11. 1996. Bd. XXXI: Aktive Synthesen. Aus der Vorlesung »Transzendentale Logik« 1920/ 21. Ergänzungsband zu Analysen zur passiven Synthesis. 2000. Bd. XXXII: Natur und Geist. Vorlesungen Sommersemester 1927. 2000. Bd. XXXIII: Die Bernauer Manuskripte über das Zeitbewusstsein (1917/18). 2001. Bd. XXXIV: Zur Phänomenologischen Reduktion. Texte aus dem Nachlass (1926– 1935). 2002.
Außerhalb der Husserliana Erschienenes: Die 2. Auflage der Logischen Untersuchungen ist in 3 Bänden bei Niemeyer/Halle a. d. S. zu verschiedenen Jahren erschienen. Ich belasse es für die einleitenden Partien im I. Teil dieses Buches bei der Zitation nach dieser Auflage. Hinsichtlich der Seitenzahlen kann man sich in den Husserliana-Bänden informieren, welche die Seitenzahlen beider Auflagen angeben. I. Bd. Prolegomena zur reinen Logik. 1913. (Prolegomena) Jetzt mit dem Text der 1. und 2. Auflage in Husserliana XVIII. 1975. II. Bd. (1. Teil) Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis. 1913. (LU II/1) II. Bd. (2. Teil) Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis. 1913. (LU II/2) Die zuletzt genannten beiden Bände finden sich jetzt als Husserliana XIX in A
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Bibliographie 2 Bänden 1984. Dazu liegen zwei Ergänzungsbände als Husserliana XX/1 u. XX/2 vor. 2002 u. 2005. Erfahrung und Urteil 4. Auflage. Redigiert u. hrsg. v. L. Landgrebe (EU) 4. Aufl. Hamburg 1972. Philosophie als strenge Wissenschaft. Hrsg. W. Szilasi. Frankfurt/M. 1965. Vollständige Angaben der Werke Husserls finden sich in: 1. Bernet/Kern/Marbach: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Meiner/Hamburg 1996 (S. 229 ff.) und 2. in der Geschichte des Husserl-Archivs (History of the Husserl-Archives) Springer/Dordrecht 2007 (S. 140 ff.). Hier finden sich auch Hinweise auf Husserliana Materialien, Dokumente und Übersetzungen von Werken Husserls. Ebenfalls sind hier die Bibliographien notiert. Zu den in den Studienausgaben der Philosophischen Bibliothek bei Meiner erschienenen Texten vgl. Bernet/Kern/Marbach 230. Es sei auch auf die von E. Ströker in 8 Bänden plus einem Zusatzband (mit Register) bei Meiner herausgegebenen Gesammelten Schriften Husserls hingewiesen. Zu Leben, Werk und Lehrtätigkeit Husserls vgl. man Bernet/Kern/Marbach 217 ff. Man beachte auch ebd. S. 225 ff. die »Notiz zu Husserls Nachlass«.
2. Literatur ber Husserl Adorno, Theodor W.: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Stuttgart 1956. Aguirre, A.: Genetische Phänomenologie und Reduktion. Zur Letztbegründung der Wissenschaft aus der radikalen Skepsis im Denken E. Husserls. Den Haag 1970. –: Die Phänomenologie Husserls im Licht ihrer gegenwärtigen Interpretation und Kritik. Darmstadt 1982. Asemissen, H. U.: Strukturanalytische Probleme der Wahrnehmung in der Phänomenologie Husserls. (Kant-Studien Erg. H. Bd. 73) Köln 1957. Bachelard, S.: La Logique de Husserl. Etudes sur logique formelle et logique transcendentale. Paris 1957. Becker, O.: Die Philosophie Edmund Husserls (1930), in: Husserl. Hrsg. v. H. Noack. Darmstadt 1973. (Wege der Forschung Bd. XL) S. 129 ff. Berger, G.: Le cogito dans la philosophie de Husserl. Paris 1941. Bernet, R., Kern, I., Marbach, E.: Edmund Husserl. Darstellung seines Denkens. Hamburg 1989. Biemel, W.: Husserls Encyclopaedia-Britannica-Artikel und Heideggers Anmerkungen dazu (1950), in: Husserl. Hrsg. v. H. Noack. Darmstadt 1973. S. 282 ff. –: Die entscheidenden Phasen der Entfaltung von Husserls Philosophie, in: Zeitschrift f. philosophische Forschung 13. (1959) S. 187 ff. Boehm, R.: Vom Gesichtspunkt der Phänomenologie. Husserl-Studien. Den Haag 1968 (Sammelband).
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Personenregister
Aristoteles 132
Landgrebe, L. 10, 25, 29, 164 Leibniz, G. W. 113, 135, 265 Levinas, E. 28, 127 Locke, J. 61, 135
Berkeley, G. 61 Biemel, W. 28, 155 Brentano, F. 29 f., 52 Claesges, U. 142
Merleau-Ponty, M. 28, 222 Mill, J. 61
Daubert, J. 25 Descartes, R. 66, 91, 134 ff., 154, 178 ff., 271
Natorp, P. 50 Pfänder, A. 25 Platon 99, 132 Plessner, H. 26
Eley, L. 97 Euklid 132 Fink, E. 34, 71 f., 82 Frege, G. 29, 42, 44 f.
Rang, B. 92 Reinach, A. 26 Ricoeur, P. 129
Galilei, G. 134, 144, 268, 271 Geiger, M. 25 Gibson, W. 20 Gödel, K. 103 Heidegger, M. 26, 28, 127, 176 ff., 232, 257, 288 f. Held, K. 118 Hume, D. 61, 135 Kant, I. 135, 139, 177 f., 195 Kronecker, L. 29
Sartre, J.-P. 28, 201 f. Scheler, M. 25, 28 Seebohm, Th. 24 Sokolowski, R. 28, 39 Ströker, E. 39, 123 Stumpf, C. 29 Theunissen, M. 118 Weierstraß, K. 29
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Sachregister
Abschattung 73 f., 76, 142, 227, 230 Absolutes 12, 74, 126, 174, 213, 285 f. Akt, intentionaler 12, 74, 126, 174, 213, 285 f. –, objektivierender 52 ff., 57 –, nominaler und propositionaler 54 Allzeitlichkeit 109, 197, 206, 269 alter ego 119 f., 122 ff., 143 Analytik, formale 109 Anschauung 24, 55 f., 67, 88 ff., 95, 97, 109, 119, 131, 141 f., 227 ff., 250, 269, 285 (3 Wahrnehmung) –, kategoriale 48, 58 f., 95 –, Prinzip der originären 227 Ansichsein 11, 15, 44, 63, 144, 166, 178, 180 f., 184, 190, 192, 201 f., 221, 247, 266, 269, 272 Apophantik, formale 102 Apriori, formales 102 –, synthetisches 109 Assoziation 92, 191 f. Ausdruck, sprachlicher 39, 54 ff., 71, 86 Bedeutungserfüllung 48, 54 f. Bedeutungsintention 54 ff., 58 f. Bewegung, phänomenologische 9, 13, 15, 19, 27, 99 Bewusstsein passim Bewusstseinsleben passim cogitatio, cogitatum, cogito passim; siehe besonders 34, 70, 72 f., 79, 90, 112 ff., 126, 136 ff., 148, 154, 160, 175, 179, 181 f. Daten, hyletische 80, 177 f., 223, 283 (3 Empfindungsdaten) Egologie 113, 121 Eidos 94 ff., 108, 110, 243
Eigenheitssphäre 120, 122 (3 Primordialsphäre) Einstellung, natürliche 67 ff., 77 f., 80 f., 89, 148 ff., 161, 172, 174 f., 181 f., 217 f., 238, 244, 247, 261, 281 Epoché passim Erlebnis, intentionales passim; siehe besonders 48 f., 51, 53, 55, 78, 80, 82, 84, 88, 114 Evidenz 24, 56, 64, 88 ff., 97, 121, 124, 184, 198, 207, 215, 227, 230, 244, 268, 271 ff., 282 Formalisierung 98, 110, 133, 269 Fundierung 31, 63, 99, 197 Gegebenheitsweisen 71, 73 ff. Gegebensein 74 ff., 119, 150 f. (3 Vorgegebensein der Welt) Generalthesis der natürlichen Einstellung 3 Einstellung, natürliche 68 f., 77, 247 Geschichte des Denkens 13, 66, 131 f., 139, 258, 266 Grammatik, rein logische 40, 63 f., 100 Habitualität 113, 213, 262 Hyle, sensuelle 80 (3 Empfindungsdaten) Ich, empirisches u. reines 48 ff., 79 (s. a. transzendentales Ich) Ichsubjekt 3 transzendentales Ich Idealisierung, geometrische 110, 133 f., 144, 271 Idealismus 27, 32 f., 74, 126, 211, 279 Idealität 46, 271 f. Identifizierung 55, 97, 123, 206, 209, 274 Identität 109, 112, 142, 173, 176 f., A
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Sachregister 190 ff., 197 ff., 201, 205 f., 209 f., 212, 214, 229 f., 261, 287, 292 immanent, Immanenz passim Impression 90, 114, 184, 186 f., 191, 196, 209 Individuierung 117, 201, 261 ff. Individuum 201, 264 Inhalt, intentionaler 51 f. Intentionalität 3 Erlebnis, intentionales 29, 31, 39, 43, 159 f., 190, 196, 198, 202, 220, 250, 266 f., 271 Intersubjektivität 98, 117, 119, 143, 211, 226, 257 Ist-Sinn 12, 236, 239, 243, 245, 248 f., 251 f., 257, 272, 275 ff., 288 ff., 295 Kinästhese 227, 233 f., 236 Konstitution passim Korrelation 34, 45, 112, 147, 220, 247 Lebenswelt passim Leib 120, 122 ff., 233, 249, 252 Logik (reine, transzendentale) passim –, formale 99 ff., 109 f. Logos des Seins 11, 214, 265, 267, 269 f. Mannigfaltigkeit, definite 102 Materie des Aktes 51 Mathematisierung 110, 134, 271 Mathesis universalis 102, 198, 274 Menschen-Ich passim Monade, Monadologie 113, 117, 121, 123, 126 f., 190, 212, 262 ff., 285 Motivation 92, 191 Natur passim Neutralisierung 83 Noema, noematisch 80 ff., 100 f., 147, 152, 159, 186, 194, 239 f., 242 f., 247 Noese, noetisch 44, 79 ff., 83 f., 85 ff., 98, 100 f., 107, 113, 115, 142, 152, 201, 239 Nominalisierung 54, 103 Objektivismus, objektive Wissenschaft 13, 45, 63, 130 ff., 135, 140 f., 144, 146 f., 149, 164 ff., 265, 267, 270, 276
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Ontologie, formale 83, 103, 108 ff. –, der Lebenswelt 3 O., mundane –, mundane 108 –, regionale 108 Paarung, assoziative 122 Phantom 142 Phänomen 89, 136, 154, 158, 161, 181, 232, 282 Phänomenologie passim –, statische 100 –, genetische 100, 115, 232, 268 Potentialität 114 f., 234 primordial, Primordialsphäre 120 f., 123 ff., 199 Prinzip aller Prinzipien 24, 173 Protention 79, 90, 114, 186, 188, 191 Psychologie passim –, reine-phänomenologische 159, 161, 240 Psychologismus, logischer 29, 42 Qualität des Aktes 57 Quantifizierung 144 Realismus 27 Reduktion 33, 69, 80, 95, 118, 120 f., 160 f., 181, 186, 205, 212, 214, 222, 239 ff., 244 f., 247 f., 262, 264 –, eidetische 95 reell 32, 48 ff., 74, 80 f., 84, 90, 121, 182, 186, 243 Reflexion 24, 50, 65, 70, 72, 83, 107, 164, 179, 200, 225, 234, 250 Retention 79, 90, 114, 181, 183 f., 186 ff., 191 f., 196, 200, 209 f., 233 Sein, Seiendes passim Seinsgeltung 34, 67, 77 f., 121, 132, 150, 154 ff., 160, 164, 195 Seinssinn passim Selbstgebung passim Selbstobjektivierung 126 f., 129, 175, 215, 218, 221, 260, 287 Sinneslehre 106 Sinngeschichte 268 Solipsismus 117 f. Spezies 43, 61
ALBER PHILOSOPHIE
Paul Janssen https://doi.org/10.5771/9783495860854 .
Sachregister Sprachwelt 12 ff., 220, 249, 256, 258, 261, 288 ff. Sprachvermöglichkeit 248 ff., 252, 279, 290 ff. Synthetische Struktur des Bewusstseinslebens 195 Synthesis der Erfüllung 48 Synthetik, zeitliche 91 f., 173, 176, 187, 202, 208 ff. Teleologie 125, 173, 215, 221, 257, 273, 282, 285, 287, 289 transzendent 3 transzendental passim transzendentales Ich 11, 177, 208, 237, 259, 286, 289 Transzendenz 15, 88 f., 93, 121, 180 ff., 219, 239, 241, 244 f. Urdoxa 82 Urteil 51 ff., 58, 61 f., 84, 86, 88, 100 ff., 108, 195 ff., 245 ff., 250, 268 f. Variation, eidetische 97, 110
Vermöglichkeit 176, 193, 196, 208, 228, 233, 235, 279 Vorgegebensein der Welt 151 vorprädikativ 69, 86, 88, 194 Vorstellung 20, 41, 43, 46, 50, 52 ff., 57, 69 Wahrheit 37, 43, 58, 87 ff., 93, 101 f., 145, 152, 182, 198, 220, 244, 278, 292 Wahrnehmung passim 3 Anschauung Wesen 3 Eidos –, bedeutungsmäßiges des Aktes 57 –, intentionales des Aktes 50 Wesensschau 27, 95 Wiedererinnerung 91, 116, 176, 190 f., 193 f., 196, 199 Zeit, Zeitlichkeit, Zeitfluss, Zeitbewusstsein passim; siehe besonders 171 ff. Zeitigung 175, 203, 210, 212 ff. Zu-den-Sachen-selbst 26
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