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German Pages 266 Year 2014
Utta Isop, Viktorija Ratkovic´ (Hg.) Differenzen leben
Kultur & Konflikt | Band 3
Editorial Die Reihe »Kultur & Konflikt« dokumentiert die Ergebnisse eines Forschungsnetzwerks, das seit 2005 an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt arbeitet. Vertreter/-innen der Frauen- und Geschlechterforschung, der Friedensforschung sowie der Kulturwissenschaften untersuchen – über die sozioökonomische und politische Dimension hinaus – interdisziplinär die Bedeutung der Kategorie »Kultur« für das Verständnis sozialer Konflikte und gesellschaftlicher Gewalt. Auf diesem Wege leistet die Reihe einen Beitrag zur Entwicklung einer kulturwissenschaftlichen Friedensforschung, arbeitet an der Etablierung einer interdisziplinären Geschlechterforschung mit und setzt politische Wissenschaft und Bildung in Bezug zur Geschlechterund Friedensforschung. Die Reihe wird herausgegeben vom Interfakultären Forschungsnetzwerk »Kultur & Konflikt« der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.
Utta Isop, Viktorija Ratkovic´ (Hg.)
Differenzen leben Kulturwissenschaftliche und geschlechterkritische Perspektiven auf Inklusion und Exklusion
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung von: Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien, Forschungsrat der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt aus den Fördermitteln der Privatstiftung der Kärntner Sparkasse
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus Umschlagabbildung: Utta Isop, »Kultur der freien Kooperation«, Klagenfurt, 2009 Lektorat: Utta Isop, Viktorija Ratkovic´ Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1528-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt 1 S PIEL DER D IFFERENZEN Zu diesem Buch ............................................................. 9 Utta Isop/Viktorija Ratković
2 D IFFERENZEN INTEGRIEREN ? Zu diesem Kapitel ......................................................... 23 Utta Isop/Viktorija Ratković Ambivalenzen der Integration von MigrantInnen. Notizen zum Verhältnis von Inklusion und Exklusion ...... 26 Birge Krondorfer
Straight Inclusion, What Else? Zur Problematik eines inklusionslogischen citizenship-Verständnisses im LGBTQ-Kontext ........................................................ 40 Christine M. Klapeer
Migration und Integration. Kommunen und Regionen im Zugzwang ................................................................ 62 Bettina Gruber
3 G LOBALE UND ÖKONOMISCHE A USSCHLÜSSE Zu diesem Kapitel ..................................................................... 75 Utta Isop/Viktorija Ratković
Feministisch/e Komplex/e? Gedanken zur ökonomischen Exklusion .............................................. 78 Karin Schönpflug
Von der Natürlichkeit des Bösen. Hunger in der Welt von Global Governance ................................................. 94 Friederike Habermann
Images sans Papiers. Zur Darstellung von Exklusionsmomenten in Comic-Visualisierungen des Alltagslebens eines jugendlichen Sans-Papiers ...... 110 Barbara Eder
Kein Frieden in Tschetschenien ................................... 128 Siegfried Stupnig
4 P ERSPEK TIVEN UMDREHEN Zu diesem Kapitel ........................................................ 141 Utta Isop/Viktorija Ratković
Von Wissensobjekten zu Wissenssubjekten. MigrantInnen als MedienproduzentInnen .................... 144 Viktorija Ratković
Über die Homo-Ehe hinaus. Die BürgerInnenrechts-Agenda im breiteren sozio-ökonomischen Kontext des Neoliberalismus ........ 161 Mate Ćosić/Hannes Dollinger
Privileging Oppression. Contradictions in Intersectional Politics ................................................ 170 Antonio (Jay) Pastrana, Jr.
Multikulturalismus – schlecht für Frauen, gut für Männer? Konstruktionen ›fremder Männlichkeit‹ in liberalen und postkolonialen feministischen Multikulturalismusdebatten ......................................... 191 Paul Scheibelhofer
5 W EGE DIFFERENT DENKEN Zu diesem Kapitel ...................................................... 207 Utta Isop/Viktorija Ratković
»Enough is enough« – »Ya basta!« Kein Gott, keine Nation, kein Konzern, kein Ehemann .................. 210 Utta Isop
Militante Untersuchungen als anarchafeministische Kritik und Praxis ........................ 231 Stephanie Grohmann
VOBIS – Verein für offene Begegnung und Integration durch Sprache. Ein Projekt von StudentInnen für und mit AsylwerberInnen .................. 254 Denise Branz
Autorinnen und Autoren .................................................... 261
1 Spiel der Differenzen1
Z U DIESEM B UCH Utta Isop/Viktorija Ratković »Now, I was born a slave, a rebel, an inherent queen no thing, situation or person can steal my birthright I came forth in the night a force to be unreckoned with […] Some may attempt to falter my steps… knock me down… but I am resilient… I just bounce […] Able to leap small minds in a single bound Land feet first on the ground« Ursula Rucker (2001) »›Es gibt keine Inseln im Falschen!‹ Nein, aber Halbinseln: […] Räume, in denen Menschen sich ein Stück weit eine andere Wirklichkeit erschaffen und ausprobieren, wohin es gehen könnte. Räume, die es Menschen durch die darin gelebten anderen Selbstverständlichkeiten erlauben, sich anders zu entwickeln, als dies außerhalb solcher Halbinseln möglich ist. […] Materielle Verhältnisse und unseren gesellschaftlichen Kontext verändern bedeutet auch, den eigenen Alltag nach seinen »dissidenten Praktiken« (Carola Möller) auszuloten, das eigene Leben als potentiell revolutionär zu begreifen.« Friederike Habermann (2009)
Differenzen problematisieren »Differenzen leben« heißt der offene Titel dieses Bandes, der auch in Gegensatz zu »an Differenzen sterben« gesetzt werden könnte. Allerdings behaupten wir nicht, dass Differenzen an sich notwendigerweise als abstrakte oder auch konkrete Größe bereits soziale
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oder gesellschaftliche Probleme, etwa Dynamiken des Ausschlusses, bedingen. Es wird hier davon ausgegangen, dass spezifische Interessen von mehreren gesellschaftlichen und global agierenden Gruppen zum Einsatz kommen müssen, damit »Differenzen« überhaupt zum Problem werden und zu sozialen, historischen und gesellschaftlichen Konflikten führen. So bergen weder ethnische, religiöse, geschlechtliche Unterschiede noch verschiedene sexuelle Orientierungen etc. per se Sprengstoff in sich. Erst der Einsatz dieser Differenzen als Begründungszusammenhang für die Ausübung von Herrschaft und für die Zurücksetzung von Interessen bestimmter Gruppen im Sinne eines »divide et impera!« führt zu scheinbar unlösbaren Konflikten von Unterschieden. »Einheiten«, sei es als nationale, ethnische oder geschlechtliche Größen, werden paradoxerweise neben Vielheiten und Differenzen gesetzt und interagieren mit diesen relativ konfliktfrei, bis die Notwendigkeit der Begründung von Herrschaft bestimmter Eliten dazu führt, Differenzen, Identitäten und Identitätslogiken für momentane, mittel- und langfristige Vorteilsstrategien zu nutzen. Birge Krondorfer thematisiert beispielsweise vier strukturelle Formen von Herrschaft, welche Differenzen eröffnen: »Es gibt meiner Ansicht nach aktuell vier beklemmend wesentliche ›Problemzonen‹, über die wir uns auseinandersetzen müssen. Um nicht im allgemeinen Elendsgewöhnungschor mitzusingen. Das Problem der Arbeit. Wir kämpfen in unseren Gegenden um die Schaffung von Arbeitsplätzen. Das ist nicht nur an sich paradox, sondern für die anderen Vielen, wo doch weltweit Millionen Menschen nachgerade in sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen (nicht) überleben. Was wir vergessen ist, dass die Stellung der Arbeit in der abendländischen Geschichte eine sehr spezifische ist; sie gehört zu unserem Identitätshaushalt. Der so genannte Kampf um Arbeit ist also auch ein Kampf um unsere höchsteigene Selbstbestätigung. Das Problem der ›dritten‹ Welt. Das eines der ersten Welt ist. Immer schon sind wir Angehörige (ob wir wollen oder nicht) eines alten ökonomischen Imperialismus und des Neo-Kolonialismus. Der Sozialstaat, in dem wir bei allen Schwierigkeiten leben, das ist global gesehen nicht nur das Unsoziale, sondern das Asoziale. Wir leben in einer virtuellen Realität; die wirkliche Realität, das ist der Hunger, die Millionen hungernden Menschen. Das haben die Linken immer verdrängt, nicht beachtet, nämlich, dass wir sehr gut leben vom westlichen Barbarentum. Unser Wohlstand ist unanständig.
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Das Problem der Migration. Wir sind sozusagen ›von der Wiege an‹ gegen jede Form von Rassismus. Es gibt nicht nur hier eine Politik der Bösen, gegen die man sich selbstverständlich wendet. Wir wollen keine Festung Europa, wir lehnen Frontec genauso ab, wie den österreichischen Asylwahnsinn. Doch: ist es nicht ach so praktisch Sündenböcke zu haben, solche ›Fektereien‹, 2 die uns in Wirklichkeit in unserer Ungestörtheit belassen, in unserer geschützten Matrix? Uns die Wohlanständigen. Das Problem der Geschlechter. Das wird bei den meisten Linken immer noch als Nebenwiderspruch gehandelt und steht doch quer in und zu allen Lebensbereichen. Um nur das mit der Arbeit zum hunderttausendstenmal zu sagen: Frauen weltweit, also auch bei uns, vollbringen neunzig Prozent des unter- und unbezahlten Arbeitens. Frauen haben nicht die Macht; die Macher, die die Welt an die Wand fahren, sind Männer. Die Rechte, das ist männlicher Protofaschismus, auch wenn er sich mit ›Rosen bekränzt‹ und die Kapitalkapitäne, die Souveräne des Kapitalismus, das sind Männer« (Krondorfer 2010).
Das Gegeneinanderstellen von Interessen und die Auseinandersetzung um Herrschaftsstrukturen gerät dann in den Vordergrund, wenn Aushandlungsprozesse misslingen, wenn Gewalt, Hierarchie und Übervorteilung eingesetzt werden, wenn unterschiedliche Verhandlungspositionen nicht dieselben Sanktionsmöglichkeiten und Einflussmöglichkeiten besitzen, wenn die Mittel zu ungleich verteilt, wenn also die zur Verfügung stehenden Strukturen der Positionierung und Aushandlung hierarchisch dermaßen verzerrt sind, dass ein »Zusammenfließen« von Identitäten und Differenzen verweigert werden muss. Differenzen und Identitäten werden je nach historischer und sozialer Verortung in Bezug aufeinander immer wieder neu erfunden und geschaffen, positionieren sich neu, verstehen sich anders durch Einflüsse und Ereignisse, die nunmehr durch die neu entstandene historische Situation ins Blickfeld geraten, grenzen sich ab, verbünden sich wieder. Differenzen werden von uns allerdings nicht als etwas Ursprüngliches verstanden, das durch zu essentialisierende Eigenschaften bestimmt wird. Vielmehr stehen Differenzen hier für Offenheiten und Öffnungen für Alternativen zu bestehenden, durch Herrschaft strukturierten, Verhältnissen, hin zu Formen des Zusammenlebens mit geringeren Gewalt- und Hierarchieförmigkeiten. Kulturell und historisch mit tiefen Emotionen, Erinnerungen, Phantasien und Projektionen verbundene Differenzen eignen sich freilich
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sehr gut dafür, dass aktuelle Eliten mit ihnen ihre Interessen durchzusetzen und abzusichern versuchen, weshalb die Frage danach, welche Differenz momentan wem nützt (cui bono?) entscheidend ist.
Inklusion und E xklusion Institutionen und Organisationsformen, die mit der Hervorbringung von Differenzen und Identitäten befasst sind, bedienen sich oftmals der Prozesse von Inklusion und Exklusion. Genau wissen und kontrollieren zu wollen, welche Personengruppen zu welchen Funktionssystemen gehören und welche nicht, macht Prozesse der Selektion, der Inklusion und Exklusion notwendig, wiewohl die Kriterien, anhand welcher diese Prozesse vorgenommen werden, nur mit größter Anstrengung den Charakter der Willkür verleugnen können. Die meisten Institutionen in liberalen Demokratien sind darauf angewiesen, ihre Selektionskriterien transparent, einleuchtend, objektiv und dem Common Sense entsprechend aufzubereiten, um keinen öffentlichen Unmut zu erregen und Hegemonie abzusichern. Besonders interessant werden dann jene Prozesse, welche die Willkür von Ein- und Ausschlüssen anhand von Verschiebungen zwischen ihren Grenzen öffentlich machen, wie dies etwa am Beispiel von zivilgesellschaftlich erkämpften »humanitären Aufenthalten« in Österreich zu erkennen ist. Aufgrund des vermehrten Einsatzes von Zivilbevölkerung, Bürgermeister_innen, Nachbar_innen usw. konnten Abschiebungen von Asylant_innen rückgängig gemacht werden, d.h., das bereits vollzogene »Fremdenrecht«, wird durch Gnadenakte seitens österreichischer Behörden aufgehoben. Auch hier gibt es gute Gründe, welche für das Bleiben von Asylwerber_innen sprechen, doch trotz dieser »guten Gründe« lassen diese zivilcouragierten Akte den Verdacht aufkeimen, dass die prinzipielle Ziehung von Grenzen zwischen Menschen mit dem Recht auf freien Personenverkehr weltweit und Menschen ohne Recht auf freien Personenverkehr nicht wirklich guten Gründen zu verdanken ist, sondern der Ausübung von Herrschaft, Gewalt und Willkür zur Absicherung der Interessen von privilegierten Gruppen und Gesellschaften vor den Ansprüchen der Ausgeschlossenen.
Kultur und Kultur wissenschaft Institutionelle Kulturen befördern oder schwächen Praktiken der Selektion, Inklusion und Exklusion. Organisatorische Kulturen tragen ebenso wie Ökonomien und Politiken zur Stabilisierung von
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Herrschaftsstrukturen bei oder dazu, letztere zu unterwandern. Die Symbolisierungspraktiken, mediale Imaginäre, die Gruppenphantasmen, Identitäten und Archetypen wie Stereotypen, welche Kulturen aufspannen, charakterisieren nicht nur die Ebenen der Ökonomie und Politik, sondern verstärken Dynamiken in diesen Feldern oder schwächen sie ab. Das Verhältnis von Eigentumsstrukturen etwa und ihren Symbolisierungsformen in medialer und Alltagskultur ist kein spiegelbildliches, sondern ein jeweils durch Interessen, Traditionen, Erwartungen, Ideologien verzerrtes. Und wie Stuart Hall dies ausdrückt, lässt sich selten entscheiden, welche Wirkungen größer sind, jene der tatsächlichen Eigentumsverhältnisse oder jene ihrer verzerrten Symbolisierungen, denn die kulturellen Symbole, Gegenstände und Praktiken üben eine eigenständige Form von Mächtigkeit und Einfluss auf Öffentlichkeiten und die einzelnen Personen aus: »Ich habe etwas über Kultur gelernt: dass sie einerseits zutiefst subjektiv und persönlich ist und zugleich eine Struktur, die man lebt. […] Seitdem kann ich nicht mehr verstehen, warum Leute denken, diese strukturellen Fragen seien nicht mit der Psyche verknüpft, mit Emotionen und Identifikationen. Denn für mich sind diese Strukturen Dinge, die man lebt. Ich meine nicht nur, dass sie persönlich sind, das auch, aber sie sind auch institutionalisiert, sie haben wirkliche strukturelle Eigenschaften, die dich zerbrechen, die dich zerstören« (Hall 2000: 13).
Der politische Anspruch der Cultural Studies, zum Abbau von Gewalt, Herrschaft und Hierarchien aktiv und direkt beizutragen und die Analyse von massenkulturellen Prozessen, Produkten, Artefakten und Symbolisierungen, fehlt in den deutschsprachigen Kulturwissenschaften (vgl. Gerbel/Musner 2002) und wäre aus demokratiepolitischen Gründen als Desiderat zu formulieren.
Herrschaft und Unterdrückung Die Herausgeberinnen dieses Bandes halten es für problematisch, wie beispielsweise Foucault dies konzipiert, den Begriff der Herrschaft und der Unterdrückung aufzugeben, und nur mehr mit einem Begriff der Macht zu arbeiten, der davon ausgeht, dass die Unterschiedlichkeiten der Einflussmöglichkeiten auf bestimmten Positionen in Feldern und Institutionen nur sehr gering im Verhältnis zum Gesamtsystem sind, sodass nicht mehr von »Subjekten der Macht«, geschweige denn von Herrschenden gesprochen werden kann. Diese
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Sichtweise verschiebt die Perspektive weg von entscheidenden Zentren der Ausübung von Herrschaft, die mit besonders großen Gestaltungs- und Handlungsspielräumen ausgestattet sind (diese sind in der Lage, ganze Organisationen, Institutionen, gesellschaftliche Felder oder sogar Nationen zu prägen, in bestimmte Richtungen zu lenken, zu manipulieren oder einfach bedeutsam zu beeinflussen), hin zu der Perspektive, dass die Gesamtstruktur als ein Zusammenspiel unterschiedlicher Kräfteverhältnisse zu betrachten ist, welches nicht wirklich entscheidend von bestimmten Zentren oder besonders privilegierten Positionen aus zu bestimmen ist. So ist der Begriff »Herrschaft« für uns ein zentraler, und zwar verstanden als »Zwang eines fremden Willens, den wir aufgrund unserer Lage dauerhaft akzeptieren« (Marx 1983 [1857/1858]): 400). Herrschaft besteht darin, »über andere verfügen zu können: ihre Arbeit, ihren Körper, ihre Person. Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die Kooperation ist erzwungen, weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen kann, weil sie nicht darüber bestimmen kann, was sie einbringt und unter welchen Bedingungen, weil sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die Regeln der Kooperation hat« (Spehr 2000: 15f.).
Im Gegensatz zu der oben skizzierten theoretischen Position gehen die Herausgeberinnen dieses Bandes davon aus, dass es existentiell und funktionell bedeutsame Unterschiede in Privilegien, Einflussmöglichkeiten, Sichtbarkeiten, Reichweiten der Kommunikation, Schutz der positionellen und gruppenspezifischen Interessen, in institutionellen Akkumulationen von Artikulationsmöglichkeiten und in Verfügung über unterschiedliche Kapitalsorten gibt. So denken wir, dass es beispielsweise nicht nur qualitative entscheidende Unterschiede in Bezug auf Gestaltungs- und Handlungsspielräume zwischen den Positionen von Chefredakteur_innen einer Tageszeitung, Rektor_innen einer Universität, Ministerialbeamt_innen, von Obdachlosen, mittleren Angestellten in einem Rüstungsbetrieb oder von Kindergärtner_innen gibt. All diese Positionen und vor allem die Standes- und Berufsgruppen, Interessensverbände und Dynastien, in welche diese Positionen eingebettet sind, verfügen über ganz unterschiedliche soziale Einflussmöglichkeiten, Hierarchien und Herrschaftsstrukturen. Die Handlungs- und Lebensräume von Leiharbeiter_innen beispielsweise können meist weder in Reichweite, Druck
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noch Durchsetzungskraft mit den Schutzräumen und Privilegienstrukturen von Großindustriellen verglichen werden.
Ansätze der Frauen- und Geschlechterforschung In den Gender Studies stellen die Konzepte der Intersektionalität und Interdependenz den Versuch dar, Verknüpfungen von unterschiedlichen Herrschaftsformen, Herrschaftstechniken und Prozessen der Inklusion und Exklusion vor allem kulturwissenschaftlich zu fassen. Dabei steht der Respekt gegenüber der Verschiedenheit von Unterdrückungsstrukturen in Geschichte, Funktionsweisen, Organisierungsformen, ideologischen Argumenten, Eigentumsverteilungen und Ökonomien im Vordergrund. Ausgegangen wird von sozial konstruierten Ungleichheiten, die einander in bestimmten Gruppen und Individuen vervielfachen, überkreuzen, verknüpfen, verstärken oder auch abschwächen können. Besteht für relativ privilegierte Gruppen noch die Möglichkeit, die eine oder andere Diskriminierung zu kompensieren, so führen andererseits die Häufungen von Mehrfachdiskriminierungen wie Armut, Krankheit, Behinderung, u.v.m. oftmals zu großflächigen Zusammenbrüchen von Kooperationssystemen. Einige der wichtigsten historischen Eckpfeiler der Entwicklung des Ansatzes der Interdepenzen hat beispielsweise Katharina Walgenbach (vgl. 2007) wie folgt festgemacht: • Die Kritik der proletarischen Frauenbewegung (z.B. Clara Zetkin in den 1920er Jahren) an der Bürgerlichen Frauenbewegung wegen der Ausblendung der Klassenproblematik. • Die Wissens- und Theorieproduktion schwarzer Frauen und Feministinnen in den USA der 1970er Jahre wie z.B. durch das Combahee River Collective (»A Black Feminist Statement« 1977), welche den Zusammenhang von ›Rasse‹ und Geschlecht systematisieren. • Die Thematisierung von Double Jeopardy, der Triple Oppression und der Multiple Jeopardy in den 1970er Jahren von Frauen, die zwischen zwei oder mehr sozialen Bewegungen standen (z.B. zwischen der Behindertenbewegung oder der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und der Frauenbewegung). • Der Intersectionality-Ansatz von Kimberlè Crenshaw, welcher betont, dass das Zusammentreffen verschiedener Ungleichheiten zum Ausschluss von spezifisch unterdrückten Personengruppen führen kann.
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• Der »Doing-Difference-Ansatz« (Sarah Fenstermaker und Candace West) beschreibt wie Ungleichheiten, Ein- und Ausschlüsse durch soziale Praktiken hervorgebracht werden. Er ist an das Konzept »Doing Gender« von Candace West und Don Zimmermann angelehnt. • Der theoretische Ansatz der »Achsen der Ungleichheit« (Cornelia Klinger) nimmt eine gesamtgesellschaftliche Perspektive ein und leistet eine Verbindung zwischen sozialen Praktiken und längerfristigen, gesamtgesellschaftlichen, globalen Strukturen. Für Klinger ermöglichen die drei Kategorien Geschlecht, Rasse und Klasse eine optimale Ausnutzung menschlicher Arbeitskraft für die Erzeugung von wirtschaftlichem Wachstum und Wachstum von Kapital. Die Löhne von weiblichen, farbigen und aus »unteren Klassen« stammenden Arbeiter_innen lassen sich sehr leicht senken und über Ein- und Ausschlüsse aus dem Arbeitsmarkt regulieren. Daraus entsteht der nötige Mehrwert. • Schließlich Gender als Interdependente Kategorie (Katharina Walgenbach) mit der These, dass die Kategorie »Geschlecht« unterschiedlich gestaltet ist, je nachdem, mit welchen anderen Unterdrückungsstrukturen sie verbunden ist. Die Fragen nach dem »Wie« von Geschlecht und die Frage nach den Prozessen der Einund Ausschlüsse können nicht mehr beantwortet werden, ohne dass Fragen nach anderen interdependenten Ungleichheiten gestellt werden.
Soziale Bewegungen und Bündnispolitiken Wie bereits oben angedeutet, gehen die Herausgeberinnen dieses Bandes nicht davon aus, dass Differenzen oder »das Sprechen von einem Wir« ausschlaggebend sind für ethnische, religiöse, ökonomische, geschlechterkritische oder sonstige Konflikte, Klassenkämpfe oder kriegerische Auseinandersetzungen. Im Gegenteil gehen wir davon aus, dass in vielen Bereichen von Gesellschaften kontinuierlich geübte Praxis in der Kooperation zwischen verschiedenen »Wirs«, Identitäten und Differenzen besteht und dort die Idee, unterschiedliche Identitäten könnten die Notwendigkeit von Kooperation in Frage stellen, gar nicht auftaucht. Die Aktivist_innen sozialer Bewegungen in allen diesen Bereichen beispielsweise stellen sich stets wieder der Frage und der praktischen Herausforderung nach langfristigen und wirksamen Bündnispolitiken. Die genauen Analysen der Unterschie-
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de verschiedener Herrschaftsstrukturen in ihren jeweils historisch sich wandelnden Erscheinungen unterstützen dabei die Zusammenarbeiten nicht immer, sondern können diese vielmehr erschweren. Theorien über Herrschaftsstrukturen, welche die gesellschaftlich geöffneten Differenzen lediglich nachvollziehen, benennen, analysieren und nicht dahin arbeiten, den Herrschaftstechniken des »divide et impera!« entgegen zu wirken, verstärken manchmal die Unmöglichkeit von dringend benötigten Bündnispolitiken und theoretischen Verbindungen zwischen den vielfältigen sozialen Bewegungen. Auch die Strategie der »Umwertung« von Differenzen, welche eine bedeutsame und in jeweils historischen Momenten sehr wirksame Vorgehensweise von sozialen Bewegungen sein kann (siehe die QueerBewegung, die Krüppel-Bewegung oder die Differenzfeminismen), erleichtert manchmal nicht das Eingehen von Bündnissen mit anderen sozialen Bewegungen, verhilft aber zur Profilbildung und dazu, entscheidende Schwerpunkte der eigenen Bewegung zu klären. Generelle Verunglimpfungen und Abwertungen bestimmter Strategien von sozialen Bewegungen oder bestimmter Entwicklungen von wissenschaftlichen interdisziplinären Fächern (wie z.B. die Abgrenzung von »Gleichheitsfeminismen«, »Differenzfeminismen«, »Queerfeminismen« und »poststrukturalistischen Feminismen«), die zwar einerseits zur Ausdifferenzierung des Feldes führen, behindern andererseits durch ihre oftmals eindimensionalen Positionsbestimmungen und Stigmatisierungen gemeinsame Vorgehensweisen. So sind Kritiken wie etwa die von Sedef Gümen und Castro Varela, wonach die »Festschreibung der Differenzen durch lediglich positive Bewertung und Anerkennung derselben […] nichts anderes als eine reifizierende Sichtweise [ist], die dazu führt, ›die den Differenzen unterliegenden sozialen Ungleichheiten neutralisieren [werden]‹« (Gümen 1996: 80; zit.n. Castro Varela 2007: 15) analytisch und bewegungsformerisch zwar von großer Bedeutung, es muss jedoch theoretisch und praktisch darüber hinausgegangen werden, um Bündelungen und Zusammenflüsse von kritischen Wissenschaften und sozialen Bewegungen zu ermöglichen.
Differenzen im Dialog Der Reflexion über die »toten Enden« einer Strategie und eines theoretischen Konzepts, die zu keiner verstärkten Kooperation von sozialen Bewegungen mehr führt, sondern diese eher behindert, muss
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die Hervorhebung der Fruchtbarkeit in manchen historisch-sozialen Situationen entgegen gehalten werden, wie sie etwa Roger Bromley formuliert: »Räume der Differenz sind […] häufig dialogische Räume, und nicht nur Orte, an denen neue Essentialismen und absolute Werte entstehen« (Bromley 2002: 795). Sowohl für die Entwicklung neuer Theorien zu Herrschaftsformen als auch für die Erzeugung neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen sozialen Bewegungen, die immer wieder erfunden werden müssen, ist das Herstellen »lebendiger Felder der Differenz«, wie Brigitte Hipfl (2010) dies formuliert, von entscheidender Bedeutung. Die Herausgeberinnen dieses Bandes gehen mit Günther Schlee davon aus, dass eine große Fülle an Differenzen nicht zu sozialen und gesellschaftlichen Konflikten führt, sondern wie selbstverständlich im Zusammenleben integriert und gelebt wird. Günther Schlee betont, dass »die integrativen Aspekte von kulturellen Unterschieden auf der Strecke [bleiben], weil Differenz einseitig als konfliktträchtig betrachtet wird. Dass soziale Integration auf höherer Ebene auch gerade durch Differenzen ermöglicht wird, also der Aspekt ›Integration durch Verschiedenheit‹ wird dabei vernachlässigt« (Schlee 2006: 17). Ein theoretisches Konzept, das diese beständige Offenheit von Differenzen und Identitäten gegenüber Dialogen, Polylogen, NeuKonstituierungen und Gemeinsamkeiten betont, ist das des »in/appropriate Other« von Trinh Minh-ha, welches versucht, »Dualismen entgegenzuwirken, indem die Differenz nicht als eine Beschreibung sozialer Zustände auftaucht, sondern vielmehr als prozesshaft und nicht-ursprünglich dargestellt wird. Differenz wird somit nicht a priori bestimmt. Die Figur der ›in/appropriate Other‹ bleibt beständig in selbst-kritischer Bewegung« (Castro Varela 2007: 89; Minh-ha 1988: 76).
Zu dieser Publikation Dieser Band ist der dritte in der Reihe Kultur & Konflikt des interdisziplinären Forschungsnetzwerks Kultur & Konflikt an der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt. Das Netzwerk, getragen von der Fakultät für Kulturwissenschaft, der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, dem Institut für Philosophie, dem Institut für Medienund Kommunikationswissenschaften, dem Zentrum für Friedensforschung und Friedenspädagogik sowie dem Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien, wurde 2005 gegründet und veranstaltet laufend
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Workshops und Konferenzen, aus denen weitere (bereits erschienene und sich in Vorbereitung befindliche) Bände für diese Reihe entstanden sind. Die vorliegende Publikation baut auf der Tagung »Inklusion – Exklusion. Demokratie, Minderheiten und Geschlecht« im Rahmen des 7. Treffens der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterstudien im deutschsprachigen Raum vom 16. bis 18. Juli 2009 in Klagenfurt auf, die von den StudienassistentInnen des Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien, Hannes Dollinger, Elisabeth Koch und Sabrina Nepozitek konzipiert und organisiert wurde. Dieser Band versucht, einige Verbindungen zwischen kulturwissenschaftlichen Analysen und herrschaftskritischen Themen und Theorien herzustellen. Dies ergibt sich schon aus dem sich durchziehenden Faden geschlechterkritischer Ansätze und von Autor_innen, welche die kulturellen Verwobenheiten von intersektionalen Herrschaftsformen und -techniken analysieren. Ein weiteres Augenmerk liegt auf der Vermittlung von Theorie und Praxis in diesem Band, der den Versuch unternimmt, theoretisch-wissenschaftliche Beiträge von mehrheitlich Nachwuchswissenschafter_innen einerseits und aktivistische Feldberichte sowie Erfahrungsberichte aus sozialen Bewegungen andererseits miteinander in Beziehung zu setzen. Texte zu konkreten Initiativen und Projekten aus dem südlichen Teil Österreichs (Kärnten) werfen einige Schlaglichter auf die beispielhafte rechte Radikalisierung der Mitte und der Regierungsparteien und die Formen des Widerstands von unten in einem Land im Zentrum Europas. Die Beiträge sind in vier Kapiteln gruppiert: Im ersten Teil werden sowohl spezifische Prozessierungen der Inklusion von Seiten der Staats- und Marktapparate in Bezug auf Migrant_innen und LGBTQCommunities problematisiert als auch die Freiraum schaffenden Dynamiken von kommunalen Integrationsvorgängen in Bezug auf Migrant_innen-Communities ausgelotet. Anschließend werden wirtschaftswissenschaftliche und subjekttheoretische Argumente im Hinblick auf ihre Herrschaft stabilisierenden Ideologien und Kulturen in den Blick genommen. Einerseits geraten dabei das Feld der Ökonomie und andererseits die Überlebensbedingungen von Asylwerber_innen und Sans-Papiers in den Blick. Im dritten Kapitel hinterfragen die AutorInnen herrschende Perspektiven und Wertungen, etwa in den feministischen und lesbisch-schwulen Bewegungen und der Forschung. Abschließend werden diese Perspektiven ein Stück weiter beschritten, indem konkrete Aktivitäten, Konzepte, Praktiken und Lebensformen zur Diskussion gestellt werden.
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Ausgehend davon, dass es notwendig ist zu hinterfragen, ob und wie »Differenzen integriert« werden sollen und wie »Globale und ökonomische Ausschlüsse« überhaupt entstehen und in der Annahme, dass es möglich ist, »Wege different zu denken« und »Perspektiven umzudrehen« werden in diesem Band Positionierungen von unterschiedlichen emanzipatorischen Bewegungen artikuliert bzw. Reflexionen auf und Auseinandersetzungen mit den herrschaftskritischen, manchmal anarchistischen oder basisdemokratischen Anliegen sozialer Bewegungen vorgenommen. Die dominierenden Überlebens-, Wirtschafts-, Arbeits- und Zerstörungs-Bedingungen in aktuellen Gesellschaften werden aus der Perspektive von Minderheitenpositionierungen und von Mehrheiten, deren Interessen zu minderheitlichen prozessiert werden (wie etwa jene von Frauen), der Sans-Papiers und Asylwerber_innen, von Migrant_innen, queeren Bewegungen, Subjekten des globalen Hungers, Lesben, Schwulen und Transgenders und ökonomisch ausgegrenzten Massen kritisiert und es wird der Versuch unternommen, Perspektiven der Transformation dieser Bedingungen zu eröffnen, auf dass das Spiel und die Politik der Differenzen offenbar werden und Widerstand unterstützt wird. Klagenfurt/Celovec, im November 2010
Anmerkungen 1 | »Es geht nicht um einen neuen statischen Zustand der Mischung, letztlich die Vereinheitlichung aller Unterschiede zu einem undefinierbaren ›Mischmasch‹, sondern um einen dynamischen Prozess: Aus dem Spiel der Differenzen entstehen immer neue Differenzen, und damit stets neue Vielfalt« (Wintersteiner 2006: 76). 2 | Maria Fekter ist die österreichische Innenministerin und somit für »Abschiebungen« zuständig.
Literatur Bromley, Roger (2002): »Stets im Aufbau. Das Aushandeln von diasporischen Identitäten«. In: Andreas Hepp/Martin Löffelholz (Hg.), Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation, Konstanz: UVK.
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Castro Varela, María do Mar (2007): Unzeitgemäße Utopien. Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung, Bielefeld: transcript. Combahee River Collective (1977): »A Black Feminist Statement«, www.feministezine.com/feminist/modern/Black-Feminist-Statement.html (Stand: 26.11.2010). Crenshaw, Kimberlé (1991): »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color«. In: Stanford Law Review, Vol. 43, No. 6, S. 1241-1299. Habermann, Friederike (2009): Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag, Königstein/Taunus: Ulrike Helmer. Hall, Stuart (2000): »Die Formierung eines Diaspora-Intellektuellen«. In: Ders., Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3 (Nora Räthzel, Hg.), Hamburg: Argument Verlag, S. 8-17. Hipfl, Brigitte (2010): Podiumsdiskussion »Kritik des Okzidentalismus« am 10.3.2010 in Klagenfurt. Gerbel, Christian/Musner, Lutz (2002): »Kulturwissenschaften: Ein offener Prozess«. In: Lutz Musner/Gotthart Wunberg (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien: Facultas Verlag, S. 9-27. Gümen, Sedef (1996): »Die sozialpolitische Konstruktion ›kultureller‹ Differenzen in der bundesdeutschen Frauen- und Migrationsforschung«. In: beiträge zur feministischen theorie und praxis 42 (19), S. 77-89. Krondorfer, Birge (2010): »Rede zum 1. Mai«, http://wien.kpoe.at/ news/article.php?story=20100503114705954 (Stand: 26.11.2010). Marx, Karl (1983 [1857/1858]): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin: Dietz Verlag, http://dhcm.inkrit.org/wp-content/data/mew42.pdf (Stand: 26.11.2010). Minh-ha, Trinh T. (1988): »Not you/Like You: Postcolonial Women and the Interlocking Question of Identity and Difference«. In: Inscriptions 3 (4), S. 71-77. Rucker, Ursula (2001): »Womansong«. In: Dies., Supa Sista, Berlin/ New York: !K7 Records. Schlee, Günther (2006): Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte, München: Verlag C.H. Beck. Spehr, Christoph (2000): Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation, zugleich – preisgekrönte! – Beantwortung der
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von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: »Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?«, Bremen. Walgenbach, Katharina (2007): »Gender als interdependente Kategorie«. In: Katharina Walgebach/Gabriele Dietze/Antje Hornscheidt/Kerstin Palm (Hg.), Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/Farmingron Hills: Verlag Barbara Budrich, S. 25-64. Walgenbach, Katharina/Dietze, Gabriele/Hornscheidt, Antje/Palm, Kerstin (Hg.) (2007): Gender als interdependente Kategorie. Neue Perspektiven auf Intersektionalität, Diversität und Heterogenität, Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich. West, Candace/Fenstermaker, Sarah (1995): »Doing Difference«. In: Gender & Society, 9, S. 8-37. West, Candace/Zimmermann, Don H. (1987): »Doing Gender«. In: Gender & Society, 1, S. 125-151. Wintersteiner, Werner (2006): Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisierung, Klagenfurt/Celovec: Drava.
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Z U DIESEM K APITEL Utta Isop/Viktorija Ratković »Because I, a mestiza, continually walk out of one culture and into another. because I am in all cultures at the same time, alma entre dos mundos, tres, cuatro, me zumba la cabeza con lo contradictorio. Estoy norteada por todas la voces que me hablan simultáneamente.« Gloria Anzaldúa (1999)
»Integration«, je nach Positionierung das Wort oder das Un-Wort hitziger Debatten, steht als Begriff im Mittelpunkt dieses Kapitels. Zwei unterschiedliche Bereiche werden hier problematisiert und damit die Komplexität von »Integration« und »Inklusion« verdeutlicht: Einerseits die Migration bzw. die Integrationsanforderungen, die an Migrant_innen gestellt werden, andererseits LGBTQs bzw. ihre Forderung, als Staatsbürger_innen anerkannt und mit entsprechenden Rechten ausgestattet zu werden. In westlichen Gesellschaften wird die vorhandene Vielfältigkeit von Lebensformen, Identitäten (z.B. queere, anders geschlechtliche, ungeschlechtliche) oder Organisierungsformen (z.B. basisdemokratische, losdemokratische, Rotationsverfahren etc.) trotz rhetorischer Freiheit weder anerkannt noch akzeptiert. Menschengruppen mit differenten Sprachen, Religionen, Lebensformen, Identitäten, Kollektiv- und Sozialformen werden tot geschwiegen, in seltenen Fällen erkämpfen sie gewisse Minderheitenrechte, deren reale Umsetzung
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aber nicht gesichert ist. Als Beispiel kann hier die Problematik der seit Jahrzehnten nicht aufgestellten zweisprachigen Ortstafeln in Kärnten dienen, wobei diese Unterlassung der Kärntner Landesregierung sowohl dem österreichischen Verfassungsrecht als auch mehreren Entscheiden des Verfassungsgerichtshofs widerspricht. Mediale und politische Kampagnen der Verunglimpfung, Ausweisung und Vertreibung gegen bestimmte Menschengruppen (z.B. Bettler_innen-Verbote in Städten, Abschiebung von Asylant_innen, Verbringung von Roma und Sinti aus Frankreich) sind an der Tagesordnung. Auch wenn von »Integration« gesprochen wird, so haben doch die entscheidenden bürokratischen, staatlichen und marktförmigen Prozesse, die Migrant_innen zugemutet werden, Assimilation zum Ziel. Birge Krondorfer distanziert sich in ihrem Beitrag von den Anforderungen der »Integration«, die von Nationalstaaten und dem Suprastaat der Europäischen Union an Migrant_innen gestellt werden. »Kulturen« werden von ihr nicht als »natürliche Eigenschaften« von Gruppen, Massen oder Individuen angesehen, die bei Vermischung einer Behandlung und Umwandlung bedürfen, um die vice versa Zuschreibungen von Fremdheit zu entschärfen. Das grundlegende Problem der so genannten »Ausländerfrage« besteht, so Krondorfer, in der Organisation von Verschiedenheit in demokratischen und kapitalistischen Gesellschaften. Die alltägliche Arbeit an der geübten Lebenspraxis und Identität, die darin bestehen könnte, »fremd zu werden«, »fremd zu bleiben« und die notwendig kritische Distanz zum »Eigenen« zu entwickeln, würde es Gemeinschaftsformen erst ermöglichen, tatsächlich freie Weisen der Kooperation mit geringer Gewalt- und Hierarchieförmigkeit hervorzubringen. Christine Klapeer übersetzt die Forderung »fremd zu bleiben« in ihrem Beitrag zur Forderung nach einem »dissident citizenship«. Sie durchdenkt die Fragen der Integration und Inklusion für die Community der LGBTQs im Hinblick auf die Erkämpfung von Staatsbürger_innen-Rechten. Bürger_innenrechtsbewegungen stehen wie die meisten sozialen Bewegungen vor dem Problem, dass sie auf der einen Seite innerhalb der bestehenden Institutionen um Anerkennung, Rechte, Teilhabe, Zugang zu Ressourcen, Eigentumsanteile, Nutzungsmöglichkeiten, politische Artikulation, Einflussnahme durch Partizipation ringen müssen und dass sie auf der anderen Seite all diese Ansprüche gerade durch diese Anpassungsakte in Frage stellen, eben weil sich die eigene Identität, die Community, die Lebensform etc. gerade durch diese Anpassungsakte aufzulösen droht.
D IFFERENZEN INTEGRIEREN ?
Nun geht es bei dieser Kritik und der Reflexion auf die Auswirkungen vom »Marsch durch die Institutionen« nicht um die Konservierung oder Essentialisierung von »ursprünglich anderen Identitäten und Existenzen«, es geht nicht um »Biodiversität« oder »Arterhaltung« von Menschengruppen, sondern um die Verteidigung und Erkämpfung von Freiheiten anders zu leben, zu existieren, sich anders zu symbolisieren als dies die jeweils herrschenden und dominanten Vergemeinschaftungspraktiken von Gesellschaften vorschreiben. Nicht also die Erhaltung und Bewahrung von etwas »ursprünglich Anderem«, »Volksgruppen- oder Geschlechterspezifischem«, nicht die Integration von geschlechtsgruppenspezifischen Interessen (z.B. Interessenspolitik der lesbisch-schwulen Community) ist für Christine Klapeer das anzustrebende Ziel, sondern vielmehr die Infragestellung und Neustrukturierung von gesellschaftlichen Strukturen der Inklusion und Exklusion, welche die Neuerfindung, die Verwandlung, die Erschaffung von relativ autonomen Existenzen z.B. in Formen der LGBTQs ermöglichen und befördern. Durch Konzepte, Selbst-Symbolisierungen und mediale Inszenierung von beispielsweise »dissident citizinship« sollen Transformationen gesellschaftlicher Praktiken insgesamt erreicht werden, welche die Regeln der Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität jenseits von Inklusion und Exklusion außer Kraft setzen. Bettina Gruber stellt in ihrem Artikel eine konkrete Initiative, deren Ziel die Entwicklung eines »Integrationsleitbildprozesses« für die Kärntner Stadt Villach ist, vor. Einen der Anlassfälle für die Gründung der Plattform »Migration ein Menschenrecht« bildete die ungerechtfertigte Abschiebung von asylwerbenden Familien, die zwar von den Einwohner_innen der Stadt als Mitbürger_innen anerkannt, aber nicht mit entsprechenden Rechten ausgestattet waren. Die Plattform strebt an, gemeinsam mit allen Beteiligten (d.h. sowohl mit »Einheimischen« als auch mit »Zugewanderten«) Rahmenbedingungen für ein »positives Klima des verantwortungsbewussten Miteinanders« zu schaffen. Statt wie vielfach üblich den Migrant_innen die Verantwortung für ihre »Integration« aufzubürden werden hier konkrete Forderungen formuliert, was von der Kommune geleistet werden muss, damit das Zusammenleben Verschiedener funktionieren kann.
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Literatur Anzaldúa, Gloria (1999): Borderlands/La Frontera. The New Mestizia, 2. Aufl., San Fransisco: Aunt Lute Books.
A MBIVALENZEN DER I NTEGR ATION VON M IGR ANT I NNEN . N OTIZEN ZUM V ERHÄLTNIS VON I NKLUSION UND E XKLUSION Birge Krondorfer »Deshalb ist das Recht, Rechte zu haben, für Arendt das einzige Menschenrecht – das Recht zur Welt zu gehören und in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man auf Grund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird, diese also zu verantworten hat.« Christina Thürmer-Rohr (o.J.)
Begriffe wie Integration, Inklusion, Partizipation, Empowerment sind in aller Munde – in realpolitischer Hinsicht ebenso wie in (dazu) kritischer Forschungsabsicht. Die Fülle an polemischer Alltagsrhetorik, an EU-Strategemen, an wissenschaftlicher Thematisierung von Migration lässt umgekehrt auf einen Mangel schließen, mit dem irgendwie umzugehen sei. Aber um welchen Mangel, das wäre eine der Fragen, die hier skizziert werden; mit unabschließbaren Antworten, denn jeder Anspruch auf die (Er)Lösungsmöglichkeit induziert heimlich eine heile(nde)Totalität. »Eine gemeinsame Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven« (Arendt 1981: 57).1
Ambivalenzen I Desintegrationsvorwürfe werden (nicht nur) in populistischen Integrationsdiskursen an als kulturell determinierten »Differenzen« festgemacht und nicht an sozialer und gesellschaftlicher Ungleichheit. Devianzen – gemessen an einer wiederum kulturell vorgestellten Nation der Eigenen – werden a priori diagnostisiert um Abweichungen als fremd und gefährlich zu problematisieren und vor der Konstitution von Parallelgesellschaften zu warnen. Die damit verbundene Integrationsanforderung ist paradox, denn ihr ist die Exterritorialisierung vorausgesetzt. Diese ›Dialektik der Repräsentation von Migran-
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tInnen‹ (nach Terkessidis 2004: 103) bedeutet deren Unsichtbarmachung – ›Personen, die eigentlich woanders hingehören‹ – während die Verwaltungs- und Bildungsorgane sie als ›Problem‹ institutionalisieren, sie als ›Ausländer‹ registrieren und sie damit auf ein Ausserhalb verweisen (ebd.: 102). So wird diese Ungleichheit normalisiert, auch MigratInnen identifizieren sich mit ihrer marginalisierten Position und inszenieren sich entsprechend kulturell andersartig. Der Effekt ist dann eine ungestörte Situation für alle. Durch Kritik an diesem Integrationsdiskurs werden die strukturellen Bedingungen der Desintegration ersichtlich, (staats-)bürgerliche Zugehörigkeit sowie soziale und politische Partizipation ansprechbar und inzwischen auch gefordert. Dabei sind – idealiter – Marginalisierte und Desintegrierte nicht länger Objekte von politisch induzierten bürokratischen Verfahren und Mainstreamdiskursen, sondern können – theoretisch – zu SprecherInnen ihrer selbst, über Diskriminierungserfahrungen und über ihre ausgegrenzte Situierung werden.2 Doch das ist erst in Ansätzen möglich; zumindest, wenn von der ›Durchschnittsmigrantin‹ gesprochen wird, die zumeist als ›türkische‹ sprachlose und ins Heim gesperrte Mama phantasiert wird. Die migrantischen ›Global Players‹, welchen es aus ökonomischen Kalkülen und ihren Verbindungen zur Society nicht an Akzeptanz mangelt, kommen in den Kritiken am Migrationsregime kaum ins Blickfeld. Doch hier soll es – ähnlich wie in einer kritischen feministischen Perspektive – nicht um ›KarrieristInnen‹, sondern um prinzipielle innere und äußere Strukturen von Ein- und Ausschlüssen in unseren gesellschaftlichen Formationen gehen, wobei generell große Achtsamkeit darauf gelegt werden muss, dass nicht in redlicher Absicht durch die permanente Beschwörung eines ›minderen‹ Status von MigrantInnen dieser auch noch zementiert wird. Der wachsende nationalistische Ruck in Europa, nicht nur in der EU, ist an die Vorstellung von ›Kultur‹ als fixer Ethnie gekoppelt. Dabei stellt, wie alle historisch bedingte Identität, ›jede nationale Identität selbst nur eine Konstruktion ohne Original‹ dar (nach Ha/Schmitz 2006). In einem ethnisierten Begriff von Kultur als quasi ›erster‹ Kultur scheint sich lediglich eine Alternative zu ergeben: das Modell eines getrennten Nebeneinanders (Apartheit) oder das Bild einer Vielfalt in der Einheit, wobei letztere durch eine nationale Werteordnung vorgegeben ist. Diese Ordnung wird nicht demokratisch, denn das hieße auf Antagonismen basierend und MigrantInnen einbeziehend,
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ausgehandelt, sondern ist a priori existent und ermöglicht lediglich eins: Anpassung, pointiert: Selbstunterwerfung. Dieses ›Soll‹ als Zoll lässt sich auch als Assimilation bezeichnen (ursprünglich: Umwandlung eines Organismus in einen anderen), ein asymmetrischer Prozess, in welchem sich die Minderheit zu verändern hat – Geschichte, Tradition, Lebensstil –, während sich die Identität der assimilierenden Gesellschaftsform erhält. Es geht also um Angleichung, Gleich-Machen. Das (Stigma des) Anderssein(s) wird durch solcherart Integration homogenisierbar: ›imitatio sine qua non‹. Die Zulassungsbedingungen zur Mehrheitsgesellschaft bestätigen diese »in ihrem Status als Besitzer, Wächter und Generalbevollmächtigter der höheren Werte und [verleihen] dem Begriff ›Wertüberlegenheit‹ materielle Substanz« (Bauman 1992: 134). Jedoch darf bei all der berechtigten (theoretischen) Kritik weder das durchaus bestehende (praktische) Zugehörigkeitsbedürfnis von MigrantInnen unterschlagen werden, das weder nur fremdbestimmt ist noch wirklich (bewusst) inszeniert wird; auch dürfen die ProtagonistInnen nicht als passive Objekte ›beleidet‹ bzw. umgekehrt als hybride Souveränitäten ›beneidet‹ werden. Denn ›Objekte‹ von Diskriminierung bloß negativ (Opfer) oder nur positiv (HeldInnen) zu stilisieren, übersieht die Grundsätzlichkeit von Anerkennungsdialektiken und löst die Problematik der Sozialität, der Bedingtheit von Allgemeinheit und Besonderheit nicht.
Ambivalenzen II Bei der Thematisierung des immer gesetzten wie prekären Allgemeinen jedwelchen kollektiven Singulars, also der Geschlossenheit und Offenheit des Politischen sui generis, geht es prinzipiell um Fragen – und jeweils historische Antworten – der Organisierung von Verschiedenheiten. Wenn wir bedenken, dass die jeweils eigene Identität nur aufgrund der Differenz zu allen anderen Identitäten existiert, dann ist jede/r jeder/m ein anderes. Dies reflektiert sich im Umgang mit der Problematik von Fremdheit in unterschiedlichen Figuren: der Andere, der Feind, der Dritte, der Gast, der Bruder, der Freund. Oder: Die Andere, die Feindin, die Dritte, die Gästin, die Schwester, die Freundin.3 Und letztlich gar: ›ich‹ mir selbst. Zur Konstitution des Menschseins gehört die Wahrnehmung von Fremdheit und das Trachten nach ihrer Überwindung: durch Aus-
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rottung, durch Unterwerfung, durch Vereinnahmung, durch Überhöhung. Eine gelungene Anerkennung von Unterschieden blieb bislang Ideal. Der Differenz ist ›Identität‹ vorausgesetzt, die es jedoch nur gibt, wenn andere Identitäten existieren. Das wurde passend ausgedrückt durch die Wendung, dass es ein Selbstbewusstsein nur um die Bedingung der Existenz eines anderen Selbstbewusstseins gibt, die beide ›um Leben und Tod kämpfen‹ und dies in der Unterwerfung der einen Seite mündet.4 Bei dieser Reflexion handelt es sich um das Problem von Anerkennung in der prinzipiellen Bedeutung, dass die Anerkennung durch Andere der Selbst-Anerkennung vorgelagert ist, also ein Mindestmaß an Integriertheit vorausgesetzt werden muss, geht man nicht von einem einsamen Insel- oder Säulenheiligendasein aus. (Welches selbst noch durch sein Abgrenzungsphantasma von den anderen abhängig ist.) Für den hiesigen Kontext bedeutet dies, selbst im besten aller Respektsmodelle, folgendes Dilemma: »Sobald der und die Migrationsandere erkannt und geachtet wird, findet eine Festschreibung des Anderen als Anderer statt. Das Problem der Ansprache, der Wahrnehmung, der Einbeziehung und Anerkennung des Migrationsanderen in seiner Andersheit besteht darin, dass sie im Akt der Anerkennung die Logik, die das Anderssein und das Nicht-Anderssein produziert, wiederholt und bestätigt. […] Dieser Prozess der Anerkennung, der Prozess, der ›Andere‹ erst zu handlungsfähigen Subjekten macht, verlangt von ihnen, dass sie sich in jener vorherrschenden gesellschaftlichen Struktur darstellen, begreifen und artikulieren, in der Subjekt-Sein überhaupt und dieses spezifische Subjekt-Sein möglich ist. Zugespitzt könnte gesagt werden: Wechselseitige Anerkennung ist etwas für Privilegierte, für jene, die über den Status verfügen, dem Ideal des ›handlungsfähigen Subjekts‹ relativ nahe zu kommen« (Mecheril 2004: 221f.).
Jenseits dessen, dass m.E. Anerkennung nicht nur ein Prozedere für Privilegierte darstellt, sondern die grundlegende Abhängigkeit von (der Anerkennung durch die) Anderen überall gilt – d.h. Zugehörigkeit als Überlebensbedingung zwar in je verschiedenen Übersetzungen agiert wird, jedoch unabdingbar ist – erscheint hier Integration (durch Anerkennung) als Anrufung und Annahme einer westlichabendländisch (männlich-weiss-bürgerlich) konnotierten Subjektivität, die eine spezifische Identität ausbilden muss, um sich in unseren Sinnen und Sitten entsprechend zu verhalten. Letztlich wird – allen postmodernen Stilisierungen von Individualität und Identitätsauf-
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lösungen zum Trotz – auf Verähnlichung gesetzt; möglicherweise, weil dies Spiegelung und Stabilität (durchaus für ›beide‹ Seiten) verspricht. Dagegen wäre, jenseits abstrakter Attitüden der Prolongierung entsubstantialisierter Andersheit, auf das Lernen der Anerkennung von Unähnlichen zu setzen. »Das Andere zu denken muss nicht zwangsläufig in essentialistischen Sackgassen enden. Allerdings sollte hierfür die ›epistemologische Privilegierung‹ (Morana), die insbesondere durch den Ort der theoretischen Produktion erfolgt, ebenso in Frage gestellt werden wie die häufige Ausklammerung der internationalen Arbeitsteilung und den damit einhergehenden existenziellen Kämpfen der Mehrheit der Menschen. Die häufige ›Hyperästhetisierung‹ einer eigentlich antihegemonialen Theoriebildung kann dagegen selbst bei einer nur oberflächlichen Auseinandersetzung mit der neoliberalen Gewalt nur zynisch anmuten« (Castro Varela/Dhawan 2005: 138). 5
Weshalb auch das neuerdings diskutierte und positiv notierte Motiv der ›Autonomie der Migration‹ in einer Welt, in der alle zwanzig Sekunden ein Kind verhungert, doch mehr als beschönigend wirkt.6
Ambivalenzen III Die aktuelle Konjunktur der Selbstgenügsamkeit7 entspricht den postmodernen partikularistischen (Anerkennungs-)Politiken ebenso wie den neoliberalistischen Diversitätsmodellen, die als politisch korrekte Gabe daherkommen und ökonomische (Aus-)Beute meinen. Hierbei geben sich unter dem Deckmantel des (toleranten) Pluralismus Individualisierungsgebote, Selbstpotenzierungsforderung (Empowerment) und (Schein-)Partizipationsangebote ein Stelldichein, das vorgeblich Gleichheit verspricht. In dieser Perspektive ist die Wirklichkeit der Politik und das Ideal des Politischen zu reflektieren. Politik wird zumeist nur mit Interessens›vertretung‹ (und dem zunehmenden Lobbying) assoziiert. Wird der Interessensbegriff jedoch wörtlich genommen, so bedeutet Interesse ›Dazwischensein‹ und eröffnet (nach Hannah Arendt: 1981) die Sphäre des Politischen als Raum der ebenbürtigen Pluralität. So aber wird – nicht erst seit dem Einzug des Neoliberalismus – Interesse mit Selbstdurchsetzung verwechselt. Im Kontext von demokratischen Systemen, um die es hier zu tun ist, wäre zu fragen, warum
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auch Theoretiker der Emanzipation (wie Ernesto Laclau: 2002) auf die Vorgeblichkeit der Kämpfe um Hegemonie setzen, dass es also Menschen bloß um die Erreichung ihres (Vor-)Rechts und die Erlangung gesellschaftlicher Dominanz gehe. Die Gegebenheit der Politik nicht ohne das Durcharbeiten von Konflikten (Chantal Mouffe: 2008) ist zwar evident, doch die Durchsetzung des je Eigenen als unumgängliches Apriori zu setzen, entspricht einem eher redundanten Bild vom Menschen. Dieses scheint tendenziell einer resignativen Wendung zu entsprechen, denn es wird immer deutlicher, dass auch Demokratie nur eine historische Form der kollektiven Organisation darstellt. Sie steht auf dem Prüfstand; noch ist sie aber, zumindest in ihren Grundsätzen, nicht totalitär und weltentfremdend. Noch wird Heterogenität wenigstens behauptet. Doch in der heutigen Weltlage scheint wirkliche Pluralität als Wertschätzung von Widersprüchen und Widerständen nicht (mehr) möglich, da die Herrschaft des Teilsystems Ökonomie (mit dem homo oeconomicus als Leitbild eines egomanisch-autonomen Lebensstils) binnendifferenziert (bis in die Individuen hinein) und entdifferenziert (Kapitalismus für alle) absolut zu werden droht. Dies geschieht innerhalb dieses global gewordenen Systems, das kein Außerhalb seiner selbst zulässt. Insofern ist von einem gleichgeschalteten Pluralismus zu sprechen. »Die Massengesellschaft [hat] die sozialen Klassen und Gruppierungen aufgesogen und nivelliert. […] [Das] Gesellschaftliche hat […] den Punkt erreicht, wo es jeweils alle Glieder einer Gemeinschaft gleichermaßen erfasst und mit gleicher Macht kontrolliert. […] [S]ie ist das Stadium, in dem es außerhalb der Gesellschaft stehende Gruppen schlechterdings nicht mehr gibt. […] Diese moderne Egalität, die auf dem der Gesellschaft inhärenten Konformismus ruht [ist] nur möglich, weil das Sich-Verhalten an die Stelle des Handelns […] getreten ist« (Arendt 1981: 41f.).
Pointiert: Der Integration ist nicht zu entkommen. Postmoderne Anerkennungspolitiken behaupten ja das Gegenteil. Nicht nur, dass sie im Unterschied zu ihrem Selbstverständnis auf einen Restpunkt an (Selbst-)Identitärem hinaus laufen (müssen), sind sie auch getragen von dem Begehren nach Inklusion und dem Bestehen auf der je unverwechselbaren minoritären Partikularität. Das daraus resultierende und von (westlich urbanen) Szenen, die sich für nicht opportun halten, ausgesprochene Verbot des ›Wir‹-sagens,
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da es vorgeblich vom Modus der Exklusion motiviert ist, verhält sich hingegen passend zu dem, was als Regulationsprinzip der Gouvernementalität bezeichnet wird. Dieses besagt, dass das Regieren und das Selbstregieren identisch geworden sind, also die Menschen dazu veranlasst werden freiwillig das zu tun, was von ihnen verlangt wird. Die Einzelnen werden unablässig aufgefordert sich in die soziale Totalität zu integrieren durch die Dynamik einer wachsenden Korrelation zwischen Individualisierung und Totalisierung der gesellschaftlich-ökonomischen Realität (vgl. Foucault 2005). Diese paradoxe Konvergenz von eingepasster Situierung aller und individualistischer Positionierung führt zur Atomisierung (Selbstgenügsamkeit) und dem Effekt des Händchenhaltens mit dem vergesellschafteten Neoliberalismus. ›Divide et impera‹ bewährt sich als Leitoption des Kapitals, denn nichts ist effektiver, als Menschen zu zerteilen, weil es dadurch keine Gegenmacht, wehrhafte Setzung und Solidarisierung aller möglichen von Ausbeutung, Diskriminierung und Unterdrückung Getroffenen geben wird (können). Die Akklamation der pluralistischen Gesellschaftsformation entpuppt sich als Reklamation von Differenz, die nur bedingt(e) Differenzen zulässt. Sind wir doch Inkludierte in einem universalisierten Wirtschaftssystem, das zwar lediglich einen Teilbedarf menschlicher Existenz bedient und damit nur bestimmte Probleme und Bedürfnisse bewältigt, aber in seiner Totalität alles zu lösen vorgibt. Der Kapitalismus als materialisierter Weltgeist gibt eine immaterielle Kohärenz durch das Prinzip der allgemeinen Äquivalenz vor, die zur Systemimmanenz verurteilt und nichts mehr aus/sen lässt. Demokratie ist zu einem additiven Pluralismus verronnen, dessen einziger Inhalt der ökonomische Mehr-Wert zu sein scheint. Wo gibt es in diesem entgrenzten System, das sich selbst die passenden Wahrheiten schafft, überhaupt Räume des Widerspruchs und der unbeeindruckten Distanz – also Nichtintegrierte (vgl. Krondorfer 2008)? Es kann, daraus folgernd, eine Annahme sein, dass gerade die Exkludierten, als nicht gleich-›artig‹ Partizipierende, mehr Sinn für Grenzen haben und von daher den Ort der Systemkritik und -überschreitung einnehmen könnten. Das bedeutet, zwischen gefördertem Pluralismus – wie z.B. dem profitablen Diversitymanagement oder dem Gendermainstreaming – und erforderlicher Pluralität zu differenzieren. Und es wäre ein Plädoyer für die Widersetzung gegen den Wunsch nach Inklusion. Integration verstört die Integrität der MigrantInnen!8
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Ambivalenzen IV Jenseits der Schwierigkeit, eine genuine Integrität vorauszusetzen, die durch die Mehrheitsgesellschaft bedroht wird, ist die Affirmation dieser Aussage doch in Achtung der unterschiedlichen Erfahrungen ernst zu nehmen. Denn das Alltagsverständnis zu Integration entschlägt sich der Doppelsinnigkeit des Begriffs selbst: »Integration: kommt von integer: unbescholten, makelos. (griech: entagos – unberührt, unversehrt, ganz). Negation von tangere: berühren. Im Deutschen hat eine besondere Rolle die Ableitung vom lat. integer zu lat. integrare: heil, unversehrt machen, wiederherstellen, ergänzen. Integratio: Wiederherstellung eines Ganzen« (nach Duden 1989: 307). Auf Seiten der ›Anderen‹ ginge es damit um die Verletzlichkeit ihres Daseins, auf ›unserer‹ Seite in des Volkes Meinung geht es um die Störenfriede (u.a. MigrantInnen), die das makelose Ganze anrühren, das dann wiederhergestellt werden muss. In dieser Wendung hat Integration die Funktion von Heil(ung) der nicht mehr unberührten (als vormals integer imaginierten) Entität.9 Nun lassen sich solcherart (kollektive) Phänomene nicht nur epistemisch, historisch und institutionell analysieren (vgl. Kerner 2009), sondern auch auf ihre psychischen Tiefendynamiken hin diagnostizieren. Aktuell wird ein Satzausschnitt (von Adorno) auffällig gerne zitiert, nämlich ›ohne Angst verschieden sein (zu) können‹. Nicht nur ist das möglicherweise ein mentales Indiz für wachsende Ungesichertheiten sowie Symptom des allgemeinen Anpassungsdruckes, sondern verweist ebenso darauf, dass die Problematik um Integration/Fremdheit/Rassismus auch persönlichen wie kollektiven Psychodynamiken unterliegt.10 Hier möchten einige wenige Motive zu dieser Selbst/Reflexion der Subjekte (individuell und kollektiv) als nötige markiert werden, da nicht nur von strukturellen Kausalitäten oder einem homogenen Subjekt ausgegangen werden kann, sondern verschiedene Dimensionen und widerstreitende Seiten der Subjekte (und kollektiven Organisationen) ›anzunehmen‹ sind. Ohne Reflexion der Ebene psychischer Disponiertheiten können In-und Exklusionsphänomene nicht in ihrer Vielschichtigkeit begriffen werden – und bleiben äußerlich. »Die Trennung von Gesellschaft und Psyche ist falsches Bewusstsein; sie verewigt kategorial die Entzweiung des Subjekts und der über den Subjekten waltenden und doch von ihnen herrührenden Objektivität« (Adorno 1997: 44). Das Un/Bewusste eines/einer jeden ist Teil des gesamten gesellschaft-
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lichen Unbewussten und meint nicht nur Phantasien, Triebe und Wünsche, die ins Bewusstsein zugelassen oder verdrängt werden müssen, sondern auch die Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeiten. Das gesellschaftlich Unbewusste ist also nicht nur individuell, sondern jener Teil des Unbewussten, den es mit der Mehrzahl der Mitglieder seiner Sozialität teilt. Unbewusst muss alles werden, was die Stabilität der Herrschaftskultur bedroht (vgl. Erdheim 1983: 221). »Kritische Ethnologie, Ethnopsychoanalyse und feministische Sozialwissenschaft stehen sich nahe, da sie in ähnlich gelagerten Gegenstandsbereichen Erkenntnisse gewinnen wollen: am Fremden, Unbeachteten, am Unterdrückten. Es sind Bereiche, die in der herrschenden Kultur keinen Raum haben; sie wurden verdrängt, unsichtbar gemacht oder ideologisiert; es geht um Zusammenhänge, die uns selbst unbekannt, in uns tabuisiert sind und an die wir nicht selbstverständlich und mit adäquatem Vorwissen herangehen können. Alle diese Phänomene sind aufs Engste mit den Problemen der Macht und Gewalt verbunden« (Erdheim/Nadig 1991:193).
In diesem Zusammenhang stellt sich die Problematik der Doppelsinnigkeit des Unbewussten. Es ist der Ort des Begehrens, das sich nicht mit der schlechten Realität versöhnen will und es ist der Komplize der Machtverhältnisse. Gegenwärtige Nationalismen bzw. Rassismen können (mit Slavoj Žižek) als Verdrängung des eigenen nicht akzeptierten Genießens interpretiert werden. Exzessives Genießen ist das, was in mir mehr ist als ich, was nicht kontrolliert werden kann; es wird für die eigene Person geleugnet und im Anderen als unakzeptabel bekämpft: Der ›Ausländer‹ macht Angst bzw. irritiert, er wird als entweder zu faul oder zu fleißig angesehen. In jedem Fall erregt die Form, wie der Andere genießt, Missfallen und starke Ablehnung. Winzige Details werden unerträglich und lösen Hassgefühle aus. Vor allem die Angst, der andere könnte einem etwas stehlen und das Verschleiern sowie Verschieben tatsächlicher sozialer Antagonismen bilden die Grundlage von Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Allerdings ist es notwendig zu erkennen, dass man das, was der Andere bedroht oder einem angeblich stiehlt, nämlich eine Form intensiven ungebrochenen Genießens, niemals hatte. Das Genießen wird, obwohl es angezielt wird, letztlich doch vor allem wegen seiner Unkontrollierbarkeit und seines Exzesses abgewehrt. Der Hass auf den Anderen ist der Hass auf unser eigenes Genießens. Aus dem Versuch, Begehren zu regulieren, wird das Begehren nach Regulation (nach Wallich 2001).
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Die Psychoanalyse hat ein Deutungsinstrument zur Verfügung gestellt, das, über Bord geworfen, allein die Ratio und letztlich Moralität oder zumindest Normativität übrig lässt. Offenbar gehört es – jenseits gegenseitiger mehr- und minderheitlicher Projektionen und Abwehren in Alltag und Politik – heute wieder zum wissenschaftlichen Ethos sich nicht mit den eigenen und anderen Untiefen beschäftigen zu müssen, also ›integer‹ zu bleiben und u.a. die Integrationsproblematik ›rein‹ verstandesgemäß zu bedenken. So als würde die Einbeziehung von unzugänglichen und unzulänglichen Emotionen die Dinge entschulden, wo sie doch umgekehrt einen buchstäblich vertieften Umgang mit Verantwortung implizieren.11
Ambivalenzen V Zu den wesentlichen Epistemen – und sich dadurch von anderen alternativen Bewegungen und kritischen Wissenschaften unterscheidendes Merkmal – der feministischen Theoriebildungsgeschichte zählt die Einbeziehung des Persönlichen ins Feld der Politik sowie in die Sphäre der Reflexion und findet wie alle Frauen- und Genderforschung im allgemeinen Wissenschafts- und Forschungskanon keinen Widerhall. Auch in eloquenten Publikationen zu Migration wird – jenseits der sich wiederholenden Erwähnung des Zusammenhangs von Sex-, Rass-, Klassismus – zumeist die Sonderstellung von Migrantinnen nicht mitbedacht sowie in Sammelbänden meistens bloß ein (und oft selbst/kritischer) feministischer Beitrag zu finden ist. Geschlechterdemokratische ›Integration‹ ist wohl auch in diesem Kontext nicht zu haben. Umgekehrt jedoch zerfransen sich Feministinnen unterschiedlicher Couleur in selbstbezichtigenden Debatten um Migration, Rassismus, Exklusion, Dominanzverhältnisse bis heute. Frauen sind bis zum Verschwinden selbstkritisch, beziehen Andere mit ein und umgekehrt ist das nicht der Fall, sie werden einfach mitgedacht. Nebst diesem ›ewigen‹ Problem erweisen sich die Debatten um Dilemmata von Integration und Ausschluss, Teilhabe versus Vereinnahmung im migrantischen Feld als den feministischen und gendertheoretischen Diskursen ähnlich, wenn nicht gar übereinstimmend – wobei dies weniger unter dem Label In- und Exklusion, denn unter den Paradigmen Geschlechtergleichheit und Geschlechterdifferenz ver- und behandelt wurde. Die Kontroversen innerhalb des Feminismus können mit Emanzipationshoffung und Assimilationskritik beschrieben werden.
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»Die feministische Kritik an der traditionellen Gleichheitsthese, somit auch an der Forderung nach gleichem Recht auf Partizipations- und Machtchancen für Frauen wies auf das ihr innewohnende Dilemma hin: das Dilemma der Angleichung, die Gefahr, dass die ›Fähigen‹ versuchen, die dominanten androzentrischen und ethnozentrischen Denk- und Aktionsweisen zu übernehmen, indem sie durch gleiche Leistung, gleiche Effektivität, gleiche Lebensstile einen gesellschaftlichen Status erreichen, der dem männlicher Machtträger gleiche und zugleich alle Mittellosen, die diesem Maßstab nicht genügen, ausschließe und entwerte: Gleichheit nur für Gleiche, eine Kontroverse also, die nicht nur den Feminismus umtreibt« (Thürmer-Rohr o.J.: 1f.).
Was noch diskurs- wie diskussionsmäßig aussteht, wäre der Vergleich der unterschiedlichen feministischen Perspektiven mit jenen der Migrationsdebatten, deren Gemeinsamkeiten und/oder Differenzen zu eruieren und mit der kritischen Infragestellung nach Teilhabe und Teilnahme am (schlechten) System zu konfrontieren. Denn die Behauptung, dass die Schaffung inklusiver Zugänge für Marginalisierte die Tatsache einer heterogenen Gesellschaft anerkennt, setzt voraus, dass diese tatsächlich so ist. Partizipation, Inklusion und Integration, so sie realpolitisch überhaupt umgesetzt werden, sprechen von dem Wunsch nach Annahme im System, was die Anerkennung des Systems impliziert. Vielleicht wird z.B. bei der Kopftuchpolitik in Europa im Sinne einer Zwangsintegration in westliche Weiblichkeitsnormen der Stolz der Dissidenz der Trägerinnen unterschlagen. Das Beharren auf Differenz/en im Denken wie im Handeln – könnte es nicht bewusstes Außen, kritische Distanz und Fremdbleibenwollen gegenüber dem mehrheitsgesellschaftlichen Mainstream bewirken und damit politisch werden? »Was würde es also bedeuten, wenn ein undifferenziert gedachtes Inneres zum Modell des gemeinsamen, politischen Lebens würde? Es wäre ein totalitäres Modell. Es geht um diese Gefahr eines alle Unterschiede einreißenden Bildes, das die Bedingungen des Politischen zerstören würde« (Thürmer-Rohr 2007: 5). Doch heute scheint dieses Problem sich als Frage nicht mehr zu stellen, denn Partizipation als Forderung nach Inklusion ist – wie gesagt – in aller Munde. Und was ist das anderes, als zu den begehrt Integrierten zu gehören?
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Anmerkungen 1 | Dieser Text versteht sich als Diskussionsanregung und weniger als ergebnisorientierte Forschungsbeschreibung oder gar Überblick zur diesbezüglichen Wissenschaftslandschaft. Es werden verschiedene Aspekte zu Integration und ihrer Kritik notiert, die m.E. in den einschlägigen Diskursen wenig verhandelt werden. 2 | Diese Folgerung ›ist zu schön um wahr zu sein‹ – besonders wenn die österreichischen Verhältnisse vergegenwärtigt werden. Wir wissen es – wir wissen wie seit (mindestens) 20 Jahren hier von großen und kleinen Koalitionen Fremden(polizeiliche)›rechts‹politik durchgesetzt und exekutiert wird. Und wir stehen zunehmend gelähmt wie ›Kaninchen vor der Schlange‹, die aktuell tatsächlich weiblich figuriert ist (Innenministerin!). Wie praktisch für alle Rechtsbündelei, wenn diese durch und durch patriarchale Ausschließungslogik von einer Frau repräsentiert wird. 3 | Die Semantik verschiebt sich, wenn die gleichen Begriffe männlich oder weiblich konnotiert sind. Dies jedoch streift die Sphäre eines feministischen Philosophierens, das hier den Rahmen sprengen würde. Ein Beispiel möge zur Andeutung genügen: »In der Geschichte unserer Kultur tritt […] der Freund regelmäßig in der Gestalt des ›Bruders‹ auf, der Freund ist wie ein Bruder. Der Begriff Brüderlichkeit bringt eine familiäre, fraternalistische und androzentrische Erfahrung ins Politische ein. Er schließt die Freundschaft unter Frauen und die Freundschaft unter Männern und Frauen und damit die Frauen gleich zweimal aus« (Thürmer-Rohr 2001: 136). Zumal ›die Freundin‹ immer privat gedeutet wird. 4 | Vgl. G.W.F. Hegel: 145ff. 5 | ›Hyperästhetisierung‹ bezieht sich hier auf den hermetischen Sprachduktus von kritischen Intellektuellen, die in ihren Kreisen kreisen und auf die Vermittlung zu denjenigen hin, über die sie schreiben, ›vergessen‹. 6 | »Autonomie – ohne die Thematisierung ihrer Bedingungen – scheint dabei kein geeignetes theoretisches und emanzipatorisches Konzept zu sein. Jenseits aller Innovation sollte das Konzept deshalb vor allen auf androzentrische Verkürzungen sowie auf seine Tendenz hin zu einer Romantisierung gesellschaftlicher Konflikte hin überprüft werden« (Benz/Schwenken 2005). 7 | Der Begriff hat verschiedene Konnotationen u.a.: Autarkie; Ablehnung von Fülle; Ungebundenheit; Selbstkritiklos; Subjektivismus; Selbstreferentialität. Hier wird er in Anlehnung an Jean-Luc Nancy übernommen, der den zeitgeistigen subjektiven Partikularismus kritisiert: »Alle unsere Politiken sind Entknüpfungspolitiken in der Selbstgenügsamkeit. Es handelt sich
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also darum, in Richtung eines Denkens […] des Bandes als solches zu gehen. Die Verknüpfung des Bandes muss gerade an Stelle der leeren Wahrheit der Demokratie und des maßlosen Sinns der Subjektivität zum entscheidenden Punkt werden« (1999: 131). 8 | Diese Aussage fand bei den Teilnehmerinnen einer Fortbildung von und für Migrantinnen (LEFÖ/Wien) zur Problematik der Integration ein durchgehend positives Echo. 9 | Integrationsdiskurse des Mainstreams sind auch lesbar als abendländische Inkorporation in die christliche Glaubensgemeinschaft, was implizierte, dass die ›Anderen‹ der eigenen Weltanschauung abzuschwören hatten. 10 | Eine (für mich) irritierende Erfahrung ist die oft rigide Abwehr dieser Diagnosepotentialität unter dem Banner ›Psychologisierung‹ seitens antirassistischer AktivistInnen und TheoretikerInnen, deren tiefere Bedeutung mir noch entgeht. 11 | Elisabeth Young-Bruehl hat bspw. eine Studie über »The Anatomy of Prejudices« (1996) verfasst, in welcher sie (individuell wie auch gesellschaftlich) den obsessiven, den hysterischen und den narzisstischen Charaktertypus mit jeweiligen unterschiedlichen Zielen assoziiert: Vernichtungs-, Unterdrückungs- und Grenzziehungswünsche (vgl. Kerner 2009: 340).
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S TR AIGHT I NCLUSION , W HAT E LSE ? Z UR P ROBLEMATIK EINES INKLUSIONSLOGISCHEN CITIZENSHIP -V ERSTÄNDNISSES IM LGBTQ-K ONTE X T Christine M. Klapeer Der britische Soziologe T.H. Marshall, als der paradigmatische ›Begründer‹ der akademischen Citizenship Studies, prägte zur Mitte des letzten Jahrhunderts das, was Jürgen Mackert als »inklusivistisches« Verständnis von Staatsbürgerschaft1 bezeichnet (Mackert 2006: 32f.; vgl. Marshall 1964). Im Rahmen dieser Auffassung, die in Folge vom Strukturfunktionalisten Talcott Parsons weiterentwickelt und vertieft wurde, wird citizenship2 im Kontext eines modernisierungstheoretischen Paradigmas nahezu ausschließlich als Modus einer umfassenden und fortschreitenden Inklusion aller Gesellschaftsmitglieder verstanden (Mackert 2004: 113; vgl. Parsons 1978). Dies impliziert zum einen die Annahme, dass immer neue gesellschaftliche Gruppen in bestehende staatsbürgerliche Rechte inkludiert werden und zum anderen, dass sich der StaatsbürgerInnenschaftsstatus selbst mit immer mehr und neuen Rechten verdichten würde. Demnach erhöhe sich, wie dies T.H. Marshall anhand der stufenweisen Verdichtung von citizenship durch die bürgerlichen Rechte im 18., die politischen Rechte im 19. und die sozialen Rechte im 20. Jahrhundert argumentierte, in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften stetig die Gruppe der Inkludierten und führe so tendenziell in Richtung gesellschaftlicher ›Vollinklusion‹ (Marshall 1964). Diese »normative Inklusionserzählung« (Stäheli 2001: 49) (demokratischer) Staatsbürgerschaft spielt nun vor dem Hintergrund anhaltender und neuer ›faktischer‹ Ausschlüsse nicht nur in Debatten über den Demokratiegehalt modernen Gesellschaften, Migration und Multikulturalismus in EUropa eine zentrale Rolle, sondern übt seit über zwei Jahrzehnten auch eine besondere Wirkung auf die LGBTQ3-Community aus. Als »Schlüsselbegriff der europäischen Moderne« (Appelt 1994: 100) scheint die Institution StaatsbürgerIn-
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nenschaft nämlich gerade im Zusammenhang mit lesbischen/schwulen/transgender Forderungen nach gesellschaftlicher Inklusion seine Bedeutung als machtvolle Integrationsverheißung (erneut) zu entfalten. Die Forderung nach ›gleichen Bürgerrechten‹ sowie einer Beendigung ihres ›second class‹ citizenship-Status präg(t)en daher ganz wesentlich die politischen Kämpfe von LGBTQs in den letzten zwei Jahrzehnten. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde die Frage, ob LGBTQs über all jene staatsbürgerlichen (Teilhabe-)Rechte und Partizipationsmöglichkeiten verfügen, um als ›vollwertige Mitglieder‹ in den nationalen bzw. EUropäischen politischen Gemeinschaft(en) agieren zu können, auch durch das zunehmende Engagement EUropäischer Institutionen in der Gleichstellung und Antidiskriminierung für Regierungen und politische Interessensvertretungen virulent. Zahlreiche national wie auf EU-Ebene agierende LGBTQ-Organisationen4 ebenso wie Parteien des liberalen und linken Spektrums5 sind daher mittlerweile mit dem Problem einer vollständigen staatsbürgerlichen Inklusion von LGBTQs beschäftigt und versuchen die noch bestehenden Benachteiligungen in unterschiedlichen (Rechts-)Bereichen zu minimieren. Das »inklusivistische Verständnis« von Staatsbürgerschaft fungiert in diesem Kontext als zentrales legitimatorisches Mittel, um sowohl die Exklusion von LGBTQs aus bestehenden (Staatsbürgerschafts-)Rechten zu thematisieren als auch deren Ausweitung (z.B. im Bereich von sexuellen oder trans/geschlechtlichen Rechten) zu fordern. Dabei wird das normative demokratische Ideal einer anzustrebenden Vollinklusion aller BürgerInnen dem (faktischen) exkludierenden Operieren von Demokratien gegenübergestellt (Stäheli 2001: 49). Das Problem der ›Ungleichheit‹ oder ›Diskriminierung‹ ist demnach ein Ausdruck dessen, »that [something] has gone wrong in an otherwise perfect system« (Klesse 2006). Ins Abseits geraten in diesem Zusammenhang nicht nur jene Gegenstimmen, die auf die Grenzen einer (liberaldemokratischen) ›Bürgerrechtspolitik‹ verweisen und mit Blick auf die heteronormativen und rassistischen Implikationen dieser Inklusionsstrategie nach alternativen Formen der Anerkennung und Partizipation suchen, sondern auch die Ambivalenz dieser Inklusionslogik selbst. Denn wie zahlreiche feministische und postkoloniale TheoretikerInnen betonen, sei es eine Fehlannahme, »dass sich in modernen Gesellschaften der Prozess der Inklusion einer immer größeren Anzahl von Individuen in ein immer größeres Set von Rechten […] vollzieht«,
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da jedwede Inklusion auch eine Gleichzeitigkeit von Exklusion voraussetze und produziere (Mackert 2004: 120; vgl. Yuval-Davis 1997a; Yuval-Davis 1997b; Phillips 1993; Kymlicka 1995; Young 1994 [1989]; Young 1990). Jede Inklusion sei daher immer auch ein performativer Akt, da, wie beispielsweise Michel Foucault im Rahmen seiner Dekonstruktion (europäischer) sexueller Identitäten zeigte, jedwede Inklusion auch ein Exkludiertes als konstitutives Außen benötige, wenngleich dieses ›Außen‹ nie völlig ausgeschlossen werden könne, sondern gerade »an den Rändern der Inklusionslogik als Fremdkörper und als Imagination eines gefährlichen Anderen« präsent bleibe (Stäheli 2001: 51; vgl. Foucault 1983 [1977]). Damit wird nicht nur die Universalität von citizenship in Frage gestellt, sondern auch die Idee, dass Exklusion einfach ein ›systemischer Fehler‹ dieser Infrastruktur moderner Demokratien sei, die sich im Rahmen einer neuerlichen Verdichtung von Rechten und einer voranschreitenden Inklusion der bisher ausgeschlossenen Gruppen beheben lasse. Umgekehrt könne, wie Urs Stäheli betont, diese normative Inklusionserzählung selbst als Legitimation für bestehende Exklusionsmechanismen begriffen werden, denn »auf sozialstruktureller Ebene werden Ungleichheiten erzeugt, werden spezifische Zugänge zu Funktionssystemen eröffnet, während die Semantik irgendwie damit umgehen« müsse und daher eine »universalistische Inklusionslogik« produziere (Stäheli 2001: 50). Zudem sei jede Inklusion, wie insbesondere Arbeiten aus dem poststrukturalistischen, postkolonialen und queeren Spektrum gezeigt haben, ein voraussetzungsvoller und zugleich normierender Prozess, da diese immer mit spezifischen, subjektivierenden Integrationsbedingungen – in der öffentlichen Debatte erscheinen diese oft als (staatsbürgerliche) ›Pflichten‹ oder ›Verantwortung‹ – einhergehen. TheoretikerInnen aus dem Bereich der Queer und Lesbian & Gay Studies betonen demnach, dass »citizenship is constituted through heterosexual norms and practices« und ihr demnach eine hochgradig heteronormative und essenzialisierende Inklusionslogik zugrunde liege (Richardson 2000: 95; vgl. Rahman 2000; Raab 2005; Phelan 2001; Hark/Genschel 2003; Engel 2002; Bell/Binnie 2000). In diesem Beitrag geht es jedoch nicht um eine empirische Beweisführung in Bezug auf einzelne staatsbürgerliche Exklusions- bzw. Inklusionspraktiken im LGBTQ-Kontext – also wo und wie werden LGBTQs von welchen (Teilhabe)-Rechten und Partizipationsmöglichkeiten ausgeschlossen – sondern um die kritische Untersuchung der
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im und für den LGBTQ-Kontext verwendeten Exklusions- und Inklusionsanalytik. Ziel dieses Beitrages ist es daher vor allem ein inklusionslogisches citizenship-Verständnis im Hinblick auf die gestellten Forderungen nach (staatsbürgerlicher) Teilhabe von LGBTQs zu problematisieren und damit auf die Grenzen aktueller ›Inklusionsangebote‹ hinzuweisen. Dies verlangt zum einen nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der Komplexität dieser Exklusionsprozesse und einer theoretischen Erfassung des Status con LGBTQs als ›abject citizens‹. Zum anderen erfordert diese Herangehensweise auch eine Analyse jener (neuen) exklusivierenden Praxen, die für aktuelle ›Inklusionsangebote‹ konstitutiv sind. Der Beitrag schließt mit dem Vorschlag einer Re-Perspektivierung des citizenship-Status von LGBTQs und weist auf bereits existierende demokratisch-subversive Handlungsräume zwischen dominanten Exklusions- und Inklusionslogiken hin.
Abject citizenship: 6 Zur Komplexität von E xklusionsprozessen Wenn der bekannte kanadische Philosoph und ›Multikulturalismus‹Forscher Charles Taylor fragt, »[w]as drängt die Demokratie zur Ausgrenzung?« und darauf antwortet, »[d]ie Exklusion ist ein sekundärer Effekt von etwas anderem, nämlich dem Bedarf selbstregierter Gesellschaften an einem hohen Grad sozialen Zusammenhalts. Demokratische Staaten sind auf eine gemeinsame Identität angewiesen […] ein moderner demokratischer Staat […] [braucht] ein ›Volk‹ mit einer starken kollektiven Identität« (Taylor 2000), dann wird deutlich, dass die Frage von (staatsbürgerlicher) Inklusion und Exklusion stets im Zusammenhang mit der Konstruktion (kollektiver bzw. nationaler) Akteursfiktionen und Anrufungsfiguren diskutiert werden müsse.7 Das Konzept der modernen Demokratie, verstanden als (vermeintliche) Identität von Herrschern und Beherrschten, beruht demnach auf einer Egalitätskonzeption, die an die Identifizierung eines bestimmten »demos« gebunden ist. Im Kontext der Systemtheorie würde das folglich bedeuteten, dass das Inkludierte durch die Identifikation mit (bestehenden) (System-)Regeln, Normen und Erzählungen, also dieser ›kollektiven Identität‹, erst hergestellt werden muss (Luhman 1995). Wie Urs Stäheli betont, produziere die »Demokratie, wenn man sie anhand der Inklusions-/Exklusions-Unterscheidung beobachtet« daher »die universale Position der ›citizenhip‹ als Anrufungs-
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figur« (Stäheli 2001: 52). Diese diene als »imaginäre Identifikationsfläche mit dem politischen System und ist die wichtigste Möglichkeit innerhalb des politischen Systems repräsentiert zu werden« (ebd.). Inklusion bedeutet hier folglich als »mitwirkungsrelevant« in Bezug auf das zentrale Funktionssystem StaatsbürgerInnenschaft angerufen bzw. adressiert zu werden (Luhman 1995: 146). StaatsbürgerInnen müssen sich folglich als AutorInnen und AdressatInnen »derjenigen Standards, Prinzipien und Gesetze verstehen können, die ihre Rechte und Pflichten definieren und ihre Leben tiefgreifend beeinflussen« (Murmann 2000: 85). Jede (staatsbürgerliche) Inklusion ist damit auch immer eine spezifische Form der gouvernementalen Selbst/Regierung, die Normierung und (sexuelle/geschlechtliche) Subjektivierung beinhaltet und gleichzeitig voraussetzt (Foucault 2000 [1978]). Dieser notwendige ›Identifikationsprozess‹ ist jedoch wechselseitig mit Exklusionsprozessen verbunden – entweder bereits a priori, weil bestimmte Gruppen bzw. Subjekte aufgrund ihrer Herkunft bzw. Staatsangehörigkeit gar nicht erst als ›Angerufene‹ in Frage kommen (external exclusion), oder weil sie posteriori bestimmte Grundlagen der Identifikation nicht erfüllen können oder wollen (internal exclusion) (vgl. Young 2002: 52f.). Jene (System-)Regeln, Normen und Erzählungen, die nach Identifikation verlangen, sind demnach keineswegs ›neutral‹, sondern präsentieren sich als höchstgradig vergeschlechtlichte, heteronormative und rassistische/ethnifizierte Konzepte. Aufgrund ihrer androzentrisch-heteronormativen und an den (ethnisierten) Nationalstaat gebundenen Geschichte von Staatsbürgerschaft bezieht/bezog sich das Angebot der (Voll-)Inklusion (bis heute) jeweils nur auf spezifische Gruppen und adressierte demnach nur ausgewählten Subjekte im Rahmen dieses Identifikationsprozesses. Inklusion ist daher immer auch mit der Schaffung eines spezifischen Gesellschafts- bzw. Systemgefüges und eines/r entsprechenden »systemkompatiblen« (sexuellen) Akteurs/in verbunden (Vgl. Stäheli 2001). Parallel dazu präsentiert sich die staatsbürgerliche Anrufungsfigur aber als universalistische Fiktion und beansprucht eine »Art Allinklusivität« bei einer gleichzeitigen faktischen Produktion von Exklusion (ebd.: 52). Auch wenn innerhalb von Europa eine Relativierung territorialer Exklusion zu vermerken ist (›Recht auf Freizügigkeit‹ der UnionsbürgerInnen), so kann die EU selbst als Art ›demos‹ begriffen werden, der eine neue Art der externen Exklusion produziert. Wie Carl Stychin argumentiert, wird/wurde im Rahmen eines EUropäischen Diskurses trotz des supranationalen Charakters
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der EU eine Art nationalistischer Diskurs generiert, der zu einer Identifikation mit den Traditionen des Christentums, der Aufklärung und den Werten liberaler Demokratien aufruft und einen essenzialisierenden Zusammenhang zwischen »Europaness« und so »Weißheit« konstruiert (Stychin 1998). LGBTQs sind – werden sie aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit nicht schon a priori oder aufgrund anderer Ausschließungskriterien (z.B. Sprache, Herkunft) posteriori von der Anrufung und Identifikation exkludiert – in einem abstrakten Sinn nun sehr wohl in dieses universalistisch konzipierte Konzept von StaatsbürgerInnenschaft eingeschlossen, solange sie sich als neutralisierte StaatsbürgerInnen dieser ›Identifikation‹ weder verweigern noch dieser (aktiv) etwas entgegensetzen. Sie werden dabei zwar keineswegs in ihrer (sexuell bzw. geschlechtlich abweichenden) Partikularität angerufen (und damit anerkannt), sondern in Bezugnahme auf die universelle heteronormative Akteursfiktion (semantisch) als neutralisierte BürgerInnen adressiert und haben als diese auch potenziell alle staatsbürgerlichen Rechte und Partizipationsmöglichkeiten. Denn, wie Iris Marion Young betont, »the attempt to realize an ideal of universal citizenship […] [tends] to exclude or to put at a disadvantage some groups, even when they have formally equal citizenship status«, da davon ausgegangen werde, »that as citizens persons should leave behind their particular affiliations and experiences to adopt a general point of view« (Young 1989: 391). In diesem Zusammenhang kann daher von einer Inderdependenz heteronormativer staatbürgerlicher Inklusionsprozesses und »politics of passing« (Johnson 2002) gesprochen werden, da das ›Durchgehen als heterosexuelle BürgerIn‹ oder, wie im folgenden Abschnitt im Hinblick auf aktuelle Inklusionsangebote diskutiert wird, das ›Durchgehen als angepasste/r bzw. gute/r homosexuelle/r BürgerIn‹, zur Grundlage dieses Identifikationsprozesses und damit zugleich Inklusionsbedingung selbst wird. Denn, wie Diane Richardson betont, »within discourses of citizen’s rights and the principle of universal citizenship the normal citizen has largely been constructed as male and […] heterosexual« (Richardson 2000: 75f.). Im Kontext aktueller Diskussionen zum Status von LGBTQs als ›second class citizens‹ ist es daher von enormer analytischer Bedeutung, dass erst eine ›dissidente‹ Identifizierung, Markierung oder Artikulation zur Grundlage von Exklusionen aus spezifischen (staatsbürgerlichen) Rechten und Partizipationsmöglichkeiten wird.19
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Eine dissidente Identifizierung begründet demnach einen abjektiven StaatsbürgerInnenschaftsstatus von LGBTQs und verringert ihre Chance als legitime BürgerInnen angerufen zu werden, die entsprechenden Rechte wahrzunehmen und an den Partizipationsressourcen teilzuhaben, da sie nun als systeminkompatibel mit den (kollektiven) Akteursfiktionen erkennbar werden. Diskriminierung und Exklusion von LGBTQs ist daher untrennbar mit der (freiwilligen/ unfreiwilligen) ›Verweigerung‹ einer Identifikation mit (heteronormativen) Akteursfiktionen verbunden, auf denen das Funktionssystem Staatsbürgerschaft beruht. Da LGBTQs nun als unmarkierte ›Andere‹, als antagonistische Subjekte zwischen den a priori zu Exkludierenden und zu Inkludierenden leben könn(t)en, verweisen sie in dieser ›kollektiven (heteronormativen) Identität‹ jedoch ständig dort auf eine Differenz, wo eigentlich keine Differenz sein darf. Insofern verwendet die queer-feministische Theoretikerin Shane Phelan in diesem Zusammenhang auch den von Zygmunt Bauman geprägten Begriff des »strangers«, um damit diese differente Zwischenposition zu bezeichnen. Demnach seien »sexual minorities are better understood as strangers, not enemies but not friends or ›natives‹ either« (Phelan 2001: 5). »The particular provocation of the stranger« läge nun nach Phelan gerade darin »that strangers are neighbours, but ›they are not like us‹« (ebd.: 29f.). Darüber hinaus könne die Exklusion von LGBTQs auch nicht mit dem Verweis auf etwas (vermeintlich) ›außerhalb‹ des ›demos‹ liegenden ›Anderem‹ begründet werden: »Gays and lesbians do not have a ›home‹ to return, either in territorial/historical terms or in the sense of present-day enclaves« (ebd.). Dieser »Horror der Unbestimmbarkeit von Inklusionsunterscheidungen« (Stäheli 2001: 56) erfordere daher eine ständige Wiederholung/Zitation (heteronormativer) ›Akteursfiktion‹, denn »[the] fear of the homo, which continually rubs up against the hetero […], concentrates and codifies the very real possibility and ever-present threat of a collapse of boundaries […] and a radical confusion of identities (Fuss 1991: 4). Die Grenzen zwischen ›Devianz‹ und ›Normalität‹ präsentieren sich daher auch als höchst zeit- und kontextspezifisch variabel, was Eve Kosofsky Sedgwick auch dazu veranlasste, von einer »tödliche[n] Elastizität heterosexistischer Annahmen« zu sprechen (Sedgwick 2003 [1990]: 114). Jede homo- und transphobe Exklusion kann in diesem Kontext daher als Versuch betrachtet werden, die heteronormativen Grundlagen jener »kollektiven Identität«, die Charles
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Taylor beschreibt, erneut zu kommunizieren, zu bestätigen und als einen zentralen Kern dieser ›Gemeinsamkeit‹ herauszustellen. Oder wie es Diane Fuss ausdrückt: »The language and law that regulates the establishment of heterosexuality as both an identity and an institution, both a practice and a system, is the language and law of defence and protection: heterosexuality secures it self-identity and shores up its ontological boundaries by protecting itself from what it sees as the continual predatory encroachments of its contaminated other, homosexuality« (Fuss 1991: 2).
Darüber hinaus wird in diesem Kontext aber auch deutlich, warum die Frage eines (politisch-öffentlichen) ›coming out‹ jenseits einer mehr oder weniger geschützten Privatheit noch immer eine derartig zentrale Rolle in der aktuellen Diskussion um die Diskriminierung von LGBTQs spielt. Outness ist in diesem Kontext nämlich nicht einfach eine Frage der ›individuellen‹ Identitätsfindung, sondern eine Form der sichtbaren Dissidenz, welche die begrenzte und exklusivierende ›All-Inklusivität‹ demokratischer StaatsbürgerInnenschaft aufzeigt. Insofern ist hier auch die Unterscheidung der feministischen citizenship-Theoretikerin Ruth Lister zwischen »to be a citizen« und »to act as a citizen« von zentraler Relevanz (Lister 1997: 35). Den erst das ›acting‹ als ›stranger‹ konstituiert den abjektiven Staatsbürgerschaftsstatus und führt zu (partiellen) Exklusion, da hier die Differenz zur ›systemkompatiblen Position‹ sichtbar wird. In diesem Zusammenhang sind die Überlegungen des Politikwissenschaftlers Mark Blasius besonders produktiv, schlägt er doch vor »lesbian and gay existence« als »ethos rather than as a sexual preference or orientation, as a life-style, or primarily in collectivist terms, as a subculture, or even as a community« zu begreifen (Blasius 1992: 642). »While lesbian and gay existence may include some elements of these conceptualizations, ›ethos‹ is a more encompassing formulation, better suited for understanding lesbian and gay existence politically. I argue that the key to understanding ethos is through the lesbian and gay conceptualization of ›coming out‹, understood as a process of becoming in which the individual enters into a field of relationships […]. Through this process, the individual participates in a collective problematization of self, of types of normativity, and of what counts as truth. It is in the relationship that the individual cre-
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ates with her- or himself and with others in this practice of the self that is called coming out that an ethos emerges« (ebd.: 642f.).
›Coming out‹ impliziert für Blasius damit eine Form der ›Problematisierung‹ spezifischer gesellschaftlich dominanter Narrative und Herrschaftslogiken und ist daher »[a] fundamental political act«, da es (u.a.) um eine Zurückweisung »of one’s own subjection (being ›in the closet‹, ›passing‹, treating others homophobically etc.) as the product of historical processes of domination (by heterosexism)« gehe (ebd.: 655). Für Blasius sind ›coming out‹-Prozesse folglich niemals passive oder ›zufällige‹ Akte, da es unabhängig von ihrer Materialisierung (erotisch-sexuell, sprachlich, im Rahmen sozialer Beziehungen, politisch usw.) jedenfalls immer um eine aktiven Akt der Dis-Identifikation mit hegemonialen Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen gehe (ebd.: 661). Bedeutet dies jedoch, wie Judith Butler fragt, dass jenes »›Subjekt‹ das ›out‹ ist, frei von Unterwerfung« ist oder »oder könnte es sein, daß der Akt der Subjektion […] in mancher Hinsicht selbst dann unterdrückerisch wirkt […], wenn ›Out-sein‹ beansprucht wird« (Butler 1996 [1991]: 19f.)? Coming Out als politischer Akt beinhalte demnach – und darauf haben insbesondere poststrukturalistische und queere DenkerInnen hingewiesen – auch eine inhärente Ambivalenz, da öffentliche, dissidente ›Selbst/Markierungen‹ und ›Identifizierungen‹ nicht jenseits heteronormativer Inklusionsprozesse stehen. Sie stehen zwar quer zur ›kollektiven Identität‹ und ihrer (heteronormativen) Regeln und Normen, sind aber gleichzeitig Teil jenes modernen sexuellen Dispositivs, das identitäre und essenzialisierende Vorstellungen von Sexualität und Gender produziert und von der vermeintlichen Binarität einer heterosexuellen Mehrheit und homosexuellen Minderheit ausgeht (Sedgwick 2003; Foucault 1983 [1977]; Butler 1991; Butler 1995). Das deviante und exkludierte ›Andere‹ ist konstitutiv für die Inklusion des ›Normalen‹ selbst, denn »›out‹ zu sein hängt immer in gewisser Weise damit zusammen ›in‹ zu sein; es gewinnt seine Bedeutung nur innerhalb dieser Polarität« (Butler 1996 [1991]: 19). Diane Fuss beschreibt diese ambivalente Logik von ›coming out‹. »[T]he binary structure of sexual orientation, fundamentally a structure of exclusion and exteriorization, nonetheless constructs that exclusion by prominently including the contaminated other in its oppositional logic. The homo in relation to the hetero […] operates as indispensable interior exclu-
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sion – an outside which inside interiority making the articulation of the latter possible […]« (Fuss 1991: 3).
Wenn also Niklas Luhmann fragt: »Wie kann es Inklusion geben, wenn es keine Exklusion gibt?« (Luhmann 1995: 146f.) wird in diesem Zusammenhang deutlich, dass die Position des Strangers in diesem ambivalenten Prozess dissidenter Artikulation und Selbst/Konstruktion sowie heteronormativen ›othering‹ produziert wird. »Coming out« Prozesse präsentieren sich vor diesem Hintergrund als »kompliziert austariertes Kompromisshandeln« (Woltersdorff 2005: 268), das stets von der Dialektik Auflehnung und Anpassung, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Subjekt und Abjekt, ›passing‹ und ›othering‹ tangiert wird. Gleichzeitig betont Diane Fuss aber ebenso, dass auch wenn ›dissidente‹ Selbstartikulationen und Identifizierungen »tend toward reestablishing themselves«, bedeute das keineswegs, »that they can never be invated, interfered with, and critically impaired« (Fuss 1991: 6).
Straight inclusion: Zur Ambivalenz aktueller Inklusionsangebote Spätestens seit dem Vertrag von Amsterdam wird und wurde in EUropa der faktische StaatsbürgerInnenschaftsstatus von LGBTQs systematisch verbessert: Diskriminierende Altersregelungen wurden (tendenziell) abgeschafft, Antidiskriminierungsbestimmungen in ausgewählten Bereichen erlassen und eine zunehmende Inklusion von LGBTQs in bestimmten Funktionszusammenhängen staatsbürgerlicher Rechte ermöglicht (z.B. Gewährung von Eherechten bzw. PartnerInnenschaftsrechten in einzelnen EU-Ländern). Diese Verbesserungen verweisen nun für viele BefürworterInnen dieser Reformen wiederum auf die ›inklusivistische‹ Implikation von Staatsbürgerschaft und die anhaltende Möglichkeit einer ›verspäteten‹ oder ›nachträglichen‹ Inklusion von LGBTQs in alle staatsbürgerlichen Rechte. Inklusion wird in diesem Kontext, wie der Terminus der ›staatsbürgerlichen Rechte‹ bereits suggeriert, vielfach auf der Basis eines rechtsdiskursiven Demokratieverständnisses mit der Inklusion von LGBTQs in bestimmte Rechte/Rechtsbereiche gleichgesetzt und weniger als allumfassende soziopolitische und ökonomische Partizipation in demokratische Arenen und Ressourcen konzipiert (vgl. Hark 2000; Klapeer 2008).
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Auch wenn diese (rechtlichen) Reformen die Existenzbedingungen von LGBTQs zum Teil unmittelbar verbesser(te)n, wird im Rahmen dieser inklusionslogischen Argumentation jedoch häufig übersehen, dass damit der interdependente Prozess von Inklusion/ Exklusion sowie die oben beschriebenen Ambivalenzen jeglicher Inklusionsprozesse in modernern Demokratien nicht außer Kraft gesetzt werden. Das heißt, auch Inklusionsprozesse von LGBTQs setzen eine, wenn auch verschobene, (normierende) Identifikation mit den der ›kollektiven Identität‹ entsprechenden (System-)Regeln und Normen voraus und müssen dabei gleichzeitig exklusivierend agieren. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwieweit in diesem Kontext der Prozess der »negative interiorization« (Fuss 1991: 3), also die konstitutive Funktionalisierung von Homosexualität als Abjekt heterosexueller Normalitäten aufgehoben oder nur verschoben wird, wenn davon ausgegangen wird, dass »Gleichheit von Lesben und Schwulen innerhalb der existierenden sozialen Ordnung realisiert werden könnte, ohne daß dafür zunächst das heterosexuelle Privileg dezentriert werden muß« (Hark 2000: 41). Diese kritischen Analyse aktueller ›Inklusionsangebote‹ basiert freilich auf einem citizenshipVerständnis, das StaatsbürgerInnenschaft nicht ausschließlich als Trias von Rechten interpretiert, sondern als »Set rechtlicher, politischer, ökonomischer und sozialer Praktiken« durch welche »eine Person als kompetentes Mitglied einer Gesellschaft bestimmt und die Verteilung von Ressourcen an Personen und Personengruppen reguliert« (Hark/Genschel 2003: 135). Sabine Hark und Corinna Genschel sprechen daher von »politics of citizenship«, da hier die aktive Strukturierung und Regulierung von Mitgliedschaft in den Blick gerät und somit auch »die sexualpolitischen Dimensionen der Infrastruktur der Demokratie« untersucht werden könne (ebd.: 141). (Staatsbürgerliche) Exklusionen bzw. differenzielle Formen der Inklusion von LGBTQs können daher nicht einfach als (diskriminierende) ›Zustände‹ begriffen werden, sondern es muss gerade die Prozesshaftigkeit der »politics of citizenship« beachtet werden. Insofern gilt es auch die heteronormative Strukturierung von StaatsbürgerInnenschaftspolitiken nicht als quasi naturrechtliche Unhintergehbarkeit zu definieren, sondern gerade den komplexen Prozess der Setzung von Normen, und damit auch der Möglichkeit einer ›anderen‹ Setzung im Blick zu behalten (Pechriggl 2008). Im folgenden Abschnitt möchte ich daher den Begriff der ›straight inclusion‹ einführen, der zum einen darauf rekurrieren soll, dass
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durch aktuelle Reformen im LGBTQ-Bereich zwar eine Form der ›differentiellen Inklusion‹ ermöglicht wird, dabei aber auch spezifische ›Inklusionsanforderungen‹ bzw. ›-bedingungen‹ artikuliert werden und erfüllt werden müssen. Inklusion wird daher von der Zustimmung und Fähigkeit zur »programmatischen Selbstführung« (Pühl/ Schultz 2001) abhängig (gemacht), also inwieweit LGBTQs durch die nun stattfindende Anrufung als ›Minderheit‹ bereit sind, sich diesen (neuen) minderheitenspezifischen ›Inklusionsanforderungen‹ zu unterwerfen. Diese ›Inklusionsanforderungen‹, sind daher weniger als strukturierte Regeln im Rahmen des rechtlichen Normsetzungsprozesses zu verstehen, sondern als Form einer gouvernementalen Regierungstechnik, in der Herrschafts- und Selbsttechnologien gleichsam zusammenspielen: Insofern bedeute Regieren in diesem Zusammenhang vor allem eine ›Selbst/Produktion‹ von Subjektivitäten, die stets im Zusammenhang mit der politischen Besetzung und Regulation des Körpers und seiner Begierden stehe (Foucault 2000 [1978]). Ähnlich wie in der (rassistischen) Migrationsdebatte wird daher die Verantwortung für die Inklusion der ›exkludierten‹ Gruppe selbst ›aufgebürdet‹, da diese sich ihm Rahmen einer (neoliberal gefärbten) Eigenverantwortung durch eine »programmatische Selbstführung« selbst den Weg in die Inklusion bereiten könn(t)en (vgl. Engel 2008). In »spätmodernen Gesellschaften« existieren daher auch, wie Antke Engel betont, (neue) »Formen« des »differenzierten Einschlusses« und der »pluralistische[n] Integration« (Engel 2008: 44), die unter den Schlagworten von ›Vielfalt‹ auf den ersten Blick sehr wohl unterschiedliche sexuelle Identitäten und Lebensweisen zuzulassen scheinen und sich erst auf den zweiten Blick als normierende ›Inklusionsanforderungen‹ entpuppen. Diese minderheitenspezifischen ›Inklusionsanforderungen‹ sowie die damit einhergehenden (neuen) Exklusionen, sind nun jene Bereiche, die aktuell von zahlreichen queeren und feministischen TheoretikerInnen und AktivistInnen u.a. mit den Worten der »(Hetero-)Normalisierung«, »projektiven Integration«, »Assimilation« etc. kritisiert werden (Engel 2008; Phelan 2001; Bell/Binnie 2000; Richardson 2000; Seidman 2002). Steven Seidman bringt nun diese minderheitenspezifischen, heteronormalisierenden ›Inklusionsanforderungen‹ treffend auf den Punkt, wenn er schreibt: »[T]he normal gay is expected to be gender conventional, link sex to love and a marriage-like relationship, defend family values, personify economic individualism, and display national pride« (Seidman 2002: 133).
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Gouvernementale ›Inklusionsanforderungen‹ ›Straight inclusion‹ setzt demnach eine spezifische Subjektivierung und entsprechende Modulation des eigenen politischen, ökonomischen und sozialen Selbst ebenso wie der jeweiligen sexuellen Beziehungen auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen voraus (siehe dazu Grafik). Auf der Mikroebene des Individuums verlangen die ›Inklusionsanforderungen‹ demnach tendenziell stabile, nicht-transgressive Geschlechtsidentitäten und -performances im Rahmen heteronormativer Binaritäten. D.h. auch wenn, wie Antke Engel hervorhebt, in spätmodernen Gesellschaften durchaus von einem Prozess der »flexiblen Normalisierung« (Engel 2002) auszugehen sei, existiert nach wie vor eine »zweigeschlechtliche, wenn auch flexiblere GenderHierarchie« (Pühl 2003). Mit der ›Inklusions(an)forderung‹ nach einer Selbst/Konstitution der eigenen sexuellen/geschlechtlichen Identität als ›minoritär‹, situieren sich aktuelle ›Inklusionsangebote‹ jedoch weiterhin im Rahmen heteronormativer Deutungsprozesse,
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welche nicht nur auf dichotomen Geschlechterbildern basieren, sondern auch von der Annahme ausgehen, »daß es eine stabile und nicht zu hinterfragende Klasse von Heterosexuellen gibt«, der eine Klasse von Homosexuellen gegenüberstehe (Hark 2000: 40). Wie bereits in dem Zitat von Steven Seidman anklingt, beinhalten die hier diskutierten minderheitenspezifischen Inklusionsanforderungen auch zahlreiche Verweise auf eine adäquate ›Beziehungsführung‹ und ›Beziehungsform‹. Auf der Mesoebene der (sexuellen) Intimbeziehungen geht es daher wesentlich um die Anforderung, sich an einem familial konzipierten Modell der monogamen und liebenden Zweierbeziehung zu orientieren, das insbesondere auch im Kontext des neoliberalen Abbaus sozialer Sicherungssysteme als privatisierte Form der ›Sorge‹ fungieren soll. Darüber hinaus implizieren ›Inklusionsanforderungen‹ auf der Mesoebene auch eine Privatisierung der (sexuellen) Verhältnisse. Die Soziologin Amy Elman spricht etwa gerade in Bezug auf die zunehmende Ausweitung von Rechten für LGBTQs in der EU von einer »domestication of equality« und einer starken Bezugnahme auf »family values« (Elman 1999): »›The right to family life‹ continues to be one of the most illusive components of EU citizenship for this historically oppressed group« (Elman 1999: 4). Wie besonders aktuelle Diskussionen und Aktionen im LGBTQKontext zeigen, spielt in der Debatte um die ›Inklusion‹ von LGBTQs vermehrt ihre Identifikation als ›MarktbürgerInnen‹ sowie ihre ›programmatische Selbstführung‹ im Rahmen ökonomischer Anforderungen eine zentrale Rolle. Als ökonomisch produktive, individualistische und leistungsbereite MarktbürgerInnen, die sich als entsprechend kommodifizierbar und konsumorientiert zeigen, vergrößern LGBTQs demnach, so suggerieren auch die ›Inklusionsanforderungen‹, ihre Chancen auf Inklusion und Anerkennung. Neben der Makroebene des Marktes spielt jedoch auch die Frage von Demokratie und demokratischer Repräsentation im Kontext einer Analyse von ›Inklusionsanforderung‹ eine zentrale Rolle. Demnach müssen sich LGBTQs nicht mehr als ›neutralisierte BürgerInnen‹ ohne ›partikuläre‹ Forderungen geben, sondern können auf Basis ihrer ›Minderheitenposition‹ sehr wohl um politische Anerkennung kämpfen. Ihre demokratische Handlungsmöglichkeit ist jedoch, wie insbesondere Momin Rahman in seinem Werk Sexuality and Democracy betont, begrenzt:
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»[D]emocratic practice operates on the assumption that political identity is, to large extent, a reflection of ontological ›truth‹ – a sense of being. […] Political identity is too often taken as representative of an essential nature or attribute within democratic process. This assumption of political essentialism combines with and reinforces the oppressive essentialist understanding of sexuality […] The key problem […] is how to avoid identity politics becoming a politics which indicates essential (and thus presocial) differences […]« (Rahman 2000: 117ff.).
Auf der Makroebenen der (repräsentativen) Demokratie wird demnach nicht nur die Anerkennung der eigenen minderheitenpolitischen Position gefordert, sondern auch ein Modus der politischen Interessensartikulation geformt: Ein essenzialisierendes und binäres Verständnis von Sexualität ist demnach die Grundlage dafür, ›legitime‹ Forderungen nach Anerkennung und Gleichstellung zu stellen (vgl. Richardson 2000: 77f.). Demnach sollen auch auf der Metaebene der kulturellen Repräsentation heteronormative und (essenzialisierende) Deutungs- und Interpretationslogiken aufrecht bleiben. Insofern basiere, wie Diane Richardson argumentiert, der citizenship-Status der LGBTQs angeboten werde, auf einem Modell, »[which is] based on a politics of tolerance and assimilation. Lesbians and gay men are granted the right to be tolerated as long as they stay within the boundaries of that tolerance, whose borders are maintained through a heterosexist public/private divide. Furthermore the expectation is that lesbians and gay men should remain minority groups« (Richardson 2000: 77). Die hier aufgezählten ›Inklusionsanforderungen‹ zeigen sich nun insbesondere vor dem Hintergrund bestehender sozialer, ökonomischer und politischer Hierarchien und Ressourcenungleichheiten (aufgrund des Geschlechts, der Klasse, von ›Race‹/Ethnizität, der geopolitischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, (Aus-)Bildung, Alter, u.v.m.) als problematisch. D.h. (Partielle) Exklusionen aus anderen sozialen, politischen oder ökonomischen Sphären (z.B. horizontale und vertikale Arbeitsmarktsegregation sowie Lohnunterschiede je nach Geschlecht und Herkunft, Verweigerung der politischen Mitbestimmung und Teilhabe für MigrantInnen ohne Staatsbürgerschaft, Exklusion von AsylwerberInnen vom Arbeitsmarkt und sozialen Leistungen) entfalten hier gleichsam negative Rückkoppelungseffekte auf die Wahrnehmung der ›Inklusionsangebote‹ und tragen überdies zu neuen Formen der »secondary marginalization« innerhalb
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der LGBTQ-Community bei (Phelan 2001: 116). Insofern seien, wie Katharina Pühl betont, »Inklusionspolitiken« immer problematisch, da »›Inklusion‹ in die bestehenden Zerklüftungen sozialer Ungleichheit stets soziale Differenzen neu hervorbringt und bestätigt«, da ein permanentes »Beziehungsgeflecht sozialer Positionen untereinander« existiert, »das von Hierarchien, Aberkennungsverhältnissen, Unterdrückung, Dominanz von einigen über die ökonomischen und kulturellen Ressourcen von anderen erheblich durchzogen ist« (Pühl 2003). Darüber hinaus verstärken auch jene Differenzen, die sich zwischen den ›Inklusionswilligen‹ bzw. ›Inklusionsfähigen‹ und jenen, die diese Bedingungen aus unterschiedlichen Gründen nicht erfüllen können oder wollen, bestehende Ungleichheiten und bringen neue Formen der sozialen Schließung hervor.
Fazit: Inhabit your dissident citizenship! Positionen jenseits heteronormativer Inklusionsund E xklusionslogiken Mit dem Terminus »dissident citizenship« bezeichnete die feministische Politikwissenschaftlerin Holloway Spark jene »oppositional democratic practices«, in welchen »dissident citizens constitute alternative public spaces«, um ihre Proteste jenseits kanalisierter demokratischer Kanäle zu artikulieren und so Kritik an den Ausschlüssen demokratischer Prozesse und Institutionen zu äußern (Sparks 1997: 75): »Dissident citizenship, in other words, encompasses the often creative oppositional practice of citizens who, either by choice or (much more commonly) by forced exclusion from the institutionalized means of opposition, contest current arrangements of power from the margins of the polity« (ebd.). Im Rahmen des hier diskutierten inklusionslogischen citizenshipVerständnisses ist das Konzept von ›dissident citizenship‹ insofern spannend, da es Räume der Partizipation und Inklusion jenseits heteronormativer Inklusions- und Exklusionslogiken erschließt und Inklusion nicht mehr als bloße Inklusion in das Bestehende, sondern als Teilnahme an der Herausforderung und Transformation des Bestehenden gelesen wird. ›Dissident citizenship‹ meint im LGBTQ-Kontext demnach keineswegs eine ›Pluralisierung‹ von möglichen sexuellen Positionen im Rahmen der bestehenden citizenship-Logik, sondern die aktive Politisierung von Grenzen und Ausschlüssen, Subjektivierungsund Normalisierungsstrategien. Diese bedeutet demnach auch, dass
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der Dichotomie von (demokratischer) Exklusion- und Inklusion eine andere Bedeutung zukommt. Denn wie Spark betont, könne gerade die/der dissidente BürgerIn, die/der als Exkludierte/r »address[es] the wider polity in order to change minds, challenge practices, or even reconstitute[s] boundaries of the political itself« als Inbegriff ›der/des demokratischen BürgerIn‹ gesehen werden (Sparks 1997: 75). ›Dissident citizenship‹ betont daher auch die demokratische Bedeutung ›alternativer‹ Formen der politischen Kommunikation, Agitation und damit auch Inklusion jenseits etablierter Formen staatsbürgerlicher Inklusionslogiken und Inklusionsangebote. Dies richtet den Blick auf die vielfältigen dissidenten Praktiken und Erfahrungen in unterschiedlichen LGBTQ- und feministische Bewegungen, die nicht nur die Grenzen der demokratischen ›All-Inklusivität‹ und ihre heteronormativen Implikationen in Frage stell(t)en, sondern durch neue/alternative Familien- und Gemeinschaftsformen, Caring-Modellen9 und Partizipationspraktiken10 auch subversive Formen der Inklusion ermöglich(t)en. Die hier vorgeschlagene Re-Perspektivierung des citizenship-Status von LGBTQs beinhaltet daher keinen Verweis auf ein (möglicherweise anzustrebende) Zukunft, die, wie von einigen TheoretikerInnen vorgeschlagen, in einem ›extending‹ (Richardson 2000; Bell/Binnie 2000) bzw. ›queering‹ von citizenhip (Phelan 2001) liegt, sondern richtet den Blick auf vergangenen und aktuelle (dissidente) citizenship-Praktiken. Es geht also nicht um eine normative Perspektive des ›queering‹ der Inklusionslogiken, sondern um einen einfachen Perspektivenwechsel, der die vielfältigen Inklusionsstrategien in ›alternativen‹ Räumen und durch subversive Praktiken in den Blick nimmt. ›Dissident citizenship‹ meint daher keineswegs ein Verweilen in oder eine ›Fetischisierung‹ der (freiwilligen) identitätslogischen minoritären Exklusion, sondern beinhaltet eine subversive (demokratische) Konfrontation und Auseinandersetzung mit Exklusionsmechanismen. Insofern beinhaltet ›dissident citizenship‹ auch jene subversive Politisierung der ›eigenen sexuellen und geschlechtlichen Position‹, die Antke Engel als »aktive Indifferenz« bezeichnet (Engel 2008): »Aktive Indifferenz setzt genau dort an, wo von dominanter Seite negiert oder von minoritärer Seite nicht eingeklagt wird, dass eine bestimmte geschlechtliche/sexuelle Existenzweise mehr als nur die persönlichen Lebens- und Beziehungsformen beeinflusst, inwiefern diese sich also auf die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse, Institutionen und Nor-
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malitätsregime auswirkt bzw. sich auswirken soll – kurz, inwiefern sie als Teil des Politischen betrachtet wird« (ebd.: 59).
Im Kontext der in diesem Beitrag vorgenommen kritischen Evaluation inklusionslogischer citizenship-Verständnisse im LGBTQ-Kontext bedeutet diese Perspektive, sich mit den historischen und aktuellen Konstruktionslogiken sexueller und geschlechtlicher Devianz auseinanderzusetzen und vor diesem Hintergrund auch aktuelle Inklusionsangebote als Formen der ›straight inclusion‹ zu problematisieren. Denn da jeder Inklusionsakt auf »einem Exkludierten beruht, einem konstitutiven Außen, welches sich immer schon im Inneren befindet« kann ›uns‹ gerade diese Dialektik, diese Notwendigkeit einer ständigen Performanz heteronormativer Exklusions- und Inklusionslogiken zur »Problematisierung der Inklusionsform« veranlassen und damit auch zur Grundlage unterschiedlicher politischer Mobilisierungen jenseits identitätspolitischer Eindeutigkeiten inspirieren (Stäheli 2001: 56; vgl. Engel 2001). Praktiken und Räume dieser ›Problematisierung‹ und Kritik können dahingehend aber auch als ›andere‹ und subversive Formen der Inklusion begriffen und aktiv gestaltet werden.
Anmerkungen 1 | Wird in diesem Beitrag auf historische (theoretische-philosophische) Konzepte bzw. Konzeptionalisierungen von Staatsbürgerschaft Bezug genommen, dann wird hier die ›männliche‹ Form von Staatsbürgerschaft verwendet, da die entsprechenden Autoren und Philosophen diese Inklusionsinstitution dezidiert als androkratisch bzw. androzentrisch konzipierten. Spreche ich im Gegensatz dazu von aktuellen StaatsbürgerInnenschaftsPraktiken, dann wird die geschlechtersensible Form verwendet. 2 | Die Begriffe StaatbürgerInnenschaft und citizenship werden in diesem Beitrag gleichbedeutend verwendet, auch wenn der englische Begriff citizenship stärker auf die aktive Rolle von BürgerInnen verweist, während hingegen Staatsbürger(Innen)schaft vielfach als ›passives‹ Moment der Zugehörigkeit interpretiert wird. 3 | Die Abkürzung LGBTQ steht für Lesbians, Gay, Bisexual, Transgender and Queer, wobei das Q am Ende auch für das Wort Questioning steht – ein Verweis darauf, dass die Autorin um den Konstruktionsgehalt dieser Kategorien weiß und diese daher in kritischer Weise verwendet.
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4 | Hierbei sei u.a. auf die europäische Sektion der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA-Europe) und ihrer nationalen/lokalen Mitgliedorganisationen verwiesen: www.ilga-europe.org. 5 | Hierbei sei beispielsweise auf die European Parliament’s Intergroup on Gay and Lesbian Rights und die Parteien der Mitglieder verwiesen: www. lgbt-ep.eu/news.php. 6 | Der Begriff des Abjekts wurde im feministischen Kontext vor allem durch die Psychoanalytikerin und Literaturtheoretikerin Julia Kristeva geprägt und von Judith Butler für eine heteronormativitätskritische Verwendung weiterentwickelt (Kristeva 1982; Butler 1995). Während Kristeva den Begriff des Abjekts anhand des ›monströsen‹, mütterlich-weiblichen Körpers analysierte, arbeitete Butler vor allem im Rahmen ihrer Re/Dekonstruktion von Prozessen geschlechtlicher und sexueller Intelligibilitätsproduktion mit dem Abjektionsbegriff. Für Butler steht der Begriff des ›Abjekts‹ für »jene ›nicht lebbaren‹ und ›unbewohnbaren‹ Zonen des sozialen Lebens, die dennoch dicht bevölkert sind von denjenigen, die nicht den Status des Subjekts genießen, deren Leben […] jedoch benötigt wird, um den Bereich des Subjekts einzugrenzen« (Butler 1995: 23). Die Verwendung des Abjektionsbegriffs in diesem Beitrag steht im Kontext des von Judith Butler artikulierten Anliegens, Prozesse der Abjektion zu politisieren und damit über eine sprachtheoretische Dekonstruktion geschlechtlicher Materialisierung hinauszugehen (Butler 1995: 47f.). Insofern geht es nicht einfach um eine Untersuchung jener Staatsbürgerschaftsdimensionen und -rechte, die LGBTQs vorenthalten werden, sondern um eine Dechiffrierung der Strukturen, Prozesse und Funktionsweisen, welche diese Existenzweisen erst zum ›citizenship abject‹ machen und daher einen Staus der ›abjektiven StaatsbürgerInnenschaft‹ begründen. 7 | Das Argument der Demokratieunfähigkeit von politischen Systemen, die sich auf keine kollektive Identität in der Bevölkerung stützen könne, erfreut sich insbesondere im Kontext der Europäischen Union (EU) und dem vielfach kritisierten Fehlen einer ›europäischen Identität‹ einer wachsenden Popularität. 8 | So können Lesben und Schwule etwa in jedem EUropäischen Land eineN PartnerIn im Rahmen einer heterosexuellen Ehe heiraten und in diesem Zusammenhang die damit verbundenen sozialen Rechte in Anspruch nehmen. 9 | Hierbei sei u.a. auf die im Rahmen der AIDS-Krise entstandenen ›alternativen‹ (Pflege-)Netzwerke verwiesen. 10 | Hier seien auf die vielfältigen basisdemokratischen, anti-hierarchischen und/oder anarchistisch inspirierten Demokratie- und Partizipations-
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formen in feministischen, lesbischen, schwulen, lesbisch-schwulen und queeren Zusammenhängen und politischen Bewegungen hingewiesen.
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M IGR ATION UND I NTEGR ATION . K OMMUNEN UND R EGIONEN IM Z UGZ WANG Bettina Gruber
Rahmenbedingungen für Migration in Europa und Österreich Am Beginn des 21. Jahrhunderts wurden in der Europäischen Union die Schranken für den grenzüberschreitenden Verkehr von Waren und Kapital weitgehend beseitigt und für Bürgerinnen und Bürger gilt seither Freizügigkeit. Auch über die Grenzen Europas hinaus ist mit der Globalisierung international grenzenloses Bewegen von Kapital, Kommunikation und Dienstleistungen enorm angestiegen. Es sind vor allem die gut qualifizierten Menschen weltweit, die eine hohe Bewegungsfreiheit genießen. Dieser globale Trend zur Mobilität und Freizügigkeit geht allerdings mit schärferen Kontrollen an den EUAußengrenzen und einer restriktiven Migrationspolitik der Europäi-
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schen Gemeinschaft einher. Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht Horrormeldungen über ertrunkene MigrantInnen aus Afrika vor der Insel Lampedusa hören, über die »Boat People« in der Meerenge von Gibraltar, über gekenterte Schiffe in der Ägais, voll mit Flüchtlingen, die von Schleppern unter unvorstellbaren Bedingungen nach Europa gebracht werden, um einem vermeintlich besseren Leben entgegenzublicken, es vergeht kein Tag, an dem nicht Menschen, die immer wieder isoliert von der Umwelt, in der Schubhaft, schlechter behandelt als Schwerverbrecher, ihrem Leben ein Ende setzen oder auf ihre unwürdige Situation aufmerksam machen wollen. Nach Jahrzehnten kontinuierlicher Zuwanderung nach Europa wird nach wie vor vermieden, von einer »Einwanderungsregion Europa« zu sprechen. De facto sind die Mitgliedstaaten jedoch zu Einwanderungsländern geworden, auch wenn das nicht in deren Selbstverständnis verankert ist. So erscheint es in Zukunft für Österreich und die Länder der Europäischen Union besonders wichtig, die faktische Einwanderung, die in den Mitgliedstaaten seit einigen Jahrzehnten stattfindet, auch als solche anzuerkennen, transparenter zu gestalten und integrationspolitisch zu begleiten (vgl. Märker 2001: 3). Von einer gemeinsamen, kohärenten Asyl- und Migrationspolitik ist die Europäische Union derzeit noch weit entfernt. Eine widersprüchliche, kurzsichtige und reaktive Vorgehensweise kennzeichnet die Politik der Mitgliedstaaten. Lediglich bei den Restriktionen in der Asylpolitik und der gemeinsamen Kontrolle der EU-Außengrenzen ist, so Ralf Fücks,1 eine stärkere supranationale Abstimmung ersichtlich. Das sei zuwenig für die rechtsstaatlichen und humanitären Prinzipien, wie auch für die ökonomischen Notwendigkeiten in einer gemeinsamen Union (Fücks 2008: 7f.). Betrachtet man Prognosen über die zukünftige Zuwanderung in die Europäische Union, so wird deutlich, dass der Umgang mit ImmigrantInnen auch weiter eine zentrale Herausforderung für die Politik in Europa sein wird. Der Umfang der ausländischen Bevölkerung in Europa wird ständig zunehmen und es dürfte eine Verstetigung des Aufenthalts von ZuwanderInnen zu erwarten sein. Zuverlässigen Prognosen folgend wird es einerseits zu einem Rückgang der AsylwerberInnen kommen und andererseits zu einer Zunahme des Familiennachzugs und bedarfsorientierter temporär beabsichtigter Arbeitsmigration (Angenendt 1999: 849f.). In Österreich besitzen im Jahr 2009 zehn Prozent der Gesamtbevölkerung einen ausländischen Pass; 1,353 Millionen Menschen
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in Österreich wurden im Ausland geboren. Mit 16 Prozent der Gesamtbevölkerung verzeichnet Österreich einen der höchsten Anteilswerte an Zuwanderung in der Europäischen Union. Knapp ein Drittel aller AusländerInnen sind Angehörige eines EU-Staates. Die Zahl der Deutschen in Österreich ist geringfügig höher als die Zahl der türkischen Staatsangehörigen; damit stellen die Deutschen die größte AusländerInnengruppe in Österreich. Österreich wird im 21. Jahrhundert wie auch andere europäische Staaten aufgrund des demographischen Wandels vor großen migrationspolitischen- und demographischen Herausforderungen stehen. Die zukünftige Bevölkerungsentwicklung wird durch die anhaltend niedrigen Kinderzahlen und der damit verbundenen demographischen Alterung durch die Zuwanderung aus dem Ausland nachhaltig geprägt werden. Mit diesen zukünftigen Entwicklungen wird mehr denn je eine zielgerichtete Migrations- und Integrationspolitik, die das Faktum einer dauernden Zuwanderung nach Österreich als Tatsache und Ausgangspunkt anerkennt, notwendig (Fassmann 2007: 181f.). Die wichtigste Herausforderung im Kontext der Einwanderung dürfte in der Vermittlung der Einsicht liegen, dass Europa in Zukunft sogar vermehrt auf Zuwanderung angewiesen sein wird. Bis heute mangelt es an der Sensibilität für diese bevölkerungspolitische Tatsache. Zuwanderungsfragen sind nach wie vor so brisant, dass an eine rationale Politikgestaltung kaum zu denken ist (Märker 2001: 6). Diesen realpolitischen Entwicklungen stehen die Betonung nationaler Muster, der Wunsch des Erhalts der »eigenen« Leitkultur und rechtes Gedankengut gegenüber. Rechte Parteien sind europaweit auf dem Vormarsch und bestimmen auf Grund ihrer Wahlerfolge immer mehr die Alltagspolitik. Das bestehende nationalistische Gedankengut, gefördert durch die gegenwärtige Finanzkrise sowie fehlende Antworten und Perspektiven sozialistischer Parteien, wird vor allem über gängige Printmedien transportiert und schafft ein Klima der Fremdenfeindlichkeit und der Abschottung nach außen in Österreich und Europa. Das bedeutet unter anderem für Menschen, die bereits in der zweiten und dritten Generation in Österreich leben, nicht gut integriert zu sein und nach wie vor geringere Bildungschancen zu haben, was ihrem sozial-ökonomischen Aufstieg über Generationen im Wege steht. Die Forschung in Österreich weist in diesem Kontext aktuell darauf hin, dass zum Beispiel türkische Frauen besonders benachteiligt sind. Sie weisen die niedrigste Schulbildung auf, sind
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zu rund drei Viertel als ArbeiterInnen tätig und ihre Erwerbsquote erreicht auch in den mittleren Altersgruppen gerade einmal 55 Prozent. Dies ist besonders bedenklich, wenn sich diese Situation in die Töchtergenerationen fortsetzt (Fassmann 2007: 397). Die Abwehr auf Seiten der Europäischen Union, sich als eine Einwanderungsregion zu sehen und zu akzeptieren, dass sie dies in Zukunft in noch verstärktem Maße sein wird, die nationale Ausrichtung, die Ignoranz einer gegenwärtigen pluralistischen und multikulturellen Ausgangslage verschärfen das Zusammenleben in Regionen und Kommunen. Traumatisierte Familien und ihre Kinder, die aus Kriegsgebieten, wie vor einigen Jahren verstärkt aus dem ehemaligen Jugoslawien und derzeit zugewanderte TschetschenInnen nach Österreich kommen, erwartet eine ablehnende Bevölkerung, die einzig Nachteile in dieser Zuwanderung sehen. Beinahe tägliche Berichterstattungen über Schlägereien bzw. auch angebliche Schlägereien unter zugewanderten und einheimischen Jugendlichen verschärfen das Klima in den Kommunen. Aus dieser polarisierenden Situation heraus entstanden in Kärnten als Gegenmaßnahme zwei Plattformen, die diesen Entwicklungen entgegen wirken sollen.2
Villacher Plattform »Migration ein Menschenrecht« Die Villacher Plattform »Migration ein Menschenrecht« wurde 2008 gegründet. Engagierte Initiativen, NGOs und einzelne Personen aus Villach und Umgebung vereinbarten, nicht zuletzt im Kontext einer ungerechtfertigten Abschiebung tschetschenischer Familien aus Villach im Jänner 2008, aber auch aufgrund des verbesserungswürdigen Zusammenlebens von einheimischer Bevölkerung und zugewanderten Menschen, in Anlehnung an das »Aktionskomitee für mehr Menschlichkeit und Toleranz« in Klagenfurt, sich für eine zukunftsweisende Integration in Villach einzusetzen. Als Ziele der Plattform wurden eine kontinuierliche gesellschaftliche Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Migration in der Stadt Villach und Umgebung durch Informationsveranstaltungen und Medienarbeit in den Mittelpunkt gerückt und das Schaffen eines positiven Klimas für ein verantwortungsbewusstes Miteinander betont, um dem drohenden Klima der Fremdenfeindlichkeit in der Stadt Villach und Umgebung die Grundlage zu entziehen.
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Als wesentlichen Inhalte der Arbeit der nächsten Jahre wurde die Sensibilisierung für das Thema Migration, die Wahrnehmung und der Abbau der Ängste in der Bevölkerung, die Verbesserung der Atmosphäre des Zusammenlebens in der Stadt und im regionalem Umfeld, die Förderung von Toleranz zwischen unterschiedlichen kulturellen Kontexten, die Wahrnehmung von Vielsprachigkeit und kultureller Vielfalt (die gefördert werden sollte) sowie die Schaffung von Rahmenbedingungen, die eine Vielfalt an Lebensformen zulässt, als wesentliche Bereiche formuliert. Das vorliegende Verständnis von Integration meint die gleichberechtigte Einbindung aller MitbürgerInnen der Stadt, egal welchen Aufenthaltsstatus sie gerade innehaben. Integration soll hier nicht, wie häufig verstanden, Zugewanderte in Richtung Assimilation zwingen. Es geht um eine aktive partizipative gemeinsame Gestaltung pluralistischer Kommunen. Integration wird hier als gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe gesehen, die die einheimische wie die zugewanderte Bevölkerung gemeinsam wahrnehmen. Mit einer erfolgreichen und sehr gut besuchten Auftaktveranstaltung im Frühling 2009 in Villach und einer entsprechenden Medienöffentlichkeit startete die Plattform den Prozess mit MigrationsexpertInnen, die die Rahmenbedingungen der heutigen Migration in Europa und im Speziellen in Österreich beleuchteten; ein Workshop unter Einbindung von VertreterInnen des Magistrats Villach, VertreterInnen von einschlägigen Initiativen und Institutionen und engagierten Einzelpersonen, dem verschiedene weitere Treffen im Rahmen von inhaltlichen Arbeitskreisen folgten, legte die zukünftige inhaltliche Arbeit fest. In verschiedenen Arbeitsgruppen wurden erste Ideen und Projektvorschläge entwickelt, Filmvorführungen und kulturelle Veranstaltungen hatten einen sehr regen Besuch der Villacher Bevölkerung zur Folge, womit das bestehende Interesse der Menschen am Thema evident wurde. Als besonders wichtige Schwerpunkte der Plattform wurden die Entwicklung eines Integrationsleitbildprozesses für die Stadt in Anlehnung an bereits entwickelte Leitbilder in Basel (Schweiz), Dornbirn, Wels, Steyr (Österreich) etc. herausgearbeitet. Bildung, Jugend und Kultur im Kontext von Migration und Integration sollen ins Zentrum gerückt werden, wobei niederschwellige Angebote zur Vertrauensbildung, wie auch kreative, kulturelle, bewusstseinsbildende Projekte, die auf Nachhaltigkeit zielen, betont wurden. Eine kontinu-
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ierliche Ideenentwicklung für eine Medien-Zusammenarbeit wurde angedacht und nächste Veranstaltungen geplant.
Umsetzung der Ziele Um die Ziele erreichen zu können, wird eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit den öffentlich verantwortlichen VertreterInnen der Stadt Villach angestrebt. Es bedarf einer strategischen Entwicklung, Planung und Begleitung von integrativen Maßnahmen zur Förderung von Chancengleichheit von Zuwanderern und Zuwanderinnen in Abstimmung mit der Politik unter Einbeziehung der verschiedenen sozialen AkteurInnen (Verantwortliche aus Politik, Verwaltung, diversen Institutionen, Einrichtungen, Vereinen) und der Bevölkerung. Die Plattform selbst bietet die Möglichkeit zur Vernetzung zwischen AkteurInnen der Zivilgesellschaft, Politik und auch der Verwaltung sowie die Etablierung eines Erfahrungs- und Wissenstransfers zwischen diesen. Als positive Grundlage einer nachhaltigen Integrationspolitik in der Stadt Villach kann gewertet werden, dass seit Mai 2009 im Stadtsenat der Bereich Integrationsangelegenheit als eigenständiger Bereich Anerkennung fand und dass für diese Integrationsangelegenheiten seit Dezember 2009 ein eigenes Budget zur Verfügung steht.
Aktivitäten und Schwerpunkte der Plattform Neben der erwähnten Auftaktveranstaltung (Podiumsdiskussion und Workshop) am 23. März 2009 und einer entsprechenden Medienöffentlichkeit fanden bislang Gespräche mit einzelnen Parteien- und InteressensvertreterInnen statt, ein regelmäßiger Jour fixe mit der zuständigen Stadträtin für Integration und Soziales wurde eingerichtet; es wurden verschiedene Projekte wie der regelmäßige Austausch mit der Integrationsbeauftragten von Dornbirn initiiert; unter anderem wurde ein Vortrag zur Idee einer Menschenrechtsstadt durch den ehemaligen UNO-Sonderbotschafter Walter Lichem gehalten, eine Begegnungsveranstaltung am 25. September 2009 am Hauptplatz in Villach durchgeführt und ein wöchentlicher interkultureller ElternKind-Treff, der sich äußerster Beliebtheit erfreut, ins Leben gerufen.
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Dornbirn als ein Studienobjekt für einen mehrjährigen Integrationsleitbildprozess Zentraler erster Schwerpunkt der Plattform ist die Entwicklung eines Integrationsleitbildprozesses. Nach Recherchen über Inhalte und Umsetzung verschiedener Integrationsleitbilder innerhalb und außerhalb von Österreich lud die Plattform die Integrationsbeauftragte der Stadt Dornbirn Ende Mai 2009 ein, um das bestehende Leitbild zu diskutieren und Know How für eine mögliche Entwicklung eines Integrationsleitbildes für Villach auszuloten. Dornbirn wurde insbesondere deswegen herangezogen, da dort die erste Leitbildentwicklung in Österreich in Anlehnung an das Baseler Integrationsleitbild durchgeführt wurde. Das Dornbirner Integrationsleitbild fußt auf folgenden Grundlagen: »Integration ist eine gesamtgesellschaftliche und gesamtstädtische Querschnittsaufgabe und ist bei allen Überlegungen städtischen Handelns mit einzubeziehen. Die Integrationspolitik setzt nicht symptomorientiert und defizitverwaltend, sondern präventiv, ursachenbezogen sowie fördernd und fordernd im Sinne der Entfaltung des menschlichen Potenzials an. Integrationspolitik entwickelt eine gesamtgesellschaftliche Kultur des aufgeklärten und positiven Umgangs mit Vielfalt und Differenz« (Die Leitsätze des Integrationsleitbildes der Stadt Dornbirn 2002: 7).
In dem vorliegenden Modell ist vor allem der Weg von der Initiierung des Prozesses bis zu seiner konkreten Umsetzung besonders relevant, wobei das Gleichheitsprinzip, der Übergang vom Defizit- zum Individualansatz, der emanzipatorische Zugang und der partizipative Ansatz für die Plattform als Beispiel von besonderem Interesse waren. Auf Basis des Baseler Integrationsleitbildes als unmittelbarem Vorbild wurde in Dornbirn in einem einjährigen Prozess von einer beauftragten Projektleitungsgruppe in Zusammenarbeit mit den verschiedenen installierten Arbeitskreisen (Arbeit, Bildung, Wohnen, Soziales, Gesundheit) ein Leitbildprozess initiiert. Für die Zeit der Leitbildentwicklung wurde ein Integrationsbeirat eingerichtet. Es geht bei diesem langjährigen Prozess um eine kontinuierliche, strukturierte Arbeit, bezogen auf eine zukunftsweisende Integration in Kommunen, um den bestehenden Defiziten zu begegnen und es stellt einen verbindlichen Plan über mehrere Legislaturperioden dar, der breit genug gefasst ist, um konkrete Bedürfnisse auszuloten und
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neue Wege und Schwerpunkte zu platzieren; neben dieser verbindlichen Struktur lässt es im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen Platz für Neues und Zeitgemäßes. Als notwendige Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines Leitbildprozesses in Gemeinden, Städten und Regionen ist ein Beschluss über Parteigrenzen hinweg notwendig, um entsprechende möglichst breit getragene Gemeinderatsbeschlüsse zu fassen. Der Prozess zur Erstellung eines Leitbildes und deren Umsetzung ist bereits als ein wesentlicher Schritt in Richtung Sensibilisierung für Integrationsfragen zu sehen. Der Entwicklung des Leitbildes muss eine rasche Umsetzung durch Teilmaßnahmen folgen (entsprechende Strukturen, wie eine Integrationsleitstelle sollten geschaffen und ein adäquates Budget zur Verfügung gestellt werden). Integration ist als Weg der kleinen kontinuierlichen Schritte in einem langfristigeren Prozess zu sehen und die Erfahrungen der Vorbilder in Österreich und im benachbarten Ausland sollten weitreichend einbezogen werden. Die Ergebnisse des Dornbirner Leitbildprozesses zeigten, dass die Stadt engagiert hinter dem Prozess steht und ihn entsprechend weiter forciert, dass das Zusammenleben und die Verständigung besser funktionieren, die gegenseitige Wahrnehmung eine bessere Atmosphäre und ein Klima der Verständigung schafft, die Bevölkerung für das Thema sensibilisiert wird und damit den Prozess stützt und der neue Umgang mit migrantischen MitbürgerInnen Strahlkraft und Vorbildfunktion auf die Umlandgemeinden Dornbirns zur Folge hat. Es können konkrete Verbesserungen in den Bereichen Sprachkompetenzerweiterung bei Kindern, Jugendlichen, aber vor allem über das Angebot von Sprachkursen für Erwachsene aller Altersgruppen verzeichnet werden. Im Bereich Wohnen werden Ghettobildungen durch eine zukunftweisende Wohnungspolitik verhindert. Eine Reihe von verschiedensten Maßnahmen und Projekten wurden umgesetzt wie Lernhilfen für Volks- und Hauptschulkinder sowie Einzugsbegleitungsprojekte bei der Wohnungsvergabe und vieles mehr.
E xkursion nach Wiener Neustadt Im Dezember 2009 besuchten VertreterInnen der Plattform gemeinsam mit der zuständigen Stadträtin das Integrations-Modell Wiener Neustadt, das als wichtiges und vergleichbares Projekt für Villach gesehen wurde. Der Bevölkerungsanteil in Wiener Neustadt beträgt etwa 44.000 EinwohnerInnen; 12 Prozent der Bevölkerung in Wiener
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Neustadt sind ausländische Angehörige, ungefähr 20 Prozent verfügen über einen Migrationshintergrund. Wiener Neustadt legt seit 2005 einen kontinuierlichen Fokus auf den Bereich Integration und richtete im Jahr 2008 ein eigenes Integrationsreferat mit dem Ziel ein, Integration als Querschnittsmaterie wahrzunehmen, d.h. Sensibilisierung, Kompetenzerweiterung und Vernetzung zu forcieren, Begegnungen auf verschiedenster Ebene und einen Dialog zu ermöglichen bzw. Maßnahmen gemeinsam mit den Betroffenen zu entwickeln. In einer sechsmonatigen Erhebung fand eine Bestandsaufnahme der Situation vor Ort statt. Es laufen verschiedenen Projekte im Bereich Bildung, Schule, Wohnen (z.B. mobile BetreuerInnen für interkulturelles Lernen in der Schule, Wiener Neustädter Integrationsgespräche, Stadtteilarbeit, Plakataktion »Hier bin ich zu Hause« u.v.a.). Eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinen vor Ort ist gegeben.
Leitbildentwicklung als Instrument der Planung und Gestaltung von Integrationspolitik Leitbildprozesse sind deshalb anzustreben, weil sie ein kontinuierliches Instrument der Planung von Migrationspolitik sind. Sie stellen strategische Ausrichtungen und strukturelle Verankerungen des Themas als Querschnittsmaterie in Gemeinden und in der Landespolitik, sowie die Inangriffnahme dieses Themas mit einem umfassenden Integrationsverständnis auf rechtlicher wie soziokultureller Ebene dar. Integrationsleitbilder führen zur Versachlichung und Verfachlichung der Auseinandersetzung mit Migration, indem versucht wird, das Thema Integration im gesellschaftlichen Rahmen zu gestalten. Leitbildentwicklung ist eine strukturierte Planung von Integrationspolitik (Zwicklhuber 2005: 13). Damit lösen sich Kommunen vom »emotionalen Aufregen« und unsachlicher Auseinandersetzung. Leitbildentwicklung bedeutet eine Ingangsetzung eines koordinierten Prozesses, bei dem am Anfang die Erhebung des zahlenmäßigen Ist-Zustandes im Kontext von Migration steht; weiters geht es um die Analyse, Reflexion, Planung und den Handlungsrahmen. Es folgen Ziele, Strategien und Maßnahmen (Zwicklhuber 2005: 12). Leitbildprozesse gibt es in mehreren kleineren Gemeinden in Niederösterreich wie Guntramsdorf, Traismauer, in Kleinstädten wie Dornbirn, Krems in Niederösterreich und Salzburg. Es gibt Prozesse in Vorarlberg, Tirol und Oberösterreich, Niederösterreich steht erst am Anfang; ein Leitbildprozesses für die Steiermark wurde gerade gestartet; viele weitere Städte wie etwa
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Wien, Kapfenberg, Steyr und andere Gemeinden bemühen sich ebenfalls um eine zeitgemäße Integrationspolitik, gehen aber andere Wege.
Ziele und Vorteile und Ergebnisse von Integrationsleitbildprozessen Es geht um eine kontinuierliche, strukturierte Arbeit im Sinne der Integration in den Kommunen, um den bestehenden Defiziten zu begegnen. Es soll ein verbindlicher Plan über mehrere Legislaturperioden erarbeitet werden, der breit genug gefasst ist, um Bedürfnisse, Wege und Schwerpunkte zu definieren und Platz für Neues und Zeitgemäßes zu lassen, der aber die Linie und die Maßnahmen für mehrere Jahre beschreibt und vorgibt. Besonders wichtig für den Erfolg des Prozesses ist, dass die Stadt engagiert hinter dem Prozess steht und integrative Maßnahmen forciert. Durch den Prozess werden das Zusammenleben und die Verständigung besser, die gegenseitige Wahrnehmung schafft eine angenehmere Atmosphäre, ein Klima der Verständigung und die Bevölkerung wird für das Thema sensibilisiert und unterstützt den Prozess.
Mögliche Wege und erste Schritte für Villach Die Stadt Villach sollte die Entwicklung eines Integrationsleitbildes in der Stadt als Basis für Maßnahmen in den Bereichen Soziales, Wohnen, Gesundheit, Bildung, Jugend und Kultur ins Leben rufen. Eine Erhebungsphase des Ist-Zustandes in der Stadt und eine Bedarfsanalyse für die Aufnahmegesellschaft und die MigrantInnen ist als erster Schritt eines Leitbildes zu sehen. Eine weiterführende Zielvorstellung kann die Entwicklung hin zu einer Menschenrechtsstadt – nach dem Vorbild von Graz und Salzburg – sein. Der Prozess zur Entwicklung des Integrationsleitbildes ist bereits ein wesentlicher Faktor für die Zielerreichung. Wesentlich scheint, dass im Kontext der Entwicklung des Leitbildes bereits die konkreten Maßnahmen der Umsetzung auf den Ebenen Wohnen, Gesundheit und Bildung skizziert werden, damit das Leitbild nicht in einer Schublade als schönes Papier endet. Während der Umsetzung sollte eine bewusste Anstellung von Menschen mit Migrationshintergrund im Bereich Soziales, Kindergärten, Jugendwohlfahrt und Integrationsangelegenheiten in der Stadt erfolgen (beispielsweise kann ein Psychologe/Pädagoge oder eine Psychologin/ Pädagoginn mit Migrationshintergrund in den Bereichen Beratung
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für Kinder, Jugendliche und Eltern, sowie in der Elternberatung und im Kinder- und Jugendschutz von größtem Nutzen sein). Anzustreben ist die Schaffung eines Integrationsreferats nach dem Vorbild von Wiener Neustadt mit einem eigenen Budget sowie mit zwei hauptamtlich angestellten Personen, wobei eine Person über einen Migrationshintergrund verfügen sollte; weiters sollte ein beratender Fachbeirat zum Thema Migration, Integration, interkulturelles Zusammenleben begleitend geschaffen werden.
Migration und Integration als Zukunftsprojekt Kommunale Konzepte wie Integrationsleitbildprozesse, die Installierung von Migrationsbeiräten und Menschenrechtsstädten, in denen die Integration eine große Rolle spielt, setzen Bewusstseinsprozesse für eine zukunftsweisende Integration in Kommunen und Regionen in Gang. Sie ersetzen jedoch nicht umfassende Strategien für eine menschenrechtskonforme europaweite Integrationspolitik. Die anhaltend dramatische Situation vieler Flüchtlinge an den Außengrenzen Europas und weltweit macht neue Konzepte der Migration notwendig, die an den heutigen realen Grenzen und den Grenzen im Kopf der Menschen nicht haltmachen dürfen. Es geht hier laut Integrationsexperten Stefan Kurzke-Maasmeier um die Ermöglichung und gerechte Strukturierung von Grenzüberschreitungen im Rahmen vorhandener Menschenrechtsnormen. Dies erfordert ein vernünftiges Sprechen über Migration als zukunftsoffenem Prozess, der immer auch als Modernisierungsschub von Gesellschaften zu verstehen ist. Zudem ist es an der Zeit, unter fairer Diskursbeteiligung der AkteurInnen in den Herkunftsländern, die große, ungelöste Problematik eines Rechts auf Freizügigkeit anzugehen, das sowohl das Recht auf Auswanderung wie ein Recht auf Einwanderung beinhaltet (Kurzke-Maasmeier 2009: 27f.). Antoine Pécoud, Migrationsexperte der UNESCO, plädiert für ein umfassendes Recht auf Mobilität und stützt sich hier auf die UN-Konvention zum Schutz der Rechte aller WanderarbeiterInnen und ihrer Familien. Die Konvention, die bisher von keinem westlichen Industrieland ratifiziert wurde, unterstreicht, dass Menschen, die auf Grund wirtschaftlicher oder politischer Gründe wandern, unverlierbare Rechte haben und einen besonderen Schutz benötigen, unabhängig von ihrem jeweiligen Status (Pécoud und de Guchteneire zit.n. Kurzke-Maasmeier 2009: 28). Die politische Utopie der offenen Grenzen
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setzt auf die Weiterentwicklung eines menschenrechts-basierenden Ansatzes der Gestaltung von Migration. Das Recht auf Auswanderung, das für viele Flüchtlinge faktisch die Bedingung der Möglichkeit zur Durchsetzung ihrer menschenrechtlichen Ansprüche darstellt, muss deshalb konsequenterweise durch die grundlegenden Rechte auf Mobilität und Einwanderung ergänzt werden (Kurzke-Maasmeier 2009: 28). Hinsichtlich Migrations- und Integrationspolitik auf europäischer Ebene ist es daher weitgehend anzustreben, dass aufenthaltsrechtliche, arbeitsrechtliche und sozialpolitische Maßnahmen verknüpft und mit gezielten, nachhaltigen, entwicklungspolitischen Programmen zur Ursachenvermeidung flankiert werden. Dabei sollte auf die Spaltung zwischen Elends- und Fluchtmigration einerseits und einer Eliten- und Expertenmigration andererseits verzichtet werden.
Anmerkungen 1 | Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich Böll Stiftung. 2 | Die Plattform »Aktionskomitee für mehr Menschlichkeit und Toleranz« und die Villacher Plattform »Migration ein Menschenrecht«.
Literatur Angenendt, Steffen (1999): »Europa als Einwanderungsgebiet«. In: Wiener Weidenfeld (Hg.), Europa – Handbuch, Bonn: Bertelsmann Stiftung, S. 849f. Fassman, Heinz (Hg.) (2007): 2. Österreichischer Migrations- und Integrationsbericht 2001-2006. Rechtliche Rahmenbedingungen, demographische Entwicklungen, sozioökonomische Strukturen, Klagenfurt/Celovec: Drava. Fücks, Ralf (2008): »Vorwort – die Zukunft der europäischen Migrationspolitik«. In: Steffen Angenendt (Hg.), Die Zukunft der europäischen Migrationspolitik. Triebkräfte, Hemmnisse und Handlungsmöglichkeiten, 4, Berlin: Heinrich Böll Stiftung. Die Leitsätze des Integrationsleitbildes der Stadt Dornbirn (2002). In: Kenan Güngör/Rebekka Ehret (Hg.), Integrationsleitbild der Stadt Dornbirn mit integriertem Maßnahmenplan, Dornbirn/Basel, S. 7.
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Kurzke-Maameier, Stefan (2009): »Migration weiterdenken. Ethische Erwägungen zu einer ›Expansion der Menschenrechte‹«. In: Forum Weltkirche1/2009, S. 25ff. Märker, Alfredo (2001): »Zuwanderungspolitik in der Europäischen Union. Europäisierte Lösungen oder Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners«? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B8/2001. Pécoud, Antoine/de Guchteneire, Paul (2009): »Migration without borders. An investigation into the Free Movement of People Berghan Books in association with UNESCO 2007«, zit.n. Stefan Kurzke-Maameier, Migration weiterdenken. Ethische Erwägungen zu einer »Expansion der Menschenrechte«. In: Forum Weltkirche1/2009. Zwicklhuber, Maria (2005): »Integration am Beispiel der aktuellen Leitbildprozesse in Österreich«. In: ARGE MigrantInnenberatung (Hg.), Integration im Blickfeld von Rassismus, Diskriminierung und Partizipation von MigrantInnen, Paper MIDAS Abschlusskonferenz, 23. Juni 2005.
3 Globale und ökonomische Ausschlüsse
Z U DIESEM K APITEL Utta Isop/Viktorija Ratković »1/3 der welt vereinigt sich gegen die anderen 2/3 im rhythmus von rassismus sexismus und antisemitismus wollen sie uns isolieren unsere geschichte ausradieren oder bis zur unerkenntlichkeit mystifizieren es ist ein blues in schwarz-weiß es ist ein blues« May Ayim (1996)
Im zweiten Schwerpunkt dieses Buches werden zunächst wirtschaftswissenschaftliche und subjekttheoretische Argumente im Hinblick auf ihre Herrschaft stabilisierenden Ideologien und Wissenskulturen in den Blick genommen. Karin Schönpflug und Friederike Habermann gehen in ihren Texten von strukturellen und subjektbezogenen Benachteiligungen im Feld der Ökonomie aus, die sich auf den gender pay gap, geringe Partizipationsmöglichkeiten in Wirtschaft und Politik für Frauen und Minderheiten sowie auf die »Eigentumsverhältnisse, Fähigkeiten, Eigenschaften und Produktionsmittel« des Homo Oeconomicus beziehen. Wie lässt sich die »Persistenz und Akzeptanz« (Friederike Habermann) von einer Milliarde hungernder Menschen und von Millionen von wesentlichen Einflussmöglichkeiten auf ihre Überlebensbedingungen ausgeschlossenen Menschen weltweit mit den Konzepten von »Demokratie« und »global governance«, die von starker Beteiligung der so genannten Zivilgesellschaft ausgehen, vereinbaren? Wie-
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so führen diese partizipativen Ansätze in Wirtschaft und Politik zu keiner wirklichen Veränderung der Eigentumsverhältnisse, der Entscheidungsmacht, der Herrschaftsstrukturen und der Ausschlüsse von großen Teilen der Betroffenen? Friederike Habermann argumentiert, dass als »Gleiche«, sei es im staatsbürgerlichen, im menschenrechtlichen oder »marktgültigen« Sinne, nur solche Personen angesehen werden, denen bestimmte Produktivmittel, Vertragsfähigkeit, Eigentumsstrukturen und »Teilnahmepositionen« im Arbeits- und Kapitalmarkt zukommen. Wer über diese Mittel und Eigenschaften nicht verfügt, wird nicht als »GleicheR« wahrgenommen. So werden die Nachrichten von einer Milliarde Menschen, die aufgrund chronischen Hungers mit dem Tod ringen, von Menschen in demokratisch und kapitalistisch organisierten Gesellschaften als nicht handlungsrelevant wahrgenommen und führen auch nicht zu Kooperationsaktivitäten. Wie Karin Schönpflug ausführt, geht ökonomische Exklusion mit sozialer und politischer Exklusion einher, Phänomene wie die »Feminisierung von bestimmten Branchen«, die gläserne Decke oder der Gender Pay Gap machen die Verschränkung der ökonomischen, sozialen und politischen Ebenen deutlich. Diese Mehrdimensionalität für die Analyse von ökonomischer Benachteiligung in Einkommen, Arbeitsmarkt (etwa Einschluss in bestimmten segregierten Berufsfeldern), Kapitalbeteiligung, Eigentumsformen, sozialstaatlichen Zuwendungen etc. analysiert die Autorin in Beachtung der Interdependenzen von symbolischer, institutioneller und individueller Dimensionen in einem performativen Kreislauf. In diesem verdichten sich die symbolische Ebene des Habitus (Normen, Konventionen, biologische, soziale und epistemologische Werte), die institutionelle Ebene oder das »kulturelle Kapital« nach Pierre Bourdieu (Familie, Bildungseinrichtungen, Staat, Kunst) und schließlich die individuelle Ebene in Verknüpfung mit sozialem Kapital (Verteilung der Präsenz in öffentlicher und privater Sphäre, Care-Tätigkeiten, Teilzeitarbeiten). Diese drei Ebenen sind bei der Analyse des Gender Pay Gap zu beachten, sollen tatsächlich spürbare Veränderungen von heteronormativen diskriminierenden Strukturen erreicht werden. Friederike Habermann weist ebenfalls darauf hin, dass strukturelle und identitäre Funktionsebenen von Herrschaft in Verbindung zu sehen sind, wenn es darum geht zu verstehen, wessen Freiheiten das System des Homo Oeconomicus absichert und wessen Interessen keiner Artikulation zugänglich gemacht werden. Die Herstellung von
G LOBALE UND ÖKONOMISCHE A USSCHLÜSSE
Hegemonie über die beständige Arbeit an bestimmten Subjektstrukturen, wie der Vertragsfähigkeit, der Eigentumsverfügung, der Kapitalnutzung, der Arbeitstauglichkeit, der Zugehörigkeit zu herrschenden und dominanten Massen wie den europäischen, westlichen oder demokratischen Gesellschaften erklärt, warum in diesem System der einander verstärkenden Privilegien Subalterne und Hungernde nicht gehört werden. Diese gehören nicht zur Zivilgesellschaft, die sich am runden Tisch des »Global Governance« niederlassen und die Herrschenden herausfordern, beraten, beeinflussen oder zumindest bitten können. Diese gehören auch nicht zur »Natürlichkeit des Marktes«, an welchem sie als kapitalkräftige Teilnehmer_innen partizieren, gewinnen oder verlieren könnten, sie gehören weder zur staatlich-politischen Verwaltbarkeit noch zur marktförmigen Integrierbarkeit »unserer« Welt. Dass die Zuschreibungen von Wissenschaftlichkeit, Rationalität und universeller Gültigkeit in enger Verbindung mit ökonomischen Kriterien und Kriterien »sozialer Herrschaft« stehen, macht auch deutlich, wie gering die Einflussmöglichkeiten auf die eigenen Überlebensbedingungen für beispielsweise Asylwerber_innen oder Sans-Papiers gestaltet sind. Die beiden Artikel von Barbara Eder und Siegfried Stupnig zeigen auf, dass die Ideologie des »freien Personenverkehrs« in demokratischen und kapitalistischen Gesellschaften keine universelle ist. Barbara Eder skizziert zunächst den aktuellen Stand der soziologischen Debatten um Inklusion und Exklusion, um dann die französische Einwanderungspolitik zu beleuchten und auszuführen, dass die Aktivist_innen der Sans-Papiers-Protestbewegung ihr Handeln zwar als staatsbürger_innenschaftliche Akte verstehen, dies allerdings vom Staat Frankreich nicht anerkannt wird. Die Unterschiede in der Fremd- und Selbstbezeichnung sind dann auch eines der Themen des Beispiels, anhand dessen Eder die Situation von Sans-Papiers in Frankreich zu verdeutlichen versucht. Mithilfe eines Comics wird die Biografie eines Jugendlichen vorgestellt, bzw. aufgezeigt, welche Auswirkungen rechtliche und soziale Exklusion für diesen hat. Siegfried Stupnig stellt in seinem Beitrag die Initiative »TschetschenInnen – EuropäerInnen wie wir« vor, die zum Ziel hat, Informationen über Tschetschen_innen, die größte Gruppe von Asylwerber_innen in Österreich, für die ortsansässige Bevölkerung bereitzustellen. Stupnig beschreibt zunächst die Hintergründe der Flucht der Asylwerber_innen aus ihrem Heimatland und verdeut-
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licht dann das fremden-(und insbesondere Tschetschenen-)feindliche Klima, welches in Kärnten herrscht. Wie wichtig Stupnigs Arbeit ist, zeigt beispielsweise die Tatsache, dass gerade weil bestimmte Asylwerber_innen von der österreichischen »Einheimischen« als »Europäer_innen wie wir« wahrgenommen werden, diesen der Aufenthalt in Österreich erlaubt wird.
Literatur Ayim, May (1996): blues in schwarz weiss, Berlin: Orlanda Frauenverlag.
F EMINISTISCH/E K OMPLE X /E ? G EDANKEN ZUR ÖKONOMISCHEN E XKLUSION Karin Schönpflug1 Ökonomische Exklusion basiert nicht nur auf niedrig gehaltenen Löhnen und der dadurch geringeren Kaufkraft für die Betroffenen, sondern sie ist auch mit anderen Arbeits(markt)charakteristika verbunden, die sich als höchsgradig genderspezifisch2 präsentieren: Längere Arbeitszeiten und mehr Arbeitsstunden für Frauen in Beruf und Reproduktion sowie schlechtere Arbeitsbedingungen mit geringer (sozialer) Anerkennung. Dieser Komplex vergeschlechtlichter Arbeitsbedingungen ist eine Grundlage für soziale Exklusion (z.B. für von Armut besonders betroffene Gruppen wie Alleinerzieherinnen oder Migrantinnen3) und steht in Verbindung mit anderen Exklusionsmechanismen (z.B. die mangelnde Inklusion von Frauen in bestimmte politische und ökonomisch relevante Entscheidungsorgane und -institutionen oder kulturelle Deutungslogiken, die »Führung«, »Macht«, »Kompetenz« als »männlich« benennen, hingegen »Versorgung«, »Emotionalität«, »Familie/Kinder« als »weiblich« chiffrieren). Hier soll gezeigt werden, dass komplexe, differenzierte Erklärungssysteme nötig sind, um das isolierte Problem der genderspezifischen Lohndifferenz zu erfassen. (Ein nächster Schritt wäre, solch ein Erklärungssystem als eine diskursive Basis für den Entwurf von Lösungsstrategien zu etablieren. Auch die Lösungen selbst sind hier weniger Gegenstand der Betrachtung, wie sich zeigen wird, liegen
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sie möglicherweise – noch – ausserhalb des gegenwärtigen Paradigmas.) Am Beginn dieses Beitrages stehen eine Größenzuordnung für aktuelle Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen sowie ein Gedanke zur künftigen Fortschreibung dieser ökonomischen Ungleichheit. In Folge werden einige Erklärungen aus der Mainstreamökonomie mit ihren unterschiedlichen ideologischen Hintergründen beschrieben, von denen einige aus feministischer Perspektive eher wie »Ausreden« als mögliche Lösungsansätze anmuten. Dann rekurriere ich auf einige punktuelle Ansätze zur ökonomischen Gleichstellung aus der österreichischen Frauenpolitik, die ich kritisch betrachten möchte. Anschließend werden neoliberale Ansätze für eine gegenderte Ökonomie exemplarisch vorgestellt und als nicht wegweisend oder systemimmanent verworfen. Kernstück ist schliesslich die Illustration eines feministisch-interdisziplinären Erklärungsmusters für Pay Gaps und Ungleichheit auf den Arbeitsmärkten, das anhand einer Graphik vorgestellt wird und der Komplexität von geschlechtstspezifschen Lohnungleichheiten Rechnung tragen soll. Den Abschluss bilden einige Überlegungen zu möglichen Ausstiegsszenarien.
Niemals für das gleiche Geld arbeiten Die Verringerung von Einkommensunterschieden zwischen Frauen und Männern ist seit den jahrhundertealten Forderungen der ersten Frauenbewegungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit4 ein in Österreich lange verschlepptes und anhaltendes Problem. Hierzu ein paar Zahlen: Laut Forschungsbericht des Bundeskanzleramtes 2007 betrug der Gender Pay Gap, d.h. der geschlechtsbezogene Einkommensunterschied, bei den Stundenlöhnen 26,1 Prozent (gleich viel wie 1995), die Monats- und Jahreseinkommen haben sich aufgrund vermehrter Teilzeitarbeit bei Frauen seit 1995 weiter auseinanderentwickelt: 2007 betrugen sie 33,6 Prozent bzw. 38,6 Prozent, 1995: 30,3 Prozent bzw. 35,8 Prozent (BKA 2007: 1). Auch der Rechnungshof vermeldet, dass Frauen nach wie vor und in allen Beschäftigtengruppen deutlich weniger als Männer verdienen: 2009 betrug das mittlere Einkommen der Frauen 60 Prozent des mittleren Männereinkommens. Unter den BeamtInnen verdienen Frauen 93 Prozent des mittleren Männereinkommens, dagegen kommen weibliche Angestellte auf 50 Prozent der mittleren Männerverdienste, Arbeiterinnen gar nur auf 44 Prozent. Wenn ausschliesslich ganzjährig Vollzeitbeschäf-
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tigte verglichen werden, beträgt der Median5 der Fraueneinkommen nur 81 Prozent des mittleren Männereinkommens: Unter ArbeiterInnen erzielen Frauen 68 Prozent der Männereinkommen, bei den Angestellten kommen sie auf 66 Prozent, bei den BeamtInnen sind es 100 Prozent des mittleren Männereinkommens (Rechnungshof 2010: 44). Mit Blick auf die Zukunft konstatieren René Böheim, Helmut Hofer und Christine Zulehner: »If we assume that discrimination continues to fall by the same speed, it will take until the end of this century for men and women to earn equal wages for equal jobs« (Böheim et al. 2005: 14).
Ausreden und Erklärungen der Mainstreamökonomie In der Mainstreamökonomie finden sich vielfältige Erklärungen für diese hartnäckigen Pay Gaps: Bezüglich der horizontalen Berufswahl dominieren Theorien, die niedrige Frauen- oder MigrantInnenlöhne über »Crowding« Thesen erklären, welche besagen, dass niedrige Löhne aufgrund mangelnder Branchendiversifikation entstehen. Auf Frauen bezogen wird argumentiert, dass typische, schlecht bezahlte Frauenberufe (wie z.B. Friseurin) freiwillig gewählt werden, weil diese als für Frauen »passender« gelten. Frauen sind v.a. in Büro- und Dienstleistungsberufen, im Handel, in der Reinigung und in der Gesundheits- und Sozialarbeit zu finden, alles Tätigkeiten, die zum Großteil Hausarbeits- oder Fürsorgecharakter haben. Aufgrund des Überangebots in den einzelnen Sparten entstehen so angebotsseitig niedrige Löhne (Bergmann 1974). Die Humankapitaltheorie6 macht eine selbstgewollte Minderqualifizierung mit bewusst gewählten Einkommenseinbußen für Frauen aufgrund von komparativen Kostenvorteilen im Familienkontext aus (siehe z.B. Becker 1985), d.h. Frauen wählen zugunsten des Gesamtwohls der Familie bewusst eine persönliche Schlechterstellung. Andere ökonomische Modelle beziehen Diskriminierung (Bewertung aufgrund produktivitätsunabhängiger Merkmale) als nachfrageseitiges Problem in ihre Erklärung zwar mit ein (vgl. Granato 2003: 30), kommen jedoch zu seltsamen Schlüssen: Gary Becker beschreibt z.B., dass Unternehmen »Gefallen« an Diskriminierung finden und dass Arbeitgeber Präferenzen zeigen, mit weißen Männern zusammenzuarbeiten und diesen daher grundsätzlich höhere Löhne bezahlen wollen, auch wenn andere potentielle ArbeitnehmerInnen eine identische Produktivität aufweisen (Becker
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1971). Laut neoklassischer Theorie hätten diskriminierende ArbeitgeberInnen jedoch langfristig einen Konkurrenznachteil und müssten eigentlich vom Markt verdrängt werden und verschwinden, tatsächlich scheint die sozio-kulturelle Komplexität von Diskriminierungsmechanismen schwer und nur sehr langwierig über den Arbeitsmarkt lösbar. Weniger neoliberale Erklärungsmodelle für Pay Gaps finden sich in Arbeitsmarktsegmentationstheorien7 (siehe z.B. Doeringer/Piore 1971), die Exklusion als Resultat abgetrennter Arbeitsmärkte beschreiben (»Old Boys‹ Netzwerke«); Theorien zu Insider-Outsider Technologien8 machen die gegenderte Technologie der Produktion, die bestimmten Gruppen entgegenkomme (z.B. Regelarbeitszeit von acht Stunden) für die Einbußen anderer durch diese Technologien benachteiligten Gruppen (z.B. Frauen mit Betreuungspflichten) verantwortlich (vgl. Collander/Woos 1997). Modernisierungstheoretisch könnte auch auf die (vermeintlichen) »Nachteile« für »Kulturen« mit nicht westlich geprägten ökonomischen Produktionsstrukturen hingewiesen werden.
Punktuelle Ausbruchsversuche Oftmals wird argumentiert, dass bestimmte Gruppen nur aufgrund ihrer fehlenden Ausbildung, oder weniger geleisteter Arbeitsstunden usw. geringer entlohnt werden. Die Anteile der ökonomischen Exklusion aufgrund von Diskriminierung (weniger Geld, obwohl gleiche Leistung), d.h. die »nicht erklärbaren« Lohnunterschiede im Lohndifferenzial, die auch nach Herausrechnen von Teilzeitarbeit, unterschiedlichen Bildungsständen, Branchenspezifika etc. auch bei identischen Persönlichkeitsmerkmalen und gleicher Produktivität bestehen bleiben, können aber durch das Verfahren der Blinder-Oaxaca Dekomposition (Blinder/Oaxaca 1973) errechnet werden, sie betragen zwischen 12 und 15 Prozent, die Frauen in Österreich weniger als Männer verdienen (siehe z.B. Böheim et al. 2005; 2010). Im Herbst 2009 wurde dieser Unterschied von der Österreichischen Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek anlässlich des 27. September, dem Equal Pay Day,9 mit einer für Österreich neuen Forderung auf das politische Tapet gebracht: Die »Frauenministerin will mit Strafen für Unternehmen durchgreifen« titelte beispielsweise der Standard an diesem Tag, rief die Frauenministerin doch dazu auf, die Gehälterstrukturen von Unternehmen mit mehr als 25 MitarbeiterInnen offenzulegen und falls Unternehmen trotz Mahnung keine Maßnah-
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men zum Ausgleich von unbegründbaren Lohndifferenzen zwischen Frauen und Männern schaffen würden, sollten auch Strafen folgen, um den Gender Gap in der Entlohnung der Unternehmen zu schließen. Die Beendigung der Gehaltsdiskriminierung ist zwar ein »löbliches Ziel«, hier soll jedoch argumentiert werden, dass deratige, monokausale Maßnahmen der Komplexität der Problematik geschlechtsspezifischer Lohndifferenzen nicht Rechnung tragen. Dies liegt zum einen in einer Vernachlässigung der gesamtgesellschaftlichen (vergeschlechtlichten) »Ungerechtigkeit«, Strukturen und Deutungslogiken sowie einer Interdependenz benachteiligender Faktoren und diskriminierenden Strukturelementen (z.B. verhilft ein höherer Lohn Frauen nicht automatisch zu ihrer Besserstellung im Haushalt oder zu vermehrter politischer Partizipation). Auch die Idee, Frauen in »Entwicklungs«ländern Mikrokredite zur Verfügung zu stellen, hat etwa wenig zur Verbesserung ihrer gesamtgesellschaftlichen Situation beigetragen: Es gibt bis heute keinen empirischen Beleg, dass dieses »Empowerment« nachhaltig zur Minderung ihrer Armut beigetragen hätte. Diese Verkomplizierung einer Analyse von Lohndifferenzen impliziert auch, die Verschränkung der Kategorie Frauen mit anderen Achsen der sozialen Schließung wahrzunehmen und somit Strategien zur »Beendigung der Benachteiligung von Frauen« (BKA 2009) nicht isoliert auf eine zu undifferenzierte und monolithische Kategorie wie »die Frauen« anzuwenden. Spezielle Förderprogramme für mehrfach diskriminierte Gruppen sind zwar eine gute Einsicht in Intersektionalität, jedoch sind auch sie letztendlich als punktuelle Ansätze zu verstehen. Auf österreichischer Regierungsebene ist schliesslich keine Gesamtstrategie zur Verringerung von Benachteiligungen erkennbar (BKA 2009), die m.M. nach jedoch unerlässlich wäre, um etwas einzufordern, das kein gesamtgesellschaftlicher Konsens ist.
Multidimensionale Betrachtungen aus neoliberaler Perspektive Hier soll nun auf die Verwertung von genderrelevanter Ökonomie in globalen, neoliberalen Kontexten eingegangen werden. Das World Economic Forum (WEF) hat ein multidmensionales Instrument zur internationalen Vergleichbarkeit der Geschlechter im Hinblick auf
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ihren ökonomischen und gesellschaftlichen Status entwickelt. Jährlich wird ein Global Gender Gap Report publiziert, der nicht nur Einkommensunterschiede sondern auch das Bildungsniveau, die politische Partizipation und Gesundheitsindikatoren berücksichtigt (Österreich lag im Jahr 2010 auf Platz 37, 2006 nahm es noch Platz 27 ein). Dieser Ansatz ist zwar weniger punktuell und breiter gefächert, dennoch ist dem Report aus mindestens drei Gründen kritisch gegenüberzustehen. Der erste Punkt ist, wie bereits angesprochen, dass die Kategorie »Gender« immer in Verknüpfung mit anderen Diskriminierungskategorien (u.a. ›race‹, class, sexuality, identity) gedacht werden sollte, um bezüglich ihrer Aussagekraft sinnvoll zu bleiben. Zweitens ist die Zielsetzung des Reports aus feministischer Sicht prinzipiell zu hinterfragen, heisst es doch im Vorwort von 2009: »Over the last year, the world has seen the biggest recession in almost a century. It is clear that recovery will require, among other things, the best of talent, ideas and innovation. It is therefore more important now than ever before for countries and companies to pay heed to one of the fundamental cornerstones of economic growth available to them – the skills and talent of their female human resource pool. As consumers, voters, employees and employers, women will be integral to global economic recovery« (WEF 2009: V).
Ob die Rolle, die Frauen hier zugedacht ist, tatsächlich eine aktive mitgestaltende, zum Beispiel nach feministischen Gesichtspunkten, sein kann, soll hier bezweifelt werden, hat sich doch gezeigt, dass Geschlechtergerechtigkeit von neoliberalen Strategen gerne als ein Ausbauen eigener Wettbewerbsvorteile und nicht als freiwilliges Abgeben von Entscheidungs- und Gestaltungsmacht gesehen wird. Denn nicht nur für die Weltbank ist »Gender Equality as Smart Economics« zu verstehen: »Forget China, India and the internet: economic growth is driven by women« (The Economist, 12. April 2006 in: World Bank 2006). Die Idee von Frauenquoten in Aufsichtsräten, wie sie im Oktober 2009 auch von der Frauenministerin in Österreich als auch in Frankreich eingebracht wurde und die in Norwegen bereits 2008 gesetzlich verankert wurde, erfolgte mit der politischen Rationale, dass eine Diversifikation des Humankapitals (z.B. über Frauen berücksichtigendes Diversity Management) Reichtum durch Produktivitätssteigerung erhöhen kann, während der Status quo (d.h. großteils männliches Managementpersonal) nur den Reichtum zu erhalten
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vermag. Doch das Abschöpfen des Wissens und der Fähigkeiten von exkludierten Gruppen und Minderheiten zur Profitmaximierung ohne sozio-ökonomischen Paradigmenwechsel ist aus Sicht der meisten feministischen ÖkonomInnen nicht als Ziel, sondern als Teil des Backlash zu verstehen. Dem entgegengesetzt stellt das WEF auch die konkreten Inhalte seiner vier Gender Gap Kategorien zusammen: Die ökonomische Partizipation bestimmt sich aus den drei Indikatoren Erwerbsbeteiligung, Bezahlung und Aufstiegschancen. Dazu einige Bemerkungen: Gestiegene Erwerbsbeteiligung (hier gemessen nach Daten der International Labour Organization, ILO) ist kritisch zu betrachten, sie lässt prinzipiell Fragen bezüglich Doppel- und Mehrfachbelastung und Teilzeit-, sowie präkarisierter Arbeit aussen vor. Ob im Rahmen der Bezahlung nur Löhne oder auch andere, oft sehr wesentliche, nicht direkt lohnimmanente Bestandteile wie Belohnungen und Prämien enthalten sind (gemessen wird nach einer WEF Executive Opinion Survey und nach United Nations Development Programme, UNDP Daten), bleibt ebenfalls zu hinterfragen. Die hier gemeinten Aufstiegschancen10 (gemessen nach ILO und UNDP Daten) sind ebenso als systemimmanent zu sehen, Fragen bezüglich Critical Mass11 (oder gar Trickle Down12) Effekten bei ausreichend großer Frauenbeteiligung in Machtpositionen sind sehr vorsichtig zu stellen, denn die biologistisch aufgebaute Vorstellung, dass Frauen zwingend Inklusionsprozesse in Gang setzen oder unterstützen werden, die (anderen) Frauen helfen, hat sich seit dem Beispiel Margaret Thatchers längst selbst zerstört.
Feministisch/e Komplex/e: Einkommensdifferenz als Prozess-Ergebnis eines performativen Kreislaufes Es bleibt schließlich zu sagen, dass auch eine Ausweitung der Kategorien und Indikatoren wie jene des WEF, nicht unbedingt bessere Aussagen über die Analyse und Lösung von ökonomischen und sozialen Exklusionsprozessen liefert. Ein grundsätzliches Verständnis für gesamtgesellschaftliche Prozesse und Konstituierungen ist eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis und in Folge zur tatsächlichen Inklusion in umfassendem Sinne statt zur Nutzbarmachung und zum weiteren Ausschluss, denn: »Geschlechterverhältnisse stellen eine gesellschaftliche Strukturkategorie […] bzw. eine hierarchisierende Institution […] dar. Die strukturelle Basis
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bildet die sphärische Trennung der Produktions- und Reproduktionsbereiche in Volkswirtschaft, Betriebswirtschaft und privaten Bereich (Haushaltsökonomie). Die Geschlechterverhältnisse verfestigten sich strukturell in dieser Trennung zwischen öffentlichen Handlungsräumen und Privatsphäre und finden bis heute ihre Entsprechung in der geschlechtsspezifischen Zuordnung von Erwerbs- und Hausarbeit. Zum einen wurden und werden durch diese Trennung Frauen vom Zugang zu prestige- und einkommensträchtigen, mit hohem Gestaltungs- und Machtpotential ausgestatteten Positionen in Wissenschaft, Politik und Ökonomie ausgeschlossen, was ihre Autonomie hinsichtlich der Gestaltung von Berufswegen und privatem Lebensstil wesentlich einschränkt. Zum anderen wird eine Reflexion jener geschlechtsspezifischen Mechanismen vermieden, die diese Bereiche nicht nur verbinden, sondern für diese – wie insbesondere die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung – konstitutiv sind. Die strukturell angelegte Geschlechterhierarchie manifestiert sich in unterschiedlichen gesellschaftlichen Phänomenen, wie beispielsweise im Phänomen der ›gläsernen Decke‹, in der ›Feminisierung von Berufen‹ oder in der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse in der Frauenerwerbstätigkeit. Dabei führt insbesondere die gesellschaftliche Festlegung von Frauen auf die Mutter- und Betreuerinnenrolle zu einem Ungleichgewicht in der gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen« (Hanappi-Egger/Hofmann 2005).
Diese Synthese von Hofmann und Hanappi-Egger soll in Folge graphisch unterlegt und auf die Benachteiligung aufgrund von Geschlecht, Sexualität, geographischer oder sozialer Herkunft erweitert werden. Im Speziellen soll hier auf den ökonomischen Ausschluss über den Arbeitsmarkt eingegangen werden. Die Exklusionsprozesse manifestieren sich auch abhängig von der Interesektionalität der Diskriminierungskategorien in Pay Gaps (Gender Pay Gap, Gay Pay Gap,13 Migrant Pay Gap14 etc.), die Verwurzelung der unerschiedlichen Einkommensausschüttung kann grundsätzlich drei Ebenen zugeordnet werden: einer symbolischen, einer institutionellen und einer individuellen Ebene. Diese drei Ebenen (siehe Abbildung) sollen durch drei Blockpfeile dargestellt werden:
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Perfomativer Kreislauf 1. Im ersten Blockpfeil »Symbolische Ebene« findet sich Bourdieus Habitus-Konzept wieder (Bourdieu 1983). Der Habitus (z.B. Auftreten, Stil, Vorlieben, Gewohnheiten, Haltungen etc.) befähigt ein Individuum zum Handeln auf Basis der in ihm/in ihr verinnerlichten Strukturen, bzw. eingeschriebenen Geschichte(n). Der Habitus ist als ein Verständnis für Regeln, Normen, Gebote und Verbote in einem sozialen Feld zu sehen, z.B. die Kenntnis der Fachsprache auf einer wissenschaftlichen Konferenz oder das Wissen um die notwendige Kleidung (z.B. Kleidermarken etc. bei einem semi-privaten, Business-Meeting), länderspezifische kulturelle Codes etc. Unter Kultur werden hier die im Habitus verankerten Sinnstrukturen der symbolischen Logik verstanden, die sich in den gesellschaftlichen Strukturen spiegeln. In diesem Bereich sind auch die uns gewohnten Sex/Gender Konventionen, kulturelle Zuordnungen und auch »private« Beziehungsspielräume zu verorten. Unter biologischen, bzw. körpermorphologischen Werten ist die spezifische Geschlechterperformanz im entsprechenden Zeitgeist, gekoppelt an andere Bestimmungsmuster wie sexuelle Identität oder kulturelle Herkunft im sozialen Wandel zu verstehen, die die Arbeitmarktchancen aber auch das persönliche Wohlergehen (z.B. verbreitete Magersucht, Einnahme von Anabolika und Bodybuilding, Schönheitsoperationen an Brüsten und Vaginas in »nördlichen« Kulturen, Klitorisbeschnei-
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dungen in »südlichen« Kulturen etc.) beeinflussen können. Doris Weichselbaumer kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass eine maskuline Geschlechterperfomanz die Diskriminierung aufgrund der biologischen Kategorie Frau zwar reduzieren, aber nicht aufheben kann (Weichselbaumer 2004). 2. Der zweite Blockpfeil »Institutionelle Hervorbringungen« thematisiert das kulturelle Kapital nach Bourdieu (Zugang zu Position und Status), es wird als der Sinn für die Gesetzlichkeiten im sozialen System verstanden und bezieht die selbst kulturell geprägten Institutionen in denen dieses Kapital erworben werden kann mit ein (Familie, Bildungseinrichtungen, Kulturinstitutionen, (die Gestaltung) staatlicher Einrichtungen wie Bürokratie, Exekutive oder Justiz, aber auch Integrationsregimes für MigrantInnen, Medien etc.). Verinnerlicht werden Prozesse auf dieser Ebene über Erziehung, die Arbeitsstelle, Gesetze, Bestrafungsmechanismen sowie gesellschaftliche Anerkennungs-Symboliken (wie z.B. die Titelvergabe oder Eheschliessungsmöglichkeiten) und familiäre bzw. andere »private« Zusammenhänge. Zugänge zu kulturellem Kapital sind von personenenimmanenten Merkmalen wie Geschlecht, Herkunft und Sexualität vorgeprägt, kulturelles Kapital ist wie die beschriebenen Körpermorphologie ebenfalls sozialen Zeitgeistigkeiten unterworfen, wie z.B. dem in den letzten Jahrzehnten im Zuge einer neoliberalen Bildungs- und Gesellschaftslogik geprägten Konkurrenzverhalten. 3. Das soziale Kapital aus Bourdieus Konzept findet sich im dritten Blockpfeil »Privat/öffentliche Arbeitsdichotomie« wieder. Das soziale Kapital erfüllt eine Torhüterfunktion und ist durch die Quantität und Qualität sozialer Beziehungen bestimmt, die wiederum durch die beiden ersten Ebenen mitgeprägt werden. (Hier denke ich beispielsweise an das Phänomen der Facebook-Freundschaften.) Aus sozial-psychologischer Perspektive ist z.B. auch die Frage der Gewaltstrukturen im sozialen Nahbereich besonders interessant, ebenso Fragen des Zusammenlebens von (neuen) MigrantInnen und der bereits vorher ansässigen Bevölkerung, aus feministischer-ökonomischer Perspektive steht hier insbesondere die Problemlage der gegenderten Arbeitsbereiche im Fokus, denn hier werden die Entscheidungen betreffend der in der Mainstream Ökonomie unsichtbaren Care Arbeit getroffen (siehe z.B. Folbre 1996). Wer geht wie lange und zu welchen Bedingungen arbeiten und wer verbleibt im »privaten« Bereich um Pflege und Reproduktionsarbeit zu leisten, bzw. wer leistet diese Arbeiten
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auch im öffentlichen Bereich und zu welchen Bedingungen? Diese Entscheidungen werden auf Basis der genannten Exklusionskategorien getroffen und manifestieren sich kombiniert mit den Ergebnissen aus den beiden anderen Ebenen (Pfeilen) in Folge auf den Arbeitsmärkten. 4. Die Wahrnehmung des Zusammenspiels der drei Ebenen (Pfeile) ist für die Analyse des Verhaltens der Individuen auf den Erwerbsarbeitsmärkten und in der Reproduktion aber auch von Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnissen von besonderer Bedeutung, diese Metakomponente soll durch den über die drei Pfeile gespannten »performativen Kreislauf« in der Abbildung angedeutet werden. So entsteht das hierarchische Arbeitsleben (siehe die Rechtecke im Zentrum der Graphik), wo Benachteiligungen von bestimmten Gruppen beobachtet werden können: Erstens in der Humankapitalbildung und zweitens in horizontaler (eingeschränktes Berufswahlverhalten) und vertikaler Berufssegregation (gläserne Decke bzw. eingeschränkte Verfügbarkeit). Das führt zu ungleichen Arbeitszeitbelastungen (insgesamt längeren Wochenstunden auf dem Arbeitsmarkt und zusätzlich in der Reproduktions- und Hausarbeit, als auch im informellen Sozialbereich), qualitativ schlechteren Arbeitsplätzen, weniger interessanten Tätigkeitsfeldern und in Folge zu einem niedrigren sozialen Status, der schließlich mit geringerer Bezahlung, den Pay Gaps, zu Buche schlägt.
Konklusio und Way Out Meines Erachtens beruht die ökonomische Exklusion bestimmter essentialistisch oder sozial kreierter Gruppen weder auf Zufällen noch auf nicht effizient eingesetzten ökonomischen Modellen, sondern auf sozialen Ergebnissen der Verteilung von Macht und Ressourcen. Ich habe versucht zu skizzieren, dass Versuche einer punktuellen Verringerung von Gender Pay Gaps ohne systematische Verankerung in eine kohärente und differenzierte Stategie auf allen drei dargestellten Ebenen entweder verpuffen oder sogar als weiteres Mittel zur Festigung von bestehenden Ungleichheiten und Diskriminierung im Rahmen eines neoliberalen Backlashes genutzt werden könnten. Ein grundlegendes Verständnis der komplexen Beziehungen zwischen Werten/körperlichen, institutionellen und persönlichen Ebenen zum Beispiel im Rahmen des dargestellten performativen Kreislaufs sind essentielle Voraussetzung zur Schaffung von Möglichkeiten für Al-
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ternativen. Ohne klare Begrifflichkeiten und ein disziplinenübergreifendes Verständnis der Zusammenhänge besteht kaum eine Chance, der Internalisierung von Prozessen der ökonomischer Exklusion zu entgehen: Solange das »Teile und Herrsche« aufgrund der Inszenierung von Geschlecht, sozialer und regionaler bzw. globaler Herkunft, Sexualität etc. funktioniert, sind alternative ökonomische Entwürfe in die Sphäre der Utopie verbannt und nur an diesem »Nicht-Ort« wären schließlich ökonomische Modelle ohne Genderanbindung denkbar; Arbeitsbedingungen und globale Modelle ohne Ausbeutung und/oder Langeweile; Finanzmärkte ohne Geld etc.
Anmerkungen 1 | Ich danke Christine Klapeer für die gemeinsamen Diskussionen und die Mitwirkung an der Strukturierung meiner Gedanken! 2 | Die Kategorie ›Gender‹ wird hier immer in Verknüpfung mit anderen Diskriminierungskategorien (u.a. ›race‹, class, sexuality, identity) gedacht werden, um bezüglich ihrer Aussagekraft sinnvoll zu bleiben, denn nicht alle Frauen sind gleichermaßen von Exklusionsprozessen betroffen. 3 | Siehe EK (2009). 4 | Siehe z.B. Luise Otto Peters (1866). 5 | Mittelwert = Durchschnitt aller Einkommen, Medianwert = Einkommen jener Frau, die genau halb so viel/wenig wie alle anderen Frauen verdient. Diese Zahlen gehen aus von Männereinkommen. Aber aus der Perspektive der (Median-)Frau gesehen, würde sie, gemessen an ihrem eigenen Einkommen, brutto fast 70 Prozent mehr und netto mehr als 50 Prozent mehr von ihrem eigenen Einkommen verdienen, wenn sie zum (Median-)Männereinkommen aufschließen würde. 6 | Gary Beckers Humankapitaltheorie (z.B. Becker 1985) beruht auf den Grundannahmen der Chicago School of Home Economics, die in den 1930er Jahren von Hazel Kyrek und Margaret Reid gegründet wurde und von den ›Vätern‹ der Humankapitaltheorie, Jacob Mincer, Theodore Schultz, Solomon Polachek und insbesondere Gary Becker Ende der 1950er Jahre neu hervorgebracht wurde (Katz 1997: 40). 7 | Das Konzept des dualen Arbeitsmarktes beschreibt bspw. einen primären und einen sekundären Arbeitsmarkt. Primärer und sekundärer Arbeitsmarkt stehen kaum in Verbindung, frei werdende Stellen werden großteils mit internen Kräften besetzt. Für Arbeitskräfte aus dem sekundären Arbeitsmarkt sind kaum Einstiegsarbeitsplätze vorhanden, Beschäftigten
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auf dem primären Arbeitsmarkt werden vor einer möglichen Konkurrenz aus dem sekundären Segment geschützt. Charakteristika für den primären Arbeitsmarkt sind sichere Arbeitsplätze, gute Arbeitsbedingungen, hohe Einkommen, geringe Fluktuation etc. – kurz gesagt, die ›good jobs‹. Der sekundäre (externe) Arbeitsmarkt ist im Gegensatz dazu der Arbeitsmarkt der ›bad jobs‹, die durch niedrige Einkommen, instabile Beschäftigung, häufige Arbeitslosigkeit, kaum Aufstiegschancen, niedrige Qualifikationsanforderungen gekennzeichnet sind. Bezogen auf die Erwerbssituation von Frauen (mit Betreuungspflichten) oder MigrantInnen wird argumentiert, dass diese aufgrund von mangelnder Ausbildung, fehlenden sozialen Netzwerken oder fehlender Motivation nur in geringerem Ausmaß auf dem primären Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Im sekundären Segment bestehen kaum enge Betriebsbindungen und der Austausch von Arbeitskräften ist, bedingt durch die geringen Ausbildungserfordernisse, ohne großen Aufwand möglich. 8 | Wenn Insider des primären Arbeitsmarktes Produktionstechnologien bewusst so wählen, dass Outsider mit anderen Produktionseigenschaften (z.B. Präferenz für Teilzeitarbeit im Gegensatz zu durchgehender Vollzeit) benachteiligt werden, kann die Wertigkeit des Humankapitals angebotsseitig mitbestimmt werden. Eine Veränderung der gegenderten Produktionstechnologie, z.B. bezüglich der Arbeitszeiten (statt durchgehenden 8 Stunden Tagen flexible Zeiten und Output-statt Anwesenheitsorientierung, Bevorzugung von Teilzeitarbeit etc.) hängt von gesellschaftspolitischen Präferenzen ab und würde jeweils Gruppen in verschiedenen Lebenszusammenhängen begünstigen. 9 | Ab diesem Tag arbeiten Frauen im Vergleich zu Männern aufgrund von Einkommensunterschieden quasi unentgeltlich weiter, denn Frauen verdienen laut Equal Pay Day Studie der Europäischen Union im Schnitt um ein Viertel weniger als Männer – das macht 96 Arbeitstage mehr, die Frauen ›gratis‹ leisten. 10 | Die Arbeiterkammer und das Wirtschaftsforum legten beide 2007 Studien zu Hierarchien in Institutionen in Österreich vor, mit dem Ergebnis, dass der Frauenanteil in der Geschäftsführung großer Unternehmen in Österreich bei nur 5,0 Prozent liegt, insgesamt bei gut 30 Prozent. Weiters entfallen auf Unternehmen umgerechnet durchschnittlich nur rund 7,8 Prozent weibliche Aufsichtsräte. Abgesehen von der geringen Präsenz weiblicher Manager gilt das GWG auch in dieser Einkommensgruppe: Laut Befragung durch das Wirtschaftsforum der Führungskräfte verdienen Frauen auch hier weniger als ihre Kollegen; bei variablen Gehaltsbestandteilen wie etwa Prämien ist jedoch der Frauenanteil mit zwölf Prozent überdurch-
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schnittlich hoch. Es wird geschlussfolgert, dass mehr und messbare Leistung von Frauen verlangt wird, um in höhere Ebenen aufzusteigen. Im EU Genderbericht von 2008 wird insbesondere kritisiert, dass sich immer weniger Frauen in Österreich – entgegen dem generellen EU-Trend – in Führungsjobs finden. In 17 der 27 EU-Staaten ist der Anteil von Frauen in Spitzenpositionen von 2001 auf 2006 gestiegen, und zwar (für die EU 27) von insgesamt 30,1 auf 32,6 Prozent. In Österreich hingegen sank im gleichen Zeitraum der Anteil um 1,6 von 30,3 auf 28,7 Prozent. Bei diesem Ranking ragten vor allem Italien (von 17,8 auf 32,9 Prozent fast verdoppelt), Großbritannien (von 31,0 auf 34,8 Prozent) und Frankreich (von 35,6 auf 38,5) positiv hervor (Europäische Kommission 2008a). In den letzten Jahren (2007/08) ist der Anteil der Frauen in Führungspositionen/Management in Österreich aber wieder gestiegen und lag im Jahr 2008 bei 32 Prozent (Europäische Kommission 2008, DG EMPL, Datenbank über Frauen und Männer in Entscheidungsprozessen). 11 | »Critical mass is an idea that has moved from sociology to political science and into popular usage over the last 30 years. […] the concept itself is borrowed from nuclear physics, where it refers to the quantity needed to start a chain reaction, an irreversible take-off into a new situation or process. Critical mass is based on the belief that the form of a public body will shape the processes and policies of that organisation. In political science literature the concept of critical mass infers that the election of an adequate number of female politicians will result in governance more responsive to women« (Grey 2001: 3). »According to conventional wisdom, research has shown that it takes a certain minimum representation, for example, 30 %, before the minority, here women, are able to make a substantial difference in politics« (Dahlerup 2006: 511). »Critical mass is only useful if we discard the belief that a single proportion holds the key to all representation needs of women and if we discard notions that numbers alone bring about substantive changes in policy processes and outcomes« (Grey 2006: 492). 12 | Die Trickle Down These besagt, dass Wirtschaftswachstum und der allgemeine Wohlstand der Reichen nach und nach in die unteren Schichten der Gesellschaft durchsickern wird. Im Rahmen der Reagan Ära wurde diese auf Adam Smith zurückgehende Theorie wiederbelebt und verbreitet. Ihr der Realität entsprechender Erklärungsgehalt ist umstritten. 13 | Badgett/Frank 2007. 14 | Hyder 2008.
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Alle Menschen sind gleich. Oder Kollateralschaden 100.000 Menschen verhungern tagtäglich. Von dieser Zahl sprach bereits der letzte UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler. Und diese Zahl steigt. Im Jahr 2009 erklärte die Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO), dass inzwischen jeder sechste Mensch von weniger als 1.900 Kilokalorien am Tag leben muss – das heißt über eine Milliarde Menschen. Das ist nicht nur historischer Höchststand, sondern es sind auch hundert Millionen mehr als noch im Welthungerindex vom Jahr davor. Dabei ist die Lebensmittelproduktion pro Kopf höher als sie jemals war. Einen »geräuschlosen Tsunami«, nannte Josette Sheeran, die Direktorin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen die jüngste Nahrungsmittelkrise – trotz der Hungerrevolten in Haiti, in Ägypten oder dem Streik von Bäckern in Sierra Leone.1 Die Banken in der Finanzkrise von 2008/09 wurden leichter gehört. Dabei wäre die weltweite Beseitigung des Hungers für nur 23 Milliarden Euro im Jahr zu haben – angesichts der nach einem Bericht der EU-Kommission allein in Europa geschnürten Hilfspakete und Bürgschaften für Banken in Höhe von fünf Billionen (mit anderen Worten: 5.000 Milliarden) ein lächerlicher Betrag.2 Zumal, da hiermit verhindert werden könnte, dass über eine Milliarde Menschen nicht satt werden, dass sie sich oft apathisch durch den Tag schleppen müssen, dass ihre Gedanken sich um kaum anderes als Essen drehen können, und dass
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Mütter Steine kochen, um ihre Kinder in der Illusion einschlafen zu lassen, es gäbe etwas zu Essen. So stellt sich mehr denn je die Frage: Was macht Hungernde scheinbar so unbedeutend? Warum bleiben die Interessen dieser Menschen in Zeiten der Global Governance dermaßen dramatisch unberücksichtigt? Das seit dem Ende des Kalten Krieges zum Paradigma gewordene Konzept der Global Governance – letztlich die Vorstellung der ganzen Welt am Runden Tisch – wird diesem Problem nicht gerecht. Aber auch kritische Ansätze verbleiben ungenügend. In beiden Richtungen werden scheinbare Natürlichkeiten nicht dekonstruiert: Zum einen zeigt sich aus Foucault’scher Perspektive, dass die der Global Governance zugrundliegenden Annahmen suggerieren, das zu erreichende Ziel läge darin, der Natürlichkeit von Wirtschaft und Gesellschaft zum optimalen Gedeihen zu verhelfen – auch, wenn eine Milliarde Hungernde den Kollateralschaden bilden. Zum anderen versuche ich zu zeigen, dass auch kritische Theorien, solange sie positivistisch verbleiben, der Komplexität nicht gerecht werden, da sie die Verwobenheit von Subjekten mit Kämpfen um Hegemonie und Emanzipation nicht mitdenken, und damit einen Aspekt wesentlicher Bedeutung für das Phänomen der Persistenz und Akzeptanz (so muss man es wohl nennen) des Hungers übersehen. Der Artikel schließt mit einigen Überlegungen für emanzipatorische Veränderungen.
Global Governance aus Foucault’scher Perspektive Global Governance bedeutet das Zusammenwirken verschiedener Akteure (Regierungen, internationale Finanzorganisationen, Nichtregierungsorganisationen etc.) auf verschiedenen Ebenen (lokal, regional, national etc.) innerhalb eines Netzwerkes aus formellen und informellen Regeln.3 Als ein Konzept, welches nach dem Kalten Krieg stark an Bedeutung gewann, dient es nicht nur der Beschreibung und Analyse komplexer Governance-Strukturen innerhalb einer globalisierten Welt, sondern ist ebenso Teil von Versuchen, diese Welt in eine bessere zu verwandeln. Für einen solchen normativen Ansatz von Global Governance besonders geeignet ist ein Multilevel-Governance-System, welches auf seinen verschiedenen Ebenen in starkem Maße die Zivilgesellschaft mit einbezieht. Doch auf welchen Grundannahmen beruht Global Governance, und welche Machtverhältnisse haben sich darin bereits verfestigt? KritikerInnen weisen darauf hin, dass erst eine ähnliche Auffassung
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davon, was als ›globales Problem‹ betrachtet werden kann, und eine ähnliche, als universal verstandene ›Weltethik‹ Global Governance ermöglichen (vgl. Brand 2005: 171). Eine solche als universal verstandene Weltethik und eine als ebenso universal verstandene Problemdiagnose ist nicht frei von (postkolonialen und anderen) Herrschaftsstrukturen. Zudem vernachlässigt Global Governance als akteurszentrierte Perspektive strukturelle Zwänge, und die Subjektpositionen der Handelnden und damit verbundene Machtungleichheiten werden weitgehend außen vor gelassen. Die Beseitigung von Hunger und Armut wurde im Jahr 2000 zum wichtigsten Millennium-Entwicklungsziel der Vereinten Nationen ernannt – Hunger sollte damit im Zentrum von Global Governance stehen. Dennoch gibt es verhältnismäßig wenig Literatur zu Hunger im Themenbereich Global Governance. Es scheint, als ob Ernährungssicherheit sich automatisch aus der Entwicklungs- oder Handelspolitik ergäbe. In der Literatur gibt es Ausnahmen, wie zum Beispiel ein Essay von Joachim von Braun, Generaldirektor des International Food Policy Research Institutes (IFPRI), und IFPRI’s Senior Researcher Nurul Islam, »Toward a New Global Governance System for Agriculture, Food and Nutrition« (2008). Von Braun und Islam nennen drei sich gegenseitig nicht ausschließende Optionen: Erstens die vorhandenen Organisationen beizubehalten und zu reformieren, insbesondere durch eine Stärkung der UN und der Consultative Group on International Agricultural Research (CGIAR). Zweitens ein innovatives Regierungsnetzwerk zu bilden, sowohl für eine verbesserte Koordination zwischen einzelnen Regierungen als auch zwischen Institutionen innerhalb einer Regierung. Drittens favorisieren sie, den Privatsektor, ›die Zivilgesellschaft‹ und nationale Regierungen für die Bildung neuer oder fundamental restrukturierter internationaler Organisationen und Vereinbarungen zu gewinnen. Hierfür sei womöglich die vorübergehende Einrichtung einer von der UN legitimierten Superstruktur notwendig. In dieser Gedankenstruktur fehlt jede Überlegung darüber, dass von Hunger Betroffene eine eigene Vision von Global Governance oder einer anderen Weltordnung haben könnten. Daher wirft der Global Governance-Ansatz im Allgemeinen und Food Governance im Speziellen viele Fragen auf: Wer wird von den Organisationen der Zivilgesellschaft repräsentiert? Wer ist Teil dieser Zivilgesellschaft? Und: Wer nicht? Diese Frage ist von entscheidender Bedeutung: Der Wirtschaftsphilosoph Wolfgang Kersting diagnostiziert in
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Gesellschaften, die in Bezug auf Menschenrechte sehr empfindlich seien, eine »erstaunliche Diskriminierungsresistenz«, sobald es um die Verteilung von Waren ginge – sei es innerhalb eines Staates oder zwischen Staaten. Um diese Unempfindlichkeit gegenüber Unrecht in Bezug auf den weltweiten Hunger zu verstehen, so meine These, müssen die Subjektivitäten bzw. die Konstruktion und Transformation von Identitäten mit berücksichtigt werden. Von Identitäten spreche ich, um nicht nur auf rassifizierte, sexistische etc. Subjektpositionen zu verweisen, sondern um zu verdeutlichen, dass Subjekte in all ihren Eigenschaften mit der Gesellschaft verwoben sind (ohne hiermit Determinierungen zu implizieren). Im Kontext von Hungertod geht es nicht zuletzt darum, wer und wer nicht über einen Subjektstatus innerhalb der Zivilgesellschaft verfügt. Bei der Frage, warum Gesellschaften bei einem Verhalten, das die Ursache von so viel Leid ist, verharren, gehe ich als Grundannahme von einer ›Banalität des Bösen‹ (Hannah Arendt) aus: Leiden ist oft nicht das Ergebnis einer gezielten Absicht, sondern ergibt sich aus dem, was in einer Gesellschaft als normal betrachtet wird. Der Ökonom John Stuart Mill, seine Lebensgefährtin Harriet Taylor sowie deren Tochter Helen Taylor Mill, alle entschiedene FrauenrechtlerInnen, fragten bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, »gab es denn jemals eine Herrschaft, welche denen, die im Besitz derselben waren, nicht natürlich erschien?« (Mill/Taylor Mill/Taylor 1869: 143f.). Herrschaft erscheint deshalb natürlich, weil von essentiellen Unterschieden der herrschenden und der beherrschten Subjekte ausgegangen wird. Zwar wird Hungernden nicht wie SklavInnen oder zur Zeit der Taylor Mills Frauen juridisch die Gleichberechtigung abgesprochen – doch was nützt ihnen dies, wenn sie dennoch an dieser Form von Herrschaft sterben? Aus historischer Perspektive – was Michel Foucault (1969) ›Archäologie‹, das Graben nach vergangenen Diskursen nannte – wird man schnell fündig. Ob Sklaverei, Frauenunterdrückung oder Kolonialismus: Emanzipationsprozesse deckten jene Ungerechtigkeiten auf, welche damit der Normalität einer Gesellschaft entrissen werden konnten. Erst danach wurde sichtbar, dass people of colour oder Frauen nicht von Natur aus unterlegen sind. Schwierig aber wird es, der eigenen Normalität die Maske abzureißen. Antonio Gramsci verstand Hegemonie nicht zuletzt als aktiven Konsens der Beherrschten, tief verwurzelt in dem, was er »gesunden Menschenverstand« nannte. Christoph Scherrer (2007) unterscheidet ›Foucaultsche Hegemonie‹
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(der Begriff wurde von ihm geprägt) von Gramscianischer Hegemonie, die bestimmten Akteuren zugeordnet werden kann. Er erkennt Foucaultsche Hegemonie dort, wo ihr Ursprung und die damit verbundenen Privilegien kaum zurückverfolgt werden können. Die Entstehung eines hegemonialen Diskurses kann häufig schwer einem einzelnen Teil der Gesellschaft zugeschrieben werden; eine Vielzahl von Interessen wird historisch dabei eine Rolle gespielt haben und wird ihn weiterhin beeinflussen. Der hegemoniale Diskurs enthält einerseits unzählige geschichtliche Spuren und versucht andererseits, sich von einer direkten Einflussnahme zu befreien. Außerdem verhalten sich Individuen nach dem, was in einer Gesellschaft als normal angesehen wird: eine Gouvernementalität, um diesen Ausdruck von Foucault für das Zusammentreffen von Regierung und verinnerlichter Selbstführung zu gebrauchen, welche die Einzelnen bis zu einem gewissen Grad beherrscht, aber nicht identisch mit der Verfolgung ihrer eigenen Interessen ist. Was als wahr wahrgenommen wird, prägt das Handeln der Menschen, das heißt sie reproduzieren in ihrem alltäglichen Tun das, was sie als ›normal‹ ansehen. Der hegemoniale Diskurs charakterisiert sich durch das Ausblenden von Alternativen. Die politische Hauptleistung des Liberalismus besteht nach Foucault darin, jeden Gedanken an eine soziale Kausalität zurückzuweisen (vgl. Lemke 1997: 198ff.). Denn die liberale Wirtschaftswissenschaft basiert auf der Annahme, dass sich die Wirtschaft selbst reguliert, sofern sie nicht durch staatliche Interventionen daran gehindert wird, und dass sie darum von normativer Politik zu trennen sei. Die ›unsichtbare Hand‹, welche alles zum Besten führe, wie es von Adam Smith als erstem ausgeführt wurde, war alles andere als selbstverständlich für seine Zeitgenossen – aber sie wurde es. Damit verdankt die Form der Regierung moderner Gesellschaften Adam Smith mehr als den in einem strengeren Sinne politischen Autoren der Aufklärung wie Locke, Montesquieu oder Rousseau (vgl. Meuret 1994: 14). Denn wenn Regierung nach Foucault immer auf einer umfassenden politischen Rationalität beruht, die ein »diskursives Feld, innerhalb dessen die Ausübung der Macht ›rationalisiert‹ wird« (Lemke 1997: 147) erzeugt, dann lieferte Adam Smith die moderne und bis heute gültige politische Rationalität. Foucault argumentiert, dass das Modell des Marktes zunehmend dazu diente, eine scheinbare Natürlichkeit der sozialen Entwicklungen zu suggerieren; eine Natürlichkeit, die selbst ein gesellschaftliches Produkt darstelle. Die liberale Regierungskunst orientiert sich
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an dem Modell des Marktes als ein sich selbst regulierender Organismus. Aber der Neoliberalismus, sei es in seiner Ausformung als Freiburger Schule oder als Chicagoer Schule, unterscheidet sich von Liberalismus durch die Art der Natürlichkeit, die er dem Markt zuschreibt. Während der Liberalismus reinen Laissez-faire in einem abgegrenzten Markt empfiehlt, zeichnet sich der Neoliberalismus durch eine bewusste Implementierung von Rahmenbedingungen aus, die nicht nur den Markt, sondern alle Bereiche der Gesellschaft umfassen (vgl. Gertenbach 2008: 81). Dies kann mit einem Zitat von Friedrich August von Hayek illustriert werden: »Man könnte das Verhalten des Liberalen gegenüber der Gesellschaft mit dem des Gärtners vergleichen, der eine Pflanze pflegt und der zur Schaffung der für sie günstigen Wachstumsbedingungen möglichst viel über ihren Bau und ihre physiologischen Funktionen wissen muss« (1944: 20). Diese Metapher für den Markt impliziert ein paradoxes Verständnis von einer Natürlichkeit, die nur unter künstlichen Bedingungen gedeihen kann. Es braucht die Wirkung einer geeigneten juridischinstitutionellen Struktur: »Die Kunst der liberalen Regierung besteht darin, an die Stelle einer äußerlichen Begrenzung über das Recht eine interne Regulation zu setzen: die Politische Ökonomie« (Lemke 1997: 173). Dies bedeutete auch, Praktiken nicht länger im Hinblick auf ein moralisches Prinzip als gut oder schlecht zu beurteilen, sondern als wahr oder falsch; es entstand eine »neue Herrschaft der Wahrheit« (Foucault 1979: 37). Ob der Markt Erwartungen erfüllt oder nicht, wurde zum Indikator für die ›Wahrheit‹ der staatlichen Politik (vgl. Gertenbach 2008: 95). Nach dieser Auslegung waren die staatlichen Interventionen, die wir nach der Finanzkrise 2008/09 gesehen haben, keine staatlichen Eingriffe in einen eigenständigen Markt, sondern eine Anpassung an die negativen Folgen, die (laut öffentlichem Diskurs) von unverantwortlichen Außenseitern (vor allem under class people und/oder people of colour und/oder Frauen wurden als diejenigen angesehen, die ihre Subprime-Kredite in den USA nicht bezahlen konnten – kein Wunder, gingen diese Kredite zu schlechten Konditionen ja gerade an sie) oder durch Verantwortungslosigkeit gieriger Banker verursacht wurden. Der Ruf nach dem ›ehrlichen Kaufmann‹ war in dieser Zeit in den Medien sehr verbreitet.4 Es kann daher argumentiert werden, dass Global Governance, kritiklos verwendet, nichts an dieser »nicht-natürlichen Natur« (Lars Gertenbach) des Marktes verändert, sondern nur die optimalen Rah-
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menbedingungen für dessen »kultivierte Natürlichkeit« (L.G.) zu finden versucht. Nach dem liberalen Paradigma geht es nicht um die Vermeidung von Ungerechtigkeit, da die Anwendung des Begriffes ›Gerechtigkeit‹ sinnlos wäre, denn in eine »spontane Ordnung« darf nicht eingegriffen werden (Hayek 1967: 59f.). Global Governance, entgegen dem Image als weltweiter Runder Tisch, entspricht der Fürsorge für eine Pflanze, für die möglichst das Wissen und Zutun aller mobilisiert werden soll. So wie eine Pflanze nicht gezwungen werden kann, ihre Blätter an bestimmten Stellen wachsen zu lassen, so erscheint Gerechtigkeit oder Hungertod als Folge einer Natürlichkeit, die nicht hinterfragt werden kann. Damit – und wie der Diskurs über die unverantwortlichen KreditnehmerInnen und maßlosen ›Finanzhaie‹ zeigt – wird auch deutlich, dass eine bestimmte Subjektivität erforderlich ist, damit die Pflege der Pflanze optimal verläuft. Während Adam Smiths Theorie für die Realität der westlichen Gesellschaften so wichtig wurde, da sein Prinzip die ›Freiheit‹ der Regierten erlaubt, erfordert es zur gleichen Zeit den ›vernünftigen Gebrauch‹ dieser Freiheit. Mit anderen Worten: Der ›rationale‹ Gebrauch von Freiheit ist die Bedingung einer ökonomischen Regierung. Um dies weiter analysieren zu können, möchte ich im Folgenden meine subjektfundierte Hegemonietheorie einführen.
Subjektfundierte Hegemonietheorie Zahlreiche kritische Ansätze berücksichtigen Machtstrukturen, unter den attraktivsten sind (neo-)gramscianische Theorien. Dennoch hat es seit langem Kritiken daran gegeben.5 Die wesentlichsten seien hier genannt: Während das Hegemoniekonzept theoretisch ermöglicht und für sich in Anspruch nimmt, alle Arten von Herrschaft zu umfassen, ist es meistens auf ein kohärentes und monolithisches Machtverständnis reduziert. Obwohl heute die meisten kritischen Ansätze die Bedeutung von Machtverhältnissen wie Sexismus und Rassismus betonen, werden diese gleichzeitig nicht als Geschichte machende Kräfte analysiert. Die Interessen und die Identität von Klassen (und andere Kategorien) werden als essentiell gegeben verstanden, unabhängig von gesellschaftlichen Veränderungen. Im hier gegebenen Kontext ist der letzte Punkt der wesentlichste: In meiner subjektfundierten Hegemonietheorie versuche ich zu zeigen, wie Herrschaftssysteme mit Identitäten verwoben sind, und wie eine Transformation des einen zwingend auch die des anderen
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mit sich bringt. Dies sei hier in aller Kürze skizziert: Basierend auf der Hegemonietheorie Antonio Gramscis lasse ich poststrukturalistische, postkoloniale und postfeministische Theorien einfließen. Sie alle stellen das Subjekt als vollständig und autonom in Frage und verstehen es als unzertrennlich von heterogenen Diskursen, welche ihrerseits von den Kämpfen um Hegemonie (und ebenso Emanzipation) geformt sind. Diese Kämpfe um Hegemonie und Emanzipation sollten weder auf Macht im Staat reduziert noch als ausschließliches Ergebnis ökonomischer Kräfte angesehen werden, sondern als mit allen Privilegien zusammenhängend und in allen Sphären der Gesellschaft stattfindend. Um den Hegemoniebegriff von Gramsci auszubauen, benutze ich unterschiedliche theoretische Elemente, vor allem von Michel Foucault (welcher die Konstruktion von Identitäten in der modernen Epoche bis, so möchte ich sagen, zum heutigen Tag analysiert), Jacques Derrida (dessen Dekonstruktionstheorie die Lösung des Akteur-Struktur-Dilemmas ermöglicht und der beschreibt, wie Identitäten in einem sich unendlich wiederholendem Exklusionsprozess geformt werden), Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (welche die ökonomistischen Überreste in Gramscis Theorie herausschälen und Politik als Wechselwirkung zwischen sich verändernden Subjekten und Strukturen definieren), Stuart Hall (welcher kulturelle Praktiken als alltägliche Kämpfe um zum Beispiel rassistische Hegemonie versteht und auf diese Weise sowohl die Persistenz, die Zählebigkeit als auch die beständige Verschiebung von Hegemonien aufzeigt), und Judith Butler (welche die Unterscheidung in biologisches und soziales Geschlecht als Fortführung der modernen Kultur/Natur-Aufspaltung ablehnt und gleichzeitig die Hartnäckigkeit verkörperter Subjektivität betont). All dies zusammenführend, entwickele ich eine subjektfundierte Hegemonietheorie und zeige, welche Bedeutung Identitäten bei der Transformation der Gesellschaft zukommt. Damit analysiere ich, wie das Streben nach Hegemonie (und Emanzipation) immer eine Verschiebung von Identitäten impliziert. Und Identitäten spielen immer eine Rolle – auch im Kontext von Hunger: So, wie die Wirtschaft und damit letztlich die Gesellschaft als eine künstliche Natürlichkeit konstruiert ist, so auch (ökonomische) Subjekte, differenziert nach Identitäten. Wirtschaftliche Ergebnisse wie die Einkommensverteilung scheinen dann automatische Folge innerer Eigenschaften dieser Subjekte zu sein: Wie fähig sind sie, mit ihrer Freiheit und Gleichheit rational umzugehen? Entspre-
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chend geht es mir im Zusammenhang mit Hunger auch darum, die Konstruktion der Identitäten jener zu durchleuchten, welche an Global Governance-Prozessen teilnehmen – und jener, die nicht teilnehmen. Hierfür blicke ich zurück in die Geschichte. Es besteht eine klare Beziehung zwischen Ökonomie als Wissenschaft und der (Re-) Konstruktion von Identitäten. Foucault argumentiert, dass diese Gesellschaftsform für ihr Funktionieren ein spezifisches Subjekt verlangt: der homo oeconomicus ist ihr Modell. Er zeigt weiter, dass der ökonomische Mensch das Korrelat, also das ergänzende Gegenstück liberaler Regierung und selbst konstruiert ist. Nicht nur der Markt (und am Ende die Gesellschaft als Ganzes) wird deshalb wie eine Art Natürlichkeit behandelt (wie eine Pflanze), sondern auch die Subjekte als notwendige Bestandteile einer solchen Gesellschaft müssen einen (juristischen) Rahmen finden, welcher ihre beste Entwicklung nach den Prinzipien der liberalen Gesellschaft ermöglicht. In meinem Buch »Der homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation« arbeite ich heraus, wie sich diese Identität zwischen verschiedenen Herrschaftsverhältnissen herausgebildet hat – und damit auch ›die Anderen‹. Identitäten wurden als vergeschlechtlicht, rassifiziert und Klassen zugeordnet (re-)produziert, und die ökonomischen Diskriminierungen von Frauen/people of colour/Angehörigen der Unterklasse erschien als normales und unvermeidliches Ergebnis von Effizienzmaximierung und damit der maximalen Wohlfahrt, das heißt als Konsequenz bestimmter Eigenschaften, welche statistisch gehäuft bei Angehörigen dieser Identitäten anzutreffen seien, und welche nicht jenen des homo oeconomicus entsprechen. Selbstverständlich verändern sich Identitäten permanent und immer weiter, und nicht zuletzt als Ergebnisse von Kämpfen um Emanzipation (und Hegemonie). Aufgrund dieser Kämpfe um Emanzipation durften wir uns heute an Kanzlerinnen, schwarze Präsidenten und an schwarze und weibliche oder schwule AußenministerInnen gewöhnen. Das Geschlecht oder die Hautfarbe ist heute kein Hindernisgrund für Karriere, solange jemand reich ist an eben jenen Eigenschaften, welche dem homo oeconomicus zugeschrieben werden. Doch da dieser in Interaktion mit der Konstruktion des weißen, männlichen Bourgeois entstanden ist, bleibt es für Mitglieder dieser Identität leichter, erfolgreich zu sein. Damit spielt der homo oeconomicus heute eine mindestens ebenso entscheidende Rolle für die Art und Weise, in welcher westliche Gesellschaften (und von ihr geprägte
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globale Ansätze) funktionieren: Er dient als Modell für ›Normalität‹. Eigenschaften, welche von den seinen abweichen, werden als minderwertige Abweichung gefasst.
Subjektfundierte Hegemonietheorie in Hinsicht auf Hunger Die Erfindung ›des Hungernden‹ im 19. Jahrhundert Mike Davis zeigt in seinem Buch »Die Geburt der Dritten Welt« (im Original: »Late Victorian Holocausts«, 2001), wie durch das liberale Paradigma einer selbstregulierten Ökonomie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht nur fünfzig Millionen Menschen verhungerten – trotz eines ausreichenden Lebensmittelangebots –, sondern auch, wie die Entfaltung des Marktes die ›Dritte Welt‹ »erfand«. Davis betont, dass die Märkte »immer gemacht werden. Trotz der überall herrschenden Ideologie, dass Märkte immer spontan funktionieren, haben sie in Wirklichkeit unentwirrbare politische Geschichten« (2001: 10; eig. Übersetzung). Diese Millionen Toten sind für ihn Folge dieser »Erzeugung von Märkten«: »Millionen starben nicht außerhalb des modernen Weltsystems, sondern gerade beim Prozess der zwanghaften Einbindung in seine ökonomischen und politischen Strukturen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus. In Wirklichkeit wurden viele, wie wir sehen werden, bei der theologischen Anwendung der heiligen Prinzipien Smiths, Benthams und Mills ermordet« (ebd.: 9).
Davis analysiert auch die Erzeugung unseres heutigen Bildes ›des Hungernden‹. Er illustriert sein Buch mit Fotos dieser stark hungernder Menschen, welche die Erzeugung der ›Dritten Welt‹ markieren. Jede Herrschaftsform muss die Grenzen zwischen herrschenden und beherrschten Identitäten betonen, und die Kolonialreiche benutzten zu diesem Zweck sogar biologische Maßnahmen wie das Verbot ›gemischtrassiger‹ Ehen. Jedoch schon die tägliche Erfahrung und das Verhalten als (um ein extremes Beispiel zu nehmen) ›Herr‹ oder ›Sklave‹ (re-)konstruiert Identitäten. ›Der Hungernde‹ ist eine solche konstruierte Identität, die Wirklichkeit gemacht wurde. Ein Schritt dabei war ›Temples Lohn‹, ein Experiment in den Food for Work-Camps mit dem Ziel herauszufinden, mit wie wenig Essen Menschen überleben können – beziehungsweise nicht überleben
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konnten (vgl. ebd.: 38). Man muss klarstellen, dass Sir Richard Temple, der die koloniale Regierungsgewalt in Bengalen innehatte, kein besonders böser Mensch war. Während einer früheren Hungerwelle 1873-74 ließ er eine halbe Million Tonnen Reis importieren und verhinderte damit ein Massensterben; die offiziellen Statistiken verzeichneten damals lediglich 23 Hungertote. Dies blieb die einzige wirklich erfolgreiche Hilfsaktion der Engländer im 19. Jahrhundert. Temple kam unter starken Druck und seine Karriere war so gut wie ruiniert. Da veränderte er sich. Beim nächsten Mal machte er alles anders. Entsprechend der liberalen Unterscheidung zwischen ›absoluter‹ und ›relativer‹ Armut darf nur jenen in absoluter Armut geholfen werden, um Müßigang jener zu vermeiden, welche sich anders ernähren können (vgl. Hayek 1979: 290ff.). Relative Armut wird als etwas für eine Gesellschaft Wertvolles angesehen, da es zum Arbeiten anreizt. Nahrungsmittel wurden in jener erneuten Hungersnot darum nur in absichtlich weit entfernt gelegenen sogenannten relief-camps gegen harte körperliche Arbeit zur Verfügung gestellt. Zum einen wurde hiermit offensichtlich gerade nicht jenen geholfen, die es nicht mehr schafften, diese Strapazen auf sich zu nehmen. Doch auch ansonsten verschwimmt diese theoretische Unterscheidung in der Praxis, und absolute Armut kann nicht einfach eliminiert werden: Um ›Faule‹ abzuschrecken, war das Essen zu wenig und die Arbeit zu viel. Hierdurch transformierten sich die Identitäten in das, was mit dem herrschenden Bild von herumlungernden Müßiggängern korrespondierte. Als Ergebnis des Temple-Lohnes stieg die monatliche Sterblichkeit derartig an, dass sie einer jährlichen Rate von 94 Prozent entsprach, mit erwachsenen Männern, die weniger als dreißig Kilo wogen (vgl. Davis 2001: 40). Temple selbst konnte nicht mehr glauben, dass diese Wesen selbständige Freibauern gewesen sein sollten; und so reklamierte er, sie seien parasitäre Bettelmönche, welche – wie Davis dieses Zitat sarkastisch kommentiert – letztlich Selbstmord begangen: »Nor will many be inclined to grieve much for the fate which they brought upon themselves, and which terminated lives of idleness and too often of crime« (zit. na. ebd.: 41). Liberalismus erzeugte damit nicht nur zig Millionen Tote; er erzeugte darüber hinaus Opfer, welche es nicht wert waren, dass man sie betrauerte. Davis betont dies mit Blick auf den indischen Vizekönig Lord Lytton, welcher maßgeblich hinter dieser Politik stand: »Lytton, to be fair, probably believed that he was in any case balancing budgets against lives that were already doomed or devalued of any civilized human quality« (ebd.: 32).
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… und die Auswirkungen heute Diese Identitätskonstruktion ›Hungernde‹ trägt, während sie paternalistisches Mitleid erzeugt, unbewusst dazu bei, dass diese Subjekte nicht mehr als Menschen im Sinne von Gleichen erkannt werden – als gleiche und gleichberechtigte. Dies stellt einen wesentlichen Aspekt für die Persistenz des weltweiten Hungers dar. Oder wer könnte sich eine globale Politik vorstellen, welche täglich den Tod von hunderttausend Menschen aus dem Globalen Norden (und Westen) verursacht, und über Jahrzehnte hinweg weiterverfolgt wird? Mit allenfalls halbherzigen Versuchen, diesen ›Kollateralschaden‹ zu beheben? Es ist bekannt, dass unterernährte Kinder weder ihre Intelligenz noch ihre anderen Fähigkeiten voll entwickeln können. Auf diese Art und Weise werden Generationen von Menschen konstruiert, welche von Anfang an zu Armut verdammt scheinen. Sie sind ›unproduktiv‹, ›ineffizient‹ und unterliegen in der weltweiten Konkurrenz um Ressourcen – scheinbar natürlich und auf der angeblichen Ausgangslage gleicher Chancen für alle. Die Identitätskontruktion ist nicht der einzige, aber ein schwerwiegender Grund für die Vernachlässigung der Interessen von Hungernden in den Diskussionen um Global Governance. Es liegt nahe, an diesen Gedanken anschließend mit Gayatri C. Spivak zu argumentieren, wonach Hungernde Subalterne sind, da sie an dem gesellschaftlichen Zustand in keiner Weise partizipieren: Spivak nennt dies »The subaltern cannot speak«. Sie können nicht sprechen, oder vielmehr: Sie werden nicht gehört, da erstens ihre Zustimmung für die Stabilität der hegemonialen Verhältnisse keine Rolle spielt; aus diesem Grund erhalten sie auch keinerlei materiellen Zugeständnisse. Zweitens sind sie selbst häufig einfach nicht in der Lage, die Normalität zu hinterfragen, da auch sie vom hegemonialen Diskurs durchdrungen sind. Und drittens liegt das, was sie zu sagen hätten, um sich aus ihrer subalternen Position zu befreien beziehungsweise diese aufzulösen und mit ihr die gesellschaftliche Struktur, die sie bewirkt, außerhalb der hegemonialen Wirklichkeit und ist mit ihr nicht vereinbar. Denn: Was sie zu sagen hätten, beinhaltet eine Dimension jenseits des Bestehenden und gesellschaftlich Gedachten. Subjekte und Bewegungen, die die hegemonialen Verhältnisse verändern wollen, haben also mit dem Widerspruch zu kämpfen, nur dann gehört zu werden, wenn die Art der Äußerung zumindest an das hegemoniale Denken anschlussfähig ist, und zwar sowohl hinsichtlich der Form als auch des Inhalts. Liegt es vielleicht hieran,
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dass die transnationale Vernetzung von Bauernorganisationen Via Campesina Hunger als Gewalt gegen Frauen bezeichnet – da Gewalt gegen Frauen aufgrund recht erfolgreicher Kämpfe um Emanzipation eher gehört wird als das Leid, das durch Hunger und den Mangel an sauberem Trinkwasser entsteht? Und liegt dieser vergleichsweise größere Erfolg feministischer Kämpfe daran, dass weiße Frauen nicht ›doppelt im Schatten‹ (Spivak) von Patriarchat und (Post-)Kolonialismus stehen, sondern zum Teil von den weltweiten hegemonialen Verhältnissen profitieren? Ähnlich haben postkoloniale Theoretikerinnen wie Chandra Mohanty oder Naila Kabeer darauf aufmerksam gemacht, wie innerhalb des entwicklungspolitischen Paradigmas Forderungen von Frauen aus dem Globalen Süden nicht nur erst dann gehört wurden, wenn sie von Frauen des Globalen Nordens aufgegriffen wurden, sondern dass beispielsweise die Inhalte von Konzepten wie Empowerment oder Self-Reliance dabei völlig verändert wurden.
Fazit: Scheinbare Natürlichkeiten aufdecken, Solidarität leben Global Governance, wenn es unkritisch verwendet wird, ist in Gefahr, nichts anderes zu bedeuten als die besten Rahmenbedingungen für die ›künstliche Natürlichkeit‹ des Market zu schaffen und nicht für ein Konzept zu stehen, welches Ungerechtigkeiten beseitigen könnte und sollte. Die Anwendung des Terminus ›Gerechtigkeit‹, um dieses Statement von Hayek zu wiederholen, ist sinnlos als Anspruch an eine solche ›natürliche‹ Ordnung. Was eine Perspektive, welche die vorangegangenen Aspekte mit berücksichtigt, von Ansätzen des Mainstreams unterscheidet in Hinsicht auf die Fragen, die gestellt und die Antworten, die gefunden werden, ist, dass eine solche Perspektive genau das herausfordert, was normalerweise im Konzept von Global Governance unhinterfragt bleibt: erstens die angebliche Naturhaftigkeit einer Ökonomie, welche in sich selbst ein künstliches Konstrukt darstellt und von Machtverhältnissen durchtränkt ist, sowie zweitens das angebliche Selbstverschulden scheinbar natürlicherweise unfähiger Wirtschaftssubjekte. Eine angemessene Berücksichtigung der Interessen von Armen und Marginalisierten aus der Perspektive gesellschaftlicher Solidarität bedarf zwingend eines Ansatzes globaler Kooperation, der die demokratischen Möglichkeiten voll ausschöpft und zu erweitern sucht. Auf allen Ebenen müssten politische Räume eröffnet werden, welche
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es (potenziell) Hungernden ermöglicht, für sich selbst zu sprechen – und gehört zu werden. Wie dies konkret aussehen könnte, kann ohne sie selbst nicht formuliert werden. Hierfür müssen Prozesse des Zuhörens gefunden warden, welche das ›Verlernen von Privilegien‹ (Spivak) bedeuten. Hierfür muss ernst genommen werden, was eine Aktivistin der Coalition of Immokalee Workers, Silvia Perez, benennt: »Seeing us as human beings will be the first step to changing things« (zit. na. Patel 2010: 123). Judith Butler benutzt den Ausdruck Prekarität, um aufzuzeigen, dass es Leben gibt, welches gesellschaftlich konstruiert ist als nicht wertvoll, als nicht schützenswert, »ja nicht einmal als betrauernswert, wenn es verloren wird. Das nicht betrauerbare Leben ist das Leben, das nie als Leben angesehen wurde, und ist somit auch das unlebbare Leben« (Butler 2009: 436). Den Hunger in dieser Welt zu überwinden bedeutet auch, Privilegien zu verlernen und dies als Transformation von (noch hegemonialen und hegemonisierten) Identitäten zu begreifen. In diesem Sinne fragt Judith Butler: »Wie denken wir einen Kampf, in dem Subjekte durch die politischen Ziele des Kampfes und durch ihre Zusammenarbeit verändert werden? […] Und wie denken wir diese Transformation selbst als Ziel der Bewegung selbst?« (ebd.). Raj Patel warnt in seinem Bestseller »Stuffed and Starved«: »›normal‹ can often be a thin veil that blinds us to poverty, racism and sexism« (Patel 2007: 255). Es ist die scheinbare Natürlichkeit, die das Böse zum Normalen, und damit zum Banalen macht. Deshalb braucht eine weltweite solidarische Gesellschaft mehr als nur ›Brot für die Welt‹ oder erhöhte staatliche Entwicklungshilfe. Es geht um nicht weniger, als die Welt des Normalen mitsamt unseren Identitäten darin zu verändern.
Anmerkungen 1 | Vgl. http://nation.ittefaq.com/issues/2008/04/24/news0050.htm. 2 | Vgl. http://wirtschaft.t-online.de/finanzkrise-banken-koennten-euro paeische-steuerzahler-zwei-billionen-euro-kosten/id_19200384/index. 3 | Als grundlegendste Literatur zu Global Governance seien hier genannt: Commission on Global Governance (1995); Rosenau/Held (2002); World Commission on the Social Dimension of Globalization (2004). 4 | www.stern.de/wir tschaf t/unternehmen/maerkte/:Boni-Banker-DieGier/706408.html;
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ww w.netpilot 24.de/news/20090407/alice-schwar zer-maenner-sindschuld-an finanzkrise; www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,619758,00.html; www.marco-schreuder.at/2008/10/ist-die-finanzkrise-typisch-mnnlich.html. 5 | Vgl. hierzu ausführlich Habermann 2008: 48ff.
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I MAGES SANS P APIERS . Z UR D ARSTELLUNG VON E XKLUSIONSMOMENTEN IN C OMIC -V ISUALISIERUNGEN DES A LLTAGSLEBENS EINES JUGENDLICHEN S ANS -P APIERS Barbara Eder »Das fundamentale Kategorienpaar der abendländischen Politik ist nicht jene Freund/Feind-Unterscheidung, sondern diejenige von nacktem Leben/ politischer Existenz, zoe/bíos, Ausschluss/Einschluss.« Giorgio Agamben (2002)
Die sozialwissenschaftliche Debatte um den Sachverhalt gesellschaftlicher Exklusion ist von einem zentralen Paradoxon durchsetzt: Da niemand außerhalb von Gesellschaft lebt, müssen Ausschlüsse folglich innerhalb dieser Gesellschaft stattfinden. Widersprüche durchziehen ebenso die Debatten um Migration: Unter Bedingungen einer neoliberalen Fetischisierung des Weltmarktes sind dem Güter- und Warenverkehr keinerlei Grenzen gesetzt, während MigrantInnen der legale Aufenthalt bereits an den Grenzen der ›Festung Europas‹ verweigert oder dieser infolge von Visa-Überschreitungen im jeweiligen Land illegalisiert1 wird. Das Recht zu bleiben wird zusehends zu einer exklusiven Institution für national definierte StaatsbürgerInnen und die Zunahme an Personen, die infolge des Fehlens einer StaatsbürgerInnenschaft zu ›polisfremden‹ ArbeitssklavInnen ohne jegliche Rechte und soziale Sicherheiten degradiert werden, ist ein sichtbares Symptom der Krise des nationalen Sozialstaates unter neoliberalen Rahmenbedingungen. Aufgrund des implizit widersprüchlichen Charakters sowie der Diversität in der Verwendung des sozialwissenschaftlichen Begriffes der Exklusion möchte ich im folgenden Text auf dessen unterschiedliche Verwendungsweisen Bezug nehmen, bevor ich auf die Spezifika des Exklusionscharakters des französischen Einwanderungsregimes sowie der Bedeutung desselben für illegalisiert lebende MigrantInnen zu sprechen komme. Anschließend erfolgt eine detaillierte Analyse der durch Comicbilder dargestellten und sich in spezifischer Form auf mikrosoziologischer Ebene manifestierenden Folgen struktureller Ausschlüsse im Alltagsleben eines französischen Sans-Papiers-Jugendlichen südamerikanischer Herkunft, der während eines Spazierganges durch die Straßen von Paris sein bisheriges Leben in zwei unterschiedlichen Ländern in Bildern bilanziert.
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Inklusion – E xklusion. Zum aktuellen Stand einer soziologischen Debatte Aufgrund des virulenten Mangels in der spezifischen Ausrichtung auf das Objekt des Ausschlusses sowie die ausschließenden Faktoren wurde der Begriff der sozialen Exklusion in den letzten Jahren verstärkt der Kritik aus neoliberalismuskritischer, migrationsspezifischer und (post-)kolonialer Perspektive unterzogen (Castel 2005; Moulier-Boutang 2000; Minh-Ha 1995). Als ein Term innerhalb eines binären Begriffspaares, dessen Gegenpol die Inklusion darstellt, vermag die Rede von Exklusionen die Konnektivität zwischen (post-)kolonialer Peripherie und imperialem Zentrum sowie den gesellschaftlichen Rändern und ihrer Mitte genauso wenig darzustellen wie den wechselweisen Bezug von Exklusionen auf Inklusionen: Ohne Inklusion wäre Exklusion nicht denkbar, beide Begriffe verweisen aufeinander und bedingen einander wechselseitig. Das exkludierende Faktum fehlender ökonomischer Ressourcen, Kapitalsorten2 und Zugangsmöglichkeiten sozial vulnerabler Bevölkerungsgruppen kann durch den Term der Exklusion, der ausschließlich einen Mangel beschreibt, im Hinblick auf deren subjektive Selbstbeschreibungen ebenso wenig distinkt gefasst werden: Die Inklusionen von Subjekten auf lebensweltlicher Ebene können nur bedingt sichtbar gemacht werden, die trotz strukturellem Ausschluss fortbestehen können. Infolge einer eindimensionalen Fokussierung auf soziale Ausschlüsse im mikrosoziologischen Bereich verliert der Exklusionsbegriff zudem den Beigeschmack von ›selbstverschuldetem‹ Elend nicht, den dieser infolge der Hegemonie neoliberaler Deutungsmuster erhält. Exklusionsprozesse erscheinen in diesem Fall als Resultat einer ›notwendigen‹ gesellschaftlichen Ausschließung von nicht-normenkonformen, ökonomisch armen, kranken oder nicht national definierbaren Gesellschaftsmitgliedern im Sinne eines ›freiwilligen‹ Selbstauschlusses.3 Wesentliche Impulse erhielt der Exklusionsansatz in Berücksichtigung der interaktiven, handlungsbezogenen Komponente zur Herstellung von In- und Exklusionen seitens der interpretativen Sozialforschung, deren VertreterInnen das Fehlen des prozessualen Moments von gesellschaftlichen Ausschlüssen moniert: Man wird nicht als ›Outsider‹ geboren. Exklusion ist folglich ein Prozess der sozialen Schließung (Parkin 1974), der unterschiedliche zeitliche Abläufe, Dynamiken sowie End- und Ausgangspunkte hat. Parkin bemerkte, dass
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die Ausschließung von einem gesellschaftlichem Teilbereich oftmals Exklusionen aus anderen Teilbereichen zur Folge habe; dies verunmöglicht es jedoch nicht, dass auch ›Ausgeschlossene‹ – in Vorwegnahme der soziologischen Differenzierung zwischen emischer und etischer Perspektive – sich subjektiv inkludiert fühlen können: Individuen innerhalb einer sozialen Klasse können wiederum Klassen für sich bilden genauso wie die ›Opfer‹ gesellschaftlicher Ausschließungen auf mikrosoziologischer und alltagsweltlicher Ebene wiederum Ein- und Ausschlüsse herstellen, deren Handlungsmacht (agency) im Verhältnis zur strukturellen Disposition zwar beschränkt, als GegenMacht4 aber keineswegs wirkungslos ist. Im Kontext von Exklusion und Marginalisierung ist nicht nur nach der prozessualen Dynamik von Exklusionsprozessen, sondern in den letzten Jahren verstärkt auch nach dem Ort der ›Ausgeschlossenen‹ gefragt worden. Darauf, dass Prekarität nicht überall5 ist, hat der Bourdieu-Schüler Loïc Wacquant (2007) in seiner vergleichenden Studie über städtische ›Paria‹-Räume in den USA und in Frankreich herausgearbeitet. Dieser konstatiert eine starke Differenz im Vergleich beider sozial entwerteter Wohngegenden: Im Gegensatz zu den Ghettos in Chicago, in denen nahezu ausschließlich BewohnerInnen schwarzer Hautfarbe leben, handelt es sich bei den französischen Banlieues um keinen ›ethnisch‹ markierten Wohnort. In letzterem Fall teilen die räumlich zentrierten BewohnerInnen nicht die maghrebinische und/oder migrantische Herkunft, sondern unabhängig von der Kategorie der ›Ethnizität‹ die sozialen Stigmata eines niedrigen Einkommens infolge partieller oder vollständiger Exklusion vom Arbeitsmarkt. Nicht primär Ethnifizierungen, sondern vor allem Klassenlagen sind es, die Wacquant zufolge die Organisation des urbanen Raumes der Banlieues bestimmen. Das Primat der Klassenlage in Bezug auf die Besiedelung dieses segregierten Wohnraumes ist jedoch auch auf den Umstand zurückzuführen, dass illegalisierte MigrantInnen auf Un-Orte abseits der Metropolen zentriert werden und infolgedessen aus dem Stadtbild verschwinden: Obgleich ›Asylzentren‹ Orte auf nationalstaatlichem Territorium sind, antizipieren diese die Ortlosigkeit ihrer temporären BewohnerInnen: Als sozial segregierende Räume des Übergangs sollen darin Migrationsbewegungen zum Stillstand gebracht und kontrollierbar gemacht werden. Aufgrund seiner paradoxen Konstruktion ermöglicht der Ort des »Lagers«6 (Agamben 2002) jedoch kein Bleiberecht: Irreguläre MigrantInnen bleiben nur
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solange in »Lagern« bis diese abgeschoben oder legalisiert werden. Indem in Flüchtlingslagern stets die Möglichkeit einer Abschiebung ungeachtet von ihrem tatsächlichen Vollzug in Aussicht gestellt wird, wird durch die Drohung der »deportability« zudem eine höhere Konformität der InsassInnen erzwungen (vgl. Willenbücher 2007: 114).
(K)ein Recht auf Zugehörigkeit? – E xklusion, Migration und Gegen-Macht im Kontext des französischen Einwanderungsregimes Der Befund, dass es neben Personen mit geringem oder keinem Einkommen vor allem illegalisierte ZuwanderInnen sind, die von räumlichen und rechtlichen Exklusionen innerhalb der urbanen Metropolen Europas betroffen sind, wirft die Frage auf, warum diese in deutschsprachigen Studien zur sozialen Exklusion dennoch nur als Marginalie auftauchen. Während klassische Texte der soziologischen Theorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die sich im Alltagsleben von MigrantInnen manifestierende Prekarität auf Orientierungskrisen der kulturellen Zugehörigkeit zurückführten und infolgedessen in Abweichung von der Norm des Nationalen verstandene und indirekt normaffirmierende Typisierungen ›des Fremden‹7 hervorbrachten, favorisieren jüngere VertreterInnen der britischen Cultural Studies im Gegensatz dazu Modelle zur Beschreibung von migrantischen Identitäten, die mehrfache kulturelle Herkünfte implizit aufwerten und diese dadurch vom sozialen Stigma der ›Fremdheit‹ befreien. Der Hype um Hybridität, der die Identitätspolitiken der »New Ethnicities« (Hall 1988) bestimmt, steht jedoch in starkem Kontrast zu empirischen Befunden zur Lebenssituation von irregulären MigrantInnen, die nicht der privilegierten Klasse hochmobiler Eliten angehören. Zu diesen zählen miserable und gesundheitsgefährende Wohnbedingungen, Bildungsbarrieren im Bereich von Universität und Schule, mangelnde Gesundheitsversorgung infolge des Fehlens einer Krankenversicherung, rassifizierende Zuschreibungen im Zuge von sozialen Interaktions- und Wahrnehmungsprozessen durch die Mehrheitsgesellschaft, das Leben in Angst vor einer möglichen Abschiebung und der damit einhergehende eingeschränkte Handlungsspielraum sowie die Verweigerung einer offiziellen Arbeitserlaubnis und den sich daraus ergebenden prekarisierten Tätigkeiten in den Schattenzonen nationaler Arbeitsmärkte8 mitsamt den Unsicherheiten in der Auszahlung des Lohnes und dem fehlen-
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den Muss-Anspruch auf Sozialleistungen (vgl. Leuenberger 2007: 61f.). Politikwissenschaftlich ausgerichtete Analysen weisen zudem verstärkt auf strukturell exkludierende rechtliche Regulative hin: Die ›Naturalisierung‹ des vormaligen MigrantInnenstatus durch das Erlangen der StaatsbürgerInnenschaft ist – wenn überhaupt – nur in the long run und unter bestimmten Voraussetzung möglich. Die Utopie einer ›Weltlosigkeit‹, die den homo migrans zum Ausgangspunkt des Nachdenkens über Migration machte, steht in starkem Kontrast zu den bestehenden Einwanderungsbestimmungen an den Grenzen der ›Festung Europa‹. Im Zusammenhang mit der für die folgende Bildanalyse relevanten französischen Einwanderungspolitik der letzten 30 Jahre fällt auf, dass in keinem anderen europäischen Staat im selben Zeitraum ein derart rasanter Wechsel innerhalb der gesetzlichen Rahmenbedingungen für Zuwanderung stattgefunden hat.9 Sowohl für neue ZuwanderInnen als auch für jene, die sich bereits in Frankreich befanden, blieb dies nicht ohne Folgen. Zum einen wurden infolge laufender Gesetzesänderungen zeitlich beschränkte Aufenthaltstitel nicht verlängert, andere eingeführt oder Möglichkeiten zur nachträglichen Regularisierung10 beschränkt. Zum anderen fand eine beispiellose Verschiebung im Verständnis davon statt, was als illegal gilt und was noch innerhalb der Grenzen der juridisch definierten Legalität liegt. Aufgrund festgelegter Quoten gelten seit dem Jahr 2003 in Frankreich lediglich Formen des Familienzuzugs, das politische Asyl sowie das asile territorial11 als zureichende Gründe für die Inanspruchnahme von Aufenthaltstiteln. Ersterer Umstand ist insbesondere für Menschen, die in queeren oder institutionell wenig abgesicherten Familienverbindungen leben genauso wie für autonom emigrierende célibataires weiblichen oder männlichen Geschlechts diskrimierend. Während bis zu Beginn der 1970er MigrantInnen als ›billige‹ Arbeitskräfte infolge nationalen Arbeitskräftemangels angeworben wurden, wich das nach dem 2. Weltkrieg etablierte Modell der ›Gastarbajteri‹12-Rekrutierung der Verschärfung bisheriger Zuzugsbestimmungen: In Frankreich wurden die Grenzkontrollen 1974 erstmals verstärkt, erste Programme zur ›Rückkehrhilfe‹ von ›Gastarbajteri‹, mit deren Wunsch nach dauerhafter Sesshaftigkeit man nicht gerechnet hatte, wurden 1977 beschlossen und die Visa-Pflicht von Angehörigen aus ehemaligen französischen Kolonien wurde 1986 eingeführt.13 Frankreich weitete seit Mitte der 1970er die Zonen der
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Illegalität durch strikte Auflagen zur Reglementierung der Migration aus. Mit Blick auf die nationalstaatliche Profitabilität der gezielten Illegalisierung von MigrantInnen – diese werden trotz fehlender Arbeitserlaubnis von den nationalen Arbeitsmärkten sofort absorbiert – bemerkt die PolitikwissenschafterIn Katharina Ludwig: »Die Illegalität entsteht mitten in der demokratischen Ordnung und erfüllt ihre Zwecke. Irreguläre MigrantInnen sind die stille Antwort auf Probleme und Widersprüche, die in regulären europäischen Gesellschaftsmodellen ungeklärt sind: Durch irreguläre Arbeitsbedingungen und Niedriglohn sichern sie für arbeitsintensive Produktionssektoren den Wirtschaftsstandort und im Haushalts- und Pflegebereich den sozialen Zusammenhalt. Die Europäische Union und Frankreich als ihr Mitgliedsstaat grenzen sich gegen ihre Illegalität ab, sind aber zugleich funktional abhängig von ihr. Je tiefer diese Abhängigkeit geht, desto größer werden die diskursiven Widersprüche« (Ludwig 2008: 117).
Im Wissen um den Widerspruch, dass ihr Beitrag für das Funktionieren der französischen Gesellschaft essentiell ist, infolge der rechtlichen Illegalisierung aber unsichtbar gemacht wird, manifestierten sich bereits zu Beginn der 1970er Jahre vereinzelte Proteste von ›papierlosen‹ ImmigrantInnen, die zur Mitte der 1990er Jahre das organisatorische Niveau einer sozialen Bewegung erreichten. Trotz ihrer Herkunft aus unterschiedlichen Ländern und unterschiedlichen Gründen, die zur Illegalisierung führten, besetzten die Sans-Papiers mit dem Ziel, ihren Aufenthaltsstatus kollektiv zu regularisieren, am 18. März 1996 die Pariser Kirche Saint-Ambroise. Am vierten Tag der Besetzung wurde die Kirche auf Geheiß des zuständigen Pfarrers polizeilich ›geräumt‹. Die AktivistInnen wurden in eine Vollzugsanstalt für Abzuschiebende in einem Vorort von Paris gebracht, wobei die meisten unter ihnen binnen weniger Stunden wieder entlassen wurden. Ab diesem Zeitpunkt wurde der öffentliche Protest ohne fixen Ort fortgesetzt. Während der kurzfristigen Besetzung der Turnhalle Japy, der Kirche Saint-Hippolyte und den darauf folgenden Wanderungen im gesamten Stadtgebiet von Paris bildeten sich in Versailles, Toulouse, Lille, Lyon und Saint-Denis ebenso ›papierlose‹ Gegenöffentlichkeiten. Solidaritäten erhielt die Bewegung, die man durch die sofortige Abschiebung von 52 FranzösInnen aus Mali und die fehlende Regularisierung von weiteren 215 von circa 315 AktivistInnen zu kalmieren suchte, von unterschiedlichen Strömungen
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innerhalb der Gewerkschaften sowie von linken Organisationen der Zivilgesellschaft. Obgleich der durch Abschiebung, Regularisierung oder Verhaftung mit institutionellen Mitteln schnell beendeten ersten Protestwelle der Sans-Papiers, dabei handelte es sich nicht um singuläres Ereignis: Im März 1998 besetzten einige verbliebene AktivistInnen aus dem Jahr 1996 gemeinsam mit neuen Mitgliedern unter anderem die Botschaft des Vatikans und traten mit dem späteren Effekt der Regularisierung von 23 FranzösInnen afrikanischer Herkunft in den Hungerstreik. Trotz dieses Zugeständnisses sprach sich der Ministerpräsident Lionel Jospin gegen weitere Regularisierungen aus, die dieser als »Ermutigung für die illegale Einwanderung« (Perotti 1999: 138) betrachtete. 1998 setzten sich die Proteste unter Einsatz moderaterer Mittel bis zum Jahr 2006 fort, welche mit Gewaltaktionen und Räumungen seitens der Polizei quittiert wurden.14 Wenngleich das französische Verständnis von citoyenneté15 sich auf eine Vorstellung von nationaler Zugehörigkeit stützt, welche Akte politischen Handelns in den Katalog staatsbürgerInnenschaftlicher ›Tugenden‹ einreiht, wurden die Proteste der Sans-Papiers nicht als zureichende Manifestation eines eingeforderten Rechts auf Zugehörigkeit betrachtet. Ihren diskursiven Strategien zufolge verstehen die Sans-Papiers-AktivistInnen ihr Tun dennoch im Sinne staatsbürgerInnenschaftlichen Handelns und betonen in Selbstaussagen stets den Beitrag, den sie für Arbeit, Bildung, Sozialleben und für das die koloniale Vergangenheit gerne verdrängende Gedächtnis der ›Grande Nation‹ leisten (vgl. Ludwig 2008: 88-110). Vor dem Hintergrund des Wissens um die Formen der Selbstbeschreibungen der ersten Generation von Sans-Papiers wende ich mich nun der Analyse neuerer, nicht-diskursiver Repräsentationen zu, die die gegenwärtigen AktivistInnen nutzen, um auf ihre Lage aufmerksam zu machen: Im Gefolge von biografischen Interviews mit Sans-Papiers unterschiedlicher Herkunftsländer und Lebensalter haben französische ZeichnerInnen Comics angefertigt, die Michael Le Galli gemeinsam mit Alfred und David Chauvel im Buch Paroles sans Papiers versammelt haben. Die Besonderheit der Situation des im folgenden analysierten Comics über den in Brasilien geborenen fünfzehnjährigen Joao besteht darin, dass nicht er, sondern seine Eltern die Entscheidung zur Emigration getroffen haben. Infolge der unverschuldeten Lebenssituation treten im Alltagsleben Joaos nicht nur Konflikte auf, die aus der Situation rechtlicher Exklusion resul-
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tieren, sondern auch solche, die auf intergenerationelle Konflikte mit seinen Eltern16 zurückzuführen sind: Diese haben für ihn entschieden ein Leben im Versteck (clandestinité) dem Risiko eines potentiell abgelehnten Asylantrags vorzuziehen. Wie mensch ein solches Leben bestreitet, ist Thema der folgenden Betrachtungen.
»Une Jeunesse Clandestine« – Die biografische Bilderzählung und die mikrosoziologische Dimension sozialer E xklusion Es ist ein in grellen Farben aus der urbanen Umgebung hervorstechendes Werbeplakat, das im Zentrum des dritten Bildes des von Alfred gezeichneten Comics »Une Jeunesse Clandestine« steht. Der Titel der Erzählung bezieht sich auf das ›versteckte‹ Leben des illegalisierten Protagonisten, der in dem aus der Totalen zu sehenden Bildausschnitt den BetrachterInnen mit dem Rücken zugewandt bleibt. Die durch den Comic generierte prekäre Sichtbarkeit17 ermöglicht es Joao, seine Lebengeschichte zu erzählen. Nachdem sich dieser in den ersten beiden Bildern des Comics vorgestellt hat, wird in Bild 3 der Ort eingeführt, von dem aus er spricht: Es ist eine Straße von Paris, von der aus Joao seine Geschichte zu erzählen beginnt. Im Bild ist eine Hausmauer und ein Gehsteig mit zwei rasch vorüber ziehenden PassantInnen zu sehen, deren Bewegung im Gegensatz zur statischen Position Joaos steht. Bei dem von ihm betrachteten Bild handelt es sich um eine Werbung für das ›Urlaubsland‹ Brasilien, dessen aus der Vogelperspektive kartografierte, rot ausgefüllte Fläche mit den durch Punkten hervorgehobenen Metropolen sich neben den weißen Silhouetten eines Flugzeuges und einer Kirche befindet. Im Vordergrund des Werbeplakats sind die touristischen Klischees von Sonne, Meer und Palmenstrand zu sehen: Der Bildvordergrund wird durch den gebräunten Körper einer spärlich bekleideten Frau auf einer Sonnenliege ausgefüllt, die zugleich die idealtypische AdressatIn dieser Werbung darstellt: Die TouristIn leistet sich – wie im linken Bildrand des Plakats angekündigt – den Luxus eines Urlaubs-Aufenthalts in Brasilien »pour 99€«. Joaos im Kommentartext im oberen Bildrand durch Textergänzungen artikulierte Erinnerung an sein Herkunftsland steht in starkem Kontrast zur im Plakat gezeigten touristischen Perspektive: Dieser sagt, dass es in Brasilien nicht so sei wie hier, denn dort arbeite man für 100 Euro ein ganzes Monat. Dieser Umstand erklärt
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zugleich den Grund seiner Flucht: »Je suis venu en France à cause de mes parents qui avaient envie de changer de vie, parce qu’au brésil, c’est pas comme ici«18 (Alfred 2007: 31). In diesem Bild wird der Gegensatz zwischen den Ausschweifungen westlicher WohlstandstouristInnen mit Joaos Flucht vor ökonomischer Armut und Perspektivenlosigkeit im Herkunftsland konstrastiert. Aus seinem Blickwinkel betrachtet, handelt es sich bei dem touristischen Bild im Bild um eine vollständig verzerrte, mythisierende Darstellung der Lebensbedingungen in Brasilien, welche an potentielle französische TouristInnen gerichtet ist. Auf der nächsten Seite erläutert Joao die Umstände seiner Flucht. Sein Leben im Herkunftsland Brasilien sei aufgrund einer fehlenden ökonomischen Überlebensmöglichkeit von zahlreichen »Unmöglichkeiten«19 bestimmt gewesen. Insbesondere sein Recht auf (Aus-) Bildung wurde dadurch zu einem unsicheren: In Brasilien, so berichtet er, sei der Schulbesuch nur von kurzer Dauer und ein Studium zu teuer. Joaos Bruder, seine Eltern und er seien deshalb seiner Schwester nach Frankreich gefolgt, die dort bereits seit zwei Jahren lebt. Die gescheiterten Fluchtversuche von FreundInnen der Familie bleiben in Joaos Erzählung nicht unerwähnt: Neben dem Bild eines durch gewaltsame Krafteinwirkung zerknüllten Papierflugzeuges erläutert dieser, dass nähere Bekannte bereits beim Versuch, die Grenze zu überschreiten, aufgegriffen und zurückgeschickt wurden. Das mit der gescheiterten Migrationsbewegung konnotierte Vehikel der Flucht wird als fragiles Papierflugzeug imaginiert, das sich in Stabili-
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tät und Bauart deutlich vom in Bild 1 gezeigten Flugzeug der französischen UrlauberInnen unterscheidet.
Joao, der in einem weiteren Bild betonen wird, dass er den fälschlichen Annahmen vieler FranzösInnen diametral entgegengesetzt nicht nach Frankreich gekommen sei, »um auf der Straße rumzuhängen«,20 hat trotz seines prekarisierten Aufenthalts ein fixes Ziel: Er möchte bald zur Schule gehen und würde gerne Architekt werden.21 Seine Vorstellungen von seiner beruflichen Zukunft stehen jedoch in Kontrast zur Bildbotschaft, die auf die beschränkten Möglichkeiten des Schulbesuchs für Sans-Papiers-Jugendliche in Frankreich hinweist: In dem in zwei Teile gespaltenen Bild ist auf der linken Seite ein Schulheft mit liniertem rotem Rand zu sehen, während die rechte Bildhälfte den architektonischen Grundriss eines Wohnhauses mit Garten beinhaltet. Am Übergang zwischen beiden Bildern befin-
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det sich ein ›Rinnstein‹,22 der nicht nur die beiden Bilder, sondern auch den Protagonisten, der sich am Übergang zwischen diesen befindet, in zwei Hälften teilt: An der Stelle des Risses ist die geteilte Silhouette Joaos im Laufschritt zu sehen, dessen Übergang von der Schule zur Universität mit formalen Mitteln problematisiert wird: Im Gegensatz zum Besuch von Grundschule und Gymnasium, der in Frankreich und in einigen Kantonen der Schweiz auch ohne legalisierten Aufenthaltsstatus stattfinden kann, bleibt Sans-PapiersJugendlichen eine Lehre genauso wie eine höhere Ausbildung infolge ihres irregulären Aufenthaltsstatus verwehrt (vgl. Mück 2007: 81-94). Die einzigen Arbeitsmöglichkeiten, die sich ihnen später bieten, sind zumeist die Grauzonen des Schwarzmarktes. Die potentielle Exklusion vom Recht auf Bildung wird im Bild durch Farbgebung und Form angedeutet. Voraussetzung für die notwendige Inklusion, die mit der bildlichen Darstellung Abwesenheit andeutenden schwarzen Schattens des Protagonisten kontrastiert, wäre die voraussetzungslose Schaffung von Zugangsmöglichkeit von Sans-Papiers zum Bildungssystem. Ein weiterer Schritt beliefe sich auf den Abbau jener trotz möglicher Inklusion weiterhin bestehenden Barrieren im französischen Bildungssystem: Ungeachtet seiner mit Migrationserfahrung gepaarten Klassenlage wäre es Joao, der Sohn eines Maurers und einer Putzfrau ist,23 erst unter diesen Bedingungen möglich, sein berufliches Ziel zu verwirklichen.24 Joaos Spaziergang, der vor einem Tourismus-Plakat von Brasilien im Pariser Stadtgebiet begann, endet vor dem Eingang der Ecole Nationale D’Architecture, Der exkludierende Charakter dieser Institution wird durch die französische Fahne am Dach und die Beifügung des Wortes ›national‹ auf der Messingtafel vor dem Eingang hervorgehoben. Im nächsten Bild ist eine Detailzeichnung von Joaos zur Faust geballten Hand zu sehen, die einen Papierflieger fest umklammert: »Ich verstehe nicht, warum sie Angst haben« (Alfred 2007: 35) – der Kommentartext im oberen Bildrand erläutert Joaos das Bild begleitenden Gedanken. Dem Papierflieger in seiner Faust, der im Verlauf der Erzählung als zentrales Symbol etabliert wurde, kommen in diesem Bild mehrfache Bedeutungen zu: Zum einen ruft dieser bei den BetrachterInnen Erinnerungen an Joaos Darstellung seiner Flucht auf (ebd.: 32), zum anderen verweist dieser auf die Prekarität seines HierSeins, da das in Bild 2 gezeigte zerknitterte Flugzeug auch für die gescheiterten Migrationsprojekte von Joaos FreundInnen steht.
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Dass der Papierflieger sich diesmal in Joaos Händen befindet, suggeriert einerseits das Vorhandensein eines selbstbestimmten Bewusstseins darüber Migrant zu sein: Das Symbol, das an seine Flucht erinnert, hält Joao ›fest umklammert‹; zum anderen steht das mit dem Thema der Migration verbundene Papierflugzeug im Zusammenhang mit den restlichen Bildsymbolen für den Ausblick auf eine kommende Migration, die diesmal keine territoriale ist: Der von Joao angestrebte Eintritt in die betrachtete Grande Ecole kommt im Hinblick auf die dafür notwendige Überschreitung einer gesellschaftlichen Barriere dem Aufwand gleich, der zur Überquerung nationaler Grenzen führte. Jaos zweite Migration wird eine Migration im Hinblick auf seine Klassenlage sein: Diese wird einen ebenso hohen Preis haben wie das einstige Flüchten mit einem selbstgebauten Flugzeug aus Papier, das im Comic als Metapher für die Lebensgefährlichkeit der Migration eingesetzt wurde.
Ausblick Obgleich es eine am Einzelfall ausgerichtete Darstellung ist, durch die im Comic die soziale Lage eines Sans-Papier-Jugendlichen artikuliert wird, gelingt es mithilfe des Mediums Comic dennoch, auf alltagsweltliche Probleme, die aus der Irregularisierung des Aufenthalts resultieren, mit kollektiver Empathie zu reagieren: Indem Joaos Situation den BetrachterInnen durch Bilder nahe gebracht wird, übernehmen diese die Wahrnehmung aus der Innenperspektive des Erzählers und werden dadurch nicht bloß zu voyeuristischen BeobachterInnen des Geschehens. Seitens der BetrachterInnen können die gezeichneten Bilder Identifikationen auslösen, die mit einer Sensibilisierung für einen
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folgenreichen Ausschluss inmitten von Gesellschaft einhergehen. Es sind jedoch nicht die Paragrafen des Gesetzes, die im Comic in den Blick genommen werden, sondern vielmehr die sich im Lebensalltag manifestierenden Folgen der Prekarisierung des Bleiberechts, welche illegalisierten MigrantInnen einer möglichen Zukunft im Einwanderungsland beraubt. Nicht zuletzt kann mithilfe von Comic-Bildern deutlich gemacht werden, dass rechtliche Illegalisierungen infolge bestehender Einwanderungsbestimmungen mit gravierenden sozialen Folgen verbunden sind. Die damit einhergehende basale Verletzung von Menschenrechten25 hat ihr Korrelat stets auch im Alltäglichen. Den Images sans Papiers müssen somit nicht nur von der Mehrheitsbevölkerung unterstützte Paroles pour Papiers folgen, sondern auch Forderungen nach einem noch ausständigen Menschenrecht: Dem Recht auf soziale Inklusion. Die Legalisierung eines prekarisierten Aufenthaltsstatus ist dahingehend nur der erste Schritt.
Anmerkungen 1 | Im folgenden Text verwende ich den Begriff der irregulären, undokumentierten oder der illegalisierten Immigration im Gegensatz zur ›immigration clandestine‹, die die Konnotation rechtlicher Devianz mit sich führt. Das Wort ›illegalisiert‹ drückt stattdessen die Temporalität eines rechtlich hergestellten Status aus, der keineswegs statisch und damit unveränderbar ist. 2 | Die Anfänge des soziologischen Diskurses der Exklusion sind untrennbar mit Pierre Bourdieus Studien zur sozialen Selektion an französischen Universitäten, zum Erziehungssystem, zum ›guten‹ Geschmack und zu den Produktionsbedingungen im literarischen Feld verbunden (Bourdieu 1993; Bourdieu 1992; Bourdieu/Passeron 1971). Ohne den Exklusionsbegriff explizit zu verwenden, erklärt Bourdieu die Marginalisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch einen Mangel an Kapitalsorten, deren Verfügbarkeit Voraussetzung für die Partizipation an bestimmten gesellschaftlichen Feldern ist. Zwar sind materielles, soziales, kulturelles und symbolisches Kapital erwerbbar, nichtsdestotrotz bilden soziale Herkunft und milieuspezifisches Erbe die entscheidenden Dispositionen für das (Nicht-)Verfügen über feldspezifische Kapitalsorten (vgl. Bourdieu 1983). 3 | In Bude/Lantermanns (2006: 233-252) Studie »Soziale Exklusion und Exklusionsempfinden« wird die im symbolischen Interaktionsmus genauso wie in der Biografieforschung verstärkt berücksichtigte Verflechtung von
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individuellem Handeln und gesellschaftlicher Struktur zugunsten der Annahme einer ›Selbstverschuldung‹ von Exklusion erklärt: Die Ausschließung vom pursuit of happiness ist nach Auskunft der AutorInnen auf das Fehlen eines innerpsychisch verankerten ›Protektivfaktors‹ namens ›Kohärenzsinn‹ zurückzuführen, der es den Individuen ermögliche, einen übergreifenden Sinn in ihrem Leben zu erkennen. Wo etwa Robert Castel (2008: 59f.) das Entstehen des Ressentiments auf die wachsenden Konkurrenzsituationen am Arbeitsmarkt unter ähnlich Qualifizierten zurückführt, isolieren Bude/ Lantermann gesellschaftliche Ausschlüsse weitgehend von Prozess und sozialer Situation. Diese unmittelbar in die Konzeption des Forschungsdesigns eingeflossene Annahme hat insbesondere Heinz Bude dazu veranlasst durch Begriffsprägungen wie »die Überflüssigen« (Bude/Willisch 2008) mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Die Existenz sogennanter ›Nutzloser‹ (Bude) betrachtet dieser nicht das Symptom einer Ungleichverteilung, sondern als notwendiges Reservoir für das Funktionieren des bestehenden Arbeitsregimes. Die utilitaristisch ausgerichtete Rede von den ›Nutzlosen‹ ist auch als semantisches Bild einer Sicht auf Gesellschaft zu betrachten, die scheinbar zurecht all jene ausschließt, die dem Diktat der Produktivitätslogik nicht subsummierbar sind. 4 | Ein exemplarisches Beispiel der Etablierung von Gegen-Macht stellen die Kämpfe der kollektiv organisierten Sans-Papiers dar, auf die ich im Verlauf dieses Textes noch genauer eingehen werde. 5 | Wacquant grenzt sich diesbezüglich von Pierre Bourdieu ab, der in seinem anlässlich der 1997 stattfindenden »Recontres européennes contre la précarité« verfasstem Text mit dem Titel Prekarität ist überall (Bourdieu 1998) Prekarität als Kategorie modelliert, die sich transversal zur Klassenlage verhalte. 6 | Giorgio Agamben (2002) bezeichnet räumliche Institutionen zur Abschottung von Flüchtlingen in bewusster Evokation der NS-Vergangenheit als »Lager«. Der Raum des »Lagers« öffnet sich, wenn der juridische Ausnahmezustand zur Regel wird: Es entsteht das »nackte Leben«, das den Statuten des römischen Rechts zur Folge zwar »getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf« (Agamben 2002: 18, Hervorh. im Original). Da der Flüchtling nicht durch Geborensein und Abstammung definiert werden kann, bildet diese/r jenes tötbare Außen des modernen Nationalstaates, dessen politische Grundlage biopolitisch definiert ist. 7 | Dazu exemplarisch Robert E. Parks (2002 [1928]) Idealtypiken des »Randseiters« und des »marginal man«. 8 | Obgleich der weitgehend schrankenlosen Durchsetzung des Handelsund Güterverkehrs eines globalisierten Weltmarktes funktionieren nationa-
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le Arbeitsmärkte auch im Fall einer Arbeitserlaubnis nicht nach Prämissen der Internationalität. Ein mikrosziologisches Beispiel dafür ist etwa der Umstand, dass selbst für einen Bürojob gute Kenntnisse der Handelssprache Englisch nicht ausreichen; stattdessen wird die Amts- und ›Kultur‹-Sprache des jeweiligen Landes ebenfalls vorausgesetzt. 9 | Eine detaillierte Auflistung der Gesetzeserlässe sowie der Rundbriefe (ordonnances) zu den französischen Einwanderungsbestimmungen seit 1970 befindet sich in Ludwig 2008: 132-134. 10 | Mit Regularisierung (franz. régularisation) ist die in Frankreich seit 1972 bestehende Möglichkeit zur nachträglichen Ausstellung von Aufenthaltsgenehmigungen für irreguläre MigrantInnen gemeint. Da dafür bestimmte Voraussetzungen wie etwa ein bestehender Arbeitsvertrag gelten, ist die Erfüllung der Vorbedingungen für MigrantInnen, die infolge des Fehlens einer Arbeitsgenehmigung am Schwarzmarkt beschäftigt sind, nahezu unmöglich. 11 | Das asile territorial wird vom französischen Innenminister vergeben, beinhaltet ein Aufenthaltsrecht von 3 Monaten bis zu 10 Jahren und kann eine Arbeitsgenehmigung beinhalten. Dieses wurde zugunsten von MigrantInnen wie etwa den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Ex-Jugoslawien eingeführt, die der Staat nicht unmittelbar als politische Flüchtlinge anerkennen wollte (vgl. Legoux 1999: 77). 12 | Ich verwende an dieser Stelle die Bezeichnung ›Gastarbajteri‹ im Sinne der Selbstbezeichnung osteuropäischer ArbeitsmigrantInnen der 1960er und 1970er, um die diskriminierende Konnotation einer nur auf Zeit geduldeten, ausbeutbaren Arbeitskraft nicht zu reproduzieren. In Französischen lautet die gängige Bezeichnung travailleurs immigrés, die ähnliche semantische Spielräume nach sich zieht wie das deutsche Wort ›GastarbeiterInnen‹. 13 | Vor 1986 waren Bewohner_innen Frankreichs, die aus ehemaligen französischen Kolonien wie dem Senegal, Mauretanien, Gabun, der Elfenbeinkünste, Marokko und Algerien kamen, für längere Aufenthalte von der Visa-Pflicht befreit (vgl. Diop 1997: 123). 14 | Zur detaillierten chronologischen Auflistung der Etappen der SansPapiers-Proteste Lindemann 2001: 161-170. 15 | Zum Verständnis von StaatsbürgerInnenschaft nach der französischen Verfassung von 1794 exemplarisch Bauböck 1994: 65f. 16 | Besonders deutlich kommt diese konfliktuale Lage in folgendem Zitat Joaos zum Ausdruck: »Manchmal bin ich genervt und mein Vater sagt dann, dass ich still sein soll, weil wir (im Sinne einer Allianz von Joaos Eltern, Anm. B.E.) kein Französisch können. Ich kann mein Leben wegen dieser Sa-
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che mit meinen Eltern nicht so leben wie ich es möchte und das ist sehr hart« (Alfred 2007: 34, Übers. B.E.). 17 | An dieser Stelle spreche ich von prekärer Sichtbarkeit, da Sichtbarkeit im Fall von illegalisierten MigrantInnnen mit dem Risiko einer Verhaftung einhergehen kann. Die partielle Unsichtbarkeit von/für Migrant_innen beschreibt Madjiguène Cissé (2000: 205f.), politische Aktivistin und Gründerin der französischen Sans Papiers, aus diesem Grund als Möglichkeit eines Zugewinns an existentieller Sicherheit. 18 | Übersetzung: »Ich bin nach Frankreich gekommen, weil meine Eltern ihr Leben verändern wollten. In Brasilien ist nichts wie hier. Dort arbeitet man ein Monat lang für 100 Euro« (Alfred 2007: 31, Übers. B.E.). 19 | Originalzitat: »[…] Parce qu’au Brésil, il y a des choses que c’est impossible de faire« (Alfred 2007: 32, Übers. B.E.). 20 | Originalzitat: »Je pense, que les gens ont peur parce qu’ils pensent qu’on vient ici pour trainer dans la rue« (Alfred 2007: 32). 21 | Originalzitat: »Moi, je vais à l`école. J’ai envie d’être architecte« (Alfred 2007: 33). 22 | Als ›Rinnstein‹ bezeichnet man die Lücke zwischen zwei Bildern im Comic, die entweder eine thematische Unterbrechung oder aber das Zeitvergehen zwischen der Abfolge der Bilder anzeigt. Die LeserIn muss in den leeren Raum zwischen den Einzelbildern ihre/seine Phantasie und Erfahrung einbringen, um induktiv die Bedeutung der Comicsequenz erschließen zu können (vgl. McCloud 2001 [1994]: 76f.). Der Induktionsschluss ermöglicht die gedankliche Verbindung zwischen zwei Panels, die im Kopf der BetrachterInnen zu einer fortgesetzten Handlung verschmelzen. Im vorliegenden Fall wird der Rinnstein verwendet, um eine Zäsur im Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Statuspassage anzuzeigen. 23 | Originalzitat: »Ma mère, elle fait des ménages, et mon père il est macon« (Alfred 2007: 32). 24 | Zur klassenspezifischen Selektion durch Zugangsbedingungen zu den Grandes Ecoles des französischen Bildungssystems exemplarisch Bourdieu 1992. 25 | Darauf, dass Teile der Allgemeinen Menschenrechte mit den zum Zweck der Resouveränisierung des Nationalen bestehenden Einwanderungsbestimmungen konfligieren, hat Saskia Sassen mehrfach hingewiesen (vgl. Sassen 1995: 60f.). So besagt etwa der Artikel 24 der »Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen«, dass ArbeitsnehmerInnen und ihren Familien alle BürgerInnenrechte, der gleiche Zugang zur Sozialversicherung sowie adäquate Gesundheitsversorgung zu gewährleisten ist (vgl. Ludwig 2008:
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69). Abgesehen davon, dass diese Konvention von keinem westlichen Zielland unterzeichnet wurde, ist dort ebenso wenig vom Recht auf Schulbesuch und Bildungszugang die Rede.
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K EIN F RIEDEN IN TSCHE TSCHENIEN Siegfried Stupnig Die Ethnie der TschetschenInnen bildet seit dem Jahr 2003 die in Europa bei weitem größte Gruppe, welche um Asyl im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ansucht. In diesem Beitrag soll ein kurzer Überblick über die Situation in Tschetschenien, vor allem aber auch über das Befinden der TschetschenInnen in Österreich mit besonderem Blick auf Kärnten, gegeben werden. Dass die TschetschenInnen in der Russischen Föderation die Rolle eines Sündenbocks innehaben und verschiedene Feindbildinszenierungen von dort importiert wurden, ist ein weiterer Teil dieses Aufsatzes. Eine kurze Beschreibung von tschetschenischen Eigenheiten, der Mentalität
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der TschetschenInnen, soll helfen zu verstehen, warum dieses Volk, dessen Gruß »Sei frei und lebe in Frieden« bedeutet, oftmals auf Ablehnung stößt.
Kein Frieden in Tschetschenien Die Zerstörung von Städten und Dörfern, das in Schutt-und-AscheLegen von weiten Teilen Tschetscheniens, der Krieg der verbrannten Erde, den die russische Armee über einen längeren Zeitraum geführt hatte, gehören der Vergangenheit an. Dennoch ist die Nordkaukasusrepublik vom Frieden weit entfernt. Angst vor der Willkür der pro-russischen Milizen beherrscht den Alltag vieler TschetschenInnen. Die russische Armee hat sich zwar noch nicht aus dem Land zurückgezogen, die »Tschetschenisierung« des Konfliktes ist dennoch weitgehend abgeschlossen, d.h. die Kampfhandlungen werden größerenteils zwischen rivalisierenden Tschetschenen ausgetragen. Die frühere tschetschenische Republik Itchkeria existiert nur noch in den Exilstaaten. Deren wichtigster Vertreter, Achmed Sakajew, hat sich von den in der Heimat kämpfenden Rebellen für ein »Emirat Kaukasus« längst losgesagt. Dokka Umarov ist der selbsternannte Emir dieses Emirates. Wie viele Kämpfer zur Zeit in den Bergen sind, weiß niemand genau. Russland behauptet, es handle sich um wenige hundert »Wahhabiten«, die noch nicht die Waffen niedergelegt hätten. Tatsächlich gibt es nach wie vor regen Zulauf zu den Aufständischen, da viele TschetschenInnen sich der Willkür der Kadyrow-Milizen nicht unterordnen oder weil sie Rache für getötete bzw. spurlos verschwundene Verwandte nehmen wollen. Amnesty International wirft in einem aktuellen Bericht von 2009 den russischen Behörden mangelnden Willen vor, gegen die schweren Menschenrechtsverletzungen, die in Tschetschenien an der Tagesordnung sind, vorzugehen. Tatsächlich dürften auch heute noch zahlreiche inoffizielle Folterzentren in der tschetschenischen Republik existieren, in denen Menschen barbarisch gequält werden (vgl. Maaß 2009). Barbara Gladysch (persönliche Mitteilung) berichtet, dass sich viele TschetschenInnen mittlerweile mit Ramsan Kadyrow arrangiert haben, wohl weil sie müde vom Krieg und der Ansicht sind, dass Kadyrow die Republik immerhin aus den Trümmern erhoben und wieder aufbauen gelassen hat. Der Ruf nach einem starken Mann, der für Recht und Ordnung sorgt, ist auch in Teilen der tschetschenischen Bevölkerung zu spüren. Barbara Gladysch, die von 1996 bis 2009
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22mal in Tschetschenien war, sieht einen großen Werteverfall in der tschetschenischen Gesellschaft. Die früher als stolz und widerständig beschriebenen TschetschenInnen sind, zumindest in Grosny, ihrer Meinung nach zu willfährigen AnhängerInnen ihres machthungrigen Präsidenten geworden. Eine Einschätzung, die auch die norwegische Journalistin Åsne Seierstad (2009) teilt, die ebenfalls mehrmals im Nordkaukasus recherchiert hat. Dabei muss jedenfalls beachtet werden, dass sich der überwiegende Teil der tschetschenischen Intelligenzija ebenso wie eine hohe Anzahl von Anhängern der Unabhängigkeitsbewegung außerhalb Tschetscheniens aufhalten. In der Europäischen Union dürften sich schätzungsweise 150.000 TschetschenInnen befinden, mindestens 23.000 davon sind in Österreich. Besonders die AnhängerInnen eines unabhängigen Tschetscheniens sind fest davon überzeugt, historisch im Recht zu sein. Gerade auch in diesen Familien hat der Krieg entsetzliche Verluste mit sich gebracht, ohne dass diese Menschen jemals ihre Würde verloren hätten. Ich habe in den letzten Jahren hunderte TschetschenInnen kennen gelernt, die mich neben vielen anderen Dingen vor allem auch Zivilcourage gelehrt haben. Die »widerständigen« TschetschenInnen haben auch in Österreich als gleichsam rechtlose AsylwerberInnen und später als Konventionsflüchtlinge nicht die von ihnen oft erwartete oder gar verlangte Rolle des Bittstellers/der Bittstellerin eingenommen, sondern sie haben sich genau über ihre Rechte informiert und diese dann mit »tschetschenischem Stolz« eingefordert. Auch das mag ein wenig dazu beigetragen haben, dass sich manche PolitikerInnen die TschetschenInnen als Feindbild auserkoren haben. Viele der alles andere als homogenen Gruppe der tschetschenischen Flüchtlinge leben nach einem bestimmten Ehrenkodex, welcher auch in der tschetschenischen Bezeichnung »Jach«, wohl aber auch im Sittengesetz »Adat« der tschetschenischen Berge seinen Niederschlag findet. Darin ist mündlich (für die tschetschenische Jugend in den Exilländern existieren im Internet auch zahlreiche schriftliche Versionen) von besonderen Normen und Sitten die Rede. Dazu zählen etwa der besondere Respekt im Umgang mit älteren Menschen, die Ehrung von Frauen und die Hilfsbereitschaft gegenüber in Not geratenen Personen. Selbstverständlich sind damit nicht nur Mitglieder der eigenen Ethnie gemeint, sondern in jedem Fall auch Fremde. Jach ist die beste Charakterisierung eines Tschetschenen, wird den tschetschenischen Kindern von Geburt an beigebracht und meint auch Be-
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griffe wie Tapferkeit, Pflicht, Hingabe, Spiritualität und vieles andere mehr (vgl. Jaschurkaew 2008). Dagegen sind die TschetschenInnen auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation einem stereotypen Feindbilddenken ausgesetzt, das von JournalistInnen immer wieder neu belebt wird. So wird etwa der jüngst aus dem Gefängnis entlassene Mörder und Vergewaltiger eines tschetschenischen Mädchens, Jurij Budanow, immer noch als »Held Russlands« bezeichnet. TschetschenInnen werden pauschal dämonisiert und als Terroristen bezeichnet. Der aktuelle Memorial Bericht von Svetlana Gannuschkina widmet dem »Feindbild Tschetschenen« ein ausführliches Kapitel.
Zur »freiwilligen Rückkehr« von Tschetschenen In seiner Standard Kolumne vom 23. Juli 2009 huldigte Paul Lendvai völlig zu Recht den mutigen MenschenrechtlerInnen, die sich gegen die Unterdrückung der TschetschenInnen und anderer Nationalitäten durch Russland einsetzen. Er weist nochmals auf die Mordserie hin, der kritische Tschetschenienberichterstatter von Anna Politkovskaja bis Natalia Estemirova zum Opfer gefallen sind. Letztere wurde von Tschetscheniens Präsident Ramsan Kadyrow persönlich beleidigt und bedroht. Kadyrow ist trotz seiner Machtfülle in Tschetschenien nicht mehr als Putins Statthalter in Grosny: Wenn der russische Ministerpräsident es will, wird Kadyrow wohl seinen Posten räumen müssen, auf welche Weise auch immer. Das Büro der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in der tschetschenischen Hauptstadt wurde im Sommer 2009 geschlossen, weil das Sicherheitsrisiko für die MitarbeiterInnen nicht mehr tragbar war. Damit haben tschetschenische BürgerInnen eine äußerst wichtige Anlaufstelle verloren, in der sie auf ihre Leiden aufmerksam machen konnten – auch wenn die meisten aus Angst längst schweigen und Übergriffe der pro-russischen Milizen aus Sorge über noch mehr Gewalt nicht mehr anzusprechen wagen. Zeugnis darüber gibt auch der aktuelle – über die Maßen erschütternde – Bericht von Memorial (an dem Natalja Estemirova noch mitgearbeitet hat): »Auch wagen es immer weniger Menschen, sich an uns oder die Rechtsschutzorgane zu wenden. Immer mehr ziehen es die Opfer vor, über die erfahrene Gewalt zu schweigen, fürchten sie doch Verfolgungen von Seiten der Machthaber« (Gannuschkina 2009: 4). Im Memorial Bericht sind Schilderungen über grausamste Folterungen an tschetschenischen Menschen, die sich in Gefängnis-
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sen der Russischen Föderation befinden, niedergeschrieben. TschetschenInnen werden systematisch gefoltert – oft auch mit Todesfolge. Tschetschenische Menschen werden aufgrund falscher Strafprozesse oft zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt, wo sie dann den barbarischen Folterungen der Gefängniswärter, aber auch der Mitgefangenen (die oftmals ehemalige russische Soldaten sind, die in Tschetschenien gekämpft haben) ausgesetzt sind. Zur »freiwilligen Rückkehr« von tschetschenischen Menschen aus den Exilländern (resultierend wohl auch aus Mangel an richtigen Informationen seitens der RückkehrberaterInnen): Memorial berichtet beispielsweise über die Rückkehr des Tschetschenen Zubajr Zubajrajew, der in Österreich gelebt hatte und so naiv war zu glauben, dass der Krieg in seiner Heimat beendet sei. Der tschetschenische Familienvater wurde bald nach seiner Rückkehr verhaftet und ist seitdem in verschiedenen Gefängnissen entsetzlichen Foltertortouren ausgesetzt. Der vorher gesunde und kräftige Mann kann sich längst aus eigener Kraft nicht mehr fortbewegen (Nägel wurden ihm in die Zehen geschlagen und Schrauben ins Kniegelenk). An den zahlreichen Wunden, die man dem Tschetschenen im Gefängnis zugefügt hat, hat ein Fäulnisprozess eingesetzt. Diese barbarische Folter währt nun schon zweieinhalb Jahre. Wenn es nicht gelingt, den »freiwillig« aus Österreich nach Tschetschenien zurückgekehrten Flüchtling aus dem Gefängnis zu befreien, wird er dort – wie viele andere TschetschenInnen auch – wohl zu Tode gefoltert. Dass eine freiwillige Rückkehr von TschetschenInnen in manchen Fällen durchaus Sinn machen kann, soll an dieser Stelle keinesfalls unerwähnt bleiben. TschetschenInnen, die weder im ersten noch im zweiten Tschetschenienkrieg politisch oder als KämpferInnen aktiv waren bzw. die Unabhängigkeitsbewegung nicht unterstützt haben, könnte man nach sorgfältiger und individueller Entscheidungsfindung bei einer Rückkehr in die Heimat unterstützen. Hierbei wären beispielsweise vor Ort Erkundigungen einzuholen – indem Verwandte vor Ort befragt werden, ob das Regime in Grosny besonderes »Interesse« an den Betroffenen erkennen lasse. Auf keinen Fall dürfen frühere MenschenrechtsaktivistInnen bzw. AktivistInnen gegen den Krieg zur Rückkehr bewogen werden. Diese stehen ebenso im Visier von Kadyrows Gefolgsleuten wie ehemalige Kämpfer. Der oben erwähnte Zubajr Zubajrajew war in Tschetschenien ein Aktivist gegen den Krieg gewesen. Im Sommer 2009 sind neben Frau Estemirova noch weitere tschetschenische MenschenrechtsaktivistInnen getötet
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worden. Vieles deutet darauf hin, dass der tschetschenische Präsident Ramsan Kadyrow hinter diesen Morden stecken könnte.
Die Situation der TschetschenInnen in Österreich (Kärnten) Seit der Ermordung des Tschetschenen Umar Israilov in Wien hat sich die Situation der in Österreich lebenden TschetschenInnen drastisch verändert. Umar Israilov, ein früherer Kämpfer der Unabhängigkeitsbewegung, ist einem der »Amnestieaufrufe« des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow gefolgt und hatte sich für kurze Zeit den pro-russischen Milizen angeschlossen. Israilov dürfte deshalb aus Tschetschenien geflohen sein, weil ihn die Kadyrowzy dazu zwingen wollten, in seinem eigenen Heimatdorf eine »Säuberungsaktion« durchzuführen, um etwaige Widerstandskämpfer auszuforschen. Nach seiner Flucht aus seiner Heimat hatte er beim österreichischen Verfassungsschutz mehrmals um Hilfe angesucht, weil er sein Leben in Gefahr sah. Diese Hilfe wurde ihm nicht gewährt (vgl. Müller 2009). Dass der Verfassungsschutz in seiner Sache untätig blieb, hat dem österreichischen Innenministerium ebenso Kritik eingebracht, wie die von dem Grünen Politiker Peter Pilz vorgelegten Unterlagen, wonach es enge Kontakte zwischen dem Verfassungsschutz und russischen Geheimdiensten gäbe. »Ein FSB-Offizier soll demnach österreichische Beamte für den Umgang mit TschetschenInnen geschult haben« (Müller 2009: 364). Ob Mitarbeiter des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB die geeigneten Informanten sind, um über tschetschenische Flüchtlinge Auskünfte zu erteilen, darf zumindest in Frage gestellt werden. Immerhin gibt es reichliche Indizienbeweise dafür, dass zumindest der zweite Tschetschenienkrieg aufgrund von perfiden Aktionen von Mitarbeitern des FSB vorbereitet wurde (vgl. Hassel 2003). Der Kärntner Schriftsteller Josef Winkler hat während der Bachmann Lesungen 2009 in Klagenfurt im Zusammenhang mit der Geldverschwendung von Kärntner Politikern und großzügigen Honoraren, die dabei ausgezahlt wurden, von »moralischer Verwahrlosung« gesprochen. Diese Rede von Winkler hat in den Medien und in der Bevölkerung viel Aufmerksamkeit erfahren. Von völliger moralischer Verwahrlosung zahlreicher politischer VertreterInnen darf angesichts der hemmungslosen Sündenbockstrategie gesprochen werden. Ausgehend von Kärnten wurden in den letzten Jahrzehnten immer wieder Gruppen von AusländerInnen und AsylwerberInnen
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als Feindbilder missbraucht. In den letzten Jahren sind die TschetschenInnen in den Fokus der ausländerfeindlichen Parolen geraten. Im Nationalratswahlkampf 2006 tönte etwa Peter Westenthaler (damals Spitzenkandidat für das BZÖ): »Da haben – eine Tschetschenenbande hat in Kärnten Österreicher verdroschen und dort wo BZÖ handeln kann – in Kärnten – wurde gehandelt. Der Landeshauptmann hat die komplette Bande des Landes verwiesen, so gehört sich’s auch« (September 2006, ORF 2, Wahl 2006 Diskussion mit Alexander van der Bellen, Moderation: Ingrid Turnherr). Westenthaler bezieht sich in seinen ziemlich einseitigen Aussagen auf eine »Inszenierung«, die im August 2006 im Klagenfurter Fischl Park vonstatten lief. Mehr als zwei Dutzend, größtenteils vorbestrafte, rechtsradikale Kärntner hatten dort tschetschenische Kinder belästigt. Der Klagenfurter Stadtpolizeikommandant wurde in der Austria Presse Agentur zitiert: Begonnen habe alles mit einem Streit »wie er unter Kindern üblich ist« (Machreich 2009: 328). Erst als die tschetschenischen Kinder ihre Brüder zu Hilfe riefen, ist es zu einer Rauferei gekommen, bei der aber glücklicherweise niemand ernsthaft verletzt wurde. Dennoch konnte der wieder einmal um sein (Bundes)politisches Überleben kämpfende damalige Landeshauptmann Jörg Haider von diesem Zwischenfall profitieren. Seine Forderung nach einem »Tschetschenenfreien Kärnten« nach dieser von Kärntnern provozierten Schlägerei lässt zumindest Raum für Spekulationen: Wollten die jugendlichen rechtsradikalen Kärntner ihrem vermeintlichen Idol Haider einen Gefallen machen? Fest steht, dass in dieser Sache von politischer und teilweise auch von medialer Seite (Boulevard) gelogen wurde, dass sich die Balken bogen. Haider sprach noch Jahre später von Tschetschenen, die in Klagenfurt Kärntner Mütter und Kinder verprügelt hätten. Eine offensichtliche Lüge, gegen die aber keinE JournalistIn ausreichend Gegenmaterial vorgelegt hat. Im Übrigen wurde nach einer Rauferei keine »Tschetschenenbande abgeschoben«, wohl aber wurden mehrere Jugendliche willkürlich aus der Grundversorgung für AsylwerberInnen herausgenommen und in einem Fall sogar auf die Straße gesetzt. Die jungen Tschetschenen wurden erst nach Monaten, als die Staatsanwaltschaft schriftlich ihre Unschuld bekannt gab, wieder in die Kärntner Grundversorgung aufgenommen. Die Unschuldsvermutung wurde für die Flüchtlinge schon damals außer Kraft gesetzt, ebenso Sippenhaftung wieder eingeführt: In einem Fall wollte man die gesamte Familie eines Jugendlichen, dem man vorwarf bei der
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Rauferein in Fischl dabei gewesen zu sein, abschieben. Ein Vorgehen, das damals aufgrund des Zusammenbruchs der Mutter abgebrochen wurde (vgl. Stupnig 2008).
TschetschenInnen – EuropäerInnen wie wir Der Europäische Flüchtlingsfonds (EFF) schreibt jährlich verschiedenste Projekte zum Thema AsylwerberInnen aus. So sollen »Informationen für die ortsansässige Bevölkerung« dazu beitragen, Vorurteile und Feindbilddenken zu korrigieren. Nachdem ich mich jahrelang ehrenamtlich und intensivst mit tschetschenischen Menschen und dem Thema Tschetschenien befasst hatte, reichte ich in der Kategorie »Informationen für die ortsansässige Bevölkerung« ein Projekt ein. Das Informationsprojekt zu tschetschenischen Flüchtlingen mit dem Wirkungsraum Kärnten wurde schließlich bewilligt und hat die Laufzeit September 2008 bis Dezember 2009. Die Ziele, die mit diesen Maßnahmen einhergehen, sind, kurz formuliert: Vorhandene Vorurteile in der Bevölkerung abzubauen und durch umfassende Information die Angst vor dem »Fremden« zu nehmen; Begegnungen zwischen TschetschenInnen und KärntnerInnen zu erleichtern und am Beispiel der tschetschenischen Flüchtlinge den Begriff Asyl zu erklären; mit Hilfe eines sozialpsychologischen Modells das Thema Angst klar und verständlich zu erläutern. Die verschiedenen Maßnahmen, die im Rahmen des Tschetschenien Projektes durchgeführt werden, sehen so aus: • • • • • • • •
•
Vorträge und Diskussionsveranstaltungen Integrationsveranstaltungen und Kulturfeste Workshops und Seminare zum Thema Tschetschenien Fußballspiele und kleinere Turniere mit Tschetschenen und Kärntnern Treffen mit verschiedensten Institutionen (Schulen, Krankenhäusern, Ämtern etc.) Zusammenarbeit mit Printmedien und Radiosendern Erstellung von Informationsmaterial zum Projekt Zusammenarbeit mit der Europäisch-Tschetschenischen Gesellschaft in Wien, dem Aktionskomitee für Toleranz und Menschlichkeit in Kärnten und dem Referat für Gesellschaftspolitik und Menschenrechte der ÖH Klagenfurt, Radio Agora, der Plattform Migration in Villach und dem Katholischen Bildungswerk Kärnten. Geplantes Filmprojekt: TschetschenInnen in Kärnten
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Seit September 2008 gibt es nun regelmäßige Informationsveranstaltungen zum Thema tschetschenische Flüchtlinge im Rahmen dieses Projektes. Bis Ende Juli 2009 gab es insgesamt 110 Veranstaltungen bzw. Informationstreffen mit Institutionen und Vereinen. Zusätzlich gab es regelmäßige Konsultationen mit TschetschenInnen in Kärnten sowie anderen Hilfsorganisationen, die sich mit den Themen Asyl und Migration befassen. Bei den 60 Veranstaltungen mit Publikum (Radiosendungen und Pressekonferenzen u.ä. werden hier nicht einberechnet) nahmen mehr als 3000 BesucherInnen teil. Es gab Berichte und Ankündigungen über das Tschetschenienprojekt in Tages- bzw. Wochenzeitungen mit einer Auflage von bis zu 214 000 Stück. Mehrere Radiosendungen (auch Ö1), sowie ein Beitrag für das ungarische Staatsfernsehen stellten weitere erfreuliche öffentliche Aufmerksamkeit im Rahmen des Projektes dar. Auch ein aus Tschetschenien angereister Journalist zeigte Interesse für dieses Projekt. Zu diesem Zweck fand auch ein Interview mit mir in Klagenfurt statt. Mit regelmäßig stattfindenden Bücherflohmärkten an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt wird der Eigenbeitrag der finanziellen Mittel dieses vom EFF und dem Bundesministerium für Inneres (BMI) kofinanzierten Projektes erbracht. »TschetschenInnen – EuropäerInnen wie wir« funktioniert vor allem durch die ehrenamtliche Mitarbeit zahlreicher in Kärnten lebender Tschetschenen und Tschetscheninnen. An erster Stelle ist hier der Sprecher der Kärntner TschetschenInnen, Alash Arsaev, zu nennen. Eines der Vorzeigeprodukte des Projektes ist die seit 2004 bestehende Aspis1 Fußballmannschaft, die sich nun »FC Tschetschenien« nennt. Der 20jährige Hussein Sinijew beschreibt kurz den Werdegang der tschetschenischen Fußballmannschaft: »Die tschetschenische Aspis Fußballmannschaft gibt es schon sehr lange. Früher hat mein Vater an den Spielen teilgenommen. Damals besuchte ich noch die Schule und konnte nicht mitmachen, später war ich durch meine Arbeit verhindert. Jetzt finden die Turniere am Wochenende statt, wo die meisten Leute Zeit haben. In diesem Jahr haben wir im Jänner unsere Mannschaft neu gegründet. Es spielen jetzt vor allem junge Tschetschenen mit. In Viktring haben wir zum ersten Mal in der neuen Formation gespielt und sind bei einem Turnier immerhin siebenter geworden. Zusammen mit älteren Tschetschenen und Siegfried besprechen wir jetzt alle Vorgänge innerhalb des ›FC Tschetschenien‹. Ich habe T-Shirts mit der tschetschenischen Flagge entworfen, weil wir seit 2009 regelmäßig mit Kärntner Mannschaften spielen. Wir blieben im Frühjahr über viele Wochen ungeschlagen und
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bei den Akademischen Fußballmeisterschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt haben wir den vierten Platz errungen. Bei einem Turnier in Kraig lief es nicht so gut, aber Allah kann uns nicht immer gewinnen lassen. Am 25. Juli 2009 waren wir alle überglücklich, da siegten wir beim Sportfest in Glödnitz. Ich hatte zuvor schon das Gefühl, dass wir gewinnen würden. In Glödnitz hat uns Allah geholfen zu siegen. Siegfried war sehr stolz auf uns und hat sich mit uns gefreut. Ich bin immer froh wenn wir spielen können und freue mich schon auf die nächsten Turniere« (Hussein Sinijew am 29. Juli 2009).
Hussein hat in der tschetschenischen Fußballmannschaft eine zentrale Funktion übernommen. Er ist nicht nur der kreative Gestalter unserer T-Shirts, der Ausschreibungen für Turniere und Spiele, sondern er koordiniert auch die Anwesenheit beim Training und – was auch nicht unbedeutend ist – er besitzt ein Auto, womit er in der Lage ist, einen Teil der Mannschaft zu den Spielen zu bringen. Zusätzlich ist er einer der besten Spieler des »FC Tschetschenien«, der in jeder Position einsetzbar ist. Die eigentliche Trainerfunktion der Mannschaft hat der ehemalige Fußballer von Terek Grosny Ruslan Mudarow inne. Dieser ist mit 41 Jahren gleichzeitig der älteste Spieler unseres Teams. Alash Arsaev übernimmt als Sprecher der Kärntner TschetschenInnen gleichsam die Rolle des »Mannschaftspräsidenten«.
Spieler des FC Tschetschenien mit Siegfried Stupnig
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Gerade die Teilnahme an Turnieren und die Spiele mit Kärntner Mannschaften konnten viel dazu beitragen vorhandene Vorurteile oder Ängste abzubauen bzw. in manchen Fällen gar gänzlich zu beseitigen. Viele KärntnerInnen waren nach den sportlichen Begegnungen geradezu erleichtert – kannten sie die Tschetschenen doch nur aus dem Boulevard oder durch Aussagen von rechten Politikern (»gewalttätige Tschetschenen«). Kärntner Medien (Kleine Zeitung) abseits vom Boulevard haben mehrere Beiträge zu Spielen der Tschetschenen gebracht und somit einen wertvollen Beitrag zur Völkerverständigung geleistet.
Ausblick: TschetschenInnen – Menschen wie wir Die EFF Projekte werden jedes Jahr neu ausgeschrieben und bewertet. Für das Jahr 2010 gibt es jedenfalls eine Fortsetzung dieses Informationsprojektes mit dem neuen Titel: »TschetschenInnen – Menschen wie wir«. Dies geschieht unabhängig davon, ob eine erneute Förderung genehmigt wird. Die Arbeit würde bei fehlender Förderung dann wieder gänzlich ehrenamtlich geschehen – eine im NGO Flüchtlingsbereich durchaus weit verbreitete Notwendigkeit. Die »staatlich verordnete Mitleidlosigkeit« mit Flüchtlingen und Asylwerbern wird in Zukunft noch mehr Einsatz von Privatpersonen und NGOs erfordern um wenigstens einen Teil der nötigen Integrationsarbeit zu leisten, die Bund und Land verweigern. Meine langjährige Zusammenarbeit mit tschetschenischen Flüchtlingsfamilien hat meinen Horizont entscheidend erweitert, ganz abgesehen davon, dass ich viele wertvolle Freunde gewonnen habe, die mein Leben ungemein bereichern. Viele TschetschenInnen haben sich längst dazu entschlossen in Österreich ihren Lebensinhalt zu finden, nur für Besuche werden sie bei Erlangen der Staatsbürgerschaft wieder in ihre alte Heimat zurückkehren. Die entwurzelten TschetschenInnen indes hoffen weiterhin auf Frieden im Nordkaukasus, um wirklich freiwillig zurückkehren zu können.
Anmerkung 1 | Der Verein Aspis an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt bietet Hilfsangebote für traumatisierte Menschen (v.a. psyhotherapeutische Behandlungen), siehe: http://aspis.uni-klu.ac.at/index.html (Stand: 10.11.2010).
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Literatur Gannuschkina, Svetlana (2009): Bewohner Tschetscheniens in der Russischen Föderation, Menschenrechtszentrum »Memorial«, Moskau, www.clasen.net/gannuschkina/2009/doklad-2009-de. pdf. Hassel, Florian (2003): »Der zweite Tschetschenienkrieg. Eine Unterwerfungskampagne in imperialer Tradition«. In: Florian Hassel (Hg.), Der Krieg im Schatten- Russland und Tschetschenien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Jaschurkaew, Sultan (2008): Auf Splitter gekratzt. Grosny 1995, Tagebuch aus Tschetschenien, Klagenfurt: Kitab Verlag. Maaß, Ekkehard (2009): »Ein talentierter Diktator? Ramsan Kadyrow in den Spuren russischer Zaren, Stalins und Putins«. In: Herwig Schinnerl/Thomas Schmiedinger (Hg.), Dem Krieg entkommen? Tschetschenien und TschetschenInnen in Österreich, Wiener Neustadt: Verlag Verein Alltag, S. 78-92. Machreich, Wolfgang (2009): »Ein tschetschenenfreies Kärnten! Lei, lei!« In: Herwig Schinnerl/Thomas Schmidinger (Hg.), Dem Krieg entkommen? Tschetschenien und TschetschenInnen in Österreich, Wiener Neustadt: Verlag Verein Alltag, S. 326-339. Müller, Markus (2009): »Asyl mit Todesfolge«. In: Herwig Schinnerl/ Thomas Schmidinger (Hg.), Dem Krieg entkommen? Tschetschenien und TschetschenInnen in Österreich, Wiener Neustadt: Verlag Verein Alltag, S. 362-367. Seierstad, Åsne (2009): Der Engel von Grosny. Tschetschenien und seine Kinder, Fischer, Frankfurt a.M.: Fischer. Stupnig, Siegfried (2008): Psychosoziale und psychotherapeutische Arbeit mit tschetschenischen Kriegsflüchtlingen in Kärnten und theoretische Ausführungen zu den Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien, Diplomarbeit, Universität Klagenfurt.
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4 Perspektiven umdrehen
Z U DIESEM K APITEL Utta Isop/Viktorija Ratković »Diese dialogische Stimmung, die das Exil kennzeichnet, ist nicht notwendigerweise ein gegenseitiges Anerkennen, sondern sie ist mein polemisch (um nicht zu sagen mörderisch). Denn der Vertriebene bedroht die ›Eigenart‹ des Ureinwohners, er stellt sie durch seine Fremdheit in Frage. Aber selbst so ein polemischer Dialog ist schöpferisch, denn auch er führt zur Synthese neuer Informationen. Das Exil, wie immer es auch geartet sein möge, ist die Brutstätte für schöpferische Taten, für das Neue.« Vilém Flusser (2007)
Mit den Perspektiven auch die (Über-)Lebens- und wirtschaftlichen, politischen und medialen Partizipationsbedingungen von Migrant_ innen, Lesben, Schwulen und anderen Minderheiten umzudrehen, dafür plädieren die Autor_innen in diesem Kapitel. Zu den extrem erschwerten Bedingungen der unmittelbaren Existenzsicherung für Asylant_innen, Migrant_innen und alternative/queere Geschlechter kommt die Erfordernis, für die Durchsetzung von Rechten, Anteilshabe, Nutzungsmöglichkeiten, Zugängen zu Ressourcen, Repräsentationsformen in medialen, schulischen und wissenschaftlichen Feldern und Institutionen zu kämpfen. Von der »Vergruppung und Massierung« von Betroffenen über die ersten Formulierungen und Bündelungen von Ansprüchen, Forderungen nach Rechten bis hin zur Etablierung von Interessensverbänden, Publikationsorganen, autonomen Organisationen und systematisierten, institutionalisierten Wissensbehauptungen vergehen meist viele Jahre und Generationen von Aktivist_innen. Der Preis, der auf dem Weg »vom Wissensobjekt zum Wissenssubjekt« zu bezahlen ist, besteht oftmals in
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einer Transformation oder sogar in der Aufgabe der anfänglich formulierten Anliegen von Autonomie, freier Artikulation, Darstellung von Kritik an den Mehrheitsstrukturen, Formulierung von Alternativen zu bestehenden Vergesellschaftungsbedingungen und vielem mehr. Die Balance zwischen der Stärkung von sozialen Bewegungen durch die Öffnung und Selbstveränderung zu dominanten Kommunikations- und Organisationsformen, also durch »integrative«, bürgerrechtliche Bestrebungen, die oftmals mit einem Weg durch die Institutionen einhergehen, und der Schwächung durch die Aufgabe von Kritik, dem Vergessen von Forderungen nach Alternativen und Transformationen bestehender Herrschaftsstrukturen, stellt eine der größten Herausforderungen dar, die Viktorija Ratković, Mate Ćosić und Hannes Dollinger durch die von ihnen herausgearbeiteten Problemstellungen thematisieren. Viktorija Ratković schildert zunächst, wie sich in der Migrationsforschung über Jahrzehnte hinweg die Perspektive auf Migrant_innen verändert hat, um dann auszuführen, dass in der Medienforschung diese Gruppe nach wie vor meist als »Wissensobjekte« verhandelt wird. Anhand von Medien, die von Migrant_innen in Österreich produziert werden, zeigt die Autorin auf, dass Migrant_innen als »Wissenssubjekte« zu sehen sind, die mit neuen Deutungshoheiten, die Mehrheitsgesellschaft verändernden Ansichten, Ansprüchen, Werten, Interessensartikulationen, Infragestellungen, Vorschlägen von neuen Kooperationskulturen an die bereits bestehenden Strukturen herantreten können. Mate Ćosić und Hannes Dollinger weisen ausgehend von dem Manifest »Beyond Same Sex Marriage«, das von einer großen Anzahl namhafter Wissenschafter_innen (Judith Butler, John D’Emilio, Anne Fausto Sterling, Judith Halberstam) unterzeichnet wurde, darauf hin, dass es nicht nur darum geht, Begriffe wie »Ehe« oder »Familie« gerade im Hinblick auf die von diesen Instituten abweichenden sozialen Realitäten in Frage zu stellen und auf neue Perspektiven »jenseits« von diesen aufmerksam zu machen, sondern darüber hinaus darum, die Frage sozialer Gerechtigkeit ins Zentrum auch von Bürger_innenrechtsbewegungen zu stellen. Einzelne Forderungen nach Gleichstellung in Ehe-, Erbschafts- und Familienrecht, die von der LGBTQ-Community formuliert werden, schließen eine große Zahl an queeren Identitäten, deren Staatsbürgerschaft, deren sozio-ökonomischer Status, deren gesundheitlicher Status nicht den neoliberal-kapitalistischen Grundbedingungen westlicher Nationen entsprechen,
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aus, ohne Rechenschaft über die Ausgeschlossenen zu legen oder Solidaritätsakte mit diesen zu unternehmen. Ćosić und Dollinger fordern genau jene Solidarität und Anerkennung mit bereits bestehenden alternativen und queeren Familienformen und Identitäten. Sie plädieren dafür, die nationalen Engführungen als eine Herrschaftsstruktur über Staatsbürger_innen zu öffnen und die Einschränkung von Formen des Zusammenlebens durch Belohnungs- und Anerkennungsstrukturen in einem wesentlich größeren Maßstab bis hin zur Infragestellung von nationalen Strukturen selbst zu überdenken und die geübten Perspektiven also grundlegend umzudrehen. Kulturalismus und Rassismus in feministischen und lesbischschwulen Bewegungen, sowie umgekehrt Sexismus in migrantischen und ethnischen Communities problematisieren Paul Scheiblhofer und Antonio (Jay) Pastrana, Jr. in ihren Artikeln. Unterschiedliche Formen der Unterdrückung drohen je nach Einsatz und Feld der Argumentationen in Medien, Wissenschaft, Arbeit und Wirtschaft gegeneinander ausgespielt und instrumentalisiert zu werden. So weist Paul Scheibelhofer auf die schwierige und ambivalente Rolle von feministischen Argumenten bei der Konstruktion von rassistischen und orientalistischen Männlichkeitsbildern in öffentlichen Debatten zu »Mulitkulturalismus« hin und betont die Notwendigkeit materialistische postkoloniale Kritiken stärker ins Zentrum der Diskussion zu stellen, die davon ausgehen, dass die umfassenden gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen ins Blickfeld zu nehmen sind und nicht nur die Effekte des Kulturalismus und Rassismus analysiert werden sollten. Ein »Multikulturalismus von unten« könnte laut Scheibelhofer helfen, die festgefahrenen Argumentationslinien und Identitätsbehauptungen zu öffnen. Antonio (Jay) Pastrana, Jr. stellt in seiner soziologischen Studie eine neue Perspektive in den Vordergrund: Das gleichzeitige Existieren verschiedener Identitäten und die gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen werden von ihm als Ressource, Kreativitätspool und als unterstützend beschrieben. Nicht nur die »Mehrfachdiskriminierung« im intersektionalen Blickfeld, durch welche sich verschiedene Unterdrückungsformen potenzieren, sollen Beachtung finden, sondern besonders Effekte der Ermächtigung, der veränderten Haltung, des unterschiedlichen Zugehens, der Hervorbringung von neuen Perspektiven werden vom Autor thematisiert. Pastrana zeigt in seiner Befragung auf, dass beispielsweise besonders hervorgehobene ethnische Zugehörigkeiten innerhalb der LGBTQ-Community
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durchaus als Vorteil der zusätzlichen Sichtbarkeit und Anerkennung gesehen werden und so positive und stärkende »Identitätspolitik« durch die Betonung von Verschiedenheit und Mehrfachzugehörigkeit entstehen kann.
Literatur Flusser, Vilém (2007): Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus, Berlin/Wien: Europäische Verlagsgesellschaft.
V ON W ISSENSOBJEK TEN ZU W ISSENSSUBJEK TEN . M IGR ANT I NNEN ALS M EDIENPRODUZENT I NNEN1 Viktorija Ratković Kaum eine Gruppe von Menschen steht derzeit unter so starker öffentlicher Beobachtung und Einflussnahme wie MigrantInnen,2 die dadurch z.T. auch erst als Gruppe konstituiert werden. Am Beispiel von MigrantInnen zeigt sich, wie eine bestimmte Gruppe von Menschen sowohl in Alltagsdiskursen als auch im Rahmen wissenschaftlicher Beschäftigung laufend zu Wissensobjekten gemacht wird, d.h. zu Objekten, über die gesprochen und publiziert wird. Ebenso wird hier schnell deutlich, dass bestimmte (marginalisierte) Gruppen wenig Einfluss auf das Wissen, dass über sie produziert wird, haben, denn »[d]ominante Diskurse bringen jene zum Schweigen, die auf der anderen Seite der Wahrheit, Rationalität, Normalität, Normativität, Universalität und Wissenschaftlichkeit stehen« (Castro Varela/ Dhawan 2003: 279). Das Hauptargument, das ich in diesem Artikel ausführen werde, ist, dass MigrantInnen nicht lediglich Wissensobjekte sind, sondern vielmehr auch Wissensubjekte, d.h. dass sie als Subjekte in der Lage sind, für sich und über sich zu sprechen. Dass diese Feststellung durchaus nicht so banal ist, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, werde ich zunächst anhand der Migrationsforschung ausführen, um dann aufzuzeigen, dass die Vorstellung von MigrantInnen als Wissenssubjekten in der Medienforschung bislang noch nicht verankert ist. Abschließend führe ich einige Beispiele von Medien, die von MigrantInnen in Österreich produziert werden, auf, die verdeutlichen sollen, dass »MigrantInnen als Wissenssubjekte«
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keine theoretischen Figuren sind sondern vielmehr greifbare (wenn auch größtenteils nicht wahrgenommene) Spuren in der österreichischen Medienlandschaft hinterlassen.
MigrantInnen als Wissensobjekte und Wissensubjekte in der Migrationsforschung Die Migrationsforschung rückte in ihren Anfängen eher negative Aspekte von Migration in den Vordergrund, MigrantInnen wurden dabei als hilfsbedürftig definiert, als Personen, die sich kaum oder nur mit Hilfe in eine neue Gesellschaft einfügen können. Das Leben von MigrantInnen wurde dabei als von einem Kulturkonflikt geprägtes verstanden und damit als defizitär eingestuft. Gerade »Jugendliche mit Migrationshintergrund«, so die weit verbreitete These, seien zwischen den – als homogen beschriebenen – Kulturen des Herkunftsund des Einwanderungslandes zerrissen, wobei den Hintergrund dieser Ansicht das Konzept von kollektiven nationalen Identitäten bildete (vgl. Huth-Hildebrandt 2002). Während Migrantinnen der ersten Generation noch als Opfer des Migrationsprozesses beschrieben wurden (etwa, weil sie aus ihren Familienstrukturen »herausgerissen« wurden), stellte man jene der zweiten Generation als Opfer der patriarchalen Familienstrukturen dar (ebd.: 114). Insgesamt waren MigrantInnen in der Anfängen der Migrationsforschung Menschen, über die geforscht wurde. Nur wenige MigrantInnen gelangten in Rollen, die es ihnen ermöglichten, für MigrantInnen zu sprechen (etwa als SozialarbeiterInnen). Häufig wurden diese Personen allerdings als RepräsentantInnen der gesamten Community interpretiert, d.h. ihnen wurde die Macht zugesprochen, für alle MigrantInnen der betreffenden Gruppe sprechen zu können. Inzwischen fokussiert sich die Mainstream-Migrationsforschung auf eine kompetenz- und ressourcenorientierte Perspektive, vor allem unter dem Einfluss der Arbeiten zu hybriden Kulturen und Identitäten (vgl. Hall 1994; Bhabha 2000) oder auch der Vorstellung von natio-ethno-kulturellen Mehrfachzugehörigkeiten (Mecheril 2003). Statt also davon auszugehen, dass MigrantInnen und ihre Nachkommen3 in sich zerrissene Mängelwesen seien, wird nun das Prinzip des »sowohl-als-auch« anerkannt. Kulturelle Vermischung wird etwa in Homi K. Bhabhas Metapher als »›third space‹, als unterforschter ›dritter Raum‹ gedacht, in der hybride Existenzweisen fruchtbare Ressourcen, Kreativität und andere Formen der kulturellen Bereiche-
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rung hervorbringen« (Ha 2005: 14). »Es geht heute nicht darum«, so Bronfen und Marius, »ob wir kulturelle Hybridität für erstrebenswert halten oder nicht, sondern einzig und allein darum, wie wir mit ihr umgehen« (Bronfen/Marius 1997: 18). Als hybrid wird dabei alles definiert »was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustandegekommen ist« (ebd. 14; Hervorhebung im Original). Kien Nghi Ha weist allerdings zu Recht darauf hin, dass mit der »Orientierung auf Hybrides […] nicht zuletzt […] neue Anwendungsund Wachstumsmöglichkeit erschlossen werden« (Ha 2005: 62) können, wobei »Hybridität« lediglich als Verkaufsargument verwendet wird. Gleichzeitig kann kritisiert werden, dass Bhabhas Hybriditätsmodell MigrantInnen und People of Color als »kulturell different« markiert und damit nicht nur zu einer ethnisierten Grenzziehung zwischen dem »Eigenen« und dem »Fremden« beiträgt, sondern auch in einer binären Identitätslogik verhaftet bleibt (siehe Gutiérrez Rodríguez 2001: 45f.). Konzepte, in denen Differenz und Identität nicht als abgeschlossene Einheiten, sondern als vielschichtig und von herrschenden Machtverhältnissen beeinflusst begriffen werden, werden heute vermehrt in die Wissensproduktion mit einbezogen (etwa Anzaldúas »New Mestiza« 1999 oder Braidottis »Nomadic Subject« 1994). Gerade Migrantinnen werden nicht länger (nur) als Opfer gesehen, sondern vermehrt als aktiv Handelnde, die »Vielfalt weiblicher Lebensbedingungen und Lebenswelten ist heute Konsens der Migrantinnenforschung« (Treibel 2008: 151). Sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse, die binäre Konstruktionen hinterfragen und ablehnen, wurden/werden dabei nicht zuletzt von WissenschafterInnen mit Migrationshintergrund angestoßen. Gleichzeitig haben VertreterInnen der Postcolonial Studies auch immer wieder die Rolle von WissenschafterInnen hinterfragt und auf die Gefahr hingewiesen, dass selbst ernannte RepräsentantInnen minorisierter Gruppen »so sprechen, als gäbe es ein einheitliches politisches Subjekt, welches kollektiv durch sie sprechen würde« (Castro Varela/Dhawan 2005: 67; Hervorhebung im Original). Die Gründung der Forschungsgruppe »Kritische Migrationsforschung« (kriMi)4 an der Universität Wien oder des Netzwerks »Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung«5 sowie die Abhaltung der Tagung »Migrationsforschung als Kritik? Ansprüche, Praxen, Re-
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flexionen« im Dezember 2010 an der Universität Innsbruck lassen vermuten, dass kritische Perspektiven in der Migrationsforschung auch weiterhin bestehen bleiben werden. Die am 1. Oktober 2010 veröffentlichte Stellungnahme des Netzwerks »Kritische Migrationsund Grenzregimeforschung«, »Demokratie statt Integration«, fand über 400 ErstunterzeichnerInnen und hielt u.a. fest: »Integration heißt, dass man Menschen, die in diesem Land arbeiten, Kinder bekommen, alt werden und sterben, einen Verhaltenskodex aufnötigt, bevor sie gleichberechtigt dazugehören. Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist eine Feindin der Demokratie.«6
Wissensobjekt »die Migrantin/der Migrant« in Medien und in der Medienforschung In den Medien- und Kommunikationswissenschaften erfreut sich das Thema »Migration« zunehmender Beliebtheit, ist geradezu zu einem Modethema geworden, wobei insbesondere die Analyse der Darstellung von MigrantInnen in deutschsprachigen Mainstreammedien im Vordergrund steht (vgl. Geißler/Pöttker 2009: 7). Die Ergebnisse dieser Analysen gleichen einander. MigrantInnen kommen in den Medien kaum vor, und wenn, dann häufig in negativen Zusammenhängen. Dabei lassen sich geschlechtsspezifische Diskursstränge beobachten: Während Migranten häufig mit Kriminalität, Gewalt, Asyl und Drogenhandel in Verbindung gebracht werden, sind es bei Migrantinnen eher »Opferthemen« (etwa Menschenhandel und Prostitution), die im Vordergrund stehen. Berichte über muslimische Frauen nehmen häufig Bezug auf die Geschlechterverhältnisse im Islam, thematisieren die Kopftuch-Debatte, wobei die vorhandenen Zuspitzungen implizieren, »dass alle Musliminnen tendenziell fanatisch und ideologisch verblendet sind« (Farrokhzad 2006: 75). Die Wahrnehmung von MigrantInnen ist durch Skandalisierung gekennzeichnet, »Sensationslust und die Erregung über Spektakuläres, wie etwa die so genannten Ehrenmorde, den Blick für unauffällige Biografien und Integrationsprozesse von Migrantinnen verstellen« (Treibel 2008: 141). Gleichzeitig wird die Emanzipation von Frauen (wie sie von der Mehrheitsgesellschaft definiert wird) nach wie vor als Messlatte für den Integrationsfortschritt (vor allem der muslimischen Bevölkerung) herangezogen (Huth-Hilderbrandt 2002: 163).7
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Die Vorstellung, wie sie etwa Gabriele Dietze formuliert hat, dass gerade muslimische Frauen, die ein Kopftuch tragen, als »Agentur der Kulturkritik« (Dietze 2009: 38) fungieren (können), »als souveräne Besitzerin ihrer selbst (und ihres bewahrten Körpers)« (ebd.: 39), findet kaum Eingang in herrschende Mediendiskurse. Dietze spricht auch von der »okzidentalistische[n] Dividende« bzw. »Überlegenheitsdividende«, die für »kulturell ›weiße‹ Frauen […] gegenüber den neo-orientalisierten ›Anderen‹« abfällt (vgl. ebd.). Die Vorstellung, im Vergleich mit der »Anderen« frei und selbstbestimmt zu sein, geht dabei auch mit der Vorstellung einher, nur die kulturell »weißen« Frauen könnten den Subjektstatus für sich beanspruchen, während die »Anderen« fremdbestimmt seien. Auch scheint es so zu sein, dass ForscherInnen im Themenbereich Medien und MigrantInnen den Fokus oftmals auf negative Darstellungen legen, vielerorts scheinen die Medien- und Kommunikationswissenschaften den Themenbereich »Migration« eher als Problemfeld wahrzunehmen, häufig sind Diskurse zu finden, die auch in der Mainstream-Migrationsforschung lange Zeit vorherrschend waren und zum Teil noch vorhanden sind. So scheint es derzeit fast ein Muss zu sein, in jedweder Analyse auch »Integration« der MigrantInnen in die Mehrheitsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Dabei werden vielfältige Konzepte und Definitionen herangezogen aber zum Teil unkritisch verwendet, etwa »Integration« als Ziel nicht hinterfragt oder auch als »humaner Mittelweg zwischen Assimilation und Segregation« bezeichnet (vgl. Geißler 2005: 45, Geißler spricht hier von »Interkulturellen Integration«). Es wird zwar festgestellt, dass eine Integration angestrebt werden soll, die »kulturelle Differenzen bestehen lässt und anerkennt« (Geißler/Pöttker 2009: 8), gleichzeitig gehen ForscherInnen beispielsweise der Frage nach, welchen Einfluss die Mediennutzung von MigrantInnen auf »erfolgreiche Integration« haben kann, wobei hier Integration als »Zustand der Gesellschaft« definiert wird, »in dem alle ihre Teile fest miteinander verbunden sind und eine nach außen abgegrenzte Einheit bilden« (Münch 1995: 5 zitiert nach Scheider/Arnold 2006: 95). Die Problematik der Festlegung eines »Außen« wird hier nicht einmal angerissen. Migration wird heute, so scheint es, vor allem unter dem Gesichtspunkt der Integration diskutiert, wobei die Frage, was »Integration« eigentlich bedeutet, nicht leicht zu beantworten ist und es vielfach so scheint, dass Integration lediglich ein anderes Wort für ›Assimilation‹ darstellt, insbesondere wenn sie »nach dem vor-
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gegebenen Muster politischer, ökonomischer und sozialer Erfordernisse der Mehrheitsgesellschaft erfolgen soll« (Lepperhoff/Manske/ Schneider 2008: 10). Der Lebensalltag von MigrantInnen wird in deutschsprachigen Medien kaum thematisiert, diese treten »meist nur als passives Objekt der Berichterstattung [auf ] und kommen selber nicht zu Wort« (Bonfadelli 2007: 104). Laufend diskutiert wird auch die Mediennutzung von MigrantInnen, und es wird der Frage nachgegangen, warum so wenige JournalistInnen mit Migrationshintergrund in den Mainstream-Medien tätig sind. Petra Herczeg hat in einer 2010 durchgeführten Studie festgestellt, dass in Österreichs Medien lediglich 0,49 Prozent der JournalistInnen über einen Migrationshintergrund8 verfügen.9
Medien von MigrantInnen Die Analyse von Medien, die von MigrantInnen selbst produziert werden, stellt dagegen einen blinden Fleck in der Forschung dar (vgl. Geißler/Pöttker 2006: 29). Diese Medien werden »in der Wissenschaft nur als Kuriosum oder Exotik abgehandelt« (Becker 2007: 44). Zudem scheint sich in der Literatur bislang der Begriff der »Ethnomedien«/»Ethnic Media« durchgesetzt zu haben, der unkritisch eingesetzt wird, um Medien, die von MigrantInnen produziert werden, zu umschreiben. Dabei wird außer Acht gelassen, dass dieser Begriff implizit transportiert, »Ethnie« sei etwas, das nur die MigrantInnen hätten, obwohl auch die Mainstream-Medien durchaus als »Ethnomedien« bezeichnet werden können – schon allein, um die Normativität von Weißsein aufzuzeigen (vgl. Wollrad 2005). Im Widerspruch zu der nur spärlich vorhandenen Auseinandersetzung mit Medien, die von MigrantInnen produziert werden, steht die Tatsache, dass diese Medien, beispielsweise in Deutschland, über eine lange Tradition verfügen. Unter »Ethnomedien« werden dabei sowohl jene Medien (Zeitungen, Rundfunksendungen, Internetseiten) verstanden, die in den Ursprungsländern der EinwanderInnen produziert und in den Aufnahmeländern verkauft/ausgestrahlt werden (z.T. werden einzelne Abschnitte in den Aufnahmeländern erstellt und beigefügt) als auch jene, die speziell für MigrantInnen in den Aufnahmeländern produziert werden. Im Unterschied zu den USA und Kanada, so stellt Weber-Menges fest, werden diese Medien allerdings nicht hauptsächlich von Minderheitenangehörigen für
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Minderheitenangehörige produziert. So bestehen auch Angebote, die von Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft für MigrantInnen produziert werden (vgl. Weber-Menges 2006: 123). Insgesamt sechs Phasen der Entwicklung von »Ethnomedien« in Deutschland macht Weber-Menges aus (vgl. ebd.), beginnend mit der Anwerbung der GastarbeiterInnen in den 1960er Jahren. Dieser Gruppe standen Zeitungen (die in ihren Heimatländern hergestellt wurden) und Radiosendungen (die zum Teil speziell für sie in Deutschland produziert wurden) zur Verfügung, und sollten insbesondere als Hilfe für ihren vorübergehenden Aufenthalt, d.h. als Informationsquelle dienen. Anfang der 1970er Jahre fanden »Gastarbeitersendungen« auch im deutschen Fernsehen Eingang und waren zunächst als Brücke zur Heimat und Orientierungshilfe in Deutschland gedacht, etwa ab dem Ende der 1970er Jahre sollten sie dann auch zur Integration der MigrantInnen in der Aufnahmegesellschaft beitragen. Gleichzeitig erschienen eigene DeutschlandAusgaben, etwa türkischer Tageszeitungen. In den 1980er Jahren setzten sich immer mehr Videokassetten aus den Heimatländern der MigrantInnen durch, wodurch »das bis dahin größtenteils unter deutscher Regie stehende Medienangebot für ethnische Minderheiten eine weitere ernsthafte Konkurrenz« (ebd.: 129) erhielt. Mit der Verbreitung der Satellitentechnologie in den 1990er Jahren entstand auch ein vielfältiges Medienangebot in den jeweiligen Landessprachen der MigrantInnen, die bestehenden Sendungen im öffentlichrechtlichen Fernsehen versuchten nun, eine breitere Palette der Bevölkerung anzusprechen, d.h. neben ehemaligen GastarabeiterInnen auch die Mehrheitsbevölkerung, Asylsuchende etc. Multikulturelle Radio- und Fernsehsendungen, die wachsende Bedeutung des Internets und Versuche der zweiten und dritten Generation von MigrantInnen, eigene Medien zu produzieren, kennzeichnen schließlich die heutige Situation. Die spärlich vorhanden Analysen von Medien, die von MigrantInnen selbst produziert werden, konzentrieren sich meist auf den Aspekt der Integration, d.h. stellen die Frage in den Vordergrund, inwieweit diese Medien zur Integration der MigrantInnen beitragen oder sie gar gefährden können, indem sie segregative Inhalte transportieren: »Befürchtet wird, daß [sic!] [die Hinwendung zu speziell muttersprachlichen Medien] insbesondere zu einem allmählichen bzw. einem endgültigen Rückzug der ausländischen Wohnbevölkerung führen wird« (Goldberg 2000: 420). Insbesondere die Rezeption
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türkischer Medien in Deutschland könne zu einer »Verharrung in binnenethnischen Beziehungen bei gleichzeitiger Vermeidung interethnischer Kommunikation« führen (Esser 2000 zitiert nach Schneider/Arnold 2006: 95f.). In einer Linie mit dem Schreckgespenst »Parallelwelten«, das im Alltagsdiskurs zu finden ist, steht dann auch die Befürchtung von Medien- und KommunikationswissenschafterInnen, Medien von MigrantInnen könnten zu »Medialen Ghettos« bzw. »medialer Ghettoisierung« (vgl. Goldberg 2000: 434) führen. Bukow et al. haben festgestellt, dass sich Parallelgesellschaften in der Realität kaum finden lassen und sprechen deswegen von ›gefühlten‹ Parallelgesellschaften. Sie weisen darauf hin, dass »sich die Rede von der Parallelgesellschaft als Teil eines heute an vielen Orten gegenwärtigen fundamentalistischen Diskurses [erweist] und […] den Blick auf für eine adäquate Beobachtung dessen, was in der globalisierten Weltgesellschaft geschieht [verstellt]« (Bukow et al. 2007: 16). Im Anschluss an diese Feststellung kann auch argumentiert werden, dass Diskurse in den Medien, die MigrantInnen entweder ausklammern oder als Problemfall darstellen, auch den Blick vieler ForscherInnen darauf verstellen, dass MigrantInnen selbstverständlich auch als Wissenssubjekte in Erscheinung treten (können).
Beispiele Hier geht es darum, kurze Schlaglichter auf österreichische Medien von MigrantInnen zu werfen, um deren große Bandbreite aufzuzeigen und den Blick auf sie zu lenken. Fragen, die sich im Rahmen einer detaillierten Analyse zwangsläufig ergeben, werden im nachfolgenden Kapitel andiskutiert.
BUM Mit inzwischen 50 Ausgaben in seinem fünfjährigen Bestehen stellt BUM eines der auflagenstärksten Magazine der migrantischen Community dar. Elfmal pro Jahr erscheinen 80.000 Ausgaben auf Bosnisch/Serbokroatisch (BKS, unter dem Titel »BUM Magazin«) und 60.000 auf Türkisch (unter dem Titel »Gazete BUM«). Diese werden an über 1.600 Stellen in ganz Österreich verteilt sowie per Post an über 12.500 Adressen zugestellt (Gratisabo). Zudem werden 10.000 Exemplare in über 800 Trafiken landesweit verkauft (Preis: 2 Euro). Die .pdf-Versionen der einzelnen Ausgaben sind auch auf der Website des Magazins erhältlich (Bum Mediadaten 2010/11).10 BUM wird
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vom Verlag BUM MEDIA – Ethnomarketing herausgegeben. In der Selbstbeschreibung heißt es, dass BUM das meistgelesene »EthnoMagazin« in Österreich sei, da es mindestens 300.000 LeserInnen erreiche – was etwa einem Drittel der MigrantInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien und der Türkei entspricht (die zusammen die größte Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich darstellen). Das Redaktionsteam setzt sich aus JouranalistInnen mit Migrationshintergrund zusammen und deckt eine breite Palette an Themen ab: Es lassen sich Berichte über bestimmte Ereignisse in den Herkunftsländern der LeserInnen (etwa Wahlen in Bosnien-Herzegowina), Hinweise auf Deutschkurse in Österreich, Sportberichterstattung (etwa die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika) etc. finden.
Das Biber Das Biber. Stadtmagazin für Wien, Viyana und Beč11 wurde 2006 gegründet und erscheint seitdem regelmäßig (d.h. annähernd jeden Monat). Herausgeberin ist die Wiener BIBER Verlagsgesellschaft mbH, Chefredakteur ist Simon Kravagna, der zusammen mit Wilfried Wiesinger auch als Geschäftsführer tätig ist. Die Auflage von 50.000 Stück wird in Wien verteilt, auf Wunsch gratis zugestellt und liegt z.T. auch in Trafiken auf. In der Aufstellung der Mediadaten 2010, die sich wohl primär an Wirtschaftsunternehmen richtet und diese animieren soll, in Das Biber Anzeigen zu schalten, ist festgehalten: »Unsere Zielgruppe sind primär Wienerinnen und Wiener der so genannten zweiten und dritten Generation. Jeder dritte Einwohner Wiens hat einen migrantischen Background – darunter mehrheitlich junge Menschen mit türkischen und serbokroatischen Wurzeln. Die meisten von ihnen sind konsum- und markenbewusst, trendig und aufstiegsorientiert. Darüber hinaus sprechen wir mit dem Gratismagazin auch all jene weltoffenen Leserinnen und Leser an, die sich für pures Multikulti aus erster Hand interessieren. […] Als einziges Stadtmagazin berichtet der biber direkt aus der migrantischen Community heraus – und zeigt damit jene spannenden und scharfen Facetten Wiens, die bisher in keiner deutschsprachigen Zeitschrift zu sehen waren. Der biber ist nicht nur ein Magazin, sondern symbolisiert gelebte Integration und das Lebensgefühl einer neuen Generation« (Mediadaten 2010).
Entsprechend finden sich hier Berichte über beruflich erfolgreiche MigrantInnen in Österreich neben Modestrecken und Reiseberichte über die Herkunftsländer der JournalistInnen. Gleichzeitig stellten
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beispielsweise 2010 die Wahlen in Wien in drei Ausgaben das Titelthema: im Sommer »Kampf um die Ausländer. Zu welchen Migranten Strache jetzt lieb ist. Wer für die SPÖ in den Ring steigt. Welche Neo-Wiener wählen dürfen«, im September »Häupl & die harten Jungs. Der Bürgermeister trifft Rapper Nazar und Boxer Knezević: Alles über die Wut der jungen ›Ausländer‹ und ihre Heimat Wien« und im Oktober »Wir sind Wiener, Wir gehen wählen. Warum am 10. Oktober auch Mustafa und Jasna wählen!«.
MiGaY 2009 wurde MiGaY12 vom Verein zur Integration und Förderung von homosexuellen MigrantInnen als erstes österreichisches »Informationsmedium und Vernetzungsplattform von und für homosexuelle MigrantInnen« ins Leben gerufen. Neben der Einrichtung der Website des Vereins sind inzwischen zwei Ausgaben erschienen. Die Auflage beträgt 3.000 Stück, diese können gratis bezogen werden bzw. sind als .pdf auf der Website verfügbar.13 In der Blattlinie ist festgehalten, dass »migay.at […] ein Portal mit dem Ziel der Förderung der Vereinsziele von MiGaY (Förderung, Information und Integration von lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen migrantischer Abstammung oder mit Migrationshintergrund) in Österreich [ist]« und deren besondere »Bedürfnisse berücksichtigen, ansprechen und weitertragen« will. Neben aktuellen Themen in Österreich (etwa AusländerInnenfeindlichkeit in der LGBTQ-Szene oder der eingetragenen Partnerschaft) finden sich sowohl Berichte aus den Herkunftsländern (»Aus der Heimat und Ferne«, mit Berichten aus Haiti, Belgien, Swasiland etc.) auch Artikel in verschiedenen Sprachen, deren kurze Zusammenfassung auch jeweils auf Deutsch vorhanden ist (Türkisch, Englisch, Polnisch, Slowenisch, BKS, Spanisch und Griechisch).14
migrazine.at Die Website migrazine.at ging 2006 online und erscheint seit 2009 vierteljährlich zu ausgewählten Themen. Als mehrsprachiges OnlineMagazin »von Migrantinnen für alle« wird es von der autonomen Migrantinnen-Selbstorganisation maiz15 in Linz herausgegeben. Ziel ist es, »kritische migrantische Stimmen in der medialen Öffentlichkeit hörbarer zu machen und gegen die klischeehafte Darstellung von Migrantinnen aufzutreten«16 und »selbstorganisiertes Partizipieren an der Medienlandschaft, Einmischen in den herrschenden Diskurs, De-
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mokratisierung der Information.«17 Das Redaktionsteam besteht aus Migrantinnen der ersten und zweiten Generation, die am gesamten Entstehungsprozess beteiligt sind (»von der Gestaltung der Website bis hin zur redaktionellen Betreuung der Beiträge«). migrazine.at ist explizit feministisch, antirassistisch und parteilich, wobei die Redakteurinnen feststellen, dass sie die Kategorie »Migrantin« als politische Identität verstehen, d.h. als »Bezeichnung eines oppositionellen Standorts« und im Sinne einer »feministischen und antirassistischen Parteilichkeit« (FeMigra). Die bisherigen Schwerpunktthemen waren bislang »Wer die Wahl hat, hat das Wahlrecht«, »Diagnose: Rassismus« und »Ja, ich will!«. Neben Artikeln zu den jeweiligen Schwerpunktthemen setzen sich weitere Texte mit verschiedenen Thematiken auseinander, etwa mit der Rolle und Situation von Migrantinnen in der Sexindustrie, Fragen der Selbstdefinition/Selbstrepräsentation/Subjektwerdung oder auch mit Selbstmordattentäterinnen.18
Wissenssubjekte – und dann? So man die Prämisse akzeptiert, dass MigrantInnen durchaus (auch) Wissenssubjekte sind, stellen sich zwangsläufig kritische Fragen in Bezug auf die oben beschrieben Medien. Ein genauer Blick auf die Formulierung »Medien, die von MigrantInnen produziert werden« rückt die Produktion und damit die ökonomischen Bedingungen in den Blick. Wie »migrantisch« ist eine Redaktion, wenn der/die ChefredakteurIn bzw. der/die HerausgeberIn über keinen Migrationshintergrund verfügt? Ist es nicht, wie Riggins ausführt, für Minderheiten zentral, die volle Kontrolle über die Finanzierung und Administration der eigenen Medien zu haben (vgl. Riggins 1992: 285)? Auch die Tatsache, dass die oben beschriebenen Medien gratis bezogen werden können, birgt in sich sowohl potentiell positive als auch potentiell negative Konsequenzen. Während damit der freie Zugang zu den Medien gewährleistet ist – absolut jederR kann sie sich leisten – sind die Medien dadurch auf WerbekundInnen angewiesen, und dadurch gezwungen, sich den Regeln des Marktes zu unterwerfen. Um leichter Presseförderungen zu bekommen, könnte es zudem verlockend sein, die Nähe zu bestimmten Parteien zu suchen und damit wiederum Unabhängigkeit zu riskieren. Auch könnten diese Medien in einer Zeit, in der »Hybridität« zu einem Verkaufsargument geworden ist, lediglich mit dem Ziel hergestellt werden, als Produkt für die
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»ethnische Nische« zu dienen (Ha 2005: 62), mit dem möglichst viel Gewinn generiert werden soll. Und: Müssen es nicht auch jene, die für diese Medien schreiben, bis zu einem gewissen Grad »geschafft« haben, um Zugang zur Produktion zu bekommen? Und erklärt dies nicht beispielsweise, dass in Das Biber nur jene MigrantInnen vorkommen, die erfolgreich sind – so sind (Berichte über) AsylwerberInnen, Sans-Papiers etc. hier nicht zu finden. Zentral ist zudem die Frage, welche Inhalte in diesen Medien vorhanden sind. Unterscheidet sich das, was die Migrant_innen als Wissenssubjekte über sich schreiben, überhaupt von dem, was in herrschenden Diskursen über das Wissensobjekt »der Migrant/die Migrantin« zirkuliert? Oder ist es vielmehr so, dass »minority journalists – however militant – [cannot] escape the influence of the majority culture in which they are immersed« (Riggins 1992: 278)? Sind die Inhalte eines Artikels mit der Schlagzeile »Ehemalige Jugoslawen – Top Kriminelle« (»Bivši Jugoslaveni – Top Kriminalci«, BUM Juni 2010: 13) andere, wenn dieser in einem Medium erscheint, dass von »ehemaligen Jugoslawen« produziert wird, als jene, die mit der gleichen Schlagzeile in der Kronen Zeitung publiziert würden? Entspricht die Beschreibung der Zielgruppe von Das Biber nicht perfekt den Erwartungen des neoliberalen kapitalistischen Systems? Allerdings: Muss man bei der Bewertung dieser Medien nicht berücksichtigen, dass gerade MigrantInnen lange Zeit zu den VerliererInnen und Ausgebeuteten dieses Systems gehörten und dass es zu den legitimen Zielen der zweiten und dritten Generation von MigrantInnen gehören könnte, hervor zu streichen, was sie erreicht haben? Die kritischen Fragen sollten allerdings nicht den Blick darauf verstellen, dass diese Medien trotz aller potentiell problematischen Umstände dennoch als Herausforderung für (österreichische) Mainstreammedien und ForscherInnen gesehen werden können, die allzu oft »propagandiz[e] and amplify[e] the issue [migration, V.R.], presenting the immigrant as more of a problem than as part of the solution« (Hassane 2009: 138). Allein die Bandbreite der oben vorgestellten Medien ist ein Hinweis darauf, dass es ein simples »wir« und »sie« nicht geben kann, sondern dass auch unter MigrantInnen eine große Vielzahl an Perspektiven und Standpunkten vorhanden ist. Das größte Potential von Medien, die von MigrantInnen produziert werden, liegt schließlich darin, dass sie LeserInnen, HörerInnen und ZuschauerInnen zu »components of the media« verwandeln können,
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»into active sources of information, and most importantly, into constant recipients« (ebd.: 119f.).
Conclusio Wiewohl davon ausgegangen werden kann, dass MigrantInnen als ProduzentInnen von Medien zwar selbst Wissensobjekte (der Forschung und von Alltagsdiskursen) darstellen und von damit verknüpften Vorstellungen beeinflusst werden/bestimmten Subjektivierungen ausgesetzt sind, muss auch betont werden, dass sie auch als aktiv handelnde Wissenssubjekte gesehen werden müssen, die Subjektformen und -positionen generieren, vermitteln und potentiell wirkungsmächtig machen, die über die bislang anerkannten hinaus weisen. Die historische, soziale, kulturelle und ökonomische Situiertheit der ProduzentInnen muss allerdings auch berücksichtigt werden, wobei nicht davon ausgegangen werden kann, dass die ProduzentInnen dieser Medien einen Standpunkt einnehmen (können), »der eine umfassende kritische Sicht« darstellt, sondern dass es vielmehr darum gehen sollte »unterschiedliche Perspektiven und Standpunkte, zwischen denen durch kritische Dialoge Gemeinsamkeiten hergestellt werden können« (Singer 2008: 290), in den Blick zu nehmen.
Anmerkungen 1 | Ich danke Claudia Brunner und den TeilnehmerInnen des Privatissmimums für DissertandInnen/Prof.in Brigitte Hipfl für ihre anregenden Beiträge! 2 | Am Anfang jeder Auseinandersetzung mit dem Thema Migration muss eine Begriffsklärung stehen, die hier aus Platzmangel nicht geschehen kann. Die Problematik der Definition von »MigrantInnen« und der Verwendung von Begriffen wie »MigrantInnen der zweiten Generation« soll hier festgestellt werden, ohne dass näher auf sie eingegangen wird. 3 | Erol Yildiz spricht etwa von »PostmigrantInnen« (Vortrag am 08. Oktober 2010 beim Ersten Workshop der »Arbeitsgruppe Migration« am 8. und 9. Oktober 2010 in Klagenfurt). 4 | Siehe www.univie.ac.at/kritische-migrationsforschung/php/wir.php (Stand: 15.11.2010). 5 | Siehe http://kritnet.org/netzwerk/(Stand: 15.11.2010).
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6 | Siehe www.demokratie-statt-integration.kritnet.org/ (Stand: 15.11.2010). 7 | In einer 2007 von mir durchgeführten Studie über die Darstellung von Migrantinnen in Kärntner Medien zeigte sich ein ähnliches Bild: Migrantinnen wurden entweder als Täterinnen oder als Opfer dargestellt. Als Täterinnen erschienen die Frauen als besonders gefährlich, etwa indem ihr Verhalten mit ihrer Ethnie erklärt wurde und ihnen damit unterstellt wurde, sie hätten keine Kontrolle über sich. Als Opfer wurden die Frauen häufig in ihrer Rolle als Mütter dargestellt, die beispielsweise von der Abschiebung aus Österreich bedroht sind (Ratkovic’ 2007). 8 | Herczeg definiert Migrationshintergrund folgendermaßen: Personen, die entweder selbst nicht in Österreich geboren worden sind bzw. die zumindest über ein Elternteil verfügen, das aus dem Ausland nach Österreich gekommen ist. 9 | Vortrag am 22. September 2010 bei der Ersten Jahrestagung der Migrations- und Integrationsforschung in Österreich vom 20. bis 22. September 2010 in Wien. 10 | Siehe www.bumzeitung.com/bum-zeitung/(Stand: 1.11.2010). 11 | »Viyana« ist die türkische, »Becˇ« die serbokroatisch/bosnische Bezeichnung für Wien. In beiden Sprachen bedeutet »biber« »Pfeffer« – daher der selbstironisierende Name »Das Biber mit scharf«. 12 | »Mi« bedeutet »wir« auf Bosnisch/Serbokroatisch, der Titel kann aber auch als Wortspiel mit Migration gelesen werden. 13 | Siehe www.migay.at/(Stand: 1.11.2010). 14 | Vgl. ebd. 15 | Siehe www.maiz.at/(Stand: 1.11.2010). 16 | www.migrazine.at/content/ber-uns (Stand: 1.11.2010). 17 | Ebd. 18 | Siehe www.migrazine.at/(Stand: 1.11.2010).
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– ansieht, sind Rufe nach einer Ausweitung von StaatbürgerInnenrechten auf andere Formen nur selten zu hören. In Anbetracht dessen scheint das Aufkommen eines solchen Dokuments im aktuellen Kontext als bedeutsam, denn es bietet zumindest andere Interpretationen und könnte vielleicht auch ideengebend für neue politische Forderungen sein. Wie wir zeigen werden, geht es in der Politik der heutigen Mainstream-LGBT-Bewegung hauptsächlich darum, die heterosexuelle Serien-Monogamie zu kopieren, indem das Recht auf die gleichgeschlechtliche Ehe und andere rechtliche Institutionen gefordert werden – mit dem Ziel der »Gleichheit«. Um diese Gleichheit zu erreichen muss gezeigt werden, dass es sich bei Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen um »gute« und »normale« StaatsbürgerInnen handelt. Das heißt in gewisser Art und Weise, dass Gleichheit (»equality«) oft gleichgesetzt wird mit Gleichförmigkeit (»sameness«), mit sexueller Gleichförmigkeit – der/die gute StaatsbürgerIn ist gekennzeichnet durch bestimmte sexuelle Verhaltensweisen und Ideologien (langfristige Beziehungen zwischen zwei Personen, Ehe). Diese Idee von Gleichheit reflektiert allerdings nicht, dass in der sozialen Realität vielfältige Formen von Beziehungen bestehen, die nicht in dieses Korsett passen, weil es eigentlich das Korsett der Mittelklasse ist (und historisch gesehen war).
Soziale Normen der Vielfalt Eine der Stärken des oben erwähnten Dokuments ist seine prinzipielle Anerkennung der existierenden sozialen (aber nicht politischen) Realität. Die AutorInnen heben hervor, dass eine neue strategische Vision die verschiedenartigen Wege reflektieren und schätzen muss, durch die Menschen Liebe finden, Beziehungen aufbauen, durch die Gemeinschaften und Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung und Fürsorge begründet werden, wie Menschen ihre Haushalte formen und organisieren oder Familien und innovative Strukturen zur Unterstützung und zum Erhalt der Gemeinschaft gründen (Beyond samesex marriage 2006). Mit anderen Worten ist der Ausgangspunkt dieses Dokuments nicht eine symbolische oder politische Norm (die Ehe als Marker für eine StaatsbürgerInnenschaft erster Klasse und für soziale Anerkennung, wie es Seidman [2005] beschreibt), sondern die schon existierende soziale Norm einer Vielfalt an Haushalten und Familien. Die Innovation dieses Texts und gleichzeitig einer der grundsätzlichen Unterschiede zur Politik von LGBT-Organisationen ist
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die Umwandlung dieser schon existierenden sozialen Norm in eine politische Forderung, eine Forderung, die die Realität reflektiert und das Potential hat, über eine eng gefasste identitätspolitische Agenda hinauszugehen. Und tatsächlich formten sich Familien und Beziehungen in »spätkapitalistischen« Gesellschaften auf unterschiedliche Weise, denn sie waren die Auswirkung verschiedener sozialer Beziehungen, sexueller Praktiken, Lebensexperimente und politischer Vorstellungen. Die weite Verbreitung der Ehe als Beziehungsform kann eigentlich nicht durch eine existierende soziale Norm gerechtfertigt werden, und entlarvt sich somit als symbolische und politische Hegemonie. Und hier liegt ein Widerspruch vieler rechter und konservativer Bewegungen: Die »Krise der Familie« als eines der Hauptthemen dieser Bewegungen kann auf etwas zurückgeführt werden, das von konservativer Politik immer stark unterstützt wurde, nämlich auf den kapitalistischen Modus der Produktion. Kapitalistische Beziehungen hatten ambivalente Auswirkungen auf die Lesben- und Schwulenbewegung. Einerseits ermöglichte der Kapitalismus die materiellen Umstände für die Freiheit von Schwulen und Lesben, andererseits aber zerstört der Kapitalismus als System, das auf Ausbeutung zum Zwecke des Profits basiert, die Grundlagen dieser Freiheit.
Kapitalismus und die Familie(n) Schon Marx und Engels haben diese »Fortschrittlichkeit« des Kapitalismus, traditionelle soziale Strukturen (Familie und Ehe) und Lebensweisen aufzulösen, vorhergesagt: »Constant revolutionizing of production, uninterrupted disturbance of all social conditions, everlasting uncertainty and agitation distinguish the bourgeois epoch from all earlier ones. All fixed, fast-frozen relations with their train of ancient and venerable prejudices and opinions are swept away, all new-formed ones become antiquated before they can ossify. All that is solid melts into air« (Marx/Engels, zit.n. Hennessy 2002: 29).
In seinem Aufsatz »Capitalism and Gay Identity« überträgt John D’Emilio (1993) diese Logik auf Schwule und Lesben. Er verdeutlicht die Verbindung, indem er die Beziehung zwischen der Transformation der Familienstruktur durch den Kapitalismus und dem Aufkommen der homosexuellen Identität beschreibt. Kurz gesagt argumen-
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tiert er, dass die Familie in dieser Zeit ihren Charakter verändert hat – von einer Einheit, die Güter produziert, zu einer affektiven Einheit, die emotionale Erfüllung und Glück bietet (vgl. D’Emilio 1993: 496). Diese Entwicklung formte auch das Aufkommen der »plastischen Sexualität« (vgl. Giddens 1992), der vom Joch der Reproduktion befreiten Sexualität, und brachte eine Aufweichung der rigiden Geschlechterrollen mit sich. In letzter Konsequenz wurde Sexualität in den hoch individualisierten Gesellschaften des Spätkapitalismus eher zur »individuellen Sache« als zur »Familiensache«. So wie sich das Individuum vom »kollektiven Bewusstsein« (Durkheim) oder »SuperEgo« (Freud) befreite, befreite sich auch die Sexualität. Selbstverständlich forderte nicht nur der Kapitalismus die »Metaphysik« der Familie heraus. Auch die in den 1960ern aufkommenden neuen sozialen und kulturellen Bewegungen (Feminismus, Schwulenbewegung, Experimente in Kommunen oder andere »kulturelle« Revolutionen, die auf die Schaffung neuer Lebensstile zielten) trugen ihren Teil dazu bei (vgl. Weeks 2003; Engel 2002). Wie D’Emilio (2006) anmerkt, wurde das Leben vieler Heterosexueller in dieser Zeit dem imaginierten Leben Homosexueller immer ähnlicher. Und tatsächlich gehen weder Homo- noch Heterosexuelle heute nur mehr eine intime Beziehung, die ein Leben lang hält, ein. Sie formen mehrere intime Beziehungen während ihres Lebens, beenden sie, beginnen neue und so weiter (dieser Trend wird als Serien-Monogamie bezeichnet) und viele leben alleine. Und es gibt weitere Tendenzen in der Gesellschaft: Familie kann nicht länger mit Haushalt gleichgesetzt werden, auch nicht mit ehelichen Verbindungen – in letzter Konsequenz ist es unzulänglich, intime Beziehungen mit Monogamie oder Familie mit intimen Beziehungen gleichzusetzen. Beziehungsformen sind multipel, ambivalent und entweichen oftmals eng gefassten Identifikationen wie »homosexuelle Familie« und »heterosexuelle Familie« oder sogar »gleichgeschlechtliche Beziehung«.2 Aber trotz dieser Entwicklungen und in einem Kontext, in dem nicht einmal die stärksten VerfechterInnen der »traditionellen Familie« deren Werte ausleben,3 sind eheliche Beziehungen und darauf basierende Familien immer noch (rechtlich wie symbolisch) privilegiert und die erstrebenswerte Norm. Auf der anderen Seite, so scheint es, ist es Mainstream-Schwulen- und Lesbenorganisationen nur möglich, Forderungen zu einer sozialen Eingliederung zu formulieren, die eine eng gefasste Kopie dieses Ideals sind. Die vorstellbare »homosexuelle Person«, die nach Anerkennung und Einbeziehung im
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Staatsapparat trachtet, ist der oder die Mittelklasse-Schwule/-Lesbe, lebend in einem Haushalt mit zwei Einkommen und in einer langfristigen monogamen Beziehung (vgl. Drucker 2006). Judith Butler (2004) beschreibt dies als »lexicon of the state«, als eine Sprache, die die Mainstream-Organisationen annehmen müssen, um den (konservativen) Staat zu »interpretieren« und sich durch den (konservativen) Staat zu legitimieren. »To be legitimated by the state is to enter into the terms of legitimation offered there, and to find that one’s public and recognizable sense of personhood is fundamentally dependent on the lexicon of that legitimation« (Butler 2004: 105). Aber dieses Lexikon ist nicht ahistorisch und somit auch nicht nur rein »symbolisch« oder »diskursiv«. Es wurzelt in der Geschichte der Klassenbeziehungen und in der (ethnischen, nationalen und geschlechtlichen) Arbeitsteilung (Marx). Wer die (ökonomische und staatliche) Macht hat, hat auch die Mittel zur Produktion sozialer »Realität« und deren kultureller Ideologie (vgl. Hennessy 2000) und somit auch die Mittel zur Produktion von Sexualität (als einer Folge von bestimmten Wissenstypen über den menschlichen Körper und dessen Funktionen). In der Formation der bürgerlichen Klasse war Sexualität einer der distinktiven Marker um sich vom Adel und der ArbeiterInnenschaft zu unterscheiden. Die »bürgerliche« Sexualität wurde als zivilisiert angesehen (vgl. Binnie 2004: 17), als moralisch und rein. Damals wie heute wirkt sie durch eine »heteropatriarchale Matrix«, eine Ideologie, in der es zwei unterschiedliche Geschlechter gibt, die sich ergänzen und durch Heterosexualität in Verbindung stehen, was durch eine sozial, moralisch und gesetzlich anerkannte langfristige Form von Beziehung (Ehe) und Einheit (Familie) reguliert werden soll. In dieser sexuellen Ordnung war das »Andere« oder »Queere« das abweichende Subjekt, ein Subjekt konstruiert durch »wissenschaftliche« Diskurse und Praktiken, politisch reguliert durch Negation. »Ehrbare« Sexualität als eine Tugend war einer der wichtigen Marker für den »respektierten Staatsbürger« der aufkommenden Nationalstaaten.
Sexual Citizenship Obwohl das spätkapitalistische Individuum »nomadisch« wurde und sein Leben prekär (was stark auf die Modi und Veränderungen in der kapitalistischen Klassenzusammensetzung zurückzuführen ist) scheint diese »sexuelle Ideologie« immer noch symbolische Norm zu sein. Der/die »gute« StaatsbürgerIn, der/die es verdient, Teil
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der Nation zu sein, ist immer noch sexualisiert. Um gewisse Rechte und Anerkennung zugesprochen zu bekommen, müssen Lesben und Schwule in ein bestimmtes Muster der Sexualität passen. Diane Richardson (2005) bringt dies in Verbindung mit einem breiteren neoliberalen Verständnis (das in spätkapitalistischen Gesellschaften dominiert) und behauptet, dass die Politik des Sexual Citizenship (gleichgeschlechtliche Ehe) auf einer neoliberalen Sprache, einem neoliberalen Konzept basiert (»state lexicon«), das eine Politik der Normalisierung und Gleichförmigkeit (»sameness«) hervorbringt. Sie verwendet den Begriff »Gleichheit« (»equality«) um dies zu belegen. In neoliberalen Gesellschaften wird Gleichheit (»equality«) als Gleichheit von Ressourcen und Anerkennung verstanden, aber um diese Ressourcen zu erhalten, muss das Subjekt seine Gleichheit (»equality«) (mit Heterosexuellen) unter Beweis stellen. Dies geschieht durch eine Reihe von geteilten Charakteristiken (Zugehörigkeitsmarker, »markers of belonging«) – Gleichheit im Sinne von Gleichförmigkeit (»sameness«)4 – als Basis für die Legitimation der Forderung nach Rechten (Mitteln und Anerkennung). Um Zugehörigkeit zu rechtfertigen, ist zunächst zu beweisen, dass man ein/eine »gewöhnliche/r«, »normale/r« StaatsbürgerIn ist (vgl. Richardson 2005: 125f.), der/die nur legal anerkannt werden muss, um vollständig »gleich« (»equal«) zu sein; und dies wird erreicht durch eine amtliche Eintragung (Richardson 2005: 129) (also z.B. durch die Ehe). Die Konstruktion des Sexual Citizenship ist aufgrund mehrerer Umstände problematisch: • Die Vorstellung von Gleichheit/Gleichförmigkeit (»sameness«), die durch die normale StaatbürgerInnenschaft (Sexual Citizenship) reflektiert wird, negiert die bereits bestehende Realität einer Vielzahl von Familien und Beziehungen, die durch den Rechtsapparat ausgeschlossen und unsichtbar werden. • Die herrschende Vorstellung von StaatsbürgerInnenschaft wird nicht problematisiert, genauso wenig wie die Exklusivität dieses Ansatzes im Hinblick auf andere Differenzen wie Ethnizität (vgl. den Beitrag von Christine Klapeer in diesem Band). • Und was möglicherweise am wichtigsten ist: Die Bedeutung von »Gleichheit« (»equality«), die auf der Vorstellung basiert, dass bestimmte Rechte und Vorteile nur durch »eheliche« Beziehungen erreichbar sind (durch die Erfüllung einer Norm), wird nicht problematisiert.
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So stellt man sich einen weiter gefassten Begriff von Gleichheit wohl nicht vor. Die Hierarchie an Rechten wird nicht angerührt, stattdessen werden Schwule und Lesben dazu angehalten, in dieser Hierarchie höher zu klettern. Eine Verteilung von Macht und Vorteilen als »sine qua non« eines Gleichheitsanspruches kommt hier nicht zum Ausdruck. Im breiteren neoliberalen Kontext der Privatisierung sozialer und ökonomischer Güter (und somit von Rechten und Ressourcen) kann solch ein Verständnis von Gleichheit und politischem Aktivismus die Situation all jener Familien und Beziehungen erschweren, die nicht in die Vorstellung des guten »sexual citizen« passen. In »Beyond same-sex marriage« stellen die AutorInnen fest, dass Armut und ökonomische Erschwernisse weit verbreitet sind und dass sich die Einkommensschere zwischen Arm und Reich auf einer lokalen und globalen Ebene aufgrund der Gier von Konzernen, drakonischer Steuersenkungen und -erleichterungen für die Reichen und der Umschichtungen öffentlicher Geldmittel zugunsten einer Regulierung des lokalen und globalen Kapitals immer weiter vergrößert. Viele Menschen leben ohne Gesundheitsvorsorge, angemessenem Quartier und haben nicht genug zu essen.5 Die neoliberale Destruktion der sozialen und ökonomischen Basis von Gleichheit ist nun seit Jahren Programm und Lesben und Schwule sind davon nicht ausgenommen. Auch ist die Frage von Rechten für Lesben und Schwule nicht ausschließlich eine sexuelle Frage. Wenn die Rechte unter solchen Umständen mehr und mehr beschnitten werden (wenn sie individualisiert werden) und nur »eheliche« Beziehungen als Option überbleiben, dann macht das Erreichen der Ehe wenig Sinn. Das gilt speziell für ältere Schwule und Lesben und für all jene Beziehungen und Einheiten, die zum ökonomischen Überleben gegründet wurden, Verbindungen also, die die Umstände, Bedürfnisse und Hoffnungen jener Menschen reflektieren, die sie ins Leben rufen (Beyond same-sex marriage 2006). Folglich sollte das Konzept von Gleichheit im Sinne von rechtlichen und individualistischen Forderungen, auf eine Vorstellung von Gleichheit ausgeweitet werden, die auch die Klassenverhältnisse und den ökonomischen Kontext berücksichtigt. LGBT-Gruppen sollten die Rolle des Neoliberalismus (Kapitalismus) bei der Ausformung der ökonomischen und sozialen Sicherheit von unterschiedlichen Haushaltsformen anerkennen. Sie müssen die neoliberale Destruktion sozialer und öffentlicher Güter verstehen aber auch die disziplinierende Art und Weise, in der Sex-Politiken im neoliberalen Kontext konstruiert werden. Die Homo-Ehe kann dann nicht das einzige Thema sein,
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denn die Unterdrückung von Schwulen und Lesben gründet nicht nur darin, dass sie rechtlich nicht anerkannt werden. Zumal ist die Homo-Ehe auch nicht für jede/n erreichbar oder aber für viele keine Lebensoption.
Anregungen Für uns liegt das Neue und Besondere in »Beyond same-sex marriage« in den inspirierenden Anregungen für neue Visionen von schwulen, lesbischen aber auch noch breiter angelegten Politiken. Solche Anregungen könnten sein: • Die Lesben- und Schwulenbewegung und deren Politik als Teil von Bewegungen und Politiken, die für soziale Gerechtigkeit und gegen die neoliberale Privatisierung von Rechten kämpfen. • Die Reflexion der bereits bestehenden sozialen Realität einer Vielfalt von Familien als politisches Prinzip und politische Forderung von Bewegungen, um Rechte möglichst breit verfügbar zu machen. • Der Kampf für eine Gesellschaft, in der die Ehe (ob hetero- oder homosexuell) einer von vielen Wegen ist, durch den Haushalte, Familien, PartnerInnen und Verwandtschaftsverhältnisse Zugang zur zivilgesellschaftlichen Unterstützung und Fürsorge haben. Wir sehen diesen Ansatz als wichtig und innovativ an, da er • sich qualitativ von Ansätzen existierender LGBT-Bewegungen unterscheidet. Anstatt die Rechte an den Ehestand zu koppeln, verfolgt dieser Ansatz das Ziel, Rechte über verschiedene soziale Felder hinaus verfügbar zu machen sowie • den Inhalt (Fürsorge, Verteilung, Zufriedenheit) und nicht die Form von Beziehungen wahrnimmt. Dieser Ansatz denkt und balanciert zwischen realen und utopischen Momenten, die wichtig sind für soziale Bewegungen, die versuchen, die Gesellschaft zu verändern. Er ist zugleich reformistisch, indem er die »Ehe für alle« fordert (und sich somit an den Staat wendet), und subversiv, weil er im Kontext der neoliberalen Privatisierung als »empty term« operiert, der Platz lässt für das Aufkommen neuer Formen von Beziehungen. Anstatt die Debatte über Sexualität, intime Beziehungen und andere soziale Themen einzuengen, weitet er sie
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aus und hat somit das Potential, nicht Teil illusionärer »Fortschrittlichkeit« und »demokratischer Verzierung« zu sein und gleichzeitig an der Destruktion des Lebens unter dem globalen Kapital teilzunehmen. Der Ansatz hat unserer Meinung nach das Potential, echte Veränderungen in der Welt zu bewirken und unterdrückenden Machtverhältnissen entgegenzuwirken. Aus dem Englischen übersetzt durch Hannes Dollinger.
Anmerkungen 1 | Dieses Dokument wurde unter anderen unterzeichnet von Judith Butler, John D’Emilio, Anne Fausto Sterling oder Judith Halberstam (www.beyondmarriage.org). 2 | Wie könnte man beispielsweise eine »Familie« beschreiben, die aus zwei Männern, die in einer intimen Beziehung leben, und der Mutter ihrer Kinder beschreiben, oder eine »Familie« bestehend aus einem schwulen Mann und einer heterosexuellen Frau, die sich dazu entscheiden, gemeinsam Kinder großzuziehen, oder eine Beziehung, in der ein Kind drei Mütter hat – eine biologische, eine soziale und die Freundin der sozialen Mutter etc.? 3 | Ein Beispiel hierfür ist die ehemalige konservative Familienministerin und jetzige Regierungspräsidentin Kroatiens, Jadranka Kosor, eine geschiedene alleinerziehende Mutter. 4 | Peter Drucker (2006) meint, dass die StaatsbürgerInnenschafts-Agenda von Schwulen der Mittelklasse verfolgt wird, um ihre Differenzen zu heterosexuellen Männern der Mittelklasse zu minimieren. 5 | Heute wird dies augenscheinlich durch die »Rezension«, durch die wir uns mit steigenden Preisen, einer unsicheren Situation am »Arbeitsmarkt« und so weiter auseinander setzen müssen.
Literatur Binnie, Jon (2004): The Globalisation of Sexuality, London/New Delhi: Sage Publications. Beyond same-sex marriage: A new strategic vision for all families and relationships (2006), www.beyondmarriage.org/full_statement. html (Stand: 5.7. 2009). Butler, Judith (2004): Undoing gender, New York/London: Routledge.
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D’Emilio, John (1993): »Capitalism and Gay Identity«. In: David M. Halperin et al. (Hg.), The Lesbian and Gay Studies Reader, New York/London: Routledge, S. 467-476. D’Emilio, John (2006): »The Marriage Fight is Setting us Back«. In: The Gay and Lesbian Review Worldwide, November–December 2006, www.glreview.com/issues/13.6/13.6-demilio.php (Stand: 25.6.2009). Drucker, Peter (2006): Same-sex marriage and European neo-liberal agenda, conference speech at Socialisme et sexualité. Les socialistes et le mariage – Socialists and marriage, Paris 2006, www.iisg. nl/womhist/paris.html (Stand: 15.7.2009). Engel, Stephen (2002): »Making a Minority: Understanding the Formation of Gay and Lesbian movement in United States«. In: Steven Seidman/Diane Richardson (Hg.), Handbook of Lesbian and Gay Studies, London u.a.: Sage Publications, S. 377-402. Giddens, Anthony (1992): The transformation of intimacy, Cambridge: Polity Press. Hennessy, Rosemary (2000): Profit and Pleasure: sexual identities in late capitalism, New York/London: Routledge. Richardson, Diane (2005): »Desiring Sameness? The Rise of a Neoliberal Politics of Normalisation«. In: Nina Laurie/Liz Bondi (Hg.), Working the Spaces of Neoliberalism: Activism, Professionalisation and Incorporation, Malden/Oxford: Blackwell Publishing, S. 122-142. Seidman, Steven (2005): »From Outsider to Citizen«. In: Elizabeth Bernstein/Laurie Schaffner (Hg.), Regulating Sex: The Politics of Intimacy and Identity, New York/London: Routledge, S. 225-247 Weeks, Jeffrey (2003): Sexuality, New York/London: Routledge.
P RIVILEGING O PPRESSION . C ONTR ADICTIONS IN I NTERSECTIONAL P OLITICS Antonio (Jay) Pastrana, Jr.
Background and Introduction Race, class, gender, sexuality, sexual orientation, physical ability, native language, immigration status and more make up the complex mosaic that is identity politics in the United States. In the social sciences, differentiation is the term used to signal that differences exist.
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These differences are often identified, experienced, and quantified. They also serve as markers of separation that become convenient labels or constituents in larger social structures. Identity politics is what happens when differentiation is privileged. Related to this, stratification is that delicate, yet sometimes impenetrable, process of morphing difference into hierarchy – not simply allowing gender differences to exist, for example, but insisting that men are better than women, and in terms of sexual identity, that heterosexual is better than bisexual, or when looking at racial existence, that White is better than Latina/o. When identity politics and stratification merge, intersectionality is present and social identities become magnified, adding to the complexity. How have social scientists documented and analyzed the presence of coexisting social identities? This paper explores sociological investigations on role strain and its relationship to feminist definitions of intersectionality. Coexisting social identities have been used to forward understandings of how complexity appears in our lives. Though the proliferation of roles and identities accentuates possibilities, viewing these through the lens of multiple oppressions also contributes to a need for changing the overall social structure. In addition, this paper draws upon the intersectional imagination (Pastrana 2006), a term used to describe the analytic process that occurs when examining individual- and group-level oppressions based on identity. Starting with an understanding that individuals and groups are more than the sum of their parts, that each individual characteristic or constituent has the capacity to affect different outcomes, the intersectional imagination attempts to describe the ways that identities come together and are pulled apart. Ultimately, this paper asks: How do lesbian, gay, bisexual, and transgender (LGBT)1 leaders of color2 manage their personal intersectional politics and how does this affect or influence their work within the larger field of LGBT social movement organizing? Findings reveal that in placing their own racial identity at the center, research participants talked about how experiences of racism, homophobia, and discrimination within LGBT populations and within their own respective racial group affected their identities and their activism. Participants also talked about how their racial identities contributed to such things as increased visibility, ease of access to communities of color, and other such enabling effects. These forces also contributed to the formulation of newer and more
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innovative ways of doing the work of organizing and for realizing the links between coexisting identities and a call for social change.
Literature Review There is much debate on the impact and function of intersectionality. Historically, the social sciences have all but celebrated the positive impact of coexisting identities. Borrowing from Georg Simmel’s (1955) concept of »crosscutting social circles« that individuals navigate in their social interactions, Peter Blau and Joseph Schwartz, for instance, argue that »[c]rosscutting social differences put individuals at the intersection of a web of group affiliations that exert diverse and often counteracting pressures, weakening the hold any one group has on its members, widening the options of individuals, and increasing their freedom« (1984: 83f.). According to their argument, intersection often results in increased social interaction and in an ability to move about without being restricted by the lines of differentiation. When differences are consolidated, the opposite occurs: less movement and less interaction (Blau/Schwartz 1984).
Roles As Liberation Related to this proliferation of roles and in developing a theory of deviance, Robert K. Merton (1949/1968) explained that a typology of behaviors exists. This typology posits that individual and group actions are related to the means and goals prescribed by the larger social structure. According to Merton, the typology is a way of understanding how groups and individuals adapt to some of the social structural constraints present in any given society. In particular, Merton was interested in explaining how groups and individuals navigate or negotiate tensions that may arise when there is a converse relationship between societal means and goals. In so doing, Merton signals how social change and power may occur. Although seemingly hampered by structural forces, groups and individuals still have choices to make when fulfilling their goals. Such choices involve the rejection or acceptance of means or goals. For instance, »conformity« would be a total acceptance of means and goals, whereas »retreatism« would be a total rejection of both the means and the goals. Further still, Merton identifies »ritualism« as the acceptance of means and rejection of goals, while »innovation« is the rejection of means and acceptance of goals. Incidentally, Merton acknowledges that there is one more option
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that does not easily fit the typology: »rebellion,« neither accepting nor rejecting the means and goals. Clearly, for Merton, a group or individual has power over the environment and this power stems from the choice over how to fulfill the identified goals. Central to Merton’s understanding of power is his insistence on fulfilling needs, a common feature of the functionalist perspective in sociology. Similarly, in her assessment of the applicability of some of Merton’s other theories on the complexity of roles, Rose Coser (1975) found that having multiple roles can help individuals to create opportunities, rather than be limited by barriers. For Coser (1975; 1991), this is part of the gifts of modernity – that individuality increases and that individuals have more interaction options because of an increase in the number of roles that one person can possess. This concept of fluidity also comes up in such works as Robert J. Lifton’s (1993) The Protean Self, where it is argued that individual resiliency has the capacity to override the never-ending role fragmentation that is rampant today. Lifton (1993) takes the reader on a journey through history and details how various individuals psychologically make sense of the role fragmentation that occurs at various moments in their lives and how these individuals develop strategies to help them overcome the seemingly »odd combinations« that they engender. Further still, in her edited volume, Spouse, Parent, Worker: On Gender and Multiple Roles, Faye Crosby (1987) gathers a series of empirically-based studies on how married women and men manage multiple roles both in and out of the domestic sphere. One of the overall arguments is that for women, there is a benefit to having multiple roles, namely that a positive self-concept emerges and is supported. Still, the flipside of this is that women also sometimes experience strains in their marriages, as their roles continue to multiply. Clearly, this literature has a history of documenting how the existence of multiple roles can have a positive impact on the lives of individuals. Embedded in traditional sociological analyses of role strain and development, these researchers present a side of intersectionality that tends to highlight those times when having multiple identities is not so problematic after all. In fact, a general thrust of this body of research is that having multiple roles is common, has existed for quite some time, and provides a necessary function: it highlights how individuality continues to thrive within larger social structures.
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Roles As Oppression Conversely, more recently, scholars have begun to question the wisdom of such a one-sided approach to the effects of multiple roles or identities. Noted legal scholar Kimberle Crenshaw (1989; 1991) and sociologist Patricia Hill Collins (1990) helped to coin and develop the term intersectionality, a framework and a lens that assists in documenting how multiple forms of oppression affects identities and opportunities. Starting with the image of a traffic intersection, Crenshaw (1989; 1991) asks us to consider a person who experiences an accident at an intersection: that person is hit by forces from multiple directions. This traffic metaphor was used to help Crenshaw advance a need for individuals to report accidents when they happen. Writing from within the legal literature on battered women of color, Crenshaw privileges those times when oppressive forces come together at the intersections. Arguably, for Crenshaw, battered women of color often experience oppressive forces at the intersection of race (Black), class (lower class), and gender (women), to name a few. An important feature of this framework is that when oppression is experienced at an intersection, such subjugation is exacerbated in a multiplicative fashion, and not necessarily in an additive way. Certainly, this notion of complexity is very similar to how Coser (1975; 1991), Blau and Schwartz (1984), and Crosby (1987) conceptualized and measured the various ways that roles get produced or complicated in modern, industrialized settings. Collins (1990) further develops this framework of oppression by highlighting how Black feminist thought is created and transmitted. For Collins and Crenshaw, intersectionality privileges oppression. That is, intersectionality exists when multiple forms of oppression affect people, whether as individuals or as members of a group that experiences oppression. This conceptualization of multiple identities differs from that of the more traditional sociological literature on role complexity in that intersectionality, as developed by Crenshaw (1989; 1991), Collins (1990), Brewer (1993), McCall (2005), and other feminist scholars, specifically targets those places where more than one form of subjugation is present. So, instead of examining the existence of multiple roles, recent intersectionality scholarship attends to the existence of multiple forms of oppression. This is important for the development of role strain theory because it introduces the notion that people and groups exist at intersections where more than one oppressive force operates. Collins (2003) further argues that it is
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within this matrix of domination that Black women develop groupbased epistemologies. While Crenshaw’s intersectionality calls for a proliferation of reporting when and how accidents occur at various intersections, Collins’ intersectionality attempts to show how these accidents help to shape the ways in which people, especially Black women, develop worldviews or knowledge. Within the two broad approaches to complexity outlined above – whether it mainly focuses on how roles come together or on how oppressions come together – scholars have acknowledged that individuals and groups are capable of managing the complexity. For the role strain theorists, this management comes in the mostly unproblematic ways that individuals can choose a role in order to achieve success, while for the intersectionality theorists, this management comes in the ways that knowledge is produced and in the ways that oppressions get documented. A feature of the intersectional imagination (Pastrana 2006) is that people who experience multiple forms of oppression also link these to a need for a change in the structures that contribute to their oppression.
Collecting Data on Roles In order to best understand these seemingly contradictory stances on the multiplicity of roles, qualitative data were collected and analyzed. Although more data are needed to further develop the intersectional imagination theory, some research participants forwarded a need to change the dominant social structures. Role strain theorists are interested in showing how social structures are not as damaging to the individual. That is, having concurrent and crosscutting roles and identities is not such a strain on individuality at all. Related to this, my research attempts to show that those who experience multiple forms of oppression also carry with them an analysis that aims to break away from the dominant ways of being. In other words, those who utilize the intersectional imagination are also forwarding a social change agenda. All research participants either talked about experiencing multiple forms of discrimination, bias, and oppression, or they belonged to groups that do. While the role-strain theorists identify how groups and individuals can experience fluidity and freedom, the intersectionality theorists often lead to conclusions that oppressions exist, and they are managed and survived. What the intersectional imagination (Pastrana 2006) stresses is how groups and individuals can promote
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change and experience success within systems of oppression. This paper provides empirical data on how this is done. Clearly, these bodies of research and literature are tied to the development of intersectionality as a framework, as a method of inquiry, and as a lived experience. Along one axis is the idea of multiplicity (of identities and of roles) and how sociologists have conceptualized and operationalized it. Toward one end there is the scholarship on crosscutting social circles and role strain, while on the other end there is the scholarship on oppression and current manifestations of intersectionality. Groups and individuals navigate these things in similar ways: there are clearly some ways in which multiplicity can benefit groups and individuals. Still, along an intersecting axis there is a notion of the social structure in which groups and individuals operate. Toward one end, there is support for the existing social structure (whether it is labeled acceptance or assimilation) and on the other end there is a challenge to the social structure (whether it is labeled rejection or social change). This axis and theoretical model is meant to illustrate how the existence and experience of multiple identities has been examined by the sociological literature on role strain and intersectionality. It is used here to emphasize a recent (or evolutionary) thrust that calls for a push away from support and toward change of the larger social structure. These distinctions may, unintentionally, perpetuate the false dichotomy it is attempting to address or dispel. In other words, it may not be an issue of »either/or« but »both/and,« which is why plotting these sociological discussions as points along two intersecting and continuous axes is helpful. Here I propose that just as race, class, and gender work and are worked differently, by different people, at different times, the same is true for intersectionality and, thus, intersectional politics. And key to these distinctions is an analysis of the larger social structure: Is the aim to continue to support existing social relations, or is the aim to change these relations? Overall, responses from research participants in this paper contain both of these perspectives. That is, while some articulated a need to work within currently-existing social structures (of oppression), others advanced a need for changing these structures. The data presented in this paper further support earlier theorizing and investigations about the intersectional imagination (Pastrana 2006) by showcasing how race can serve as a conduit and barrier within social movement organizing efforts. Though current research on the multiplicity of
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roles inadequately accounts for how individuals successfully navigate oppressive social structures, the research presented here attempts to link positive identity management to the theoretical fields of intersectionality and writings on role strain. Though more research is needed in order to empirically test some of these relationships and connections, the data that follow attempt to address these theories and lived experiences of LGBT leaders of color.
Data and Findings In order to best understand the connections between role strain and intersectionality, qualitative data were collected between 2006 and 2007. These consisted of seven semi-structured, in-depth interviews in 2006 and four focus group sessions in 2007 with both nationallyand locally-recognized lesbian, gay, bisexual, and transgender (LGBT) leaders. Arguably, leaders have the capacity to interpret and decipher goals and meanings within social movement settings. Ultimately, 55 people participated in this research endeavor. All research participants had experience working with racial justice and sexual identity issues and organizing. While all research participants viewed themselves as leaders in their communities, not all of them worked directly for or within LGBT organizations. Instead, many regularly participated in social and political networks and, thus, can be considered to be informants or informal leaders – social movement actors who do not necessarily work for formal social movement organizations. Eliciting insights about the role of race in LGBT organizing, this research locates how race affects LGBT social movement organizing, from the perspective of leaders. Both the in-depth interviews and the focus group sessions asked participants to expand upon some strategies that they have found useful in their daily experiences as leaders and as people of color. In this way, the questions sought to identify the kinds of strategies that intersectional organizing demand. Therefore, two main research participant characteristics included a non-White racial/ ethnic identity and a recognized leadership status within lesbian, gay, bisexual, and transgender (LGBT) populations. The focus group sessions were tailored to target specific issues and debates relevant to those who participated and to the city at which the session was held. The questions were also informed by many of the issues and themes that arose from the in-depth interviews conducted a year earlier. All together, four focus group sessions were conducted in
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Chicago, Illinois; Detroit, Michigan; Cleveland, Ohio; and Columbus, Ohio3 during the spring of 2007. Because this research targets leaders of color within LGBT social movement organizing, convenience and purposive sampling techniques were employed. As leaders, these research participants are in a unique position to interpret and communicate phenomenon pertinent to organizing efforts.4 The goal of this research is not to arrive at generalizations about race within indigenous LGBT organizing efforts but rather to understand how racial dynamics affect the ways in which non-White LGBT leaders interpret movement goals, strategies, and agendas.
Race As Conduit In his examination of how some Blacks experience middle class existence, Ellis Cose (1993) notes that a rage develops due to conflicting notions of success. Prosperous Blacks continue to perceive that their jobs and their identities are viewed with prejudice. This, according to Cose (1993), is what contributes to heightened levels of frustration, even for Blacks who are economically prosperous. Cose’s subjects are at the intersection of race (Black) and economic status (middleclass), and when viewed in tandem, these individuals identify that they are frustrated and angry because of the ways in which they are perceived by others. Like some of the research participants in this paper, Cose’s subjects are able to enjoy some benefits (due to their economic class, for Cose, and due to their positions as leaders, for this paper). Still, the experiences of Cose’s subjects notwithstanding, and more germane to this paper, the question rises: How does intersectionality work for this sample of lesbian, gay, bisexual, and transgender (LGBT) leaders of color? For these research participants, their multiple identities have been a conduit. More specifically, being a person of color in LGBT settings, and being a LGBT person in non-White settings has helped them in some ways. Anonymous written responses were collected from focus group participants on how their racial identity has helped them to do their activist work. Asking this question is itself a nod to employing an intersectionist approach. Consider, for instance, Crenshaw’s initial goal in forwarding an intersectionist agenda. Part of her thrust was to get women to report the »accidents« – those times when they experienced multiple forms of oppression. Similarly, while privileging racial identity, this research asked participants to talk about how they benefit and how they lose out, how their racial identity has helped
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them and hindered them. Below are some responses to the question about how race has helped participants in their work as leaders: »[My racial identity] provided a ›face‹ and ›voice‹ to make LGBT issues less foreign and more relevant and connected within my racial community. And it offered a perspective that makes the message – whatever that is – heard rather than dismissed« (Clarice, Chicago Focus Group Participant).5 »With my ethnic background, I added diversity into the work. I contribute my concept and idea to the mostly white environment« (Loretta, Cleveland Focus Group Participant).
While Clarice highlights relations within a non-White group, Loretta mentions relations within a White environment. For both of these participants, their non-White identities serve as conduits for increased interactions with those groups. Being a lesbian or gay person in nonWhite environments helps because it adds diversity to the non-White group (representation). In this way, these responses are similar to what early role strain sociologists were arguing – that, sometimes, having seemingly disparate (and multiple) identities can ease or foster mobility and interaction. Note that in the responses above, there is no mention of changing the dominant social structure. Still other responses included the following: »Sometimes being the ›only one‹ helps your opinions to be heard, but not necessarily listened to!« (Kathy, Chicago Focus Group Participant). »My racial identity helped me because I fit so many boxes. I can be the flavor of the month for a whole year! I get to be a part of many things« (Sam, Columbus Focus Group Participant).
For Kathy and Sam, being the only non-White person in certain environments makes it easier to be included in a variety of events. The implication here is that this ease of access would not exist as prominently if it were not for their non-White identity. Also, being a person of color assists in gaining attention. The implication here is that since there are not many people of color within these arenas, whenever one is present, s/he is so unique that s/he tends to stick out from among the largely White voices. Later, we find that this may also contribute to a sense of tokenism and to a lack of incentive on the
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part of White-led groups and White people to look for more diversity within LGBT people of color populations. Again, for these two participants, there is no explicit mention of changing the dominant social structures of oppression. And still another focus group participant reported: »Being African American has started me from a cultural place of questioning the way things are instead of simply accepting that because they are a certain way, they should continue to be that way.« Here is the presence of the intersectional imagination. It is »intersectionality+« – an acknowledgement that multiple forms of oppression are at play and that this helps in formulating an agenda that challenges current social structures. This is unlike Clarice, Loretta, Kathy, and Sam (see above), who seem to be going along with whatever the social structure provides. In addition, several of the seven in-depth interviewees contributed the following about how their racial identity has helped them in their activist work. Because the in-depth interviews focused on prominent people and their interpretations of social phenomena, confidentiality was not very necessary, but it was maintained upon request. »I’m South Asian, which is in itself a huge Diaspora and what does that mean? So the specifics of my daily experience inform the work that I do in terms of how I move in this world as an American on some level – an American-identified immigrant, with a particular class history, with a particular military lineage to my family. So there’s the cultural, religious, and economic parts of me – all of those are parts of me. And it has informed the work I do on a positive level. It allows me to understand that things are complicated and complex and things don’t fit neatly into small packages, or big packages, and that it’s really important to have to be able to articulate people’s different experiences. To honor them and be strategic at the same time – it’s like learning from our own experiences and trying to bring out the nuances at the same time« (Surina Khan, lesbian of Pakistani descent and former executive director of a national LGBT organization in the U.S.). 6 »I walk around in those identities every single day – as a woman, as an African American woman, as a lesbian. For me, it helps me kind of get it that it can’t be about just the gay thing. There’s just too much life experience that’s been a part of who I am or anyone who is a woman or a person of color. You just bring a different sensibility to the organizing…
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It just brings a different reality, a different gravity about the situation and understanding that it just can’t be about me, my, and what I want for me. And that’s really been helpful« (Mandy Carter, Black lesbian and veteran social justice activist and [co-]founder of several LGBT local and national organizing groups).
Here, Khan and Carter’s responses are important because they both highlight two aspects of the intersectional imagination: 1) an acknowledgement that identities and experiences are multifaceted, complicated, and cannot be easily disentangled; and 2) an understanding that these experiences affect more than just the objects of oppression, but rather that others must be experiencing this as well. While the first underscores the particularizing nature of discrimination, the second opens it up to showcase the universalizing effects of oppression. Are the experiences of these research participants reflective of the experiences of their counterparts who are not leaders? In other words, are LGBT activist environments truly safe havens for all people of color, or only for those who, through whatever means, become local and national leaders? If the grass is green for the talented tenth,7 for example, what color is it for the remaining ninety percent? Though much of the literature on LGBT populations of color stresses the existence of discrimination and other forms of oppression, due to a paucity of generalizable data, such studies fail to accurately document the ways in which some of these populations make positive use of their intersectional identities within structures of oppression. For instance, the most recent social scientific studies to target non-White LGBT populations in the U.S. collectively reveal that discrimination is a prevalent feature of their lives. According to Battle and colleagues (2002), for Blacks, almost a third (31 percent) of respondents reported negative experiences in White LGBT organizations, and almost half of the respondents (48 percent) agreed that racism was a problem when dealing with White LGBT populations. Also over a fifth (22 percent) had negative experiences with the larger (heterosexual) Black population (Battle et al. 2002). Similarly, Diaz and Ayala (2001) found that for Latino gay men, a majority (62 percent) of respondents reported experiencing ethnic sexual objectification, and slightly over a quarter (26 percent) reported being uncomfortable in White spaces. And according to Dang and Hu (2005), for Asian Pacific American populations, a majority (82 percent) of respondents agreed that
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racism is experienced within White LGBT populations. Experiences of discrimination, like Cose’s (1993) rage, are about more than statistics. These experiences come from »the felt experiences of everyday life, from lessons learned in run-of-themill human encounters, from the struggles and disappointments of family members and peers. It comes from learning that one can never take the kindness – or the acceptance – of strangers for granted; from resentment at being judged at every turn, if only in part, for one’s complexion instead of oneself« (Cose 1993: 40).
These studies seem to suggest that in their interactions with White populations, LGBT people of color do not necessarily experience greater freedom or individuality. The leaders who participated in the in-depth interviews and in the focus group sessions, therefore, may help in understanding how identities can be used successfully in order to navigate within these oppressive social structures. Though the data cannot tell us whether these insights are due to the fact that the participants in this research are leaders, they can be used to show that some people are indeed being strategic about the ways in which they deploy their multiple identities and how multiple forms of oppression affect these strategies. The finding here is not that there is a group of people using their identities strategically, but, rather, that people can do so within structures of oppression. And this can be understood further if and only if researchers look for these types of relationships and ask questions around these issues. Such questions are especially important when investigating oppression. Noted feminist and legal scholar, Mari J. Matsuda (1991), put it this way: »The way I try to understand the interconnection of all forms of subordination is through a method I call ›ask the other question.‹ When I see something that looks racist, I ask, ›Where is the patriarchy in this?‹ When I see something that looks sexist, I ask, ›Where is the heterosexism in this?‹ When I see something that looks homophobic, I ask, ›Where are the class interests in this?‹ Working in coalition forces us to look for both the obvious and non-obvious relationships of domination, helping us to realize that no form of subordination ever stands alone« (1189).
Within the context of this paper, which broadly examines how oppression operates within LGBT activist environments, explicitly
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asking about how one’s non-White racial identity both helps and hinders activist work is a part of what Matsuda (1991) argues is necessary whenever studying subordination. At first glance, it may seem that this research asks participants to consider some of the positive aspects of domination, but, in fact, in asking this »other question« (How has your racial identity helped you to do your work?), there is an attempt to understand and document how people strategize and manage oppression. Participants were asked to share the ways in which they navigate multiple systems of oppression. This is done in an attempt to understand how power manifests itself, even in the midst of adversity.
Race As Barrier No matter, even for that talented tenth – which again, here, are those individuals who are leaders of color within the LGBT movement – they themselves are not completely free from oppression. What is the cost of getting in a position to truly benefit from being acceptable to the larger, White establishment? The following is a set of responses collected when focus group participants were asked to consider how their racial identity has hindered their work. »Finding allies (within my racial group) is often fraught with issues of trust and insecurity. I wonder if people think that my sexual orientation issues will overshadow or jeopardize my relationships with family and community« (Ray, Chicago Focus Group Participant). »People think I need to pick which cultural identity will take precedence over another, even when I refuse to do that« (Peter, Detroit Focus Group Participant).
In thinking about his non-White racial identity, Ray identifies sexual identity as something that may be more of a hindrance. Across all four focus group sessions, in fact, some participants answered similarly. That is, when asked specifically about how their racial identity has affected their work, some identified that their gender was more of an issue, or their language abilities was an issue, or that their accent was an issue. Both Peter and Ray show how intersectionality is experienced: sometimes when asked about only one of the many oppressed identities, individuals wind up talking about another of their oppressed identities. Separating these identities and experiences
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may be virtually impossible, further supporting the intersectionist stance – that multiple forms of oppression are inextricably linked and difficult to unravel. Next are two responses that highlight some of the difficulties associated with interpreting how others view one’s own racial or ethnic identity: »My assertiveness is often interpreted as aggressive or not passive enough. And my racial identity has cost me promotions« (Ana, a Latina lesbian from Chicago). »I feel that my racial/ethnic identity has had a huge influence on the way I interact with my co-workers and the way they view and treat me. I often feel as if my racial/ethnic identity has caused my coworkers to underestimate my ability to do the job« (Mimi, an Asian lesbian from Cleveland).
Though somewhat privileged by their leadership positions, these focus group participants and others like them admitted that they also perceive and experience negative reactions within the largely Whitedominated arena of LGBT activist work. In addition, some of the indepth interviewees had the following to say when they considered how their racial identity has affected their work as activists. Though they were specifically asked about how their racial identity has served as a hindrance, these leaders talked about some of the enabling effects of race: »I’m sure [my racial identity has] hindered me in some way, but I tend to think that it has actually inspired me more than it has hindered me« (Keith Boykin, Black gay man and [co-]founder of several Black LGBT local and national groups). »I can’t really think of a time where it’s hindered ME. I think that I have weathered some attacks that I think come from people’s own racism. But I wouldn’t say that that’s hindered me. I think it’s comfortable« (Surina Khan).
Here, while Boykin indicates that his racialized experience helps to »inspire« him, Khan reports that it is »comfortable.« Certainly, these observations support the general thrust of Blau and Schwartz’s (1984) work on crosscutting social differences. Still, while this may
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seem surprising, given some of the high rates of racial discrimination reported in recent social scientific studies on LGBT people of color populations, such experiences are important to note because they indicate that within structures of oppression, some people do not consider their non-White racial identity to be a problem in forwarding their work as leaders in a mostly White-led LGBT social movement. What are leaders doing differently such that race is not considered to be a hindrance? One possible answer to this may be found in the ways in which these leaders invest in, and deploy, some of their other identities – like class, sex, education etc. – in order to increase mobility within the realm of social movement organizing work. This would be an example of how crosscutting social differences intersect (Blau/ Schwartz 1984). Also, could it be that the rank-and-file LGBT people of color are doing similar things but that those experiences are not being documented? Clearly, this is a question whose answer is beyond the scope of this paper, and it is an area worthy of future research. Whereas Boykin and Khan reported positive aspects of their racial identity, such interpretations are not universal. Mandy Carter, for instance, said the following: »I can tell you one way [my racial identity has] hindered me. One is that I’m still baffled by the fact that in the year 2006 we only have the National Black Justice Coalition as the only single national [LGBT] people of color organization in this country… And I’m also wondering if funders would be willing to invest more into LGBT of color organizations and infrastructure and training, we would have so many more [organizations]. We’d have a larger pool of people too… But there’s almost like this laziness of just coming back to the same people over and over and over again, versus trying to get a larger pool – more exciting and dynamic pool – of LGBT of color organizers and allies. Race continues to be, in the queer movement, a huge issue.«
Here, Carter uses the »only one« response that was used by focus group participants, earlier, who claimed that their racial identity helped them to do their work. Being the »only one«, and in Carter’s case she is talking about the only national Black LGBT organization (the National Black Justice Coalition, NBJC), can also serve as a hindrance, mainly because it supports the belief that there is no diversity within non-White (in this case, Black) LGBT populations or groups. Carter points out that viewing organizing through the
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lens of race sometimes supports a »usual suspects« or »tokenism« mentality, that whenever a Black LGBT issue arises, White-led LGBT organizations use old and overused Rolodexes.
Articulating The Intersectional Imagination In this paper, I see where both camps of intersectionality exist – those who argue that having multiple roles produce more opportunities and those who argue that intersecting identities often exacerbate or complicate experiences of oppression. There are indeed other issues that merit investigation in this intersectionality debate and exploration. Though the participants in this research are all leaders, it is still not clear whether or not these management strategies or views on how racial identity can serve as a barrier or conduit to activism are purely a function of their status as leaders. Certainly, however, by understanding how leaders navigate intersecting or crosscutting social identities and oppressions, further hypotheses can be explored about the larger population of LGBT people of color. That is, how are these talented tenth, LGBT leaders of color, using their capital – racial, gender, sexual orientation, access, or otherwise? Is diversity more than simply non-White faces in high places? Are these particular leaders agents of change, are they perpetuators of the status quo, or some combination of the two? And if so, how are they actors in that process of change or status quo versus how are they simply being acted upon? Regardless of the answer to these questions – some of which have been explored here and others that go beyond the scope of this paper – the exploration itself is an important one. In other words, it is not always as important to get the correct answers as it is important to ensure the correct questions are being asked in the first place. And it is in that space where intersectionality shines brightest. Though the research participants in this paper shared ideas and experiences that can be placed in both of these categories (supporting the status quo versus advocating for change), the further articulation of the intersectional imagination contains a thread that advances a need for social change. As examples of the need for change, consider the following, from other research participants. »First, I think that what needs to be understood is that race is not a demographic characteristic of people, but people need to understand that the process of racialization creates further divides and creates discrimination and competition among different groups…
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So we need to move away from the ethnic politics to understand race as a socially constructed process that has political and economic meanings and that we all are participating in those racialization processes. And we need to do this in the context of coalition, that it’s not JUST about Latinos or JUST about this or about that, but it’s about us coming together… We need to critique the politics of the LGBT agenda that just want us to be part of the table without critiquing the table. We need to join the larger war against injustice« (Rafael Diaz, Latino gay man and founding director of the Cesar E. Chavez Institute). »LGBT POC [people of color]-specific organizations tend on the whole to be more comfortable talking about racism and ethnocentrism in the Whitedominant LGBT community than they are talking about homophobia and transgenderphobia in communities of color. As queer people of color we certainly need to be at the forefront in addressing homophobia and transgenderphobia in communities of color. We cannot shirk that responsibility« (Pauline Park, Korean-born transgender woman and [co-]founder of several local and national advocacy organizations).
And, finally, Rosa, a South Asian lesbian reported the following: »The problem with ›racial justice, sexual orientation, and gender identity‹ is that those are the only ways in which we can make our struggles legible within public discourse today. Funding, for instance, is entirely dependent on the extent to which we can claim oppression based on identity politics. And even when we talk about economic injustice, we find ourselves reduced to adopting ›class‹ as just another identity formation – so, for instance, we start asking for funding in order to record the lives and experiences of ›working class life.‹ None of that gets at the systemic root causes of economic inequality. We need a new set of paradigms.«
Each of these leaders articulated a need for a change in the current social structures, with regard to the everyday ways that people experience, organize movements around, and combat race-based oppression. Because each of these leaders identified strategies that question the dominant ways of being and saw the need to include other forms of oppression whenever combating race-based subjugation, they are employing and articulating the intersectional imagination.
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Conclusion In 1984, Paula Giddings’ book When and Where I Enter: The Impact of Black Women on Race and Sex in America infused the contributions of Black women into the history of the United States. She uses a Black feminist lens to view historical events and contradictions, with the intent of not only informing minds, but also changing them. This was a purposeful lens that highlighted some of the triumphs and injustices that Black women encountered. Similarly, in Race Matters, Cornel West (1993) invites, encourages, and at times requires his reader to engage the world through a particular lens – one that highlights racial identity and racialized existence. Similar to the efforts of Giddings (1984) and West (1993), intersectionality and the intersectional imagination (Pastrana 2006) – as best evidenced by the perspectives and debates of those who choose to emphasize how an intersection can serve as a way of supporting individuality (conduits) and those who continue to document how an intersection further complicates already-existing forms of oppression (barriers) – invites an even broader audience to privilege certain types of questions that may be difficult to ask. Among these are questions that not only ask when and where but also how do race, gender, and sexual identity matter, and how do their intersections matter? As social scientists and others continue to document the ways in which roles, identities, and oppressions crosscut, intersect, or otherwise overlap, it is important to make note of the instances when people manage these with success. Further, while navigating the web of complexity, new understandings about larger social structures and their influence over individuals and groups become more apparent. Early sociological investigations about role strain contributed to our understandings of how the multiplicity of roles affects people. More recently, theories on how multiple oppressions operate in the lives of people of color have helped in developing indigenous epistemologies and in urging us all to document when and how these forms of oppression exist. This paper has focused on the ways in which a group of people who face multiple forms of oppression continues to lead. Within non-White populations or within LGBT populations, all research participants for this paper reported ways in which they manage their identifiers and thrive. This challenges, and thus calls for more dynamic analyses of, how oppression is conceptualized. To be clear, oppression exists and
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it negatively affects everyone. However, within systems of oppression people are surviving and thriving. They are creating new formations. They are making the links between their personal struggles and those of the larger groups to which they belong. They are continuing to talk about how they are oppressed, but they are also clear about how they benefit. The task for researchers and for anyone interested in the study of oppression is to learn to ask about positive identity management. The study of intersectionality must incorporate how success and resilience is conceived, birthed, nurtured, and ultimately reproduced.8
Notes 1 | Throughout, the term »LGBT« is used to refer to lesbian, gay, bisexual, and transgender individuals, populations, and social movement organizing efforts. Though each of these groups has its own rich and vast history of organizing, this paper is concerned with efforts that conceptualize this population as a collective group. 2 | »Non-White« and »people of color« will be used interchangeably and will refer to people who do not readily identify as White. Research participants in this paper, for instance, include people who identify as Asian, Black, Latina/o, and Middle Eastern. 3 | According to demographer Gary Gates (2006), the Midwest of the United States reported the largest increase in the number of same-sex couples recorded by the Census Bureau. 4 | For more on why LGBT leaders of color are appropriate for the study of intersectionality and intersectional politics, see Pastrana (2006). 5 | In order to preserve confidentiality, pseudonyms were created for the written responses collected at each focus group session. 6 | In-depth interviews were conducted with Keith Boykin, Mandy Carter, Rafael Diaz, Andres Duque, Surina Khan, Pauline Park, and Urvashi Vaid. 7 | W.E.B. DuBois’s (1903) article titled »The Talented Tenth« argued that it is important to support the educational efforts of the top tenth of the Black population because that is from where the new leaders will come. 8 | Published with the kind permission of The Western Journal of Black Studies (where the article was previously published in 2010 [34 (1): pp. 53-63]).
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M ULTIKULTUR ALISMUS – SCHLECHT FÜR F R AUEN , GUT FÜR M ÄNNER ? K ONSTRUKTIONEN › FREMDER M ÄNNLICHKEIT‹ IN LIBER ALEN UND POSTKOLONIALEN FEMINISTISCHEN M ULTIKULTUR ALISMUSDEBAT TEN Paul Scheibelhofer »Einer polnischen Krankenschwester oder einer slowakischen Technikerin ist der Vorzug vor ungelernten Hilfskräften zu geben, in deren Kulturkreis es üblich ist, der Ehefrau zu verbieten, arbeiten zu gehen, und die ihren Töchtern Kopftuch statt Bildungschancen geben. Von der zweiten Kategorie haben wir mit Sicherheit zu viele, von der ersten zu wenig.«1
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Konstruktionen fremder Männlichkeit und die ›Krise des Multikulturalismus‹ Dieser Artikel entstand vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass Konstruktionen ›fremder Männlichkeit‹ heute offensichtlich ein wesentlicher Bestandteil von Diskussionen rund um Zuwanderung und Integration darstellen. Mit Blick auf den deutschsprachigen Raum lässt sich erkennen, dass die Figur des männlichen, türkisch-muslimischen Migranten – mal impliziter, mal expliziter – eine zentrale Rolle in der Verkörperung ›problematischer Migrationserscheinungen‹ spielt. Dabei zeigt sich freilich, dass diese Konstruktionen nicht völlig neu sind, sondern vorhandenes (Kolonial-)Wissen und dadurch legitimierte Herrschaftspraktiken aufgreift und unter veränderten sozialen Bedingungen fortführt (vgl. Ha 2009). Bezeichnend für aktuelle Konfigurationen rassistischer Wissensbestände ist dabei ein graduelles Abwenden von reinen Abschottungspolitiken und aufgreifen von moderner wirkenden Projekten des Management von Migration, Integration und Diversität (vgl. Neuhold/Scheibelhofer 2010). Denn, auch wenn rechtliche Regelungen in vielerlei Hinsicht weiterhin auf nationale Abschottung und Entrechtung von MigrantInnen ausgerichtet sind, lässt sich erkennen, dass ein Ignorieren der Migrationsrealitäten für MachthaberInnen und TheoretikerInnen in Europa weitgehend nicht mehr möglich ist. Oftmals mit selbstkritischem Verweis auf frühere Versäumnisse in der Migrationspolitik wird nun also umso resoluter eine ›Gestaltung‹ der Migration gefordert (vgl. Amir-Moazami 2009). Diese Gestaltung, so sind sich KommentatorInnen praktisch aller ideologischer Lager einig, dürfe dabei nicht als ›Assimilation‹ missverstanden werden. Jedoch müsse auch ›Multi-Kulti-Träumereien‹ eine Absage erteilt werden, da diese zu Parallelgesellschaften geführt hätten, in denen sich problematische MigrantInnenkulturen ungehindert tradieren konnten (vgl. Ronneberger/Tsianos 2009). In diesem Zusammenhang erlangten Verweise auf Geschlechterverhältnisse unter MigrantInnen erhöhte Aufmerksamkeit und avancierten gleichsam zum Gradmesser der Integration (bzw. ›Integrationsfähigkeit‹) von MigrantInnen bzw. ganzer MigrantInnencommunities. Feministische Kritiken am Multikulturalismus rücken damit ins Zentrum dieser Diskussionen. Jedoch ist zu beobachten, dass es lediglich bestimmte feministische Positionen in den Mainstream schaffen, während andere Kritiken ungehört bleiben. Wie noch zu zeigen sein
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wird, führt dieses selektive Aufgreifen bestimmter feministischer Multikulturalismuskritiken zu Konstruktionen ›fremder Männlichkeit‹, die im Sinne einer antirassistisch-emanzipativen Forschung als höchst problematisch erkannt werden müssen. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen werden im Folgenden unterschiedliche Formen, wie ›fremde Männlichkeit‹ in feministischen Multikulturalismuskritiken konstruiert wird, herausgearbeitet und in Bezug auf ihre Implikationen für eine kritische, politisch engagierte Forschung besprochen. Die feministische Debatte um Multikulturalismus ist mittlerweile stark ausdifferenziert und so muss die hier angestrebte Darstellung auch einigermaßen abstrakt bleiben. Ich orientiere mich dabei an der von Ayelet Shachar (2007) vorgeschlagenen Einteilung der Debatte in liberale, multikulturalistische und postkoloniale Zugänge. Die Differenzen zwischen den ersten beiden Zugängen erscheinen mir jedoch bei kritischer Betrachtung nicht so groß, wie von Shachar (die sich dem multikulturalistischen Zugang zurechnet) propagiert. Und so erscheint mir eine Differenzierung in liberal-universalistische, liberal-multikulturalistische und postkoloniale Zugänge als eine bessere Beschreibung der tatsächlichen Diskussion. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, welche Konstruktionen ›fremder Männlichkeit‹ diesen Zugängen zugrunde liegen.
Liberal-universalistische Kritik und die Gefahren importierter Kulturen Von den drei hier dargestellten Zugängen geht die liberal-universalistische Kritik am deutlichsten von einer Inkompatibilität feministischer und multikultureller Forderungen und Politiken aus. Basierend auf dem liberal-feministischen Verständnis der Gleichheit der Geschlechter, die vor allem über politisch-juridische Gleichstellung hergestellt werden könne und müsse (vgl. Jaggar 1993), wird die Gewährung von Sonderrechten und Ressourcen aufgrund kultureller Differenzen als Gefahr für das Wohlergehen von Migrantinnen erkannt. Am prominentesten hat diese Position wohl Susan Moller Okin in ihrem Text »Is Multiculturalism bad for Women?« (1999) expliziert. Nicht zuletzt, da sich viele von Okins Argumenten auch in aktuellen Debatten über Multikulturalismus wiederfinden, ist es lohnend, sich auch heute noch mit dem Text auseinanderzusetzen. Okin diskutiert darin so unterschiedliche Praktiken wie muslimische Kopftücher, Polygamie oder weibliche Genitalverstümmelung
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um zu verdeutlichen, dass EinwanderInnenkulturen durchwegs patriarchaler sind als westliche Kulturen und darum ein multikulturell motivierter ›Respekt‹ die Situation der Migrantinnen verschlechtern könne. Diese Erkenntnis legitimiert in Okins Sicht auch einschneidende Eingriffe: »In the case of the more patriarchal minority culture in the context of a less patriarchal majority culture, no argument can be made on the basis of self-respect or freedom that the female members of the culture have a clear interest in its preservation. Indeed, they might be much better off if the culture into which they were born were either to become extinct (so that its members would become integrated into the less sexist surrounding culture) or, preferably, to be encouraged to alter itself so as to reinforce the equality of women – at least to the degree to which this value is upheld in the majority culture« (23).
Okins Perspektive zieht also eine klare Linie zwischen ›unserer‹ westlich-aufgeklärten Gesellschaft und ›ihrer‹ rückständig-gefährlichen Kultur. Eine genauere Analyse des Textes zeigt dabei, dass diese Trennung auch nicht durch Okins Verweis auf die Existenz patriarchaler Verhältnisse ›bei uns‹ aufgehoben wird. Denn diese ›hiesigen‹ Verhältnisse werden von Okin lediglich im Zusammenhang mit Kultur erwähnt und zwar in Fällen, wo sich diese Kultur immer noch erhalten hat und sich die liberalen ›westlichen‹ Grundsätze nicht komplett durchgesetzt haben (vgl. Brown 2006: 195). Dass Aspekte männlicher Dominanz etwa in liberalen Grundsätzen von Gleichheit und Autonomie (die es in der öffentlichen Sphäre zu verwirklichen gilt) eingelassen sein könnten, wird hier ausgeblendet. Der Liberalismus, so argumentiert diese Position, ist darüber per se erhaben. Die liberale Position kann sich als kulturlos verstehen und den Anspruch erheben, von diesem unmarkierten Ort ›fremde Kulturen‹ objektiv zu bewerten – mitunter objektiver als die Mitglieder dieser Kulturen selbst. Dies wird deutlich wenn Okin davon spricht, dass vor allem die Stimmen von jungen migrantischen Mädchen gehört werden müssten, um das Ausmaß des Patriarchats in ihren Kulturen zu evaluieren, da ältere Frauen tendenziell bereits von ihrer patriarchalen Kultur kooptiert seien. Welche Bilder ›fremder Männlichkeit‹ evoziert so eine liberal-universalistische Perspektive also? Während Migranten hier zu allererst als Profiteure gelten müssen, erscheinen diese Männer aber – ähnlich
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wie im Bild der ›Dritte Welt-Frau‹ (vgl. Mohanty 1988) – als gleichsam fremdgesteuert von einem kohärenten und unhintergehbaren Bündel aus Kultur, Tradition und Religion (Begriffe, die von Okin bezeichnender Weise als austauschbar verwendet werden). Dies führt zu Bildern archaischer ›fremder Männlichkeit‹, die ihren Ursprung (und ›natürliches Habitat‹) im emblematischen anatolischen Dorf hat (vgl. Ewing 2008: 54) und gleichsam in den Westen importiert, konserviert und dort über die Generationen tradiert wurde. Diese vorgestellte ›Importmännlichkeit‹ basiert auf der Kontrolle von Frauen und Kindern der eigenen ethnischen Community, deren Handeln vor dem Hintergrund rigider Ehrvorstellungen (vgl. Strasser 2008) evaluiert und sanktioniert würde. Multikulturalismus erscheint für die liberal-universalistischen feministische Kritik als problematisch, weil er gleichsam einen »Nährboden« darstellt, in dem MigrantInnenkulturen – und dazugehörige problematische ›fremde Männlichkeit‹ – ungehindert gedeihen können. Diese feministische Kritik hat in den letzten Jahren vermehrt Eingang in repressive staatliche Migrations- und Integrationsmaßnahmen gefunden. So werden muslimische Einwanderer seit 2006 im Baden-Württembergischen Einbürgerungsverfahren gezielt auf ihre Toleranz gegenüber Homosexualität, Frauengleichstellung etc. getestet (Erdem 2009: 190). Um für die Inklusion in die nationale Gemeinschaft überhaupt in Betracht gezogen zu werden, müssen migrantische Männer demnach getestet, selektiert, diszipliniert und erzogen (Ha 2006) werden.
Liberal-Multikulturalistische Kritik als Integrationsversuch In Abgrenzung zu den Ausführungen Okins hat sich in der feministischen Diskussion eine Perspektive etabliert, die von der Möglichkeit der Integration multikultureller und feministischer Forderungen ausgeht. Proponentinnen2 dieser liberal-multikulturalistischen Perspektive argumentieren, dass es auf Basis eines weniger kulturalistischen Kulturbegriffs möglich ist, Regulationen und Gesetze zu gestalten, die MigrantInnengruppen Selbstbestimmungsrechte erteilen, ohne, dass die Position der weiblichen Communitymitglieder dadurch geschwächt würde. Die Autorinnen setzen sich für eine ›Entkulturalisierung des Kulturbegriffs‹ in Multikulturalismusdebatten ein, da diese sonst zu
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homogenisierende Bilder (eigener und) fremder Kulturen produzierten, die, paradoxer Weise, sowohl von BefürworterInnen wie GegnerInnen des Multikulturalismus übernommen würden (vgl. Phillips 2007). Während diese Gefahr der Kulturalisierung gesehen wird, kritisieren die Theoretikerinnen, dass in den Arbeiten Okins der Wert unterschätzt wird, den Kultur und Religion für die Entfaltung von Persönlichkeit spielen kann (vgl. Shachar 2007: 120). Um diesem Umstand gerecht zu werden, entwickeln multikulturalistische Feministinnen differenziertere Konzepte von Kultur und Community. Diese werden nicht als homogen und starr gefasst, sondern als Produkt von kontinuierlichen Aushandlungsprozessen. Für die Form und die Resultate dieser Aushandlungsprozesse sind nun, gemäß der Sicht der liberal-multikulturalistischen Feministinnen, sowohl die gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen der Mehrheitsgesellschaft, wie auch die Machtverhältnisse innerhalb der MigrantInnencommunity ausschlaggebend. Den multikulturellen Feministinnen geht es darum, Regelungen und Gesetze so zu gestalten, dass diese es migrantischen Frauen ermöglichen, ihre Kulturen aktiv zu hinterfragen und zu reformieren, ohne diese gleich ›verlassen‹ zu müssen. Während sich die Theoretikerinnen damit von Okins kruder liberal-universalistischen Perspektive abheben, bleiben sie doch im Rahmen liberaler Kritik. So wird der nationalstaatliche Rahmen multikultureller Politiken nicht grundsätzlich in Frage gestellt und wird auch der methodologische Individualismus liberaler Zugänge beibehalten, wenn nach Regelungen und Verfahrensweisen gesucht wird, die es ermöglichen sollen, in Streitfragen um Themen wie Eheschließungen oder Kleidervorschriften zu individuellen Lösungen zu gelangen, die den Interessen der migrantischen Frauen entsprechen. Shachars Darstellung verdeutlicht dabei das Selbstverständnis als Vermittlerin zwischen involvierten Parteien: »multicultural feminists are searching for new terms of engagement between the major players that have a stake in finding a viable path to accommodating diversity with equality, including the group, the state, and the individual« (129). Unter den richtigen rechtlich-politischen Rahmenbedingungen sollte es dann möglich sein, dass die unterschiedlichen Parteien auf einander zugehen, ihre Interessen vermitteln und auch durchsetzen. Dadurch würde sichergestellt, dass eine größere Bandbreite an Stimmen vertreten würden, was wiederum dazu führen könne, dass
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vieles, was heute als multikulturelles Dilemma erscheint, im Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen gelöst werden kann. So eine Sicht auf Multikulturalismus kann offensichtlich zu anderen Bildern über migrantische Männer führen, als Okins liberal-universalistische Kritik. Hier wird die MigrantInnencommunity nicht als klar demarkierte Gruppe beschrieben, die das Handeln derer bestimmt, die darin »gefangen« sind. Während sich Autorinnen wie Shachar und Phillips etwa bemühen, migrantischen Frauen Agency zuzusprechen, impliziert ihr Zugang auch eine größere Handlungsfähigkeit der Männer. So kann ihnen die Fähigkeit zugesprochen werden, ihre Kultur kreativ und hybridisierend zu leben und auch cultural dissent, also die Infragestellung von Normen und Werten, seitens männlicher Communitymitglieder kann damit in den Blick rücken. Unter den richtigen diskursiven, politisch-juridischen und institutionellen Bedingungen ist es, gemäß multikulturell-liberaler feministischer Position, möglich, migrantischen Frauen eine ›Stimme‹ zu geben. Dies impliziert auch, dass migrantische Männer ›zuhören‹ und ihre Einstellungen ändern können. Während hier also die grundsätzliche liberale Position geteilt wird, dass migrantische Communities patriarchaler als ›wir‹ sind, kreiert dieser Zugang nicht das Bild des von Kultur geleiteten ›fremden Mannes‹ wie das im Rahmen der universalistischen Kritik passiert.
Postkoloniale Kritik und die Produktion ›fremder Männlichkeit‹ im Multikulturalismus Abschließend soll hier besprochen werden, welche Formen der Kritik sich aus einer postkolonial-feministischen Perspektive auf Multikulturalismus ergibt. Während es hier einige Differenzen zu liberalen Zugängen gibt, werden Aspekte postkolonialer Kritik von den zuvor besprochenen multikulturellen Feministinnen auch aufgegriffen. Besonders deren Kritik an orientalisierenden (vgl. Said 1979) Fremdund Selbstkonstruktionen, in denen koloniale Chiffren kultureller Fremdartigkeit und Rückständigkeit bedient werden, werden selbst von den multikulturellen Autorinnen als notwendiges Korrektiv am liberal-universalistischen Diskurs anerkannt. Die postkoloniale Kritik an Kulturalismen – und ihre feministische Weiterentwicklung – ist tatsächlich relevant und soll darum im Weiteren auch näher besprochen werden. Problematisch ist jedoch, dass postkoloniale Theorie hier zumeist lediglich als dekonstruktive Kritik an Kulturalismen dar-
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gestellt wird. Die materialistische Analyse und Kritik von Herrschaftsverhältnissen, wie sie von vielen postkolonialen feministischen Theoretikerinnen entwickelt wird, wird in so einer rein kulturkritischen Auffassung hingegen ausgeblendet. Postkoloniale Theorie stellt ja den Versuch dar, symbolische oder epistemische Gewalt gerade nicht getrennt von institutionalisierten Herrschaftsverhältnissen zu fassen (vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 8). Nicht zuletzt, weil so eine Perspektive auch wichtige Implikationen für Fragen von Migration und Männlichkeit hat, soll im Weiteren eine umfassendere Darstellung des kritischen Potentials postkolonialer Multikulturalismuskritiken versucht werden, als das in der rein kulturkritischen Perspektive möglich ist. So ein umfassendes Verständnis postkolonialer Kritik sieht Kulturalismen als eingebettet in gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen und verweist damit auf zentrale Macht- und Wissenskomplexe. Die Rolle des Wissens um den Fremden thematisiert etwa Sara Ahmed wenn sie in ihrem Buch »Strange Encounters« die scheinbar simple Frage stellt: »How do you recognise a stranger?« (2000: 21). Ihr Anliegen ist es dabei, eine radikal nicht-essentialistische Theorie des Fremden zu entwickeln und verweist mit Fragen wie der eben zitierten auf das spezifische Wissen und die damit einhergehenden spezifischen Praktiken und Politiken, die der Konstruktion des Fremden zugrunde liegen. Welche ›Fremden‹ (i.S. von: all die Personen, die unseren Alltag bevölkern) wir als ›fremde Fremde‹ erkennen, kann demnach nicht als evident vorausgesetzt werden. Es ist dann auch nicht so, dass es – wie oft auch von SozialwissenschafterInnen argumentiert wird – zu wenig Wissen über den oder die Fremde gibt. Dieses Wissen ist vorhanden und notwendig um ›fremde Fremde‹ überhaupt als solche zu erkennen. Und es ist ein Wissen, das den Fremden als ahistorisches und apolitisches Wesen fetischiert und dadurch gleichzeitig die ›nicht-fremde‹, wissende Person ihrer Selbst versichert (vgl. ebd.: 5). Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis verschiebt sich der Fragekomplex von: Wie viel kulturelle Differenz ist hier? Und wie kann sie am besten verwaltet werden? zu: Unter welchen politischen Bedingungen werden bestimmte Differenzen politisch aufgeladen? Und welche Strategien können dem entgegengesetzt werden? (vgl. Stolcke 1995). In diesem Sinn machen Theoretikerinnen wie Ahmed oder Himani Bannerji (2000) auch einen konzeptuellen Schritt, den liberale Theoretikerinnen nicht vollziehen, wenn sie über Multikulturalismus nachdenken: In der postkolonialen Perspektive werden staatliche multikulturelle
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Politiken selbst als Teil von Herrschaftsverhältnissen erkannt. Dabei werden MigrantInnengruppen zu Orten depolitisierter ›Diversität‹ stilisiert und dadurch regierbar gemacht. Während postkoloniale Autorinnen diese Form des ›Multikulturalismus von oben‹ kritisieren, unterscheiden sich ihre Kritik und die sich daraus ergebenden Implikationen deutlich von den Multikulturalismuskritiken der zuvor besprochenen feministischen Positionen. So kritisiert Wendy Brown (2006) etwa die Toleranz mit der heute MigrantInnen und kultureller Diverstität entgegengetreten wird. Dabei beteiligt sie sich nicht an dem Kanon derer, die ein ›zu großes Maß multikultureller Toleranz‹ als Bedrohung für westliche Gesellschaften heraufbeschwören (vgl. etwa Broder 2006). Browns Kritik zielt viel eher auf den herrschaftsstabilisierenden Charakter eines liberalen Diskurses der Toleranz ab, der MigrantInnen als fundamental geleitet von Kultur beschreibt – einer Kultur, die von der liberalen BeobachterIn dann studiert, eingeschätzt, geschätzt oder eben als ›nicht mehr tolerierbar‹ und Gefahr für die nationale Kohäsion und Sicherheit abqualifiziert werden kann. Dieser ›Multikulturalismus von Oben‹ wird von den Theoretikerinnen auch nicht als ›Schwinden des Nationalen‹ interpretiert, sondern als spezifisches soziales Verhältnis, durch das Herrschaftsverhältnisse unter sich ändernden Bedingungen gesichert werden und als Mittel der Integration des ›Anderen‹ in die – nunmehr multikulturell beschriebene – Nation. Im Rahmen so einer postkolonialen Kritik am Multikulturalismus von oben verschieben sich auch Annahmen über Geschlecht und Patriarchat. Der kulturalistische Diskurs über den ›fremden Mann‹ führt, um wieder mit Ahmed zu sprechen, zu stranger fetishism in dem der männlichen ›Andere‹ als getrieben von Kultur aufgefasst zu einer Gefahr für ›seine Frauen‹ und für die gesamte Gesellschaft erkannt wird. Ein Diskurs, der zuletzt besonders im Zusammenhang mit muslimischen Männern erstarkte (vgl. Razack 2004). Postkoloniale Theoretikerinnen kritisieren aber auch, dass multikulturelle Politiken selbst zu einer Stärkung patriarchaler Tendenzen in MigrantInnencommunities führt. Doch während liberale Positionen das Problem darin sehen, dass einem ›endemischen Patriarchat‹ damit Raum gegeben wird, um sich ungebremst zu entfalten, sehen das multikulturelle Theoretikerinnen anders: Indem der dominante Multikulturalismus Fragen sozialer Ungleichheit dethematisiert und die Sprache von Kultur und Tradition zu einem der wenigen Möglichkeiten für MigrantInnen wird, politisches Agency zu erlangen, unter-
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stützt diese Politik die Bildung von homogenisierten Communities, die sich entlang ethnischer Grenzen identifizieren und sich gegen ein kulturell gesetztes Außen abgrenzen. Diese kulturalistische politische Praxis stärkt konservative, maskulinistische Kräfte in den Communities, was nicht zuletzt im Zusammenhang mit Vorgängen des »selective labelling«, wie sie Uma Narayan (2000) beschrieb, relevant ist. Narayan beschreibt dieses labelling als Prozesse: »whereby those with social power conveniently designate certain changes in values and practices as consonant with cultural preservation and others as cultural loss and betrayal. Selective labelling allows changes approved by socially dominant groups to appear consonant with the preservation of essential values or core practices of a culture, while depicting changes that challenge the status quo as threats to that culture« (Narayan 2000: 1085).
Zu beobachten ist nun, dass gerade diejenigen Normen, die Sexualität und Verhalten von Frauen reglementieren, oftmals als ›core practices of a culture‹ gesetzt werden, deren Überschreitung dann als Illoyalität gegenüber der Community gefasst werden kann. Mit Fokus auf migrantische Männer lässt sich hier freilich ableiten, dass dieses labelling auch zu Konformitätsdruck ihrerseits führt. Politisch problematisch ist es nun, wenn staatliche Institutionen in ›interkulturellen‹ oder ›interreligiösen Dialogen‹ mit den Sprechern der Communities zusammentreffen und deren Definition der ›eigenen Kultur und Tradition‹ übernehmen und damit der Ausblendung von Differenzen und Dynamiken in MigrantInnencommunities und migrantischen Geschlechterkonstruktionen Vorschub leisten. Diese postkoloniale Sicht auf Multikulturalismus führt zu anderen Bildern ›fremder Männlichkeit‹ als dies bei den liberalen Positionen der Fall ist. Diese ›fremde Männlichkeit‹ erscheint hier nicht als Ausdruck essentieller Differenz und Rückständigkeit, sondern sozialer Verhältnisse, die sich in spezifische Formen des Wissens und institutionellen Arrangements niederschlagen. Folgen wir den Analysen der postkolonialen Theoretikerinnen, so schafft ein ›Multikulturalismus von oben‹ ethnisierende Formen der Regierung von Differenz, was wiederum kulturalisierende Organisationsformen von MigrantInnencommunities fördert. Wie oben argumentiert wurde, bietet das migrantischen Männern die Möglichkeit, über Konservatismus und Maskulinismus relativ privilegierte Positionen zu besetzen. Diese Privilegierung ist aber in so fern relativ, als das multikulturelle Verhält-
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nis als intersektional verstanden werden muss, sich hier also soziale Herrschaftsformen entlang Klasse, Geschlecht, Ethnizität/»Rasse« (vgl. Klinger/Knapp/Sauer 2008) überlagern und interagieren. Für migrantische Männer bedeutet das, dass sich für sie durchaus Privilegierungen aufgrund ihres ›Mann-Seins‹ ergeben und diese v.a. innerhalb der kulturell definierten Gruppe zu »patriarchalen Dividenden« (vgl. Connell 2006: 95) führen können. Dies darf aber nicht über die relative Marginalisierung ›fremder Männer‹ innerhalb der Dominanzgesellschaft, und hier besonders gegenüber der als »normativ« (vgl. Mosse 1996) gesetzten Männer hinwegtäuschen. ›Fremde Männlichkeit‹ ist demnach widersprüchlich positioniert – sowohl privilegiert wie auch marginalisiert. Multikulturelle Politiken und Diskurse nehmen an genau dieser widersprüchlichen Positionierung ›fremder Männlichkeit‹ Teil.
Schluss In diesem Text wurde der Versuch unternommen, die unterschiedlichen Formen, wie ›fremde Männlichkeit‹ in feministischen Multikulturalismuskritiken konstruiert wird, herauszuarbeiten. Dabei zeigte sich, das liberale Positionen (und hier v.a. die liberal-universalistische), gerade über die Positionierung als kulturlose, objektive Instanz zu kulturalistischen Beschreibungen fremder ›importierter‹ Männlichkeit gelangen. Die liberale Kritik am vermeintlichen laissez faire von Multikulturalismuspolitiken erfreut sich heute breiten Zuspruchs und auch die damit einhergehenden Konstruktionen des ›fremden Mannes‹ als Träger rückständiger patriarchaler Normen und Werte. Diese Kritik wird dabei wohl nicht zuletzt von so vielen SprecherInnen geteilt, weil sie dazu verwendet werden kann, anhaltende (vergeschlechtlichte und andere) Herrschaftsverhältnisse in den ›eigenen‹ Gesellschaften auszublenden. Das Patriarchat kann damit im Außen lokalisiert werden (vgl. Scheibelhofer 2008) und dort mittels strenger Fremdenrechtsbestimmungen bekämpft werden, so die liberale Logik. Die dominante Rede der ›Krise des Multikulturalismus‹ fordert ein Zurückfahren von Zugeständnissen an migrantische Gruppen und basiert diese Forderung zu einem nicht geringen Maß auf fetischiertem Wissen über den ›fremden Mann‹. Dieses Wissen ist eingelassen in integrationspolitischen Maßnahmen und perpetuiert damit einen Prozess, den man als ›Inklusion durch Exklusion‹ bezeichnen kann.
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Die liberal-multikulturalistische Position schwächt diese kruden Postulate universalistischer Multikulturalismuskritiken ab und lässt migrantische Männer als Akteure in Erscheinung treten. In ihrem Versuch, multikulturelle Debatten zu entdramatisieren und Reglements zu schaffen, die ein gedeihliches Zusammenleben ermöglichen, finden sich hier Ansätze über Migration und Männlichkeit jenseits kulturalistischer Fremdbeschreibungen nachzudenken. Tatsächlich bauen aber auch diese multikulturellen Positionen auf unproblematisierten Annahmen grundlegender Differenzen zwischen ›den westlichen und den restlichen‹ Kulturen auf, was in letzter Instanz verhindert, Ungleichheitsstrukturen umfassend zu thematisieren und grundlegend zu kritisieren. Der migrantische Mann bleibt ›fremd‹ – wenn er auch als potentielles Gegenüber von Dialogen und Verhandlungen erkannt wird. Postkoloniale feministische Multikulturalismuskritik, wie sie hier dargestellt wurde, verlässt den liberalen, staatszentrierten Analyserahmen und sieht Multikulturalismus als moderne Regierungsform mit komplexen Folgen. Aus postkolonialer Perspektive können dabei Repräsentations- und Wissensformen nicht als losgelöst von institutionellen Arrangements betrachtet werden. Die dominante Repräsentation von ›fremden Männern‹ als inhärent (und gefährlich) anders kann damit als Teil spezifischer sozialer Verhältnisse verstanden werden. Damit müssen auch sozialwissenschaftliche Arbeiten in den Fokus der Kritik rücken, die etwa durch ›objektive‹ Itemkataloge abtesten, wie stark die Akzeptanz ›westlicher Werte‹ unter migrantischen Männern nun tatsächlich ist. Die Annahme von getrennten ›Kulturräumen‹ und damit einhergehenden unterschiedlichen Männlichkeiten wird dabei unhinterfragt vorausgesetzt. Wie sich zeigte, führt die postkoloniale feministische Kritik nicht zu einer platten Dethematisierung von vergeschlechtlichten Dominanzverhältnissen, sondern zu einer Rethematisierung vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher (intersektionaler) Machtverhältnisse. Und so werden auch die kulturalisierenden Politiken des Multikulturalismus mit ethnisierender Communitybildung in Zusammenhang gebracht, die wiederum tendenziell konservativ-maskulinistische Kräfte stärkt. So eine Sicht lässt erkennen, dass etwaige konservative Männlichkeitskonstruktionen unter migrantischen Männern nicht als Ausdruck ihrer ›authentischen Männlichkeit‹ verstanden werden können, sondern viel eher als Wahrnehmen eines Angebots, männliche Herrschaft auszuüben – freilich unter spezifischen Bedingungen der Ausgrenzung auf Basis ihrer ›fremden Herkunft‹.
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Die postkoloniale Perspektive dezentriert den Blick auf Migrantion, Geschlecht und Männlichkeiten. Dabei stimmen die Autorinnen nicht in das liberale Postulat ein, dass nur eine Gesellschaft, die sich von Kultur gleichsam emanzipiert hat, eine gute Gesellschaft sein kann. Die Annahme einer kulturlosen SprecherInnenposition in Frage stellend, wird Kultur in der postkolonialen Perspektive explizit thematisiert. Jedoch nicht als homogen und abgeschlossen, sondern als inhärent spannungsreich und im grundlegenden Sinn politisch. Und so führt die postkoloniale feministische Kritik auch nicht zu Vorschlägen der Pädagogisierung von migrantischen Männern, oder gar der ›Ausrottung‹ vermeintlich archaischer Kulturen. Viel eher kann mit so einer Perspektive nach den Bedingungen der Möglichkeit von umfassenden sozialen Kämpfen gegen Unterdrückungsverhältnisse in MigrantInnencommunities und über deren Grenzen hinweg gefragt werden. ›Das Problem‹ sind dann nicht einfach (patriarchale) migrantische Männer, sondern gesellschaftliche Strukturen, die es etwa migrantischen Frauen verunmöglichen, sich gegen patriarchale und andere Unterdrückungsstrukturen auszusprechen und zur Wehr zu setzen. ›Multikulturalismus von oben‹ befördert ebensolche Strukturen der ethnischen Schließung und Rassifizierung sozialer Verhältnisse. Statt rechtlicher Reglements, die der Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit dienen sollen, im Endeffekt jedoch MigrantInnengruppen insgesamt diskriminieren, kann so eine Perspektive zur Entwicklung eines ›Multikulturalismus von unten‹ beitragen. Dieser müsste von den transnationalen Bedürfnissen und Erfahrungswelten der Migrantinnen und Migranten ausgehen und diese in einen gesamtgesellschaftlich-politischen Kontext setzen. So kann auch die Situation männlicher Migranten in ihrer widersprüchlichen Positionierung erfasst werden und gelebte Praxen des Widerstands gegen maskulinistische Ideale in den Blick rücken und mit umfassenden Strategien gegen Entrechtung und Marginalisierung in Verbindung gebracht werden.
Anmerkungen 1 | Auszug aus: Martina Salomon »Holen wir endlich die Richtigen Herein«, Artikel erschienen in der österreichischen Tageszeitung »Die Presse« vom 26.01.2009, siehe http://diepresse.com/home/meinung/kommentare/ leitartikel/447239/index.do (Stand: 2.11.2009).
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2 | Auf den Verweis auf männliche Autoren wird verzichtet und die weibliche Form verwendet. Die dargestellten Positionen werden zwar, ganz Allgemein, auch von männlichen Forschern aufgegriffen, dem Autor dieses Textes sind jedoch keine Arbeiten von männlichen Forschern bekannt, die sich als explizite Beiträge einer feministischen Multikulturalismusdebatte positionieren. Mögen diese auch existieren, so sind sie in der Diskussion offensichtlich so spärlich, dass die Verwendung weiblicher Formen in Bezug auf relevante Autorinnen gerechtfertigt erscheint. Etwaige betroffene Autoren mögen die »Verschleierung« ihres Beitrages zur Diskussion verzeihen.
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Z U DIESEM K APITEL Utta Isop/Viktorija Ratković »Es fällt schwer zu glauben, irgendjemand könnte so mit der Welt zufrieden sein, daß er nicht von dem Hunger, der Gewalt und der Ungleichheit um ihn herum angewidert sein könnte.« John Holloway (2002) »For […] in fact, as a woman, I have no country. As a woman I want no country. As a woman my country is the whole world.« Virginia Woolf (1966 [1938])
In diesem Kapitel sollen die »umgedrehten Perspektiven« ein Stück weiter »auf differenten Wegen« beschritten werden, indem konkrete Aktivitäten, Konzepte, Praktiken und Lebensformen wie das weltweite bedingungslose Grundeinkommen, anarchafeministische Organisierungsformen in London oder die Praxis des autonomen Vereins VOBIS zur Schaffung von offenen Begegnungsräumen zwischen Studierenden und Asylwerber_innen in Kärnten zur Diskussion gestellt werden. Differenzen und »differente Wege« sind dabei wie in der gesamten Publikation nicht als etwas Ursprüngliches zu verstehen, das durch zu essentialisierende Eigenschaften bestimmt wird. Vielmehr stehen Differenzen hier für Offenheiten und Öffnungen für Alternativen zu bestehenden, durch Herrschaft strukturierten Verhältnissen, hin zu Formen des Zusammenlebens mit geringeren Gewalt- und Hierarchieförmigkeiten. Utta Isop knüpft an die u.a. im Artikel von Friederike Habermann bereits weiter oben im Buch kritisierten Praktiken der »(Schein-)Partizipation« in demokratischen Gesellschaften und Staatskonzepten,
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U TTA I SOP /V IK TORIJA R ATKOVIC´
etwa der Global Governance, an. Thematisiert wird die Verbindung von struktureller und persönlicher Herrschaft, wobei die Autorin darauf hinweist, dass es von entscheidender Bedeutung für emanzipatorische Bewegungen, Initiativen und wissenschaftliche Ansätze mit herrschaftskritischem Anspruch ist, neben den relativ abstrakten Theoretisierungen von Herrschaftsstrukturen wie Kapitalismus, Rassismus, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganismus, Ausländerfeindlichkeit etc. konkrete Herrschaftstechniken und die eigene tagtägliche Forschungs-, Arbeits- und Lebenspraxis in Frage zu stellen. Der Begriff der Herrschaft geht davon aus, dass systematisch privilegiertere und benachteiligtere Gruppen und Positionen in komplexen und voneinander relativ abhängigen Feldern erzeugt werden, und zwar nicht ausschließlich durch die Dynamiken eines »einzigen Machtzentrums«. Durch die Verwendung des Begriffs Herrschaft wird auch der Standpunkt vertreten, dass die Einflüsse »einer Macht von unten« in Verbindung mit hegemonialen Überzeugungen begrenzt sind. Die Autorin hebt hervor, dass strukturelle Herrschaft bewusst, gezielt, strategisch und ausschließend »von oben nach unten« ausgehend von Privilegierteren gegenüber Unterdrückten ausgeübt wird, wenn auch selbstverständlich nicht ohne Anfechtungen, nicht ohne Infragestellungen, Bedrohungen, Spaltungen und so fort. Vor diesem Hintergrund wird es auch bedeutsam, konkrete Herrschaftsstrategien und -techniken zu beschreiben, die sich je nach sozialem, institutionellem, historischem und kulturellem Kontext unterscheiden können. Die Analyse von »überpersönlichen«, »abstrakten«, »gesamtgesellschaftlichen« Strukturen, die alle in der gleichen unpersönlichen, unsozialen, nicht gruppenspezifischer Weise oder aber auch in verschiedenen Weisen unterdrücken, findet ihre Grenze dort, wo nicht mehr erklärt werden kann, wieso bestimmte Herrschaftssysteme sich immer wieder stabilisieren und neu erfinden. Im Zusammenhang mit den konkreten Benennungen von Herrschaftspraktiken stehen die Möglichkeiten der gegenteiligen Intervention, des Beschreitens alternativer und differenter Wege mit dem Versuch, Verfahren, Organisierungsformen, Praktiken zu experimentieren, zu finden und zu leben wie z.B. basisdemokratische, rotierende, auf Kooperation statt Hierarchie gerichtete Beziehungsformen, die es ermöglichen, geringere Gewalt- und Hierarchieförmigkeit zu realisieren als dies in aktuellen Institutionen, gesellschaftlichen Feldern und nationalstaatlichen Verbünden der Fall ist. Ein differenter
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Weg könnte beispielsweise die Einführung eines weltweiten bedingungslosen und Existenz sichernden Grundeinkommens darstellen, ein anderer etwa der stärkere Einsatz von losdemokratischen Verfahren, basisdemokratischen Organisierungen oder Formen solidarischer Ökonomien. Stephanie Grohmann reflektiert die wissenschaftliche Praxis der militanten Untersuchungen, deren Anspruch es ist, als Teil einer sozialen Bewegung, die in einem experimentellen und zugleich alltäglichen Selbstversuch gesellschaftliche Strukturen durch alternative Organisierungs- und Kollektivierungsformen aufzulösen versucht, wissenschaftliche Erkenntnis hervorzubringen. Die Autorin vergleicht dazu die Reflexionsmöglichkeiten im Kontext akademischen Arbeitens mit Reflexionsmöglichkeiten im aktivistischen Kontext der Hausbesetzer_innen-Szene und der anarchafeministischen Community. Dabei werden schnell die Widersprüche und Unvereinbarkeiten zwischen beiden Bereichen sichtbar. Anarchistische und anarchafeministische Forscher_innen (bzw. die Anarchist Studies) gehen davon aus, dass sich Menschen in Freiheit selbst organisieren und mit dem geringsten Einsatz von Gewalt, Zwang und Herrschaft dauerhaft und verlässlich miteinander kooperieren können. Die Forschungsfragen der Anarchist Studies richten sich daher auch auf die versteckten Legitimationen, Argumentationen und hegemonialen Überzeugungsformen, welche den Einsatz von Zwang, Gewalt und Hierarchie als Voraussetzung für Kooperation behaupten und darauf, sichtbar zu machen, wie Transformationen dieser Sozialformen in solche mit freierer Kooperation möglich sind und im Nukleus bereits praktiziert werden. Grohman plädiert dafür, Kriterien anarchafeministischer Forschung in jedwede akademische Arbeit einzubeziehen, nicht zuletzt deswegen, weil auf diesem Wege zur Reduzierung von Herrschaftsförmigkeit beigetragen werden kann. Ein Beispiel für Formen »freier Kooperation« stellt der Verein VOBIS in Kärnten dar, der es sich zum Ziel gesetzt hat, Studierende und Asylwerber_innen miteinander in Kontakt zu bringen. Denise Branz reflektiert diese von Studierenden selbst organisierte Praxis, Deutschkurse anzubieten, eine Praxis, die freilich nicht in herrschaftsfreiem Raum vor sich geht und ständiger Überlegung im Hinblick auf alle beteiligten Akteur_innen, Institutionen, der politischen Situation bedarf. Diese freie Kollaboration von Studierenden entstand, um dem ausländerfeindlichen Klima in Kärnten aktiv etwas entgegenzusetzen und alternatives Bewusstsein gegen die aktuellen
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gesamteuropäischen Tendenzen des Ausschlusses von Außenseitern zu pflegen. Nicht zuletzt werden den Asylbewerber_innen durch die Deutschkurse dringend benötigte Sprachkompetenzen vermittelt und sie damit befähigt, am Alltag in Österreich teilzunehmen.
Literatur Holloway, John (2002): Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster: Westfälisches Dampfboot. Woolf, Virginia (1966 [1938]): Three Guineas, San Diego/New York/ London: Hartcourt.
»E NOUGH IS ENOUGH «1 – »YA BASTA !« K EIN G OT T , KEINE N ATION , KEIN K ONZERN , KEIN E HEMANN 2 Utta Isop »Unfreiheit hat dann massive Konsequenzen, Unfreiheit hemmt und schädigt uns, Unfreiheit blockiert und – in letzter Konsequenz, Spinoza ist in diesem Punkt eindeutig – setzt massive Unfreiheit unsere Existenz und unser Leben aufs Spiel.« Karl Reitter (2011)
Einleitung Wege different zu denken, bedeutet, durch Traditionen, Lebensumstände und sozio-ökonomische Bedingungen festgefahrene Pfade und Kulturen des Denkens zu öffnen hin auf neue Techniken, Verfahren, Experimente und Prozesse des Zusammenlebens, der Kooperation, der Ökonomien, der Organisations- und Entscheidungsformen und dadurch schließlich der Kulturen des Denkens, denn unser Denken bezieht seine Strukturen aus der Organisierung unseres Zusammenlebens. Diese Versuche, neue Sozial- oder Kollektivformen zu experimentieren, können auch damit einher gehen, dass die Grenzen, die Gewalt und die Herrschaftsförmigkeit bestehender Gesellschaften, mit all ihren Täuschungsmanövern, wie z.B. bestimmten Angeboten der Partizipation, deutlicher zum Vorschein kommen. Zentraler Bestandteil der Absicherung allgemeiner Unfreiheit heute, das heißt des Funktionierens von Prozessen der Inklusion und
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Exklusion in Gruppen, Institutionen, Organisationen, Nationen etc. sind Verfahren und »Oberflächen« der Partizipation. Diese beziehen sich häufig auf Details von Entscheidungs- und Eigentumsprozessen, erfüllen Beratungsfunktion, stellen die »Zivilgesellschaft« dar, repräsentieren die »Bürger_innen-Beteiligung« und resultieren oftmals im Schein der Mitbestimmung, dem wenig bis keine reale Entscheidungs-, Nutzungs- und Verfügungsmacht in den ökonomischen und kulturellen Strukturen entspricht. Wenn national gewählte Regierungen die Interessen und Zugriffe von Kapital z.B. durch Gesetze legitimieren, glaubwürdig und den alltäglichen Auseinandersetzungen medialer Öffentlichkeiten selbstverständlich machen, wenn Gewerkschaften als bedeutsamsten Faktor gesellschaftlicher Kohärenz und Integration Lohnarbeit darstellen, wenn Universitäten die entsprechend der Kurien und Stände gehandhabten demokratischen Formen der Selbstregierung zugunsten von externen Entscheidungsträgern aufgeben, wenn Institutionen wie z.B. Parteien sich selbst gemäß quasi-ständischer Prinzipien wie »Vasallen um die Fürsten« strukturieren, so erzeugen diese Organisationen selbstverständlich im selben Zuge ihrer Herrschaft stabilisierenden Handlungen den Schein und die Rhetorik von Offenheit, Transparenz, Partizipation, Durchlässigkeit, Bürger_innen-Nähe, Kontrollierbarkeit und demokratischer Verfasstheit. Die systematische Produktion von inkludierten und exkludierten Personen, von Selektion, Ausgrenzung und Ausschluss bedarf heute kaum einer Rechtfertigung, so sehr sind diese völlig unabhängig von Begründungen im Common Sense verankert, nur die genauen Grenzziehungen zwischen Inkludierten und Exkludierten sind unablässig umstrittenes ebenso wie im öffentlichen Diskurs meist verschwiegenes Terrain. Wer sich nicht vorsieht, gehört »so schnell kannst du nicht schauen« zu den Ausgeschlossenen und da der Schein und die teilweisen Realisierungen von »Freiheit und Gleichheit« den Status des Ausgeschlossen-Seins als »freie Wahl« nahe legen, sind die Erkenntnisse von Prozessen des Ausschließens aus gesellschaftlichen Strukturen in der Sprache des Common Sense nicht leicht zu argumentieren und zu symbolisieren. Es kommt aber in Gesellschaften immer wieder zu historischen Wendepunkten, an welchen sich bisher nicht gehörte Stimmen Gehör verschaffen, an welchen diese oftmals in Verbindung mit Stimmen des Mainstream auf einmal kund tun können, dass das Maß des Erträglichen erschöpft ist und in überzeugender und machtvoller Weise klar gemacht werden kann,
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dass Ansprüche von Ausgeschlossenen bestehen, völlig unabhängig davon, ob diese ihnen gesetzlich, ökonomisch, medial oder kulturell zugesprochen werden oder nicht.3
Techniken zur Verknüpfung von struktureller und persönlicher Herrschaft in Hierarchien »Und niemals werden einem Fürsten gesetzliche Gründe zu Beschönigung des Nichthaltens fehlen.« Niccolò Machiavelli (1513) »Das Feld der Macht ist ein Schauplatz von Kämpfen, deren Einsatz unter anderem, die Hierarchie der ethischen Bewertungsprinzipien ist. Und die erste Aufgabe einer Soziologie der Ethik wäre eine Bestandsaufnahme und Analyse der mit den verschiedenen Positionen im Feld der Macht in praktischer oder expliziter Form verknüpften Tugendsysteme. In diesem Sinne begann man mit der Zusammenstellung einer Reihe feierlicher Reden – Grabreden, reden auf Empfängen etc. –, mit denen verschiedene Gruppen durch das Feiern eines ihres Mitglieder sich selbst feiern, um sie einer vergleichenden Analyse zu unterziehen. Diese Reden sind ein essentielles Moment der Deutungs-, Systematisierungs- und Verallgemeinerungsarbeit, mit der eine Gruppe versucht, ihr Ethos in eine Ethik umzugestalten, die objektiv systematischen Prinzipien eines gemeinsam geteilten und darum im Rahmen der Gruppe praktisch verallgemeinerten Habitus in ein intentional kohärentes System expliziter Normen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu verwandeln« (Bourdieu 2004: 63).
Gemäß zweier Interpretationsweisen marxistischer Theorie lassen sich zwei Weisen kapitalistischer Herrschaft unterscheiden, nämlich die Klassenherrschaft einerseits und die abstrakte Herrschaft durch die Wert produzierende Lohnarbeit andererseits. Weitere Formen struktureller Herrschaft werden in den intersektionalen Theorien der Gender Studies thematisiert, wenn etwa darüber nachgedacht wird, wie die historisch und weltgesellschaftlich unterschiedlich entstandenen Unterdrückungsformen durch Geschlecht und »Rasse« oder auch Formen des Kulturalismus zusammenwirken. Diese Wirkungsweisen struktureller Herrschaft werden jeweils in ihren Mikrostrukturen durch Techniken persönlicher Herrschaft etwa in hierarchisch organisierten Institutionen ergänzt. Um Formen persönlicher Herrschaft und Formen struktureller Herrschaft in Hierarchien so frik-
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tionsfrei als möglich ineinander verschränken zu können, werden beispielsweise folgende Verfahren und Techniken angewandt, die zu Prozessen der Inklusion der schweigenden Mehrheit und der Exklusion von protestierenden Minderheiten beitragen können. Herrschaftstechniken wie diese werden einerseits bewusst ausgeübt und angeeignet und andererseits bei genauer Kenntnis verschwiegen und nicht thematisiert: • Hierarchien und Herrschaftssysteme werden als objektiv notwendig dargestellt und müssen als solche bei Androhung des Ausschlusses anerkannt werden. • Bestimmte Prozesse der scheinbaren Mitbestimmung (Partizipation) werden mittels Managementtechniken in die Strukturen eingelassen, um wirksamere Forderungen nach struktureller und direkter Entscheidungsmacht zu unterbinden. • Das Leiden an Hierarchien wird versteckt und ihre krank machenden, kränkenden und zerstörerischen Auswirkungen auf alle Beteiligten werden geleugnet, um Zweifel an der Legitimität von Hierarchien nicht zu stark werden zu lassen. • Konflikte werden keinen offenen Verfahren zugeführt, sondern wenn möglich hinter verschlossenen Türen und im »kleinen Kreis« oftmals bereits in ihrer Entstehung unterbunden. • Durch informelle Vorentscheidungen in Kleingruppen werden Einzelpersonen und bestimmte Gruppen aus Entscheidungsverfahren ausgeschlossen. • Es herrschen starke persönliche Abhängigkeiten, systematische Naheverhältnisse und die Verpflichtung auf die Bedürfnisse von einflussreichen Stellen- und Machthabern. • Es erfolgt eine systematische Umdeutung von Privilegien der Herrschenden in Verpflichtung, Verantwortung, Leistung und Leiden, um sich die Unterstützung der Untergebenen zu sichern. • Benachteiligungen und Einschränkungen von Untergebenen werden systematisch in »Freiheiten« und »Privilegien« umgedeutet und nicht vorhandene Entscheidungs- und Handlungsspielräume hervorgestrichen. • »Expert_innen«, »Expertenwissen« und Berater_innen werden systematisch zur Zerstreuung von Zweifeln an bestehenden Einschluss- und Ausschlussverfahren herangezogen:
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»Spricht man von der entmündigenden Macht der Experten, dann beschämt man damit zugleich deren Opfer und zwingt sie, die gegen sie gerichtete Verschwörung zu erkennen: der lebenslange Student, der gynäkologische Fall, der Konsument […] dann klagen wir damit nicht den aufgeblähten Dünkel unserer akademischen Eliten, sondern zugleich die gierige Unersättlichkeit ihrer Opfer an« (Illich 1979: 7).
• Es werden intensive Bemühungen unternommen, um einen Schein der Fehlerlosigkeit und des Perfektionismus durch Vertuschung, Leugnung, Verschweigen auf Seiten der machtvollen Positionen zu erzeugen. Es wird die explizite oder implizite Anordnung praktiziert, Fehler von Vorgesetzten nicht anzusprechen einerseits, während andererseits die Fehlerhäufigkeit von Untergebenen als Beweis vorgeführt wird, dass ohne Hierarchie nur Hilflosigkeit, Verlorenheit und Chaos herrschen. • Kritik von Untergebenen wird von Vorgesetzen oftmals vorweggenommen mit dem zeitgleichen Signal, dass die Formulierung von Kritik nicht tragbar sei und zu Verlust des Arbeitsplatzes und Ausschluss aus der Institution führen könne. Durch die Unterbindung der Kritik von unten kommt es zu gesteigertem Selbstvertrauen in die persönlichen, gruppenförmigen, standesgemäßen oder positionsbezogenen Vorurteile und Weltsichten von herrschenden Positionen und zu immer stärkerem Ausschluss der Perspektiven von Unterdrückten. • Es erfolgt eine zielstrebige und stets neu auszurichtende Verfeinerung des Habitus und Status z.B. zur Erzeugung von Bildungsversatzstücken, Bildungsanhängen, Bildungsumgebungen oder ästhetischen Formungen des Auftretens, um die persönlichen Vorteile und weitere Ansprüche innerhalb der Hierarchie sichern zu können. • Ästhetische Mittel und Formen spielen bei der Herstellung von Hegemonie und Überzeugung in Bezug auf die Unveränderbarkeit aktueller Herrschaftstechniken in Bezug auf alle Positionen einer Hierarchie eine bedeutsame Rolle. • Die systematische Kontrolle und Einschränkung von räumlichen, zeitlichen, inhaltlichen, sprachlichen, äußerlichen und sonstigen Freiheiten von Untergebenen ist Teil persönlicher Herrschaft, wird jedoch meist strukturell legitimiert.
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Formen struktureller Hierarchisierung, wie etwa die oben genannten Beispiele von Klassenherrschaft, abstrakter Herrschaft durch Lohnarbeit, Sexismus, Rassismus und viele mehr stellen die Voraussetzung für die Ausübung persönlicher Herrschaft innerhalb dieser Hierarchien dar. Je nach historischer und gesellschaftlicher Situation und Stand der institutionellen Dominanzkulturen nehmen die organisatorischen und persönlichen Techniken der Herrschaft ein anderes Gesicht an, dennoch werden bei den strukturellen Analysen von Diskriminierung oftmals die konkreten Ausformungen von Herrschaftstechniken nicht direkt angesprochen. Dieser Mangel kann dazu führen, dass Organisationsformen, deren erklärtes Ziel es ist, Strukturen der Diskriminierung und Unterdrückung zu kritisieren und zu verändern, auf der Ebene der persönlichen Herrschaft diese nicht reflektieren und verringern müssen, da kein öffentlicher Diskurs dazu geführt wird.
Schein-Partizipation zwischen Inklusion und E xklusion »Ebenso wie soziale Verhältnisse nur im Plural zu denken sind, übergreifen die Prozesse der Befreiung und der Unterdrückung das Kapitalverhältnis in jeder Hinsicht. Auch wenn Marx der Auffassung war, erst bestimmte Bedingungen ermöglichen tatsächlich den Prozess der Befreiung – unsere anarchistischen FreundInnen haben da einen anderen Blick – so scheint doch die Universalität von Unterdrückung und Befreiung eine universale Theorie zu erfordern. Unterdrückung und Befreiung existierten lange vor dem Kapitalismus und wir haben wenig Grund zur Annahme, dass eine nachkapitalistische Gesellschaft eine Gesellschaft ohne Konflikt und ohne jede Unterdrückung sowie Widerstand dagegen sein könnte. Es müsste also möglich sein, eine Ethik zu entwickeln, die einerseits die Theorie der Befreiung bei Marx rekonstruiert, zugleich aber in der Lage ist, sie allgemeiner zu formulieren.« Karl Reitter (2011)
Die hierarchische Verfasstheit von Institutionen und Organisationen als ein wesentliches Element von Unterdrückung befördert Prozesse der Inklusion und Exklusion. Durch die Verinnerlichung des drohenden Ausschlusses vom Zugang zu Ressourcen, Repräsentationen, Symbolen, Nutzungskontexten, Ökonomien, Kulturen der Teilhabe und Eigentumsformen wird die Unterwerfung unter die je neu zu
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erkämpfenden Hierarchien in einer Institution erkauft und erpresst. Die Partizipation an bedeutsamen Sozialisationsagenturen unserer Gesellschaften wie Familie, Ehe, Lohnarbeit, Nationalität u.v.m. verlangt ein hohes Ausmaß an Verzicht auf Befreiungs- und Veränderungsansprüche und besonders die zeitweilige Verleugnung der eigenen stabilisierenden Beiträge und Funktionen innerhalb unterschiedlicher Herrschaftssysteme. Eine entscheidende Frage, welche oftmals nicht ausreichend thematisiert wird, stellt sich nicht nur nach den Strukturen und Wirkungsweisen der verschiedenen Formen von Herrschaft, sondern vor allem nach den kollektiven und gesellschaftlichen Verfahren, Experimenten, Kulturen, Ökonomien und Organisierungen der Überwindung von Herrschaftsformen. Teile von Religionen, (Volks-)Aufstände und emanzipatorische Bewegungen, wie beispielsweise Bewegungen der 68er, von Anarchist_innen, Marxist_innen oder Initiativen zu alternativen Familienformen, zu solidarischen Ökonomien und u.v.m. Commons verweisen in ihren Kritiken und Experimenten mit alternativen Organisationsformen auf mögliche Entwicklungen von Strukturen des Zusammenlebens und der Kooperation mit geringerer Gewalt- und Hierarchieförmigkeit als die bestehenden. Es reicht nicht aus, an bestehenden Verhältnissen Kritik zu üben, obwohl Kritiken wichtige Voraussetzungen für die Veränderung bestehender Praxen darstellen, es ist darüber hinaus entscheidend, gelebte Praktiken der Kooperation, Experimente, heterodoxe Sozialformen und Ökonomien, Alternativen zu Common Sense und geübtem Mainstream bewusst aufzuzeigen, zu verknüpfen und zu stärken. Es geht um das Sichtbarmachen und das Symbolisieren von funktionierenden und sicheren gesellschaftlichen Kooperationsformen mit geringerem Einsatz von Gewalt, Zwang und Hierarchie als die bestehenden. Eine wesentliche Überzeugung von Gesellschaften mit bestimmten institutionellen und organisatorischen Praktiken des Einsatzes von Hierarchien, Gewalt, Zwang, Hegemonien, Selektion, Prozessen der Inklusion und Exklusion besteht darin, dass es nicht möglich sei, mit einem geringeren Einsatz dieser Mittel ausreichende, gesicherte und funktionierende Kooperationen zwischen Menschen zu gewährleisten. Allein das öffentliche und gemeinsame Sichtbarmachen von in Kleingruppen oder historischen Beispielen bestehenden alternativen Kooperationsmöglichkeiten und Experimenten wird oftmals mit dem Tabu des Utopismus, des Irrealen, des Träumerischen, des Dogmatischen und des Totalitären unterbunden. Es wird ein historisch
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begründetes Misstrauen in Kritiker_innen an bestehenden Hierarchien und Gewaltverhältnissen gepflogen, da einerseits das Leiden an den aktuellen Hegemonien und Herrschaftsverhältnissen als nicht so groß empfunden wird und andererseits unterstellt wird, dass die Realisierung von scheinbar »gewaltfreieren« Kooperationsformen wie z.B. einer klassenlosen oder geschlechtervielfältigen Gesellschaft zur Ausübung deutlich größerer Unterdrückung führt als die bereits bestehenden. Manchmal wird hier das bereits bekannte Übel dem noch unbekannten und nicht einschätzbaren Übel vorgezogen. Allerdings unterscheiden sich das Ausmaß des Leidens und der Perspektive auf die Notwendigkeit von Veränderung bedeutsam, je nach Ausstattung mit Ressourcen, Teilhabe, Partizipation, Inklusion und Exklusion. Menschenmassen, deren Lebenschancen aufgrund von Exklusion systematisch auf Null reduziert werden, wie dies bei Migrant_innen oder Hungernden der Fall ist, haben keine andere Wahl als auf Veränderung bestehender Verhältnisse zu drängen, wenn ihnen die Kraft dazu noch verbleibt. Die Überlegung, was nach diesen notwendigen Veränderungen sich einstellen wird, steht für Millionen von Menschen, deren Überleben von der sofortigen Veränderung bestehender meist ökonomischer Gewaltverhältnisse und Ausschlüsse abhängt, nicht als Option zur Verfügung, da ihre Existenz bei Fortbestand praktizierter Organisationsformen ausgelöscht wird.
»Wie die Gesellschaft tötet« 4 »Millionen starben nicht außerhalb des ›modernen Weltsystems‹, sondern im Zuge des Prozesses, der sie zwang, sich den ökonomischen und politischen Strukturen anzupassen. Sie starben im goldenen Zeitalter des liberalen Kapitalismus; viele wurden, wie wir sehen werden, durch die dogmatische Anwendung der heiligen Prinzipien von Smith, Bentham und Mill regelrecht ermordet.« Mike Davis (2001)
Aktuell hungert eine Milliarde von 6,9 Milliarden Menschen in Folge der letzten Lebensmittelpreissteigerungen und der jüngsten Weltwirtschaftskrise. Dies stellt eine permanente Verletzung des Rechts auf Nahrung, gemäß der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte dar. Wie Mike Davis5 für das neunzehnte Jahrhundert ausführt, verhungern diese Menschen ebenfalls vor »vollen Kornspeichern«, weil sie sich die weltweit ausreichend vorhandenen Lebensmittel nicht kaufen
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können. Jean Ziegler (Duchrow et al.: 22) spricht in diesem Zusammenhang vom systemischen Mord an 100.00 Menschen pro Tag (36,5 Millionen im Jahr). Der Welternährungsbericht der UNO 2005 belegt, dass die Weltlandwirtschaft, ohne Gentechnik, zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte (ebd.). Dies ist als Form struktureller Gewalt (vgl. Grubner 2009: 186) zu benennen und ist durch Begriffe wie »soziale Ungleichheit«, »Ausgrenzung« oder »Exklusion« nicht mehr ausreichend zu bezeichnen. Wir verhandeln hier also nicht mehr jene Ausgeschlossenen, welche mit geringeren Lebenschancen zwar, aber doch überleben können, sondern jene Sphäre der Ausgeschlossenen, deren Existenz durch viele Prozesse der Ausschlüsse, welche durch das Ausmaß ihrer Vernichtung zu Gewalt werden, unmittelbar beendet wird. Neunzig Prozent des Hungers weltweit wird nicht durch punktuelle Katastrophen, sondern durch dauerhafte wirtschaftliche Strukturen ausgelöst. Es ist chronischer Hunger, der durch ungerechte Handelsbeziehungen, Spekulationen mit Grundnahrungsmitteln, Exportdumping, Zerstörung der Subsistenzwirtschaft, Verkauf des Bodens (zwischen 2006 und 2009 sind zwischen 22 bis 50 Millionen Hektar Ackerland in Afrika, Asien und Lateinamerika an ausländische Investoren verpachtet oder verkauft worden6) systemisch und strukturell erzeugt wird. Diese Formen des »Landraubs« bzw. der aktuellen Enteignungen lokaler Bevölkerungsgruppen im globalen Süden finden ihre Vorläufer im Westeuropa des 18. Jahrhunderts: »Um einen freien Arbeitsmarkt zu etablieren, musste der Staat Mitte des 18. Jahrhunderts das ›Recht auf Lebensunterhalt‹ beseitigen, das die Armen durch das Gewohnheitsrecht des sogenannten Speenhamland-Tarifs besaßen. […] Verschiedene liberale AutorInnen griffen das ›Recht auf Lebensunterhalt‹ an: Arme könnten nur durch den Hunger zur Fabrikarbeit angespornt werden und die Beseitigung des Hungers durch die Armengesetze sei ein Übel« (Pop 2006: 120).
Zwei Drittel der von Hunger betroffenen Menschen weltweit sind weiblich, obwohl 80 Prozent der im globalen Süden produzierten Grundnahrungsmittel von Frauen hergestellt werden. Jedoch nur 10 Prozent der Anbauflächen befinden sich auch im Eigentum von Frauen.7 Ohnmachtsstrukturen wie diese, lassen sich nur durch die Überlagerung und Vervielfältigung von Unterdrückungsformen durch Armut, Geschlecht, Neo-Kolonialismus und Kapitalismus erklären. Wie jedoch im Detail und in den Mikrostrukturen von Markt, Staat
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und Medien diese Verlinkungen in Ideologie und tagtäglich praktizierter Benachteiligung funktionieren, bedarf genauer Analysen und Protestformen, um dieselben überhaupt erkennen zu können. Eine Form von Täuschung und ideologischer Verzerrung zeigt Friederike Habermann auf.
»Ich besitze einen Laptop, daher bin ich« Wie kommt es, dass die Interessen von einer Milliarde hungernder Menschen im globalen Kapitalismus und in westlichen Demokratien keine Stimme, kein Gehör und keine Durchsetzung finden, fragt Friederike Habermann in ihrem Artikel »Von der Natürlichkeit des Bösen. Hunger in der Welt von Global Governance« (vgl. Beitrag Habermann in diesem Band) und entwickelt folgende These dazu: Hungernde Menschen entsprechen nicht den Subjektstrukturen des Homo Oeconomicus. Da es ihnen an Kapital, Eigentum und Vertragsfähigkeit mangelt, werden hungernde Menschen im globalen Norden nicht als »Gleiche« und nicht als »Menschen« wahrgenommen. Zuspitzen ließe sich die Bedingung, Produktionsmittel besitzen zu müssen, beispielsweise wie folgt formulieren: »Ich besitze einen Laptop, daher bin ich«. Wenn einer Person bestimmte Produktionsmittel wie etwa ein Laptop fehlen, so handelt es sich nicht mehr um eine ebenbürtige Person, nicht mehr um eine Saatsbürger_in, nicht mehr um eine Marktteilnehmer_in und nicht einmal mehr um einen Menschen mit gleichen Menschenrechten. Zwar auf der rhetorischen Ebene mag eine Zuschreibung von Menschlichkeit vordergründig noch möglich sein, aber auf der Handlungsebene wird vor den Zahlen der Opfer und der Verflechtung der eigenen Verhältnisse in ein System des Nutznießens kapituliert.
»How can the starving speak?« »Can the starving speak?« diese Frage kann parallel zu Gayatri Chakravorty Spivaks Frage »Can the subaltern speak?« gestellt werden. Aber diese Frage muss verändert werden, und wenn auch nur, um auf ihre strukturellen Unmöglichkeiten hinzuweisen: »How can the starving speak?« Eine Antwort darauf formuliert die weltweite Vereinigung von Kleinbäuer_innen, Via Campesina, mit rund achzig Millionen Mitgliedern und ihrer Forderung nach Ernährungssouveränität und gegen Landraub:
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»Food sovereignty includes the right to protect and regulate the national agricultural and livestock production and to shield the domestic market from the dumping of agricultural surpluses and low-price imports from other countries. Landless people, peasants, and small farmers must get access to land, water, and seed as well as productive resources and adequate public services. Food sovereignty and sustainability are a higher priority than trade policies.« 8
Die Abgrenzung durch Via Campesina von den »Zwängen des Marktes« verweist auf die oben von Friederike Habermann thematisierten Subjektivierungszwänge. Auch Birgit Sauer zeichnet die kapitalistischen Subjektivierungszwänge, welche ein Mindestmaß an Eigentum und Zugang zu Produktionsmitteln voraussetzen, die hungernden Menschen meist entzogen sind, folgendermaßen: »Diese Art herrschaftlicher Subjektivierung impliziert Entdemokratisierung, denn das vermeintliche Wissen um die Unmöglichkeit von Gleichheit ist die Voraussetzung […]. Der Zwang zum leistungsbereiten Selbstentwurf wird zudem zum Klassenmerkmal« (Sauer 2009: 114f.). Der Ausschluss in kapitalistischen Gesellschaften basiert also auf der Enteignung durch Privateigentum, durch Eigentum an Produktionsmitteln und durch Lohnarbeit. Oder wie Duchrow u.a. formulieren, handelt es sich bei kapitalistischen Strukturen um einen »Klassenkampf von oben«: »Die Kapitaleigner schmeißen in einem Klassenkampf von oben – statt den technisch ermöglichten Produktivitätsgewinn zur Verkürzung der Arbeitszeiten mit dem Ziel der Vollbeschäftigung zu verwenden – die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ganz aus dem formellen Wirtschaftsprozess heraus, um alle Produktivitätsgewinne in die Akkumulation ihres Kapitals fließen zu lassen« (Duchrow 2006: 43).
Es ist wichtig, sich die Grenzen der aktuell wirksamen Vergesellschaftungsbedingungen durch Kapitalismus und andere Herrschaftsstrukturen vor Augen zu führen, die auf dem Ausschluss von großen Bevölkerungsteilen aus der Lohnarbeit, auf unbezahlter Fürsorge- und Care-Arbeit mehrheitlich durch Frauen und auf der Auslöschung von Millionen von Existenzen von Menschen durch Hunger basieren.
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Ungleich verteilte Fürsorgearbeit – global care chain 9 Feministische Globalisierungskritik wendet sich einerseits gegen die ungleiche Verteilung von (unbezahlter) Fürsorge-Arbeit und Eigentum und gegen die »Paradoxien der Gleichheit« (Wichterich 2009: 55), welche in den Ländern des Nordens einen Schein rechtlicher Gleichheit für integrierte Minderheiten auf individueller Ebene vortäuschen, andererseits. Die Möglichkeit von »Chancengleichheit« für weibliche Individuen und einzelne Angehörige von Minderheiten entsprechen nicht realer und materieller Gleichheit für diskriminierte Massen in sozialer, kultureller und ökonomischer Hinsicht. Die Problematik von durch Frauen geleisteter unbezahlter Fürsorgearbeit kann aber weder durch die Bezahlung dieser Arbeit noch durch die Globalisierung von weltweiten Fürsorgeketten (global care chain) gelöst werden. Beide Varianten verändern nicht die geschlechtliche Konnotation dieser Tätigkeitsfelder und auch nicht die grundlegende herrschaftsförmige Organisierung dieser gesellschaftlichen Arbeiten. Um ungleich verteilte Fürsorgearbeit in Gesellschaften in Frage stellen zu können sind feministisch-geschlechterkritische und queere Zugangsweisen nötig, aber auch kapitalismus- und herrschaftskritische Infragestellungen von weiteren intersektional mit dem Geschlecht verbundenen Dimensionen politischer und ökonomischer Herrschaft. Fatou Sow formuliert diesen Zusammenhang für die Problematik der Armut: »Feminism is a common tool and all of us need to ground it. It is a common space and each of us should fell at the centre of this space of reflection and empowerment. […] poverty reduction is for instance an issue often raised to explain third world women’s situation. […] but poverty and social exclusion persists in the wealthiest countries of the world. […] no humanitarian approach will solve issues of poverty, dearth and social exclusion, neither in the North nor in the South. Solutions have to be political and economic, certainly not humanitarian« (Sow 2004: 3).
Unter anderem anhand der Kategorie des Geschlechts lassen sich intersektionale Schnittstellen der Lohnarbeit und der (unbezahlten) Fürsorge-Arbeit je nach den Notwendigkeiten des globalen Kapitals neu verteilen und begründen. So belegt die feministische Ökonomin Stephanie Seguino einen Zusammenhang zwischen den enormen Wachstumsschüben in Asien und den dort herrschenden Einkom-
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mensungleichheiten am Arbeitsmarkt: »Low female wages have spurred investment and exports by lowering unit labor costs, providing the foreign exchange to purchase capital and intermediate good« (Young 2006: 155). Die »unbezahlte Mehrarbeit« von Arbeitnehmer_innen einerseits und die unbezahlte Fürsorgearbeit von Frauen andererseits sind Grundvoraussetzungen für die Akkumulation von Kapital. Marx thematisierte ersteres: »Die Lohnarbeit stellt letztlich die zentrale Form der Expropriation dar. Die Kapitaleigentümer eigenen sich die unbezahlte Mehrarbeit der Lohnabhängigen an« (Duchrow 2006: 43). Die Frauenbewegungen ausgehend von den siebziger Jahren weisen bis heute auf die ungleiche Verteilung von Haus- und Fürsorgearbeiten zwischen den Geschlechtern hin (Notz 2004: 420ff.). Nancy Folbre bringt die Problematik von Fürsorge-Arbeit zwischen Zwang und Freiwilligkeit, zwischen Bezahlung und Ehrenamt auf den Punkt: »I am a big believer that we have some obligations to one another and that we can’t realize these obligations just by paying taxes or by sharing some of our income: We have to share some of our time and our energy and some of our affection« (Folbre 2007: 154). Fürsorge- und Haushaltsarbeiten verändern sich durch postfordistische Entwicklungen im Neoliberalismus. Birgit Sauer konstatiert in der Phase des Neoliberalismus drei Verschiebungen in Bezug auf die Fürsorgearbeit: »Erstens wird die Familienökonomie gegenüber dem Markt kleiner, oder anders gesagt: Der Markt bezahlter Arbeit dehnt sich gegenüber dem Feld der unbezahlten Arbeit aus. Zweitens wird der Markt unter dem Zauberwort ›Deregulierung‹ gegenüber der staatlichen Sphäre vergrößert, sozialstaatliche Regelungen von Arbeit und Alltag werden minimiert. Drittens wird die Grenze zwischen Staat und Privatsphäre/Familienökonomie verschoben, hier zieht sich der Staat zurück bzw. verschiebt Arbeit in die Familienökonomie« (Sauer 2009: 4).
Innerhalb der Familienökonomien entstehen durch den vermehrten Druck von Seiten der Lohnarbeit neue Hierarchien wie die von Birgit Rommelspacher so bezeichnete »ethnische Unterschichtung« in den Bereichen der Haus- und der care-Arbeit durch MigrantInnen. Angesichts der Zurückdrängung staatlicher Verantwortungsübernahme im Bereich der Fürsorgearbeit und durch die Ansprüche des global agierenden Kapitals, entsteht in der feministischen Debatte eine kritische Neubetrachtung der Rolle des Staates. Gayatri Chakra-
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vorty Spivak etwa spricht von einem kritischen Regionalismus (Butler/Spivak 2007: 77) zur Neukonzeption internationaler staatlicher Strukturen.10 Birgit Sauer eröffnet eine »Transformation von Staatlichkeit« und fragt nach den Chancen von (globaler) Geschlechterdemokratie durch eine solche Transformation anhand des Konzepts von gouvernance: »Einige feministische Autorinnen sehen in gouvernance – insbesondere auf internationaler Ebene – durchaus eine Möglichkeitsstruktur, um androzentristische, rassistische und klassistische Formen der auf (National-)Staatlichkeit basierenden Ordnung zu überwinden. Ilse Lenz hält gar eine globale ›Geschlechterdemokratie‹ für möglich« (Sauer 2009: 106). Mächtige Dynamiken, die gegen eine Neustrukturierung internationaler staatlicher Strukturen mittels gouvernance, also einer »Staatlichkeit von unten«, getragen durch nicht-hierarchische emanzipatorische Politikformen sprechen, sind sozio-ökonomischer Art wie die Restrukturierung von bezahlter Arbeit basierend auf unbezahlter Arbeit, die Prekarisierung von Frauenarbeit, die staatliche Externalisierung von care-Arbeit, die Feminisierung von ganzen Branchen. Abgesehen von diesen Gefahren formuliert Birgit Sauer sechs staats- und herrschaftskritische Thesen in Bezug auf den Ansatz von gouvernance, der die Grenzen der Mitbestimmung scheinbar in Richtung Inklusion eben durch weiter oben thematisierte und kritisierte Prozesse der Partizipation verschiebt: • Gouvernance führt zu einer Rekonfiguration von Staatlichkeit auf internationaler Ebene in Ermangelung alternativer weltweiter Strukturen. • Gouvernance birgt die Gefahr der Schließung öffentlicher politischer Entscheidungsräume durch Informalisierung/Privatisierung von Aushandlungen und Verhandlungen im Vorfeld parlamentarischen Geschehens. Dies führt zu der Problematik, dass in den Vorfeldbürokratien und Aushandlungsprozessen keine ausreichende Repräsentanz von Frauen gewährleistet ist, was innerhalb des Parlaments zumindest als Reflexionsebene noch gegeben sei. • Die in Vorverhandlungen involvierten Interessensverbände und Bürokratien setzen sich nicht für Gleichstellungs- und Frauenpolitik ein. Als Beispiel nennt Sauer die Empowerment-Programme der Entwicklungspolitik, durch welche Frauen für die ökonomischen und bevölkerungspolitischen Ziele der internationalen
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Agenturen instrumentalisiert werden. Diese Gefahr ergibt sich im selben Maße für europäische Gleichstellungspolitiken. • Machtasymmetrien, so Sauer, medialer, interessenspolitischer, korporatistischer u.a. Art wirken sich stärker bei informellen außerparlamentarischen Verhandlungen aus, wie sich im Bereich der EU-Bürokratie sehen lasse. • Sei die Einbindung von feministischen und geschlechterkritischen sozialen Bewegungen eine Technologie der Macht, welche Partizipation verspreche, aber gleichzeitig Differenz, Widerstand und Alternativen austrockne. • Löst durch Gouvernance neoliberales Selbst-Regieren und SelbstManagement die Subjektivierungsformen des Wohlfahrtsstaates ab und die Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit wird zur zentralen Aufgabe kapitalistischer Subjektivierungszwänge. Welche Vorgehensweisen und Interventionen emanzipatorischer Politik könnten nun in diesen Verschränkungen kapitalistischer und anderer struktureller Herrschaftsformen Schritte in Richtung geringerer gewalt- und hierarchieförmiger Kooperationsformen mit systemisch geringerer Diskriminierungs- und Zerstörungsdichte von Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen ermöglichen? Soziale Bewegungen und emanzipatorische Politiken erfinden eine Reihe von Vorschlägen und Experimenten zu alternativen Organisierungskulturen wie z.B. Ansätze solidarischer Ökonomie, die Commons-Bewegung, feministische Konzepte der Arbeitszeitverkürzung und Neuverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit (z.B. Frigga Haug: Die Vier-in-einem-Perspektive. Politik von Frauen für eine neue Linke), die basisdemokratischen Organisierungsformen der Zapatistas u.v.m. Eine mittlerweile in einigen Teilen der Welt bewährte Praxis zur Verringerung von Ungleichheit, Armut und Ausbeutung ist das bedingungslose Grundeinkommen, das nachgewiesenermaßen eine große Reihe von befreienden, Kreativität und Gesundheit frei setzenden, exklusive Prozesse behindernden Wirkungen entfaltet, wie das Beispiel Namibia zeigt: »BASIC INCOME GRANT (BIG) IN NAMIBIA: Seit 2008 bekommen in Otjivero in Namibia 1.000 Menschen 100 N$ (ca. 8½) als bedingungsloses Grundeinkommen ausgezahlt. Die Ergebnisse des Versuches sind ermutigend: die Zahl der Arbeitslosen ist seit Einführung des BIG gesunken; die Zahl derer, die aktiv Arbeit suchen, stieg; das Einkommen durch Lohnarbeit stieg um
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27 %, Einkommen durch Eigenaktivität um das Dreifache. 50 % mehr Kinder besuchen die Schule. Es gab keinen Fall mehr von Unterernährung. Der Versuch zeigt, dass Armutsbekämpfung durch Umverteilung ermöglicht wird, wenn eine Entkoppelung von Arbeit und Einkommen stattfindet und die Grundsicherung zum Menschenrecht wird. Die Regierung erwägt, ein Basic Income Grant landesweit einzuführen.«11
Queer-feministische Argumente für ein globales, bedingungsloses und E xistenz sicherndes Grundeinkommen 12 Mögliche Chancen von gouvernance sieht Birgit Sauer trotz ihrer grundlegenden Kritiken an diesem Konzept in folgenden Hinsichten: Erstens die Erarbeitung neuer Bündnispolitiken von Mehrheiten und Minderheiten und von feministischen Bewegungen mit den Gewerkschaften. Zweitens erneut feministische Perspektiven auf gesamtgesellschaftliche Verhältnisse von Arbeit, Geld und Zeit in die staatlichen Aushandlungsprozesse einzubringen. Eine Forderung feministischer Politik (siehe beispielsweise die Forderungen des Verbands feministischer Wissenschafterinnen Österreichs, insb. Forderung 813) in solchen Aushandlungsprozessen stellt beispielsweise das bedingungslose Grundeinkommen dar, da dieses die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmer_innen, aber auch die Entscheidungsmacht von care-Arbeiter_innen stärken und dadurch die vielfältigen Prozesse der Exklusion entschärfen könnte. In diesem Zusammenhang sollen die Perspektiven eines globalen bedingungslosen Grundeinkommens im Hinblick auf seine feministischen Implikationen diskutiert werden. Argumente für ein bedingungsloses Grundeinkommen aus queer-feministischer Perspektive sind etwa die folgenden bzw. können Einflüsse auf folgende Phänomene entstehen: 1. Die Bekämpfung von wachsender Armut und Armutsbedrohung, auch von Minderheiten. 2. Die Infragestellung einiger bedeutsamer Hindernisse auf dem Weg zur Gleichstellung von Frauen, Männern und anderen Geschlechtern durch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Solche Hindernisse für die Gleichstellung von Frauen, Männern und anderen Geschlechtern sind in etwa wie folgt zu benennen: 2.1 Die systemische Trennung von Lohnarbeit und Fürsorgearbeit (Familienarbeit, Kindererziehung, Pflege, Hausarbeit) in ihrer Zuordnung zu
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den Geschlechtern. 2.2 Die Doppelbelastung durch den Verbleib der Fürsorgearbeit bei den Frauen und das Hinzukommen der Erwerbsarbeit. 2.3 Die Nicht-Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Eltern bzw. die benachteiligende Vereinbarkeit durch Teilzeitjobs als »Zuverdienst«. 2.4 Die systematische Unterordnung einer Mehrheit von Frauen in wie immer legitimierten Hierarchien (z.B. Meritokratien) und Eliten – mit der Ausnahme einer verschwindenden Minderheit von Frauen. 2.5 Die Segregation des Arbeitsmarktes in »männliche und weibliche« Berufsfelder mit geringerer Entlohnung, geringerem Ansehen, geringeren Aufstiegsmöglichkeiten einerseits. 2.5 Die Feminisierung der Arbeit durch den Einsatz weiblicher billigerer Arbeitskräfte zur Prekarisierung und Auflösung der so genannten »Normalarbeitsverhältnisse« andererseits. 2.6 Die Passungsprozesse von prestigeträchtigen Zuschreibungen in Markt (wie Wettbewerbsfähigkeit, Konkurrenz- Leistungs- und Kampforientierung) und Staat (Diplomatie, Verhandlungsgeschick, Loyalität, Unterordnung, »Dienerschaft« etc.) mit einem immer wieder neu zu schaffenden »Menschenbild« des westlichen Mannes einerseits und den arbeits- und leistungsscheuen subversiven Subjekten und »Zuarbeitern« am Rande des Arbeitsmarktes andererseits. 2.7 Die Stereotypisierung von Zweigeschlechtlichkeit, sexueller Orientierung und die Sanktionierung von Abweichungen. 3. Ein bedingungsloses Grundeinkommen könnte möglicherweise dazu beitragen, in Verbindung mit zusätzlichen emanzipatorischen Dynamiken folgende Veränderungen von Hindernissen der Gleichstellung von Frauen, Männern und anderen Geschlechtern zu befördern: 3.1 Es könnte die Trennung von Lohnarbeit und Fürsorgesarbeit in ihren Übergängen fließender machen. 3.2 Durch einen fließenderen Übergang zwischen Lohn- und Fürsorgearbeit können möglicherweise, sollte der Legitimationsdruck steigen, auch Männer bewogen werden, einen größeren Teil der Fürsorgearbeit zu leisten. 3.3 Durch den Wegfall der Angst vor Arbeitslosigkeit und durch einen möglichen leichteren Wiedereinstieg in Lohnarbeit könnte die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für alle Geschlechter erleichtert werden. 3.4 Die Einordnung in Hierarchien würde nicht mehr so notwendig, um die eigene Existenz und das eigene Überleben zu sichern. Damit würde die Verhandlungsmacht gegenüber Hierarchien gestärkt. 3.5 Der Verhandlungsspielraum von Frauen und Minderheiten könnte ebenfalls steigen, da diese durch ein Existenz sicherndes Grundeinkommen nicht mehr existenziell auf ein Einkommen in Bil-
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liglohnsektoren und so genannten Frauenberufen angewiesen wären. Der Kampf um mehr Einfluss, Sichtbarkeit, Gestaltungsräume und höhere Löhne würde erleichtert. 3.6 Das Einkommen könnte nicht beliebig gesenkt werden. Da das Grundeinkommen die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer_innen stärkte, würde möglicherweise auch der Effekt der Feminisierung der Arbeit verringert. 3.7 Die Einflussmöglichkeiten all jener würden unter günstigen Bedingungen erhöht, die in einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung dauerhaft vor der Bedrohung ihrer materiellen Existenz stehen, zu einem großen Teil sind das Frauen. 3.8 Ein autoritäts- und dominanzfixiertes Menschenbild, das davon ausgeht, dass im Kern eine Gemeinschaft durch Zwang, Gewalt und Unterordnung zusammengehalten wird und dass Frauen und Minderheiten beherrscht werden müssen, um Unabhängigkeitsbestrebungen klein zu halten, würde insofern in Frage gestellt werden, als die Realisierung von relativ freien Kooperationsprozessen unabhängig von Lohnarbeit zwischen Menschen (wie dies ja bereits heute z.B. zum Teil in der ehrenamtlichen und unbezahlten Arbeit, sowie z.B. im Bereich der Open Software praktiziert wird) den Einsatz von Zwang als unnotwendig entlarven würde. 3.9 Die durch Zwänge und Sanktionierungen abgesicherten sozialen Stereotypen, Wohlverhaltensweisen, Unterordnungen und Hierarchisierungen könnten gelockert werden, welche zur Herausbildung von Geschlechtsidentitäten überhaupt führen. Durch die insgesamt größeren gesellschaftlichen Freiräume könnten die relativ fixen Fesselungen von Zu- und Festschreibungen von sozialen Räumen, Verhaltensmatrizen, Idealtypen, Erfolgsversprechen, Belohnungsschemata u.v.m. an die Sicherung der unmittelbaren finanziellen und bis zu einem bestimmten Grad auch sozialen Existenz von bestimmten Geschlechtern auf diese Weise tendenziell entkoppelt werden.
Anmerkungen 1 | Diesen Titel verdanke ich einerseits Alice Pechriggl und andererseits Janet Silmans Buch »Enough is Enough. Aboriginal Women speak out as told to Janet Silman« (1988). 2 | Von der Autorin abgewandelter Titel; im Original: »ni Dios, ni amo, ni marido, ni partido« (siehe: www.mujerescreando.org/, Stand: 26.11.2010). 3 | »Ya basta!« der Ausruf mexikanischer Frauen verweist z.B. auf einen solchen historischen Moment (Zwischenzeit e.V. 2009: 125).
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4 | Wilkinson 2001: 211. 5 | »Eisenbahnverbindungen allein halfen gar nichts. Es nutzte wenig, Getreide in hungerbedrohte Gebiete zu bringen, wenn den dortigen Massen schlichtweg die nötige Kaufkraft fehlte« (Davis 2001: 148). Im »Oktober dann eröffnete die Polizei das Feuer auf Plünderer, die in Behar und im Dekhan bei Bombay die Getreidevorräte angriffen« (ebd.: 149). 6 | Informationen werden von FIAN Österreich, AgrarAttac, ÖBV-Via Campesina Austria und normale.at bereit gestellt. Weltweit hungert mehr als eine Milliarde Menschen. Das bedeutet eine milliardenfache Verletzung des bereits in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbrieften Rechts jedes Menschen sich zu ernähren, siehe: www.viacampesina.at/ cms/sterreichweit/filmtage-hunger.macht.profite.-ii.html (Stand: 26.11. 2010). 7 | Vgl. http://viacampesina.org/(Stand: 26.11.2010). 8 | Vgl. http://viacampesina.org/(Stand: 26.11.2010). 9 | Als globale Betreuungskette bezeichnet man in der Soziologie eine staatenübergreifende Umverteilung von Betreuungsaufgaben innerhalb Bevölkerungsgruppen. Der Begriff wurde von Arlie Russell Hochschild geprägt und wurde vor allem in seiner englischsprachigen Form global care chain bekannt. 10 | »In such a world, global feminism might seek to reinvent the state as an abstract structure with a persistent effort to keep it clean of nationalisms and fascisms. […] Today, a Bulgarian group is thinking of the structural changes necessary for a critical regionalism« (S. 84). 11 | Siehe: www.vision-teilen.org/fileadmin/user_upload/Texte/grundein kommen.pdf (Stand: 26.11.2010). 12 | www.vision-teilen.org /fileadmin/user_upload/Texte/grundeinkom men.pdf (Stand: 26.11.2010). 13 | Lust & Frust in Strukturen & Institutionen: Das siebente Symposium in der seit 2002 bestehenden Symposienreihe des Verbands feministischer Wissenschafterinnen, veranstaltet vom VfW gemeinsam mit dem Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien und der ÖH der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt/Celovec sowie der Frauenhetz, wurde zum ersten mal in direkter Kooperation mit einer universitären Einrichtung umgesetzt. Unter dem Titel »Lust & Frust in Strukturen & Institutionen« nahmen am 24. und 25. September 2010 an die 40 Personen teil (Programm etc. siehe www. vfw.or.at, Stand 26.11.2010). Ein Ergebnis der Tagung ist ein Forderungskatalog, der auch als Basis für weitere Diskussionen dienen soll: 1) Bedingungslose Auszeit für alle. 2) Anlaufstelle für Burnout-Beratung: niederschwellig, unabhängig und weisungsfrei. 3) Mehr Reflexionszeit in der
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Arbeitszeit: 50:50-Regel, d.h. 50 % tun, 50 % darüber reden. 4) Aufwertung jeder sozialen Arbeit, auch Reproduktionsarbeit. 5) Mindestlöhne anheben. 6) Rotierende unabhängige Arbeitsinspektorate. 7) Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich. 8) Bedingungsloses existenzsicherndes Grundeinkommen. 9) Einrechnung ehrenamtlicher Arbeit ins BiP. 10) Einrechnung der Reproduktionsarbeit ins BiP. 10) Höhere Förderungen für autonome kollektive Projekte, insbesondere der feministischen Grundlagen- und Anwendungsforschung. 11) Kultur der Wertschätzung und Anerkennung.
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M ILITANTE U NTERSUCHUNGEN ALS ANARCHAFEMINISTISCHE K RITIK UND P R A XIS Stephanie Grohmann Der folgende Text entstand im Rahmen einer Militanten Untersuchung, die die Autorin gemeinsam mit einer Gruppe Frauen aus der HausbesetzerInnenszene in Bristol, UK, durchführt.1 Anlass für das Projekt boten zahlreiche informelle Diskussionen zum Zusammenhang von Gender, Raumaneignung und Sexismen in dieser und anderen HausbesetzerInnen-communities sowie ein gemeinsames Interesse der Beteiligten, das Potential kooperativer Forschung und Wissensproduktion für die Bearbeitung von Fragestellungen, die sich aus der gemeinsamen politischen Praxis ergeben, auszuloten. Die Idee, das Projekt in Form einer militanten Untersuchung durchzuführen, war dabei durchaus von dem Interesse geleitet, akademische Prozeduren für emanzipatorische Praxis anzueignen und Synergien zwischen der Arbeit politisch engagierter AkademikerInnen und AktivistInnen ›im Feld‹ zu schaffen. Den Ausgangspunkt bot
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dabei der Anspruch, Forschung aus dem Korsett der ›akademischen Produktionsweise‹ zu befreien und Wissensproduktion zu demokratisieren, ohne dabei an methodischem bzw. theoretischem Anspruch zu verlieren. Als erster Schritt in diesem Prozess versuchten wir daher, einen grundlegenden Rahmen für selbstorganisierte Forschung zu erarbeiten, der den politischen Anspruch der Beteiligten – überwiegend Personen, die sich im weitesten Sinne als AnarchistInnen bzw. AnarchafeministInnen identifizieren – in eine Forschungsethik und -methodologie umzusetzen, die diesem gerecht wird. Je weiter die Formulierung eines solchen methodologischen Bezugsrahmens jedoch fortschritt, umso deutlicher wurde, dass der Anspruch kollaborativer, nicht-herrschaftsförmiger und konsensualer Forschung mit herkömmlichen akademischen Prozeduren praktisch unvereinbar ist. Ausgehend von unseren Grundüberlegungen, wie eine anarchafeministische Forschungspraxis aussehen könnte, möchte ich daher im Folgenden das Konzept Militanter Untersuchungen als selbstorganisierte Wissensproduktion vorstellen und kritisch mit ›herkömmlichen‹ methodologischen Ansätzen vergleichen. Mein Zugang als Verfasserin dieses Textes spiegelt dabei meine eigene Rolle als ›hoffnungsvolle Jungakademikerin‹ einerseits und politische Aktivistin andererseits wieder – ein Großteil der hier angesprochenen Konfliktfelder zwischen akademischer und politischer Praxis tat sich als Ergebnis meiner Versuche auf, beide Rollen ›unter einen Hut‹ zu bringen. Es sei vorausgeschickt, dass diese Versuche insofern gescheitert sind, als das Projekt letztlich vom akademischen Kontext abgekoppelt wurde und mittlerweile unabhängig vom institutionellen Kontext als ›reines‹ AktivistInnenprojekt weiterläuft. Die folgenden Reflexionen stellen einige der Widersprüche dar, die, ausgehend vom Anspruch einer nicht-herrschaftsförmigen Forschungspraxis, zu dieser Trennung geführt haben.
Das Projekt Bristol hat eine lange Geschichte von Hausbesetzungen die, – vor dem Hintergrund dessen, dass Besetzungen in England unter bestimmten Umständen bis heute legal sind – eine wesentlich breitere Öffentlichkeit mit einbezieht als dies in anderen Europäischen Ländern der Fall ist. Vor dem Hintergrund zunehmender Prekarisierung und diverser Krisenerscheinungen der letzten Jahre stellen Besetzungen nach wie vor nicht nur eine »Szenepraxis« sondern eine gelebte Alternative
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zum warenförmigen Wohnen für viele auch nicht traditionell »linke« Gruppen dar. Die HausbesetzerInnen-community ist dabei gut vernetzt und, neben einem regen Kommen und Gehen zwischen den einzelnen Squatter-Hochburgen, trifft sich immer wieder zu größeren Zusammenkünften um Strategien auszutauschen, Wissen weiterzugeben und Besetzen als legale Aktionsform zu popularisieren. Eines dieser Treffen englischer und anderer europäischer AktivistInnen fand im Frühjahr 2009 in einer besetzten Villa im Bristoler Nobelviertel Clifton statt. In einem der zahlreichen Workshops kam die Diskussion auf das Thema Geschlecht im Zusammenhang mit Besetzungen und einige weibliche Aktivistinnen stellten fest, dass trotz der angeblichen Niederschwelligkeit und Offenheit besetzter Räume Geschlechterhierarchien – im Sinne von gegenderten Zuschreibungen bis hin zu offenem Sexismus – sehr wohl existierten. Die Reaktion auf diese Feststellung war zwiespältig: Die folgende Diskussion wurde schnell polarisiert in die Auffassung jener, die diesen Standpunkt teilten und jener, die (augenrollend) das Problem für nicht existent erklärten bzw. erklärten, es gäbe ja wohl Wichtigeres. Letztlich verlief die Debatte insofern im Sande als das Thema Gender zum subjektiven Problem einzelner (Frauen2) erklärt wurde und eine Gruppe anwesender Männer das Gespräch wider auf die »eigentlichen« Inhalte zu bringen versuchte (Ähnlichkeiten zu Diskussionsprozessen anderen Ortes sind vermutlich rein zufällig). Nichtsdestoweniger verwies jedoch die auffällige zahlenmäßige Unterrepräsentation von Frauen in der Community (persönliche Schätzung: Verhältnis ca. 70 : 30) als auch der Verlauf der Debatte selbst darauf, dass hier sehr wohl etwas im Argen lag. In zahlreichen informellen Gesprächen mit AktivistInnen beiderlei Geschlechts kristallisierten sich in den folgenden Wochen und Monaten für mich die folgenden Themen heraus: Praktische Skills: Häuser besetzen erfordert eine Reihe an handwerklichen Fertigkeiten (z.B. Wasser- und Elektroinstallation) die mit einer traditionell »männlichen« Sozialisation korrespondieren. Dabei ist es weniger so, dass Männer diese Fertigkeiten automatisch eher besitzen (obwohl gerade bei Männern aus der ArbeiterInnenklasse eine frühe Sozialisation zu dieser Form manueller Arbeiten sicher eine Rolle spielt) sondern eher so, dass Männer eher davon ausgehen sie zu besitzen – auch wenn das Gegenteil der Fall ist. Das Resultat ist, dass die praktische Aneignung des Raumes fast immer von Männern vorgenommen wird und Frauen danach »einziehen und Danke
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sagen«, wie es eine Besetzerin ausdrückte. Zwar ist sich die Community dieses Problems bewusst und es gibt immer wieder Versuche, es in Form von »Skills Transfer« workshops zu bekämpfen, diese jedoch sind selbst deutlich männerdominiert und wirken auf Frauen oft wenig einladend. Selbst in den verhältnismäßig wenigen Fällen, in denen Frauen sich die notwenigen Fertigkeiten tatsächlich aneignen oder sie von Haus aus besitzen sind Männer (oft entgegen ihrer eigenen »besten Absichten«) nur ungern bereit, ihr Wissens- und Machtmonopol so einfach aufzugeben (siehe auch Moan 1980: 164). Der »männliche Aktivisten-Habitus«: Wie auch andere Formen politischer Praxis ist das Häuserbesetzen von eigenen Mythen von AbenteurerInnentum, Gefahr und einer generellen »drop out« Attitüde umwoben. Während manche dieser Gefahren ganz real sind – wie etwa illegale Räumungen, gewalttätige Konfrontationen mit HauseigentümerInnen, unsichere Gegenden und der allgemein niedrige Lebensstandard – resultiert dies in einer allgemeinen Anerkennung von »Toughness« und »Mut« als erstrebenswerte Qualitäten. Der prototypische Squatter ist zumindest nach aussen hin ein Macker, »softe« Eigenschaften wie Kommunikationsfähigkeit oder Fürsorge werden, wie auch im »Mainstream«, sowohl feminisiert als auch wenig geachtet. Diese Betonung traditionell »männlicher« Subjektivität schafft ihre eigenen Probleme sowohl für Frauen, denen sie tendenziell abgesprochen wird, als auch für Männer, die ihr nicht entsprechen. Diese Situation wird noch dadurch verschärft dass im Vergleich zu anderen linken Milieus wenig öffentliche Auseinandersetzung mit Feminismus stattfindet. Safe Spaces: Die verhältnismäßige Unterrepräsentation von Frauen hat schließlich auch mit der öffentlichen Wahrnehmung von besetzten Räumen als »gesetzlose Zonen« zu tun, die von Freunden und Familie von BesetzerInnen oft als Gefahr für deren physisches und psychisches Wohlergehen betrachtet wird. Obwohl tatsächliche Gewalt und/oder sexualisierte Gewalt meiner Erfahrung nach relativ selten vorkommt, existiert für den Fall, dass sie es doch tut keine institutionalisierte Praxis (wie etwa das Konzept der Definitionsmacht3) die den Schutz von Betroffenen gewährleistet. Die Ablehnung der (selbst hoch problematischen) bürgerlichen Justiz innerhalb der Community ohne die Schaffung von Alternativen führt daher zu einer extreme prekären Abhängigkeit von Frauen von der »Solidarität« anderer.
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Während diese und andere Probleme »unter der Hand« immer wieder thematisiert werden, hat es, trotz expliziten Interesses speziell von Frauen, bislang keine breitere Diskussion oder kollektive Lösungsfindung gegeben. Ziel des Forschungsprojektes war es daher, eine Diskussionsplattform für Frauen zu schaffen, sich über gemeinsame Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam Strategien zu entwickeln, um die dominante Praxis zu verändern.
Anarchafeministische Forschung – einige Grundüberlegungen ›Anarchafeminismus‹ ist an sich eine Tautologie. Wenn Anarchismus als solches eine politische Philosophie darstellt, die davon ausgeht dass »Menschen fähig sind zur Selbstbestimmung, dass Selbstbestimmung die Grundlage menschlicher Freiheit ist und dass Machtbeziehungen Selbstbestimmung unterminieren und daher ständig bekämpft werden müssen« (Brown 1990: 205), dann schließt dies klar die Herrschaft von Männern über Frauen mit ein. Ich verwende den Begriff hier aus zwei Gründen: Einerseits um darauf hinzuweisen, dass sich Feminismus innerhalb der anarchistischen Bewegung nicht auf explizit ›anarchistische‹ Theorieansätze beschränken muss, und andererseits um der Tatsache gerecht zu werden, dass der Einschluss feministischer Kämpfe in die breitere anarchistische Bewegung oft ein sehr theoretischer bleibt – was auch der Anlass und Ausgangspunkt dieses Projektes ist. »Anarchisten-Männer sind nur wenig besser als Männer anderswo, wenn es um ihre Unterwerfung von Frauen geht. Deswegen auch die Notwendigkeit einer feministischen anarchistischen Revolution. Anderenfalls verkommen die grundlegenden Prinzipien des Anarchismus zu völliger Heuchelei« (Kornegger 2002: 32; siehe auch Brown 1990: 208). Anarchafeminismus versucht daher, anarchistische Politik mit feministischen Positionen zu verbinden, die sich meist aus radikalen oder sozialistischen Feminismen speisen. Der Kampf gegen männliche Unterdrückung wird dabei in Verbindung mit anderen Kämpfen (nicht aber diesen untergeordnet), z.B. auf der Basis von Ethnizität, Klasse oder Sexualität gesehen: »Im Gegensatz zu den meisten anderen politischen Bewegungen versteht der Anarchismus alle Formen von Unterdrückung als sich gegenseitig verstärkend; er drängt daher darauf, dass Befreiungskämpfe an vielen Fronten
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gleichzeitig stattfinden. Manche AnarchistInnen konzentrieren sich daher darauf, staatliche Herrschaft herauszufordern, manche auf den Kampf gegen männliche Herrschaft und wieder andere verwenden ihre Energie auf den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung, Zwangsheterosexualität, organisierte Religion und eine Vielzahl anderer Anliegen« (Brown 1990: 209).
Ebenso kann Anarchafeminismus unterschiedliche subjektive Erfahrungen männlicher Herrschaft (beeinflusst von Ethnizität, Klasse, Sexualität etc.) in einem gemeinsamen Rahmen emanzipativen Handelns verbinden. »Der Ausdruck ›Herrschaft‹ lenkt die Aufmerksamkeit auf die vielfältigen teilweisen Überschneidungen zwischen unterschiedlichen Erfahrungen, gegen die angekämpft wird, er konstruiert eine allgemeine Kategorie, die es erlaubt, verschiedene Erfahrungen in Bezug zueinander zu setzen und gleichzeitig in ihren eigenen, speziellen Realitäten verankert zu bleiben. Er schließt eine Vielzahl von Artikulationen unterschiedlicher Unterdrückungs-, Ausschluss-, und Kontrollformen durch die davon Betroffenen mit ein, in zahllosen individuellen und kollektiven Formen des Widerstands« (Gordon 2007: 38). 4
Ziel (die Überwindung von Herrschaft) und Mittel (die Art und Weise ihrer Überwindung) müssen dabei logisch kongruent bleiben, soll sich die politische Praxis nicht ad absurdum führen. Temporäre Machtübernahmen zum Zweck der revolutionären Transformation sind daher aus anarchistischer Sicht abzulehnen, Herrschaftsmechanismen innerhalb der eigenen Bewegung zu kritisieren und zu bekämpfen. Wenn auch die meisten AnarchistInnen sich der Tatsache bewusst sind, dass eine völlig egalitäre ›Subkultur‹ im Rahmen einer zutiefst herrschaftsförmigen Gesellschaft praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist, bleibt der Anspruch einer weitestgehenden Aufhebung von Herrschaft in der eigenen Praxis doch ein erklärtes Ziel. Aus dieser Positionierung heraus ergaben sich für uns drei grundlegende Kriterien für eine anarchafeministische Forschungspraxis: Die Forschung bekennt sich zu anarchistischen Kämpfen gegen Herrschaftsformen im Allgemeinen und anarchafeministischen Kämpfen gegen männliche Herrschaft im Besonderen. Während sich die Untersuchung im Feld anarchistischer Praxis verortet, anerkennt sie gleichzeitig die Notwendigkeit, diese Praxis
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ständig zu reflektieren und zu kritisieren, auch und besonders im Zusammenhang mit männlicher Herrschaft. Das Bekenntnis zum Kampf gegen Herrschaft spiegelt sich sowohl im Anspruch der Untersuchung, zu den Zielen dieser Kämpfe beizutragen und sie zu unterstützen, als auch in der Form der Untersuchung selbst als kollaborativ, nicht-herrschaftsförmig und konsensual. Diese Überlegungen bilden den grundlegenden Bezugsrahmen für eine Forschungsethik, die mit den Zielen der Bewegung, innerhalb derer und für die sie stattfindet, in Einklang stehen. Werfen wir nun zum Vergleich einen Blick auf feministische Diskussionen von Herrschaft im akademischen Kontext:
Feministische Forschungsethik – akademische Zugänge Feministische Diskussionen über die ethische Dimension empirischer Sozialforschung streichen seit langem die Zentralität von Machtbeziehungen in der Beziehung von Forschenden und Beforschten heraus. Die Grundannahme feministischer Forschung – dass traditionelle ›malestream‹5 Forschung die Perspektiven nicht nur von Frauen sondern auch zahlreicher anderer marginalisierter und ›unterdrückter‹ Gruppierungen systematisch ausschließt und zum Schweigen bringt, und in der Folge Debatten über die Dominanz ›weißer, westlicher, bürgerlicher‹ Perspektiven innerhalb der feministischen Sozialforschung, haben die Positionalität der Forschenden im Forschungsprozess in den Mittelpunkt gerückt. Im Zuge dessen findet sich in den meisten feministischen Publikationen nun zumindest eine Art ›Disclaimer‹, der die Identität der Autorin bezüglich unterschiedlicher Unterdrückungsmodi ausweist und ihre eigenen intellektuellen und emotionalen Erfahrungen in den Forschungsprozess miteinbezieht. Diese Konzentration auf Positionalitätsfragen hat gleichzeitig KritikerInnen auf den Plan gerufen, die in exzessiver ›Nabelschau‹ die Gefahr erkennen, dass feministische ForscherInnen letztlich mehr mit sich und ihren eigenen Problemen als mit der Forschungsfrage oder den Anliegen der ›Beforschten‹ beschäftigt sind. »Tatsache ist«, fasst Daphne Patai die Kritik zusammen, »dass diejenigen von uns, deren Medium das Wort ist, nun einmal privilegierte Positionen innehaben, und diese geben wir auch nicht dadurch auf,
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dass wir endlose Innenschau und Selbstidentifizierung betreiben. Letztlich kann ich meine privilegierte Position schlicht nicht loswerden, solange ich zum Zweck der Veröffentlichung schreibe oder allgemein das Leben einer akademischen Intellektuellen führe. Zweifelsohne wird irgendjemand bald vorschlagen, dass einige von uns genau damit aufhören sollten« (Patai 1994: 67; siehe auch Doyle 1999: 242). 6
Patais eher zynische Schlussfolgerung einmal dahingestellt (sinngemäß: ›weniger grübeln, mehr arbeiten‹), erscheint mir ihre Analyse näher an der Realität als viele gutgemeinte ›horizontale‹ Ansätze, welche sich auf das endlose Aufzählen von ›Positionalitäten‹ (weiß, Mittelklasse, Europäisch, heterosexuell etc.) beschränken, nur um im Anschluss schulterzuckend doch wieder zu business as usual überzugehen. Ein Verständnis von Reflexivität, welches Unterdrückung zwar konstatiert, aber nicht darüber hinausgeht, wirkt letztlich affirmativ. Feministische Forschung, die sich ernsthaft dem Ziel verschreibt, Herrschaftsbeziehungen zu bekämpfen, muss daher die Frage stellen, woran es liegt, dass Machthierarchien im Forschungsprozess so unausweichlich scheinen. Dazu ist es notwendig sich mit den materiellen Grundbedingungen akademischer Wissensproduktion auseinanderzusetzen, die dazu führen, dass ›das Leben einer akademischen Intellektuellen‹ zu führen gleichbedeutend ist mit der Reproduktion von Unterdrückungsmechanismen. Trotz aller Reflexivität sind die materiellen Bedingungen, unter denen akademische Arbeit stattfindet, eines der größten Tabuthemen im akademischen Diskurs (Rabinow 1986; Hey 2001; Butterwick/Dawson 2005). Nichtsdestoweniger haben Feministinnen wie Liz Stanley im Anschluss an Marx auf die Bedeutung einer Analyse der politischen Ökonomie des akademischen Systems hingewiesen, die »die akademische Produktionsweise auf intellektueller und analytischer Ebene Ernst nimmt« (Stanley et al. 1990: 11; siehe auch Harvie 2006). Stanley weist darauf hin, dass das Ignorieren der materiellen Grundbedingungen akademischer Wissensproduktion an sich eine Form männlicher Bias darstellt, welche es für feministische Epistemologien aufzuzeigen gilt. Ihre Schlussfolgerung jedoch, dass die Analyse der Produktionsbedingungen von Wissen per se Feministinnen befähigen kann, ›unentfremdetes‹ Wissen zu produzieren (Stanley et al. 1990: 13), beruht auf einem verkürzten Verständnis dessen, was Marx unter Entfremdung versteht.
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Akademische Forschung und Entfremdete Wissensproduktion Entfremdung tritt für Marx im Produktionsprozess in dreifacher Form in Erscheinung: einmal als die Entfremdung der Produzierenden vom Produkt ihrer Arbeit: »Das Produkt der Arbeit ist die Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit« (Marx 1844). Zweitens als Entfremdung der Arbeiterin von ihrer eigenen Aktivität, welche daher rührt, dass Arbeit immer zu einem Grad erzwungene Arbeit ist: die Notwendigkeit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen die dem spezifischen Inhalt der Arbeit immer vorangeht. Drittens schließlich die Entfremdung der Arbeitenden von dem physischen und sozialen Kontext ihrer Tätigkeit, da Arbeit »dem Menschen seinen eignen Leib [entfremdet], wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen« (Marx 1844). Entfremdung in der akademischen Arbeit ist so gesehen kein Produkt männlicher Ignoranz, wie Stanley argumentiert, sondern liegt in der Bestimmung der Lohnarbeit selbst – und mit Reflexivität alleine ist dieser Tatsache nicht beizukommen.7 Das Problem, so banal es auch klingt, besteht darin, dass Arbeitende (akademisch oder nicht) in erster Linie am Verkauf ihrer Arbeitskraft interessiert zu sein haben. Der konkrete Inhalt der Tätigkeit bzw. die Frage nach ihrem Nutzen und Sinn ist diesem Imperativ grundsätzlich untergeordnet – kann die Arbeitskraft nicht erfolgreich verkauft werden, stellt sich diese Frage erst gar nicht. Hier stellt sich nun das zentrale Problem der Machtbeziehungen im Forschungsprozess, auch und ganz besonders im Zusammenhang mit ›parteilicher‹ oder ›politisch engagierter‹ Forschung. Was auch immer der konkrete Forschungsgegenstand – sei es nun das Sonnensystem, tropische Insekten oder menschliche Wesen, so werden diese, ebenso wie die Forschungstätigkeit selbst, notwendigerweise ein Mittel zum Zweck – welcher sich per definitionem von jenem unterscheidet, den die Forschende bewusst im Sinne hat.8 Die sozial und politisch engagierteste Forschung hängt immer auch von der Fähigkeit der Forschenden ab, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und völlig unabhängig davon, mit wieviel Respekt und Achtung sie ihren ›Forschungssubjekten‹ begegnet, sind diese letztlich doch ein Mittel, um die Rechnungen zu zahlen (siehe auch Briggs 2008: 91f.; Gorelick 1991: 460). PragmatikerInnen wie Patai mögen solche Selbst-
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verständlichkeiten kaum der Rede wert finden, eine feministische Forschung, die sich ernsthaft mit ethischen Fragen beschäftigt, kann jedoch nicht darüber hinwegsehen, dass die Instrumentalisierung der ›Forschungssubjekte‹ bereits in die Definition der Forschung als Lohnarbeit eingeschrieben ist, und ›kooperative‹, ›gleichberechtigte‹ und ›nicht-ausbeuterische‹ Forschung im akademischen Kontext somit immer an eine objektive Schranke stößt. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass der Anspruch einer anarchafeministischen Forschungspraxis nicht nur den akademischen Produktionsmodus in Frage stellt sondern damit auch die kapitalistische Logik selbst, auf die sich dieser begründet. Im Rahmen unseres Projektes bedeutete dies, eine Forschungspraxis zu finden, die die spezifischen Ziele unserer Untersuchung mit dem weiteren Anspruch der Bewegung, als Teil derer wir uns definierten, in Theorie und Praxis verbindet. Eine solche Herangehensweise fanden wir im Konzept der Militanten Untersuchung, welche hier daher kurz vorgestellt werden soll.
Militante Untersuchungen als transformative Forschungspraxis Militante Untersuchungen sind eine Form kollektiver Forschungspraxis von, für und über soziale Bewegungen. Zurückgehend auf Marx’ ›ArbeiterInnenuntersuchung‹ von 1880, wird der Begriff heute meist mit der Tradition der italienischen Autonomia-Bewegung (Borio et al. 2007: 165; Negri 2007) assoziiert. Jüngste Beispiele wurden von Gruppen wie Precarias a la Deriva in Spanien, Colectivo Situaciones in Argentinien und Bureau d’ Etudes in Frankreich sowie von verschiedenen anarchistischen and antikapitalistischen Strömungen des ›Global Justice Movement‹ vorgelegt (eine Sammlung findet sich z.B. in Graeber/Shukaitis 2007). In vielerlei Hinsicht überschneidet sich das Konzept mit radikaleren Interpretationen partizipativer Aktionsforschung sowie feministischen Ansätzen. Wie in der Aktionsforschung geht es auch in der Militanten Untersuchung darum, die Dichotomie von Forschung und (politischer) Praxis zu hinterfragen, kooperative Forschungspraktiken zu etablieren und explizit das Ziel einer emanzipativen Transformation durch den Untersuchungsprozess anzustreben (siehe auch FalsBorda 1991; 2001; Torbert 2001). Wie feministische Methodologien setzen sie an einer Positionierung aller Beteiligten (also ForscherInnen
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und Beforschte) auf derselben ›kritischen Ebene‹ geteilter Anliegen und Ziele (Fonow/Cook 1991) an. Über beide Ansätze hinausgehend beinhalten Militante Untersuchungen jedoch auch eine radikale Kritik der Rolle akademisch Forschender und ihres Eingebundenseins in das System professionalisierter Wissensproduktion, welches zumindest teilweise genau jene Machthierarchien hervorbringt, die die o.g. Methodologien zu bekämpfen versuchen. Das Ergebnis ist eine Art Standpunktmethodologie, welche eine gemeinsame politische Praxis sowohl zum Ausgangspunkt als auch zum Untersuchungsgegenstand für kooperative Forschungspraxis macht. »Militante Forschung ist keine Aufgabe für SpezalistInnen, kein Prozess der nur jene betrifft die traditionell als Forschende begriffen werden. Sie ist eine Intensivierung und Vertiefung des Politischen. Militante Forschung beginnt mit den Interpretationen, Erfahrungen und Beziehungen die durch Organisierung entstehen, sie ist sowohl eine Methode politischer Aktion als auch eine Art von Wissen« (Graeber/Shukaitis 2007).
Insofern ist die Militante Untersuchung für die Forschungspraxis in etwa, was Zines und Indymedia-Plattformen für den Journalismus sind – selbstorganisierte Versuche, Ressourcen und Praktiken aus dem Korsett der Arbeits- und Warenlogik zu befreien: »DIY [do it yourself] ist die Idee, dass Menschen für sich selbst Dinge tun können, die normalerweise der Sphäre kapitalistischer Produktion zugeordnet werden (in der Produkte zum Zweck des Konsums erzeugt werden, in einem System, das Entfremdung und Nicht-Partizipation fördert). Insofern kann alles, von Musik und Zeitschriften bis hin zu Bildung und Widerstand, in einer nichtentfremdeten, selbstorganisierten und bewusst antikapitalistischen Art und Weise geschaffen werden« (Holtzman et al. 2007: 44).
Abgesehen von ihrem expliziten politischen Anspruch ergeben sich dadurch für Militante Untersuchungen eine Reihe von Unterschieden zu herkömmlicher Forschungspraxis:
Ausgangsposition Der erste gravierende Unterschied liegt in der Positionierung oder dem Standpunkt der Forschenden im Verhältnis zu der beforschten Praxis, die in einer Umkehrung traditioneller Identifikationen
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besteht. Anstatt sich aus dem akademischen Kontext heraustretend für einige Zeit auf eine bestimmte Praxisform einzulassen, nur um danach in den Schoss der Universität zurückzukehren und alles aufzuschreiben, kommt die militante Forscherin aus dem Feld selbst. Ihre Identität ist in erster Linie durch das politische Handlungsfeld definiert, das Ursprung, Gegenstand und Adressat der Forschung ist – die Universität kann, muss aber nicht im Zuge des Forschungsprozesses passiert werden. Diese Umkehrung in der Ausgangsposition der Forschenden umgeht jene kognitive Objektivierung der Praxis von der Bourdieu sagt: »Die spezifische Beziehung des Anthropologen zum Objekt seiner Studie enthält die Merkmale einer theoretischen Verzerrung insofern, als seine Situation als Beobachter, ausgeschlossen vom wirklichen Spiel sozialer Aktivitäten durch die Tatsache, dass er keinen Ort hat […] ihn zu einer hermeneutischen Repräsentation von Praktiken bewegt« (Bourdieu 1977, zitiert in: Juris 2007: 165).
Diese ›Außenperspektive‹ führt zwangsläufig zu einer Objektivierung der untersuchten Praxis, oder mit den Worten von Wacquant, zur Konstruierung der Welt als Spektakel (Wacquant 1992, zitiert in: Juris 2007). Militante Untersuchungen versuchen, dieses Problem durch eine Positionalität zu lösen, die politische Interessen nicht bloß stellvertretend übernimmt oder verteidigt, (wie z.B. Scheper-Hughes 1995; Taussig 1987) sondern von vorne herein mit ihnen identifiziert ist (wenn auch möglicherweise nicht mit allen sich daraus ergebenden Praktiken). Gleichzeitig ergibt sich aus dieser Positionierung ein neuer Zugang zu der von ›AktivismusforscherInnen‹ als Theorie-Praxis Spaltung (siehe Halfacree 1999: 210) bezeichneten Problematik, die wahlweise als »killing opposition« (Spivak 1990: 120) wahrgenommen wird oder in Form von »Drittpositionierungen« überbrückt werden soll (Routledge 1996a). Diese Spaltung bezeichnet weniger einen Gegensatz von Theorie und Praxis als mehr einen von »Theoretisieren« und »Praktizieren« als Aktivitäten – aufbauend auf der Annahme, dass ersteres die Aufgabe von AkademikerInnen und zweiteres die Aufgabe von AktivistInnen ist. Die Tatsache, dass die Positionen praktizierender AktivistInnen sich von den theoretischen Konzeptionen der AkademikerInnen unterscheiden, ist dabei wenig überraschend – sie ist jedoch in diesem Fall weniger auf einen grund-
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legenden Widerspruch zwischen Theorie und Praxis als auf einen grundlegenden Unterschied in den Interessenslagen der beiden Gruppen zurückzuführen: »Wenn es um die Beforschung von Widerstand geht, hat es traditionell […] immer einen Bruch zwischen der Zeit der Solidarität und der Zeit des Schreibens gegeben. Erstere ist geprägt von Beeinflussbarkeit und Dankbarkeit gegenüber den GastgeberInnen, während letztere die institutionelle Zugehörigkeit und die intellektuellen, professionellen und finanziellen Profite offenlegt, für die diese Gastfreundschaft objektiv Mittel zum Zweck war« (Routledge 1996b, zitiert in: Juris 2007: 171).
In diesem Sinne ist es also gerade die Instrumentalisierung der ›Beforschten‹ als Mittel zum beruflichen Zweck des Akademikers, welche den Bruch zwischen der Teilnahme am Geschehen und der späteren theoretischen Aufarbeitung ausmacht – nicht aber eine grundsätzliche Unvereinbarkeit von Theorie und Praxis (siehe auch Fuller 1999).
Ziel und Zweck Ein weiterer Unterschied liegt in der Definition dessen, wofür (und für wen) die Forschung dient. Akademische Diskussionen über das Für und Wider politisch parteilicher Forschung spiegeln zumindest bis zu einem gewissen Grad die Tatsache wider, dass zumindest gemäß der offiziellen Wahrnehmung politische Neutralität eine Option darstellt. Die Einbettung akademischer Wissensproduktion in das institutionalisierte Feld von Praktiken, die das akademische System bilden, bedeutet allerdings, dass zumindest die politischen Interessen dieser Institutionen einer vorgeblichen ›Wertneutralität‹ immer schon vorgelagert sind. Der Zweck eines Forschungsvorhabens ist daher immer in erster Linie der Zweck der Universität und ihrer GeldgeberInnen, die Fragen, die gestellt werden können sind jene, die in ›Lücken in der Literatur‹ oder in geförderte Forschungsprogramme passen. Sollte Forschung daneben andere Ziele verfolgen – z.B. jene der Menschen, an denen sie vollzogen wird – so geschieht dies eher trotz und nicht wegen der Logik des akademischen Systems. Militante Untersuchungen wiederum entstehen aus einer bestimmten Praxis heraus und die gestellten Fragen sind Fragen, die sich aus dieser Praxis ergeben. Der Unterschied wird am deutlichsten anhand des Vergleichs mit dem, was in der Soziologie als ›Social
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Movement Research‹ bezeichnet wird. Hier ein Beispiel für einige der dort gestellten Fragen: »Wer sind beispielsweise die Schlüsselakteure (Individuen, Netzwerke und Organisationen) in der gegenwärtigen britischen Umweltbewegung? Wie verhalten sie sich zueinander und wie interagieren sie? Wo sind die Allianzen, wo die Konflikte und wie stellen sich diese in der Praxis dar? Wer hat welche Ressourcen und wozu? Welche kulturellen und symbolischen Ressourcen werden in diesem Feld gutgeheißen und weitergegeben? Wie werden AkteurInnen in diesem Feld angeworben? etc.« (Crossley 2003: 63).
Dies sind zweifelsohne interessante Fragen – die Frage ist allerdings, interessant für wen? Offensichtlich für den Akademiker sowie dessen ArbeitgeberInnen und die BetreiberInnen des Publikationsmediums – und darüber hinaus mit einiger Wahrscheinlichkeit für die Polizei und diverse rechtsextreme Organisationen, wie die BetreiberInnen der britischen ›Redwatch‹ Webseiten, die ihrerseits versuchen, Informationen über linke Netzwerke zu sammeln. Es erfordert jedoch einiges an Vorstellungskraft um dahinterzukommen, welches Interesse die Individuen und Gruppen innerhalb dieser Bewegung selbst an den Antworten haben sollten – die kennen sie ja bereits. ›Social Movement Research‹ versucht somit kurz gesagt, das Wissen von AktivistInnen für die Zwecke der Universität und ihrer politischen und wirtschaftlichen PartnerInnenorganisationen zu instrumentalisieren. Militante Untersuchungen hingegen instrumentalisieren (wenn überhaupt) akademisches Wissen für die Zwecke einer sozialen Bewegung. Anstatt eines professionellen Interesses oder eines abstrakten ›Willens zum Wissen‹ (Foucault) welches mit politischen Interessen zusammenfallen kann, aber nicht muss, ist es hier die Notwendigkeit, die eigene politische Praxis zu reflektieren, die das auslösende Moment für ein Forschungsvorhaben bietet. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Militante Forschung »die Behauptungen von AktivistInnen unhinterfragt übernehmen soll; ihre Ahnungen, Argumente, Behauptungen und Theorien sollen ebenso kritisch hinterfragt werden« (De-Shalit 2000, zitiert in: Gordon 2007: 278). Militante Forschung stellt insofern eine Form der immanenten Kritik dar, insbesondere dort wo sie die gemeinsam festgelegten Ziele kritisch mit den tatsächlich vorgefundenen Praktiken vergleicht. Eine feministische Kritik anarchistischer Praxis hat eben diese Funktion.
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Prozess Ein dritter Unterschied lässt sich in der Art und Weise ausmachen, wie Militante Forschung vollzogen wird. Borio et al. (2007) beschreiben diesen Prozess als Zusammensetzung zweier sich überschneidender aber unterschiedlicher Komponenten: jenes der ›Untersuchung‹ (Inquiry), die im Grunde einem ›klassischen‹ Forschungsprozess entspricht, und jene von ›Conricerca‹ (co-Forschung), welche die Grenzen klassischen Forschungsdesigns überschreitet. Inquiry und Conricerca unterscheiden sich in drei Aspekten: Inquiry ist zunächst ein Prozess der Datensammlung mit einem klar definierten Anfang und einem Ende – Conricerca dagegen »konfiguriert sich als ein offener Prozess, eine ›Spirale des Entstehens‹ welche neue Ebenen von Wissen und Praxis konstruiert von denen ausgehend immer wieder neue aufgebaut werden können« (Borio et al. 2007: 169). Zweites ist Inquiry »[…] hauptsächlich kognitiv in ihrer Dimension, während Conricerca die konkrete Aktivität der Transformation des Bestehenden benennt« (ebd.). Und drittens: »Inquiry geht von einer Trennung zwischen der Produktion von Wissen und der Konstruktion eines politischen Weges aus, während bei Conricerca, strategische Arbeit und die Wahl von Praktiken ein interner anstatt ein externer Bestandteil des Feldes der Zusammenarbeit der Co-Forschenden ist, im Sinne von flexiblen Zielen, Zwecken und Verlaufsformen« (ebd.). Während sich Inquiry also akademische Techniken wie Interviews, Fragebögen etc. zunutze macht, handelt es sich bei ihr nur um eine Phase des Forschungsprozesses, nicht um den Prozess selbst. Conricerca, als offener, kooperativer und fließender Prozess umfasst wesentlich mehr – die kooperative Datensammlung und -analyse sowie die Produktion eines kollektiv geschaffenen ›Forschungsergebnisses‹ sind ihrerseits Bausteine in einem Prozess, der auf die Veränderung von Praxis abzielt. ›Kooperativ‹ bedeutet hier in erster Linie, dass die Interpretationen aller Teilnehmenden gleichberechtigt in den Forschungsprozess einfließen und akademische Forschende somit nicht per se ein Monopol auf die Interpretation anderer Standpunkte haben. Insbesondere im Kontext feministischer Forschung bedeutet dieser ›bottom up‹ Ansatz, dass die Veränderung von Praxis nicht die Form eines avantgardistischen Verständnisses von ›Consciousness-Raising‹ annimmt, in dem den von ›falschem Bewusstsein‹ betroffenen Unterdrückten die ›richtige‹ Sichtweise auf ihre Situation vermittelt werden soll.
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Ergebnisse Viertens schließlich unterscheiden sich Militante Untersuchungen in der Art der produzierten Ergebnisse. Während die Produktion und Interpretation von ›Daten‹ durchaus ein Schritt innerhalb des Forschungsprozesses ist, ist sie an sich noch kein Ergebnis. Militante Untersuchungen, als Instrumente der Transformation, sind nicht abgeschlossen, bis die gewünschte Veränderung erreicht ist. Das Ziel ist es daher nicht, jene Art objektivierten, entfremdeten Wissens zu produzieren, das sich anschließend in eine Vorlesung oder ein Buch abpacken und verkaufen lässt (vgl. Spivak 1993: 62), das Ziel ist eine Transformation von Praxis, die sich als schwer oder gar unmöglich quantifizieren lässt: »Eines der wichtigsten Elemente des Diskurses über die Methode ist die praktische, materielle Determination; die Praxis die den rein kritischen Rahmen durchbricht. Sprache und Kooperation müssen sich mit einem praktischen Bruch überschneiden, und mit der Festschreibung der Zentralität geteilter Praxis, die das konkrete Zusammenfallen von Wissen und Handeln in diesen Prozessen darstellt« (Negri 2007: 64).
Ein Forschungsbericht, eine Analyse, eine Beschreibung des Vollbrachten, ist daher noch kein Ergebnis an sich – diese mögen ein Werkzeug sein, können aber auch ein Hindernis darstellen. Abgesehen von diesem Fokus auf Transformation ist die kooperative Produktion von Ergebnissen jenes Element der Militanten Untersuchung, das die Logik des akademischen Produktionsmodus am eindringlichsten in Frage stellt: die Logik der Lohnarbeit (welche in abgeschwächter Form auch für die Vorstufen akademischer Arbeit, also das Studium, gilt) verlangt, dass jedweder Output klar denjenigen Individuen zugeschrieben werden kann, die ein bestimmtes, objektifiziertes Forschungsergebnis abliefern. Diese Notwendigkeit ergibt sich einerseits aus der Tatsache, dass ›Output‹ ein quantifizierbares Maß der Produktivität der Arbeitenden darstellt, und andererseits daraus, dass die in Lohnarbeit produzierten Ergebnisse die Form von Privateigentum annehmen – man denke z.B. an ›intellectual property rights (Rechte an geistigem Eigentum)‹ (Vercellone 2007: 33). Der Zwang akademisch Arbeitender, den Forschungsprozess zu steuern und zu kontrollieren ergibt sich daher nicht zuletzt aus der Tatsache, dass das Endprodukt ihnen als Resultat ›ihrer‹ Arbeit zugeschrieben
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werden muss – warum sonst sollten sie auch dafür bezahlt werden (siehe auch Briggs 2008: 83; May 2006)? Dies wird ebenfalls in den Praktiken deutlich, in denen Individuen für die spätere akademische Lohnarbeit ausgewählt werden, also Prüfungen und schriftliche Arbeiten Studierender. Soll der Auswahlprozess irgendeine Aussagekraft haben, welche Individuen die vielversprechendsten KandidatInnen für die akademische Laufbahn darstellen, muss ausgeschlossen werden, dass ihr Beitrag sich mit dem anderer vermischt – kooperativer Forschung, insbesondere mit Nichtmitgliedern der ›akademischen Community‹ ist so effektiv ein Riegel vorgeschoben (wer daran Zweifel hegt sei eingeladen, ein mit einer beliebigen Anzahl an nichtakademischen Co-AutorInnen verfasstes Paper zur Benotung abzugeben).
Schlussbemerkung Aus diesen Überlegungen wird deutlich, welche Schwierigkeiten sich am Schnittpunkt zwischen selbstorganisierter Wissensproduktion und dem akademischen System ergeben und die Autorin letztlich davon überzeugt haben, dass das ›richtige Forschen im Falschen‹ an objektive institutionelle und konzeptionelle Schranken stoßen muss. Der Punkt, an dem dieses Scheitern für mich deutlich wurde, war der an dem ich – eher naiv, mag sich die Leserin denken – daran ging, unser Projekt in einem Research Design festzuhalten, das die Abschlussarbeit meines Masterprogrammes in Gender Studies darstellen sollte. Der irritierende Widerspruch zwischen dem Text, den ich produzierte und dem nagenden Gefühl, objektiv meine FreundInnen und Mitforschenden für einen akademischen Grad ›auszuverkaufen‹, erwies sich letztlich als unüberwindbar – eine Militante Untersuchung, wie sie mir vorschwebte, war so weit von jeder akademischen Logik entfernt, dass ich schließlich wohl nur das eine oder das andere unternehmen konnte. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass Patai’s Schlussfolgerung weiter oben, dass an der Herrschaftsförmigkeit von akademischer Forschung eben nichts zu ändern sei, und ForscherInnen sich daher nicht zu sehr mit ethischen Bedenken aufhalten sollten, bedingungslos zuzustimmen ist. Zweifellos haben die Erfahrungen mit diesem Projekt dazu beigetragen, meinen eher naiven Enthusiasmus gegenüber dem Potential kooperativer Methodologien in der akademischen Forschung gehörig zu dämpfen – es bleibt jedoch offen, ob dies zu
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einer Kritik nicht-herrschaftsförmiger Methodologien oder doch zu einer Kritik des akademischen Systems selbst führt. Dieser Text versteht sich als Einladung an ForscherInnen und AktivistInnen, die aufgezeigten Widersprüche (und beliebig viele weitere, die sich zweifelsohne in der Praxis ergeben) ernst zu nehmen und im Sinne von ›Reflexivität‹ in ihrer akademischen und politischen Arbeit zu thematisieren – auch wenn das Ergebnis wie in unserem Falle darin besteht, dem institutionellen Kontext den Rücken zu kehren und auf eigene Faust zu forschen. Projekte wie das unsere – welches sich, abgesehen von seiner Nichtexistenz in akademischen Termini einer kreativen und wachsenden Dynamik erfreut – können und sollen nicht zuletzt dazu beitragen, das Monopol des akademischen Systems im Hinblick auf Wissensproduktion zu hinterfragen und ›Forschung von unten‹ als legitime, emanzipative Wissenform zu fördern.
Anmerkungen 1 | Dieser Text stellt eine gekürzte und übersetzte Fassung des englischsprachigen Artikels »A Room of One’s Own: Militant Investigation with Female Housing Activists« dar, beziehbar über University of Sussex, Brighton, UK. Die im Text verwendeten Zitate wurden von mir selbst übersetzt und können von deutschsprachigen Ausgaben der verwendeten Literatur abweichen. 2 | Ich verwende die Begriffe »Frauen« und »Männer« hier in dem dualistischen Sinne, der in der Community vorherrscht und der Identifikation der Beteiligten entspricht. Während theoretische Kritiken von Zweigeschlechtlichkeit auch hier eine zunehmende Rolle spielen, werden Geschlechterkonflikte derzeit fast ausschließlich anhand zweigeschlechtlicher Modelle verhandelt, Transgender- oder Queere Identitäten kamen (bezeichnenderweise) im Rahmen des Projektes nicht zur Sprache. 3 | »Definitionsmacht« bezieht sich auf eine bestimmte Form antisexistischer Praxis, die sich als radikale Kritik des in der bürgerlichen Rechtssprechung üblichen Umganges mit sexualisierter Gewalt versteht. Als institutionalisierte Praxis bezeichnet Definitionsmacht eine Haltung bedingungsloser Parteilichkeit und Solidarität mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt, bei denen es sich in der großen Mehrheit der Fälle um Frauen handelt. Dies bedeutet u.a., dass Betroffenen grundsätzlich geglaubt wird, die Verantwortung für sexualisierte Gewalt ausschliesslich beim Täter liegt und
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Betroffene (anders als bei der bürgerlichen Beweisführung) nicht öffentlich in Erscheinung treten und damit eine Retraumatisierung riskieren müssen. 4 | Gordon weist darauf hin, dass der heutige Anarchismus mit seinen Vorgängern in vergangenen Jahrhunderten (am prominentesten vertreten von Bakunin, Kropotkin und anderen Bartträgern) wenig gemeinsam hat, da sich der Fokus der Kritik weg von Staat und Kapital hin zu allgemeineren Konzepten von Herrschaft verlagert hat (Gordon 2007: 36). Bis zu einem gewissen Grad stellt diese Bemerkung genau jene Betriebsblindheit männlicher Anarchisten dar, die Anarchafeminismus zu bekämpfen versucht: Immerhin haben Anarchafeministinnen wie Emma Goldmann und Voltairine de Cleyre bereits im 19. Jahrhundert deutlich auf die Zentralität männlicher Herrschaft über Frauen als Unterdrückungsform hingewiesen. 5 | Eine feministische Wortkreation die die Wörter ›male‹ und ›mainstream‹ verbindet um darauf hinzuweisen, dass der wissenschaftlich-akademische Diskurs unhinterfragt männliche Perspektiven darstellt. 6 | Mehr als ein Jahrzehnt später ist diese Diskussion nicht wirklich weitergekommen. Feministische ForscherInnen machen immer noch die Erfahrung dass trotz ihrer Versuche, die Analyse von Machtbeziehungen in die Entwicklung kollaborativer, politisch engagierter und reflektierter Methodologien zu übersetzen, diese Ansätze Machthierarchien nicht nur nicht überwinden sondern paradoxerweise sogar noch verstärken können (Kirsch 2005). 7 | Interessanterweise taucht das Konzept der entfremdeten Arbeit im akademischen Diskurs im Zusammenhang mit Studierenden (Lave/McDermott 2002) und mit (bezahlten) Forschungssubjekten (Anderson/Weijer 2002) auf, die eigenen Umstände akademisch Arbeitender scheinen jedoch kaum ins Blickfeld zu rücken. 8 | Dies gilt auch, mit wenigen Ausnahmen, für Studierende, auch wenn es sich bei ihnen nicht strenggenommen um Lohnarbeitende handelt. So sie forschend tätig sind ist diese Forschung immer auch ein Mittel, die akademischen Grade zu erwerben die letztlich zum Verkauf akademischer Arbeitskraft befähigen.
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VOBIS – V EREIN FÜR OFFENE B EGEGNUNG UND I NTEGR ATION DURCH S PR ACHE . E IN P ROJEK T VON S TUDENT I NNEN FÜR UND MIT A SYLWERBER I NNEN Denise Branz Als ich im Frühsommer 2007 von einer guten Freundin gefragt wurde, ob ich nicht bei einem Projekt mitmachen möchte, das die Vermittlung von Deutschkenntnissen für AsylwerberInnen zum Ziel habe, war ich sofort begeistert und sagte zu. Nach mehrmonatiger Vorbereitungs- und Planungsphase konnten wir im November 2007 das Pilotprojekt »Deutschkurse für AsylwerberInnen« starten. Zunächst waren wir zu viert. Wir starteten in zwei Pensionen im Jauntal/Kärnten, wo je zwei von uns einmal pro Woche für eineinhalb Stunden einen Deutschkurs anboten. Die Teilnahme war für die BewohnerInnen freiwillig, die Kurse erfreuten sich aber von Beginn an großer Beliebtheit. Mein Kollege und ich unterrichteten in einer der größten Pensionen Kärntens, wo bis zu 50 AsylwerberInnen Platz finden. Dementsprechend groß war auch der Andrang beim Deutschkurs. An einem Donnerstag Abend erwarteten uns an die 30 Personen, Männer und Frauen, Kinder und ältere Menschen, dicht gedrängt um große Tische, gespannt in einem Raum im Erdgeschoss der Pension. Sie kamen aus den verschiedensten Ländern zwischen Algerien und Tadschikistan, zum Großteil handelte es sich jedoch um Männer aus Tschetschenien und aus dem Irak. Ich fühlte mich bald freundlich aufgenommen und die anfangs gespannte Atmosphäre wich einer lockeren Stimmung. Witze und Lachen gehörten so von der ersten Stunde an einfach dazu. Ich
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kann mich beispielsweise noch gut daran erinnern, wie ein tschetschenischer Flüchtling die ganze Gruppe zum Lachen gebracht hat. Wir lernten gerade Ländernamen und Nationalitäten (Ich komme aus Österreich. Ich bin Österreicherin.). Als ein tschetschenischer Flüchtling an der Reihe war uns zu sagen, woher er denn komme, antwortete er ganz korrekt mit: »Ich komme aus Tschetschenien«. Als ich daraufhin fragte, was er dann sei, antwortete er wieder korrekt mit: »Ich bin Asylant«. Auf eine Sekunde der Erschütterung ob seiner Schlagfertigkeit meinerseits folgte der Ausbruch schallenden Gelächters der ganzen Gruppe. Das Pilotprojekt wurde ein voller Erfolg. Unsere Gruppe wuchs innerhalb weniger Wochen auf neun engagierte StudentInnen an, sodass wir unser Angebot ausweiten konnten. Während in der einen Pension Kinderbetreuung notwendig wurde, um so den Erwachsenen den Besuch des Deutschkurses zu ermöglichen, konnten wir in »unserer Pension« einen Alphabetisierungskurs anbieten, der von bis zu sechs Personen genutzt wurde. Die TeilnehmerInnenzahl blieb während des dreimonatigen Kurses in beiden Pensionen konstant und nach einem Reflexionstreffen mit den beiden Pensionsinhaberinnen stand fest, dass das Projekt ausgeweitet werden sollte.
Der Verein VOBIS Nachdem der einheitliche Beschluss gefasst worden war, weiterzumachen, stellte sich für uns die Frage, in welcher Form die Ausweitung am besten realisiert werden könnte. Wir beschlossen aus mehreren Gründen einen eigenen Verein zu gründen, was mit der Gründungshauptversammlung im Jänner 2008 feierlich im Keller der Universität Klagenfurt erledigt wurde. In den folgenden Wochen beschäftigten wir uns in erster Linie damit, SponsorInnen zu suchen und neue MitarbeiterInnen anzuwerben. Zahlreiche Organisationen versuchten uns in dieser Zeit zu helfen, zum Beispiel mit Materialien oder indem sie Infrastruktur oder Finanzmittel zur Verfügung stellten. Nicht zuletzt dadurch, vor allem aber natürlich durch die vielen engagierten DeutschlehrerInnen konnten im März 2008 bereits Deutschkurse an sechs Standorten in Kärnten angeboten werden. Dabei erreichten wir an die 100 AsylwerberInnen, Erwachsene ebenso wie Kinder, und auch nach diesem Semester waren die Rückmeldungen äußerst positiv. In der Zwischenzeit, also knapp zwei Jahre nach Beginn des Pilotprojektes, gibt es bereits an die 50 aktive
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oder ehemals aktive MitarbeiterInnen und ca. 250 AsylwerberInnen konnten eines oder mehrere unserer Angebote (Deutschkurse, gratis Internet, Kinderbetreuung, verschiedene kleine Hilfsleistungen etc.) in Anspruch nehmen.
Die Deutschkurse Unsere zentrale Arbeit besteht darin, unentgeltlich Deutschkurse in Flüchtlingspensionen anzubieten. Unsere SchülerInnen sind zum größten Teil AsylwerberInnen aus den verschiedensten Ländern zwischen Mauretanien und China. Die Kurse finden direkt in den Pensionen statt, was sich in den vergangenen zwei Jahren sehr bewährt hat. Zum Ersten wäre es für uns ohne Kontakte oft schwer bis unmöglich, einen öffentlichen Raum für den Unterricht zu erhalten. Zum Zweiten fällt es leichter, ganze Gruppen zum Besuch eines Kurses zu bewegen als einzelne Personen, die dann unter Umständen auch noch einen weiten Weg zum Kursort zurücklegen müssten. Zum Dritten soll auf diese Weise Frauen, die leider sehr oft weniger mobil sind als Männer, der Besuch der Kurse erleichtert werden. Die zahlenmäßige Dominanz männlicher Asylwerber in den Kursen ist auffallend, jedoch zeigt uns der Zuspruch der Frauen bei den Kursen, die in den Pensionen selbst stattfinden, dass wir hier zumindest die richtige Richtung eingeschlagen haben. Ein weiterer wichtiger Punkt in dieser Hinsicht ist die Kinderbetreuung während der Deutschkurse, die den Frauen die Teilnahme zusätzlich erleichtern soll. Das größte Problem sind seit Beginn unserer Initiative die mangelhaften Materialien. Viele TeilnehmerInnen sind es nicht mehr gewöhnt zu lernen, haben Konzentrationsschwierigkeiten oder noch nie eine Fremdsprache gelernt. Oft ist die Progression unpassend oder die Lehrwerke sind in ihren Inhalten von den Lebenswelten eines Asylwerbers/einer Asylwerberin einfach weit entfernt. Es gibt auch kein Buch, das sich, weder in sprachlicher noch in thematischer Hinsicht, an Österreich orientiert. Daher beschlossen wir, eigene Unterlagen zu erarbeiten, zu sammeln und dann auch unseren LehrerInnen zur Verfügung zu stellen. Grammatik spielt in diesen Skripten eine eher untergeordnete Rolle, thematisch halten sich die Materialen soweit möglich an Dinge, mit denen AsylwerberInnen üblicherweise konfrontiert werden, also etwa Formulare auszufüllen oder Arztbesuche. Die Unterlagen werden ständig aktualisiert und haben sich bislang sehr bewährt.
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Angebote im Vereinsbüro VOBIS wuchs von Monat zu Monat und so wurde ein zentraler Standort für den Verein immer wichtiger. Es sollte ein Ort sein, an dem wir unsere wöchentlichen Sitzungen abhalten konnten, aber auch ein Ort der Begegnung und des Austausches mit und für AsylwerberInnen und LehrerInnen. Zu diesem Ort wurde unser Büro, das nach einer gemeinsamen sommerlichen Renovierungsaktion im November 2008 in der Mariannengasse eröffnet wurde. In der Zwischenzeit hat sich das Büro, das zumindest an zwei Tagen pro Woche geöffnet ist, zu einem wichtigen Zentrum des Vereinslebens entwickelt, in dem neben unseren Sitzungen, die hier regelmäßig stattfinden, auch eine kleine Bibliothek und ein Computer zu finden sind. Die Bibliothek enthält sowohl DaF/DaZ-Materialien1 die von LehrerInnen entlehnt werden können, als auch Lesebücher, die von KursteilnehmerInnen ausgeborgt werden können. Der Computer mit Internetanschluss ist sowohl Arbeitsplatz der MitarbeiterInnen als auch bei den AsylwerberInnen sehr beliebt, da es eine seltene Möglichkeit ist, das Internet gratis zu nutzen. Von Beginn an war auch geplant, das Büro als Kursplatz zu nutzen, und zwar möglichst für Kurse, die von AsylwerberInnen angeboten werden. So fanden neben einem Computerkurs für AsylwerberInnen in der Zwischenzeit auch schon ein Strick- und ein Russischkurs statt. Wir hoffen, das Angebot in Zukunft noch ausweiten zu können.
Feiern, Auszeichnungen, Vernetzung und Projekte Gemeinsames Lachen und Feiern ist gesund und einen dementsprechend hohen Stellenwert hat es auch für uns. Einmal pro Semester versuchen wir ein Fest zu organisieren, das einerseits den recht eintönigen Alltag unserer KursteilnehmerInnen auflockern und andererseits die AsylwerberInnen ein wenig in die Öffentlichkeit bringen soll. Das erste Fest fand an der Universität Klagenfurt unter dem Motto »Multi-Kulti-Fest« statt und entstand in Kooperation mit dem VSSTÖ.2 Es wurde gegrillt und eine Live-Band sorgte für Unterhaltung, Highlight des Abends war jedoch der Auftritt eines kurdischen Geigers, der erstmals seit Jahren wieder die Gelegenheit hatte Geige zu spielen. Die AsylwerberInnen schwärmten noch Wochen später von diesem wunderschönen Abend, und so beschlossen wir, solche Feste zu einer Tradition zu machen. Im Februar 2009 fand ein vom
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Kulturverein rož organisiertes Benefizkonzert u.a. mit Oliver Welter von Naked Lunch statt – es wurde ein großartiger Erfolg. Das dritte und bisher letzte große Fest fand im Juni 2009 wieder an der Universität Klagenfurt statt. Im Anschluss an die Vernissage der Ausstellung »Kinderzeichnungen«, bei der die Werke junger KünstlerInnen aus AsylwerberInnenheimen ausgestellt wurden, gab es ein Fest, das gut besucht war und erneut sowohl bei uns als auch bei den überglücklichen Kindern und ihren Eltern bleibenden positiven Eindruck hinterlassen hat. Neben diesen geselligen Anlässen gibt es auf Basis des Vereins aber außerhalb der regulären Deutschkurse weiter Projekte, die ich noch kurz erwähnen möchte. Einer dieser Punkte sind regelmäßige Besuche von MitarbeiterInnen in Kärntner Schulen, wo sowohl VOBIS vorgestellt als auch Aufklärungsarbeit geleistet werden soll. Über das Leben von Flüchtlingen in unserem Land weiß man normalerweise relativ wenig und vieles von diesem Wenigen ist schlichtweg falsch. Daher ist auch diese Arbeit in ihrem Wert nicht zu unterschätzen. Um über unsere Arbeit und über das Leben unserer internationalen SchülerInnen zu informieren, erschien im April 2009 erstmals unsere Vereinszeitung »Quo VOBIS«. Als Aufklärungsarbeit ist auch die Teilnahme an der »Woche der freien Bildung« im Mai 2008 zu sehen, wo neben einem Informationsstand und einem Vortrag auch ein Theaterstück von AsylwerberInnen aufgeführt wurde. Ein weiteres Theaterprojekt fand unter der Leitung von zwei Theaterpädagoginnen in Villach statt, wo mit Kindern das Stück »Frederik« einstudiert und aufgeführt wurde. Ich unterrichtete auch drei Monate lang eine Gruppe von minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen, die im Oktober 2009 nach einem Workshop mit einem Profimusiker und zahlreichen Übungsstunden mit ihren BetreuerInnen im Rahmen der langen Nacht der Museen am Klagenfurter Lendkanal das Volkslied »I hob di gern« und ein afghanisches Lied zum Besten gaben. Schließlich ist uns auch die Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Organisationen in Kärnten wichtig, aus diesem Grund ist VOBIS unter anderem auch Teil des »Aktionskomittees für mehr Menschlichkeit und Toleranz in Kärnten« oder des »Kärntner Netzwerkes gegen Armut und soziale Ausgrenzung«. Die Reaktionen der Öffentlichkeit – sowohl in den Schulen als auch bei den diversen Auftritten – waren unterschiedlich, aber zum großen Teil sehr positiv. Bei den meisten Aufführungen im öffentlichen Raum fragten PassantInnen interessiert nach, was hier gerade
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passiere, viele von ihnen fanden unsere Arbeit gut und wichtig. Auf radikale Ablehnung stießen wir nur selten, leider kam aber auch das bereits vor. Neben diesen Begegnungen mit Menschen bei öffentlichen Auftritten bestärken uns auch gewonnene Auszeichnungen in unserem gewählten Weg. Ein erster großer Erfolg war die Nominierung bei der »Sozialmarie« 2008. Die »Sozialmarie« ist der höchstdotierte Sozialpreis Österreichs. Da sich Projekte aus ganz Österreich und dem Gebiet 300 km um Wien, also auch aus Tschechien, der Slowakei und Ungarn bewerben dürfen, ist es auch ein internationaler Preis. Im Feber 2009 erreichten wir im Rahmen des von der Stadt Klagenfurt ausgeschriebenen Sozialpreises »Helfende Hände« den dritten Rang und nur wenige Monate später durften wir uns erneut freuen. Die »Sozialmarie« wurde wieder vergeben und wir erreichten gemeinsam mit elf anderen Projekten den vierten Rang. Neben dem Preisgeld wurde uns eine besondere Auszeichnung zu Teil, denn der bekannte Kabarettist Michael Niavarani übernahm für ein Jahr den »Ehrenschutz« für unser Projekt. Im Zuge dessen gab er zu Gunsten des Vereins eine bereits Wochen vorher ausverkaufte Benefizveranstaltung im Casineum Velden. VOBIS ist mittlerweile ziemlich genau zwei Jahre alt. Es waren zwei arbeitsintensive und ereignisreiche Jahre. Die Bedingungen, unter denen AsylwerberInnen leben müssen, werden von Jahr zu Jahr schlechter, ihre Bewegungsfreiheit wird zunehmend eingeschränkt und gerade in Kärnten ist »Flüchtling sein« für viele Menschen gleichbedeutend mit »kriminell«, »Drogendealer« oder »Illegaler«. Unter diesen Umständen ist es nicht immer leicht, unsere Arbeit zu machen, aber dafür ist es schön. Es ist schön, von den Kindern rufend und winkend begrüßt und umgeworfen zu werden, es ist schön, einmal pro Woche Menschen zu treffen, die sich freuen, etwas lernen zu dürfen, und es ist besonders schön, mit diesen Menschen vor oder nach den Kursen ein wenig über dieses und jenes zu plaudern oder gemeinsam ein Fest zu feiern. Der allerschönste Augenblick für mich war jedoch, als mir zwei meiner jungen Schüler erklärten, dass ich für sie eine Schwester wäre. In den letzten zwei Jahren hatte VOBIS um die fünfzig ehrenamtliche MitarbeiterInnen. Ihnen allen ist zu danken, denn ohne sie könnte VOBIS nicht arbeiten. Ich hoffe daher, dass sich noch lange Zeit engagierte junge und auch ältere Menschen finden, die bereit sind, einige Stunden pro Woche Mitmenschen zu widmen, die oft mit nicht mehr flüchten mussten, als mit dem wenigen, was sie am Leib
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trugen. Die Freude, die damit gemacht werden kann, ist groß, und ich kann ehrlichen Herzens sagen, man lehrt nicht nur, man lernt auch viel und zwar wirklich fürs Leben.
Nachtrag (24.01.2011) Heute, ziemlich genau ein Jahr später, hat sich vieles geändert. VOBIS darf seit Juli 2010 die Pensionen nicht mehr betreten, der Großteil der Kurse musste daher eingestellt werden. Die Frage nach dem Warum bleibt von Seiten der Landesregierung, die dieses Verbot erlassen hat, bis heute unbeantwortet; die Auszeichnung des Vereins mit dem Kärntner Menschenrechtspreis 2010 durch dieselbe Regierung, lässt aber zumindest wieder hoffen. Die vielen ehemaligen KursteilnehmerInnen, die ich seit dem Stop der Deutschkurse getroffen habe, würden sich über eine Wiederaufnahme jedenfalls feuen.
Anmerkungen 1 | Deutsch als Fremdsprache/Zweitsprache 2 | Verband sozialistischer StudentInnen
Autorinnen und Autoren
Denise Branz, Mag.a, Studium der Geschichtswissenschaften an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Lehrgang Deutsch als Fremdsprache an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; Gründungs- und Vorstandsmitglied des Vereins VOBIS; derzeit: Abschluss des Studiums der Slawistik sowie des Lehrgangs Alphabetisierung mit MigrantInnen und Vorbereitung einer Dissertation zum Thema »Transgenerationale Erinnerung«. Mate Ćosić received his MA in Sociology and Russian Language and Literature at University of Zadar, Croatia in 2008. After working as a freelancer sociologist focusing on gender, migrant, sexuality and working class themes, he started his second MA in Sociology of Everyday Life at University of Ljubljana, Slovenia in 2010. Besides his academic interests Mate Ćosić is involved in various political-activist groups working on promotion of anti-capitalistic, direct-democratic and autonomous practices, concerning feminist politics and the freedom of sexual expression. Hannes Dollinger, Ing. Bakk., studiert Angewandte Kulturwissenschaften an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt; ist Mitarbeiter am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt sowie Mitarbeiter des Queer-Referates der Österreichischen HochschülerInnenschaft. Barbara Eder, Mag.a, ist Lektorin an den Universitäten Wien und Klagenfurt, freie Publizistin und Referentin der AIDS-Hilfe Wien seit 2009. Studium der Soziologie, Philosophie, Theater-, Film- und Medienwissenschaften und der Gender Studies in Wien und Berlin, Doktorarbeit über Comic-Darstellungen in Verbindung mit repräsentationskritischen Aspekten und (post-)kolonialen Theorien. Aktuelle Publikationen: »Theorien des Comics. Ein Reader«, Bielefeld: transcript 2011 (gemeinsam mit Elisabeth Klar und Ramón Reichert), CoHerausgeberin von »Die Linke und der Sex«, Wien: Promedia 2011, Reihe Linke Klassiker (gemeinsam mit Felix Wemheuer).
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Bettina Gruber, Mag. Dr., hat Geschichte und eine Kombination aus den Fächern Philosophie, Vergleichende Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft studiert und legte in den letzten Jahren ihren wissenschaftlichen Schwerpunkt auf die Friedensforschung und Friedenspädagogik; ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Mitherausgeberin zahlreicher Publikationen in den Bereichen Kulturwissenschaftliche Friedensforschung, Friedenspädagogik, Interkulturelles Lernen, Fragen der Migration und Diversität. Friederike Habermann lebt als Autorin und Freie Wissenschaftlerin im Wald bei Berlin. Sie ist Volkswirtin, Historikerin und Dr. phil. der Politischen Wissenschaften. In ihrem Buch »Der homo oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation« (2008) entwickelt sie mit der »subjektfundierten Hegemonietheorie« einen Ansatz aufzuzeigen, wie Herrschaftsverhältnisse über Identitäten miteinander verwoben sind. Mit »Halbinseln gegen den Strom. Anders leben und wirtschaften im Alltag« (2009) trägt sie gelebte Alternativen aus dem deutschsprachigen Raum zusammen. Derzeit beschäftigt sie sich mit Solidarität, lokal und global. Utta Isop, MMag.a ist politische Philosophin und Geschlechterforscherin. Sie hat Philosophie und Lehramt Germanistik, Psychologie, Pädagogik und Philosophie in Wien studiert und arbeitet seit 2005 am Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien und als Universitätslektorin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Mitherausgeberin des ersten Bandes der Kultur & Konflikt Reihe (»Spielregeln der Gewalt. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Kulturwissenschaften«, zusammen mit Viktorija Ratković und Werner Wintersteiner). Ihre Forschungsthemen sind Frauen-, Geschlechter- und Queer Studien, solidarische Ökonomie, alternative Familien, politische Philosophie im Kontext sozialer Bewegungen und anarchistischer Studien. Christine M. Klapeer, Mag.a, studierte Politikwissenschaft und eine Fächerkombination aus Gender Studies, Philosophie und Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck; sie ist derzeit Universitätslektorin im Bereich Gender/Queer/Postcolonial Studies an den Universitäten Wien, Linz und Klagenfurt und als ehreamtliche Mitarbeiterin der Lesbenberatung Lila Tipp in Wien im Bereich der lesbischen/queeren/femis-
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tischen Bildungs-, Kultur- und Jugendarbeit tätig. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: sexual politics, (sexual) citizenship; Politiken und Theorien lesbischer, schwul-lesbischer und queerer Bewegungen. Birge Krondorfer ist Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten u.a. in den Bereichen Genderforschung, Kultur-, Erziehungs- und Politikwissenschaften, Philosophie. Internationale Vortragstätigkeit. Erwachsenenbildung, Gruppentraining, Supervision, Mediation, Interkulturelles Training. Veröffentlichungen zur Theorie- und Praxisbildung der Geschlechterdifferenzen. Aktuelle Herausgaben: Gender im Mainstram? Kritische Perspektiven. Ein Lesebuch/Wien 2007; Frauen und Politik. Nachrichten aus Demokratien, Wien 2008. Mitgründung (1991), Vorstand und ehrenamtlich tätig in der feministischen Bildungsstätte Frauenhetz, Wien. Antonio (Jay) Pastrana, Jr. earned his doctorate in Sociology at The Graduate Center, CUNY. A native of New York City, he joined the Sociology Department at John Jay College of Criminal Justice, CUNY in 2008. His research interests are in sexualities, race, and human rights. He received the Ford Foundation Award to support work on his dissertation, »Navigating the Intersectional Imagination: Race, Sexuality, and Power« which examines the role of intersectionality and race-based marginalization within lesbian and gay activism in the United States. Throughout, Jay has connected with a vast number of lesbian and gay people of color leaders, organizations, and groups and he has served as an organizer for such national conferences as Race/Sex/Power: New Movements in Black and Latina/o Sexualities (Chicago, IL; 2008) and Afro-Latino: Definitions and Departures (New York, NY; 2006). He is currently a co-investigator on a multiyear research project titled Social Justice Sexuality Initiative, which seeks to build knowledge about lesbian, gay, bisexual, and transgender (LGBT) people of color in the U.S. His academic work has been published in Encyclopedia of Race and Racism, Hispanic Journal of Behavioral Sciences, Journal of African American Studies, Sexuality Research and Social Policy, Western Journal of Black Studies, and Race, Gender & Class. Viktorija Ratković, Mag.a, hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften, Anglistik und Amerikanistik sowie Feministische Wissenschaften/Gender Studies an der Alpen-Adria-Universität Kla-
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genfurt studiert; ist geschäftsführende Leiterin des Zentrums für Frauen- und Geschlechterstudien an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Mitherausgeberin der ersten beiden Bände der Kultur & Konflikt Reihe (»Spielregeln der Gewalt. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Kulturwissenschaften«, zusammen mit Utta Isop und Werner Wintersteiner sowie »Kulturelle Dimensionen von Konflikten. Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Ethnizität, Geschlecht und Klasse«, zusammen mit Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl und Kirstin Mertlitsch). Derzeit: Vorbereitung der Dissertation zum Themengebiet Medien von Migrant_innen. Paul Scheibelhofer, Mag., lehrt Migrations- und Rassismusforschung sowie kritische Männlichkeitsforschung an den Universitäten Wien, Graz und Innsbruck. Er hat in Wien und Amsterdam Soziologie studiert und ist PhD Candidate am Gender Studies Department der Central European University, Budapest. Zuletzt war er Visiting Fellow am Max-Planck-Institute for the Study of Ethnic and Religious Diversity, Göttingen. In seiner aktuellen Forschung zu Konstruktionen »fremder Männlichkeit« befasst er sich mit der Entwicklung intersektioneller und postkolonialer Zugänge auf Männlichkeitskonstruktionen im Migrationskontext. Karin Schönpflug, Dr.in, ist Ökonomin und forscht gegenwärtig am Institut für Höhere Studien Wien; weiters ist sie auch Lektorin am Projekt Internationale Entwicklung der Universität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Feministische Ökonomie, Entwicklungsökonomie, Makroökonomie und Utopieforschung. 2008 publizierte sie »Feminism, Economics and Utopia – Time traveling through paradigms« (Routledge). Siegfried Stupnig, geb. 1967; seit 2003 Leitung des ehrenamtlichen Integrations-, Beratungs- und Informationsprojektes »TschetschenInnen-Menschen wie wir«, Mitarbeit beim Verein ASPIS (psychologische Betreuung von TschetschenInnen), www.aspis.at; Vize-Präsident der Europäisch-Tschetschenischen Gesellschaft www.eu-tg.org; Ehrenmitglied der Vereinigung demokratischer Tschetschenen Österreichs, Mitarbeit bei LSB Netzwerk (Betreuung tschetschenischer Familien) und Neustart (Betreuung tschetschenischer Jugendlicher) Seminartätigkeit, Diplomarbeit und zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Tschetschenien.
Kultur & Konflikt Wilhelm Berger, Brigitte Hipfl, Kirstin Mertlitsch, Viktorija Ratkovic (Hg.) Kulturelle Dimensionen von Konflikten Gewaltverhältnisse im Spannungsfeld von Geschlecht, Klasse und Ethnizität 2010, 198 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1367-4
Utta Isop, Viktorija Ratkovic, Werner Wintersteiner (Hg.) Spielregeln der Gewalt Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Friedens- und Geschlechterforschung 2009, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1175-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de