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German Pages [174] Year 2021
ZEITGESCHICHTE
Ehrenpräsidentin: em. Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl († 2014) Herausgeber: Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb Redaktion: em. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Ardelt (Linz), ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Ingrid Bauer (Salzburg/ Wien), SSc Mag.a Dr.in Ingrid Böhler (Innsbruck), Dr.in Lucile Dreidemy (Wien), Dr.in Linda Erker (Wien), Prof. Dr. Michael Gehler (Hildesheim), ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Robert Hoffmann (Salzburg), ao. Univ.-Prof. Dr. Michael John / Koordination (Linz), Assoz. Prof.in Dr.in Birgit Kirchmayr (Linz), Dr. Oliver Kühschelm (Wien), Univ.-Prof. Dr. Ernst Langthaler (Linz), Dr.in Ina Markova (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Mueller (Wien), Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz (Wien), Univ.-Prof. Dr. Dieter Pohl (Klagenfurt), Univ.-Prof.in Dr.in Margit Reiter (Salzburg), Dr.in Lisa Rettl (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow (Innsbruck), Mag.a Adina Seeger (Wien), Ass.-Prof. Mag. Dr. Valentin Sima (Klagenfurt), Prof.in Dr.in Sybille Steinbacher (Frankfurt am Main), Dr. Christian H. Stifter / Rezensionsteil (Wien), Priv.-Doz.in Mag.a Dr.in Heidemarie Uhl (Wien), Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Wolfgang Weber, MA, MAS (Vorarlberg), Mag. Dr. Florian Wenninger (Wien), Assoz.-Prof.in Mag.a Dr.in Heidrun Zettelbauer (Graz). Peer-Review Committee (2021–2023): Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Tina Bahovec (Institut für Geschichte, Universität Klagenfurt), Prof. Dr. Arnd Bauerkämper (Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin), Günter Bischof, Ph.D. (Center Austria, University of New Orleans), Dr.in Regina Fritz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien/Historisches Institut, Universität Bern), ao. Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Johanna Gehmacher (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Univ.-Prof. i. R. Dr. Hanns Haas (Universität Salzburg), Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Hanisch (Salzburg), Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch (Institut für Geschichte, Universität Wien), Univ.-Doz. Dr. Hans Heiss (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Robert G. Knight, Ph.D. (Department of Politics, History and International Relations, Loughborough University), Dr.in Jill Lewis (University of Wales, Swansea), Prof. Dr. Oto Luthar (Slowenische Akademie der Wissenschaften, Ljubljana), Hon.-Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien), Mag. Dr. Peter Pirker (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Prof. Dr. Markus Reisenleitner (Department of Humanities, York University, Toronto), Dr.in Elisabeth Röhrlich (Institut für Geschichte, Universität Wien), ao. Univ.-Prof.in Dr.in Karin M. Schmidlechner-Lienhart (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Friedrich Stadler (Wien), Prof. Dr. Gerald J. Steinacher (University of Nebraska-Lincoln), Assoz.-Prof. DDr. Werner Suppanz (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. Dr. Philipp Ther, MA (Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien), Prof. Dr. Stefan Troebst (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Universität Leipzig), Prof. Dr. Michael Wildt (Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin).
zeitgeschichte 48. Jg., Heft 2 (2021)
Nachkriegserfahrungen. Exklusion und Inklusion von Opfer- und Täter-Kollektiven nach 1945 Herausgegeben von Gerald Lamprecht und Heidemarie Uhl
V&R unipress Vienna University Press
Inhalt
Gerald Lamprecht / Heidemarie Uhl Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Artikel Susanne Korbel „It seems to me, that there is a mistake about what is ‚de-nazification‘“. Diskussionen zur Entnazifizierung und Re-Demokratisierung der Universität Graz 1945 bis 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Marco Jandl Die universitäre Germanistik in Graz zwischen Neukonstituierung und Kontinuität, Unschulds-Narrativen und Entnazifizierungspolitik . . . . . 161 Markus Roschitz Die Entnazifizierung der Lehrerschaft am Beispiel der Südweststeiermark
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Lukas Nievoll „Jüdische“ Zeugenschaft. Aspekte des Umgangs mit Holocaust-Überlebenden am Beispiel des Prozesses gegen Franz Murer 1963 in Graz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Heribert Macher-Kroisenbrunner Das American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) in der britischen Besatzungszone Österreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
zeitgeschichte extra Philipp Strobl Austrian-Jewish Refugees in Pre- and Wartime Australia. Ambivalent Experiences of Encounter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
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Inhalt
Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Rezensionen Klaus-Dieter Mulley Andreas Audretsch/Claudia C. Gatzka (Hg.), Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Michaela Pfundner Glanz und Grauen. Kulturhistorische Untersuchungen zur Mode und Bekleidung in der Zeit des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . 281 Herbert Posch Beatrix Bastl, Die jüdischen Studierenden der Akademie der bildenden Künste Wien 1848–1948 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Florian Wenninger Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Dunkelheit des politischen Horizonts. Salzburg 1933 bis 1938 in den Berichten der Sicherheitsdirektion, 3 Bde. . 285 Autor/inn/en . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
Gerald Lamprecht / Heidemarie Uhl
Editorial
Die Etablierung einer demokratischen Nachkriegsordnung nach dem gewaltsamen Ende des NS-Regimes stellte die österreichische Politik und Gesellschaft vor vielfältige Herausforderungen. Neben den allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren es vor allem Fragen nach dem gesellschaftlichen Umgang mit den ehemaligen NationalsozialistInnen ebenso wie den tausenden DP′s und Flüchtlingen, für die Österreich zumindest für einige Jahre Lebensmittelpunkt war. Die Beiträge dieses Heftes setzen sich am Beispiel der Steiermark mit zentralen politischen und gesellschaftlichen Fragen der ersten Nachkriegsjahre auseinander, die stets auch Diskurse von Bruch mit und Kontinuität zum NS-Regime sowie um individuelle und kollektive Täter- und Opferschaft waren. Susanne Korbel behandelt in ihrem Beitrag am Beispiel der Karl-FranzensUniversität die komplexen Prozesse der Entnazifizierung der österreichischen Universitäten. Diese waren von teils unklaren und auch widerstreitenden Strategien der beteiligten Akteure geprägt, was letztlich längerfristig zur Reintegration ehemaliger NationalsozialistenInnen in die österreichische Wissenschaftslandschaft und damit zur „autochthonen Provinzialisierung“ (Christian Fleck) der österreichischen Universitäten bis in die 1980er-Jahre beitrug. Marco Jandl bricht die von Susanne Korbel beschriebenen Entnazifizierungsstrategien von Universität, Landesbehörden, Bundesministerium, Bundesregierung und Alliierten auf die konkrete Situation des Instituts für Germanistik der Universität Graz herunter und kann zeigen, wie die staatlich verordneten Bemühungen um Entnazifizierung bei den betroffenen Akteuren zu Strategien der Schuldabwehr führten. Im Zentrum stand dabei die Konstruktion einer scheinbar objektiven und unpolitischen Wissenschaft. Versuchten Angehörige der Universitäten ihre Verstrickungen in das NSRegime durch eine diskursive Entkopplung von Wissenschaft und Politik zu relativieren, so kam Lehrerinnen und Lehrern in den Pflichtschulen zum einen der hohe Prozentsatz an NSDAP-Mitgliedschaften unter Lehrpersonen sowie die Integration in die ländlichen Gemeinschaften im Prozess der Entnazifizierung entgegen. Markus Roschitz kann in seiner Mikrostudie am Beispiel des süd-
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weststeirischen Bezirkes Deutschlandsberg zeigen, dass gerade der Umstand der weitreichenden Involvierung von PflichtschullehrerInnen in das NS-Regime ihre dauerhafte Entnazifizierung und Entfernung aus dem Schulsystem behinderte, da das steirische und wahrscheinlich auch österreichische Schulsystem angesichts des Mangels an unbelasteten Lehrkräften kollabiert wäre. Zudem fanden sich über alle Parteigrenzen hinweg immer auch Fürsprecher für die LehrerInnen, die ihnen Volksnähe ebenso wie Beliebtheit bei den Menschen attestierten und sich für einen Verbleib an der Schule einsetzten. Das Ergebnis dieser widersprüchlichen und teils gescheiterten Entnazifizierungsmaßnahmen führte letztlich zu den bekannten Kontinuitäten von Geistesund Werthaltungen des Nationalsozialismus ebenso wie den verschobenen Opfernarrativen in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft. Besonders sichtbar wurden diese im Rahmen von Denkmalsetzungen aber auch im Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus. Lukas Nievoll analysiert in seinem Beitrag den Umgang mit den jüdischen ZeugInnen im Prozess gegen Franz Murer in Graz im Jahr 1963. Aufbauend auf einem konsensfähigen Antisemitismus wurde den traumatisierten Holocaustüberlebenden, die nach Graz gekommen waren, um einerseits Murer einer gerechten Strafe zuzuführen und andererseits, um vor der Welt Zeugnis abzulegen vom Menschheitsverbrechen der NationalsozialistInnen, eine spezifische „jüdische Zeugenschaft“ unterstellt. Diese sei, so die Argumentation der Verteidigung Murers, weniger der Suche nach Wahrheit als vielmehr einem „jüdischen“ Rachebedürfnis an allen Deutschen geschuldet. Eine Argumentation, der sich letztlich die Geschworenen ebenso wie zahlreiche BesucherInnen des Prozesses und österreichische Medien anschlossen. In eben diesem gesellschaftlichen und politischen Klima mussten für einige Jahre tausende jüdische Holocaustüberlebende ihr Leben bestreiten. Sie waren als DPs in Österreich gestrandet und warteten auf die Möglichkeit der Weiterreise nach Palästina oder ein anderes Fluchtland. Heribert Macher-Kroisenbrunner untersucht in seinem Beitrag die Situation der jüdischen DPs in der britischen Besatzungszone und widmet sich hierbei vor allem der umfangreichen Hilfe von jüdischen Hilfsorganisationen, allen voran dem Joint (AJDC). Der Joint war nicht nur maßgeblich für die Versorgung der jüdischen DPs verantwortlich, sondern stand auch am Beginn der Re-Etablierung jüdischen Lebens in Österreich. Die Frage nach dem Umgang mit Tätern und Opfern nach 1945 beschäftigt die österreichische Zeitgeschichte seit ihrer Fokussierung auf die Erforschung der NS-Herrschaft bzw. ihrer Nachwirkungen am Ende der 1990er-Jahre. Die Beiträge dieses Heftes richten diese makrohistorische Fragestellung auf konkrete mikrohistorische Konstellationen. Als Tiefenbohrungen in die postnationalsozialistische Gesellschaft eröffnen sie neue, differenzierte Perspektiven auf die Logiken von Inklusion und Exklusion in der Nachkriegszeit.
Artikel
Susanne Korbel
„It seems to me, that there is a mistake about what is ‚de-nazification‘“. Diskussionen zur Entnazifizierung und Re-Demokratisierung der Universität Graz 1945 bis 19551
Im Juli 1947 ging das Schreiben eines betroffenen Bürgers bei der britischen Militärregierung der Steiermark ein. Als Verfasser dieses Schreibens bekannte sich ein Londoner mit Migrationshintergrund und bester Kenntnis über die Seilschaften in Österreich, die, so seine Vermutung, nun wieder besonders entscheidungstragend würden. Er äußerte seine Besorgnis darüber, dass bei dem Versuch, ein re-demokratisiertes Bildungssystem zu etablieren, ein „Missverständnis darüber, was ‚Entnazifizierung‘“ ist, aufgetreten sei: „Sir, I have read your interesting report and defence of the de-nazification of the University of Graz […]. But it seems to me, that there is a mistake about what is ‚denazification‘, a mistake which explains the complaints made about the case of Graz University.“2 Diese Stimme sollte keinesfalls die einzige bleiben, die sich mit Bedenken über den Umgang mit ehemaligen NationalsozialistInnen an der Universität Graz erhob. ZivilistInnen, die britische Militärregierung selbst, sowie Vertriebene, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Steiermark gewissermaßen gestrandet waren und an der Universität Graz studierten, beklagten die ineffizienten Strategien der Entnazifizierung an der Universität. Die AkteurInnen, die sich stark in einem oder in beiden faschistischen Regimen engagiert hatten, beklagten hingegen die angebliche Ungerechtigkeit, mit der sie nun konfrontiert waren.3 1 Der Artikel basiert auf der Forschungsarbeit aus dem Kooperationsprojekt zwischen dem Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz, dem Ludwig-Boltzmann-Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte, der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz „Die Entnazifizierung der Universität Graz“ (Projektleitung Gerald Lamprecht), finanziert vom Zukunftsfonds der Republik Österreich, dem Land Steiermark, der Stadt Graz sowie der Karl-FranzensUniversität Graz. 2 Dr. Hermann Socher an die Education Division der British Branch, 1. 7. 1947. The National Archives (TNA), Foreign Office (FO) 1020/2603: Denazification in Austria: Education, ACA/ ER/14/8. 3 Siehe etwa Schreiben von Otto Maull an die Sonderoberkommission, 11. 1. 1947. Österreichisches Staatsarchiv (OeStA), Archiv der Republik (AdR), Bundesministerium für Unterricht (BMU), Hauptreihe 1, 5C/1, 42891/1947.
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Die Universität Graz bietet aus mehrerlei Gründen eine interessante Fallstudie zur Entnazifizierung: Zum einen wurde die Entnazifizierung der Universität Graz nicht nur durch den Opfermythos Österreichs insgesamt, sondern insbesondere auch durch die Inszenierung von Graz als „Stadt der Volkserhebung“ in Überlagerung mit deren Selbstverständnis in der Habsburgermonarchie als „deutsches Bollwerk“ begleitet.4 Zum anderen hatte Antisemitismus an der Universität Graz bereits in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Weltkrieg die Anstellungspolitik wie auch den Alltag unter den Studierenden geprägt.5 Walter Fischer, Bruder von Ernst Fischer, der in der Regierung Renner nach 1945 das Staatsamt für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten innehatte, betonte in seinen Lebenserinnerungen, dass sich nach dem Ersten Weltkrieg der Alltag an der Universität für StudentInnen, die von ihren KommilitonInnen nicht als „Arier“ gesehen wurden, stetig verschlimmerte. Studieren Anfang der 1920er-Jahre war von Antisemitismus und gewalttägigen Ausschreitungen bestimmt: „Nach dem Ersten Weltkrieg gab es an der Grazer Universität eine Organisation, die sich ‚Deutsche Studentenschaft‘ nannte. Die Beiträge für diese Organisation wurden von der Quästur gemeinsam mit den Kollegiengeldern abgezogen, ohne Unterschied der ‚Rasse‘ oder Konfession; stimmberechtigte Mitglieder aber waren nur die ‚Arier‘. Die ‚Deutsche Studentenschaft‘ galt als offizielle Vertretung der Studierenden und sah ihre Hauptaufgabe in der Drangsalierung der Juden. Auch ausländische Studenten waren nicht beliebt. […] An den Türen der klinischen Hörsäle prangte ein Anschlag der ‚Deutschen Studentenschaft‘: Die ersten drei Bankreihen sind arischen Hörern vorbehalten.“6
Die Mitglieder anderer studentischer Vereine, wie der sozialistischen Studenten, weigerten sich, so Fischer, die Beiträge für diesen „Antisemitenverein“ zu bezahlen und waren in Folge permanent Denunziationen bis Gewaltakten ausgesetzt.7 Allgemein ist festzuhalten, dass sich die Situation der „ausländischen und jüdischen Studenten“ in Graz bis 1938 stetig verschlechterte. Der studentische Alltag war zunehmend auch von Gewalt geprägt. Damit ist die stetige Radikalisierung des Antisemitismus an der Universität Graz mit der kontinuierlichen Zunahme antisemitischer Taten und Tätlichkeiten an der Universität Wien ver-
4 Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht, Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck 2015, 17–58 sowie 82–83. 5 Walter Fischer, Kurze Geschichten aus einem langen Leben, Mannheim 1986, 19–24. 6 Ebd., 19. 7 Hans-Peter Weingand/Markus Wurzer, Innensichten und Außenblicke: Studentische NSAktivitäten in Graz und Leoben 1930–1938, in: Österreichische HochschülerInnenschaft (Hg.), Österreichische Hochschulen im 20. Jahrhundert. Austrofaschismus, Nationalsozialismus und die Folgen, Wien 2013, 54–84.
Susanne Korbel, Diskussionen zur Entnazifizierung und Re-Demokratisierung
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gleichbar.8 In den Nachkriegsjahren wandelte sich das Bild und in einer plurikulturellen Universitätsgesellschaft trafen „Heimkehrer“, „Illegale“ und andere ProtagonistInnen, die in eines oder beide faschistische Regime verwickelt waren, ebenso wie Vertriebene, die nun in Graz StudentInnen wurden, aufeinander.9 In dem vorliegenden Beitrag untersuche ich Diskussionen über die Entnazifizierung und Re-Demokratisierung in den Nachkriegsjahren an der KarlFranzens-Universität Graz und frage, wie sich das Aufeinandertreffen von AkteurInnen mit unterschiedlichem Nahverhältnis zum und Vergangenheiten im Nationalsozialismus auf die Entnazifizierung des Mikrokosmos Universität auswirkte. Vor der Folie gesamtösterreichischer Entwicklungen hinsichtlich der die Entnazifizierung betreffenden Rechtslage analysiere ich die Umsetzung sowie Strategien der Verschleppung am Beispiel der Universität Graz. Der Beitrag zeigt, wie die Alliierten in Wien, die britische Militärregierung in der Steiermark, die ProtagonistInnen an der Universität und Zeitungen die Entnazifizierung und eine Re-Demokratisierung diskutierten und wie die unterschiedlichen AkteurInnen die permanent proklamierte, aber nur widerwillig durchgeführte Entnazifizierung wahrnahmen.
1.
Ideologische und gesetzliche Grundlagen der Entnazifizierung
Bereits in den unmittelbaren Tagen nach Kriegsende betonten die Alliierten die essentielle Bedeutung der Re-Demokratisierung der Universitäten als bildungstragende und bevölkerungsprägende Institutionen. In einem anekdotischen und als Leitfaden gedachten Handbuch, dass die Alliierten 1945 über die Situation und den politischen Alltag in Nachkriegsösterreich anfertigten, hoben sie hervor, dass für eine Re-Demokratisierung eine ausschließlich institutionelle Umorganisation nicht ausreiche. Es bedürfe vielmehr einer ideologischen Katharsis, denn „[…] pan-germanism is a state of mind rather than an organization […]“.10 Die Alliierten definierten dementsprechend als Ziel, die Bevölkerung
8 Kurt Bauer, Schlagring Nr. 1. Antisemitische Gewalt an der Universität Wien von den 1870er bis in die 1930er Jahre, in: Regina Fritz/Grzegorz Rossolinski-Liebe/Jana Starek (Hg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918–1939, Wien 2016, 137–160; Klaus Taschwer, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015. 9 Zum studentischen Alltag im Nachkriegsösterreich siehe Andreas Huber, Entnazifizierung und Rückbruch. Studierende 1945–1950, in: Andreas Huber/Katharina Kniefacz/Alexander Krysl/Manès Weisskircher, Universität und Disziplin. Angehörige der Universität Wien und der Nationalsozialismus (Emigration – Exil – Kontinuität 11), Wien/Berlin 2011, 157–316. 10 Allied Forces Headquarters, Office of the Chief of Staff. Handbook of Military Gouvernement in Austria, April 1945, Chap. 1, 6 zit. n. Christian Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und
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nicht nur zu entnazifizieren, sondern ihr vor allem die Vorteile der Unabhängigkeit von Deutschland aufzuzeigen. Eine solche ideologische Neuausrichtung der Bevölkerung sollte zunächst durch personelle Erneuerung in öffentlichen Institutionen erfolgen. Als Zeitpunkt für den Abschluss dieses Prozesses setzten die Alliierten den 15. Februar 1946 fest: „The final date for completing the denazification of the Central Government and the whole of the central apparatus shall be 15th February 1946. If possible, the denazification of the whole of Austria shall also be completed by that date.“11 Bereits die Diskussion um die rechtliche Umsetzung der Entnazifizierung und schließlich die im besten Fall zögerliche Umsetzung der Gesetze lassen erahnen, dass dieser erste von den Alliierten geplante Termin ob der österreichischen Bürokratie gepaart mit gesellschaftlichen und politischen Vermeidungsstrategien scheitern musste. Statt die Vorgaben effizient umzusetzen, agierten die Institutionen weitgehend unkoordiniert. Fristen verstrichen, gesetzliche Grundlagen liefen aus und mussten neu beschlossen werden.12
Restauration. US-amerikanische Planung zur Entnazifizierung und demokratischen Neuorientierung österreichischer Wissenschaft 1941–1955, Wien 2014, 280. 11 Zum Beispiel Schreiben des Allied Councils über Entnazifizierung von Österreich, 8. 2. 1946. NAL, FO, 371/55189, Denazification in Austria: General Correspondence, EXCO/P(46)29. Dieter Stiefel wies darauf hin, dass der gesamte Alliierte Rat anfangs wünschte, dass die Prozesse ein Jahr nach der Befreiung Österreichs mit Ende April 1946 abgeschlossen zu sein hätten. Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich. Wien/München/Zürich 1981, 132–133. 12 Aus dieser verworrenen Praxis der Entnazifizierung resultierte auch eine vage Beschreibung der Entnazifizierung der Hochschulen, in der die Gremien immer nur als „Sonderkommission“ bezeichnet wurden, wobei allerdings mehrere Gremien – eingesetzt von verschiedenen Interessensgruppen – die Prozesse zu beeinflussen versuchten. Trotz beachtlicher Forschungsleistungen rund um die Prozesse der Entnazifizierung fehlt bislang eine Benennung und detaillierte Analyse der verschiedenen Entnazifizierungsgremien. Ilse Reiter-Zatloukal gab einen Überblick über die Grundzüge der Hochschulpolitik in der Entnazifizierung. Ausständig blieben jedoch die verschiedenen Gremien und der Fokus auf die chronologische Installation verschiedener Zuständigkeiten. Ilse Reiter-Zatloukal, Restauration – Fortschritt – Wende. Politik und Hochschulrecht 1945–2015, in: Ash/Ehmer (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft, 461–494, 461–467. Einen Überblick über die Rechtsgrundlage nach 1945 und die Konsequenzen daraus für die Entnazifizierung der Bediensteten der Hochschulen bieten Hans und Roman Pfefferle. Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren. Göttingen 2014, 31–44. Zum Sprechen über Sonderkommisionen siehe etwa Ash, Die Universität Wien, 143– 155. Zu den Phasen der Durchführung siehe Roman Pfefferle/Hans Pfefferle, „Eine peinliche Zwischenzeit“. Entnazifizierung und Rehabilitierung der Professorenschaft an der Universität Wien, in: Johannes Koll (Hg.), „Säuberungen“ an österreichischen Hochschulen 1934– 1945. Voraussetzungen, Prozesse, Folgen, Wien/Köln/Weimar 2017, 405–432, 415–420. Willi Weinert beschrieb grundlegende Ereignisse an den Hochschulen zwischen dem sogenannten „Anschluss“ und 1945 bzw. 1955. Willi Weinert, Die Entnazifizierung an den österreichischen Hochschulen, in: Sebastian Meissl/Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien 1986, 254–269, 261–265.
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Grundlage für die Entnazifizierung bildete das Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945, das mit seiner Kundmachung am 6. Juni 1945 in Kraft trat. Es legte fest, wie mit NationalsozialistInnen im öffentlichen Dienst umzugehen sei. Das Verbotsgesetz bestimmte, dass die Bediensteten öffentlicher Institutionen hinsichtlich ihrer Involvierung im Nationalsozialismus zu untersuchen sind. Diese Untersuchung sollte in mehreren Schritten geschehen: Zunächst musste geklärt werden, ob es sich bei Angestellten um „Reichsdeutsche“ oder „österreichische Staatsbürger“ handelte. Die „Reichsdeutschen“, also all jene, die vor 1938 eine deutsche Staatsbürgerschaft hatten, kamen schon aufgrund des Beamtenüberleitungsgesetzes nicht für eine Weiterbeschäftigung in Betracht.13 Über Verbleib, Entlassung, Pensionierung oder Sühne der „österreichischen Staatsbürger“ sollte entsprechend ihrer „Belastung“ und Involvierung im nationalsozialistischen System entschieden werden.14 Die erste Fassung des Verbotsgesetzes vom Mai 1945 legte allerdings nicht fest, wer die Überprüfungen vornehmen sollte. Dafür sah es eine sechsmonatige Frist vor, innerhalb der die Überprüfungen abzuschließen gewesen wären.15 Überprüfungsinstanzen wurden jedoch erst in der ersten Verbotsgesetznovelle Mitte August 1945 geschaffen, die Sonderkommissionen.16 Gleichzeitig wurde mit der Schaffung der Sonderkommissionen als neue Frist für die Überprüfungen der 30. Juni 1946 bestimmt.17 Obwohl die Forschung über die Entnazifizierung der österreichischen Universitäten bislang lediglich von „Sonderkommissionen“ spricht, sollten diese Instanzen jedenfalls nicht die einzigen Entnazifizierungsgremien bleiben. Die Erforschung der Hochschul- und Wissenschaftspolitik im Nachkriegsösterreich beschränkte sich, so der Historiker Mitchell Ash, bislang auf – für die Hochschulstandorte unterschiedlich intensiv betriebene – Binnenperspektiven.18 Das 13 §§ 4, 7 und 8 Beamten-Überleitungsgesetz, StGBl 134/1945. Siehe auch StaatsbürgerschaftsÜberleitungsgesetz, StGBl 16/1945. 14 Die Bediensteten der Universitäten fielen dabei unter die Regelungen für die öffentlichen Bediensteten. 15 § 21 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945. 16 § 1 Abs. 2 und § 2, 1. Verbotsgesetznovelle, StGBl 127/1945. 17 §§ 1–4, 1. Verbotsgesetznovelle, StGBl 127/1945. 18 Ash, Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, 135. Den Forschungsstand über die Hochschullandschaft in der Zweiten Republik betreffend ist hier für die Universität Wien beachtliche Forschung geleistet worden. Margarete Grandner/ Gernot Heiss/Oliver Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Innsbruck/Wien/München 2005. Siehe auch zur Akademie der Wissenschaften Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl, Die Österreichische Akademie der Wissenschaften nach 1945. Eine Gelehrtengesellschaft im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, in: Grandner/Heiss/Rathkolb (Hg.), Zukunft mit Altlasten, 313–337. Zunehmend greifen aber auch andere Universitäten das Thema auf: Zur NS-Geschichte und der Entnazifizierung der Technischen Universität Wien erschienen in den letzten Jahren mehrere Pu-
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führte zu unklaren Darstellungen davon, wie die Entnazifizierungs- und ReDemokratisierungsprozesse gelagert waren und vor sich gingen.19 Um ein facettenreiches Bild über die Karrieren von WissenschafterInnen in den Nachkriegsjahren bieten zu können, ist es deshalb unerlässlich zu hinterfragen, von welchem Gremium in der Kette von Entnazifizierungsinstitutionen Personen entlassen oder im Dienst belassen wurden. Eine weitere Verbotsgesetznovelle im August 194520 konkretisierte den Prozess der Entnazifizierung und die Tätigkeitsbereiche der Sonderkommissionen:21 Es gab fortan zwei Instanzen von Sonderkommissionen und innerhalb dieser zwei Instanzen mehrere Senate. Die erste Instanz agierte zum einen an den Hochschulen und zum anderen im Staatsamt beziehungsweise dem späteren Bundesministerium für Unterricht.22 Wer von der Sonderkommission erster Instanz an der Universität und wer von jener beim Ministerium überprüft wurde, richtete sich nach der Zuordnung der Bediensteten und ihrem Anstellungsverhältnis.23 Als Berufungsstelle für die Sonderkommissionen erster Instanz wurde bei der Staatskanzlei (später Bundeskanzleramt) eine zweite Instanz, die
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blikationen. Juliane Mikoletzky, „Von jeher ein Hort starker nationaler Gesinnung.“ Die Technische Hochschule in Wien und der Nationalsozialismus (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs der Technischen Universität Wien, 8), Wien 2003; Paulus Ebner/Juliane Mikoletzky, Die Geschichte der Technischen Hochschule in Wien 1914–1955. Teil 2: Nationalsozialismus – Krieg – Rekonstruktion (1938–1955), Wien 2016; Paulus Ebner/Juliane Mikoletzky/Alexandra Wieser, „Abgelehnt“ … „nicht tragbar“. Verfolgte Studierende und Angehörige der TH in Wien nach dem „Anschluss“ 1938, Wien 2016. Die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien vergrößerte das Zentrum für Exil.Arte, das vertriebenen Lehrenden und Studierenden gewidmet ist. Exil.Arte, Zentrum der MDW, URL: http://exilar te.at/ (abgerufen am 20. 11. 2017). Für Innsbruck: Margret Friedrich/Dirk Rupnow (Hg.), Geschichte der Universität Innsbruck 1669–2019 Band I: Phasen der Universitätsgeschichte. Teilband 2: Die Universität im 20. Jahrhundert, Innsbruck 2019. Für Salzburg: Alexander Pinwinkler, Die „Gründergeneration“ der Universität Salzburg. Biographien, Netzwerke, Berufungspolitik, 1960–1975, Wien/Köln/Weimar 2020. Für die Universitäten in der Steiermark siehe Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik (Hg.), Grenzfeste deutscher Wissenschaft, Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz, Graz 1985; Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung. Universität und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: ÖZG 7 (1996) 1, 67–92; Hans-Peter Weingand, Die Technische Hochschule Graz im Dritten Reich. Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus an einer Institution, Graz 1988. Georg Gänser/Susanne Korbel, Entnazifizierungsgremien in der Hochschulpolitik in Nachkriegsösterreich, in: Heimo Halbrainer/Susanne Korbel/Gerald Lamprecht (Hg.), Die Entnazifizierung der österreichischen Hochschulen, Graz 2021 [in print]. 3. Durchführungsverordnung zum Verbotsgesetz, StGBl 131/1945. §§ 13–24, 3. Durchführungsverordnung zum Verbotsgesetz, StGBl 131/1945, Abschnitt VII. Zu den Bezeichnungen der Stellen beim Bund: 1945 – Staatsamt für Volksaufklärung, für Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten, Ende 1945 bis 1970 – Bundesministerium für Unterricht. 1945 – Staatskanzlei, seit Ende 1945 – Bundeskanzleramt. § 14 Abs. 1 c, und Abs. 2 sowie § 15 Abs. 1 und 2, 3. Durchführungsverordnung zum Verbotsgesetz, StGBl 131/1945, Abschnitt VII.
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„Sonderoberkommission“, eingerichtet.24 Die „Oberkommission“ war Kontrollgremium und einzige Berufungsinstanz.25 Für beide Instanzen gab es, je nach Anzahl der zu überprüfenden KandidatInnen, mehrere Senate. Wer in diesen Senaten erster Instanz mitwirken konnte, bestimmte die Gewerkschaft öffentlicher Bediensteter, wer in der zweiten, der Berufungsinstanz Entscheidungen traf, bestimmte die österreichische Regierung. Die Senate bestanden aus dem Vorsitzenden, dem Stellvertretenden und zwei (in den Sonderkommissionen erster Instanz) beziehungsweise vier (in der Oberkommission) Beisitzenden, wobei die personelle Besetzung der Positionen wechselte.26
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Die rechtliche Umsetzung der Entnazifizierung an der Universität Graz
Für die Universität Graz bestand hierbei eine nochmal kompliziertere rechtliche Situation. Die Britische Militärregierung, die am 23./24. Juli 1945 die Verwaltung der Steiermark von den Sowjets übernahm, zog grundsätzlich die Rechtsprechung und Gerichtsbarkeit in ihren Zuständigkeitsbereich.27 Gesetze, die die neue österreichische Regierung beschloss, waren in der Steiermark nur nach Zustimmung der Militärregierung gültig. Das galt prinzipiell auch für das Verbotsgesetz. Offiziell verlautbarte die Britische Militärregierung erst mit 30. Jänner 1946, dass das Verbotsgesetz und seine Durchführungsverordnungen auch in der Steiermark wieder volle Rechtskraft hatten.28 Aus der Praxis in den Entnazifi24 § 14, Abs. 3, 3. Durchführungsverordnung zum Verbotsgesetz, StGBl 131/1945, Abschnitt VII. 25 § 23, 3. Durchführungsverordnung zum Verbotsgesetz, StGBl 131/1945, Abschnitt VII. 26 § 16, Abs. 2–3 und Abs. 5, 3. Durchführungsverordnung zum Verbotsgesetz, StGBl 131/1945, Abschnitt VII. 27 Zur Entnazifizierung und zum Verbotsgesetz in der Steiermark im Allgemeinen siehe Siegfried Beer, Die Briten und der Wiederaufbau des Justizwesens in der Steiermark 1945–1950, in: ders. (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955, Graz 1995, 111–140. Siehe auch Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht, Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck 2015, 360– 368. 28 Siehe hierzu Beer, Die Briten und der Wiederaufbau des Justizwesens, 114. Sowie Heimo Halbrainer/Martin Polaschek, „… zu Recht erkannt“. Kriegsverbrecher- und NS-Wiederbetätigungsprozesse in der Steiermark 1945–1970, in: Joseph F. Desput (Hg.), Vom Bundesland zur europäischen Region. Die Steiermark 1945 bis heute, Graz 2004, 99–136, 100–104. Zur unterschiedlichen Herangehensweise an die Entnazifizierung von Westallierten und Sowjets – erstere seien bereits 1944 mit klaren Vorstellungen darüber, wie vorzugehen sei, aufgetreten – siehe Winfried R. Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung der NS-Verbrechen, in: Emmerich Talós/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 852–883, 857. Dass das Verbotsgesetz nicht galt, beziehen die ausgewiesenen Publikationen auf den ersten Erlass der britischen Militärregierung für Steiermark und Kärnten vom 31. 8. 1945. Amts- und Verordnungsblatt Steiermark, 32. Jahrgang, Stück 5, 31. 8. 1945, 66–67.
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zierungsverfahren öffentlicher Bediensteter schließend kann allerdings festgestellt werden, dass die Nichtanerkennung des Verbotsgesetzes in der Steiermark zwischen August 1945 und Jänner 1946 sich hauptsächlich auf die gerichtliche Verfolgung von Straftaten nach dem Verbotsgesetz ausgewirkt hatte. Bürokratische Prozesse wie die Registrierung von NSDAP-Mitgliedern oder eben die Überprüfung der Personalstände an den Universitäten waren davon nicht betroffen und wurden weiter nach den im Verbotsgesetz dargelegten Richtlinien durchgeführt.29 Die Universität Graz richtete bereits im Juni 1945 „Ausschüsse“ ein. In der Senatssitzung vom 27. und 28. Juni 1945 fasste der sich neu konstituierende Senat den Beschluss, „Ausschüsse“ für die einzelnen Fakultäten einzurichten, die das Universitätspersonal hinsichtlich § 21 Verbotsgesetz von 1945 überprüfen sollten. Vorsitzende sollten Hans Lieb für die medizinische, Walter Wilburg für die juridische und Wilhelm Brandenstein für die philosophische Fakultät sein.30 In der Senatssitzung vom 18. Juli wurde allerdings bekannt gegeben, dass sich Wilburg weigerte, eine derartige Position zu übernehmen. Wilburg „[…] richtet[e] an den Senat die Frage, ob es zu dieser Prüfung nicht einen anderen Weg gäbe.“ Die Entnazifizierung sollte nach Wilburgs Ansicht „[…] Politkern überlassen werden“.31 Der Senat positionierte sich so, dass „[…] die Übernahme des erteilten Auftrages unbedingt notwendig sei, da auf andere Weise die besonderen Verhältnisse und Bedürfnisse der Universität nicht Berücksichtigung finden würden“ und sprach dem eingerichteten „Ausschuss“ (später als „Säuberungskommission“ bezeichnet) sein volles Vertrauen aus. Diese „Säuberungskommission“ unter Vorsitz des Landeshauptmannstellvertreters Alois Dienstleder32 wurde noch vor Jänner 1946 auch von der britischen Militärregierung bestätigt.33 Laut gesetzlicher Grundlage hätte diese Säuberungskommission fortan in den kommenden Monaten das Personal überprüfen, den Rektor über Ergebnisse informieren und dieser den Landeshauptmannstellvertreter Dienstleder um
29 Austrian Court Section on the position under Renner Law, 5. 11. 1945. NAL, FO, 1020/2082: Allied Commission for Austria, Legal Division. 30 Vorsitzender des Senats war Rektor Rauch. Die Mitglieder waren alle „vom Landeshauptmann bestellt“. Protokoll der Senatssitzung, 27. und 28. 6. 1945. Universitätsarchiv Graz (UAG), Senatsprotokolle 1945/1946. 31 Senatsprotokoll, 18. 7. 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945/1946. 32 Alois Dienstleder war christlich-sozialer Landeshauptmann der Steiermark zwischen 1933 und 1935, Mitglied des Staatsrates von 1934 bis 1938, Landesparteiobmann der ÖVP Steiermark, steiermärkischer Landeshauptmannstellvertreter und Mitglied sowie Vorsitzender des Bundesrates für die ÖVP von 1945 bis 1946 und war somit wohl fest im katholisch-konservativen Milieu verankert. Vergleiche UAG, Rektoratsakten 1945/46, Beileidsschreiben des Rektorats der Universität Graz an die Landesleitung der ÖVP Steiermark vom 8. 2. 1946. 33 Landeshauptmannschaft an das Ministerium für Volksaufklärung, Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten, 7. 1. 1946. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 28, 3072/1946.
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Entscheidung ersuchen müssen.34 Es kam zwar zu ersten Enthebungen, diese betrafen aber beinahe ausschließlich – jedoch keinesfalls umfassend – diejenigen, die als „Reichsdeutsche“ galten. Ab Beginn des Wintersemesters sah diese Kommission ihre Aufgabe allerdings darin, Pensionsansprüche für die Enthobenen geltend zu machen.35 Damit war noch vor der Übernahme der Steiermark von den sowjetischen Befreiern durch die britische Militärregierung eine Sonderkommission, „Ausschuss“ oder „Säuberungskommission“ bezeichnet, direkt an der Universität Graz eingerichtet worden. Diese sollte auch in den folgenden Monaten streng nach den aus Wien kommenden Vorgaben vorgehen und alle im Personalstand aufscheinenden Personen den zur Datenerhebung vorgesehenen Fragebogen ausfüllen lassen.36 Weil das wissenschaftliche Hochschulpersonal dem Bundesministerium unterstand, wurden auch im Bundesministerium selbst Sonderkommissionen eingerichtet. Insgesamt operierten damit für die Universität Graz drei Sonderkommissionen/Senate in der ersten Instanz: Zum einen eine Sonderkommission/Säuberungskommission an der Universität Graz selbst, deren (später alleiniger) Vorsitzender Professor Wilhelm Brandenstein war.37 Zum anderen waren bei der Sonderkommission beim Bundesministerium für Unterricht zwei für die Universität Graz zuständige Senate eingerichtet worden. Im Frühjahr 1946 übernahmen der Sektionschef des Ministeriums für Unterricht, Otto Skrbensky38 und im Herbst Ministerialrat Hans Kenda den Vorsitz des ersten Senats. Der Vorsitzende des zweiten Senats war Othmar Crusiz.39 34 Senatsprotokoll, 18. 7. 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945/1946. 35 Senatsprotokoll 29. 10. 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945/1946. 36 Schreiben der Public Safety Special Branch an Howe, 17. 1. 1946. NAL, FO 1020/2588, Allied Commission for Austria, Education Division, Universities vol. 1. Im Herbst 1945 wurden zudem auf Rechtsbasis des Bundesgesetzes vom 26. Oktober 1934 die Disziplinarkammern wieder ins Leben gerufen. BGBl. 26. 10. 1934, Stück 107, Nr. 334, 791, betreffend die Disziplinargewalt über die Bundeslehrer an den Hochschulen. Dem Gesetz nach konnten Bedienstete der Hochschulen dann belangt werden, wenn sie „ihre Standes- und Amtspflichten“ verletzten. 37 Vergleiche einen von der Landeshauptmannschaft an das Ministerium für Volksaufklärung, Unterricht und Erziehung und für Kultusangelegenheiten weitergeleiteten Bericht des Rektorats der Karl-Franzens-Universität Graz, 7. 1. 1946. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 28, 3072/1946. In einem weiteren Protokoll vom 15. 2. 1946 wurde festgehalten, dass angeregt wurde, „Prof. Brandenstein zum ständigen Mitglied der Kommission für alle Fakultäten zu machen […].“, UAG, Senatsprotokolle 1945/1946. 38 Otto Skrbensky wurde nach der Absolvierung seines Jus-Studiums Anfang der 1920er-Jahre Bezirkshauptmann, ehe er 1922 ins Unterrichtsministerium wechselte. Das CV-Mitglied schwor nach dem „Anschluss“ Österreichs seinen Diensteid auf Adolf Hitler, wurde jedoch noch im November 1938 mit „Dreiviertel des Ruhegenusses in den Ruhestand versetzt“. Stifter zufolge wurde er trotzdem Mitglied des NS-Rechtswahrerbundes. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes konnte Skrbensky in das Unterrichtsministerium unter der Leitung des CV-Mitglieds Felix Hurdes zurückkehren und wurde am 29. 8. 1945 zum Sektionschef des Staatsamtes für Volksaufklärung, Unterricht und Erziehungs- und Kultusan-
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Kritische Stimmen zum Ablauf der Entnazifizierung
Darüber, was denn eine „Belastung“ sei, lassen sich im Entnazifizierungsdiskurs diverse wie widersprüchliche Auffassungen feststellen. Zunächst bestimmte die Gesetzgebung ein gesondertes Vorgehen gegenüber den „Illegalen“ unter den österreichischen StaatsbürgerInnen – also jenen, die zwischen 1933 und 1938, in der sogenannten Verbotszeit, eine Parteimitgliedschaft in der Nationalsozialistischen Partei innegehabt hatten. „Illegale“ sollten unverzüglich entlassen werden40 – unabhängig davon, ob sie schon vor oder erst nach dem 13. März 1938 im öffentlichen Dienst standen.41 In der Steiermark waren unter den 1946 registrierten NSDAP-Mitgliedern rund 20.000 „Illegale“.42 Die gewählte Klausel im Gesetzestext „Widerruf“ bedeutete, dass für die Republik Österreich die betroffenen Personen niemals in einem Dienstverhältnis gestanden waren. Die übrigen NationalsozialistInnen43 im öffentlichen Dienst – im Allgemeinen Personen, die nach dem sogenannten „Anschluss“ AnwärterInnen, Parteimitglieder oder Mitglieder eines nationalsozialistischen Verbandes geworden waren – sollten gemäß dem Verbotsgesetz auf ihre Gesinnung und ihr Verhalten hin beurteilt werden. Diese Überprüfung musste dann allerdings unabhängig davon, ob das Dienstverhältnis vor oder nach dem 13. März 1938 begonnen hatte, durchgeführt werden.44 Der gesonderte Umgang mit den „Illegalen“ war innerhalb der Britischen Militärregierung ein Diskussionspunkt. Im Februar 1946 berichtete die Britische
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gelegenheiten ernannt. In dieser Funktion übernahm er die Leitung der Hochschulsektion. Skrbensky wurde bisweilen als „typischer Vertreter der österreichischen Hocharistokratie“ charakterisiert, der eine äußerst konservative und katholische Haltung pflegte und Deutsche und ProtestantInnen ablehnte. Ausführlich zur Person Skrbensky in Pfefferle/Pfefferle, Glimpflich entnazifiziert, 45–72. Vergleiche Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration, 295, 350–351, 356. Vergleiche beispielsweise die Urteile der Sonderkommissionen erster Instanz beim Bundesministerium für Unterricht aus dem Jahr 1946 im Bestand OeStA, AdR, BKA, Untergeordnete Dienststellen, Liquidator, Unterricht 1946. Der Personenkreis der sogenannten Illegalen wurde in § 10 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945 definiert. Alle als „illegal“ definierten NationalsozialistInnen waren mit Inkrafttreten des Verbotsgesetzes von Rechts wegen zu entlassen, siehe § 14 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945. Die vor dem 13. 3. 1938 eingestellten „Illegalen“ galten nach neuer Gesetzeslage nicht als Bedienstete des Bundes oder der Länder – ihre Anstellungen wurden widerrufen. Gemäß § 20 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945, Graz 1994, 453. Das sind jene Personen die im § 4 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945 definiert wurden und zusätzlich Personen, die im § 12 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945 genannt und nicht bereits aufgrund des § 20 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945 entlassen wurden. Heller/Leobenstein/Werner, Das Nationalsozialistengesetz, 210–212, 215–216. Wer allerdings zum Personenkreis des § 17 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945 zählte, wurde, sofern das nicht schon aufgrund des § 14 passiert war, gemäß § 20 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945 entlassen.
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Militärregierung zum einen über die zu wünschen übriglassende Umsetzung der Entnazifizierung – ein Umstand, der in naher Folge zur Installierung neuer Instanzen der Entnazifizierung führen sollte und sogleich noch angesprochen wird. Zum anderen diskutiert der Bericht das vergleichsweise rigide Vorgehen gegen „Illegale“ und die Begrifflichkeit „Illegale“ an sich – würde diese implizit auch, so das Argument, Personen, die nach dem März 1938 offiziell NationalsozialistInnen wurden, legalisieren und legitimieren. „The Austrian’s view of denazification is entirely different from our own. Whereas our object is essentially destructive and preventive, theirs is punitive; our method is internment, while theirs is trail – or rather, in practice, prolonged detention pending trail. The average Austrian welcomes the prosecution of the minor party official just as heartily as he does that of the party boss. Above all he is preoccupied with the fate of Nazis who were members of the Party before the Anschluss gave those who joined it at least the excuse of following the crowd; and the ‚Prohibition Law‘ No. 13 passed by the Provisional Government in May 1945 was largely designed to meet out retribution to these so-called ‚illegal‘ Nazis.“45
Darüber hinaus vermerkte die Britische Militärregierung, über den allgemeinen Fortschritt der Entnazifizierung sichtlich erzürnt: „Up to the 16th January [1946], however, the Advisory Committees had not produced a single recommendation for arrest or dismissal, though appeals for release or reinstatement had already begun.“46 Die Universität Graz sah den als nicht existent zu bezeichnenden Fortschritt der Entnazifizierung dennoch positiv und zufriedenstellend – „durchaus ausreichend“.47 Obwohl die politischen wie universitären AkteurInnen immer wieder die große Bedeutung der Entnazifizierung betonten, waren bis Mitte Jänner 1946 – also rund einen Monat vor dem ersten vorgesehenen Enddatum für die Entnazifizierung – keine Beurteilungen bei der Britischen Militärregierung eingelangt. Die Britische Militärregierung hatte zu diesem Zeitpunkt bereits ein sehr
45 Nicholls berichtet für die Britische Militärregierung der britischen Regierung über die Entnazifizierung, 5. 2. 1946. NAL, FO 945/786, Denacification in Austria: Current Policy, 1890/ 189/3. 46 Nicholls berichtet für die Britische Militärregierung der britischen Regierung über die Entnazifizierung, 5. 2. 1946. NAL, FO 945/786, Denazification in Austria: Current Policy, 1890/ 189/3. 47 Protokoll des Akademischen Senates der Universität Graz, 15. 2. 1946. UAG, Senatsprotokolle 1945/1946. Vergleiche auch das Protokoll vom 29. 5. 1946, in dem der Senat sich über die schlechte Presse und die Anschuldigung, die Entnazifizierung nur zögerlich voranzutreiben, beschwert. „Bei den einzelnen Universitäten sind über 60 % der Hochschullehrer, teilweise noch mehr, entfernt worden. Der Rektor will sich daher mit dem Wiener Ministerium in Verbindung setzen und gleichzeitig darauf hinweisen, dass der Neuaufbau der Fakultäten völlig stagniere […].“
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klares Bild über die Stimmungslage innerhalb der österreichischen Bevölkerung und über die Kooperationstätigkeit unter den Parteien: „As a result of heavy pressure from British authorities a few recommendations for dismissal have since been made; but it is nonetheless clear that the members of these Committees are deterred from denouncing their fellow-citizens by fear of subsequent reprisals. Neither of the two principal Austrian parties is sufficiently sure of itself to risk permanent alienation of the support, which might later obtain from considerable proportion of the population which the former Nazis represent. Only the Communists have been consistent in their opposition to all forms of clemency in dealing with the Nazis, though the accusations that Nazis are admitted into their ranks have been too numerous to be dismissed as mere vilification. All parties are [sic] however agreed that Nazis, however innocent personally, cannot be allowed to hold administrative posts.“48
Der ausbleibende Eifer bei der Entnazifizierung führte also allzu bald dazu, dass die Alliierten ihre eigene Instanz bildeten, die für die Überprüfung der Personalstände zuständig sein sollte. Anfang Februar 1946 versuchte diese sodann die Lage zu analysieren, um die Probleme bei der Umsetzung bekämpfen zu können. Im Bericht zur Evaluation der Entnazifizierung hielt die Britische Militärregierung Folgendes fest: „The first main obstacle therefore to the efficient execution of uniform denazification throughout Austria has been the attitude of the Austrians, who though free enough with criticism of our own methods, are reluctant to take any initiative themselves. The second was the division of the country into four zones of occupation, with no common policy except to the extent that the British and U.S. authorities were at least nominally working on the same directives, and with the practical consequence that Nazis resident in one zone could take refuge in another when their identity or antecedents could be more easily concealed. It was in an attempt to overcome this second obstacle that the Quadripartite Denazification Bureau was formed in November, 1945, consisting of two representatives of each of the Allied Powers, with the task of exchanging information and unifying denazification policy.“49
Nach und nach wurden auch in Tageszeitungen Stimmen laut, die forderten, dass „auch die Hochschulen der Demokratie dienen“ müssten. Unterrichtsminister Felix Hurdes erkannte bald, dass die Angespanntheit zwischen den Alliierten und der österreichischen Regierung wohl wenig förderlich für einen baldigen Staatsvertrag sein würde. Er proklamierte in Folge besonders die Wichtigkeit der
48 Nicholls berichtet für die Britische Militärregierung der britischen Regierung über die Entnazifizierung, 5. 2. 1946. NAL, FO 945/786, Denacification in Austria: Current Policy, 1890/ 189/3. 49 Nicholls berichtet für die Britische Militärregierung der britischen Regierung über die Entnazifizierung, 5. 2. 1946. NAL, FO 945/786, Denazification in Austria: Current Policy, 1890/ 189/3, p.3.
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„Entnazifizierung des Geistes“ und betonte, dass „jeder, der irgendwie nationalsozialistisch belastet ist, auf einer Lehrkanzel keinen Platz hat“.50 Ebenso zeigte sich Bundeskanzler Leopold Figl51 stets bemüht zu demonstrieren, dass Österreich, wider allem Anschein, doch um Entnazifizierung bemüht sei. Er initiierte eine weitere Institution der Entnazifizierung: Neben den Sonderkommissionen und dem Alliierten Denazifizierungsbüro überprüfte ab 20. Jänner 194652 auch das Ministerkomitee zur Säuberung der höchsten Staatsund Wirtschaftsstellen von Nazielementen, kurz genannt das „Figl-Komitee“, die Personalstände.53 Nachdem die Alliierten abermals darauf aufmerksam gemacht hatten, dass es nicht „[…] an[gehe], daß hier [von den] einzelnen Behörden auf Schwierigkeiten, sei es persönlicher, sei es sachlicher Natur, hingewiesen wird, die der Durchführung […]“entgegenstanden54, kam es zu einer neuen Stellungnahme die Legislative betreffend; allerdings war auch diese in den Augen der Britischen Besatzung „bestrafend und nicht vorbeugend“.55 Im Mai 1946 betonte die parlamentarische Debatte einmal mehr die dringende Notwendigkeit die Universitäten zu entnazifizieren. Der sozialistische Abgeordnete und spätere Justizminister Otto Tschadek, der 1931 an der Universität Graz promoviert hatte, merkte an: „Und wenn wir heute in der [Z]weiten Republik unsere Hochschulen neu aufbauen, dann müssen wir Wert darauf legen, daß die Hochschulen aus einer Stätte reaktionären Geistes zu einer Stätte der freien Wissenschaft und der Demokratie werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir in erster Linie entnazifizieren.“56 Doch bereits am 3. Juni 1946 musste das Alliierte Denazifizierungsbüro die österreichischen Instanzen der Entnazifizierung erneut dringlich zur Weiterleitung von Informationen anhalten. „Das Alliierte Büro kann nicht länger die Tatsache ignorieren, dass österreichische Regierungsbehörden zu wiederholten Malen dadurch Verfehlungen begehen, dass sie
50 O. A., Der Wiederaufbau des österreichischen Geistes, Neues Österreich 9. 1. 1946, 1. 51 Zur umstrittenen Rolle Leopold Figls am Beginn der Zweiten Republik siehe Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik 1945–2005, Wien 2005, 29 sowie 52. 52 Appendix B to Report of the Allied Denazification Bureau, 6. 7. 1946. NAL, FO 945/786, Denazification in Austria: Current Policy, EXCO/P(46)210. 53 OeStA, AdR, BKA, Präsidium, Figl-Komitee. 54 Schreiben des Bundeskanzlers Figl an alle Bundesministerien, 23. 3. 1946. OeStA, AdR, BKA, Untergeordnete Dienststellen, Liquidator, Unterricht – Verbotsgesetz Säuberungen 1945– 1950, 43143/1946. 55 Appendix B to Report of the Allied Denazification Bureau, 6. 7. 1946. NAL, FO 945/786, Denazification in Austria: Current Policy, EXCO/P(46)210. 56 Stenographische Protokolle des Nationalrates, 18. Sitzung, 24. 5. 1946, 338. Zu Otto Tschadek siehe Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration, 363.
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dem Ersuchen um Erledigung oder Information nicht nachkommen. Solche Verzögerungen an der Arbeit des Alliierten Büros können nicht länger geduldet werden; […].“57
Einmal mehr zeigte sich hier das Auseinanderklaffen von proklamiertem Anspruch und realer Umsetzung: Die Abänderung wurde am 24. Juli 1946 beschlossen, jedoch erst am 28. September 1946 kundgemacht. Womit trotz suggeriertem guten Willen die Rechtsgrundlage erst wieder nach dem Ablauf der vorherigen Frist in Kraft trat und zwischen dem 30. Juni 1946 (Ende der zuvor festgelegten Frist) und dem 28. September 1946 (Kundmachung der neuen Verbotsgesetznovelle) eine Rechtsgrundlage für Überprüfungen durch die Sonderkommissionen fehlte. Dieses Fehlen der Rechtsgrundlage nahmen die Sonderkommissionen zur Entnazifizierung des Universitätspersonals zum Anlass, mit Ablauf der Juni-Frist ihre Tätigkeit einzustellen. Obwohl ab Ende September wieder eine gesetzliche Grundlage bestand, wurde die Tätigkeit vorerst nicht wieder aufgenommen. Das Bundesministerium für Unterricht musste die Universitäten in einem Rundschreiben vom 4. Oktober 1946 ermahnen, endlich wieder der Entnazifizierung nachzugehen.58 In der Steiermark sandte in den nächsten Wochen die Landeshauptmannschaft auf Anweisung der Alliierten dem Bundesministerium für Unterricht einen Bericht über den Stand der Entnazifizierung an der Universität Graz zu: Dieser Bericht legte offen, dass Ende 1946 rund ein Drittel der Überprüfungen des wissenschaftlichen Personals noch immer ausstehend war.59 Die Dokumentationen über die Einschätzungen des Universitätspersonals zeigen, dass die Senate der Sonderkommissionen beim Bundesministerium einzelne Überprüfungen im Juni 1946 und den Großteil dann überhaupt erst nach Wiederherstellung der Rechtsgrundlage im November 1946 fällten und die Entnazifizierung nicht in der gewünschten und proklamierten Intensität betrieben wurde.60 Deshalb verfolgte bald auch die US-amerikanische Besatzung mit zunehmendem Interesse das Vorgehen in der Steiermark. Sie fällte ein positives Urteil. Einen Blick auf Entlassungen werfend lautete ihre durchaus positive Zusammenfassung die Entnazifizierung der Universitäten in der Steiermark betreffend: „In Styria too, the number of professors dismissed under the 57 Schreiben des Bundeskanzleramtes an die Präsidien aller Ministerien, 25. 6. 1946. OeStA, AdR, BKA, Untergeordnete Dienststellen, Liquidator, Unterricht – Verbotsgesetz Säuberungen 1945–1950, 1366/1946. 58 Rundschreiben des Bundesministeriums für Unterricht an alle Dienststellen, 4. 10. 1946. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 2C/1, 25201/1946. 59 Schreiben von Othmar Crusiz im Namen der Landeshauptmannschaft Steiermark an das Bundesministerium für Unterricht, 26. 10. 1946. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 5C/1, 29044/1946. Siehe auch StLA, LReg, 366 Allgemein, Nationalsozialismus, 36557/1946. 60 Vergleiche die Überlieferung der Urteile der beiden Senate für die Universität Graz der Sonderkommission erster Instanz beim Bundesministerium für Unterricht aus dem Jahr 1946 im Bestand OeStA, AdR, BKA, Untergeordnete Dienststellen, Liquidator, Unterricht, 1946.
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British Denazification policy is greater than the number now actually teaching.“61 Während im Wintersemester 1946 laut den Aufzeichnungen des Alliierten Denazifizierungsbüros noch 74 Professoren (66 regulär, 8 bereits als „enthoben“ vermerkt) im Personalstand der Universität Graz geführt wurden, standen diesen 72 seit Mai 1945 entlassene Professoren gegenüber. Von den 66 regulär geführten waren dem Alliierten Denazifizierungsbüro 25 als „belastet“ bekannt.62 Auf das wiederholte Anprangern und Fordern folgte Ende 1946 schließlich ein verstärktes Tätigwerden der Entnazifizierungsgremien – ein Aktivwerden, das allerdings als Reaktion auf die in Aussicht gestellte Nationalsozialistenamnestie zu interpretieren ist. An diesem durchaus als Höhepunkt der Entnazifizierung zu beschreibenden Tätigkeitspeak stellte das Figl-Komitee die Säuberung des Professorenkollegiums der Universität Graz betreffend fest, dass von den 79 in Dienst stehenden Professoren und PrivatdozentInnen der Universität Graz lediglich neun als nicht belastet zu beurteilen sind.63 Trotz dieser mehr als problematischen Bilanz zeichneten die Folgemonate wieder Verzögerungsstrategien aus. Das Ziel, auf das gerichtet alle Prozesse hinausgezögert wurden, war im Februar 1947 schließlich Realität geworden: Die Kundmachung des Nationalsozialistengesetzes brachte nicht nur die Einteilung vormaliger NationalsozialistInnen in „Belastete“ und „Minderbelastete“64 und damit eine erhebliche Verbesserung der rechtlichen Position von ehemaligen Parteimitgliedern, sondern auch die Einstellung der Sonderkommissionsverfahren in ihrer bisherigen Form.65 Das Nationalsozialistengesetz sah außerdem die Errichtung neuer Kommissionen bei allen Bundesministerien vor – die „Paragraph 19 Kommis-
61 Report of Quadripartite Sub-Committee on Denazification in Austrian Universities, 7. 9. 1946. The National Archives Washington (NARA) II, Records Group (RG) 260 – Records of US Occupation Headquarters World War II, Box 11, Folder 68, 2. 62 Statistical Survey of the Denazification of Austrian Universities, Styria, 7. 9. 1946. NARA II, RG 260 – Records of US Occupation Headquarters World War II, Box 11, Folder 68, 013/3. 63 Allerdings befindet sich unter diesen sieben als nicht belastet Gewerteten auch Bernd Arnim, der verstorben war. Von den 13 Lehrenden der juridischen Fakultät wurde einer als nicht belastet eingestuft. Ebenso wurde von den 17 Lehrenden der medizinischen Fakultät eine Person als nicht belastet eingestuft. Insgesamt waren somit von 70 dem Professorenkollegium zugerechneten Bediensteten neun nicht belastet. Das entspricht 6,3 Prozent. Rektorat der Universität Graz über die Entnazifizierung des Professorenkollegiums, 7. 11. 1946. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 2C/1, 40190/1946. Sowie UAG, Akten des Rektorats, 441/1946–47. Vergleiche Abbildung 2. 64 § 17 I. Hauptstück, Abschnitt I, 3. Verbotsgesetznovelle, Nationalsozialistengesetz 1947, BGBl 25/1947. 65 Durch die Änderung 17., I. Hauptstück, Abschnitt I, 3. Verbotsgesetznovelle, Nationalsozialistengesetz 1947, BGBl 25/1947 wurde unter anderem der § 21 Verbotsgesetz 1945, StGBl 18/1945 gestrichen, wodurch die Rechtsgrundlage für die Überprüfungen der Sonderkommissionen entfiel.
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sionen“.66 Diesen Instanzen oblag es nun, in Folge des Nationalsozialistengesetzes über die Weiterbeschäftigung beziehungsweise Wiedereinstellung von „minderbelasteten“ Personen in den Universitätsdienst zu entscheiden. Zudem mussten sie formell jegliche Lehrtätigkeiten genehmigen.67 Die Folge war das Auftreten von „N.N.“ in den Vorlesungsverzeichnissen: Am Semesterbeginn wurden die Personen, die aufgrund ihrer Belastung für die Lehrveranstaltungen nicht genehmigt werden würden, nicht genannt. Vor Semesterende wurde dann rückwirkend beim Ministerium für deren Remuneration angesucht.68 Eine andere gängige Praxis war das Ansuchen um „zeitweise“ Verlängerung derer, die eigentlich bereits entlassen waren.69 An der Universität Graz wurden solche „Paragraph 19 Kommissionen“ ab Juli 1947 tätig.70 Nach dem Nationalsozialistengesetz von 1947 wich der Enthusiasmus in der Entnazifizierung der Hochschulen stetig. Es wurden zahlreiche Verfahren nicht abgeschlossen beziehungsweise überhaupt nicht begonnen. Während die „Suspendierten“ bereits auf die Amnestie warteten, beanstandete der Alliierte Rat auch 1948 einmal mehr den mangelnden Eifer in der Umsetzung der Gesetze. Bürokratisch mahnte in Folge das Bundeskanzleramt das Bundesministerium für Unterricht, doch mit etwas mehr Nachdruck auf die Durchführung der Arbeit der Sonderkommissionen zu pochen. Denn „[e]s muss bemerkt werden, dass ein Hinweis auf die zu erwartende Amnestie unangebracht ist, da vom Alliierten Rat gerade in letzter Zeit darauf hingewiesen wurde, dass die genaue Durchführung der Bestimmungen des Verbotsgesetzes 1947 eine Voraussetzung für die Zustimmung einer Amnestie darstelle. Eine beschleunigte Tätigkeit der […] Kommissionen erscheint daher auch aus diesem Grunde wünschenswert.“71
Mit der Amnestie 1948 sind die Entnazifizierungsbestrebungen der Kommissionen und des Figl-Komitees tatsächlich zu einem Ende gekommen. In den 66 § 18 und § 19, I. Hauptstück, Abschnitt I, 3. Verbotsgesetznovelle, Nationalsozialistengesetz 1947, BGBl 25/1947. Betreffend das Bundesministerium für Unterricht siehe § 19, Abs. 3, I. Hauptstück, Abschnitt I, 3. Verbotsgesetznovelle, Nationalsozialistengesetz 1947, BGBl 25/ 1947. 67 § 19, Abs. 1 b, aa), I. Hauptstück, Abschnitt I, 3. Verbotsgesetznovelle, Nationalsozialistengesetz 1947, BGBl 25/1947. 68 Siehe u. a. UAG, Rektoratsakten 1947/48 und Folgejahre. Zur Praxis von „N.N.“ in Vorlesungsverzeichnissen siehe Pfefferle/Pfefferle, „Eine peinliche Zwischenzeit“, 424. 69 BMU, Hauptreihe 1, 2C/1, in genere enthält sämtliche Ansuchen und teilweise dreimonatige Genehmigungen für Weiterverwendung. 70 Vergleiche ein Schreiben des Rektorats der Karl-Franzens-Universität Graz an das Bundesministerium für Unterricht über die Einrichtung und Zusammensetzung solcher Kommissionen nach § 19, Abs. 3, I. Hauptstück, Abschnitt I, 3. Verbotsgesetznovelle, Nationalsozialistengesetz 1947, BGBl 25/1947, 19. 7. 1947. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 2C/1, 35765/ 1947. 71 Schreiben des Bundeskanzleramtes an Bundesministerium das für Unterricht, 5. 4. 1948. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 2C/1, 27415/1948.
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verschiedenen Archiven – Österreichisches Staatsarchiv, Universitätsarchiv Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, The National Archives London sowie The National Archives Washington – finden sich keine Unterlagen, die eine nennenswerte Fortführung dieser Bestrebungen zeigen würden. Vielmehr bestätigt die Analyse zahlreicher Personalakten von Bediensteten der Universität Graz die Forschungsmeinung auch andere Universitätsstandorte betreffend; nämlich, dass ab 1948 viele der im Zuge der Entnazifizierung entfernte Lehrkräfte nach und nach wieder in den Universitätsdienst zurückkamen.72 Ein letzter Rechtfertigungsversuch von Seiten der Grazer Universität, warum die Entnazifizierung nicht erfolgreicher im Sinne der Alliierten war, zielte auf das Spannungsverhältnis zwischen diesen ab. Generell ist festzustellen, dass die Entnazifizierung betreffende Prozesse in der Zone der Britischen Militärregierung besonders von der transnationalen Politik der Alliierten geprägt waren. Nicht nur sei, wie zuvor zitiert, die Einstellung der ÖsterreicherInnen zur Entnazifizierung, sondern vor allem auch die Aufteilung des österreichischen Staatsgebietes unter den vier Besatzungsmächten, die sodann häufig andere Auffassungen unter einen gemeinsamen Nenner zu bringen hatten, ein Grund für den Misserfolg der Maßnahmen: „The work of the Bureau was at first hampered by the radically different Soviet attitude towards the problem. Having no system of category arrests themselves, the Soviet authorities were content to leave the work of denazification in the hands of the Provisional Government. The American representative have also inclined to a similar attitude of late; they now propose to confine their arrestable categories (previously similar to our own) to war criminals and members of organization indicted at Nuremberg.“73
72 UAG, Personalakten und OeStA, AdR, BMU, PA. Zum Beispiel Hermann Ibler (Juridische Fakultät), OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 5, 27569/1938, 40348/1957 und 73704/1960. Hermann Ibler war seit 1933 Mitglied der NSDAP und auch als „Illegaler“ aktiv und seit Juli 1938 Dozent an der Juridischen Fakultät Graz. 1945 wurde er aus dem Universitätsdienst entlassen. Durch Personalmangel (so die Argumentation) und durch die Beharrlichkeit Iblers in den Jahren zwischen 1948 und 1955 erlangte er seine Stelle an der Universität wieder und wurde schließlich mit 21. Mai 1965 zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt. Schreiben des Bundesministeriums an Hermann Ibler, 4. 6. 1965. Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Landesschulrat, Personalaktengruppe III, Ibler Hermann. Ein anderes Beispiel ist der Geograph Sieghart Morawetz, der „seit 1933 für die illegale WHW und als unterstützendes Mitglied der SA tätig“ war und eine beachtliche Universitätskarriere bis in die späten 1980er-Jahre und größte Verehrung vom Institut bei seinem Ableben 1990 genießen durfte. Zitiert aus Schreiben des Rektorats der Universität Graz an das Ministerkomitee, 29. 5. 1946, inklusive dem Schreiben beiliegender Bericht der Kriminalpolizei Graz, 30. 4. 1946. OeStA, AdR, BKA, Präsidium, Figl-Komitee, Grazer Hochschulen. 73 Nicholls berichtet für die Britische Militärregierung der britischen Regierung über die Entnazifizierung, 5. 2. 1946. NAL, FO 945/786, Denazification in Austria: Current Policy, 1890/ 189/3.
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Während sich die Britische Militärregierung mit der US-amerikanischen Besatzung häufig einig war, nahm sie gegenüber den Sowjets vielfach eine überaus negative Position ein und dokumentierte in ihren Berichten eine Fülle von Meinungsverschiedenheiten. Umgekehrt begannen auch die Akteure an der Grazer Universität mit dem Argument, „die Kommunisten“ hätten zu diesem und jenen veranlasst, ihre Untätigkeit und Entscheidungsfindungen zu legitimieren. Eine Rechtfertigung über den Stand der Entnazifizierung vom November 1946 brachte die Spannungen auf den Punkt: „Da sich sämtliche politische Akte in den Kommunisten nahestehenden Händen befinden, konnten wir keine datenmäßigen Angaben machen. Durch das Tagen zweier Säuberungskommissionen an der Grazer Universität, die von kommunistischer Seite lanciert wurden und die vollkommen willkürlich und besonders gegen katholische Kreise vorgehen, ist ein Zustand der vollständigen Rechtlosigkeit entstanden, wie ihn nicht einmal die Nazizeit gekannt hat.“74
Beiliegend wurde eine Liste übermittelt, aus der hervorginge, so das Schreiben, dass für alle Fächer „einwandfreier Ersatz“ vorhanden sei. Allerdings seien die Zustände an der Grazer Universität derart, „[…] daß mehrere gerade uns nahestehende Professoren es ablehnen, sich weiterhin von fragwürdiger Seite bekämpfen zu lassen und auf die Ehre der Professur verzichten wollen. Diesen Zustand herbeizuführen, ist wohl auch der Zweck der gesamten Machenschaften. Nähere Angaben können jederzeit über das Landesparteisekretariat eingeholt werden.“75 Auch gestalteten sich die Antworten auf kritische Stimmen, die ihre Meinung über die Entnazifizierung der Universität Graz in Zeitungen kundtaten, zunehmend kritisch und abwehrend.
4.
Das Fehlen des Willens zur Rückholung Vertriebener
Die nur mangelhaft und widerwillig betriebene Entnazifizierung des Personalstandes der Universität Graz ist nur ein Aspekt, der deren Weg zu einer ReDemokratisierung sowie ihre weitere Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart prägte. Der andere wesentliche Einflussfaktor war der Umgang mit „Rückberufungen und Wiedereinstellungen“. Bereits 74 Schreiben an das Ministerkomitee, November 1946 [Datum inklusive Absender geschwärzt]. OeStA, AdR, BKA, Präsidium, Figl-Komitee, Grazer Hochschulen. Als besonders eklatante Fälle für „willkürliches Vorgehen“ – dafür, dass schwer im Nationalsozialismus verstrickte Akteure wohlwollend beurteilt wurden, werden Seelig, Kröner („Hausphilosoph der Nazis“), Spanner und Zinke (org. Chemie) angeführt, während der „Antinazi“ Hans Lieb von der medizinischen Chemie als schwerer Fall geahndet würde. 75 Schreiben an das Ministerkomitee, November 1946 [Datum inklusive Absender geschwärzt]. OeStA, AdR, BKA, Präsidium, Figl-Komitee, Grazer Hochschulen.
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in der ersten Sitzung des Senates wurde dieser Punkt als vierter der Tagesordnung besprochen. Zu diesem Zeitpunkt Ende Juni 1945 einigte sich der Senat: „Beschluß auf Stellung von Anträgen beim Staatsamt zur Wiedereinstellung von Professoren und Dozenten, die von der ns. Regierung enthoben worden sind.“76 Erste „Rückberufungen“ betrafen sodann all jene, die im Sinne der Wiedererrichtung der Theologischen Fakultät nach Graz zurückberufen wurden.77 Auch bei den „Wiedereinstellungen und Rückholungen“ lassen sich ähnliche Tendenzen erkennen wie bei der Durchführung der Überprüfung der Personalstände. Zunächst proklamierte die Universität Graz Vertriebene wiedereinstellen zu wollen, Rückholung wurde allerdings mit dem Fortschreiten der Zeit zu einer leeren Floskel. „Wiederberufen“ wurden in erster Linie wichtige Funktionäre des Austrofaschismus, hier etwa prominent der Volkskundler Viktor Geramb und der Landeshauptmann während des Austrofaschismus Karl Maria Stepan, und zum anderen all jene, die eigentlich entnazifiziert werden hätten müssen. Professoren und Bedienstete, die im Exil waren, wie Otto Loewi oder Viktor F. Hess, die rassistisch verfolgt wurden oder aufgrund politischen Widerstandes und der Verfolgung naher Angehöriger ihre Stellen verloren und Österreich verlassen mussten, wurden wenn nur widerwillig und mit keinen ernstzunehmenden Angeboten kontaktiert, von angebotenen Entschuldigungen oder Sühnemaßnahmen gar nicht zu sprechen.78 Der vom Historiker Christian Rohrmoser beschriebene Fall des Althistorikers Francis (vormals Franz) Schehl ist dafür ein eindringliches Beispiel. Schehl, der an der Universität Graz promovierte, ebendort die venia docendi erhielt und ab 1933 den Lehrstuhl für Griechische und Römische Altertumskunde und Epigraphik innehatte, wurde nach dem Erlass vom 23. April 1938 betreffend „Lehrbefugnisse für Personen jüdischer Abstammung“ mit 26. April 1938 ent-
76 Senatsprotokoll, 28. 6. 1945. UAG, Senatsprotokolle 1945/1946. Zur Zusammensetzung des Senates siehe Fußnote 30 in diesem Artikel. An der Universität Graz wurden 1938 24 Professoren entlassen. Alois Kernbauer, Von der Reichs- zur Karl-Franzens-Universita¨ t, in: Helfried Valentinitsch/Friedrich Bouvier (Hg.), Graz 1945 (Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25), Graz 1994, 361–398, 383. 77 Es handelt sich hierbei um die Professoren Oskar Graber, Alois Kern, Gottfried Stettinger (alle drei aus dem Ruhestand reaktiviert), Andreas Posch (aus Wien zurückgerufen), Otto Etl, Johann Fischl, Josef Trummer. Zudem wurde Johann List und Franz Sauer die Habilitation bestätigt. Siehe Beilage 1 zur Senatssitzung vom 28. 6. 1945. UAG Senatsprotokolle 1945/46. 78 Siehe hierzu als Vergleich Vertreibungen und Rückberufungen an der Universität Wien in Klaus Taschwer, Geheimsache Bärenhöhle. Wie eine antisemitische Professorenclique nach 1918 an der Universität Wien jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb, in: Regina Fritz/ Grzegorz Rossolinski-Liebe/Jana Starek (Hg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918–1939, Wien 2016, 221–244.
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lassen.79 Schehl konnte über Großbritannien in die Vereinigten Staaten fliehen. Die Universität Graz sandte im Juli 1945 einen Erlass auf Wiedereinstellung von Schehl an das Ministerium und bemühte sich dann, den Aufenthaltsort von Schehl in Erfahrung zu bringen. Dies gelang auch tatsächlich und so ereilte Schehl im März 1946 die Nachricht: „Erbitten Drahtnachricht ob Sie auf Ihre Lehrkanzel noch reflektieren.“80 Diese Nachricht verneinte Schehl wenige Wochen später.81 Insgesamt wurden an der Universität Graz „Rückberufungen“ von rassistisch verfolgten Professoren nur mit wenig Enthusiasmus betrieben. Ihre Zugehörigkeit zur Universität Graz wurde zunächst immer dann hochgehalten, wenn es darum ging, Nobelpreise zumindest irgendwie auch der Universität Graz zuzuschreiben.82 Der Umgang mit und die Praxis der „Rückberufung“ Vertriebener gemeinsam mit dem Ausbleiben einer ernsthaft betriebenen Entnazifizierung zugunsten von Hausberufungen ehemaliger Nationalsozialisten (und Austrofaschisten) bedingten jene Entwicklung der Universität Graz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die der Soziologe Christian Fleck so prägnant als „autochthone Provinzialisierung“ zusammenfasste.83
5.
Fazit
Die immer kontroverser werdenden Stimmen zur Entnazifizierung der österreichischen Universitäten insgesamt und der Grazer Universität im Besonderen spiegelten sich in den Berichterstattungen der Britischen Militärregierung offen wider. Bevor Anfang 1946 zu den 1945 konstituierten Sonderkommissionen drei neue Instanzen der Entnazifizierung hinzukamen, evaluierte im Februar 1946 die Britische Militärregierung deren Fortschritte wie folgt: „The primary aim of British denazification policy in Austria has been to destroy the structure of the National Socialist Party. This has been achieved by means of the relatively simple system of category arrests and dismissals, whereby all persons who 79 Christian Rohrmoser, Franz resp. Francis Schehl. Ein vertriebener Grazer Althistoriker. Dipl. Arbeit, Universität Graz 2018, 33–37, 41. 80 Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz an Franz Schehl, 23. 3. 1946, UAG PA Schehl, zitiert bei Rohrmoser, Franz Schehl, 117. 81 Ebda; zu Wissenschaftsemigration aus Österreich allgemein siehe Johannes Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945, Frankfurt am Main/New York 2001. 82 Derartige Verweise finden sich noch immer unkommentiert auf der Internetseite des Archivs der Universität Graz. Liste „Nobelpreisträger der Universität Graz“, https://archiv.uni-graz.a t/de/geschichte/nobelpreistraeger/ (abgerufen 8. 10. 2020). 83 Christian Fleck, Autochthone Provinzialisierung und Wissenschaftspolitik nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich, in: ÖZG 7 (1996) 1, 67–92.
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have held certain specified positions in the National Socialist Party or its affiliated organizations are automatically interned or dismissed from public employment. The secondary aim has been to destroy the foundations on which the National Socialist structure was based. The far wider field opened up by the secondary aim could not be covered by the net of category arrests and dismissals alone.“84
Der ausbleibende Eifer in der Entnazifizierung der Universitäten nach 1945 veranlasste die Briten dazu, verschiedene Strategien zu entwickeln, um nationalsozialistisches Gedankengut in der österreichischen Gesellschaft zu beseitigen. Obwohl die Britische Militärregierung zunächst anstrebte, die personelle Entnazifizierung bis Februar 1946 abgeschlossen zu haben, war bereits zum Ende des Jahres 1945 evident, dass dieses Ziel zum einen verschoben und zum anderen mit neuen Wegen verfolgt werden müsste:85 Die Alliierten gründeten eine eigene Instanz der Entnazifizierung – das Denazifizierungsbüro. Um den Unmut der Alliierten zumindest dem Anschein nach zu verbessern setzte Bundeskanzler Figl daraufhin ein eigenes Komitee ein. All diese Instanzen teilten schließlich dasselbe Schicksal – sie mussten dem Hoffen auf mögliche Amnestien weichen. Deren Realwerdung im Frühjahr 1947 mit der Verabschiedung des Nationalsozialistengesetzes rief wieder eine neue Instanz, die Paragraph 19 Kommissionen ins Leben. Sie sollten zukünftig die Überprüfung der öffentlichen Bediensteten durchführen und über den Umgang mit nun als „minderbelastet“ geltenden Personen entscheiden. Als schließlich 1948 die Amnestie für alle Minderbelasteten verkündet wurde, kamen Prozesse der personellen Entnazifizierung endgültig zum Erliegen.86 Im Dezember 1946 veröffentlichte der „Manchester Guardian“ einen Artikel, in dem sich ein Leser zur Praxis der Entnazifizierung an den österreichischen Universitäten äußerte. Darin sprach der Autor das Versagen der Politik in der Entnazifizierung an. Bezugnehmend auf die Gewaltausschreitungen rund um die ersten Wahlen der Studierendenvertreter im November 1946 betonte der Autor, dass die österreichischen Universitäten nach wie vor Orte von FaschistInnen und NationalsozialistInnen seien: „The Minister of Education speaks compliantly of the numbers of university teachers who have been dismissed on the grounds of their past record and says that every effort
84 Nicholls berichtet für die Britische Militärregierung der britischen Regierung über die Entnazifizierung, 5. 2. 1946. NAL, FO 945/786, Denazification in Austria: Current Policy, 1890/ 189/3. 85 Zu den Fristen und Vorstellungen des Alliierten Rates siehe Stifter, Entnazifizierung, 132. 86 Vergleiche OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 2C/1, Disziplinar- und Sonderkommissionen 1945–1958.
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has been made to get back eminent Austrian scholars from abroad. This is not the experience of some Austrians, both here and in America, who have offered to return.“87
In der Reaktion der Britischen Militärregierung zeigte sich schließlich ein Wandel in deren optimistischer Einstellung und ein zunehmendes Aufgeben des Hoffens auf einen österreichischen Willen zur Entnazifizierung: „[A]lthough it is still too early to assess the situation today it is only fair to the responsible Austrian authorities to point out all their painstaking and solid achievements of the last year in this vexed question of denazification. […] Of course there are blemishes, but it is illogical to blame the Austrians for not completing denazification when the Allies find it so difficult to agree where it is necessary to strike a balance between the needs of a strong democratic and independent Austria and a ruthless exclusion from the life of the nation of the nominal members of the party.“88
Denn die Entscheidungen darüber, wer an der Universität Graz verbleiben konnte und wer entlassen wurde, waren höchst ambivalent und müssen als nur allzu paradoxe Willkürakte bezeichnet werden. Meist waren es politische Konkurrenzsituationen zwischen den Untersuchungsinstanzen, dem Ministerkomitee und den Alliierten sowie verschiedene Interessen des Bundesministeriums für Unterricht und den Universitäten – die letztendlich entscheidungstragend wurden. Die politische Verankerung der AkteurInnen – ihre Netzwerke – hatten wesentlichen Einfluss auf das Ergebnis ihrer Entnazifizierungsuntersuchungen. Die Allied Forces hielten bezüglich der herrschenden Umstände bereits 1946 fest: „This minstry is the bulwark of the Cartellverband since Minister Hurdes himself is an ‚Alter Herr‘ (CV member).“89 Otto Tschadek meinte ebenso 1946: „Wenn es uns gelingt, die Entnazifizierung der Hochschulen zu erreichen, dann müssen wir aber gleichzeitig auch einen Weg finden, um die Verklerikalisierung unserer Hochschulen zu verhindern.“90 An der Universität Graz agierten die Entnazifi87 Clipping from Manchester Guardian, 2. 12. 1946. NAL, FO 945/787, Denazification in Austria: Current Policy. Zu den Geschehnissen am 19. 11. 1946 siehe auch Allied Commission for Austria to the Control Office for Germany and Austria on Austrian Universities and the Manchester Guardian, 17. 12. 1946. NAL, FO 945/787, Denazification in Austria: Current Policy, ACA/ER/44(4). 88 Education Division of the British Branch, 17. 12. 1946. NAL, FO 945/787, Denazification in Austria: Current Policy, ACA/A/44(1). 89 Reinhold Wagnleiter (Hg.), Understanding Austria. The Political Reports and Analyses of Martin F. Herz, Political Officer of the US Legation in Vienna 1945–1948, Salzburg 1984, 572– 573 zitiert nach Stifter, Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration, 351. Vergleiche auch die Ausführungen zu Ministerialrat Franz Hoyer im Bundesministerium für Unterricht in Georg Gänser/Susanne Korbel, „Stellen Sie das Verfahren ein, aber kümmern Sie sich doch auch ein bisschen um seine Vergangenheit …“ – Die Entnazifizierung der Universität Graz am Beispiel Arnold Pöschl, in: zeitgeschichte 44 (2017) 2, 114–128. 90 Otto Tschadek, Stenographische Protokolle des Nationalrates, 18. Sitzung, 24. 5. 1946, 338. Zur „CV-isierung“ siehe Ash, Hochschulen und Wissenschaften im Nationalsozialismus und danach, 220.
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zierungsinstanzen möglichst wohlwollend. Wer nicht gerade darauf bestanden hatte, Gefallen am Nationalsozialismus gefunden zu haben – Otto Maull, Dekan der philosophischen Fakultät während des Nationalsozialismus – und nicht allzu einschlägig auffällig geworden war – wie etwa der Professor für Kirchenrecht Arnold Pöschl, der in seiner Publikationstätigkeit zum rassistisch-antisemitischen Diskurs der „geschlossenen Blutkreisläufe“ im Feld der Biologie wechselte91 –, konnte problemlos durch die Sonderkommissionen und auch die anderen Gremien gereicht werden und an der Universität tätig bleiben oder es spätestens nach 1948 auch als „Illegaler“ wieder zu höchsten akademischen Ehren bringen.92 Einer oft geäußerten Warnung hinsichtlich einer zu rigorosen Entnazifizierung ist allerdings zuzustimmen: Wäre die Entnazifizierung des Personals der Universität Graz konsequent betrieben worden, wäre das universitäre Leben tatsächlich zum Stillstand gekommen. Denn Vertriebene zurück zu bitten und neues Personal einzustellen war nicht im Interesse der AkteurInnen.93
91 Gänser/Korbel, „Stellen Sie das Verfahren ein …“, 120. 92 Unterlagen im Personalakt von Hermann Ibler. OeStA, AdR, BMU, Hauptreihe 1, 5, 27569/ 1938, 40348/1957 und 73704/1960. 93 Zu diesem Schluss kommt gewissermaßen auch der Senat der Universität Graz selbst, siehe Senatsprotokoll, 29. 5. 1946. UAG, Senatsprotokolle.
Marco Jandl
Die universitäre Germanistik in Graz zwischen Neukonstituierung und Kontinuität, Unschulds-Narrativen und Entnazifizierungspolitik
1.
Einleitung
Als nach dem Ende des NS-Regimes in Österreich nahezu alle Germanisten1 von Entnazifizierungsverfahren betroffen waren, bildete sich in dieser Zeit ein Narrativ der Germanistik als „objektiver Wissenschaft“ und der Germanisten als Forschende „fern dem politischen Getriebe“2. Dabei hatten mit Ausnahme des Grazers Hugo Kleinmayr und Edmund Wießner in Wien alle habilitierten und aktiv lehrenden Germanisten in Österreich der NSDAP angehört und waren auf vielfältige Weise in das nationalsozialistische (Wissenschafts-)System verstrickt gewesen.3 Vor diesem Hintergrund entwickelten die Angehörigen der Disziplin im Zuge der universitären Entnazifizierungsmaßnahmen Strategien der Legitimation, um der angestrebten „nach Gesinnung und Haltung einwandfrei österreichische[n], demokratische[n] Beamtenschaft“4 zu entsprechen.
1 Wird die männliche Form gewählt, so sind Frauen nicht miteingeschlossen. Mit den Ausdrücken „Germanisten“ bzw. „GermanistInnen“ wird auf Personen referiert, die innerhalb der Disziplin an einer Universität habilitiert waren. In Österreich gab es in der Zwischenkriegszeit drei habilitierte Germanistinnen, die allesamt in Wien tätig waren: Marianne Thalmann, Christine Touaillon und Elisabeth Weiser. Touaillon starb im Jahr 1928, Weiser wanderte im selben Jahr nach Oslo aus und Thalman ging Anfang der 1930er-Jahre in die USA. Erst 1955 sollte sich mit Blanka Horacek in Österreich wieder eine Germanistin habilitieren. Siehe dazu Elisabeth Grabenweger, Germanistik in Wien. Das Seminar für Deutsche Philologie und seine Privatdozentinnen (1897–1933) (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kunstgeschichte 85), Berlin/Boston 2016, 231. 2 Schreiben Eberhard Kranzmayer an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz, 13. 10. 1945. Österreichisches Staatsarchiv (OeStA), Archiv der Republik (AdR), Unterricht, Wissenschaft und Kunst (UWFuK), Bundesministerium für Unterricht (BMU), Personalakten (PA), Sign. 10, Kranzmayer Eberhard. 3 Uwe Baur/Karin Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems. Band 1: Steiermark, Wien/Köln/Weimar 2008, 179. 4 Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1945, ausgegeben am 30. August 1945, 31. Stück, 134. Gesetz vom 22. August 1945 zur Wiederherstellung österreichischen Beamtentums (Beamten-Überleitungsgesetz), Besetzung der Dienstposten, § 6, Abs. 1.
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Die dominante Nachkriegs-Erzählung der Germanistik, der auch die Flucht in unverfängliche Themen nach 1945 entsprach5, sollte erst 1966 am „Münchner Germanistentag“ brüchig werden, als der Disziplin eine scheinbar „besondere Anfälligkeit“ für die nationalsozialistische Ideologie zugesprochen wurde.6 Gilt diese Tagung als erstes wichtiges Brechen des Schweigens und Vertuschens nach 1945, so verhinderten Pauschalurteile über die völkisch-nationalen Tendenzen der Germanistik lange Zeit einen differenzierteren Blick auf germanistische Institute und ihre Angehörigen als Forschungsgemeinschaft. Arbeiten über die Rolle der Germanisten im Nationalsozialismus konzentrierten sich lange auf „spektakuläre Fälle“7, wie etwa Josef Nadler, Heinz Kindermann, Franz Koch oder Herbert Cysarz.8 Das Grazer Seminar für Deutsche Philologie blieb dabei in historisch-kritischen Betrachtungen der österreichischen Germanistik lange Zeit weitgehend ausgespart.9 Die Grazer Germanistin Beatrix Müller-Kampel stellte 1994 zum 120-jährigen Bestehen der Grazer Germanistik noch fest, dass zu den Jahren 1938 bis 1945 „leider noch immer nicht in wissenschaftlich vertretbarer Weise Stellung genommen werden [kann]“10. Im vorliegenden Artikel werden die Unschuldserzählungen der Nachkriegszeit und die Selbstdarstellungen der Angehörigen des Grazer Seminars für deutsche Philologie kritisch nachgezeichnet und dem vorhandenen Quellen5 Vgl. Jost Hermand, Geschichte der Germanistik, Hamburg 1994, 114. 6 Holger Dainat, Germanistische Literaturwissenschaft, in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 1933–1945 (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 53), München 2002, 63–86, 63. 7 Irene Ranzmaier, Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus. Karrieren, Konflikte und die Wissenschaft (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 10), Wien/Köln/Weimar 2005, 10. 8 Siehe dazu beispielsweise Hans Helmut Hiebel, Der „Anschluß der Ostmark an das Reich“. Zur pränazistischen Germanistik in Österreich, in: Österreich in Geschichte und Literatur 33 (1989), 374–393. 9 An dieser Stelle sei auf drei Texte verwiesen, die sich kritisch mit der Grazer Germanistik der 1930er- und 1940er-Jahre auseinandersetzen: Johann Strutz, Die österreichische Hochschulgermanistik II: Neugermanistik und Deutsche Volkskunde an der Universität Graz in den dreißiger Jahren, in: Klaus Amann/Albert Berger (Hg.), Österreichische Literatur der dreißiger Jahre. Ideologische Verhältnisse – Institutionelle Voraussetzungen – Fallstudien, Wien/Köln/Weimar 1985, 109–129; Sebastian Meissl, Germanistik in Österreich. Zu ihrer Geschichte und Politik 1918–1938, in: Franz Kadrnoska (Hg.), Aufbruch und Untergang. Österreichische Kultur zwischen 1918 und 1938, Wien/München/Zürich 1981, 475–496; Uwe Baur, „Eine Mehrheit an Methoden muß zur Verfügung stehen, …“ „Innere Emigration“ eines Germanisten: Hugo (v.) Kleinmayr, in: Johann Holzner/Karl Müller (Hg.), Literatur der „Inneren Emigration“ aus Österreich (Zwischentöne 6), Wien 1998, 357–375. 10 Beatrix Müller-Kampel, Vom Seminar für Deutsche Philologie Universität Graz zum Institut für Germanistik Karl-Franzens-Universität Graz. Forschung am Institut für Germanistik. Lebensläufe und Werkverzeichnisse. Aktueller Personalstand und laufende Projekte. Katalog zur Ausstellung an der Universitätsbibliothek Graz, Graz 1994, 8.
Marco Jandl, Die universitäre Germanistik in Graz
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material gegenübergestellt. Es werden weiters institutionelle, personelle sowie inhaltliche Bruchlinien und Kontinuitäten skizziert, um so die Bedeutung der politischen Zäsuren für das Institut zu beleuchten. Dabei wird gleichzeitig von der Vorstellung der „besonderen Anfälligkeit“ der Disziplin abgerückt und das Seminar vielmehr als Institution betrachtet, in der sowohl in der NS-Zeit als auch in der Zeit der Entnazifizierung vielfältige und dabei oft ambivalente Handlungsweisen und Verhaltensmuster vertreten waren. Das Institut war nie ein abgeschlossener Raum, sondern Teil nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik und später eine zu entnazifizierende Institution innerhalb eines reaktivierten, demokratischen österreichischen Universitätswesens. Die Institutsangehörigen waren dabei stets – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – integriert in wissenschafts- und kulturpolitische Netzwerke, die sowohl nach 1938 als auch nach 1945 schlagend wurden.
2.
Nachkriegszeit und Entnazifizierung
Bereits unmittelbar nach Kriegsende wurde übergangsmäßig und trotz Unklarheit über den Aufenthalt vieler Universitätsangehöriger mit einem zweimonatigen Semester von Juni bis Juli 1945 die Lehrtätigkeit an der Universität Graz wieder aufgenommen.11 Der Germanist und glühende Nationalsozialist Karl Polheim hatte nicht wie viele andere seiner Gesinnungsgenossen die Flucht ergriffen12, sondern lehrte zunächst am Seminar für Deutsche Philologie weiter. In einer „Liste der politisch belasteten Lehrkräfte der phil. Fakultät“ wurde Polheim, der fast über die gesamte NS-Zeit hinweg als Rektor der Universität amtiert hatte, folgendermaßen charakterisiert: „Prof. Dr. Karl Polheim: Mitglied des NSLB seit 1. 1. 1938, Parteianwärter. Bekannter Nazi. Als Rektor in der NS Zeit eifriger Mitarbeiter Uiberreithers in Hochschulfragen. Liest derzeit noch!“13 Polheim war schon in der Zwischenkriegszeit bestens im großdeutschen Lager vernetzt und, wie er selbst gegenüber dem NS-Regime betont hatte, als langjähriger Funktionär des Steirischen Sängerbundes in Vorarbeiten für den „An-
11 Vgl. Alois Kernbauer, Die Hochschulen in Graz in der NS-Zeit, in: Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler (Hg.), NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, Wien/Köln/Weimar 2012, 219–239, 235. 12 Vgl. Hans-Peter Weingand, Die Technische Hochschule Graz im Dritten Reich. Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus an einer Institution, zweite, durchgesehene Auflage, Graz 1995 [1988], 169. 13 Abschrift der Liste der politisch belasteten Lehrkräfte der Philosophischen Fakultät Graz, o. D. Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Landesregierung (L. Reg) 366, P11–P40, 4827/ 1946: P29 Polheim Karl. Sigfried Uiberreither war in der NS-Zeit Gauleiter und Reichstatthalter der Steiermark gewesen.
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schluss“ aktiv involviert gewesen.14 Dies wurde auch mit der Aufnahme in die NSDAP im Zuge der „Erfassungsaktion“15 sowie mit der Verleihung der „Medaille zur Erinnerung an den 13. März 1938“, der sogenannten „Ostmark-Medaille“, honoriert16. Für den Posten als Rektor der Universität Graz, der „alten Grenzfeste deutschen Geistes“17, wie er 1940 schrieb, war er so bestens geeignet. Polheim arbeitete dabei kulturpolitisch an einer Symbiose des Nationalsozialismus mit der steirischen Volkskultur als „einem Bollwerk“ gegen „die überstaatliche Zivilisation“18. In der Beschwörung der Bevölkerung als Bewahrer von Volkskultur und gleichzeitig als Verteidiger der „Reichsgrenzen“ verband sich in dieser Grenzlandideologie der bei österreichischen AkademikerInnen so weit verbreitete Deutschnationalismus und Antisemitismus der 1930er-Jahre mit dem für das regionale deutschnationale Milieu typischen Antislawismus. Waren dies gängige Positionen von Grazer Universitätsangehörigen,19 so boten sich in der Germanistik besondere Verknüpfungsmöglichkeiten. Bei Polheim drückte sich das auch 1956 noch aus, wenn er in einer Würdigung der Peter RoseggerPreisträgerInnen den Schriftsteller Julius Franz Schütz als „volkstreuen Grenzer“ bezeichnete und dies mit der „Schicksalsaufgabe“ der Steiermark als Grenzland in Verbindung brachte.20 Die Literatur der Wiener Moderne wurde von ihm als „Zeitströmung“ gedeutet, der es gelungen wäre, „die deutsche Dichtung nachhaltig zu verseuchen“.21 In seiner wissenschaftlichen Arbeit selbst war Polheim jedoch der streng positivistischen Tradition der Grazer Germanistik verpflichtet, die kaum Platz für nationalistische Interpretationen zuließ. 14 Personenstandesblatt Karl Polheim, o. D. Universitätsarchiv Graz (UAG), Personalakt (PA) Polheim Karl. 15 In der NSDAP-Ortsgruppen Kartei wird die Beantragung Polheims zur Aufnahme mit „20. 5. 1938“ angegeben. Der Aufnahmezeitpunkt wurde im Zuge der „Erfassungsaktion“ mit dem formalisierten Eintrittsdatum „1. 5. 1938“ angegeben. Polheim bekam die Mitgliedsnummer 6.289.257. Siehe dazu Zeitgeschichte Wien Fachbereichsbibliothek, Sammlung NSDAPOrtsgruppen Kartei (Berlin Document Center), Karteikarte Polheim Karl (Mikrofilm). 16 Politischer Leumund Karl Polheim, Polizeidirektion Graz Abt. I/Staatspol.-Büro, 1533/11945, 1. 10. 1946. StLA, L. Reg 366, P11–P40, 4872/1946: P29 Polheim Karl. 17 Karl Polheim, Vorwort, in: Universität Graz. Wegweiser der deutschen Studentenschaft an den steirischen Hochschulen und Amtliches Vorlesungsverzeichnis. 1940. 1. Trimester, III. 18 Karl Polheim, Volk und Stamm. Hans Kloepfer und Suitbert Lobisser, die Mozartpreisträger 1939, in: Josef Papesch (Hg.), Das Joanneum. Beiträge zur Naturkunde, Geschichte, Kunst und Wirtschaft des Ostalpenraumes. Band 1: Ostalpenraum und das Reich, Graz 1940, 40–46, 42. 19 Vgl. Kernbauer, Hochschulen, 222; Dieter A. Binder, Der Weg der Studentenschaft in den Nationalsozialismus, in: Christian Brünner/Helmut Konrad (Hg.), Die Universität und 1938, Wien/Köln 1989, 90ff. 20 Karl Polheim/Karl Konrad Polheim, Der Peter Rosegger-Preis des Landes Steiermark und seine Träger, in: Die Steiermark. Land, Leute, Leistung, hg. von der Steiermärkischen Landesregierung, Graz 1956, 254–287, 287. Im Text wird hier auf das Werk Arthur Schnitzlers Bezug genommen. 21 Ebd., 276.
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Ende Juli 1945 wurde Polheim „mit sofortiger Wirkung“ seines Postens als Universitätsprofessor enthoben22 und am 2. Juli 1945 erfolgte zudem die Internierung im Anhaltelager Wolfsberg, wo er die nächsten zehn Monate festgehalten werden sollte23. Da Polheim „keine Gewähr dafür [bot], für ein unabhängiges Österreich ein[zu]treten“, wurde der Germanist schließlich mit Wirksamkeit vom 20. November 1945 per Erlass der Landeshauptmannschaft Steiermark in den Ruhestand versetzt. Die Entlassung des damals bereits 62-jährigen Polheims wurde damit nachträglich in eine Pensionierung umgewandelt.24 Der damalige Dekan der philosophischen Fakultät, der Altgermanist und Mundartforscher Leo Jutz, gegen den selbst ein Entnazifizierungsverfahren lief, setzte sich vehement für die Freilassung Polheims ein und begründete dies gegenüber der Landeshauptmannschaft damit, dass ihm – als langjährigem Kollegen und Mitvorstand am Seminar für Deutsche Philologie – „kein einziger Fall bekannt geworden [sei], dass Polheim in der Behandlung oder Beurteilung seiner Hörer im Hinblick auf deren politischer Anschauung auch nur den geringsten Unterschied gemacht hätte“25. Weiters hätte Polheim auch seine Funktion als Rektor „weder zur Bevorzugung von Nationalsozialisten noch zur Benachteiligung von anders Denkenden missbraucht“26. Dabei hätten die beiden als Seminarvorstände sogar der jüdischen Studierenden Gisela Kaufmann noch kurz nach dem „Anschluss“ einen positiven Abschluss ihres Studiums ermöglicht.27 Fast zeitgleich meldete sich auch die universitätsinterne „BrandensteinKommission“ bezüglich Polheim zu Wort und unterstützte den Antrag des Dekans Jutz zur Enthaftung und gab an, dass „Polheim in erster Linie die Interessen
22 Schreiben Staatssekretär Ernst Fischer an Karl Polheim, 26. 6. 1945. StLA, L. Reg 366, P11–P40, 4827/1946: P29 Polheim Karl. 23 Schreiben Landesamtsdirektion an Karl Polheim, Landesamtsdirektion (LAD) 366 U-P 29/546, 19. 11. 1946. StLA, L. Reg 366, P11–P40, 4827/1946: P29 Polheim Karl. 24 Schreiben der Landeshauptmannschaft Steiermark an Karl Polheim zur Versetzung in den Ruhestand, 542/1945/46, 22. 11. 1945. UAG, PA Polheim Karl. Die Entscheidung über die Ruhebezüge stand zu diesem Zeitpunkt noch aus. 25 Antrag von Leo Jutz auf Enthaftung Karl Polheims, 787/1945/46, 7. 2. 1946. StLA, L. Reg 366, P11–P40, 4827/1946: P29 Polheim Karl. 26 Ebd. 27 Die am 25. Juni 1938 vorgelegte Dissertation der blinden Studentin Gisela Kaufmann wurde von Polheim und Jutz approbiert und am 4. Juli 1938 bestand sie das Rigorosum. Die Verleihung der Doktorwürde erfolgte zwei Tage später. Siehe dazu Doktoratsakt Nr. 2299 (Gisela Kaufmann), 863/1937/38, 27. 6. 1938. UAG, Doktoratsakten sowie Rigorosum Nr. 2299 (Gisela Kaufmann), 6. 7. 1938. UAG, Rigorosen. Zum weiteren Schicksal von Kaufmann, welche am 3. Oktober 1941 im „Israelitischen Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte verstarb, siehe Barbara Hoffmann, Zwischen Integration, Kooperation und Vernichtung. Blinde Menschen in der „Ostmark“ 1938–1945, Innsbruck/Wien/Bozen 2012, 315f.
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der Universität und der Österreicher im Auge gehabt“28 und sich überdies „mit bemerkenswertem Mut gegen politische Berufungen gestellt“29 hätte. Die Aussagen sind insofern zu relativieren, als die Gewährung des Studienabschlusses für jüdische Studierende bis zum Ende des Studienjahres 1937/38 durchaus der nationalsozialistischen Universitätspolitik nach dem „Anschluss“ entsprach und daher kaum als oppositioneller Akt angesehen werden kann.30 Wird die Personalpolitik in der NS-Zeit am germanistischen Seminar betrachtet, so ist diese ebenso wenig mit diesen Darstellungen in Einklang zu bringen. Weder zur Entfernung des Literaturwissenschaftlers Albert Wesselski31 im April 1938 im Zuge der systematischen Säuberungen des Lehrkörpers von politischen GegnerInnen, „fremdrassigen“ Lehrenden und „charakterlich Ungeeigneten“32 noch zur Maßregelung des Kollegen Hugo Kleinmayr sind Einwände der beiden Institutsvorstände Polheim und Jutz bekannt. Zu Kleinmayr finden sich überdies Schriftstücke, in denen dessen politisch motivierte Benachteiligungen durchaus gebilligt wurden.33 Gleichzeitig war 1943 mit Josef Papesch auf nachweisliches Bestreben der beiden Seminarvorstände hin eine der einflussreichsten Größen der NS-Kulturpolitik in der Steiermark in Form einer Honorarprofessur für neue deutsche Literaturgeschichte an die Universität geholt worden.34 Ähnlich wie Polheim arbeitete Papesch an einer Synthese der nationalsozialistischen Ideologie mit der
28 Schreiben Reinigungsausschuss der Universität Graz an den Landesberatungsausschuss bei der Landeshauptmannschaft in Graz, 25. 2. 1946. StLA, L. Reg 366, P11–P40, 4827/1946, P29 Polheim Karl. 29 Ebd. 30 Vgl. Brigitte Lichtenberger-Fenz, Österreichs Universitäten unter dem nationalsozialistischen Regime, in: Verein Kritische Sozialwissenschaft und Politische Bildung (Hg.), Grenzfeste Deutscher Wissenschaft. Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz, Graz 1985, 5–19, 7. 31 Die Lehrbefugnis des Privatdozenten Albert Wesselski hatte mit Erlass vom 23. 5. 1938 mit sofortiger Wirkung zu ruhen. Uwe Baur schreibt, dass dies vermutlich aus rassistischen Gründen geschah. Wesselski hatte bis dahin seinen Wohnsitz noch in Prag, wo er im Februar nächsten Jahres verstarb. Siehe dazu Abschrift Personalmaßnahmen, Österreichisches Unterrichtsministerium, 12680-I/1. An das Rektorat der Universität Graz, Phil. Fak., 597/1937/ 38, 26. 4. 1938. UAG, Phil. Fak; Baur, Methoden, 361. 32 Lichtenberger-Fenz, Universitäten, 5. 33 So schrieb Polheim in seiner damaligen Funktion als Dekan zur Streichung des für Kleinmayr vorgesehenen Extraordinariats für „Deutsche Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte“, dass „ein Unterrichtsbedürfnis für die Errichtung einer Lehrkanzel für deutsche Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte nicht festgestellt werden kann“. Siehe dazu das Schreiben des kommissarischen Rektors der Universität Graz Johann Reichelt zum Erlass vom 12. Mai 1938 des Österreichischen Unterrichtsministeriums (9497-II/6), 2295/1938, 1. 6. 1938. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kleinmayr Hugo. 34 Anfrage an Dekan Franz Angel bezüglich einer Honorarprofessur für Josef Papesch, 1472/ 1940, 7. 3. 1940. UAG, PA Papesch Josef.
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steirischen Volkskultur.35 Papesch wurde als „Illegalem“ und ehemals hohem NS-Funktionär seine Honorarprofessur am Seminar für Deutsche Philologie im Oktober 1945 aberkannt.36 Nach dem Krieg wurde er ebenfalls wie Polheim in Wolfsberg interniert, wo ihn auch das Schreiben zur Aberkennung der Professur erreichte.37 Bei den Nationalsozialisten Polheim und Papesch war es aufgrund ihrer jeweils exponierten Stellung im nationalsozialistischen Machtgefüge schwer möglich, eine Mittäterschaft zu negieren. Bei Papesch kam hinzu, dass dieser gegenüber dem Staat Österreich keinen Anspruch auf Übernahme seiner in der NS-Zeit verliehenen Honorarprofessur hatte, da dieser sich nicht als „Erbe“ des „Deutschen Reiches“ sah.38 In den universitären Entnazifizierungsverfahren galten korrespondierend mit dem „Verbotsgesetz“ bis 1947 vor allem nationalsozialistische Aktivitäten in der Zeit der „Illegalität“ als belastend.39 Als allgemein registrierungspflichtig galten Personen, die „zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 27. April 1945 der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände angehört hatten (SS, SA, NSKK, NSFK)“40. Auch Anwartschaften bei NSDAP und SS galten als Gründe für die Registrierungspflicht.41 Im 1947 erlassenen „Nationalsozialistengesetz“ wurde nicht mehr zwischen „Illegalen“ und Personen, die sich erst nach dem „Anschluss“ nationalsozialistisch betätigten, unterschieden, sondern die Funktion innerhalb des NS-Systems war nun entscheidend. Als „belastet“ galt, wer in nationalsozialistischen Organisationen Führungs- bzw. Funktionärsposten bekleidet hatte oder bei SS, Gestapo oder Sicherheitsdienst (SD) gewesen war. Auch gewisse Partei-Auszeichnungen konnten zu einer solchen Einstufung führen. „Belastete“ im öffentlichen
35 Vgl. Baur/Gradwohl-Schlacher, Literatur, 276f. 36 Schreiben Landeshauptmannschaft Steiermark an Josef Papesch, 541/1945/46. UAG, PA Papesch Josef. 37 Antwortschreiben Josef Papesch an die Landeshauptmannschaft für Steiermark, 18. 12. 1945. StLA, L. Reg 366, P11–P40, 4827/1946, P19 Papesch Josef. In diesem Schreiben protestierte Papesch erfolglos gegen die Aberkennung der Honorarprofessur. 38 Demnach sollten Personen, „die am 13. 3. 1938 die österreichische Bundesbürgerschaft besessen haben, aber erst nach diesem Tage in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis bei einer öffentlichen Dienststelle eingetreten sind“, nur „in besonderen Fällen“ in die neuen Personalstände übernommen werden. Siehe Beamten-Überleitungsgesetz, Besetzung der Dienstposten, § 6, Abs. 4. 39 Siehe dazu Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, Jahrgang 1945, ausgegeben am 6. Juni 1945, 4. Stück, 13. Verfassungsgesetz vom 8. Mai 1945 über das Verbot der NSDAP (Verbotsgesetz), Art. III, § 10, § 14. 40 Ebd., Art. II, § 4. 41 Ebd.
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Dienst waren demnach zu entlassen und konnten auch nicht neu angestellt werden.42 Die wissenschaftliche Arbeit der Lehrenden spielte in den politischen Bewertungen durch die Entnazifizierungskommissionen dagegen kaum eine Rolle. In den Selbstdarstellungen der Lehrenden im Zuge der Verfahren waren diese aber ein beliebtes Argument zur Stilisierung der eigenen Person als frei von politischen Einflüssen und dem Anspruch der Objektivität verpflichtet. So erhob etwa der Dialektforscher Eberhard Kranzmayer mit einer solchen Argumentationslinie, trotz seiner tiefen Verstrickungen in die anti-slowenische „Eindeutschungspolitik“ der NationalsozialistInnen, gegen seine Dienstenthebung Einspruch. Kranzmayer war Leiter des Klagenfurter „Instituts für Kärntner Landesforschung“ gewesen, welches im Oktober 1942 als Expositur des Grazer Seminars für Deutsche Philologie gegründet worden war.43 Das Institut galt im Kontext der Annexion Oberkrains als „kriegsentscheidende Einrichtung“ und dessen Angehörige sollten durch ihre wissenschaftliche Tätigkeit aktiv zur „Eindeutschung“ des Gebiets beitragen.44 Kranzmayer legitimierte dabei die nationalsozialistische Expansionspolitik mit seinen sprachwissenschaftlichen Forschungen und vertrat die These eines „deutschen Charakters“ der dort ansässigen slowenischen Bevölkerung. Als Beleg dafür sah er die slowenische „Volkssprache“, welche als „slowenisch-deutsche Mischsprache“ der slowenischen „Schriftsprache“ gegenüberstehe.45 Am Institut in Klagenfurt wurde weitgehend unabhängig von Graz gearbeitet.46 Kranzmayer erhielt aber Lehraufträge für das Seminar für Deutsche Philologie in Graz. Mit Wirkung vom 1. März 1943 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt, um das „Fach Philologie mit besonderer Berücksichtigung der Mundartforschung“ zu vertreten.47 42 Siehe dazu Nationalsozialistengesetz, I. Hauptstück, 3. Verbotsgesetznovelle, Abschnitt I, Novellierung § 17 sowie Novellierung § 18, lit. b). 43 Vgl. Strutz, Hochschulgermanistik II, 121. 44 Vgl. Martin Fritzl, „… für Volk und Reich und deutsche Kultur.“ Die „Kärntner Wissenschaft“ im Dienste des Nationalsozialismus, Klagenfurt 1992, 132ff. 45 Vgl. ebd., 157ff. Fritzl schreibt weiters, dass sich Kranzmayer in seiner Argumentation durchwegs als Wissenschaftler sah. So habe er die ähnliche Aufgabe, die Bevölkerung Friauls „deutsch“ zu machen, nur mit Widerwillen erledigt und hier weit zurückhaltender den Einfluss deutscher Kultur und Sprache in Friaul betont. Siehe dazu Fritzl, Kärntner Wissenschaft, 160. 46 Vgl. ebd., 132. 47 Abschrift Schreiben Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) an Eberhard Kranzmayer, 22. 6. 1943. UAG, PA Kranzmayer Eberhard. Als Extraordinarius für deutsche Sprache und Literatur hielt er in Graz zwei vierzehntägig stattfindende Lehrveranstaltungen zur „Geschichte der ostoberdeutschen Mundart vom Althochdeutschen bis zur Gegenwart“ mit Fokus auf die Lautlehre. Siehe dazu die Vorlesungsverzeichnisse für die Universität Graz Sommersemester 1944 und Wintersemester 1944/45 im UAG.
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Mit Kranzmayer und Papesch waren die anti-slawischen Tendenzen am Seminar weiter verschärft worden. Obwohl er seine wissenschaftliche Tätigkeit in den Dienst des NS-Systems gestellt hatte, beschrieb der Sprachforscher in einer Stellungnahme gegen seine Dienstenthebung seine Tätigkeit am Institut für Kärntner Landesforschung als wissenschaftlich objektiv, wobei er den politischen Gehalt seiner Forschungen nicht ganz negieren konnte und auf die Kontinuität der Erforschung der „Kärntner Verhältnisse“ verwies: „Ich habe in der Partei keinerlei Stelle bekleidet und meine Position als Direktor des Institutes für Kärntner Landesforschung von politischen Einflüssen freizuhalten gewusst. Schon aus der Natur meines Fachgebietes ergibt sich, daß meine Tätigkeit sich fern von dem politischen Getriebe abgespielt hat. Meine Arbeiten legen Zeugenschaft dafür ab, daß ich meinen objektiven Blick stets gewahrt habe und aufgebaut habe auf Grundlagen unabhängiger und objektiver Forschung. Soweit ich im Zusammenhang mit der Erklärung von Kärntner Verhältnissen auf Grund der Sprachforschung historische Verhältnisse gestreift habe, bewegen sie sich auf der Linie, welche die Kärntner Landesregierung im Rahmen der Wahrnehmung ihres Landes seit 1918 vertritt.“48
Zur Einstufung als „Illegaler“ entgegnete Kranzmayer, dass eine NSDAP-Mitgliedschaft Voraussetzung für seine Anstellung als Dozent an der Universität München gewesen sei, die mit 1. Jänner 1938 begonnen hatte. Dabei sei er, wie er schrieb, zunächst nicht aufgenommen worden und hätte fortan unrichtigerweise den 1. Jänner 1937 als Eintrittsdatum angegeben, um seine Existenz als zweifacher Vater zu sichern. Erst 1940 wäre er in die Partei aufgenommen worden.49 Über einen Antrag des universitären Säuberungsausschusses wurde die Dienstenthebung von der Landeshauptmannschaft Steiermark mit 30. Jänner 1946 tatsächlich wieder aufgehoben. Am 4. Oktober 1946 erfolgte jedoch die neuerliche Entlassung durch die Education Branch.50 Durch das 1947 erlassene „Nationalsozialistengesetz“ wurde die Frage der „Illegalität“ Kranzmayers gewissermaßen nachrangig, was vom Grazer Kollegium als Chance gesehen wurde, Kranzmayer wieder an das Seminar zurückzuholen. So wurde im Mai 1947 eine universitäre Kommission für ein Ansuchen zur Wiederanstellung Kranzmayers, bestehend aus dem Slawisten Felix Schmid, dem Altphilologen Wilhelm Brandenstein sowie den beiden Seminarvorständen Leo Jutz und Hugo Klein-
48 Schreiben Eberhard Kranzmayer an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz, 13. 10. 1945. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kranzmayer Eberhard. 49 Schreiben Eberhard Kranzmayer an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz, 13. 10. 1945. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kranzmayer Eberhard. 50 Berichterstattung der Landesamtsdirektion an das BMU zur Entlassung Eberhard Kranzmayers, LAD 366 U–K 68/1-46, 8. 10. 1946. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kranzmayer Eberhard.
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mayr, zusammengestellt.51 In einer Stellungnahme des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät wurde Kranzmayers wissenschaftliche Tätigkeit ausführlich beschrieben und gewürdigt, wobei sein 1944 publiziertes Werk „Die deutschen Lehnwörter in der slowenischen Volkssprache“ eine „eingehende kulturgeschichtliche Bewertung des deutschen Lehnwortgutes der slowenischen Volkssprache vor allem Kärntens“52 darstelle. Das Kollegium bezog sich damit ausgerechnet auf jenes Werk, mit dem Kranzmayer die Aufgabe erfüllt hatte, wissenschaftlich die nationalsozialistische Expansionspolitik zu legitimieren.53 Nach langwierigen Verhandlungen der Grazer Philosophischen Fakultät mit dem Bundesministerium für Unterricht über die Wiederanstellung Kranzmayers wurde dieser schließlich 1949 nach Wien berufen, wo er seine wissenschaftliche Karriere bis zur ordentlichen Professur für „Deutsche Sprache und Ältere deutsche Literatur“ fortsetzen konnte.54 Irene Ranzmaier kommt in ihrer profunden Aufarbeitung der Germanistik an der Universität Wien zur Zeit des Nationalsozialismus unter anderem zum Schluss, dass in der Nachkriegszeit unter den Wiener Germanisten kaum Schuldbewusstsein oder (Mit-)Verantwortungsgefühl entstand, vor allem da sich die Jahre 1938 und 1945 für viele kaum als Brüche in der wissenschaftlichen Arbeit erwiesen hatten.55 Dies lässt sich auch für das Grazer Seminar festhalten. Das weitgehende Außerachtlassen der wissenschaftlichen Forschungen der Lehrenden durch die Entnazifizierungsinstanzen und die gleichzeitige Selbststilisierung der Lehrenden als Forschende „fern dem politischen Getriebe“56 verhinderten ein Bewusstsein für die Verstrickungen von universitärer Wissenschaft mit dem NS-System. Die verschiedenen Entnazifizierungskommissionen, allen voran die universitätsinterne „Brandenstein-Kommission“, standen diesen Unschuldserzählungen, die bis zur Stilisierung der eigenen Person in Opposition zum NS-System reichten, teilweise wohlwollend gegenüber und reproduzierten diese Darstellungen an anderer Stelle unkritisch. Dies lässt sich auch anhand des Entnazifi51 Beschluss des Professorenkollegiums in der Angelegenheit Eberhard Kranzmayer, 1076/1946/ 47, 31. 5. 1947. UAG, PA Kranzmayer Eberhard. 52 Stellungnahme des Professorenkollegiums der philosophischen Fakultät der Universität Graz, 1076/1946/47, 6. 12. 1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kranzmayer Eberhard. 53 Martin Fritzl schreibt zu besagtem Werk: „Damit hat Kranzmayer die Brücke von Wissenschaft zur Politik geschlagen. Gemäß dem damaligen Großmachtdenken rechtfertigt die Existenz einer deutschen Kulturgemeinschaft (= deutscher Kulturboden) die politische Herrschaft des deutschen Reiches in diesem Gebiet.“ Fritzl, Kärntner Wissenschaft, 159. 54 Vgl. RED., Kranzmayer, Eberhard, in: Christoph König (Hg.), Internationales Germanistenlexikon 1800–1950. Band 2: H–Q, Berlin/New York 2003, 1005–1008. 55 Ranzmaier, Wien, 183. 56 Schreiben Eberhard Kranzmayer an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz, 13. 10. 1945. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kranzmayer Eberhard.
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zierungsverfahrens gegen den zweiten Seminarvorstand Leo Jutz veranschaulichen. Der Altgermanist nahm nach Kriegsende wie sein Kollege Polheim die Lehrtätigkeit im zweimonatigen Übergangssemester wieder auf und wurde am 26. Juni 1945 überdies Dekan der Philosophischen Fakultät. Aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft war Jutz registrierungspflichtig, wurde jedoch eigenen Angaben zufolge von der Landeshauptmannschaft Steiermark entregistriert.57 Gegenüber der Sonderkommission I. Instanz gab Jutz an, dass seine Parteimitgliedschaft – wobei ihm überdies weder Mitgliedsnummer noch Aufnahmedatum bekannt seien – daher rühre, dass er Nachforschungen der Gestapo „recht bedrohlicher Art“ aufgrund einer vermeintlichen Verwandtschaft mit Kurt Schuschnigg unterbinden wollte, was von der Kommission unkritisch übernommen wurde.58 Im Bericht der Kommission wurde Jutz in weiterer Folge als Wissenschaftler in politischer Opposition stilisiert: „Prof. Jutz hat aus seiner Gegnerschaft zur NSDAP in Kollegenkreisen niemals ein Hehl gemacht, und auch Hörern gegenüber in erzieherischer Abwehr an den Methoden des Nationalsozialismus in einer Form Kritik geübt, die ihn leicht mit der Gestapo in Konflikt hätte bringen können. Prof. Jutz hat bei der NSDAP keine wie immer geartete Funktion bekleidet. Er ist ein Mann von unzweifelhafter demokratischer Grundeinstellung, dessen Ideal seit jeher unzweifelhaft die objektive Wissenschaft ist.“59
In einer Stellungnahme der universitätsinternen Kommission zur Belassung von Leo Jutz wurde zum Teil wortident formuliert, dass seine „Grundeinstellung […] demokratisch [sei], sein Ideal war seit jeher die objektive Wissenschaft“60. Unter dem Druck der Gestapo-Nachforschungen hätte er sich zur NSDAP gemeldet, wobei er im Laufe der NS-Zeit seine Abneigung gegenüber dem Regime „immer deutlicher zum Ausdruck gebracht“ hätte und dabei „mehrmals Gefahr lief, von der Gestapo geholt zu werden“61. Entgegen diesen Darstellungen trifft auf das Verhalten von Jutz in der NS-Zeit, um einen Ausdruck Irene Ranzmaiers zu verwenden, vielmehr eine „Strategie der völligen Anpassung“62 zu. Der Germanist trat nach dem „Anschluss“ umgehend der NSDAP, dem NSLB und dem NSDDB bei, ohne dabei Funktionen zu be-
57 Personalblatt Leo Jutz, o. D. UAG, PA Jutz Leo. 58 Beurteilung nach § 21 des Verbotsgesetzes – Leo Jutz, 2715/1945/46, 18. 6. 1946. UAG, PA Jutz Leo. 59 Ebd. 60 Bericht der Reinigungskommission über Leo Jutz, o. D. StLA, L. Reg 366, J–K2, 4818/1946: J8 Jutz Leo. 61 Ebd. 62 Ranzmaier, Wien, 42. Die Historikerin bezieht sich ihrerseits dabei auf den Germanisten Hans Rupprich.
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kleiden.63 Die Arbeit am Großprojekt eines vorarlbergischen Wörterbuches konnte der Mundartforscher seit 1927 über vier politische Systeme hinweg ungestört fortführen und auch sonst machte sich seine Strategie bezahlt. 1940 wurde Jutz durch das Reichsministerium zum ordentlichen Professor ernannt.64 Ein Jahr später wurde er korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien.65 Nach einer vorübergehend bedingten Weiterverwendung wurde Jutz mit tatkräftiger Unterstützung des Professorenkollegiums der Philosophischen Fakultät66 im November 1948 durch das „Figl-Komitee“ vollends rehabilitiert.67 Auf andere Art erfuhr der in der NS-Zeit gemaßregelte Literaturwissenschaftler und „Innere Emigrant“68 Hugo Kleinmayr eine Rehabilitierung, wobei ihn sein Institutskollege Leo Jutz als Dekan auf ambivalente Weise unterstützte. Jutz bemühte sich um eine rasche Besetzung der durch den Wegfall Polheims vakant gewordenen Lehrkanzel für „Deutsche Sprache und Literatur“ durch Kleinmayr, die dieser bis auf Weiteres nur als Supplent vertrat. Jutz, der anscheinend wenig von der geistesgeschichtlichen Ausrichtung seines Kollegen hielt, schrieb in einem Ansuchen an das BMU zur Wiederbesetzung der Lehrkanzel, dass Kleinmayr „nicht mit jener historisch eingestellten Literaturbetrachtung denkt, die insbesondere im Interesse der Ausbildung der Lehramtskandidaten als wünschenswert bezeichnet werden muss“, das Kollegium dennoch der Meinung sei, dass „seine Forschungsrichtung den literaturhistorischen Unterricht fruchtbar und anregend beeinflussen kann“69. Kleinmayr wurde so für die Lehrkanzel „primo et unico loco“ vorgeschlagen, was auch im Kontext des Mangels an unbelasteten Germanisten nach Kriegsende zu sehen ist. Jutz konnte es sich jedoch nicht verkneifen, im Nachsatz hinzufügen, dass der Germanist Hans Rupprich als ehemaliges NSDAP-Mitglied mit „Rücksicht auf die ergan63 Fragebogen Leo Jutz, Formblatt 2, unterzeichnet am 17. 9. 1939. UAG, PA Jutz Leo. 64 Schreiben zur Ernennung von Leo Jutz zum ordentlichen Professor, 911/1940/41, 28. 12. 1940. UAG, PA Jutz Leo. 65 In memoriam Univ.-Prof. Dr. Leo Jutz, Südost-Tagespost, 11. 12. 1962, 8. 66 Siehe dazu die Stellungnahme des Kollegiums zur Übernahme von Leo Jutz in den neuen Personalstand, 38445/III-8/48, 28. 11. 1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Jutz Leo. Wenig später folgte auch eine unterstützende Stellungnahme des Dekans Heinrich Felix Schmid an den Bundespräsidenten um Nachsicht der Sühnefolgen gemäß § 27 des Verbotsgesetzes 1947. Siehe Schreiben Dekan Schmid, 177/1947/48, 17. 10. 1947. UAG, PA Jutz Leo. 67 Schreiben des BMU an das Rektorat der Universität Graz zur Weiterverwendung minderbelasteter Professoren, 90180-III/7/1948, 27. 11. 1948. StLA, L. Reg 366, J–K2, 4818/1946: J8 Jutz Leo. 68 Baur, Methoden, 357–375. 69 Schreiben von Dekan Leo Jutz an das BMU zur Wiederbesetzung der Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur, Phil. Fak., 1192/1945/46, 21. 5. 1946. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kleinmayr Hugo.
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genen Verordnungen“ nicht in den Besetzungsvorschlag aufgenommen wurde, obwohl dieser laut Jutz hinsichtlich seiner literaturwissenschaftlichen Qualifikationen den Anspruch hätte, „an hervorragender, wenn nicht an erster Stelle genannt zu werden“70. Auch die beiden anderen Kandidaten, die in den Beratungen der eingerichteten Kommission genannt wurden, Herbert Cysarz und Moriz Enzinger71, waren als ehemalige NSDAP-Mitglieder belastet und in unterschiedlichem Ausmaß in die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik verstrickt gewesen. Doch Kleinmayr pochte als in der NS-Zeit nachweislich gemaßregelter Lehrender im „Sinne der Wiedergutmachung“ auf die ordentliche Professur und verwies dabei auf die Schädigung seiner beruflichen Existenz „durch die [im] März 1938 sofort erfolgte Aussonderung des für mich im Dienstpostenplan für 1938 bereits eingesetzten Extraordinariats, durch Entzug zweier hon[orierter] Lehraufträge und durch Abdrängung in den Ruhestand als Stud.-Rat (1943)“72. Eine solche Wiedergutmachung war auch gesetzlich vorgesehen.73 Nachweislich in der NS-Zeit geschädigte BeamtInnen sollten rehabilitiert und für die neuen Dienstposten bevorzugt herangezogen werden mit der Bedingung, dass diese loyal zur Republik Österreich standen.74 Kleinmayr wurde schließlich mit Jänner 1947 zum Ordinarius berufen und Ende desselben Jahres endgültig in den Personalstand der Universität Graz übernommen.75 Durch die Besetzung der nach Polheim vakanten Lehrkanzel durch Kleinmayr sollte die jahrzehntelange Dominanz der positivistischen Methodik am Seminar für Deutsche Philologie endgültig gebrochen werden. Kleinmayr prägte sowohl als Lehrender mit seiner geistesgeschichtlichen Ausrichtung als auch als Seminarvorstand nachhaltig die Grazer Germanistik der Nachkriegszeit.76 Die Absetzung Polheims beendete zugleich auch die enge Bindung von germanistischen 70 Ebd. 71 Vgl. Erich Leitner, Die neuere deutsche Philologie an der Universität Graz 1851–1954. Ein Beitrag zur Geschichte der Germanistik in Österreich (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 1), Graz 1973, 196. 72 Schreiben von Hugo Kleinmayr an Sektionschef Otto Skrbensky, 17233/1946, 11. 6. 1946. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kleinmayr Hugo. 73 „In Fällen, in denen Bedienstete österreichischer Staatsbürgerschaft in der Zeit vom 4. März 1933 bis 27. April 1945 aus politischen Gründen in ihrer Laufbahn anderweitig geschädigt worden sind, ist nach Möglichkeit derart abzuhelfen, daß die Schädigung nicht weiter fortbesteht.“ Siehe Beamten-Überleitungsgesetz, Rehabilitierung, § 4, Abs. 5. 74 Siehe Beamten-Überleitungsgesetz, Besetzung der Dienstposten, § 6, Abs. 1. 75 Ernennung von Hugo Kleinmayr zum ordentlichen Professor, 784/1947/48, 2. 2. 1948. UAG, PA Kleinmayr Hugo; Mitteilung der Landesamtsdirektion Steiermark zur Übernahme Hugo Kleinmayrs in die neuen Personalstände, 931/1947/48, 13. 2. 1948. UAG, PA Kleinmayr Hugo. 76 Vgl. Leitner, Deutsche Philologie, 197; 206. Für das „Neuere Fach“ an der Wiener Germanistik konstatiert Ranzmaier hingegen eine Rückkehr zum Positivismus. Siehe Ranzmaier, Wien, 179.
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und volkskundlichen Forschungen, wie sie bis zum Inhaber der ersten germanistischen Lehrkanzel in Graz, Karl Weinhold77, zurückzuverfolgen ist. Kranzmayer konnte diese Tradition in der Wiener Germanistik fortführen.78 Inhaltliche Kontinuität bestimmte hingegen weitgehend das „Alte Fach“, wo Leo Jutz über die Jahre und Systemumbrüche hinweg kaum etwas veränderte. Das Verhältnis zwischen Leo Jutz und Hugo Kleinmayr war ein durchaus ambivalentes. Dies entsprach auch der allgemeinen Situation der GermanistikInstitute der Nachkriegszeit als Orten „des Verschweigens und Vertuschens“79 mit einem Nebeneinander von ehemaligen NationalsozialistInnen, MitläuferInnen und inneren EmigrantInnen. Als Seminarvorstände verfolgten Jutz und Kleinmayr erfolgreich eine personalpolitische „Strategie des Ausharrens“. So wurden die beiden Assistenten Hellmuth Himmel und Alfred Kracher, beide sollten sich später in Graz habilitieren, trotz Ablehnung durch das BMU so lange weiterbeschäftigt, bis die Entnazifizierungsmaßnahmen weitgehend beendet waren und das Ministerium nachträglich den Anstellungen zustimmte. Alfred Kracher suchte nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Herbst 1945 am Grazer Seminar um Aufnahme als wissenschaftliche Hilfskraft an. Das Ansuchen Krachers wurde von der Steiermärkischen Landesregierung bewilligt, sodass Kracher zunächst noch ohne Besoldung am Institut arbeiten konnte. Die Bestellung wurde jedoch aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft vom BMU abgelehnt.80 Kracher arbeitete trotzdem unbesoldet am Seminar weiter und im August 1947 stellte Kleinmayr als Seminarvorstand einen Antrag für eine nachträgliche Zuerkennung von Bezügen für Krachers Tätigkeit als Assistent.81 Dies wurde semesterweise bewilligt und im Oktober 1949 kam es zu einem neuerlichen Antrag der Seminarvorstände zur Bestellung Krachers als ganztägige gehobene wissenschaftliche Hilfskraft, wobei argumentiert wurde, dass Kracher seit Kriegsende „in ausgezeichneter Weise, geradezu als Stütze des Institutes, seinen Dienst versehen“82 hätte. Gegenüber dem BMU wurden von Seiten des Bundeskanzleramtes Bedenken gegenüber der Bestellung Krachers geäußert und auf dessen „illegale“ Tätigkeiten in der NSDAP und der SA ver-
77 78 79 80
Zu Karl Weinhold siehe Leitner, Deutsche Philologie, 16f. Vgl. Ranzmaier, Wien, 178. Hermand, Geschichte, 114. Akt zur Bestellung Alfred Krachers als Hochschulassistent, 39738-III/1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred. 81 Schreiben Hugo Kleinmayr an das BMU, 39738-III/1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred. 82 Schreiben Leo Jutz und Hugo Kleinmayr an das BMU zur Bestellung von Alfred Kracher als wissenschaftliche Hilfskraft, 71184/1949, 1. 10. 1949. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred.
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wiesen.83 In dem Schreiben wurde eine Aussage Krachers aus dem Juni 1938 zitiert: „Mein ganzes Sinnen und Trachten war seit der Verbotszeit besonders darauf gerichtet, im Bekannten- und Freundeskreis, im Schuldienst und im Privatleben, für die nationalsozialistische Idee zu werben und es ist mir auch gelungen, eine Reihe von Kameraden für die SA zu gewinnen, die alle bei Standarte 81 Dienst machen.“84
Kracher erklärte daraufhin in einer persönlichen Stellungnahme an das Bundeskanzleramt, dass seine „illegale“ Tätigkeit, auf die auch seine NSDAPNummer hinwies, ihm in der NS-Zeit durch einen SA-Standartenführer bewusst falsch bescheinigt worden war, um keine beruflichen Schwierigkeiten durch seinen Austritt aus der SA zu erleiden.85 Als eine Art Gegengewicht zu den belastenden Dokumenten in Krachers „Gauakt“ lagen seinem Schreiben ganze acht von, wie er schreibt, 26 Zeugnissen bei, die ihm von verschiedener Seite bescheinigen sollten, dass er seine Zugehörigkeit zur NSDAP „niemals mißbraucht habe“, „sondern im Gegenteil auch dazu verwendet habe, um Gegnern der NSDAP wiederholt zu helfen“. In diesen Persilscheinen wurde Kracher von verschiedensten Personen bescheinigt, dass er „Nichtnationalsozialisten wiederholt bereitwillig und völlig uneigennützig geholfen“ hätte und er sich überdies „jederzeit für Österreich einsetzen“86 würde. Der Bestellung Krachers als besoldete wissenschaftliche Hilfskraft wurde schließlich von Seiten des Bundeskanzleramtes „ausnahmsweise zugestimmt“, unter anderem mit der Begründung, dass laut den beiden Institutsvorständen Jutz und Kleinmayr kein Ersatz gefunden werden konnte.87 Kracher konnte so seine wissenschaftliche Karriere an der Grazer Germanistik weiterverfolgen und sollte schließlich 1961 Leo Jutz auf den Lehrstuhl für „Ältere Sprache und Literatur“ folgen.88
83 Schreiben des Bundeskanzleramtes an das BMU zur Bestellung Alfred Krachers als wissenschaftliche Hilfskraft, 49.002-4/1949, 29. 12. 1949. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred. 84 Das Zitat Alfred Krachers stammt aus einem Personalfragebogen der NSDAP, den Kracher am 25. 6. 1938 ausgefüllt hatte. Siehe dazu Personal-Fragebogen der NSDAP, 6272936/1938, 25. 6. 1938. OeStA, AdR, BMI, Gauakt 59.461/Alfred Kracher. 85 Schreiben Alfred Kracher an das Bundeskanzleramt, 71184/1949, 30. 12. 1949. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred. 86 Schreiben Luise Reisinger, 71184/49, o. D. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred. 87 Schreiben Bundeskanzleramt zur Bestellung von Alfred Kracher als wissenschaftliche Hilfskraft, 71184/1949, 16. 3. 1950. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred. 88 Schreiben Bundespräsident Adolf Schärf zur Ernennung Alfred Krachers zum außerordentlichen Professor für „Ältere deutsche Sprache und Literatur“, 1134/1961, 7. 2. 1961. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Kracher Alfred.
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Auf ähnliche Weise setzten die Institutsvorstände auch die Anstellung Hellmuth Himmels als wissenschaftliche Hilfskraft durch. Im Sommersemester 1946 wurde Himmel mit Genehmigung der Landesregierung als halbtägige wissenschaftliche Hilfskraft befristet bis 15. Mai 1947 an das Seminar geholt. Im Juli 1947 erfolgte ein Antrag an das BMU auf rückwirkende Verlängerung des Vertrages.89 Das BMU lehnte diesen Antrag aufgrund Himmels „ehem. Zugehörigkeit zur NSDAP“ mit Verweis auf seine Offiziersakten90 – Himmel hatte eine Karriere in der Deutschen Wehrmacht durchlaufen – ab.91 Als der damalige Dekan der Philosophischen Fakultät Heinrich Felix Schmid in einem Schreiben erwiderte, dass Himmel niemals NSDAP-Mitglied gewesen sei, berief sich das BMU weiterhin auf die Auskunft der Polizeidirektion Graz, die eine NSDAPAnwartschaft Himmels bestätigte. Das BMU forderte das Dekanat in Graz auf, Himmel zu entfernen und über den Vollzug Bericht zu erstatten.92 Dennoch wurde Himmel am Seminar weiterbeschäftigt. Kleinmayr suchte schließlich Anfang des Jahres 1948 beim BMU erneut um eine rückwirkende Wiedereinstellung als halbtägig beschäftigte wissenschaftliche Hilfskraft mit 1. November 1947 an und schrieb, dass Himmel „[…] da vorauszusehen war, daß sich die Entscheidung der Registrierungsbehörde trotz Urgenzen des Institutsvorstandes verzögern würde, seinen Dienst in derselben Arbeitstreue wie bis 31. X. 1947 weiter versehen [hat], was ihm schon deshalb nicht verwehrt werden konnte, weil dadurch ein Vakuum vermieden wurde; auch hat sich der Genannte niemals irgendwie politisch betätigt“93. Das BMU stimmte Anfang Februar 1948 der Bestellung Himmels als wissenschaftliche Hilfskraft schließlich zu.94 Trotz der Sozialisation in einem nationalsozialistischen Elternhaus und in der Deutschen Wehrmacht wird mit Hellmuth Himmel als Mitbegründer des Studierenden89 Antrag des Dekanats der Philosophischen Fakultät Graz an das BMU zur Neu-Bestellung von Hellmuth Himmel als wissenschaftliche Hilfskraft, 1104/1946/47, 10. 7. 1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Himmel Hellmuth. 90 So hatte Himmel einen mit 10. 9. 1942 datierten Lebenslauf verfasst, wo er angab, dass er bei der NSDAP um Aufnahme angesucht hat und seit 1. 2. 1940 als Anwärter geführt werde. Siehe Lebenslauf Hellmuth Himmel, 10. 9. 1942. OeStA, AdR, Deutsche Wehrmacht (DWM), PA Helmut Himmel. 91 Akt BMU zum Antrag zur Bestellung von Hellmuth Himmel als wissenschaftliche Hilfskraft, 30659/1947, 15. 9. 1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 20, Himmel Hellmuth. 92 Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät der Universität Graz an das BMU zur Bestellung Hellmuth Himmels als halbtägige wissenschaftliche Hilfskraft, Phil. Fak., 186/ 1947/48, 15. 1. 1947. UAG, PA Himmel Helmut (I); Schreiben des BMU an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz zur Bestellung Hellmuth Himmels als halbtägige wissenschaftliche Hilfskraft, 302/1947/48, 6. 11. 1947. UAG, PA Himmel Helmut (I). 93 Schreiben Hugo Kleinmayr an das BMU zur Bestellung Hellmuth Himmels als halbtägige wissenschaftliche Hilfskraft, 186/1947/48, 15. 1. 1947. UAG, PA Himmel Helmut (I). 94 Schreiben des BMU an das Dekanat der Philosophischen Fakultät der Universität Graz zur Bestellung Hellmuth Himmels als halbtägige wissenschaftliche Hilfskraft, 846/1947/48, 3. 2. 1948. UAG, PA Himmel Helmut (I).
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theaters „Hochschulstudio“ ein liberales Aufbrechen der konservativen Grazer Kulturszene in der Nachkriegszeit verbunden.95 Wie Kracher sollte Himmel in Graz Karriere machen. Im Juli 1968 wurde er Ordinarius für „Österreichische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft“.96
3.
Fazit
Der genaue Blick auf germanistische Institute und ihre Angehörigen schafft ein differenziertes Bild von universitären Einrichtungen im Nationalsozialismus und der darauffolgenden Phase der Entnazifizierung. So können am Grazer Seminar für Deutsche Philologie vielfältige Handlungsweisen und Strategien beobachtet werden, die immer wieder auch von Widersprüchlichkeit gekennzeichnet waren. In diesem Sinne sind auch konkrete Rollenzuschreibungen mit Vorsicht zu betrachten.97 Zugleich entsteht auf Basis des Quellenmaterials das Bild eines universitären Instituts, in welchem mögliche Handlungsspielräume der Universitätsangehörigen innerhalb des nationalsozialistischen Systems zwischen Eifer, Opportunismus, Anpassung bis hin zum stillen Rückzug vereint waren. Die Phase der Entnazifizierung der Grazer Germanistik war verbunden mit Legitimationsdiskursen und Unschulds-Narrativen der betroffenen Lehrenden, die geprägt waren von Halbwahrheiten, Auslassungen und Faktenverdrehung. Handlungen, die völlig d’accord gingen mit der nationalsozialistischen Hochschulpolitik, wurden zu widerständigen Akten stilisiert. Hochschullehrende, die sich dem NS-System widerspruchslos anpassten, stellten sich nach 1945 als Lehrende in Opposition dar, die ständig der Gefahr ausgesetzt gewesen wären, „von der Gestapo geholt zu werden“98. NSDAP-Mitgliedschaften wurden mit Existenzsicherung begründet oder als Möglichkeit dargestellt, um von den NationalsozialistInnen verfolgten Menschen zu helfen. Die Lehrenden beschrieben ihre Tätigkeiten rein dem wissenschaftlichen Anspruch auf Objektivität ver95 Vgl. Alfred Holzinger, Große Hoffnungen und langsamer Neubeginn, in: Literatur in der Steiermark von 1945–1976, hg. v. d. Steiermärkischen Landesregierung, Graz 1976, 9–48, 17f. In einer schriftlichen Auskunft eines gewissen Herbert Rotter in Himmels Wehrstammakt wird der Vater als überzeugter Nationalsozialist beschrieben und auch Hellmuth Himmel gibt in seinem Lebenslauf im Akt Hinweise bezüglich der nationalsozialistischen Einstellung seines Vaters. Siehe schriftliche Auskunft von Herbert Rotter zu Hellmuth Himmel, 1. 10. 1942; Lebenslauf Hellmuth Himmel, 10. 9. 1942. Beides in OeStA, AdR, DWM, PA Helmut HIMMEL. 96 Vgl. Müller-Kampel, Seminar, 26. 97 So schreibt Uwe Baur bezüglich seiner Charakterisierung von Hugo Kleinmayr als „innerem Emigranten“, dass „jeder gefundene Brief […] das Kartenhaus der Zuordnung zum Einsturz bringen“ kann. Baur, Methoden, 2. 98 Bericht der Reinigungskommission über Leo Jutz, o. D. StLA, L. Reg 366, J–K2, 4818/1946: J8 Jutz Leo.
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pflichtet und so als frei von politischen Einflüssen. Damit wurde in der Nachkriegszeit das Narrativ einer unpolitischen Germanistik aufgebaut.99 Dieses Narrativ erweist sich dabei mehr als brüchig, lassen sich doch politische Agenden und kulturpolitische Zielsetzungen der Institutsangehörigen bis zur ersten Lehrkanzel zurückverfolgen.100 Dem entspricht die fast ein Jahrhundert währende Verknüpfung der Grazer Germanistik mit volkskundlichen Forschungen. Diese Verbindung hatte vor allem nach 1918 in der Frage der fehlenden Übereinstimmung sprachlicher und staatlicher Grenzen und der in der Volkskunde weitverbreiteten Propagierung einer „Volksganzheit“ hochpolitischen Gehalt.101 Die verschiedenen Entnazifizierungskommissionen, allen voran die universitätsinterne „Brandenstein-Kommission“, standen den Selbstdarstellungen nach 1945 wohlwollend gegenüber und reproduzierten diese zum Teil auch unkritisch. Das Professorenkollegium der Philosophischen Fakultät stellte sich dabei relativ geeint gegen die Entnazifizierungsmaßnahmen und unterstützte sich untereinander durch Ansuchen, in denen die Übernahmen in die neuen Personalstände „wärmstens befürwortet“102 und als „im Interesse der österreichischen Wissenschaft“103 erklärt wurden. Am Seminar für Deutsche Philologie wurde eine rasche Rückkehr zu einem geregelten Lehr- und Forschungsbetrieb angestrebt. Dies ließ keine Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit zu. Wie auch aus den Akten hervorgeht, gestaltete sich das Finden unbelasteter Lehrkräfte durchaus problematisch. Der 1938 entfernte Albert Wesselski war im Februar 1939 verstorben und wäre inzwischen zu alt gewesen. Der in der NS-Zeit gemaßregelte und unbelastete Hugo Kleinmayr wurde erfolgreich – auch aus Mangel an Alternativen – rehabilitiert.104 Bei den beiden Assistenten Kracher und Himmel wandten die beiden Seminarvorstände Jutz und Kleinmayr erfolgreich eine 99 Diese Propagierung der Germanistik als Wissenschaft fern dem politischen Getriebe lässt sich auch für die Wiener Germanistik der Nachkriegszeit nachzeichnen. Siehe Ranzmaier, Wien, 183. 100 Zur Brüchigkeit dieses Narratives siehe auch die 2017 eingereichte Masterarbeit des Autors, wo der (kultur-)politische Charakter des Grazer Seminars und die Agenden seiner Angehörigen von der ersten Lehrkanzel bis in die Nachkriegszeit nachgezeichnet werden: Marco Jandl, Die Grazer Germanistik in der Nachkriegszeit. Ein universitäres Institut zwischen Neukonstituierung und Kontinuität, Unschulds-Narrativen und Entnazifizierungspolitik, Masterarbeit, Graz 2017. 101 Vgl. Strutz, Hochschulgermanistik II, 111. 102 Stellungnahme des Kollegiums zur Übernahme von Leo Jutz in den neuen Personalstand, 38445/III-8/48, 28. 11. 1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Jutz Leo. 103 Stellungnahme des Professorenkollegiums der philosophischen Fakultät der Universität Graz, 1076/1946/47, 6. 12. 1947. OeStA, AdR, UWFuK, BMU, PA, Sign. 10, Kranzmayer Eberhard. 104 Die von Irene Ranzmaier festgestellten „Wiederbelebungen“ nach 1945 in Form von der Rückkehr von Lehrenden, die bereits zuvor in Wien gelehrt hatten – dazu gehörte auch Eberhard Kranzmayer –, lassen sich für Graz nicht feststellen. Vgl. Ranzmaier, Wien, 178.
Marco Jandl, Die universitäre Germanistik in Graz
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„Strategie des Ausharrens“ an. Auf dem Weg zum universitären „Alltag“ wurde die Entnazifizierung vor allem als Hindernis gesehen, welches es schnellstmöglich hinter sich zu bringen galt.
Markus Roschitz
Die Entnazifizierung der Lehrerschaft am Beispiel der Südweststeiermark
1.
Einleitende Bemerkungen
Unter dem Begriff „Entnazifizierung“ kann im zeitgenössischen Sinn der Versuch verstanden werden, den Nationalsozialismus als Organisation und Ideologie mithilfe administrativ-bürokratischer, juristischer und agitatorischer Maßnahmen aus dem öffentlichen Leben auszuschalten.1 Die vielschichtigen Prozesse der Entnazifizierung von 1945–1957 anhand der Berufsgruppe der Pflichtschullehrerinnen und -lehrer in der Südweststeiermark quellennah und beispielhaft darzustellen, ist Ziel vorliegenden Beitrages. Mit der „Südweststeiermark“ ist das agrarisch und gleichzeitig vom Bergbau geprägte Gebiet des Bezirkes Deutschlandsberg gemeint, in dem nach der Volkszählung 1939 insgesamt 53.862 Menschen2 lebten. Besonderes Augenmerk wird auf die südlich der Bezirkshauptstadt liegenden Volksschulen Schwanberg, Hollenegg, Steyeregg, St. Anna ob Schwanberg, Glashütten, Wies, Pölfing-Brunn und Wernersdorf gelegt. In einer 2015 veröffentlichten Studie konnte gezeigt werden, dass 57 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an diesen Schulen Mitglied der NSDAP waren,3 eine Zahl, die signifikant über dem gesamtösterreichischen
1 Dieter Stiefel, Nazifizierung plus Entnazifizierung = Null? Bemerkungen zur besonderen Problematik der Entnazifizierung in Österreich, in: Sebastian Meissl/Klaus-Dieter Mulley/ Oliver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945–1955, Wien 1986, 28–37, 28; Winfried R. Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, in: Emmerich Tálos u. a. (Hg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 852–883, 855. 2 Die Bevölkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939. Heft 1: Stand, Entwicklung und Siedlungsweise der Bevölkerung des Deutschen Reichs, Tabellenteil (Statistik des Deutschen Reichs 552, 1). Berlin 1943, 134. 3 Vgl. Markus Roschitz, Die Lehrerschaft in der Provinz. Wegbereiter, Systemträger, Opfer und Täter des Nationalsozialismus am Beispiel der Südweststeiermark, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 106 (2015), 141–185, 179.
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Durchschnitt4 lag. Die südweststeirische Lehrerschaft zeigte also eine hohe Anpassungsbereitschaft an den Nationalsozialismus. Neben zahlreichen Überblicksdarstellungen und Detailstudien zu verschiedenen Aspekten der Entnazifizierung5 sind auch drei größere Arbeiten erschienen, die sich ausdrücklich mit der Situation der steirischen Lehrerschaft in der Nachkriegszeit befassen. An erster Stelle sind die (zu einem Gutteil identischen) Aufsätze „Die Briten und das Schul- und Bildungswesen in der Steiermark 1945– 1947“6 (1988) und „Die Briten und das steirische Schulwesen 1945–1947“7 (1995) von Siegfried Beer zu nennen. Beer griff beinahe ausschließlich auf Quellen des ehemaligen Public Record Office (PRO) in London zurück und konnte auf diese Weise nicht nur die Vorstellungen und Planungen, sondern auch die konkrete Ausführung der britischen Entnazifizierungsstrategie nachzeichnen. Auf Quellen des Steiermärkischen Landesschulrats (einsehbar im Steiermärkischen Landesarchiv) griff Gudrun Fessler in ihrer Diplomarbeit „1945/46 – Das erste Schuljahr, Schulalltag, Entnazifizierung, Umerziehung und Wiederaufbau des steirischen Pflichtschulwesens im ersten Schuljahr nach Kriegsende“8 (1995) zurück. Im zweiten Teil ihrer Arbeit befasst sich Fessler ausdrücklich mit der Entnazifizierung der steirischen Pflichtschullehrerinnen und -lehrer, wobei sie sowohl auf die Entnazifizierungsmaßnahmen der steirischen Schulbehörden wie auch auf verschiedene Eingriffe der Briten in diesen Prozess eingeht. Anknüpfend an diese Arbeiten wird im vorliegenden Beitrag der Schwerpunkt einerseits auf die behördlichen Schritte zur Entnazifizierung auf Bezirks- und Landesebene und andererseits auf die konkreten Auswirkungen derselben für die Lehrkräfte selbst gelegt. Außerdem sollen der Austausch und das Zusam4 45 % der österreichischen Pflichtschullehrerinnen und -lehrer waren „Parteigenossen“. Vgl. Horst Schreiber, Die Tiroler Lehrerschaft im Nationalsozialismus, in: zeitgeschichte 21 (1994) 3/4, 129–144, 129. 5 Hier seien nur genannt: Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981; Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich (Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2002), Linz 2004; Robert Knight, Britische Entnazifizierungspolitik 1945–1949, in: zeitgeschichte 11 (1984) 9/10, 28–301; Martin F. Polaschek, Entnazifizierung und Kriegsverbrecherprozesse in der Steiermark, in: Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/ Ursula Mindler (Hg.), NS-Herrschaft in der Steiermark. Positionen und Diskurse, Wien u. a. 2012, 413–428; Christoph Nöhrer, Die Debatte um die Entnazifizierung bei den steirischen Landtagswahlen 1945 und 1949. Dipl. Arb. Universität Graz 2017. 6 Siegfried Beer, Die Briten und das Schul- und Bildungswesen in der Steiermark 1945–1947, in: Günter Bischof/Josef Leidenfrost (Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945–1949 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 4), Innsbruck 1988, 155–185. 7 Siegfried Beer, Die Briten und das steirische Schulwesen 1945–1947, in: Ders. (Hg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955 (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 38), Graz 1995, 447–466. 8 Gudrun Fessler, 1945/46 – Das erste Schuljahr, Schulalltag, Entnazifizierung, Umerziehung, und Wiederaufbau des Steirischen Pflichtschulwesens im ersten Schuljahr nach Kriegsende, Dipl. Arb. Graz 1995.
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menwirken zwischen den Behörden, Komitees, Kommissionen und den maßgebenden Personen nachgezeichnet werden. Die gewählten Beispiele können in Kenntnis einer hinreichenden Anzahl von Fällen für die jeweils skizzierte konkrete Situation durchaus als typisch gelten. Auf Besonderheiten in der Verfahrensweise, die über den Einzelfall hinausgehend keine oder nur wenig Relevanz haben, kann im vorliegenden Aufsatz nicht eingegangen werden. Berücksichtigung finden dabei vor allem Quellen des Steiermärkischen Landesarchivs, die bislang noch gar nicht oder nur vereinzelt herangezogen wurden: die Personalakten und Sitzungsprotokolle des Steiermärkischen Landesschulrats sowie die Akten der Bezirks- und Landesberatungskommissionen.
2.
Erste Schritte nach dem Ende der NS-Herrschaft
Im Frühjahr 1945 war an einen geregelten Unterricht an den Volksschulen der Südweststeiermark nicht mehr zu denken. In Wies beispielsweise quartierten sich im Februar 1945 kroatische und ungarische Polizeitruppen unter deutscher Führung in der Schule ein, Luftnachrichtentruppen der Wehrmacht belegten bereits seit Herbst 1944 mehrere Räume.9 In Schwanberg nahmen Angehörige der 14. Waffen-Grenadier-Division der SS (galizische Nr. 1) im Februar 1945 beide Schulhäuser in Beschlag. Sowohl in Wies wie auch in Schwanberg fand der Schulunterricht in der Folge unter widrigen Verhältnissen in Gasthäusern des Ortes statt.10 Am 8. Mai 1945, mit dem Ende der NS-Herrschaft, wurde auch dieser provisorische Unterricht eingestellt. Am 12. Mai wurden mehrere Ortschaften der Südweststeiermark zunächst von bulgarischen, gefolgt von jugoslawischen („TitoTruppen“) und teils auch russischen Einheiten besetzt. Die Besatzungstruppen nahmen wieder in den Schulhäusern, die sie teilweise auch ausplünderten, Quartier; an Unterricht war unter diesen Umständen nicht zu denken, zumal auch Lehrmaterialien demoliert wurden.11 Ungeachtet dieser Entwicklungen wurde der in der NS-Zeit schwer gemaßregelte und im November 1944 nach Kapfenberg abgeordnete Deutschlandsberger Hauptschullehrer Paul Dittrich12 am 10. Mai 1945 zum provisorischen Bezirksschulinspektor von Deutschlandsberg ernannt. Im 9 Schulchronik Wies, Band 8, 13. 2. 1945. Kopie im Besitz des Verfassers. 10 Markus Roschitz, Über Lebensrealitäten von Lehrerinnen und Lehrern an Volksschulen der Südweststeiermark vom Aufstieg der NSDAP bis zum Ende der NS-Herrschaft – O vsakdanu ucˇiteljic in ucˇiteljev na ljudskih sˇolah v jugovzhodni avstrijski Sˇtajerski od vzpona NSDAP do konca vladavine nacionalsocializma, in: VII. Das Magazin der Sloweninnen und Slowenen in der Steiermark 1 (2017/2018), 118–139. 11 Vgl. etwa Schulchronik Wies, Band 8, 11. 5. und 4. 6. 1945. 12 Vgl. Roschitz, Lehrerschaft in der Provinz, 181.
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März 1946 erinnerte sich der bekennende Sozialdemokrat etwas idealisiert so an diese Zeit: „Beim Niederbruch der Naziherrschaft nahm ich hier den Wiederaufbau des Schulwesens in die Hand nach dem einstimmigen Wunsch des Ausschusses der Freiheitsbewegung, der gegen-nazistischen Kreise der Bevölkerung. Es gab lange Zeit keine Verbindung mit Graz. Aus demokratischem Instinkt heraus und aus politischem Anstand setzten wir uns zusammen und bildeten eine Art provisorischen Bezirksschulrat: Es waren die Fachlehrer [Franz] Wechtitsch, [Ing. Alois] Kropf, [Alfred] Murauer und ich. Wir kannten uns seit vielen Jahren als Lehrer und Menschen, unsere gegenteilige politische Anschauung spielte für uns, die wir sachlich arbeiteten, die Schule wieder hoch bringen wollten, keine Rolle. Wir berieten gemeinsam, was hiezu notwendig war. Dies war echte Demokratie. Endlich gelang die Verbindung mit Graz. Der Auftrag von hier lautete: Selbständig alles tun!“13
Abb. 1: Paul Dittrich (StLA BH Deutschlandsberg, 14/I Di 3-1/1950).
Dittrich ordnete an, dass zuerst die zum Teil völlig verdreckten Schulräumlichkeiten gereinigt werden müssten und der Unterricht an den 28 Schulen des Bezirks Deutschlandsberg am 12. Juni 1945 wieder aufzunehmen sei. Angesichts der nach wie vor in diesem Gebiet stationierten jugoslawischen Einheiten dürfte dieses Vorhaben aber nur in einigen Schulen umgesetzt worden sein.14 Die russische Besatzungsmacht war indes grundsätzlich an einer raschen Wiederaufnahme des Schulbetriebes interessiert, den steirischen Schulbehörden gestand 13 Paul Dittrich, Demokratie im Bezirksschulrat, Weststeirische Rundschau, 30. 3. 1946, 1. 14 Ebd. Paul Dittrich, Der Lehrer ist frei…, Weststeirische Rundschau, 21. 7. 1945, 1. Zur ersten Besatzungszeit im Bezirk Deutschlandsberg siehe Herbert Blatnik, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg und Besatzungszeit, in: Helmut-Theobald Müller (Hg.), Geschichte und Topographie des Bezirkes Deutschlandsberg. Erster Teilband: Allgemeiner Teil (Große geschichtliche Landeskunde der Steiermark 3/I), Graz/Deutschlandsberg 2005, 187–206, 201– 205.
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sie dabei weitgehende Autonomie zu.15 Mit Mühe konnte der Unterricht in Hollenegg schließlich am 18. Juni und in Wernersdorf und Wies am 25. Juni 1945 wieder aufgenommen werden.16 Zu den ersten gesetzten Entnazifizierungsmaßnahmen zählte in sinngemäßer Anwendung des am 8. Mai 1945 erlassenen Verbotsgesetzes17 die Einholung einer eidesstattlichen Erklärung der Lehrerinnen und Lehrer, dass sie „in der Zeit vom 1. Juli 1933 bis 13. März 1938 weder der NSDAP noch einem ihrer Wehrverbände (SS, SA, NSKK, NSFK) angehört“ hatten.18 Mit dieser Erklärung sollten die Lehrkräfte bestätigen, dass sie nicht „illegale“ Nationalsozialisten gewesen waren. Bezirksschulinspektor Dittrich erstellte auf Grundlage dieser Angaben und seiner „persönlichen Kenntnis“ der Verhältnisse eine Liste mit 28 im Bezirk Deutschlandsberg Dienst machenden bzw. eingeteilten „Illegalen“, die er bei der Schulabteilung der Landeshauptmannschaft (der Landesschulrat konstituierte sich als eigene Behörde provisorisch erst am 23. Juli 1945 neu19) zur Entlassung vorschlug. Zwei Personen dieser Liste strich Dittrich „im Einvernehmen mit den drei demokratischen Parteien“ nachträglich.20 Bezirksschulinspektor Dittrich veranlasste bereits seit Mitte Mai 1945 Um-, Wieder- und Neubesetzungen (vor allem mit Absolventinnen und Absolventen aus den Lehrerbildungsanstalten) im Personalbereich. In Schwanberg bestellte Dittrich am 19. Mai die zuletzt von Steyr-Daimler-Puch kriegsdienstverpflichtete Lehrerin Leontine Streit zur neuen Schulleiterin.21 Die als scharfe Gegnerin des Nationalsozialismus bekannte Streit war im März 1938 zunächst versetzt und Ende März 1939 mit der Hälfte der ihr eigentlich zustehenden Bezüge zwangspensioniert worden.22 In Wies ernannte Dittrich mit 3. Juli 1945 anstelle des reichsdeutschen Lehrers Erich Angermüller (NSDAP-Mitglied seit 1933) die im 15 Beer, Briten und das Schul- und Bildungswesen, 162. 16 Schulchronik Hollenegg, 1944/45; Schulchronik Wies, Band 8, 25. 6. 1945; Schulchronik Wernersdorf, 1944/45. Kopien im Besitz des Verfassers. 17 StGBl. 3/1945. Vgl. auch Polaschek, Entnazifizierung, 416. 18 Zumeist am 7. Juli 1945. Vgl. bspw. StLA LSchRn VII Ko 26, H. 1, OZl. 2. Bereits ab Mitte Mai hatten die Lehrkräfte ein „Erhebungsblatt“ für den Bezirksschulrat auszufüllen. Vgl. etwa das Erhebungsblatt Paula Lyssys, Deutschlandsberg 19. 5. 1945, StLA LSchRn VII Li 19, H. 1, OZl. 5. 19 Roman Zehetmayer, Schulwesen in der Steiermark, in: Josef Riegler (Hg.), Die neue Steiermark. Unser Weg 1945–2005 (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 33), Graz 2005, 323–340, 325. 20 Dies waren der ehemalige Kreisschulrat Josef Böhmer (verstorben am 8. Juni 1945) und Hauptlehrer Josef Schalamun in Wieselsdorf (nach weiteren Erhebungen nicht als „illegal“ eingestuft). Vgl. BSR Deutschlandsberg, Zl. E 9-1/1945, 20. 7. 1945, StLA LSchRn II Allg E 5/ 1945, darin H. 6 OZl. 1/1946 (Kt. 1456). 21 BSR Deutschlandsberg, Zl. St 12-3/1945, 19. 6. 1945, StLA LSchRn VII Jo 26, OZl. Ste 31-3. 22 Der Reichsstatthalter, Zl. STK/I-S-27.831, Wien 11. 3. 1939, ÖStA/AVA, Unterricht UM allg. Akten 221, 2 A LSchB. Stmk. Personale GZ 315.651/1939.
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April 1939 ebenfalls aus politischen Gründen zwangspensionierte, aber am 1. Oktober 1939 „auf die Dauer des Bedarfs“ wieder in Dienst genommene Lehrerin Maria Kandolini zur neuen Schulleiterin.23 Auch an anderen Schulen wie etwa in Steyeregg, Glashütten oder St. Anna ob Schwanberg wurden die Leiterstellen neu besetzt. Allerdings blieb in Hollenegg mit Johann Höfer ein ehemaliges Parteimitglied – wenn auch kein „illegales“ – vorerst weiterhin Leiter der Volksschule.24
Abb. 2: Leontine Streit (StLA BH Deutschlandsberg, 14/I Ste 8-1/1950).
Vom 23. auf den 24. Juli 1945 besetzten die Briten vereinbarungsgemäß die Steiermark und wurden die neue und alleinige Besatzungsmacht. Sie fand im schulischen Bereich bereits funktionierende Strukturen vor, auch mit der Entnazifizierung war in Ansätzen bereits begonnen worden. Doch erst unter britischer Oberaufsicht begann die Phase der systematischen Entnazifizierung. Um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen, ordnete die Britische Militärregierung am 26. Juli die Schließung der steirischen Schulen an – so auch der 28 Volksschulen im Bezirk Deutschlandsberg. Den Unterrichtsbetrieb schnellstmöglich wieder aufzunehmen, wurde immerhin als Ziel ausgegeben.25
23 Roschitz, Lehrerschaft in der Provinz, 172–173; BSR Deutschlandsberg, Zl. K. 26-1/1945, 3. 7. 1945, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 31, H. 230, BlZl. 16. 24 Schulchronik Hollenegg, 1945/46. 25 Zehetmayer, Schulwesen in der Steiermark, 324.
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3.
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Die systematische Entnazifizierung
Die Sommermonate des Jahres 1945 verbrachten die im Dienst verbliebenen Lehrkräfte vor allem damit, die Klassenzimmer zu reinigen und all jene Seiten aus den Schulbüchern zu entfernen, die nationalsozialistische Inhalte hatten.26 Wie Leontine Streit in die Schulchronik Schwanberg schrieb, hielten sich die Lehrerinnen und Lehrer gleichsam in dauernder Bereitschaft, „weil man tagtäglich die Aufhebung des Schulverbotes erwartet[e].“27 Bezirksschulrat Dittrich verfügte in dieser Zeit weitere politisch motivierte Versetzungen von Lehrkräften, aber offenbar noch ohne vorherige Absprache mit dem Landesschulrat oder sogar einem Vertreter der Britischen Militärregierung. So ernannte Dittrich etwa mit Wirksamkeit vom 10. September 1945 Ida Lauterjung zur neuen Schulleiterin in Hollenegg und versetzte gleichzeitig Johann Höfer an die Knaben-Volksschule Deutschlandsberg.28 An diesem 10. September wurden die steirischen Volks- und Hauptschulen wieder geöffnet und der Unterricht konnte beginnen. Zu den Hauptproblemen, die der Leiter der Education Branch der Britischen Militärregierung für Steiermark, Oberstleutnant James R. Hands, im allmonatlich erstatteten Lagebericht zum September 1945 festhielt, zählte der Mangel an politisch unbelasteten Lehrkräften und unbedenklichen Lehrbüchern.29 Die britische Entnazifizierungsstrategie beschränkte sich zunächst darauf, die Arbeit der in den Bezirken und im Landesschulrat gebildeten Säuberungskommissionen zur Entnazifizierung der Lehrerschaft zu überwachen,30 sowie der Einholung und Prüfung eines zweisprachigen Fragebogens (Personal Questionnaire), in denen die Lehrkräfte genauestens über ihre politische Vergangenheit Auskunft geben mussten.31 Die Säuberungskommission des Bezirks Deutschlandsberg setzte sich aus den Mit26 Die Lehrerschaft „arbeitet mit Eifer an der Ausmerzung des Nazigiftes in den Schulbüchern, überstreicht mit Tusche anrüchige Stellen und Bilder, reißt Seiten heraus und ermöglichen dadurch, daß die bisherigen Bücher doch noch weiter verwendet werden können.“ Vgl. Dittrich, Der Lehrer ist frei, 1. Zu den „Säuberungen“ der Schulbücher und Bibliotheken vgl. Walter Großhaupt, „Kampf gegen Schmutz und Schund“. Die Säuberungen der steirischen Schulbüchereien von 1930 bis 1945, in: Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Michaela Wolf (Hg.), „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Bücherverbrennungen in der Vergangenheit, Gegenwart und in der Erinnerung, Graz 2020, 111–131, besonders 130–131. An dieser Stelle möchte ich mich bei Dr. Walter Großhaupt für seine zahlreichen Hilfestellungen bedanken. 27 Schulchronik Schwanberg, Band 2, 1944/45. 28 BSR Deutschlandsberg, Zl. H. 11-2/1945, 6. 9. 1945, StLA LSchRn VII Ho 29, H. 1, OZl. 2. 29 Beer, Briten und das Schul- und Bildungswesen, 162. 30 Fessler, Schuljahr 1945/46, 57 und 153–157. 31 Selbst die Spendenbeiträge für die Winterhilfe mussten angegeben werden. Vgl. etwa den Fragebogen Josef Wilds, Gams ob Frauental 25. 2. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 90, H. 676, BlZl. 59.
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gliedern des Bezirksschulrats mit Paul Dittrich als maßgebendem Entscheidungsträger zusammen.32
Abb. 3: Erna Aflenzer (StLA LSchRn VII Ae 5, HA, BlZl. 1).
Diese Säuberungskommission befasste sich nicht nur mit den aktiven, sondern auch mit bereits enthobenen Lehrkräften. Als Beispiel sei hier der Fall der am 29. September 1945 enthobenen33 Lehrerin Erna Aflenzer in Steyeregg genannt. Dittrich beantragte in Kenntnis, dass Aflenzer bereits im November 1937 dem NSLB beigetreten und somit als „Illegale“ zu qualifizieren war, deren Entlassung vom Schuldienst. Gleichzeitig ersuchte er unter Berufung auf eine Ausnahmebestimmung im Verbotsgesetz34 um ihre „Wiedereinstellung am selben Ort“, da sie eine „[s]ehr gute Lehrerin“ sei, ein „sehr schönes Deutsch in den Klassen“ spreche und überdies bei „der gesamten Bevölkerung sehr beliebt“ sei.35 Die Säuberungskommission des Landesschulrats prüfte den Fall Aflenzer in ihrer Sitzung am 8. November 1945. Der Referent der Säuberungskommission, Landesschulinspektor Leopold Teufert, rügte Dittrich für diesen (übrigens auch in anderen Fällen gleichlautend gestellten36) Antrag und wies darauf hin, dass beides „nicht möglich“ sei – „entweder dies oder das“. Mit Verweis auf das Verbotsgesetz fasste die Kommission des Landesschulrats den Beschluss, bei der
32 „Ganz von selbst überließen mir die drei anderen […] die fachliche Oberentscheidung.“ Vgl. Dittrich, Demokratie im Bezirksschulrat, 1. 33 BSR Deutschlandsberg, Zl. A 2–5/1945, 29. 9. 1945, StLA LSchRn VII Ae 5, H. 1, OZl. 4. 34 StGBl. 4/1945, Art. VI, § 27. 35 Kommission des BSR Deutschlandsberg, o. Zl. u. o. D., StLA LSchRn VII Ae 5, H. 1, OZl. 2. 36 „BSchR soll eindeutig Stellung beziehen!“ Vgl. Handschriftlicher Vermerk, Kommission des BSR Deutschlandsberg, ad IIa Li 19-5/1945, 20. 1. 1946, StLA LSchRn VII Li 19, H. 1, OZl. 5.
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Britischen Militärregierung die Entlassung von Erna Aflenzer aus dem Schuldienst zu beantragen.37 Ende Dezember 1945 ging Aflenzer ein Bescheid des Steiermärkischen Landesschulrats zu, mit dem ihre Entlassung aus dem Schuldienst „endgültig“ ausgesprochen wurde. Darin heißt es: „Nach dem Ergebnis der Erhebungen, bezw. wie aus Ihren eigenen Angaben hervorgeht, haben Sie in der Zeit zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 nach Erreichung des 18. Lebensjahres der NSDAP38 seit 1. 11. 1937 angehört. Sie sind demnach als ‚Illegaler‘ (‚Illegale‘) anzusehen. In sinngemässer Anwendung des Verbotsgesetzes […] und der hiezu ergangenen 3. Durchführungsverordnung […] wird Ihnen mit Zustimmung der Britischen Militärregierung mitgeteilt, dass Ihre Entlassung aus dem Dienstverhältnis mit dem 6. Juni 1945 erfolgt ist.“39
Mit nahezu wortidenten Bescheiden (es handelte sich um Vordrucke) wurden auch die anderen als „illegal“ qualifizierten Lehrkräfte im Bezirk Deutschlandsberg „endgültig“ aus dem Schuldienst entlassen. Lehrer wie Kurt Chibidziura aus Preding oder Johann Wippel aus Steyeregg konnten diesen Bescheid allerdings nicht selbst in Empfang nehmen – sie befanden sich seit Sommer bzw. Herbst 1945 im britischen Internierungslager Wolfsberg ohne Aussicht auf eine zeitnahe Entlassung.40 Sie wurden nach ihrer Rücküberstellung in die Steiermark 1947 vor das Volksgericht beim Landesgericht Graz gestellt und u. a. nach § 11 Verbotsgesetz („Illegalität“) angeklagt. Ende Jänner 1946 ging beim Steiermärkischen Landesschulrat ein Beschwerdeschreiben der ÖVP-Bezirksleitung Deutschlandsberg (Bezirksleiter war Landtagsabgeordneter Alfred Smolana) gegen Bezirksschulinspektor Dittrich ein. Aus „allen Kreisen der Lehrerschaft und der Bevölkerung“ wären Klagen über Dittrichs Amtsführung eingelaufen, weshalb es notwendig erscheine, dem Landesschulrat davon Mitteilung zu machen. Dittrich wurde seitens der ÖVP vorgeworfen, eine „vollständig einseitige diktatorische Haltung an den Tag“ zu 37 Handschriftlicher Vermerk, Kommission des BSR Deutschlandsberg, ad IIa LI IIa Ae 5-3/ 1945, 20. 1. 1946, StLA LSchRn VII Ae 5, H. 1, OZl. 3. 38 Tatsächlich war Aflenzer am 1. November 1937 nur dem NSLB beigetreten. Die Mitgliedschaft in diesem Verband wurde ihr im Zuge der Erfassungsaktion 1938 allerdings als illegale Tätigkeit für den beantragten Eintritt in die NSDAP angerechnet. Sie erhielt mit der Nummer 6,222.686 eine Nummer aus dem sogenannten „illegalen Nummernblock“ und wurde mit 1. Mai 1938 ordentliches Mitglied der NSDAP. Vgl. Personal-Fragebogen, ausgefüllt von Erna Aflenzer, Wies 18. 5. 1938, ÖStA/AdR ZNsZ EA Aflenzer Erna *16. 7. 1911. 39 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Ae 5-3/1945, Graz 29. 12. 1945, StLA LSchRn VII Ae 5, H. 1, OZl. 3. Die nach dem Juni 1945 noch ausbezahlen Gehälter wurden – wie bei Erna Aflenzer – „in Ausgabe belassen“, d. h. nicht zurückgefordert. Vgl. ebd., OZl. 6. Dass solche Entlassungen rückwirkend erfolgten, sorgte für einige Debatten in den Sitzungen des Landesschulrats. Vgl. etwa die Ausführungen des Landesrates Norbert Horvatek, StLA LSchRn Sitzungsprotokolle des Landesschulrats, 18. 4. 1946 (Anlage 2). 40 Vgl. etwa GPK Preding, E.Nr. 570, 11. 4. 1946, StLA LSchRn VII Ci 7, H. 1, OZl. 5.
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legen, die an die „tiefsten Nazi-Zeiten“ erinnern würde. „Er begünstigt offensichtlich seine Parteigänger (SPÖ)[,] um gegen Andersgesinnte schreiendstes Unrecht zu begehen.“ Dies wäre umso untragbarer, als die ÖVP im Bezirk Deutschlandsberg bei der gleichzeitig am 25. November 1945 abgehaltenen Nationalrats- und Landtagswahl eine Mehrheit errungen habe.41 An konkreten Vorwürfen wurde u. a. geltend gemacht, dass Dittrich den ehemaligen NSDAPZellenleiter und „prominentesten Nazi“ Holleneggs, den Lehrer Johann Höfer, im Jänner 1946 zum administrativen Leiter der Knaben- und Mädchenvolksschule Deutschlandsberg ernannt42 habe. Dies nur deshalb, weil Höfer „sofort nach dem Zusammenbruch der SPÖ bei[trat].“ Der Brief wurde mit der Forderung geschlossen, Höfer umgehend zu entheben und ein „sofortiges Disziplinarverfahren gegen Herrn Dittrich [einzuleiten] sowie [die] sofortige Überprüfung aller durch seine Intervention enthobenen Lehrkräfte des Bezirks Deutschlandsberg [vorzunehmen], da dabei nachgewiesenermaßen Unschuldige darunter sind.“43
Abb. 4: Johann Höfer (StLA BH Deutschlandsberg, 14/I Ho 11-1/1953).
Dieses Schreiben leitete der Landesschulrat der Britischen Militärregierung weiter, die auch umgehend eine Verfügung traf, wenn auch nicht unbedingt die von der ÖVP gewünschte: Johann Höfer wurde am 8. Februar 1946 per Bescheid 41 Bezirksleitung der ÖVP Deutschlandsberg, Zl. Abt. Schule-Kultur Gü/Kl, 28. 1. 1946, StLA LSchRn VII Di 7, H. 1, OZl. 7. Die ÖVP erhielt bei der Nationalratswahl im Bezirk Deutschlandsberg 16.236 Stimmen, die SPÖ 9.403 Stimmen. Vgl. Weststeirische Rundschau, 12. 1. 1945, 1. 42 Dies entsprach den Tatsachen. „Pädagogischer und wirklicher Leiter“ der beiden Volksschulen war jedoch Franz Wechtitsch. Vgl. BSR Deutschlandsberg, Zl. H 2-3/1946, 11. 4. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 25, H. 190, BlZl. 31. 43 Bezirksleitung der ÖVP Deutschlandsberg, Zl. Abt. Schule-Kultur Gü/Kl, 28. 1. 1946, StLA LSchRn VII Di 7, H. 1, OZl. 7.
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des Bezirksschulrates zwar „im Auftrage der Brit[ischen] Militär-Regierung“ vom Schuldienst enthoben, durfte jedoch vorerst weiterhin im Dienst verbleiben und auch unterrichten. Ein Gesuch um „Wiedereinstellung (an den Landesschulrat)“ möge Höfer „dem Bezirksschulrat sofort vorlegen“.44 Gegen Dittrich selbst wurden zunächst keine Schritte gesetzt. Dass Höfer vorerst weiterhin Dienst versehen durfte, ist durch den Umstand zu erklären, dass die Aufrechterhaltung des geregelten Schulbetriebes bei der Britischen Militärregierung Priorität gegenüber jenen Fällen genoss, die noch weitere Überprüfungen erforderten. Durch die Entlassungen der „Illegalen“ bestand Anfang April 1946 steiermarkweit nämlich ein Mangel an 122 Lehrkräften, eine Zahl, die sich nach Möglichkeit nicht unbedingt weiter vergrößern sollte.45 Den entlassenen Lehrerinnen und Lehrern wurde die Möglichkeit eingeräumt, unter Anführung entlastender Momente Einspruch gegen diese Entscheidung zu erheben – unabhängig davon, ob sie weiterhin im Dienst verbleiben durften oder nicht. Seitens der Education Branch wurde genau festgelegt, welchen Weg diese Einsprüche nehmen mussten: – Lehrkraft – Schulleiterin oder Schulleiter – Bezirksschulrat – Bezirksberatungskommission – Landesschulrat (nachrichtlich, um Dokumente und etwaige Befürwortungsschreiben vorzulegen) – Landesberatungskommission bzw. -komitee – British Review Board, Wien.46 Die erwähnte Bezirksberatungskommission nahm im Bezirk Deutschlandsberg am 21. Februar 1946 ihre Tätigkeit auf. Die Säuberungskommission des Bezirksschulrats war damit überflüssig geworden und stellte ihre Arbeit ein. In den von der Landeshauptmannschaft Steiermark ausgegebenen Richtlinien heißt es, dass sich die Bezirksberatungskommission mit der „Überprüfung der im Dienst stehenden Angestellten, mit der Entlassung oder Pensionierung oder Beteiligung mit vorläufigen Unterhaltsbeiträgen […], aber auch mit der Wiederindienststellung der von der Landeshauptmannschaft suspendierten Angestellten“ zu 44 BSR Deutschlandsberg, Zl. H 2-2/1946, 8. 2. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 25, H. 190, BlZl. 32. Ähnlich lautende Bescheide gingen im Februar 1946 auch anderen Lehrkräften zu. Vgl. etwa StLA LSchRn VII Fe 32, H. 1, OZl. 14. 45 Bericht des LSI Leopold Teufert, StLA LSchRn Sitzungsprotokolle des Landesschulrats, 18. 4. 1946, Anlage 5. 46 Vgl. H.Q. Civil Affairs, Br.E. Land Steiermark, Zl. ST/EDN/ 13 & 2, 10. 9. 1946, StLA LSchRn Sitzungsprotokolle des Landesschulrats, H. Allg. V-21, BlZl. 101.
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beschäftigen habe. Die Bezirksberatungskommission dürfe aber „keine Anstellung oder Wiederindienststellung selbstständig und ohne Zustimmung der Landeshauptmannschaft aussprechen.“47 Die Landeshauptmannschaft bzw. der Landesschulrat wiederum war an die Letztentscheidung der britischen Besatzungsmacht gebunden.
Abb. 5: Valentin Beclin (StLA BH Deutschlandsberg, 14/I Be 22-1/1955).
In der Sitzung vom 28. März 1946 behandelte die Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg unter dem Vorsitz von Bezirkshauptmann Dr. Hans Knieli etwa den Entlassungseinspruch des im Dezember 1945 an die Volksschule Wernersdorf zugewiesenen Lehrers Valentin Beclin. Beclin war von September 1938 bis zu seiner Einberufung zur Wehrmacht im Dezember 1940 Schulleiter in Wies, daneben Ortskassier der NSV und seit 1. Februar 1940 auch Mitglied der NSDAP gewesen. Wie Johann Höfer war Beclin im Februar 1946 zwar aus dem Schuldienst entlassen worden, aber mit Zustimmung der Militärregierung bis zur Entscheidung des Einspruchs, noch dazu als administrativer Leiter,48 im Dienst verblieben.49 Die fünf Mitglieder der Bezirksberatungskommission (darunter nur ein Vertreter der Lehrerschaft, Franz Wechtitsch) beschlossen einstimmig, die Wiedereinstellung Beclins in den Schuldienst zu empfehlen: „Mit Rücksicht darauf, dass Beclin nur einfaches Parteimitglied war, lediglich in der NSV die Kassierstelle bekleidete, vor 1938 dem Nationalsozialismus vollkommen fern
47 LH für Steiermark, Zl. LAD Kom K 1-12/1946, Graz 9. 1. 1946, StLA BH Deutschlandsberg, Vst. N 2-15/1946 (Kt. 369). 48 BSR Deutschlandsberg, Zl. W 1-1/1946, 14. 1. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 4, H. 27, BlZl. 14. 49 BSR Deutschlandsberg, Zl. B 1-2/1946, 22. 2. 1946, ebd., BlZl. 16.
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gestanden ist, und sich nach 1938 in keiner Weise propagandistisch betätigt hat, erscheint er für eine Wiederverwendung im Lehrberuf tragbar.“50
Beclins Einspruch gegen die Entlassung wurde anschließend unter Beifügung des Protokolls der Bezirksberatungskommission dem Landesberatungskomitee in Graz weitergeleitet. Bis zur endgültigen Entscheidung seines Falles stellte Beclin auf dem vorgeschriebenen Wege weitere Ansuchen um Weiterverwendung im Schuldienst. Er konnte dabei auf die Unterstützung des Bezirksschulrates und auch des Landesschulrates zählen, die in einer Stellungnahme an die Education Branch „mit Rücksicht auf die schwierige Ersatzlage“ dessen Belassung im Schuldienst befürworteten.51 Am 16. Dezember 1946 erhielt Beclin vom Landesschulrat die Mitteilung, dass seinem „Einspruch gegen die Entlassung vom A.C.A. Wien52 Folge gegeben wurde“ und seiner „Weiterverwendung als Lehrer […] seitens der Brit[ischen] Zivilverwaltung nichts mehr entgegen[steht]“.53 Beclin bekam wenig später auch das für die Weiterbeschäftigung im Schuldienst notwendige Employment Certificate – das ist die Arbeitsbewilligung – ausgehändigt,54 womit er als „entnazifiziert“ galt. Bei der Sitzung der Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg am 28. März 1946 wurde auch das Gesuch um Weiterverwendung im Schuldienst von Gisela Beclin, der Frau Valentin Beclins, erörtert. Sie war seit Mai 1938 Mitglied der NSDAP, der NSF, NSV und weiterer Verbände gewesen. Bereits im September 1945 war Gisela Beclin erstmals enthoben, aber mit 6. März 1946 wieder als Lehrerin an der Volksschule Wies angestellt worden.55 In ihrem Fall gab die Bezirksberatungskommission keine Empfehlung ab, sondern vertagte die Entscheidung zwecks Einholung weiterer politischer Gutachten auf eine der nächsten Sitzungen.56 Aufgrund des Fehlens einer positiven Stellungnahme seitens der Bezirksberatungskommission und einer im Personalakt einliegenden ungünstigen politischen Beurteilung des Bezirksschulinspektors („Nach 1938 war sie bestimmt begeisterte Anhängerin der Nazipartei“ […]. „Sie soll bis zum
50 Protokoll über die Sitzung der Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg, 28. 3. 1946, StLA BH Deutschlandsberg, Vst. N 2-27/1946 (Kt. 369). 51 Vgl. etwa die Eingabe des Landesschulrats an das H.Q. Military Government, Zl. LSchR Be 68– 8/1946, Graz 20. 5. 1946, StLA LSchRn VII Be 68. 52 Allied Commission for Austria. 53 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Be 68-13/1946, Graz 16. 12. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 4, H. 27, BlZl. 22. 54 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Be 68-16/1947, Graz 6. 3. 1947, ebd., BlZl. 23. 55 BSR Deutschlandsberg, Zl. B 12-1/1946, 5. 3. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg; Kt. 4, H. 26, BZl. 51. 56 Protokoll über die Sitzung der Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg, 28. 3. 1946, StLA BH Deutschlandsberg, Vst. N 2-27/1946 (Kt. 369).
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Abb. 6: Konzept des Weiterbelassungsgesuchs für Valentin Beclin (StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 4, H. 27, BlZl. 19).
Schluss sehr interessiert gewesen sein“57) wurde Gisela Beclin am 15. Juni 1946 auf Weisung der Britischen Militärregierung entlassen und auch tatsächlich außer Dienst gestellt.58 Bei der Sitzung der Bezirksberatungskommission am 12. September 1946 wurde ihr Fall erneut vertagt, obwohl der Landesschulrat ihre Wiedereinstellung „mit Bewährungsfrist“ beantragt hatte.59 Ihr Fall sollte sich noch länger hinziehen. Johann Höfers Gesuch um Weiterbelassung im Schuldienst wurde von der Bezirksberatungskommission in der Sitzung am 4. April 1946 behandelt. Verlesen wurde nicht nur seine Eingabe an den Landesschulrat, sondern auch ein für ihn überaus günstiger Bericht des Bezirksschulrates Deutschlandsberg. Die Beratungskommission sah sich jedoch nicht in der Lage, zum Fall Höfer eindeutig Stellung zu beziehen und vertagte die Verhandlung. Es sollten zuerst noch weitere politische Gutachten „der drei demokratischen Parteien“ eingeholt werden.60 57 Beurteilungsblatt über Gisela Beclin, o. O. u. o. D., StLA BSchR Deutschlandsberg, Kt. 4, H. 26, BlZl. 62. 58 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Be 73-9/1946, Graz 15. 6. 1946, ebd., BlZl. 54. 59 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Be 73-12/1946, Graz 8. 8. 1946, StLA L.Reg. LAD Reg. Landesberatungskomitee Kom. B 79/1946 (Kt. 27). 60 Protokoll über die Sitzung der Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg, 4. 4. 1946, StLA BH Deutschlandsberg, VSt. 1945–1948, H. „Bezirksberatungskommissionen“ (Kt. 371).
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Abb. 7: Gisela Beclin (StLA BH Deutschlandsberg, 14/I Be 23-1/1955).
Wie bei Gisela Beclin war die zögernde Haltung der Bezirksberatungskommission und nicht zuletzt auch der bekannte Vorwurf der ÖVP-Bezirksleitung Deutschlandsberg, Höfer würde durch Bezirksschulinspektor Dittrich aus politischen Gründen protegiert, ausschlaggebend dafür, dass der Lehrer mit 11. April 1946 „bis zum Abschluss des […] eingeleiteten Überprüfungsverfahrens“ außer Dienst gestellt wurde.61 Nach zwei weiteren Vertagungen gewann die Bezirksberatungskommission in der Sitzung vom 12. September 1946 Klarheit über den Fall Johann Höfer. Sie beschloss einstimmig, die Wiedereinstellung Höfers bei gleichzeitiger Versetzung in einen anderen Schulbezirk zu empfehlen. Auf die Versetzung hatte die ÖVP-Bezirksleitung Deutschlandsberg in ihrem Gutachten bestanden. Die Bezirksleitung der SPÖ befürwortete indes eine Wiedereinstellung ohne Auflagen, da Höfer „sich voll und ganz zur Demokratie und zum österreichischen Staat im positiven Sinne“ bekennen würde.62 Der Empfehlung der Bezirksberatungskommission – diese Kommission war bekanntlich nicht berechtigt, eigenmächtig verbindliche Entscheidungen zu treffen – wurde seitens der britischen Besatzungsmacht allerdings nicht entsprochen. Maßgebend hierbei war wohl der Umstand, dass sich der Landesschulrat gegen eine Wiedereinstellung Höfers ausgesprochen hatte. In der konstituierenden Sitzung des Steiermärkischen Landesschulrats am 18. April 1946 wurde beschlossen, dass – wie vom Wahlsieger ÖVP auch mehrmals öffentlich gefordert63 – „jeder der beiden grössten Parteien die Schulbezirke zu61 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Ho 29-4/1946, Graz 1. 4. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg, Kt. 25, H. 190, BlZl. 35. 62 Protokoll über die Sitzung der Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg, 4. 4. 1946, StLA BH Deutschlandsberg, VSt. 1945–1948, H. „Bezirksberatungskommissionen“ (Kt. 371). 63 Vgl. etwa Forderung nach demokratischer Zusammensetzung der Schulbehörden (Einschaltung der ÖVP-Bezirksleitung Deutschlandsberg), Weststeirische Rundschau, 23. 3. 1946, 5. – Beer (Briten und das Schul- und Bildungswesen, 175) schreibt in diesem Zusammenhang:
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fallen, in denen sie bei den letzten Wahlen am 25. 11. 1945 die Mehrheit erhalten haben.“64 Für den Bezirk Deutschlandsberg bedeutete dies, dass Bezirksschulinspektor Paul Dittrich abgesetzt und durch einen Parteigänger der ÖVP abgelöst werden würde. Mit Schreiben des Steiermärkischen Landesschulrates vom 23. April 1946 wurde Dittrich dann auch bekannt gegeben, dass seine Tätigkeit als Bezirksschulinspektor beendet sei und der Direktor der Mädchenhauptschule Köflach, Alfred Strachwitz,65 ihm in diesem Amt nachfolge. Gleichzeitig wurde Dittrich für seine „mühevolle und aufopfernde Tätigkeit in der schweren Zeit seit dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes der Dank und die Anerkennung“ ausgesprochen.66 – Vor diesem Hintergrund erscheint es unwahrscheinlich, dass die Beschwerdeschrift der ÖVP-Bezirksleitung Deutschlandsberg an den Landesschulrat Ende Jänner 1946 ausschlaggebend für die Neubestellung des Bezirksschulinspektors war. Dittrich selbst schrieb darüber im August 1946 in seinem Lebenslauf: „Ich […] mußte leider […] auf Grund einer Parteienvereinbarung aus meinem Amte scheiden, zu dem ich mich selbst gut vorgebildet glaube.“67 Mit Alfred Strachwitz war jedenfalls eine eher zurückhaltend agierende Persönlichkeit zum neuen Bezirksschulinspektor ernannt worden. Für Paul Dittrich wiederum waren diese Tage noch aus einem anderen Grund ereignisreich: Am 28. April wurde der Gemeinderat Deutschlandsberg umgebildet und Dittrich zum neuen Bürgermeister der Stadt gewählt.68 Über die erste Phase der systematischen Entnazifizierung liegt eine durchaus nicht unkritische Einschätzung von britischer Seite vor. G. O. Edwin Eddy, der seit Juli 1947 als Nachfolger von James R. Hands als Vertreter der Education Branch an den Sitzungen des Steiermärkischen Landesschulrates teilnahm, äußerte sich am 17. September 1947 dazu wie folgt: „Die Denazifizierungsmassnahmen waren auf allgemeinen Prinzipien gegründet und waren daher nicht immer angetan, individuellen Fällen gerecht zu werden. Jedoch war es in allen Fällen, welche ein Gefühl einer Ungerechtigkeit von seiten der britischen
64 65 66 67 68
„Im Jänner 1946 wandte sich [J. R.] Hands in einem Schreiben an Landeshauptmann Anton Pirchegger, um gegen die vehementen Bemühungen der ÖVP zu protestieren, nach den gewonnenen Landtagswahlen vom November 1945 bestimmte Positionen in der steirischen Bildungshierarchie durch eigene Leute zu besetzen.“ Landeshauptmann Anton Pirchegger in der konstituierenden Sitzung des Stmk. Landesschulrats, StLA LSchRn Sitzungsprotokolle des Landesschulrats, 18. 4. 1946, 4. Zu Strachwitz’ Biografie vgl. Feierlicher Abschied von Bezirksschulinspektor Strachwitz, Weststeirische Rundschau, 18. 12. 1954, 4. Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Allg. B 3-7/1946, Graz 23. 4. 1946, StLA LSchRn VII Di 7, H. 1, OZl. 6. „Mein Lebenslauf“, Deutschlandsberg 1. 8. 1946, StLA LSchRn VII Di 7, HA, BlZl. 22. Vgl. Karl Schabes, Bürgermeisterwahl in Deutschlandsberg, Weststeirische Rundschau, 4. 5. 1946, 3–4. Zu Dittrich vgl. auch Gerhard Fischer, Historische Jubiläumsbroschüre: 100 Jahre Stadt Deutschlandsberg 1918–2018 (Teil 2). Deutschlandsberg 2018, 12.
Markus Roschitz, Die Entnazifizierung der Lehrerschaft
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Behörden hochkommen liessen, möglich, gegen die Entscheidung Einspruch zu erheben und in der Regel wurde dann die Erlaubnis für eine Wiedereinstellung seitens der brit[ischen] Behörden gegeben.“69
Ein solcher, dem individuellen Fall nicht gerecht werdender Fall war sicher jener von Maria Kandolini. Mit Wirksamkeit vom 9. Februar 1946 wurde sie über Auftrag der Britischen Militärregierung überraschend vom Schuldienst enthoben, obwohl sie nachweislich niemals Mitglied der NSDAP gewesen war. Ausschlaggebend für diese Entscheidung dürften ihre Angaben im Personal Questionnaire gewesen sein: Nach ihrer Wiederindienstnahme als Vertragslehrerin im Oktober 1939 war sie nach Ansicht der Briten wohl einer zu großen Anzahl von Verbänden – der NSV, dem DFW, VDA, NSLB und DRK – beigetreten. Immerhin durfte Maria Kandolini mit Zustimmung der Militärregierung vorerst weiterhin im Schuldienst verbleiben.70 Die Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg befasste sich in der Sitzung vom 4. April 1946 mit Kandolinis Einspruch gegen ihre Enthebung. Die Kommission beschloss einstimmig, der Britischen Militärregierung die Wiedereinstellung Kandolinis in den Schuldienst zu empfehlen und zwar aus folgenden Gründen: „Sie ist ein guter Mensch, weich, trat daher vielen Organisationen bei. An Politik dachte sie dabei überhaupt nicht. […] Es wäre ungerecht, wenn sie, die von den Nazi Gemassregelte nun für das bestraft würde, was sie unter dem Naziregime an Last aufgeladen bekam.“71 Trotz dieser für sie günstigen Stellungnahme und mehrerer beigebrachter Befürwortungsschreiben „aus den Kreisen der Bevölkerung“ ging Maria Kandolini Ende Juli 1946 ein Schreiben des Landesschulrats zu, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie über Auftrag der Britischen Militärregierung mit Ablauf des Schuljahres 1945/46 (das war der 30. August 1946) entlassen und ihre Bezüge mit diesem Datum eingestellt würden.72 Mit Zuschrift des Bezirksschulrats Deutschlandsberg vom 10. September 1946 – sie war für zehn Tage tatsächlich außer Dienst gestanden – wurde Maria Kandolini eröffnet, dass sie, weil sie „bis zum Schulschluss Dienst machen durfte“, bis zur endgültigen Entscheidung ihres Einspruchs vorläufig wieder als Lehrerin in Verwendung genommen werde.73 Nachdem auch das Landesberatungskomitee ihre Wieder-
69 Mr. Eddy in der 14. Sitzung des Stmk. Landesschulrats, StLA LSchRn Sitzungsprotokolle des Landesschulrats, 17. 9. 1947, 6. 70 BSR Deutschlandsberg, Zl. K 34-3/1946, 9. 7. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg PA, Kt. 31, H. 230, BlZl. 23. 71 Protokoll über die Sitzung der Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg, 4. 4. 1946, StLA BH Deutschlandsberg, VSt. 1945–1948, H. „Bezirksberatungskommissionen“ (Kt. 371). 72 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Ka 79-9/1946, Graz 30. 7. 1946, StLA LSchRn VII Ka 79, OZl. 9. 73 BSR Deutschlandsberg, Zl. K 34-8/1946, 10. 9. 1946, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 31, H. 230, BlZl. 28.
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Abb. 8: Maria Kandolini (StLA BH Deutschlandsberg, 14/I Ka 10-1/1950).
einstellung befürwortet hatte,74 bestätigte die britische Behörde (Education Branch) im Jänner 1947 Maria Kandolini in ihrer Stellung als Lehrerin.75 Diese bei „Zweifelsfällen“ angewandte Enthebungs- und Wiederverwendungspraxis nannte Franz Kleindienst in der Chronik der Volksschule Steyeregg „grotesk“76 – damit dürfte er die Haltung eines nicht unbeträchtlichen Teils der betroffenen Lehrerinnen und Lehrer zu dieser Frage getroffen haben.
4.
Das Nationalsozialistengesetz 1947
Ein wesentlich veränderter Umgang in der Entnazifizierung im Allgemeinen wie auch in der Entnazifizierung der Lehrerschaft im Besonderen setzte nach dem Erlass des Bundesverfassungsgesetzes vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten („Nationalsozialistengesetz“) ein.77 Mit diesem Gesetz wurde das Ziel verfolgt, der „großen Masse der persönlich unbelasteten Mitläufer die Rückkehr in die Gemeinschaft des demokratisch organisierten und freien österreichischen Volkes zu ermöglichen“.78
74 LH Steiermark, Landesberatungskomitee, Zl. LAD Kom. K 1-50/1946, Graz 17. 10. 1946, StLA LSchRn VII Ka 79, OZl. 16. 75 Stmk. Landesschulrat, Zl. LSchR Ka 79-19/1947, Graz 24. 1. 1947, StLA LSchRn VII Ka 79, OZl. 19. 76 Schulchronik Steyeregg, Band 2, Oktober 1947. 77 BGBl. 8/1947, 277. 78 Leopold Werner (Hg.), Nationalsozialistengesetz und Verbotsgesetz 1947. Textausgabe mit einleitenden und grundsätzlichen Bemerkungen. Wien 1947, 4. – Werner war Sektionsrat im Bundeskanzleramt.
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Die zentrale Neuerung in der Entnazifizierungsfrage betraf die Einstufung der ehemaligen Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten nach dem Grad ihrer Belastung: Es wurde nunmehr unterschieden zwischen Kriegsverbrechern, Belasteten und Minderbelasteten. Für die Behandlung der Kriegsverbrecher war nach wie vor das 1945 erlassene Kriegsverbrechergesetz79 maßgebend. Als „belastet“ galten darüber hinaus: die nach dem Verbotsgesetz 1947 rechtskräftig verurteilten „Illegalen“, die Träger bestimmter höherer Funktionen in der NSDAP (politische Leiter vom Zellenleiter oder Gleichgestellten aufwärts), Angehörige der SA, des NSKK und des NSFK, die jemals Führer vom Untersturmführer oder Gleichgestellten aufwärts waren, Angehörige der SS, die Träger bestimmter Ehrenzeichen (wie dem Blutorden oder des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP) und jene, die nach den sonstigen Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes in den Kreis der „Belasteten“ fielen. Alle übrigen der Registrierungspflicht unterliegenden Personen galten als „minderbelastet“.80 Es ist bemerkenswert, dass der Steiermärkische Landesschulrat das Nationalsozialistengesetz und dessen Handhabung im Schulwesen erst in der Sitzung am 4. Juni 1947 ausführlich diskutierte. Die Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg hatte ihre Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Monaten eingestellt.81 Der Referent für die administrativen Angelegenheiten beim Landesschulrat, Dr. Franz Mußger, erklärte in jener Sitzung vom 4. Juni, dass „belastete“ Lehrer und Lehrerinnen nunmehr „kraft Gesetzes zu entlassen“ seien. Dieser Personenkreis habe auch keinen Anspruch auf einen Ruhegenuss oder eine Abfertigung, nur in Fällen äußerster Not könne ein Unterhaltsbeitrag von höchstens 80 Schilling pro Monat gewährt werden. Die „minderbelasteten“ Lehrkräfte könnten nun grundsätzlich wieder in den Personalstand aufgenommen werden. Vorher müsse allerdings der Personalausschuss oder die Personalvertretung eine positive Stellungnahme abgeben und auch das Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Unterricht und dem Bundeskanzleramt sei herzustellen.82 Nach dem Nationalsozialistengesetz war es möglich, dass auch „Illegale“ als „minderbelastet“ klassifiziert wurden, sofern sie deshalb nach 1945 nicht gerichtlich verurteilt worden waren.83 Die wegen ihrer illegalen NSLB-Mitgliedschaft (rückwirkend) mit 6. Juni 1945 entlassene Lehrerin Erna Aflenzer in 79 StGBl. 10/1945, 55–57. 80 Vgl. Werner, Nationalsozialistengesetz, 19–20 und 100. 81 Die letzte Sitzung wurde am 3. April 1947 abgehalten. Vgl. Protokoll über die Sitzung der Bezirksberatungskommission Deutschlandsberg, 3. 4. 1947, StLA BH Deutschlandsberg, VSt. 1945–1948, H. „Bezirksberatungskommissionen“ (Kt. 371). 82 Bericht von HR Dr. Franz Mußger, StLA LSchRn Sitzungsprotokolle des Landesschulrats, 4. 6. 1947, 11–12. 83 Vgl. Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, 101–102.
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Steyeregg beispielsweise richtete am 15. Mai 1947 ein schriftliches Gesuch an den Landesschulrat, in dem sie um die Behandlung ihres „Falles nach dem Nationalsozialistengesetz und um eine mögliche Wiederverwendung im Schuldienst“ bat.84 Beifügen konnte sie eine gemeinsam von der Lokalorganisation der ÖVP, SPÖ und der Gemeinde Limberg angefertigte „Politische Beurteilung“, in der sie als „besonders Minderbelastete“ und „stets nur als Parteiabzeichen-Trägerin“ bezeichnet wurde. Außerdem sei sie eine „besonders tüchtige Lehrerin“ gewesen und in „der hiesigen Bevölkerung sehr beliebt“.85 Am 3. Juli 1947 wurde Aflenzer von der Personalvertretung im Bezirksschulrat – federführend war hier Bezirksschulinspektor Alfred Strachwitz – erneut auf ihre politische Vergangenheit hin überprüft, wobei die beigebrachten Befürwortungsschreiben mit Sicherheit die Linie vorgaben: Da Aflenzer „politisch einwandfrei“ sei und auch eine Amtsbescheinigung der Verwaltungsbehörde, dass sie als „minderbelastet“ registriert sei,86 vorlegen konnte, befürwortete die Personalvertretung ihre Wiedereinstellung einstimmig.87 Gegen Erna Aflenzer war allerdings bereits im Sommer 1945 wegen des Verdachts, sie sei illegales Mitglied der NSDAP gewesen, ein Verfahren des Landesgerichts für Strafsachen Graz anhängig.88 Erst nach Einlangen der Mitteilung des Gerichts, dass das Verfahren Anfang Dezember 1947 eingestellt wurde, nahm der Landesschulrat Aflenzer mit 1. Jänner 1948 wieder an der Volksschule Steyeregg in den Dienst.89 Für Johann Höfer bedeuteten die Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes indes, dass er als ehemaliger Zellenleiter der NSDAP – obwohl nicht „illegal“ – als „belastet“ eingestuft wurde. Der Landesschulrat informierte ihn deshalb im Juni 1947 darüber, dass er aus dem „öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis von Gesetzes wegen mit 18. Feber 1947 entlassen“ sei und auch keinen Anspruch auf einen Versorgungsgenuss habe.90 In der Folge gingen Höfers Bemühungen dahin, als „Minderbelasteter“ anerkannt zu werden. Er machte geltend, dass er nicht ernannter Zellenleiter der NSDAP gewesen, sondern nur 84 Erna Aflenzer an den Steiermärkischen Landesschulrat, Steyeregg 15. 5. 1947, StLA LSchRn VII Ae 5, H. 1, OZl. 9. 85 Politische Beurteilung über Erna Aflenzer, o. Zl., Wies und Steyeregg 23. 5. 1947, ebd. 86 BH Deutschlandsberg, Zl. 20 A 16-1/1947, 4. 7. 1947, ebd. Vgl. auch den Registrierungsakt StLA BH Deutschlandsberg, 14/II Registrierungen der Gemeinde Limberg, Aflenzer Erna *16. 7. 1911 (Kt. 387). 87 Stellungnahme der Personalvertretung am Sitze des Bezirksschulrates, o. Zl., Deutschlandsberg Juli 1947, StLA LSchRn VII Ae 5, H. 1, OZl. 28. 88 Der Sicherheitsdirektor für Steiermark Zl. 1641-1/1946, Graz 29. 5. 1946, StLA LGS Graz, 17 Vr 5285/1947, BlZl. 9. 89 BSR Deutschlandsberg, Zl. 17 A 5-1/1948, 20. 1. 1948, StLA LSchRn VII Ae 5, H. 1, OZl. 16. 90 Stmk. Landesschulrat, Zl. VII Ho 29 11-1947, Graz 10. 6. 1947, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 25, H. 190, BlZl. 69.
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vertretungsweise „mit der Wahrung der Geschäfte betraut“91 worden sei – mit Erfolg. Die BH Deutschlandsberg stellte Höfer am 3. November 1947 eine Bescheinigung aus, mit der er rechtskräftig als „minderbelastet“ anerkannt wurde.92 Nachdem die Personalvertretung im Bezirksschulrat bereits im Juli 1947 Höfers Wiedereinstellung einstimmig befürwortet hatte,93 wurde er vom Landesschulrat mit 30. März 1948 wieder der Knabenvolksschule Deutschlandsberg zur Dienstleistung zugewiesen.94 Gisela Beclin in Wies wurde am 28. Juni 1947 behördlich bescheinigt, dass sie nach den Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes als „minderbelastet“ zu betrachten sei.95 Obwohl die Personalvertretung Beclins Wiedereinstellung in den Schuldienst einstimmig befürwortet hatte, informierte sie der Landesschulrat im November 1947 darüber, dass ihre „Übernahme in den neuen Personalstand […] nicht in Aussicht genommen“ sei.96 Der Landesschulrat stand trotz des immer noch bestehenden Lehrermangels nämlich auf dem Standpunkt, dass bei „Lehrerehepaaren, wo beide Teile minderbelastet sind, […] jedenfalls der eine Teil aus dem Lehrberuf auszuscheiden“ hätte.97 Gisela Beclin musste also zugunsten des anderen Teils, Valentin Beclin, auf ihre Wiedereinsetzung verzichten. Mit dem Inkrafttreten des Nationalsozialistengesetzes im Februar 1947 war die Entnazifizierung fast vollständig auf die österreichischen Behörden übergegangen. Dass die Education Branch für Steiermark im Oktober 1947 aufgelöst wurde, kann mit Siegfried Beer durchaus als „natürliche Konsequenz der britischen Besatzungspolitik im Schul- und Bildungsbereich“ verstanden werden.98
91 Die NSDAP-Gauleitung Steiermark unterschied tatsächlich zwischen ernannten und nur kommissarisch berufenen Funktionären: „Da es eine Selbstverständlichkeit ist, daß die zur Wehrmacht einberufenen Parteigenossen nach Kriegsende wieder in ihrem Amt eingesetzt werden, können ihre jetzigen Vertreter für die Dauer des Krieges lediglich mit der Wahrnehmung der Geschäfte des betreffenden Amtes beauftragt werden“. Vgl. Befehlsblatt des Gaues Steiermark der NSDAP, Folge 6/1940, 360. 92 BH Deutschlandsberg, o. Zl., 3. 11. 1947 (Abschrift), StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 25, H. 190, BlZl. 87. 93 Stellungnahme der Personalvertretung am Sitze des Bezirksschulrates, o. Zl., Deutschlandsberg Juni 1947, StLA LSchRn VII Ho 29, H. 1, OZl. 34. 94 BSR Deutschlandsberg, H. 16-1/1948, 9. 4. 1948, ebd., OZl. 32. 95 BH Deutschlandsberg, Zl. 20. Be 10-1/1947, 28. 6. 1947, StLA BSchR Deutschlandsberg, Kt. 4, H. 26, BlZl. 63. 96 Stmk. Landesschulrat, Zl. VII Be 73-16/1947, Graz 22. 11. 1947, ebd., BlZl. 65. 97 LSI Teufert in der 14. Sitzung des Stmk. Landesschulrats, StLA LSchRn Sitzungsprotokolle des Landesschulrats, 17. 9. 1947, 4. 98 Beer, Briten und das steirische Schulwesen, 461.
202
5.
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Das Amnestiegesetz 1948 und der Abschluss der Entnazifizierung
Im Frühjahr 1948 beschloss das österreichische Parlament mit Zustimmung des Alliierten Rates das „Bundesgesetz über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für minderbelastete Personen“, das auch als „Amnestiegesetz 1948“ bekannt wurde.99 Von diesem Gesetz, mit dem die bisher geltenden Berufsbeschränkungen und die Kürzung der Ruheund Versorgungsgenüsse außer Kraft gesetzt wurden, waren mehr als 90 % der registrierten Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen bzw. rund 490.000 Personen betroffen.100 Am 12. September 1948 richtete etwa Gisela Beclin an den Steiermärkischen Landesschulrat ein Gesuch um Wiedereinstellung in den Lehrdienst. Sie führte darin vor allem wirtschaftliche Gesichtspunkte ins Treffen, denn das Gehalt ihres Mannes würde auf Dauer nicht für den Erhalt einer mehrköpfigen Familie reichen.101 Noch im selben Monat beschloss der Landesschulrat, die als „minderbelastet“ eingestufte Gisela Beclin mit 1. Oktober 1948 wieder in den Schuldienst zu übernehmen. Ihre Dienstunterbrechung hatte vom 1. Juli 1946 bis zum 30. September 1948 gedauert.102 Für die als „belastet“ eingestuften Lehrer und Lehrerinnen änderte sich durch den Erlass des Amnestiegesetzes 1948 nichts. Die meisten von ihnen sahen sich gezwungen, in außerschulischen Berufen den Lebensunterhalt zu verdienen. Der gerichtlich rechtskräftig verurteilte ehemalige Lehrer Johann Wippel103 beispielsweise kam nach seiner Haftentlassung im Juli 1947 im Kohlenbergbau Köflach unter, danach arbeitete er in der Landwirtschaft seines Bruders.104 Doch auch dieser Personenkreis konnte sich mit Geduld und einer aktiven Vorgangsweise Hoffnungen machen, wieder im Schuldienst Verwendung zu finden. Eine Möglichkeit bestand darin, die Neueinstufung hinsichtlich des Belastungsgrades zu betreiben. Johann Wippel stellte etwa im September 1949 beim Volksgericht Graz den Antrag, das gegen ihn anhängig gewesene Strafverfahren wieder aufzunehmen, da neue Zeugen (übrigens allesamt ehemalige Funktionäre der NSDAP) bestätigen könnten, dass er, anders als im Urteil angenommen, 99 BGBl. 22/1948, 449. 100 NS-Amnestie in Kraft getreten. Minderbelastete – keine Staatsbürger zweiter Ordnung mehr!, Weststeirische Rundschau, 12. 6. 1948, 1; Polaschek, Entnazifizierung, 423. 101 Gisela Beclin an den Landesschulrat, Wies 12. 9. 1948, StLA LSchRn VII Be 73. 102 Stmk. Landesschulrat, Zl. VII Be 73-20/1948, StLA BSchR Deutschlandsberg, PA Kt. 4, H. 26, BlZl. 68. 103 Zu Wippel vgl. Roschitz, Lehrerschaft in der Provinz, besonders 144 und 146. 104 Johann Wippel an den Stmk. Landesschulrat, Eibiswald 7. 3. 1950, StLA LSchRn VII Wi 63, H. 1, OZl. 9.
Markus Roschitz, Die Entnazifizierung der Lehrerschaft
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Abb. 9: Johann Wippel (ÖStA/AdR MilEv WStB-Reihe Wippel Johann *14. 12. 1909, Beilage vorne).
niemals ernannter NS-Ortsgruppenleiter und auch niemals SA-Sturmführer gewesen sei. Nachdem sich die Staatsanwaltschaft Graz diesem Begehren nicht entgegenstellte und die Zeugen erwartungsgemäß ausgesagt hatten, hob das Volksgericht das Urteil gegen Wippel in den wesentlichen Teilen auf.105 Die Landesamtsdirektion stellte in der Folge einen Bescheid aus, nach dem Johann Wippel nunmehr als „Minderbelasteter“ klassifiziert wurde.106 Da die Personalvertretung beim Bezirksschulrat Deutschlandsberg Wippels Wiedereinstellung „wärmstens befürwortete“, wies ihn der Landesschulrat mit 29. April 1950 der Mädchen-Volksschule Eibiswald zur Dienstleistung zu.107 Ein zweiter Weg zur möglichen Wiederverwendung im Schuldienst führte über den Bundespräsidenten, der die Aufhebung der Berufsbeschränkung individuell verfügen konnte. Voraussetzung hierfür war ein Antrag an das Staatsoberhaupt um die Ausnahme von den Sühnefolgen nach dem Verbotsgesetz 1947. Einen solchen Antrag stellte am 10. Juli 1951 der vor 1945 an den Volksschulen in St. Martin im Sulmtal und Schwanberg tätig gewesene und nunmehr in Gleisdorf wohnhafte ehemalige Lehrer Walter Stark. Vom Volksgericht Graz war Stark 1947 wegen seiner illegalen Tätigkeit in der NSDAP und der hohen Stellung in der SA (ernannter Standartenführer) zu zwei Jahren schweren Kerkers verurteilt worden.108 Dem Antrag an den Bundespräsidenten konnte Stark zahlreiche Bestätigungen und günstige Beurteilungen beifügen. Der Bürgermeister von St. Martin im Sulmtal beschrieb ihn etwa als „allgemein beliebt u[nd] geachtet“ und als 105 Beschluss des LGS Graz, 6. 12. 1949, StLA LGS Graz, Vg 1 Vr 6217/1947, BlZl. 111. 106 Amt der Stmk. Landesregierung, Zl. LAD Reg.Ein. 2 W 5-10/1948, Graz 24. 2. 1950 (Abschrift), StLA LSchRn VII Wi 63, H. 1, OZl. 9. 107 BSR Deutschlandsberg, Zl. W 16-2/1950, 29. 4. 1950, StLA LSchRn VII Wi 63, H. 1, OZl. 13. 108 Vgl. das Urteil, Graz 8. Oktober 1947, StLA LGS Graz, Vg 1 Vr 3213/1947, BlZl. 95–97.
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einen „jener Nationalsozialisten, deren Verhalten weder gegen die Menschlichkeit verstieß, noch öffentliches Ärgernis erregte“.109 Nach Prüfung der Unterlagen genehmigte Bundespräsident Theodor Körner mit Entschließung vom 19. März 1952 antragsgemäß die Ausnahme von den Sühnefolgen für Walter Stark.110 Im Juni 1952 beschloss der Landesschulrat nach Anhörung der Personalvertretung der Sektion Pflichtschullehrer, Stark „auf Grund seiner fachlichen Fähigkeiten und seiner taktvollen Einstellung gegenüber Andersgesinnten während der NSZeit“ wieder in den Schuldienst aufzunehmen.111 Am 1. Oktober 1952 konnte Walter Stark schließlich den Dienst in der Knaben-Volksschule Gleisdorf antreten.112
Abb. 10: Walter Stark (ÖStA/AdR MilEv PA Stark Walter *7. 6. 1911, B 1).
Selbst jene als „belastet“ geltenden ehemaligen Lehrerinnen und Lehrer, die nicht mehr im dienstfähigen Alter waren oder eine Wiederverwendung im Schuldienst gar nicht anstrebten, konnten in den 1950er-Jahren auf die Zuerkennung eines der abgeleisteten Dienstzeit entsprechenden Ruhegenusses hoffen. Spätestens mit der im März 1957 erlassenen generellen NS-Amnestie und dem formellen Ende der Entnazifizierung wurden auch diese Hoffnungen erfüllt.113
109 Vgl. die „Beurteilung!“ des Gemeindeamtes St. Martin im Sulmtal, 17. 9. 1947, StLA LSchRn VII Sta 115, H. 1, OZl. 5. 110 Bescheinigung des BMI, Sekretariat des Staatssekretärs, o. Zl. Wien 28. 3. 1952, ebd. 111 Stmk. Landesschulrat, Zl. VII Sta 115-5/1951, Graz 7. 6. 1951, ebd. 112 BSR Weiz, Zl. St. 51-1/1952, 29. 9. 1952, StLA LSchRn VII Sta 115, H. 1, OZl. 8. 113 Als Beispiel sei hier nur die nach dem Kriegsverbrechergesetz zu fünf Jahren schweren Kerkers verurteilte Lehrerin Bertha Schimpel aus Pölfing-Brunn angeführt, der vom 1. November 1956 angefangen ein Ruhegenuss von über 1000 Schilling ausbezahlt wurde. Vgl. Stmk. Landesschulrat, Zl. VII Schi 67-40/1957, StLA LSchRn VII Schi 67, H. 1, OZl. 40.
Markus Roschitz, Die Entnazifizierung der Lehrerschaft
6.
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Fazit
Die in mehreren Phasen abgewickelte Entnazifizierung der Lehrerschaft ist in bürokratisch-administrativer Hinsicht, solange ein strenger Maßstab angelegt wurde, alles in allem erfolgreich vollzogen worden, obwohl die gesetzten Maßnahmen von vielen Betroffenen als umständlich und oftmals wohl auch als ungerecht empfunden wurden. Wie in vorliegendem Aufsatz am Beispiel der Südweststeiermark gezeigt werden konnte, verkleinerte sich der zunächst beträchtliche Handlungsspielraum des vom Bezirksschulinspektor dominierten Bezirksschulrates nach der Besetzung der Steiermark durch die Briten und der immer systematischer betriebenen Entnazifizierung zusehends. Eindeutige Fälle von „Illegalität“ oder einer sonstigen besonderen politischen Belastung, die nach der sinngemäßen Anwendung des Verbotsgesetzes zu entlassen waren, gab es nur in einer verhältnismäßig geringen Zahl. Der Anteil der sogenannten „Zweifelsfälle“, bei denen erst entschieden werden sollte, ob sie im Schuldienst (weiterhin) tragbar erschienen oder nicht, war wesentlich größer. Den britischen Entscheidungsträgern bot sich hier ein überaus komplexes Bild. Mit der Einrichtung der Bezirksberatungskommission und des Landesberatungskomitees wurden nicht nur Gremien geschaffen, die den Briten eine Entscheidungsgrundlage bei Personalfragen in Form von Empfehlungen bereitstellte, sondern auch den parteipolitisch motivierten Streitigkeiten über Schulfragen auf Orts- und Bezirksebene die Grundlage entziehen sollten – nicht immer mit Erfolg. Dem 1947 erlassenen Nationalsozialistengesetz lag das Bestreben zugrunde, den „Mitläufern“ wieder die Ausübung ihres Berufes zu ermöglichen. Auch sollte die komplizierte und unübersichtliche Entnazifizierungspraxis durch eine einfachere ersetzt werden. Bei der größtenteils ohne britische Oberaufsicht vorgenommenen Neueinstufung der registrierungspflichtigen Lehrkräfte in „Belastete“ und „Minderbelastete“ zeigte es sich, dass die hierfür zuständigen Personalvertretungen große Milde walten ließen und der Landesschulrat sich nur in Ausnahmefällen der Wiedereinstellung „minderbelasteter“ Lehrerinnen und Lehrer widersetzte. Nach Inkrafttreten des Amnestiegesetzes 1948 wurden auch diese Ausnahmefälle wieder in den Dienst genommen. Nicht systematisch und zeitlich von Fall zu Fall verschieden, erfolgte in den 1950er-Jahren auch die Reintegration der als „belastet“ geltenden Lehrkräfte in den Schulbetrieb. Die von der Entnazifizierung Betroffenen waren oft über einen längeren Zeitraum vom Dienst enthoben bzw. entlassen oder mit anderen bürokratischen Mitteln sanktioniert worden. Die Dauer der Außerdienststellung war abhängig vom Grad der persönlichen Verstrickung in den Nationalsozialismus. Mit dem faktischen Wegfall der alliierten Kontrolle über die Entnazifizierungsmaßnahmen legte der Steiermärkische Landesschulrat ab dem Ende der 1940er-Jahre bei den noch enthobenen bzw. entlassenen Lehrkräften einen immer wohlwollen-
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deren Umgang an den Tag. Dabei war allerdings das Durchlaufen der geschilderten Entnazifizierungsmaßnahmen die Grundvoraussetzung, um bei Vorliegen der gesetzlichen Bestimmungen die Möglichkeit der Wiedereinstellung überhaupt beanspruchen zu können. Von einer generellen Rückgängigmachung der Entnazifizierung kann also nicht die Rede sein.
7. A.C.A. BH DFW DRK FPÖ NSF NSFK NSKK NSLB NSV ÖVP SPÖ SA VDA VdU
Abkürzungsverzeichnis Allied Commission for Austria Bezirkshauptmannschaft Deutsches Frauenwerk Deutsches Rotes Kreuz Freiheitliche Partei Österreichs NS-Frauenschaft Nationalsozialistisches Fliegerkorps Nationalsozialistisches Kraftfahrerkorps Nationalsozialistischer Lehrerbund Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Österreichische Volkspartei Sozialistische Partei Österreichs Sturmabteilung Verein für Deutschtum im Ausland Verband der Unabhängigen
Lukas Nievoll
„Jüdische“ Zeugenschaft. Aspekte des Umgangs mit Holocaust-Überlebenden am Beispiel des Prozesses gegen Franz Murer 1963 in Graz
1.
Einleitung
2018 ging Efraim Zuroff, der Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, in Interviews mit den Tageszeitungen „Kleine Zeitung“ und „Der Standard“ mit der österreichischen Politik im Umgang mit NS-Verbrechen hart ins Gericht. Als Paradebeispiel nannte er den Fall der ehemaligen KZ-Wärterin Erna Wallisch, die MitarbeiterInnen des Zentrums 2007 in Wien aufspürten: „Diese Frau hat in Majdanek Kinder in die Gaskammern geführt. Als ich mich mit Karin Gastinger, der ehemaligen Justizministerin traf, eröffnete sie mir, Wallisch könne nicht verfolgt werden, weil passive Komplizenschaft bei Völkermord in Österreich nicht geahndet würde. Entschuldigen Sie, aber was für eine Scheisse [sic] ist das denn! Totaler Bullshit. Die Deutschen haben ihre Strafverfolgungspolitik längst geändert. Doch Österreich bleibt untätig. Dabei ist es voller Nazis. Doch in Österreich Kriegsverbrecher zu jagen ist sinnlos, eine reine Zeitverschwendung! Sie landen sowieso nie vor Gericht.“1 Er führte weiter aus, dass es nicht an den Gesetzen selbst läge, sondern dass man in Deutschland einfach im Rahmen des geltenden Strafrechts anders argumentieren würde, was Österreich auch tun könnte.2 Zuroffs Äußerungen sind natürlich auch eine Anspielung auf die historische Entwicklung in Österreich im Umgang mit NS-Kriegsverbrechern. In dieser Hinsicht gab es seit 1975 kein rechtskräftig gesprochenes Urteil mehr.3 Viele Nachkriegsprozesse in Österreich wurden zu Skandalen, weil sich die Geschworenen trotz überaus belastender
1 Vgl. In Österreich Nazis zu jagen, ist sinnlos, Kleine Zeitung, 29. 4. 2018. 2 „Österreich ist der Worst Case“, Der Standard, 3. 5. 2018. URL: https://www.derstandard.at/sto ry/2000079040519/nazi-jaeger-zuroff-oesterreich-ist-der-worst-case (abgerufen 12. 12. 2020). 3 Vgl. Andreas Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch west-deutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008) 4, 621–640, 634.
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Beweislage nicht zu einem Urteil durchringen konnten.4 Doch nicht ausschließlich die Urteile selbst, sondern auch der Umgang mit den BelastungszeugInnen, oftmals Holocaust-Überlebende, wurde in mehreren Prozessen als Skandal angesehen. Dieser Artikel widmet sich einem dieser Prozesse, jenem, der vom 10.–19. Juni 1963 gegen Franz Murer in Graz geführt wurde. Dabei wird danach gefragt, welche rechtlichen Rahmenbedingungen es für NS-KriegsverbrecherInnen in Österreich gab und ob es Versäumnisse von Seiten der österreichischen Politik und Gerichtsbarkeit im Umgang mit NS-Verbrechern gab, die am Prozess gegen Franz Murer sichtbar gemacht werden können. Des Weiteren geht es darum, wie die Zeugenschaft von Holocaust-Überlebenden bei diesem Prozess von verschiedenen Seiten verhandelt wurde und inwieweit sich antisemitische Tendenzen im Umgang mit den ZeugInnen erkennen lassen. Ein Teil beschäftigt sich abschließend mit dem Umstand, dass die Zeugenaussagen vor Gericht zumeist von jüdischen Dolmetschern übersetzt wurden. Ein Aspekt, der bislang in der Untersuchung von NS-Kriegsverbrecherprozessen kaum Beachtung befand.
2.
Franz Murers Vorgeschichte und seine Tätigkeit in der Zivilverwaltung
Um dem Gerichtsprozess 1963 einen historischen Kontext zu geben, bedarf es, Franz Murers Vorgeschichte und sein Arbeitsumfeld, die „Zivilverwaltung“ der Stadt Vilnius, näher zu beleuchten. Beruflich war Murer als Landwirt ausgebildet worden und hatte vor seinem Eintritt in die NSDAP im Mai 1938 auf einigen Bauern- und Gutshöfen gearbeitet.5 Obwohl Murer nie explizit über seine Gründe, warum er der NSDAP beitrat, gesprochen hat, scheint es offensichtlich, dass er an einer Karriere in der Partei interessiert war. So bemühte er sich um einen Platz an einer der drei Ordensburgen, einer Ausbildungsstätte für zu4 Vgl. Bertrand Perz, Österreich, in: Volkhard Knigge/Norbert Frei (Hg.), Verbrechen Erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, 150–162, 153. 5 Vgl. Aussage Franz Murer, 6. Oktober 1971. LGS-Graz-15 Vr 1811/1962. Viele Primärquellen dieses Artikels stammen aus dem Gerichtsakt zum Prozess gegen Franz Murer 1963, der sich im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz befindet. Der Prozessakt trägt die Bezeichnung LGS-Graz-15 Vr 1811/1962. Als ich meine Recherchen zu diesem Thema begann, war der Akt noch nicht systematisch geordnet, weshalb manche Quellen noch Bezeichnungen ohne Angaben von Bänden tragen. Mittlerweile hat aber Frau Mirjam Trost-Mc Gettrick den Akt systematisch nummeriert, so dass die Akten einfacher zu durchsuchen sind. Zur Biographie von Franz Murer vgl. Johannes Sachslehner, Rosen für den Mörder. Die zwei Leben des NSTäters Franz Murer, Wien/Graz/Klagenfurt 2017, 9–39. Das Buch bietet einen guten Überblick über Franz Murers Leben, allerdings sind die Quellenangaben etwas willkürlich gewählt und teilweise intransparent.
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künftiges NSDAP-Führungspersonal.6 Im Dezember 1938 ging Murer als „Ordensjunker“ an die Ordensburg Krössinsee. Dort blieb er bis Juli 1940, um dann als Wehrmachtssoldat am Feldzug gegen Frankreich teilzunehmen. Schließlich wurde er aus Frankreich abkommandiert und dem Sonderstab R. zugeteilt.7 Durch den Sonderstab R. wurde die Schaffung einer „Zivilverwaltung“ in den zu besetzenden Gebieten östlich des Deutschen Reichs vorbereitet und organisiert, wozu man Ordensjunker wie Murer ab Juli 1941 vom Wehrdienst freistellte.8 Anfang August 1941 kam der 29-jährige Steirer Franz Murer in Vilnius an. Offiziell war er Stabsleiter des Gebietskommissars Wilna-Stadt, Hans Hingst, wobei er als sein Stellvertreter und Adjutant agierte.9 In den Aussagen zum Prozess 1963 wird Franz Murer als zentrale Täterfigur im Alltag der unter Zwang im Ghetto lebenden Personen bezeichnet, als jene Person, die über „Tod und Leben im Ghetto“ entschied.10 Das Umfeld, in dem Franz Murer agierte, war von Gewalt geprägt: Bei seiner Ankunft waren bereits alle Voraussetzungen für den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung in Litauen geschaffen worden.11 Die Einsatzgruppe A, eine von vier SS-Einsatzgruppen, führte zusammen mit lokalen KollaborateurInnen und Polizeibataillonen hunderte von „Aktionen“ durch, wie das Erschießen von Jüdinnen und Juden in Städten und Dörfern euphemistisch 6 Vgl. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. 1/Bestandteil. ON 11. In den Ordensburgen sollten zukünftige Führungspersönlichkeiten für die NSDAP ideologisch, erzieherisch und auch physisch ausgebildet werden. In Wahrheit funktionierte das System der Ordensburgen allerdings nie in dem Ausmaß, wie sich das die Nationalsozialisten vorgestellt hatten. Zu den Ordensburgen vgl. Hagen Stöckmann, Gewalträume. Die sog. NS-Ordensburgen und ihre Absolventen zwischen propagandistischer Zurichtung, Politik der Vernichtung und generationeller Vergemeinschaftung, in: Söhnke Grothusen/Vania Morais/Hagen Stöckmann (Hg.), Generation und Raum. Zur symbolischen Ortsbezogenheit generationeller Dynamiken (Göttinger Studien zur Generationenforschung 15), Göttingen 2014, 98–130. 7 Vgl. Aussage Franz Murer, 21. 2. 1962. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 2. ON 119. 8 Vgl. Andreas Zellhuber, „Unsere Verwaltung treibt einer Katastrophe zu…“. Das Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete und die deutsche Besatzungsherrschaft in der Sowjetunion 1941–1945 (Studien zu Politik und Geschichte 3), München/Berlin 2006, 170. 9 Gebietskommissariate waren von den nationalsozialistischen Besatzern eingeführte, administrative Bezirke im Reichskommissariat Ostland. Das Reichskommissariat war der „zivile“ Teil des Besatzungsregimes in Estland, Lettland und Litauen. Der Name Zivilverwaltung ist hierbei definitiv euphemistisch zu deuten, da die Mitarbeiter dieser Instanz, wie Franz Murers Beispiel zeigt, mitschuldig an der Ermordung und Ausbeutung von Jüdinnen und Juden in diesen Gebieten waren. Vgl. David Gaunt/Paul A. Levine, Introduction, in: David Gaunt/Paul Levine/Laura Palosuo (Hg.), Collaboration and Resistance during the Holocaust Belarus, Estonia, Latvia, Lithuania, Bern 2004, 18. 10 Zeugenaussage Abraham Suckewer, 6. 6. 1961. LGS-Graz-15 Vr. 1811/1962. Band 3. ON 170. Für mehrere Beschreibungen Murers vgl. diverse Zeugenaussagen Bände 3–7. Der Begriff GhettobewohnerInnen impliziert, dass die „BewohnerInnen“ nicht freiwillig in von den Nationalsozialisten geplanten „Ghettos“ wohnten, sondern dazu gezwungen wurden. 11 Vgl. Joachim Tauber, 14 Tage im Juni. Zur kollektiven Erinnerung von Litauern und Juden, in: Vincas Bartusevicius/Joachim Tauber/Wolfram Wette (Hg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941, Köln/Weimar/Wien 2003, 40–50, 40.
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von den Nationalsozialisten genannt wurde.12 In Vilnius wurden unter Mithilfe Murers Ende August und Anfang September zwei „jüdische Ghettos“ errichtet, wobei Jüdinnen und Juden allen Alters mit Gewalt und Druck aus ihren Wohnungen getrieben wurden.13 Das kleinere der beiden Ghettos, in das Jüdinnen und Juden, die aus nationalsozialistischer Sicht „nicht arbeitstauglich“ waren, gebracht wurden, wurde im Oktober „geräumt“.14 Die Mehrheit der Jüdinnen und Juden aus dem kleineren Ghetto wurde schließlich in Ponary, einem kleinen Ort außerhalb von Vilnius, erschossen.15
3.
Franz Murer nach 1945: erste und zweite Gerichtsverhandlung
Nach zwei Jahren verließ Franz Murer Vilnius im Sommer 1943, als die SSFührung bereits entschieden hatte, dass alle noch existierenden Ghettos „aufgelöst“ werden sollten.16 Nach einigen Aufenthalten in verschiedenen Wehrmachtseinheiten und einem Offizierskurs kam Franz Murer zum FallschirmArtillerie-Regiment Nr. 4.17 Am Ende des Krieges wurde er in Italien von einer britischen Einheit gefangengenommen, im September 1945 allerdings wieder freigelassen. Franz Murer kehrte schließlich unbehelligt auf den Bauernhof seines Schwiegervaters in Gaishorn zurück. Zwischenzeitlich wurde Franz Murers Name mehrmals bei den Nürnberger Prozessen 1946 erwähnt und auf lokaler Ebene tauchte sein Name ungefähr eineinhalb Jahre nach Kriegsende wieder in Polizeiakten auf.18 Dies war auch das Verdienst Simon Wiesenthals, der die bei
12 Vgl. „Jäger-Bericht.“ LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Zu den Einsatzgruppen vgl. auch Yitzhak Arad/Shmuel Spector/Shmuel Krakowski (Hg.), The Einsatzgruppen Reports. Selections from the Dispatches of the Nazi Death Squads’ Campaign Against the Jews, July 1941–January 1943, New York 1989. 13 Vgl. Urteilsspruch des sowjetischen Militärtribunals LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 1 Bestandteil. ON 11. 14 Vgl. Yitzhak Arad, The Holcoaust in the Soviet Union, Lincoln 2009, 146. 15 Die Mehrzahl der Jüdinnen und Juden aus Vilnius und jene, die dorthin geflüchtet waren, wurden in Ponary ermordet. Vgl. Christina Eckert, Die Mordstätte Paneriai (Ponary) bei Vilnius, in: Bartusevicius/Tauber/Wette, Holocaust in Litauen, 132–144, 136. 16 Vgl. Hans Safrian, Massenmord und Sklaveneinsatz. Nationalsozialistische Besatzungspolitik in Wilna 1941–1943, in: Florian Freund/Franz Ruttner/Hans Safrian (Hg.), Ess firt kejn weg zurik. Geschichte und Lieder des Ghettos von Wilna 1941–1943, Wien 1992, 31–48. 17 Zur Geschichte Murers nach Beendigung seiner Tätigkeiten in Vilnius vgl. Sachslehner, Rosen für den Mörder, 196–201. 18 Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung der Nürnberger Prozesse, zeno.org, 14. August 1946. URL: http://www.zeno.org/Geschichte/M/Der+Nürnberger+Prozeß/Hauptverhandlungen/Z weihundertdritter+Tag.+Mittwoch,+14.+August+1946/Vormittagssitzung (abgerufen 30. 12. 2020).
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ihm eingegangenen Zeugenaussagen an die österreichischen Behörden weiterleitete.19 Viele dieser Aussagen hoben Murers Grausamkeit hervor, mit der die jüdische Bevölkerung in Vilnius täglich konfrontiert war. Nicht unwesentlich war auch, dass im August 1945 ein Displaced Persons-Camp in Admont, unweit von Gaishorn, errichtet wurde. Es war ein Camp primär für jüdische DPs, in dem auch Überlebende aus Vilnius vorübergehend lebten.20 Laut Gerichtsakten wurde Franz Murer am 27. Juni 1947 verhaftet und nach Graz gebracht.21 Ein angestrebtes Verfahren musste allerdings eingestellt werden, da Franz Murer Anfang 1948 an die sowjetischen Behörden übergeben und daraufhin nach Vilnius gebracht wurde.22 Am 29. September 1948 wurde er von einem sowjetischen Militärtribunal unter anderem für seine Rolle bei der Ermordung „jüdisch-sowjetischer“ Bürger, der Errichtung des Ghettos in Vilnius und den Selektionen von „Ghettobewohnern“, die in Ponary erschossen wurden, zu 25 Jahren Straf- bzw. Arbeitslager verurteilt.23 Nach zwei Jahren in einem Gulag-Lager in Workuta und vier Jahren in Asbest kam Franz Murer 1955 nach Abschluss des Staatsvertrags und der darin geregelten Repatriierung von Kriegsgefangenen wieder zurück nach Österreich.24 Noch 1955 beantragte die Staatsanwaltschaft die Einstellung des 1948 eröffneten Verfahrens gegen den ehemaligen Stabsleiter des Gebietskommissars von Vilnius, mit der Begründung, dass dieser schon einen großen Teil seiner auferlegten Haftstrafe abgesessen habe.25 Diese Argumentation ist allerdings mehr als fragwürdig, da sieben Jahre nicht einmal ein Drittel des Strafmaßes waren.
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Franz Murers Name tauchte auch in einem Bericht der United War Crimes Commission als gesuchter Kriegsverbrecher auf. Zu diesem und den frühen Polizeiakten vgl. LGS-Graz-15 Vr1811/1962. Bände 1+2. Simon Wiesenthal gründete 1947 die Jüdische Historische Dokumentation, die es sich zur Aufgabe machte, möglichst viel Material zu gesuchten KriegsverbrecherInnen zu sammeln und an die zuständigen Behörden weiterzuleiten. Zum DP-Camp Admont vgl. Heribert Macher-Kroissenbrunner, We hope to go to Palestine. Das jüdische DP-Lager Admont 1946–1949, Graz 2018. Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 10. ON 370. Zu Franz Murers erster Verhaftung gibt es auch eine Darstellung Simon Wiesenthals, die allerdings zweifelhaft erscheint, da die ersten Zeugenaussagen im Gerichtsakt ein früheres Datum aufweisen als diese. Vgl. Simon Wiesenthal, Doch die Mörder leben, München 1967, 77–100. Vgl. Sachlehner, Rosen für den Mörder, 216. Vgl. Abschrift des Urteils des sowjetischen Militärtribunals. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 1 Bestandteil. ON 11. Vgl. Autobiographischer Brief von Franz Murer, undatiert. Wiener Wiesenthal Institut. VWISWA, Murer, Franz (03–06). Vgl. auch Artikel 18 zu Kriegsgefangenen. Staatsvertrag. BGBI 152/1955, Bundeskanzleramt, URL: https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1955_15 2_0/1955_152_0.pdf (abgerufen 1. 12. 2020). Vgl. Gabriele Pöschl, Der halbierte Prozess. Einstellung eines Teils des Strafverfahrens gegen Franz Murer im Jahr 1955, nachkriegsjustiz.at, URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/aktuelle s/Veranst_IfZWien_Poeschl.php (abgerufen 2. 12. 2020). Dieser Beitrag erläutert die rechtlichen Rahmenbedingungen im Detail.
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Dass es letztlich Anfang der 1960er Jahre zu einem neuerlichen Verfahren gegen Murer in Österreich kam, war erneut Simon Wiesenthal zu verdanken. Er wurde sich beim Schreiben seiner Memoiren der Tatsache bewusst, dass Franz Murer wieder unbehelligt auf seinem Bauernhof in Österreich lebte.26 Wiesenthal, der international gut vernetzt war und auch die nötigen PR-Fertigkeiten hatte, brachte daraufhin den „Fall Murer“ erneut in die Öffentlichkeit. Die Folge war, dass vermehrt Zeugenaussagen bei Simon Wiesenthal und der Staatsanwaltschaft Graz eintrafen. Auch das Gerichtsverfahren gegen Adolf Eichmann war zu dieser Zeit in Israel angelaufen, womit sich der Druck auf die österreichische Politik, sich mit den österreichischen Kriegsverbrechen zu beschäftigen, erhöhte. Im Mai 1961 wurde Franz Murer erneut verhaftet, allerdings konnte er wegen der Einstellung des Verfahrens von 1955 nur für Delikte angeklagt werden, die 1955 noch nicht bekannt waren.27 Das führte zur Situation, dass Franz Murer nur wegen einzelner Morde und nicht etwa wegen der „Selektionen“ angeklagt werden konnte.28
4.
Volksgerichte und Geschworenengerichte: Kriegsverbrecherprozesse in Österreich nach 1945
Was ebenfalls den Gerichtsprozess gegen Franz Murer maßgeblich beeinflusste, waren die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ahndung von NS-Verbrechen nach 1945. Mit dem Gesetz zum Verbot der NSDAP („Verbotsgesetz“) und dem Kriegsverbrechergesetz von Mai bzw. Juni 1945 wurden in Österreich die rechtlichen Grundlagen geschaffen, um sich gerichtlich mit der NS-Herrschaft auseinanderzusetzen.29 Das primäre Instrument der Strafverfolgung waren dabei die 26 Vgl. Brief von Simon Wiesenthal an Christian Broda und A.I. Kubovy, 7. 12. 1960. VWI-SWA, Murer, Franz (03), Korrespondenz 1960–62. 27 Vgl. Gabriele Pöschl, Der halbierte Prozess, nachkriegsjustiz.at 28 Es war gängige Praxis, dass die von der Zwangsarbeit heimkehrenden Jüdinnen und Juden am Eingang des Ghettos kontrolliert wurden. Die nationalsozialistischen Besatzer rationierten die Lebensmittel für die jüdische Bevölkerung und es war für Jüdinnen und Juden auch verboten, Lebensmittel in das Ghetto mitzunehmen. Franz Murer war bei diesen Kontrollen oft zugegen, wie Quellen belegen, „selektierte“ er dort auch Personen für das Gefängnis, um diese schlussendlich nach Ponary zu schicken, wo sie erschossen wurden. Vgl. Schreiben Murers an das Lukiskes-Gefängnis. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 13. ON 520 und Strafakten Lukiskes-Gefängnis. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 12. ON 503. In diesem Fall handelte es sich um zehn Jüdinnen zwischen 15 und 50 Jahren, die auf Murers Befehl hin ins Gefängnis gebracht und anschließend in Ponary erschossen wurden. 29 Vgl. Claudia Kuretsidis-Haider, Die Volksgerichtsbarkeit als Form der politischen Säuberung in Österreich, in: Claudia Kuretsidis-Haider/Winfried R. Garscha (Hg.), Keine Abrechnung. NS Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig/Wien 1998, 17–24, 17– 18.
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Volksgerichte. Eine Besonderheit dabei war, dass Rechtsmittel wie Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde außer Kraft gesetzt wurden, um viele VerbrecherInnen möglichst zeitnah verurteilen zu können.30 Die Gründungsparteien der Zweiten Republik versuchten zudem, dem besonderen Charakter der nationalsozialistischen Verbrechen gerecht zu werden, weswegen auch teilweise neue Tatbestände aufgenommen wurden.31 Fälle wie jener von Franz Murer, also Gewaltverbrechen in Osteuropa, nahmen in der Volksgerichtsbarkeit fast keinen Raum ein, da sich die Alliierten die Verfolgung prominenter nationalsozialistischer VerbrecherInnen selbst vorbehielten und Österreich auch verpflichtet war, diese an jene Länder auszuliefern, in denen sie Verbrechen begangen hatten.32 Relativ kurz nach Kriegsende kam es allerdings politisch zu einem Umschwung, als es gewissermaßen zu einem Wettrennen zwischen ÖVP und SPÖ um die Stimmen ehemaliger NationalsozialistInnen kam. Diese waren größtenteils durch das Nationalsozialistengesetz von 1947 amnestiert worden und parallel dazu gingen auch die Strafverfahren gegen ehemalige NationalsozialistInnen ab 1948 drastisch zurück.33 Nach dem Staatsvertrag wurden die Volksgerichte vom Nationalrat aufgelöst, allerdings blieb das Kriegsverbrechergesetz (KVG) bestehen. Dieses Gesetz wurde schließlich zum Spielball der Parteien und gerade der Verband der Unabhängigen, ein Sammelbecken ehemaliger NationalsozialistInnen, bestimmte den Diskurs gegen das Gesetz.34 Dieser Diskurs, in dem auch die ÖVP und SPÖ um Wählerstimmen heischten, führte schlussendlich dazu, das im März 1957 das NS-Amnestiegesetz verabschiedet und somit auch das KVG aufgehoben wurde. Wesentlich für den Prozess gegen Franz Murer ist diese gesetzliche Änderung, wie erwähnt, aus dem Grund, dass dieser nun „lediglich“ wegen Mordes und nicht wegen anderer Verbrechen angeklagt werden konnte. Komplexe nationalsozialistische Massengewaltverbrechen mussten nun in Geschworenengerichtsprozessen nach den Bestimmungen des Strafrechts verhandelt werden.35 Diese Änderungen der Gesetzeslage und das Ausbleiben einer Novellierung kann als symptomatisch für eine gewisse Unwilligkeit der österreichischen Politik und Gesellschaft gesehen werden, sich nach dem Staatsvertrag 30 31 32 33
Vgl. ebd., 17–18. Vgl. ebd., 18. Vgl. ebd., 21. Vgl. Bertrand Perz, Österreich, 153. Zur Quantität der Volksgerichte vgl. Prozesse: Volksgerichte, nachkriegsjustiz.at, URL: http://www.nachkriegsjustiz.at/prozesse/volksg/index.php (abgerufen 21. 10. 2020). 34 Vgl. Winfried R. Garscha, Die Menschenwürde als strafrechtlich schützenswertes Gut. Zur historischen Bedeutung des österreichischen Kriegsverbrechergesetzes, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, 53–61, 54. Aus dem VdU ging später die FPÖ hervor. 35 Ebd., 56.
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und der wiedererlangten Unabhängigkeit mit nationalsozialistischen Kriegsund Gewaltverbrechen zu beschäftigen.36 Das zeigt sich auch quantitativ an der Verurteilungsrate, wie bereits eingangs erwähnt wurde.37
5.
Die Zeugenaussagen der Holocaust-Überlebenden beim Prozess gegen Franz Murer in Graz
Nachdem der juristische Rahmen und auch Franz Murers persönlicher Hintergrund näher beleuchtet wurden, soll in diesem Teil des Artikels gefragt werden, wie es denn Holocaust-Überlebenden beim Prozess erging und welches Selbstverständnis von Zeugenschaft sie mitbrachten. Nach langer Vorbereitung wurde der Prozess gegen Murer am 10. Juni 1963 vor einem Geschworenengericht im großen Schwurgerichtssaal in Graz eröffnet. Verhandelt wurden 15 Anklagepunkten, wobei es hauptsächlich um Mord ging. Bis zum Ende des Prozesses kamen aufgrund der Aussagen zwei Anklagepunkte hinzu. Dass Murer „nicht wegen der Judenausrottungen zur Verantwortung gezogen wird, sondern nur wegen fünfzehn Mordtaten“ hielt die Reporterin der „Neuen Zeit“ für die „Überraschung des Prozesses“.38 Am ersten Verhandlungstag, dem 10. Juni, sagten die BelastungszeugInnen aus Westdeutschland und Österreich aus, am zweiten und dritten Verhandlungstag, dem 11. und 12. Juni, die ZeugInnen aus Israel, am vierten Tag, dem 14. Juni, nach einem Tag Unterbrechung (Fronleichnam), die BelastungszeugInnen aus den USA, und am 17. Juni die EntlastungszeugInnen aus Österreich und Westdeutschland.39 Am 18. Juni wurden schriftliche Zeugenaussagen und Tagebucheinträge verlesen und am letzten Verhandlungstag erfolgten schließlich die Schlussplädoyers des Staatsanwalts und des Verteidigers sowie die Urteilsfindung der Geschworenen. Die Holocaust-Überlebenden, die im Prozess gegen Franz Murer aussagten, kamen zum Großteil aus Israel. Sie trafen am 9. Juni, einen Tag vor Prozessbeginn, am Flughafen Schwechat ein.40 Für viele Überlebende war der Auftritt in Graz überhaupt das erste Mal, dass sie vor einem Gericht aussagten. Beim Prozess
36 Ebd. 37 Zum Vergleich: In Deutschland laufen laut einer Umfrage des NDR im Jahr 2019 29 Verfahren gegen mutmaßliche NS-Täter. Vgl. Julian Feldmann/Nino Seidl, Letzter NS-Prozess? KZWachmann vor Gericht, ndr.de, URL: https://www.ndr.de/nachrichten/hamburg/Letzter-N S-Prozess-KZ-Wachmann-vor-Gericht,nsprozesse100.html (abgerufen 1. 12. 2020). 38 Neues Österreich, 11. 6. 1963. Die Zeitung Neues Österreich war 1963 bereits an einen privaten Verlag verkauft worden. Zuvor war es ein Koalitionsorgan zwischen ÖVP und SPÖ. 39 Vgl. Ladungen Hauptverhandlung, 2. 5. 1963. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 10. ON 351. 40 Vgl. Depesche aus Tel Aviv, undatiert, vermutlich Ende Mai 1963. LGS-Graz-15 Vr-1811/ 1962. Band 10. ON 351.
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waren neben dem Vorsitzenden, OLGR Dr. Peyer, auch ein weiterer Richter sowie zwei Ersatzrichter anwesend. Dazu acht Geschworene, zwei Ersatzgeschworene, ein Schriftführer, der Ankläger (Staatsanwalt Dr. Schuhmann), sowie der Verteidiger von Franz Murer, Dr. Böck, und Murer selbst.41 Bei der Aussage hatten die ZeugInnen hinter sich auch noch die ZuseherInnen. Wie aus den Zeitungsberichten hervorgeht, war der Prozess allerdings nicht jeden Tag gut besucht.42 Leider gibt es zu diesem Prozess keine Interviews mit den ZeugInnen, aus denen sich erschließen ließe, wie sie ihr Auftreten vor Gericht erlebten, welches Selbstverständnis von Zeugenschaft sie mitbrachten oder was sie dazu brachte, überhaupt in Graz auszusagen. Wie allerdings aus Interviews mit ZeugInnen des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1965) hervorgeht, waren es ziemlich unterschiedliche Motivationen.43 Für einige dieser ZeugInnen war es wichtig, Zeugnis über die Massenverbrechen abzulegen, und sie sahen die Gerichtsverhandlung als Weg, dies der Öffentlichkeit zu vermitteln. Sie wollten daher eine gewisse Verantwortung gegenüber den Ermordeten übernehmen.44 Für andere ZeugInnen und Überlebende stand die strafrechtliche Verfolgung der Täter im Mittelpunkt. Ein Zeuge erwähnte auch, einen Drang nach Rache zu haben.45 Wenn auch nicht durch Interviews, so lassen sich durch die Aussagen vor Prozessbeginn und durch die Berichterstattung doch ähnliche Motivationen der ZeugInnen im Grazer Prozess erkennen. Der Arzt Moshe Feigenberg verfasste 1946 nicht nur ein Buch über die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung in Vilnius, sondern sagte auch in einem anderen NS-Prozess in der BRD aus.46 Seine Motivation war es, im Namen der Jüdinnen und Juden von Vilnius Zeugenschaft abzulegen. So sagte er: „Wir sind tief überzeugt, die Ver-
41 Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 10. ON 370. 42 Vgl. Arbeiter-Zeitung, 11. 6. 1963, Kleine Zeitung, 11. 6. 1963. 43 Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965) wurde vom jüdischen Remigranten und hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiiert. Der Prozess hatte auch aufklärerische Ziele und hat im Hinblick auf die Beschäftigung mit der eigenen Verantwortung in rechtlicher, politischer und gesellschaftlicher Sicht in der BRD Wirkung gezeigt. Überaus bedeutend waren dabei die Zeugenaussagen der 211 Überlebenden von Auschwitz. Vgl. Dagi Knellesen, Momentaufnahmen der Erinnerung. Juristische Zeugenschaft im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess – Ein Interviewprojekt, in: Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, hg. v. Fritz Bauer Institut (Jahrbuch zur Geschichte u. Wirkung des Holocaust), Frankfurt am Main/New York 2007, 116–140, 116–117. 44 Vg. ebd., 132–133. 45 Vgl. ebd. 46 In Würzburg fand 1950 der Prozess gegen den SD-Mitarbeiter und Leiter des Erschießungskommandos in Ponary, Martin Weiss statt. Zu Weiss vgl. Helmut Langerbein, Hitler’s Death Squads. The Logic of Mass Murder, College Station 2004, 66–69.
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antwortlichen für die Opfer von Wilna sind Hingst und sein Referent Murer“.47 Er sprach also nicht für sich, sondern er sprach für die anwesenden Überlebenden und die Opfer: „Wir kommen nicht aus dem Heiligen Land – aus Israel –, dessen Hauptstadt Jerusalem ist, um Rache zu üben, sondern wegen der Opfer der Stadt Wilna, die wir das Jerusalem von Litauen nennen“.48 Eine andere Motivation in Graz auszusagen hatte vermutlich Jacob Kagan. Ihm ging es um die strafrechtliche Verfolgung von Franz Murer. So erwähnte er während des Prozesses, dass es ihm um Gerechtigkeit für seinen Vater gehe.49 Er forderte vor Gericht für den Tod seines Vaters die Todesstrafe für Murer, obwohl diese in Österreich zu dieser Zeit nicht mehr vollzogen wurde.50 Was ebenfalls beim Vergleich der Zeitungsberichte und des Gerichtsprotokolls deutlich wird, ist, dass die Situation im Gerichtssaal großteils eine extreme psychische und physische Belastung für die ZeugInnen gewesen sein muss, so zum Beispiel, als die Zeugin Sima Kinbrenner vom Tod einer Frau berichtete, die Franz Murer erschossen haben soll, weil sie Brot kaufen wollte. Laut einem Bericht geriet sie so in Erregung, dass es nur schwer war, sie zu beruhigen.51 Die ZeugInnen traten im Zuge des Prozesses auch direkt oder indirekt in Interaktionen mit Murer, der systematisch alles abstritt. So wird von einer Zeitung berichtet: „Auch diesen Mord [den Mord an einer Frau im Ghetto] leugnet Murer auf seine Art, die dem Gericht nun schon bekannt ist, auf die Zeugin aber schockierend wirkt. Sie verfällt in einen Schreikrampf und stammelt kaum verständliche Worte. Als es dem Dolmetsch (sic!) schließlich gelingt, sie zu beruhigen, ruft sie verzweifelt aus: ‚Wie soll ich das vergessen? Jede Nacht schreie ich so wie jetzt!‘“.52 Auch an den darauffolgenden Tagen wird von ZeugInnen berichtet, die vor Erregung nicht mehr sprechen konnten, schrien oder die Mühe hatten, „Haltung zu bewahren“, was auf die für die ZeugInnen extreme Belastung hindeutet.53 Dass die Situation vor Gericht für viele ZeugInnen eine extreme psychische und physische Belastung war, berichtete auch Yehuda Bacon in einem Interview über seine Aussage beim ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess: „Ich dachte, es wird viel leichter sein. Was heißt leichter? Physisch leichter. Aber ich bemerkte,
47 Neues Österreich, 12. 6. 1963. Hans Hingst war der Gebietskommissar von Wilna-Stadt und Franz Murers direkter Vorgesetzter. 48 Arbeiter-Zeitung, 12. 6. 1963. 49 Kleine Zeitung, 15. 6. 1963, Neue Zeit, 15. 6. 1963. 50 Vgl. ebd. 51 Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 10. ON 370. 52 Neues Österreich, 12. 6. 1963. 53 Arbeiter-Zeitung, 12. 6. 1963. Volksstimme, 15. 6. 1963.
Lukas Nievoll, „Jüdische“ Zeugenschaft
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nachdem ich mit meinem Bericht fertig war, dass ich so vollständig entkräftet war, dass man musste mich stützen.“54
6.
„Jüdische Zeugenschaft“ – Antisemitische Kontinuitäten beim Prozess gegen Franz Murer
Nachdem der juristische Rahmen, Franz Murers persönlicher Hintergrund und die Situation der ZeugInnen vor Gericht näher beleuchtet wurden, soll in diesem Teil des Artikels gefragt werden, ob bzw. welche antisemitischen Tendenzen und Kontinuitäten beim Prozess gegen Franz Murer erkennbar wurden.55 Ein interessantes Dokument in dieser Hinsicht ist eine von der Verteidigung eingereichte Unterschriftenliste, die am 5. Juni, fünf Tage vor Prozessbeginn, beim Vorsitzenden Richter eintraf.56 Auf der Liste finden sich Unterschriften von rund 1.000 Personen, die zum größten Teil in der Landwirtschaft Tätige aus der Obersteiermark waren. Es wird ersichtlich, dass die Liste vor allem im Bezirk Liezen, in dem Franz Murer Obmann der Landwirtschaftskammer war, kursierte.57 Anhand dieses Dokuments kommt sehr deutlich zum Ausdruck, wie in weiten Teilen der Bevölkerung die Verhandlung gegen Franz Murer wahrgenommen und gedeutet wurde: nämlich als eine „gegen ihn geführte Hetze“.58 Im Begleittext wird weiter ausgeführt, dass „Franz MURER, Bauer in Gaishorn, Obmann der Bezirkskammer für Land- und Forstwirtschaft LIEZEN […] den besten Leumund und das Vertrauen weitester Kreise der Bevölkerung“ besäße.59 Darüber hinaus schlussfolgert ein ehemaliger Bürgermeister aus Trieben, der die Liste ebenfalls unterschrieben hatte, dass Murer kein Judenmörder sein könne, da ein wirklicher Judenmörder fliehe.60 Diese Unterschriftenaktion und die Argumentation können durchaus als repräsentativ und paradigmatisch für den österreichischen Nachkriegsdiskurs über Schuld und Verantwortung von ÖsterreicherInnen bzw. von Österreich als nationaler Entität und Gesellschaft gesehen werden.61 Murer ist in diesem Fall der Verfolgte – nicht nur von Seiten der Justiz, auch von 54 Dagi Knellesen, Momentaufnahmen der Erinnerung, 130. 55 Als Hauptquellen, um die Frage der antisemitischen Kontinuitäten beantworten zu können, dienen zeitgenössische Zeitungsberichte, das Gerichtsprotokoll und Briefe. 56 Vgl. Unterschriftenliste, 5. 6. 1963. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 9. ON 348. 57 Vgl. ebd. 58 Ebd. 59 Unterschriftenliste, 5. 6. 1963. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 9. ON 348. 60 Begleitschreiben des Bürgermeisters von Trieben. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 9. ON 348. 61 Vgl. Heidemarie Uhl, Vom Pathos des Widerstands zur Aura des Authentischen. Die Entdeckung des Zeitzeugen als Epochenschwelle der Erinnerung, in: Martin Sabrow/Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, 224–246.
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jüdischer Seite würde „Hetze“ gegen ihn betrieben. Noch offensichtlicher antisemitisch ist eine anonyme Zusendung an den Staatsanwalt mit einem Poststempel aus St. Radegund bei Graz. In diesem Brief vom 13. Juni 1963 beschwert sich die Person, dass man Murer „wegen der Saujuden, von denen noch viel zu wenig umgebracht wurden“, den Prozess mache, wo dieser doch schon während seiner sieben Jahre in Sibirien genug mitgemacht habe.62 Scheinbar, so die Person weiter, habe man „schon vergessen was die Juden vor 38 gemacht haben und wenn nachdiese [sic] Saujuden weiter so stärkt weiter so stärkt [sic] wirde [sic] es nicht lange dauern werden Sie wieder mit dem guten alten Österreich machen was sie wollen.“63 Abschließend beschimpfte die Person noch Simon Wiesenthal, der dem Prozess als Zuseher beiwohnte, als „Saujuden“ und „Drecksfigur“.64 Murer, der als Kriegsgefangener bereits genug mitgemacht habe, ist gewissermaßen das Opfer und die „Saujuden“ seien eine kontinuierliche Gefahr für „das gute alte Österreich“. Die Argumente, die in diesem Brief mit explizitem und aggressivem antisemitischem Inhalt vorgebracht wurden, können als weiteres Beispiel für die kursierenden antisemitischen Narrative und eine „antisemitische Grundströmung“ in Österreich gesehen werden.65 In ähnlicher Art und Weise rahmte auch der Verteidiger Dr. Böck die Zeugenschaft von Holocaust-Überlebenden beim Prozess, wie vor allem aus seinem Abschlussplädoyer ersichtlich wird.66 So berichtet die Zeitung „Neues Österreich“, dass er während seines Schlussplädoyers mehrmals „lügende“ Zeugen erwähnte.67 Laut diesem Bericht gab der Verteidiger eine vermeintliche „Kollektivschuld“ als Grund an, warum die ZeugInnen Franz Murer die Taten anlasteten: „Für Juden war es gleich, wer gemordet hat, ihr Feind ist der Mann in deutscher Uniform, ob braun oder grau oder grün, und unterschwellig schwingt der Gedanke der Kollektivschuld mit“.68 Auch die „Kleine Zeitung“ berichtet vom Plädoyer des Verteidigers: „Die Tatsache, dass der Vater das Opfer war, schließt nicht aus, dass der Sohn gelogen hat. Ich weiß genau, was es bedeutet, wenn ich sage, die Zeugen haben gelogen. Aber ich bin überzeugt, dass sie gelogen haben.
62 Anonymer Brief, 13. 6. 1963. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 10. ON 359. 63 Ebd. Das Original enthält sehr viele Rechtschreibfehler und Wortwiederholungen – diese wurden im Zitat übernommen. 64 Ebd. 65 Vgl. Heidemarie Uhl, Vom Pathos des Widerstands, 234. 66 Das Gerichtsprotokoll zu diesem Prozess ist kein Wortprotokoll, sondern ein Inhaltsprotokoll. Deshalb war ein Vergleich der Zeitungsberichte ergiebiger, um zur Rahmung der Zeugenschaft von Holocaust-Überlebenden durch den Verteidiger valide Aussagen zu treffen. In den Zeitungsberichten wird das Schlussplädoyer teilweise wörtlich zitiert. 67 Neues Österreich, 20. 6. 1963. 68 Ebd.
Lukas Nievoll, „Jüdische“ Zeugenschaft
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Den Zeugen stand die Lüge ins Gesicht geschrieben. Man kann auch lügen, wenn es um die Ermordung der eigenen Schwester geht.“69 In diesem Zitat geht der Verteidiger auf den Zeugen Jacob Kagan ein, der detailliert berichtete, wie Franz Murer seinen Vater Abraham Isak am Ghettotor erschoss, weil dieser vor der Kontrolle flüchten wollte.70 Allerdings reihte der Verteidiger die Aussage als eine weitere Lüge in die Reihe der „lügenden Zeugen“ ein. Des Weiteren sprach der Verteidiger auch von einer gewissen Lenkung und Leitung der ZeugInnen, und dass „jüdische Stellen“ immer wieder neue Anschuldigungen an das Justizministerium schickten.71 Auch die Tageszeitung „Neue Zeit“ berichtete von diesen Passagen des Plädoyers, und dass die ZeugInnen „gelenkt“ worden wären.72 Jedoch ging der Verteidiger laut dem Artikel noch einen Schritt weiter und argumentierte, dass die ZeugInnen „eigentlich nur deshalb in der Lage gewesen seien, vor diesem Gericht auszusagen, weil der Gebietskommissar von Wilna und dessen Mitarbeiter […] ihre schützende Hand über die Juden gehalten haben“.73 Wie man anhand der Zitate erkennen kann, rahmte Dr. Böck die Zeugenschaft von Holocaust-Überlebenden großteils antisemitisch als „jüdische Zeugenschaft“. Laut dem Verteidiger war diese geprägt von Rachegedanken, Verschwörungen und Lügen. Franz Murer sei nicht deshalb angeklagt worden, weil er die Morde tatsächlich begangen habe, sondern weil „die Juden“ in Murer einen Deutschen gesehen hätten. Diese antisemitischen Erklärungsmuster dienten dazu, die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussagen in Frage zu stellen und diese als „jüdische ZeugInnen“, die von bestimmten Motiven geleitet worden wären, zu delegitimieren. Tatsächlich auftretende Widersprüche, die Jahreszahlen und andere Details betrafen, wurden vom Verteidiger als Faktoren einer kollektiven jüdischen Agenda in seine Verteidigung eingebaut. Dass diese Argumentationslinie bei den Geschworenen durchaus auf fruchtbaren Boden fiel, kann als ein weiteres Indiz für antisemitische Kontinuitäten in den österreichischen Nachkriegsnarrativen gedeutet werden. Zu den Geschworenen erwähnte Simon Wiesenthal in einem Zwischenbericht: „Aus den Fragestellungen und dem Ton der Frage geht oft, wenn nicht eine Sympathie für den Angeklagen, (sic!) dann eine Apathie gegenüber den Zeugen hervor.“74
69 Kleine Zeitung, 20. 6. 1963. 70 Für eine genaue Darstellung vgl. Zeugenaussage Jacob Kagan, 17. 10. 1961. LGS-Graz-15 Vr1811/1962. Band 4. ON 196. 71 Vgl. Kleine Zeitung, 20. 6. 1963. 72 Neue Zeit, 20. 6. 1963. 73 Kleine Zeitung, 20. 6. 1963. Vgl. auch Neue Zeit, 20. 6. 1963. 74 Zwischenbericht von Simon Wiesenthal, 14. 6. 1963. VWI-SWA, Murer, Franz (04), Korrespondenz 1963–63. 2.
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7.
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Die Wahrnehmung von Zeugenschaft durch die Dolmetscher beim Prozess gegen Franz Murer
Eine weitere Dimension der Zeugenschaft bei diesem Prozess ist jene der Sprache und der Dolmetscher, da die Holocaust-Überlebenden in unterschiedlichen Sprachen aussagten. In diesem Kapitel soll daher ausgeführt werden, welche persönliche Geschichte die Dolmetscher in den Gerichtssaal mitbrachten, wie sie den Prozess, die ZeugInnen und das Umfeld, aber auch ihre eigene Rolle wahrgenommen haben.75 Aus Interviews mit Herrn Chanina K. und Herrn Benjamin S., die der Autor 2018 führen konnte, geht hervor, dass das entscheidende Kriterium für die Auswahl als Dolmetscher ihre Herkunft, die damit verbundenen Sprachkenntnisse und vor allem die Verfügbarkeit waren. Denn es war für das Gericht in Graz in den 1960er-Jahren schwierig, Dolmetscher für Hebräisch und Jiddisch zu finden, und so wandte man sich an die Israelitische Kultusgemeinde in Graz. Benjamin S., der seit 1958 in Graz studierte, berichtete, dass der Sekretär der IKG Graz ihn anrief und fragte, ob er das [Dolmetschen] machen wolle. Allerdings wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, worum es bei diesem Prozess gehen würde und was ihn erwartete. Er war einige Jahre zuvor als Medizinstudent nach Graz gekommen und hatte bis dahin kein Deutsch gesprochen. Chanina K., der ebenfalls zu dieser Zeit Medizinstudent in Graz war, berichtete, er habe den Job als Dolmetscher deswegen angenommen, weil er als Student Geld brauchte. Beide waren somit keine professionellen Dolmetscher, sondern Medizin-Studenten, die verfügbar waren. Darüber hinaus ist interessant, dass sich beide kannten und auch Kontakt zueinander hatten, allerdings nicht wussten, dass der jeweils andere als Dolmetscher engagiert worden war. Wie den Schilderungen über ihre persönliche Vergangenheit zu entnehmen ist, wurden beide während ihrer Jugend Opfer des Nationalsozialismus.76 Sowohl für Benjamin S. als auch für Chanina K. gestaltete es sich auch einige Jahrzehnte später noch als äußerst schwierig über die Aussagen der ZeugInnen vor Gericht zu sprechen. So erwähnte Chanina K. während des Interviews, dass er 75 Während der Recherche war es mir möglich, mit zwei Dolmetschern, die in Israel leben, Interviews zu führen. Dieses Kapitel basiert auf zwei Interviews: Interview mit Chanina K, geführt von Lukas Nievoll, 3. 5. 2018, Aufnahme beim Autor und Interview mit Benjamin S., geführt von Lukas Nievoll, 24. 4. 2018, Aufnahme beim Autor. 76 Chanina K. war sieben Jahre alt, als die Deutsche Wehrmacht Polen angriff. Zu dieser Zeit wohnte er mit seiner Familie in Sanok, im heutigen Südosten Polens. Dort wurde er zusammen mit seiner Familie in ein Ghetto gesperrt. Sanok lag nach 1939 an der Grenze zur Sowjetunion und es gelang der Familie, in die Sowjetunion zu flüchten und so den Holocaust zu überleben. Benjamin S. überlebte den Holocaust in Vaslui in Rumänien. Dazu sagte er im Interview: „Ich hatte das Glück in Rumänien zu sein, wo ‚nur‘ die Hälfte der Juden vernichtet wurde.“ Interview mit Benjamin S., geführt von Lukas Nievoll, 24. 4. 2018, Aufnahme beim Autor.
Lukas Nievoll, „Jüdische“ Zeugenschaft
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sich nur an einen Zeugen erinnern könne, der wegen der Berichte über die Mordaktionen vor Gericht, geweint habe. Dass er sich nicht konkreter erinnerte, begründete er damit, dass der Prozess bereits 55 Jahre zurückliege und auch mit seiner persönlichen Betroffenheit. Er sagte des Weiteren, dass er kein Psychologe, sondern Arzt sei und er das, was im Gerichtssaal geschildert wurde, soweit es gehe, aus seinem Gedächtnis verdrängt habe, um gut leben zu können. Benjamin S. schilderte im Interview ebenfalls seine persönliche Betroffenheit und kam auch auf seine eigene Verfolgungsgeschichte zu sprechen. Er sagte, dass der Holocaust beim Prozess für ihn noch keine überwundene Angelegenheit gewesen sei und dass er auch heute noch, mehr als 70 Jahre danach, recht oft Albträume in der Nacht habe. Zu ihrer eigenen Rolle als Dolmetscher sagten sowohl Benjamin S. als auch Chanina K., dass es für sie wichtig gewesen sei, professionell zu sein. Darunter verstand Chanina K., genau das zu sagen, was die ZeugInnen sagten. Er erzählte darüber hinaus, dass er trotz seiner persönlichen Leidensgeschichte auch im Angesicht der ZeugInnen nicht emotional, sondern objektiv sein wollte, obwohl er mitansehen musste, wie ein Deutscher seine [Chanina K.s] Mutter geschlagen habe. Zur Sprache, in der die ZeugInnen aussagten, sagte Chanina K., dass er hauptsächlich aus dem Jiddischen ins Deutsche übersetzte und umgekehrt. Allerdings bezeichnete er die Aussagen auch als ein „Mischmasch“ an Sprachen. Auch Benjamin S. sprach von dieser professionellen und objektiven Haltung: „Freilich war ich betroffen, aber ich musste meine Rolle spielen und ohne, wie soll ich sagen, persönliche, … also einfach das sagen, was ich gehört habe.“ Für ihn war es abgesehen von der emotionalen Belastung auch sprachlich nicht einfach zu übersetzen, da er beim Prozess noch nicht so gut Deutsch sprach. Schlussendlich ist noch interessant, was die beiden ehemaligen Dolmetscher dezidiert zu der Stimmung im Gerichtssaal und zu Murer zu sagen hatten. Chanina K. konnte sich, wie er sagte, nicht wirklich an die Stimmung erinnern, da er auf sich selbst und seine Aufgabe als Dolmetscher fokussiert war. Benjamin S. sagte zur Stimmung, dass man die ZeugInnen feindlich betrachtete. Des Weiteren sei das Urteil entsprechend der Atmosphäre im Gerichtssaal gewesen und es sei nicht korrekt gewesen, „so einen Massenmörder freizusprechen.“ Was er ebenfalls erwähnte, war, dass er sich über den Gerichtsprozess hinaus mit den ZeugInnen beschäftigte und unterhielt. Er gab an, dass diese von der Israelitischen Kultusgemeinde Graz betreut wurden und er und seine Frau sie auch privat zu sich nach Hause zu Kaffee, Kuchen und Sandwiches eingeladen hatten. Zur Motivation der ZeugInnen, nach Österreich zu kommen, sagte er, dass es keine anderen gegeben hätte, weil so wenige am Leben geblieben seien. Er sprach damit auch ein Selbstverständnis von Zeugenschaft an: Nämlich jenes, dass die Überlebenden eine gewisse Pflicht gegenüber jenen gehabt haben, die nicht aussagen konnten, weil sie ermordet worden waren.
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Zusammenfassung
Wie dargestellt, kamen beim Prozess gegen Franz Murer auf juristischer und politischer Ebene einige grobe Versäumnisse zum Tragen. 1955 wurde der ehemalige Stabsleiter, der bereits wegen seiner Rolle bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung von Vilnius verurteilt worden war, nach seiner Rückkehr nicht weiter von der österreichischen Justiz verfolgt. Dass das Verfahren zu diesem Zeitpunkt eingestellt wurde, erschwerte den Prozess in den 1960er-Jahren enorm, weil vielen Überlebenden dadurch die Aussage verwehrt blieb und neue ZeugInnen gesucht werden mussten. Des Weiteren profitierten ehemalige NSVerbrecher wie Franz Murer von der Aufhebung des Kriegsverbrechergesetzes im Rahmen des NS-Amnestiegesetzes von 1957. Komplexe Tatbestände, wie sie nationalsozialistische Verbrechen großteils darstellten, mussten fortan vor Geschworenengerichten nach dem österreichischen Strafrecht verhandelt werden. Hinzu kam, dass ehemalige NationalsozialistInnen, wie der Prozess gegen Franz Murer zeigt, vor allem im ländlichen und provinziellen Raum auf die Unterstützung weiter Teile der Bevölkerung zählen konnten.77 So schrieb der Leiter der Untersuchungskommission für NS-Gewaltverbrechen beim Landesstab der Polizei Israel, Eytan Otto Liff, nach dem Prozess 1963 in einem Brief an Simon Wiesenthal, dass der Ausgang des Schwurgerichtsprozesses gegen Franz Murer in Graz den Bankrott der österreichischen Justiz darstelle und es für eine objektive Rechtsprechung unerlässlich sei, Prozesse wie jenen von Murer „aus der Provinz und ihren ‚freundnachbarlichen‘ persoenlichen Beziehungen und Gesinnungsmilieu nach Wien zu verlegen, wo die internationale Öffentlichkeit einen Hemmungsfaktor für Rechtsbrüche darstellen würde“.78 In seinem Fazit erwähnt er zudem, dass die Haltung der Geschworenen nichts Außergewöhnliches in Österreich sei und dass er auf alles gefasst sei, wenn es um die österreichische Haltung und Reaktion auf das nationalsozialistische Gewaltregime im Zusammenhang mit den jüdischen Opfern gehe.79 Diese von Eytan Otto Liff angesprochene Haltung und Reaktion, vor allem in Bezug darauf, wie Zeugenschaft von Holocaust-Überlebenden verhandelt wurde, war Gegenstand dieses Beitrages. 77 Vgl. Unterschriftenliste, 5. 6. 1963. LGS-Graz-15 Vr-1811/1962. Band 9. ON 348. 78 Schreiben von Liff an Wiesenthal, 4. 7. 1963. VWI-SWA Murer, Franz (04), Korrespondenz 1963–64. Eytan Otto Liff wurde 1899 in Wien unter dem Namen Otto Lifczis geboren und war vor der NS-Machtübernahme in Österreich als Student in einer zionistischen Bewegung tätig, ehe er flüchten musste. Seine Untersuchungskommission war auch für den Prozess gegen Franz Murer von wesentlicher Bedeutung. Sie vermittelte den österreichischen Behörden nicht nur Zeugenaussagen aus Israel oder den USA, sondern stellte auch Adressen bereit, um die ZeugInnen zu kontaktieren. 79 Vgl. Schreiben von Liff an Wiesenthal, 4. 7. 1963. VWI-SWA Murer, Franz (04), Korrespondenz 1963–64.
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Die ZeugInnen, die mit ihren jeweils individuellen Motiven und Erfahrungen nach Graz gekommen waren, wurden zwar angehört, ihre Aussagen gingen allerdings in der antisemitischen Argumentation des Verteidigers unter. Dieser entwertete die Aussagen der Holocaust-Überlebenden als eine „jüdische Zeugenschaft“, die von Rache, Verschwörungen und Lügen bestimmt sei. Die antisemitische Argumentation des Verteidigers wurde letztlich im Prozess diskursbestimmend und fiel bei den Geschworenen auf fruchtbaren Boden.80 Dass auch laut mehreren Tageszeitungen Applaus bei der Urteilsverkündung aufkam, kann ebenfalls als Zeichen dieser antisemitischen Stimmung gesehen werden.81 Ein weiterer Aspekt bei Nachkriegsprozessen war, dass Holocaust-Überlebende auch als Dolmetscher arbeiteten. Beim Prozess gegen Franz Murer waren beide Dolmetscher jüdische Studenten, die in den späten 1950er-Jahren und frühen 1960er-Jahren nach Österreich kamen, um Medizin zu studieren. Allerdings bedarf es zu dieser Thematik weiterer Forschung, die mit diesem Beitrag hoffentlich angestoßen werden kann. Vergleicht man die Berichterstattung der Zeitungen über diesen Prozess, so lässt sich ein differenzierteres Bild erkennen, denn einzelne Zeitungen sahen den Freispruch auch als Skandal. So sprach die kommunistische „Volksstimme“ von einem „unglaubliche[n], unfassbare[n] Spruch der Geschworenen, die der Sache des Rechts, der Gerechtigkeit und dem Ansehen Österreichs einen schweren Schlag versetzen“, und dass der Freispruch Murers ein Urteil gegen Österreich sei.82 Die Zeitung „Neues Österreich“ kommentierte den Freispruch als „befremdendes, schwer verständliches Urteil“ und „Die Wahrheit“ bot zum Freispruch gleich eine mögliche Erklärung: „Das Urteil wurde in erste Linie durch das Milieu möglich, aus dem Murer seine Unterstützung fand […]“.83 Bemerkenswert ist auch, dass eine Woche nach dem Urteilsspruch, am 26. Juni 1963, StudentInnen in Wien eine Protest- und Solidaritätskundgebung organisierten. Dabei hefteten sie sich gelbe Sterne an ihre Kleidung und verteilten Flugblätter. Sie protestierten dagegen, wie man die ZeugInnen beim Prozess behandelt hatte: „Die jüdischen Zeugen wurden verlacht. Zeitungen schrieben hämische Glossen mit antisemitischem Unterton“.84 Auch den gesellschaftlichen Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und den Opfern des NS-Regimes kritisierten die StudentInnen. Sie fertigten Plakate mit Aussagen wie „Mörder Murer hinter Gitter“, „Rosen für den Mörder, Hohn für die Opfer“, „Opernmörder gesucht, Judenmörder freigesprochen“ oder „1 Mord Lebenslänglich 17 Morde 80 Vgl. Niederschrift der Urteilsfindung, Protokoll der Hauptverhandlung. LGS-Graz-15 Vr1811/1962. Band 10. ON 370. 81 Vgl. Volksstimme, 20. 6. 1963, Neues Österreich, 20. 6. 1963. 82 Volksstimme, 20. 6. 1963. 83 Neues Österreich, 20. 6. 1963, Die Wahrheit, 20. 6. 1963. 84 Flugblatt „Wir waren nicht im KZ“, 26. 6. 1963. VWI-SWA Murer, Franz (04).
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Freispruch“.85 Diese Quellen belegen einerseits, dass Teile der Bevölkerung die Tatsache, wie die Zeugenschaft von Holocaust-Überlebenden verhandelt wurde, bereits damals als Skandal empfanden, und andererseits, dass sie den kursierenden antisemitischen Narrativen, die Prozesse wie jenen gegen Franz Murer begleiteten, kritisch gegenüberstanden.
85 Ebd.
Heribert Macher-Kroisenbrunner
Das American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) in der britischen Besatzungszone Österreichs
1.
Einleitung „Beim Einmarsch der Amerikaner wurden viele tausende jüdischer Häftlinge und Deportierte aus den umliegenden Konzentrationslagern befreit. Es handelt sich um den letzten Rest der mitteleuropäischen Judenheit, der wie durch ein Wunder dem Tode entgangen ist. Nun aber steht man vor der unfassbaren Tatsache, dass diese Menschen früher oder später zugrunde gehen müssen, wenn nicht schnell und durchgreifend geholfen wird. Die Juden in den Lagern wurden freigelassen und irren nun obdachlos und hungernd in der Gegend herum. Selbst wenn es gelingt, ihnen Lebensmittel zu verschaffen, gehen sie gerade dann sehr rasch zugrunde, weil ihr durch den jahrelangen Hunger geschwächter Körper normale Kost nicht mehr vertragen kann. Wenn man diese Menschen nicht schleunigst unter ärztliche Aufsicht bringt, ist der grösste Teil unter ihnen dem Tode verfallen. Dazu kommt noch etwas anderes. Auf das Verlangen einiger amerikanischer jüdischer Soldaten, dem auch ich mich angeschlossen habe, ein Auffanglager speziell für die befreiten Juden zu errichten, erklärte die Linzer Militärregierung, dass die Leute in die Lager gehen sollten, die für die übrigen Deportierten und Flüchtlinge ihrer früheren Heimatländer errichtet sind. Dazu ist folgendes zu bemerken: Die Juden aus Polen, Ungarn, Jugoslawien, und vielen anderen Ländern Mittel- und Osteuropas hatten unter der Verfolgung durch ihre eigenen Landsleute fast ebenso viel zu leiden, als unter der der Deutschen. Sie wurden von ihnen auch, soweit sie im selben Konzentrationslager waren, schwer misshandelt. Nun verlangt man, dass sie mit diesen selben Leuten wieder in gemeinsame Lager gehen sollten. Es ist sogar die groteske Situation eingetreten, dass man die wenigen überlebenden ungarischen Juden, die hier sind, zwingen will, in die ungarischen Lager zu gehen. Dabei muss man wissen, dass die Ungarn in diesen Lagern zu 85 % Pfeilkreuzler sind, also dieselben Leute, die hunderttausende von Juden in Ungarn ermordet und den Rest an die Deutschen ausgeliefert haben. Die Verzweiflung unter den Juden ist allgemein. Umso mehr, als man befürchtet, sie könnten mit den Flüchtlingstransporten in ihre ehemaligen Heimatländer zurückgeschickt werden. Es muss unbedingt sofort mit dem JOINT, der JEWISH AGENCY und dem jüdischen Weltkonkress [sic!] Fühlung genommen werden, damit das verhindert wird. Und ausserdem auf raschestem Weg grosszügige Hilfe herbeige-
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zeitgeschichte 48, 2 (2021)
bracht werden […]. Eile tut not. Jeder Tag der verloren geht, kann hunderten [sic!] dieser Bedauernswerten das Leben kosten.“1
So beginnt ein mit Mai 1945 datierter Bericht über die Situation der überlebenden Jüdinnen und Juden in den von der US-amerikanischen Armee befreiten Gebieten Österreichs. Der Verfasser dieser Zeilen ist namentlich unbekannt, jedoch erreichten Berichte dieser Art die amerikanische Öffentlichkeit, übten Druck auf die Militärregierungen aus, setzten Hilfsmaßnahmen in Gang und trugen so dazu bei, die Situation der jüdischen Überlebenden zu verbessern.2Auch die erwähnten jüdischen Organisationen reagierten auf die Berichte und Joseph Schwartz, der Europa-Direktor des American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC oder kurz Joint) stellte für den Joint eine in Europa und Nordafrika tätige Feldorganisation zusammen, die verstärkt eigene Teams in die verschiedenen Regionen und Lager schickte. Insgesamt wurden nach dem Krieg rund 115.000 Tonnen Nahrungsmittel, Medikamente, Kleidung und andere Hilfsgüter vom Joint aus US-Häfen nach Europa verschifft. In Summe beliefen sich die Aufwendungen des AJDC für die „Europa-Hilfe“ allein zwischen 1945 und 1948 auf 194 Millionen USD.3 Nach der Befreiung Österreichs blieb die Region ein ungeliebter Aufenthaltsort tausender, zumeist osteuropäischer Jüdinnen und Juden, die von den Alliierten als „Displaced Persons“ (DPs) eingestuft wurden.4 Auch viele der rund 15.000 jüdischen DPs, welche die britische Besatzungszone erreichten, wurden zwischen 1945 und 1949, zumindest für einige Tage, häufig für Jahre in verschiedenen Lagern betreut, ehe sie das Land zumeist in Richtung ihres bevorzugtes Zieles Palästina/Israel wieder verlassen konnten. Dieser Beitrag beleuchtet die Tätigkeit des AJDC in der britischen Besatzungszone Österreichs und widmet
1 Bericht über die Lage der Juden in Linz und Umgebung, 28. 5. 1945. Jewish Distribution Committee (JDC) Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661062. Rechtschreibung nach dem Original. 2 Der von der Presse und den erwähnten jüdischen Organisationen bedrängte US-Präsident Harry S. Truman beauftragte Earl Harrison, den US-Delegierten beim Intergovernmental Committee on Refugees (IGCR), die Situation der jüdischen Displaced Persons (DPs) in Europa zu überprüfen. Siehe dazu Earl G. Harrison, A Report to President Truman. The Plight of Displaced Jews in Europa, Washington 1945. Dieser Bericht bewirkte u. a. die Schaffung von DP-Lagern mit ausschließlich jüdischer Belegung. 3 JDC Annual Reports, 1945–1952. JDC Archives, NY_AR194554/1/1/2/2214a. 4 Bei den britischen Behörden in Österreich galten alle nichtösterreichischen Männer und Frauen, die entweder zwangsweise oder freiwillig im Land gearbeitet haben oder aus politischen oder rassistischen Gründen inhaftiert waren, sowie alle ehemaligen Militärangehörigen, die nicht mehr den Status von Kriegsgefangenen hatten, als Displaced Persons (DPs). Sie wurden nach Herkunftsländern in mehrere Kategorien eingeteilt. In diesem Beitrag werden der Begriff DP und Flüchtling synonym verwendet.
Heribert Macher-Kroisenbrunner, Das AJDC in der britischen Besatzungszone
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sich damit einem bislang weitgehend unberücksichtigten Forschungsdesiderat.5 Der Joint eröffnete im Herbst 1945 in Graz ein eigenes Büro und betreute nicht nur die tausenden jüdischen Flüchtlinge in der britischen Zone, organisierte für sie Hilfsgüter, Bildungsprogramme, stellte SozialarbeiterInnen und medizinisches Personal zur Verfügung, sondern finanzierte und baute in der Steiermark auch eine jüdische Infrastruktur auf. Erholungsheime für jüdische Kinder und Erwachsene wurden ebenso eröffnet wie ein jüdisches Transithostel und ein Studentenheim in Graz. Auch bei der Versorgung und Wiedereingliederung der wenigen nach Graz zurückgekehrten Jüdinnen und Juden und der Neugründung der Grazer Israelitischen Kultusgemeinde und damit der Reetablierung jüdischen Lebens in der Region spielte der Joint eine entscheidende Rolle.
2.
Die Hilfstätigkeit des AJDC in Österreich bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges
Das AJDC wurde 1914 in New York City als Reaktion auf einen Bericht über die beklagenswerte Situation der jüdischen Bevölkerung im osmanisch besetzten Palästina von einer Gruppe wohlhabender US-amerikanischer Juden gegründet.6 Die Organisation unterstützte mit einem Umfang von mehreren Millionen USD während und nach dem Ersten Weltkrieg zehntausende Jüdinnen und Juden in Ostereuropa und Palästina und finanzierte verschiedene Hilfsprojekte.7 Auch der Beginn des Engagements in Österreich (damals Österreich-Ungarn) fällt mit dem Ersten Weltkrieg zusammen. Das AJDC unterstützte die Israelitische Allianz zu Wien bei der Versorgung der hunderttausenden jüdischen Flüchtlinge aus den umkämpften habsburgischen Gebieten.8 Nach Kriegsende begann die direkte Hilfstätigkeit des Joints in Österreich. Im Jahre 1918 wurde zunächst ein zentrales Verteilungs-Komitee mit AJDC-Vertretern zur Verwaltung verschiedener Hilfsfonds gegründet und zwei Jahre später ein erster Direktor ernannt.9 Die Hilfstätigkeiten bis zum Jahr 1938 konzentrierten sich vor allem auf die Bereiche Kinderfürsorge (man versorgte jüdische Waisenkinder) 5 Dem Autor ist bislang keine umfassende Studie zur Tätigkeit des AJDC in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Zum Forschungsstand siehe den 2019 veröffentlichten Sammelband: Avinoam Patt/Atina Grossmann/Linda G. Levi/Maud S. Mandel (Hg.), The JDC at 100. A Century of Humanitarianism, Detroit 2019, Introduction, 1–19. 6 Vgl. ebd. 7 JDC Annual Report 1945: So They May Live Again. JDC Archives, NY_AR194554/1/1/2/2214a, 2702657. 8 Siehe dazu Björn Siegel, Österreichisches Judentum zwischen Ost und West: Die Israelitische Allianz zu Wien 1873–1938, Frankfurt am Main/New York 2010, 221–263. 9 A.J.D.C. in Oestereich, in: AJDC Bulletin 1 (1948) 3, 9. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/3/106, 660596.
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und Medizin (mit der ärztlichen und finanziellen Unterstützung von Tuberkulose-Kranken). Des Weiteren unterstützte das AJDC die jüdische Bevölkerung indem Bildungsprogramme und Kreditgenossenschaften finanziert wurden.10 Bereits seit dem Jahr 1933, als jüdische Flüchtlinge aus Deutschland kommend in Österreich vor den Nationalsozialisten Schutz suchten, stellte das AJDC der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde finanzielle Mittel zu deren Betreuung zur Verfügung. Nach dem März 1938 intensivierte der Joint seine Hilfe in Österreich, um der ihrer Existenzmöglichkeit beraubten österreichischen jüdischen Bevölkerung die Flucht zu ermöglichen. Über 50.000 österreichische Jüdinnen und Juden gelang bis Ende 1939 mit direkter Hilfe der Kultusgemeinden, mitfinanziert durch den Joint, die Ausreise. Die vorerst noch Zurückgebliebenen waren fast gänzlich auf die ebenfalls vom Joint zur Verfügung gestellten Mittel angewiesen.11 Fast unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen im Jahr 1945 setzte das AJDC seine Hilfstätigkeit in Österreich wieder fort. Bereits im Mai 1945 besuchten Vertreter des Joint die verschiedenen Besatzungszonen in Österreich und veranlassten erste Hilfslieferungen. In weiterer Folge wurden eigene Büros in Linz und Salzburg (US Zone), Innsbruck (französische Zone), Graz (britische Zone) sowie das österreichische Hauptquartier in Wien eingerichtet.
3.
Die Sondierung der Lage und erste Hilfslieferungen für die britische Zone Österreichs durch das AJDC
Am 22. Mai 1945 beantragte der US-Amerikaner Reuben B. Resnik, der Direktor des Joint in Italien, seine Einreise nach Österreich mit den Worten „It is important that Mr. Resnik proceeds to Austria without delay to assist in the establishment of general relief, rehabilitation and rescue programs.“12 Resnik überquerte am 28. Mai 1945 die österreichische Grenze bei Arnoldstein und besuchte die zerstörten Städte Villach und Klagenfurt, traf aber in der gesamten Region auf keine einheimischen Jüdinnen bzw. Juden. Er beschrieb in seinem Bericht die zerstörte Synagoge in Klagenfurt und erwähnte eine mürrische und anscheinend unfreundliche österreichische Bevölkerung.13 In einem von den sechs großen Flüchtlingslagern im Klagenfurter Raum, einer teilweise zerstörten Schule in der 10 Vgl. ebd. Es wurden zinsgünstige Kredite an jüdische Handwerker und Kleinunternehmer vergeben. 11 Ebd. Insgesamt verließen laut AJDC-Statistiken bis Ende 1939 rund 117.500 österreichische Jüdinnen und Juden Österreich. 12 Entry of Mr. Reuben B. Resnik to Austria. JDC Archives, NY_AR194554/1/1/5/2382, 973133. 13 Preliminary report on Klagenfurt, Austria, Reuben B. Resnik, 11. 6. 1945. JDC Archives, G_4554/4/20/3/AU.235, 749501.
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Bahnhofstraße 36, trat Resnik schließlich mit einer Gruppe von 99 ungarischen Jüdinnen und Juden in Kontakt. Diese Menschen, seit 7. Mai 1945 in Klagenfurt, wurden 1943 in Ungarn zur Zwangsarbeit verpflichtet und mussten die letzten zweieinhalb Monate in Österreich für SS-Truppen als Schneider, Schuster oder ähnliches arbeiten.14 Sie waren von den britischen Militärs in einem Lager für „feindliche Staatsangehörige“ untergebracht worden. Resnik setzte sich für eine Änderung dieser Einstufung bei der britischen Militärverwaltung ein, wobei die meisten in der Gruppe in absehbarer Zeit versuchen wollten, sich durch das sowjetisch besetzte Gebiet nach Ungarn in ihre Heimatgemeinden durchzuschlagen. Einige wenige wollten in Palästina ein neues Leben beginnen und zunächst die Grenze nach Italien überqueren. Der Joint-Vertreter überließ diesen Menschen 5.000 österreichische Militärschillinge und versprach ihr Überleben sowie ihre Namen an die zuständigen Stellen in Ungarn zu melden.15 Waren in dieser ersten Phase, unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen, hauptsächlich Jüdinnen und Juden zu versorgen, die aus den Konzentrations- und Arbeitslagern von den Alliierten befreit worden waren, so änderte sich die Zusammensetzung der jüdischen Flüchtlinge schon im Sommer 1945 grundlegend. Die jüdischen Gemeinschaften in Europa waren von den Nationalsozialisten und ihren Helfern vernichtet, zerstört worden und nur wenige Überlebende waren bereit, dauerhaft in ihre Vorkriegsheimat zurückzukehren, da sie in der alten Heimat an ihre ermordeten Familien erinnert wurden, die kulturellen und wirtschaftlichen Lebensgrundlagen zerstört waren und ihnen zudem ein offener und teils gewalttätiger Antisemitismus entgegenschlug. So versuchten viele Jüdinnen und Juden, nachdem sie in ihren ehemaligen Heimatdörfern nach Überlebenden gesucht hatten, ihrer Misere durch Auswanderung zu entkommen und stellten damit die Alliierten und die Hilfsorganisationen vor große Herausforderungen. James P. Rice, Joint-Direktor in der amerikanischen Zone Österreichs, berichtete seiner Organisation am 8. September 1945 über die Probleme einer solchen polnisch-jüdischen Gruppe Überlebender, die er auf seiner Durchreise von Italien kommend im Kärntner Flüchtlingslager Villach-Völkendorf antraf. Neben der schwierigen Unterbringungs- und Versorgungssituation beklagte sich diese Gruppe darüber, dass Schlüsseljobs im Lager, wie Köche, Schreiber oder Wachen, von ehemaligen deutschen und österreichischen Soldaten besetzt wurden. Einige jüdische Flüchtlinge sollten außerdem wegen versuchten illegalen 14 In den Archiven in Yad Vashem, Record Group O.15 E finden sich mehrere Zeugenaussagen von Zwangsarbeitern dieses Arbeits-Bataillons, in denen über Ereignisse in verschiedenen steirischen Lagern (Bad Tatzmannsdorf, Hartberg, Gleisdorf, Admont, Klagenfurt) berichtet wird. 15 Preliminary report on Klagenfurt, Austria, Reuben B. Resnik, 11. 6. 1945. JDC Archives, G_4554/4/20/3/AU.235, 749501.
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Grenzübertrittes ins örtliche Gefängnis verbracht worden sein. Die Auswanderung nach Palästina war für diese Gruppe von Menschen das vorrangige Ziel. James Rice überließ den Flüchtlingen 2.000 Schilling und versprach sich für ihre Anliegen einzusetzen.16 Nachdem der Joint im Laufe des August 1945 175 Tonnen Lebensmittel aus der Schweiz nach Salzburg und Wien liefern konnte, transportierte Anfang September ein Konvoi britischer Lastwagen rund zehn Tonnen dieser Vorräte für die britische Zone von Salzburg nach Graz.17 Die aus Salzburg gelieferten Lebensmittel sollten schließlich nach Maßgabe der zuständigen britischen Militärkommandanten und des Joint unter den Flüchtlingen in den einzelnen Lagern mit jüdischer Belegung aufgeteilt werden.18
Abb. 1: Food Supplies, Letter from James P. Rice to Major Taylor (Quelle: JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661046).
16 Report Concerning from Mr. James P. Rice, 8. 9. 1945. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/ 112, 661030. 17 Situation of the Jewish Refugees in Austria, James P. Rice, 20. 9. 1945. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661027. 18 Subject: Food Supplies, Letter from James P. Rice to Major Taylor, 29. 9. 1945. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661046.
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Exkurs: Die jüdischen Flüchtlinge in der britischen Zone im Jahr 194519 Graz und sein Umland hatten sich Ende Juli, nach erfolgtem Abzug der sowjetischen Einheiten, zu einem zentralen Sammelpunkt jüdischer Flüchtlinge auf der Transitroute in Richtung Palästina entwickelt. Der geheimen zionistischen Fluchthilfeorganisation Bricha (dt. „Flucht“) gelang es bis zum Herbst 1945, unterstützt von der Jewish Brigade, einer kämpfenden Einheit in der britischen Armee, bestehend aus Freiwilligen aus Palästina, ein geheimes Netzwerk aus Stützpunkten und Fluchthelfern von Osteuropa über Österreich bis nach Italien zu errichten und tausenden Jüdinnen und Juden den Weg in den Westen zu ermöglichen. Ziel war es, möglichst viele junge Menschen nach Palästina zu bringen, die beim Aufbau eines eigenen jüdischen Staates helfen sollten.20 Als erste Unterkunft in Graz wurde den jüdischen Flüchtlingen von den Briten das Hotel Weitzer zugewiesen.21 Mit steigenden Flüchtlingszahlen adaptierten die Briten im September 1945 das Grazer Ursulinenkloster zu einer Flüchtlingsunterkunft und fassten dort die jüdischen Flüchtlinge zusammen. In diesem Quartier befanden sich mit Ende September 2.100 Menschen, darunter 1.600 hauptsächlich polnisch-stämmige Jüdinnen und Juden.22 Mit Zunahme der Flüchtlingszahlen begann die Versorgung dieser Menschen mit Lebensmitteln und Schlafplätzen kritisch und zum Problem zu werden. Wie aus einem Rundschreiben des steirischen Landesernährungsamtes hervorgeht, hatte man mit Ende September in den steirischen Lagern insgesamt 11.972 Personen, darunter in etwa 4.000 jüdische Flüchtlinge, zu versorgen.23 Nach einem britischen Militärbericht zu den jüdischen Flüchtlingsströmen in der Steiermark kippte die
19 Siehe dazu die Monografie des Autors, in der die Flüchtlingsproblematik zwischen 1945 und 1949 in der britischen Zone sowie die jüdischen Flüchtlingslager mit einem Schwerpunkt auf das Lager Admont behandelt werden. Heribert Macher-Kroisenbrunner, We hope to go to Palestine. Das jüdische DP-Lager Admont 1946–1949, Graz 2018. 20 Siehe dazu Yehuda Bauer, Flight and Rescue: Brichah. The Organized Escape of the Jewish Survivors of Eastern Europa, 1944–1948, New York 1970; Thomas Albrich (Hg.), Flucht nach Eretz Israel. Die Bricha und der jüdische Exodus durch Österreich nach 1945, Innsbruck/ Wien 1998; und zuletzt Thomas Albrich, Jüdische Displaced Persons und Flüchtlinge in der Steiermark 1945–1948, in: Heimo Halbrainer (Hg.), Fliehen, schleppen und schleusen. Flucht und Fluchthilfe in der Steiermark im 20. Jahrhundert, Graz 2018, 91–125. 21 Interview mit Rosian Zerner, geführt von Heribert Macher-Kroisenbrunner, Oktober 2018, Schriftverkehr beim Autor. Rosian Zerner war 1945 für einige Wochen mit ihrer Familie im Hotel Weitzer untergebracht. Ihr Vater Paul Bagriansky war später einer der beiden Leiter des jüdischen Lagerkomitees im Ursulinenkloster. 22 Steiermark and Upper-Austria, Letter from James P. Rice to Reuben B. Resnik, 4. 10. 1945. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661045. 23 Versorgung der Lager für versetzte Personen, Landeshauptmannschaft für Steiermark, Landesernährungsamt, Zl. LE-R107/3, 9. 10. 1945. The National Archives (TNA), Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 1020/3366.
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Stimmung unter einigen verantwortlichen Offizieren.24 Der Direktor der DPDivision der Alliierten Kommission in der britischen Zone Lt. Col. J. O’Dwyer schrieb als Reaktion darauf an mehrere Stellen in Wien einen Brief, in dem er seine Sicht des „jüdischen DP-Problems“ darstellte, und um eine externe Kommission bat, die die Vorfälle untersuchen sollte. Er hielt es für nicht praktikabel, die jüdischen Flüchtlinge unter verschiedenen Nationalitäten zu registrieren.25 Nach Auffassung O’Dwyers wurde die ganze Fluchtbewegung von verschiedenen jüdischen Organisationen organisiert. Als Hauptbetreiber sah er zum einen den Joint und zum anderen die in Villach stationierte 648 (Palestinian) G.T. Coy., eine Einheit der Jewish Brigade unter der Leitung von Major Sakharov26, dem ehemaligen Sekretär des Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation Chaim Weizmann. O’Dwyer bestritt, dass die Flüchtlinge der Definition nach DPs seien, und bezweifelte, dass sie aus Konzentrationslagern kämen, da sie zu gut genährt und angezogen seien. Sie seien fett, schmierig und arrogant, besäßen viel Geld und verhielten sich obstruktiv, undiszipliniert und unkooperativ. Außerdem würde er, wenn nötig, Beweise für Schwarzmarktaktivitäten vorlegen. Er habe daher angeordnet, das Geld und die nicht verderblichen Vorräte, die von jüdischen Organisationen in die Lager kommen, vorübergehend beschlagnahmen zu lassen. Die Lebensmittel sollten unter allen Lagerbewohnern aufgeteilt werden.27 Der Joint versuchte sich für die jüdischen Flüchtlinge in der britischen Zone einzusetzen und arbeitete in Graz hierzu mit dem Britischen Roten Kreuz und dessen Repräsentantin Joan Couper zusammen. James P. Rice führte erste Gespräche mit den verantwortlichen britischen Offizieren der DP-Division, Major Taylor und Captain Shankland, um die angespannte Situation zu entschärfen. Schließlich konnte eine eigene koschere Küche eingerichtet werden und der Joint-Vertreter regte zudem die Errichtung eines rein jüdisch belegten Lagers sowie die Eröffnung einer Hachschara28 im Umland von Graz an.29 24 Migration of Jews to Steiermark, 1. 10. 1945. TNA, PRO, FO 1020/988. In dem Bericht wird von 1.000 jüdischen Flüchtlingen berichtet, die in den beiden letzten Wochen in mehreren Konvois aus Wien in Mürzzuschlag eingetroffen waren. 25 Die britische Militärverwaltung bestand bis Juni 1947 darauf, dass die jüdischen Flüchtlinge nach Herkunftsländern registriert wurden. 26 Yehezkiel Sakharov wurde nach der Staatsgründung Israels Leiter der israelischen Polizei und war ab 1958 als Yehezkiel Sahar zunächst Gesandter und schließlich der erste israelische Botschafter in Österreich. 27 Memorandum: Jews in British Austria, Lt-Col. J. O′Dwyer, 2. 10. 1945. TNA, PRO, FO 1020/ 2409. 28 Als Hachschara wurde die systematische Vorbereitung auf die Alija, die Auswanderung nach Palästina bezeichnet. Sie fand meist auf landwirtschaftlichen Gütern statt und beinhaltete neben landwirtschaftlichen und handwerklichen Fertigkeiten auch die Schaffung einer „jüdischen Identität“. 29 Steiermark and Upper-Austria, Letter from James P. Rice to Reuben B. Resnik, 4. 10. 1945. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661045.
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Rice organisierte am 4. Oktober 1945 in Graz eine Konferenz, in der die Situation der jüdischen Flüchtlinge in der britischen Zone Österreichs diskutiert wurde. Neben den bereits erwähnten beiden Offizieren der DP-Division der britischen Militärregierung Steiermark nahm daran auch der für die Steiermark zuständige Bereichsleiter der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) teil. Die britischen Militärs legten in ihrer Einführung zunächst ihre Sicht der Dinge dar. Major Taylor berichtete von durchschnittlich 100 vor allem polnisch-stämmigen jüdischen Flüchtlingen pro Tag, die in der britischen Zone aufgegriffen werden. Diese Menschen würden sich vorsätzlich den britischen Anweisungen widersetzen und sich offensichtlich am Grazer Schwarzmarkt, dessen Zentrum sich im Ursulinenkloster befände, beteiligen. Alle verfügbaren Flüchtlingsunterkünfte würden unabhängig von der Versorgungssituation innerhalb eines Monats an ihre Kapazitätsgrenzen gelangen. Die Militärvertreter kündigten auch an, dass möglicherweise stärkere Maßnahmen ergriffen werden müssen wenn sich die Situation weiter verschlechtere. Es wurde in dieser Besprechung auch über den Einfluss des AJDC bei der Ausstellung von „Palästina-Einreisezertifikaten“ diskutiert. James Rice betonte die politische Unabhängigkeit seiner Organisation und dass das AJDC in dieser Frage keine Rolle spielen würde. Der Joint würde sich jedoch bereithalten und die Auswanderung nach Möglichkeit erleichtern und finanziell unterstützen. In der Zwischenzeit, so Rice, bestehe die Aufgabe des AJDC darin, durch Bereitstellung von Lebensmitteln, Kleidung und Decken zu versuchen, die Lebensbedingungen der jüdischen Flüchtlinge zu verbessern, und in der Wartezeit bis zur Ausreise auch Berufsbildungsprogramme zu entwickeln.30 Im Verlauf der Konferenz wurde zwecks Vereinfachung der Verwaltung, Überwachung und Verteilung der AJDC-Hilfslieferungen wieder über die Errichtung eines ausschließlich jüdisch belegten Lagers gesprochen. Obwohl Major Taylor und Capt. Shankland persönlich nicht überzeugt schienen, wollten sie in Trofaiach ein solches Lager etablieren und einrichten, das bei funktionellem Betrieb auf eine Belegzahl von bis zu 4.000 Menschen ausgebaut werden könne. Major Taylor äußerte außerdem noch den Wunsch, dass das AJDC eine permanente Vertretung in der britischen Zone eröffnen und einen Repräsentanten in Graz stationieren sollte. Aufgrund von Personalmangel konnte hierzu der AJDC-Vertreter jedoch keine Zusage machen.31 Bei der anschließenden Besichtigung des Lagers im Ursulinenkloster durch James P. Rice wurden mit dem britischen Lagerkommandanten Capt. Tyrrel die Schwarzmarktsituation, der Unwille der Lagerbewohner einer Arbeit nachzugehen sowie die augenscheinlich wenig erfreulichen hygienischen Zustände im 30 Ebd., 1–2. 31 Ebd.
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Lager diskutiert. Die jüdischen Leiter des Lagerkomitees sowie der als Wortführer auftretende, nicht im Lager wohnhafte Isaac Eichenwald, der behauptete, Präsident des Flüchtlingskomitees für Steiermark zu sein, beschwerten sich über die zu geringe Hilfe des AJDC und forderten umfangreichere Unterstützung.32 Am nachfolgenden Tag setzte sich die Unterredung zwischen dem AJDCVertreter Rice, den Lagerkomitee-Leitern sowie Eichenwald in den Büros der jüdischen Flüchtlingskomitees für Steiermark in der Mandellstraße 30 fort. Ebenfalls anwesend war mit Pvt. (Private) Blaser ein Soldat der Jewish Brigade aus Major Sakharovs Kompanie. Rice berichtet in seinen späteren Aufzeichnungen von einer gegenüber dem Vortag etwas angenehmeren Gesprächsatmosphäre. Die Flüchtlingsvertreter forderten in erster Linie Bargeld sowie eine schriftliche Anerkennung des Flüchtlingskomitees durch das AJDC. Das Geld sollte für den Kauf von Kleidung am Schwarzmarkt und für Taschengeld verwendet werden, damit jeder Flüchtling sich einen Kinobesuch oder ähnliches leisten könne. Rice lehnte beide Forderungen entschieden ab, da er sich der Integrität des Komitees nicht sicher war und nicht für sie bürgen konnte. Er teilte seine Einschätzung später auch den britischen Militärs mit.33 Mit Pvt. Blaser besichtigte James P. Rice die ehemalige jüdische Volksschule neben der zerstörten Grazer Synagoge sowie eine ehemalige landwirtschaftliche Schule im Süden von Graz. Es entstand ein Plan in der ehemaligen Volksschule, die nun als Hauptquartier der Kommunistischen Partei Steiermark genutzt wurde, ein jüdisches Krankenhaus und Entbindungsheim einzurichten. Die landwirtschaftliche Schule war zwar noch von einer britischen Armeeeinheit besetzt, jedoch erschien der Standort ideal für ein Hachschara-Programm zu sein.34 Beide Projekte wurden jedoch auf einen späteren Zeitpunkt verschoben und sollten vom AJDC weiterverfolgt werden, wenn die Organisation einen ständigen Mitarbeiter in der britischen Zone stationieren könne. Pvt. Blaser berichtete Rice auch von einem Ausbildungs-Programm, das er bereits in Graz etabliert hatte und das von rund 50 Flüchtlingen genutzt werde. Außerdem verfüge er über eine Liste mit ungefähr 15 österreichischen Firmen, die bereit wären, jüdische Flüchtlinge auszubilden.35 James P. Rice blieb noch einige Tage in der britischen Zone und besuchte die restlichen steirischen Flüchtlingslager mit jüdischer Belegung in Kapfenberg, Judenburg-Murdorf, Leibnitz-Wagna und Trofaiach. In allen Lagern sprach Rice neben den britischen Militärkommandanten mit den Vertretern der Lagerkomitees. Themen waren die Versorgungslage und die Aufteilung der AJDC32 33 34 35
Ebd., 2–3. Ebd., 3. Es handelt sich hier vermutlich um die land- und forstwirtschaftliche Schule Grottenhof. Steiermark and Upper-Austria, Letter from James P. Rice to Reuben B. Resnik, 4. 10. 1945. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661045, 4–5.
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Hilfspakete, die in begrenztem Umfang auch den nichtjüdischen Gruppen zur Verfügung stehen sollten, der bauliche Zustand der Unterkünfte, die Hygiene und Gesundheitsversorgung im Lager, sowie das schwierige Verhältnis zwischen den einzelnen Flüchtlingsgruppen in den Lagern und das häufig angespannte Verhältnis zwischen britischer Lagerführung und den jüdischen LagerbewohnerInnen.36 Im Oktober 1945 sahen sich das AJDC und die britische Militärverwaltung plötzlich mit einer massiven Zunahme jüdischer Flüchtlinge konfrontiert. Die Briten vermuteten, dass es sich um eine gut organisierte Fluchtbewegung handle, mit dem Ziel die britische Regierung zur Lockerung der Einreisebestimmungen nach Palästina zu zwingen. Graz war der wichtigste Bricha-Stützpunkt in der britischen Zone, ihr Hauptquartier lag in der Mandellstraße 30, den Räumlichkeiten des Flüchtlingskomitees für Steiermark. Die Bricha gründete zur Tarnung immer wieder solche Komitees, um hinter einer legalen Fassade ihren Unternehmungen nachgehen zu können, und sie nutzte die materielle Unterstützung der internationalen Hilfsorganisationen sowie logistische Unterstützung der Jewish Brigade für ihre geheime Fluchthilfe.37 Nachdem die Briten die jüdischen Flüchtlinge aus dem Grazer Ursulinenkloster nach Trofaiach, dem ersten rein jüdisch belegten Lager in der britischen Zone, überstellten und die Einheiten der Jewish Brigade vom italienisch-österreichischen Grenzgebiet nach Belgien verlegt werden sollten, eskalierte die Situation. Über Nacht verschwanden immer wieder hunderte jüdische Flüchtlinge aus den Lagern der britischen Zone. Gründe dafür waren, dass eine Zuteilung von Palästina-Zertifikaten nicht in Sicht war, die Menschen aber vor dem hereinbrechenden Winter ihre Weiterreise, zunächst nach Italien, unter allen Umständen fortsetzen wollten. Doch durch diese illegale Zu- und Abwanderung konnte sich kein funktionierendes Gemeinwesen in den Flüchtlingsunterkünften etablieren, sie mutierten vielmehr zu reinen Transitlagern. In dieser Phase entschlossen sich die Briten schließlich, die Verwaltung der Lager der UNRRA zu übertragen, ein Schritt, der in der USamerikanischen Zone schon im Sommer 1945 vollzogen und auch vom AJDC unterstützt wurde.38 Das AJDC versuchte wiederum, die in ihren Berichten immer wieder erwähnte aufgeladene Stimmung der jüdischen Flüchtlinge mit der Zurverfügungstellung von ausreichend Kleidung und Decken sowie Lebensmittellieferungen und Berufsbildungsprogrammen zu entschärfen. Dennoch waren das AJDC und ihre Vertreter in den jüdisch belegten Lagern in dieser
36 Ebd., 4–9, 19. 37 Vgl. Albrich, Jüdische Displaced Persons, 95–101. 38 Vgl. Macher-Kroisenbrunner, Admont, 18–38.
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Phase nicht sehr willkommen, da man von dieser Organisation vor allem Unterstützung in Hinsicht auf eine Weiterreise nach Palästina verlangte.39
4.
Das AJDC-Büro in Graz und sein erster Direktor Hyman Yantian40
Die Grazer Konferenz vom 4. Oktober 1945 zur Situation der jüdischen Flüchtlinge in der britischen Zone und der dabei geäußerte Wunsch nach einem ständigen AJDC-Repräsentanten in Graz trug dazu bei, dass das AJDC Hauptquartier nach einem geeigneten Kandidaten suchte, der in Graz ein Büro für diese Organisation aufbauen und leiten sollte. Fündig wurde man schließlich beim erst 26-jährigen britischen Staatsbürger Hyman Yantian. Yantian, jüngstes Kind einer aus Russland nach London emigrierten jüdischen Familie, sprach Deutsch und hatte schon 1939/1940 während seines Studiums im Kenter Kitchener Refugee Camp deutsche und österreichische jüdische Flüchtlinge betreut.41 Zum Kriegsdienst untauglich und zunächst in der Rüstungsindustrie tätig, meldete er sich 1944 freiwillig beim Jewish Committee for Relief Abroad (JCRA), einer britisch-jüdischen Hilfsorganisation. Nach Einsätzen in UNRRA-Lagern in Ägypten war er Ende 1944 einer der ersten Mitarbeiter einer jüdischen Organisation, der Kontakt mit sich in Italien aufhaltenden Jüdinnen und Juden aufnahm und diese betreute. In Italien war er als stellvertretender Leiter des JCRA maßgeblich beim Wiederaufbau erster jüdischer Einrichtungen beteiligt.42 Gemeinsam mit Reuben B. Resnik, dem Direktor des Joint in Italien, überquerte Hyman Yantian erstmals Ende Mai 1945 die österreichische Grenze bei Arnoldstein. Während Resnik im britisch kontrollierten Gebiet blieb, verschaffte sich Yantian einen Überblick in der US-amerikanischen Zone Österreichs und Deutschlands und besuchte unter anderem die Städte Linz und Salzburg sowie Süddeutschland.43 Yantian war der erste zivile Angehörige einer jüdischen Hilfsorganisation, der das KZ Dachau und andere Lager nach ihrer Befreiung
39 Steiermark and Upper-Austria, Letter from James P. Rice to Reuben B. Resnik, 4. 10. 1945. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/8/112, 661045, 19. 40 Der Autor bedankt sich bei Angela und Nicholas Yantian, die das Privatarchiv ihrer Eltern Magda und Hyman Yantian uneingeschränkt zur Verfügung gestellt haben. 41 Vortrag Nicholas Yantian, Aktivitäten von Hyman Yantian während und nach dem Zweiten Weltkrieg, 13. 3. 2019. Die vom Autor initiierteVeranstaltung zum 100. Geburtstag von Hyman Yantian fand in der Grazer Synagoge als Kooperation der Jüdischen Gemeinde Graz und dem Centrum für Jüdische Studien statt. 42 Curriculum Vitae, Hyman Yantian, 1949. Privatarchiv Yantian, Berlin. 43 Preliminary report on Klagenfurt, Austria, Reuben B. Resnik, 11. 6. 1945. JDC Archives, G_4554/4/20/3/AU.235, 749501.
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aufsuchte und von dort berichtete.44 Vom italienischen Joint-Direktor Resnik abgeworben, erklärte sich Yantian im Oktober 1945 dazu bereit, in Graz für das AJDC ein Büro aufzubauen und Hilfsprojekte zu entwickeln.45 Bevor Yantian am 10. November 1945 in Graz eintraf und seine Arbeit vor Ort aufnahm, organisierte er eine erste umfangreiche Hilfslieferung, hauptsächlich Winterkleidung aus einem Joint-Warenhaus in Mailand, für die Flüchtlinge in den steirischen Lagern.46 Nach Gesprächen mit Reuben B. Resnik und Militärangehörigen der Jewish Brigade in Italien und den Berichten von James P. Rice ging Yantian von 4.000 bis 5.000 jüdischen Flüchtlingen in der britischen Zone Österreichs aus. Allerdings war er überrascht, als er aufgrund der illegalen Abwanderung in den Lagern auf nur mehr 2.500 jüdische Flüchtlinge traf.47
Abb. 2: Hyman Yantian in JRU-Uniform (Quelle: Privatarchiv Yantian).
In Graz entwickelte Hyman Yantian sofort eine rege Tätigkeit und wurde von verschiedenen Stellen der britischen Militärverwaltung willkommen geheißen.48 Bereits am 3. Dezember 1945 fand in Klagenfurt unter seiner Beteiligung eine Konferenz mit Vertretern des Britischen Roten Kreuzes, der UNRRA und dem 44 Report by Hyman Yantian, 2. 6. 1945. Wiener Library (WL), Jewish Committee for Relief Abroad (JCRA), 1232/3/8; Curriculum Vitae, Hyman Yantian, 1949. Privatarchiv Yantian, Berlin. 45 Ebd. 46 Preliminary report on British Zone of Austria, Hyman Yantian, 19. 11. 1945. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 47 Ebd. Yantians erster Weg in Graz führte ihn zu Major Taylor, der ihn auf den aktuellen Stand brachte. Bereits am 12. und 13. November 1945 machte sich Yantian ein persönliches Bild und besuchte das DP-Lager Trofaiach. 48 Report on Zone, Hyman Yantian, 16. 12. 1945. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin.
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AJDC statt, in der es um die zukünftige Verteilung der Hilfslieferungen ging. Yantian konnte sich mit Hilfe der UNRRA durchsetzen und verhindern, dass die Hilfslieferungen der britischen Armee und der Hilfsorganisationen zukünftig über einen gemeinsamen Pool verwaltet und verteilt wurden. Auch die Übergabe des Lagers Trofaiach von der britischen Verwaltung in die Hand der UNRRA wurde thematisiert. Sowohl Warren Cornwell, der UNRRA-Direktor in der Steiermark, als auch Jane Couper vom Roten Kreuz kamen zum Schluss, dass in diesem Fall ein jüdisches Verwaltungsteam und jüdische SozialarbeiterInnen zum Einsatz kommen sollten.49 Im Lager Trofaiach waren die Belegzahlen seit Yantians Eintreffen bis Mitte Dezember von 1.500 nochmals auf 900 Menschen gefallen, die teils unter prekären Verhältnissen hausen mussten.50 Über das Grazer Joint-Büro konnte Erwin Schiller, ein erster lokaler Mitarbeiter des AJDC im Trofaiacher Lager, etabliert werden, der die Essensverteilung überwachte. Als im Jänner 1946 ein UNRRATeam unter Leitung des Amerikaners M. M. Katz eintraf, weigerte sich dieser die Verwaltung des Lagers zu übernehmen. Nachdem Katz formelle wie informelle Gespräche mit der britischen Lagerleitung, dem Roten Kreuz, dem Lagerkomitee und Hyman Yantian geführt hatte, kam man gemeinsam zu folgenden Schlussfolgerungen: Unter den gegebenen Bedingungen erscheine es sinnvoll, die Flüchtlinge umzusiedeln; zum einen um die Mindestnormen von Hygiene und Gesundheit zu erreichen, und zum anderen, um die Moral der Lagergemeinschaft durch einen Neubeginn zu stärken.51 Die UNRRA bzw. die britischen Behörden fanden schließlich in Kobenz ein kleines Lager, das sich im vergleichsweise guten Zustand befand, und siedelten die ersten jüdischen Flüchtlinge dorthin um.52 Im April 1946, mit beginnendem Frühling, war man wieder mit steigenden Flüchtlingsankünften konfrontiert und es wurde nach einer Evaluierung im Wiener UNRRA-Hauptquartier in Abstimmung mit den britischen Behörden beschlossen, alle jüdischen Flüchtlinge der britischen Zone an einem Ort unterzubringen. Nach kurzer Suche wurde das auch unter UNRRA-Kontrolle stehende Lager Admont ausgewählt. Bis Mitte Mai 1946 wurden die nunmehr 1.900 jüdischen Flüchtlinge der Zone dorthin umgesiedelt. 49 Ebd. 50 Ebd. Hyman Yantian versuchte vergeblich die britischen Militärs zu überzeugen, zumindest die Kinder und schwangeren Frauen nach Italien bzw. in die US-amerikanische Zone ausreisen zu lassen. Als Alternative dazu wurde auch eine Umsiedlung gewisser Personengruppen nach Maria Wörth, in drei leerstehende Hotels, erwogen. 51 Admont Displaced Persons Camp, Its Background and History, Team 314. United Nations (UN) Archives, UNRRA_AG-018/Austria Mission 010/S-1496/0000-0011, 12. 52 Ebd., 2–4. Ein Teil der jüdischen Flüchtlinge aus dem Lager Trofaiach wurde am 1. 2. 1946 nach Kobenz überstellt, die restlichen Flüchtlinge übersiedelten ins Lager Judenburg-Murdorf.
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Nach verschärften britischen Grenzkontrollen verlagerten sich bis zum Sommer 1946 die Fluchtrouten und in der britischen Zone sanken die Neuankünfte gegen Null. In dieser Phase gelang es aber den US-Amerikanern, die britischen Militärs zur Übernahme von 1.500 Flüchtlingen zu überreden und obwohl die britischen Zentralstellen in London dagegen scharf protestierten, wurden im August 1946 weitere 1.500 Jüdinnen und Juden aus den überfüllten Lagern der US-amerikanischen Zone in die Steiermark überstellt.53 Um diesen Menschen eine Unterkunft bieten zu können, adaptierte man innerhalb kürzester Zeit in Kapfenberg-St. Marein und Kapfenberg-Hafendorf zwei weitere Lager.54 Diese kurzfristigen Verschiebungen stellten auch die Hilfsorganisationen vor große logistische Aufgaben. Ab Juli 1946 stationierte eine zweite jüdische Hilfsorganisation permanent SozialarbeiterInnen in den steirischen Flüchtlingslagern. Das britische Jewish Committee for Relief Abroad (JCRA) und deren Feldorganisation, die Jewish Relief Unit Austria (JRU), arbeiteten nach intensiven Verhandlungen eng mit dem Britischen Roten Kreuz und der britischen Armeeverwaltung zusammen. Die JRU stellte vorerst vier SolzialarbeiterInnen, von denen jeweils zwei in Admont und zwei in den Kapfenberger Lagern stationiert wurden, für die Vorortbetreuung der Flüchtlinge zur Verfügung.55 Der Joint verlegte im Gegenzug seine ab Mai 1946 im Lager Admont stationierte Sozialarbeiterin May Risker ins Lager Kapfenberg-St. Marein und initiierte zusätzliche Hilfsprojekte. Um einen Einblick von der Art und vom Umfang der Joint-Lieferungen zu gewähren, wird in nachstehender Tabelle die SachmittelUnterstützung des AJDC für das Lager Admont zwischen Mai und August 1946 aufgelistet.56
53 Eine Gruppe von 500 Flüchtlingen weigerte sich jedoch hartnäckig in der britischen Zone zu bleiben und wurde schließlich nach einigen Tagen wieder in die US-amerikanische Zone zurücktransferiert. 54 Report on Recent Activities, Hyman Yantian, 10. 8. 1946. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 55 Report No. 1–5, Moritz Friedler, 23. 6. 1946–19. 7. 1946. WL, Lady Rose Henriques Archive (MF), 52/64. 56 Report on Recent Activities, Hyman Yantian, 10. 8. 1946. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin.
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55 Tonnen Lebensmittel 2.000 Meter Stoff für neue Kleidung
4.000 kopierte Bücher 150 Englisch-Schulbücher
Zwei Tonnen Altkleider 1.010 Paar neue Schuhe
1.000 Bleistifte Jiddische Literatur
180 Paar alte Schuhe Zehn Nähmaschinen
Hebräische Grammatik 400 Teller und 100 Essbestecke
63 Sets Schusterwerkzeuge 25 kg Schusternägel
86 Paar Fußball- und Sportschuhe Chirurgische Instrumente
25 kg Leder 131 Sets Zimmermannswerkzeuge
Medizinisches Equipment Ein Radioapparat
100 kg Nägel Mittel zur Finanzierung der Lagerzeitung
Elektrisches Equipment Einige religiöse Objekte
Tabelle 1: ADJC Hilfslieferungen ins Lager Admont; Mai bis August 1946 (Quelle: JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin).
5.
Die Hilfsprogramme des AJDC in der britischen Zone Österreichs
Das ADJC konnte in der ehemaligen jüdischen Volksschule am Grieskai in Graz bereits Anfang Dezember 1945 zunächst fünf Lagerräume und Büros übernehmen. Das Grazer Bürgermeisteramt bestätigte Yantian in einem Gespräch, dass das komplette Gebäude automatisch an eine neugegründete Jüdische Gemeinde rückgestellt werden würde.57 Ihm selbst wurden zunächst Büroräumlichkeiten in einem Amtsgebäude in der Burggasse 2 zugewiesen. Am 1. April 1947 übersiedelte der Joint in die Landhausgasse 7 und er konnte dort vier Büroräume im zweiten Stock nutzen.58 Im AJDC-Büro in Graz wurden zunächst zwei Mitarbeiter eingesetzt, die direkt vom Joint entlohnt wurden. Neben dem Direktor Hyman Yantian war dies die Sozialarbeiterin May Risker.59 Zusätzlich rekrutierte Yantian lokale MitarbeiterInnen für Aufgaben aller Art. Im Februar 1948 waren beim Joint in Graz zwölf lokale Beschäftigte gemeldet, die in Summe 5.370,– Schilling ausbezahlt bekamen.60
57 Report on Zone, Hyman Yantian, 16. 12. 1945. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 58 Change of address, Hyman Yantian, 31. 3. 1947. JDC Archives, G_45–54/4/20/1/AU.27, 743853. 59 Im Laufe des Jahres 1947 bzw. 1948 warb der Joint in der Steiermark zwei Mitarbeiter vom JCRA ab, die aber später anderen Aufgaben außerhalb der britischen Zone zugeteilt wurden. 60 Roster of Local Employees, Letter from Miss Schiller, 5. 2. 1948. JDC Archives, G_45-54/4/20/ 4/AU.289, 2024541.
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Das AJDC mit seinem Hilfsprogramm war organisatorisch in Österreich in vier Hauptsektionen unterteilt. In die Sektion I fielen alle Lebensmittel-, Kleiderund Schuhlieferungen sowie Wohlfahrtsartikel wie Bettlacken, Zahnpasta oder ähnliches. Die Sektion II umfasste alle Arbeits- und Werkstätten-Programme. Die Sektion III verantwortete das medizinische Hilfsprogramm und die Sektion IV das Kultur- und Bildungsprogramm sowie die Unterstützung in religiösen Angelegenheiten. Darüber hinaus unterstützte der Joint die jüdischen Flüchtlinge bei Suchanfragen und Angelegenheiten, die ihre Emigration betrafen.61 Bis zum Frühjahr 1946 konzentrierte sich das AJDC in Graz vor allem auf Lebensmittel- und Kleiderlieferungen in die jüdisch belegten Lager. Mit den Joint-Hilfspaketen konnte die tägliche Basis-Essensration, die im Winter 1945 in diesen Lagern durchschnittlich nur zwischen 1.025 und 1.060 Kalorien betrug, um weitere 500 Kalorien pro Person aufgestockt werden. Ab dem Frühjahr 1946 konnten die österreichischen Stellen die als Mindestration festgelegten 1.500 Kalorien pro Tag und Person annähernd zur Verfügung stellen. Mit der JointUnterstützung kamen die jüdischen Flüchtlinge nun auf eine Ration von rund 2.000 Kalorien pro Tag. Dem Joint war es vor allem wichtig, an jüdischen Feiertagen, wie zum Beispiel dem Pessach-Fest im April 1946, die jüdischen Flüchtlinge mit Sonderzuteilungen zu versorgen. Mitarbeiter des Grazer AJDC Büros eskortierten dazu eine Matzen- und Weinlieferung von der italienischen Grenze bis nach Wien. Auch in der britischen Zone konnte dieses erste Pessach nach dem Krieg durch die Joint-Lieferungen nach traditionellem Ritus gefeiert werden.62 Die Abteilung für Arbeitsplanung (Sektion II) des Joint war immer auf der Suche nach neuen Produkten, die in den Lagerwerkstätten hergestellt werden konnten, und riefen die Flüchtlinge dazu auf, ihre Ideen bei den WerkstättenLeitern zu melden.63 Aus nachfolgender Abbildung (Abb. 3) kann die FebruarProduktion der Lagerwerkstätten sowie die Anzahl der in den Lagern Beschäftigten des Jahres 1948 entnommen werden. Man suchte in den Flüchtlingslagern nach Arbeitskräften und der Joint sah es als seine Aufgabe an, „für die Wiedergewinnung verlorener und die Aneignung neuer Handfertigkeiten zu sorgen.“64 Die Arbeitsprogramme machten das Lagerleben erträglicher und dienten vor allem zum Aufbau einer mental stabilen Lagergemeinschaft und zur psychologischen Rehabilitation. Die Flüchtlinge wurden zur Vorbereitung auf ein künftiges Leben in Palästina sinnvollen Beschäftigungen zugeführt, die auch
61 Statistical Reports, Austria, 1948–1949. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/4/132. 62 General Report, Norman Winestine, 18. 4. 1946. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 63 A.J.D.C. in Oestereich, in: AJDC Bulletin 1 (1948) 3, 2. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/3/ 106, 660596. 64 Ebd.
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dazu führen sollten, mögliche Konflikte, die aus Untätigkeit resultierten, zu vermeiden.
Abb. 3: Anzahl der Beschäftigten in den Lagern; Produktion der AJDC-Werkstätten, Februar 1948 (Quelle: AJDC Bulletin 1 (1948) 2, 2).
Neben den Arbeitsprogrammen, die hauptsächlich auf den psychischen Gesundheitszustand der Flüchtlinge ausgerichtet waren, wurde vom AJDC in Österreich auch ein umfangreiches medizinisches Versorgungprogramm ins Leben gerufen. Über die Vermittlung von Hyman Yantian konnte dringend benötigtes jüdisches medizinisches Personal (zwei Ärzte sowie ein Zahnarzt) in den steirischen Flüchtlingslagern stationiert werden. Tuberkulose-Kranke wurden an Spezialsanatorien vermittelt und der Joint half bei der Überstellung schwerer Krankheitsfälle in die Grazer Universitätsklinik.65 Es wurden auch Heilmittel wie Penicillin oder Streptomycin finanziert und Heilmittelbehelfe (Gebisse und Prothesen) den Flüchtlingen angepasst.66 Ein weiterer Schwerpunkt lag in der Gesundheitsvorsorge und umfasste die Sensibilisierung der Lagerbewohner in Bezug auf die Einhaltung von Sauberkeit und Hygiene. Dazu wurden in den Lagern Schulungen für alle Altersgruppen abgehalten und medizinische Filme vorgeführt. Eine umfangreiche, mehrsprachige Broschüre für junge und werdende Mütter wurde in den Lagern ebenso ausgegeben wie Artikel zur Zahnge-
65 General Report on the Camps Situation covering the Period from September to the End of 1946, Hyman Yantian, April 1947. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 66 Statistical Report, Austria May 1948. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/4/132, 660653, 15.
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sundheit veröffentlicht.67 Filme mit Titeln wie „Schleichendes Gift“ oder „Macht im Dunkeln“ hatten Geschlechtskrankheiten und Tuberkulose zum Thema.68
Abb. 4: Das AJDC Erholungsheim Sonnenland in Semriach (Quelle: Privatbesitz Autor).
In Semriach, wenige Kilometer nördlich von Graz, konnten ab dem Sommer 1946 auf Kosten des Joint geschwächte Personen einen drei- bzw. in Ausnahmefällen einen sechswöchigen Erholungsurlaub verbringen.69 Die ehemalige Lungenheilanstalt Sonnenland verfügte über 28 Zimmer mit maximal 60 bis 65 Betten, die teilweise von Mitgliedern der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, teilweise von den jüdischen Flüchtlingen aus den steirischen Lagern belegt wurden. Mit einem monatlichen Budget von 12.500,– Schilling wurden durchschnittlich 45 Personen versorgt.70 In den meisten Fällen sollte die körperliche Verfassung der Heimgäste vor allem in ernährungstechnischer Hinsicht verbessert werden. Mit vier täglichen Mahlzeiten und einer Kalorienzufuhr von 4.000 bis 5.500 Kalorien pro Tag verwundert eine Gewichtszunahme zwischen zwei und sechs Kilogramm während eines Aufenthaltes pro Patienten nicht.71 67 Dein Kind. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/7/108, 660768. 68 Film Program for April, in: AJDC Bulletin 1 (1948) 2, 8. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/3/ 106, 660603. 69 Das Erholungsheim wurde bis in die 1950er-Jahre von der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde genutzt. 70 Convalescent Home, Semriach, Hyman Yantian, JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 71 Johanna Schiller, „Joint“ Erholungsheim Semriach bei Graz, Steiermark, in: AJDC Bulletin 1 (1948) 3, 7. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/3/106, 660596.
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Neben dem Erholungsheim für Erwachsene finanzierte und organisierte der Joint im Sommer 1946 für über 50 Kinder aus dem Admonter Lager einen mehrwöchigen Ferienaufenthalt in einem Joint-Kinderheim in St. Gilgen am Wolfgangsee (US-amerikanische Zone). Schließlich konnte Hyman Yantian im August 1946 in Heiligenkreuz am Waasen, einige Kilometer südlich von Graz, ein eigenes Kindererholungsheim in der britischen Zone einrichten. Im Ilsenheim wurden zunächst nur erholungsbedürftige Kinder aus der Wiener Kultusgemeinde betreut, ab September 1946 konnten hier aber auch jüdische Kinder aus den steirischen Lagern einige Wochen verbringen. Insgesamt drei LehrerInnen, eine Kindergärtnerin und ein Verwaltungsangestellter vom Joint sowie neun Hausangestellte betreuten und versorgten die maximal 45 Kinder nach einem strikten Stundenplan. Die Kosten für den Joint beliefen sich hierfür monatlich auf etwa 7.600,– Schilling.72
Abb. 5: Hyman Yantian (Mitte sitzend) im Joint-Kinderheim Ilsenheim (Quelle: Privatarchiv Yantian).
Die Sektion IV des AJDC Österreich verantwortete das Kultur- und Bildungsprogramm sowie die Unterstützung in religiösen Angelegenheiten. Der Joint lieferte hierzu eine Vielzahl von verschiedenen Ver- und Gebrauchsmaterialien. Die AJDC-Statistiken vom Mai 1948 listen unter diesem Punkt 31 verschiedene Positionen auf. So wurden neben Schulbedarfsartikeln, Musikinstrumenten, 72 Children′s Home, Report by a staff member. JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin.
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Büchern, Sportgeräten, Spielen auch Gebetsbücher und ähnliches in die jüdischen Flüchtlingslager und an die Kultusgemeinden Österreichs geliefert. Außerdem organisierte der Joint Kulturveranstaltungen und unterstützte die Bibliotheken, Kindergärten und Schulen in den Flüchtlingslagern.73 Auch jungen Jüdinnen und Juden, die ihr vor dem Krieg begonnenes Studium wieder fortsetzen wollten, half der Joint mit einem monatlichen Zuschuss von 150,– Schilling pro Studierendem für notwendige Bücher, Studiengebühren und dergleichen. Zusätzlich wurde in der Herdergasse 12 in Graz vom AJDC ein eigenes Studentenheim für jüdische HochschülerInnen eingerichtet und finanziert. Insgesamt unterstützte der Joint im Jahr 1948 rund 40 jüdische Studierende in Graz. Davon wohnten rund 25 HochschülerInnen in der Herdergasse.
Abb. 6: Eine Feier im jüdischen Studierendenheim in der Herdergasse (Quelle: Vera Neufeld).
Die restlichen Studierenden wurden vom Joint in einer Wohnung in der Mandellstraße 30 untergebracht.74 Diese Wohnung in der Mandellstraße war das Bricha-Hauptquartier in Graz und erstes Zentrum der illegalen Fluchtbewegung von Osteuropa über Österreich nach Italien. Die Wohnung war bei den österreichischen Behörden unter den Namen Dr. Emmerich Katz registriert.75 Nachdem sich Anfang 1946 die Fluchtrouten verlagert hatten und Katz für die Be73 Statistical Report, Austria May 1948. JDC Archives, NY_AR194554/4/17/4/132, 660653, 16–18. 74 Vgl. Andrea Elisabeth Kreditsch, Jüdische Studierende an den Grazer Hochschulen 1945– 1965, Dipl. Arb., Universität Graz 2018, 51–52. 75 Dr. Emmerich Katz war im Juli und August 1945 der Leiter des „Flüchtlingskomitees für Steiermark“.
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hörden nicht mehr auffindbar war, versuchte das Wohnungsamt diese Wohnung neu zu vergeben. Hyman Yantian erreichte jedoch, dass die britische Militärverwaltung dem Joint diese Wohnung zunächst als Transithostel zur Verfügung stellte. In ihr wurden zunächst vom Joint monatlich um die 150 bis 200 jüdische Flüchtlinge, die sich aus verschiedenen legalen Gründen in Graz aufhielten, mit Unterkunft und Verpflegung versorgt. Hierzu erreichte Yantian, dass der Grazer Bürgermeister dem Joint zwölf österreichische Lebensmittelkarten zur Verfügung stellte.76 Bis zum Frühjahr 1947 waren die Belegzahlen der jüdischen Flüchtlingslager vor allem durch illegale Abwanderungen ständig zurückgegangen, weshalb die britische Militärverwaltung beschloss, alle jüdischen Flüchtlinge ab Juni 1947 wieder in Admont zusammenzufassen.77 Auch im Grazer AJDC-Team musste umstrukturiert werden, nachdem Hyman Yantian im Mai 1947 zum Stellvertretenden Direktor des Joint für Österreich befördert wurde und nach Wien übersiedelte.78 Die Leitung des Grazer Büros übernahm zunächst interimistisch May Risker bis Johanna Schiller, eine lokale Mitarbeiterin, die Nachfolge Yantians antreten konnte. Neben der illegalen Abwanderung, die sich auch über das komplette Jahr 1947 bis zur Staatsgründung Israels im Mai 1948 fortsetzte, führten auch Resettlement-Programme dazu, dass die Belegzahl im Lager Admont zwischen Juni 1947 und Mai 1948 von 1.800 auf 800 zurückging.79 Durch die Vermittlung von Dr. Kurt Lewin, dem ersten offiziellen israelischen Konsul in Österreich, konnten schließlich alle jüdischen Flüchtlinge in Admont, die noch immer an einer Auswanderung nach Israel festhielten, am 23. November 1948 in die amerikanische Zone ausreisen, um in ihr Wunschland zu gelangen. Die restlichen Flüchtlinge, die weiterhin im Lager Admont ausharrten, warteten auf eine Ausreisegenehmigung nach Kanada, Australien oder in die USA. Es dauerte aber noch bis April 1949, bis die letzten jüdischen Flüchtlinge Admont in Richtung amerikanischer Zone verlassen konnten.80
76 Mandellstrasse, the AJDC Transit Hostel Graz, Hyman Yantian, JDC Archives, G_45-54/4/20/ 1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 77 Vgl. Macher-Kroisenbrunner, Admont, 95–97. 78 Curriculum Vitae, Hyman Yantian, 1949. Privatarchiv Yantian, Berlin. 79 Vgl. Macher-Kroisenbrunner, Admont, 99–104. 80 Vgl. ebd., 105.
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6.
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Die Reetablierung der Grazer Jüdischen Gemeinde mit Hilfe des AJDC
Die Grazer Kultusgemeinde als Zentrum der steirischen Judenschaft hatte sich von äußerst bescheidenen Anfängen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts parallel zum Wachstum der Stadt Graz kontinuierlich entwickelt. Sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich setzten auch in der Steiermark Verfolgungen ein und es wurden alle Spielarten des Terrors angewendet. Die Leitung der Grazer Kultusgemeinde versuchte verzweifelt Auswanderungsmöglichkeiten zu organisieren. Von den rund 1.800 Jüdinnen und Juden im Großraum Graz wurde in etwa ein Drittel ermordet. Die restlichen ehemaligen Mitglieder der Grazer Jüdischen Gemeinde waren auf der ganzen Welt verstreut.81 Nach dem Krieg sind von diesen Menschen nur wenige zurückgekehrt und es gab auch nach der Befreiung Österreichs im Mai 1945 einen latenten und teils offenen Antisemitismus. Die wenigen RückkehrerInnen sahen sich mit einer österreichischen Bevölkerung und Politik konfrontiert, in deren Geistes- und Werthaltungen sich oft eine umfassende Kontinuität zur NS-Zeit widerspiegelte.82 In seinem Abschlussbericht über die Tätigkeiten des AJDC in der britischen Zone berichtet Hyman Yantian im April 1947, kurz bevor er seine neue Stelle in der Wiener Joint-Zentrale antrat, über die Zusammensetzung der Grazer Israelitischen Gemeinde. Von den 83 Mitgliedern im April 1947 waren nur 22 ehemalige Gemeindemitglieder.83 Sieben der Zurückgekehrten überlebten diverse Konzentrationslager, die restlichen RückkehrerInnen hatten während des Krieges in verschiedenen Ländern Aufnahme gefunden.84 Wie schwierig Yantian und das AJDC die Situation der Grazer Judenschaft aufgrund des vorhandenen Antisemitismus einschätzten, verdeutlicht eine Passage in seinem Abschlussbericht: „It is our objective opinion that the only practical advantage of the reestablishment of the Grazer Jewish Community is the protection of Jewish interests against the many Nazi claimants. It is futile to expect the rebirth of the Graz Communiry [sic!] as an entity of cultural and religious importance.“85 Die ersten jüdischen Gottesdienste in Graz fanden bereits zu Jahresende 1945 unter der Leitung eines britischen Militärrabbiners und unter Beteiligung jüdi81 Emigration of Graz Jews, 1938–39, Hyman Yantian, JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 82 Siehe dazu Gerald Lamprecht, Israelische Kultusgemeinde in Graz. Wiedereinsetzung in den früheren Stand, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 34/35 (2005), 273–302. 83 Repatriation of Graz Jews after Liberation, Hyman Yantian, JDC Archives, G_45-54/4/20/1/ AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin. 84 Ebd. 85 Liaison, Austrian, Hyman Yantian, JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin.
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scher Besatzungssoldaten statt. Die Jüdische Gemeinde selbst wurde unter der Schirmherrschaft des AJDC neu gebildet.86 Am 6. Jänner 1946 kam es auf Einladung Hyman Yantians im Namen des Joints zu einem Treffen der bis dahin zurückgekehrten Grazer Jüdinnen und Juden. Yantian erläuterte bei dieser Zusammenkunft die Ziele des Joints, der überall in Europa die jüdischen Gemeinden neu aufzubauen versuchte. Es wurde während dieser Zusammenkunft vor allem über die Wiedererlangung gesicherter Existenzen, also der geraubten Wohnungen und Geschäfte diskutiert. Nach diesem Treffen kam es im Frühjahr 1946 zum Wunsch einer Neugründung der Jüdischen Gemeinde Graz und so konstituierte sich im Frühjahr 1946 unter der provisorischen Leitung von Isidor Preminger die Israelitische Kultusgemeinde neu.87 Solange es nötig war wurden der Grazer Jüdischen Gemeinde finanzielle Zuschüsse durch das AJDC gewährt, um die Kosten zu decken. Aber bereits im Sommer 1946 erwies sich ein System, mit dem Personen, die AJDC-Nahrungsmittelhilfe erhielten, freiwillige Beiträge an die jüdische Gemeinde entrichteten, als so erfolgreich, dass keine direkte finanzielle Unterstützung des Joints mehr erforderlich war. Der Mangel an Baumaterial erschwerte jedoch die Instandsetzung der stark zerstörten, ehemaligen jüdischen Volksschule am Grieskai, dem nunmehrigen Amtshaus der Grazer Kultusgemeinde. Durch den Joint konnte jedoch die Errichtung eines kleinen Betraumes in diesem Haus ermöglicht werden. Von der Eröffnungsfeier am 15. Februar 1946 wurde in der „Neuen Zeit“ wie folgt berichtet: „Erster jüdischer Gottesdienst. Gestern fand in Graz der erste Gottesdienst der neugegründeten Kultusgemeinde statt. Die Begrüßungsworte sprach in englischer und deutscher Sprache der Vorstand der Grazer Kultusgemeinde Direktor Preminger. Nach ihm sprachen der Vertreter des American Joint Commitees Mr. Yantian und Oberrabbiner Rubner. An dem Gottesdienst nahmen auch britische Soldaten teil.“88
Für das religiöse Wiedererwachen der kleinen Grazer Gemeinde kann die Hilfe und Unterstützung des Joints nicht hoch genug eingeschätzt werden. Purim, Neujahr, Chanukka und vor allem Pessach wurden von dieser Organisation unterstützt. Hyman Yantian vermerkte in seinem Abschlussbericht, dass die Veranstaltungen immer gut besucht wurden.89 Das AJDC und Yantian initiierte und unterstützte zahlreiche weitere Projekte in der britischen Zone. Eine große Unterstützung für die jüdische Bevölkerung außerhalb der Lager war die Verteilung von Lebensmittelpaketen. Zweimal pro 86 87 88 89
Ebd. Vgl. Lamprecht, Israelische Kultusgemeinde in Graz, 242–243. Erster jüdischer Gottesdienst, in: Neue Zeit, 16. 2. 1946, 3. History of Graz and Styrian Jewry, Hyman Yantian, JDC Archives, G_45-54/4/20/1/AU.9, 743396; Privatarchiv Yantian, Berlin.
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Monat wurde den in der Steiermark und in Kärnten lebenden Jüdinnen und Juden ein Nahrungsmittelpaket überreicht. Ein kleineres Paket wurde regelmäßig an diejenigen verteilt, die, obwohl keine Juden, aufgrund jüdischer Herkunft und Zuschreibung Verfolgung wurden und ähnliche Notlagen erleiden mussten. Der Joint half außerdem den RückkehrerInnen bei der Suche nach Wohnungen und sie erhielten Zuwendungen für den Kauf von Haushaltsgeräten, Kleidung und Möbeln.90 Die Aktivitäten des Joints nahmen mit nachlassenden Flüchtlingszahlen aber immer weiter ab und nachdem die letzten jüdischen Flüchtlinge die britische Zone verlassen hatten, wurde zunächst das Joint-Lager im Amtshaus der Kultusgemeinde mit 30. September 1949 geschlossen.91 Als sich die wirtschaftliche Situation der Grazer jüdischen Bevölkerung zunehmend verbesserte zog sich der Joint schließlich ganz aus Graz zurück. Das Grazer Büro in der Landhausgasse wurde geschlossen und Johanna Schiller mit 1. Mai 1951 vom Dienst freigestellt.92 Sie blieb aber noch Repräsentantin des AJDC in Graz und vertrat die Angelegenheiten der Organisation bis Mitte der 1950er-Jahre von ihrer Privatadresse in der Schießstattgasse aus.93
7.
Fazit
Mit den großzügigen, vorwiegend von amerikanischen Jüdinnen und Juden geleisteten Spenden konnte der Joint ab Spätsommer und Herbst 1945 in Österreich seine Arbeit aufnehmen und wurde auf Anhieb zur wichtigsten Hilfsorganisation für jüdische Überlebende. Dennoch mussten sich die Joint-Mitarbeiter einiges an Kritik von Seiten der jüdischen Flüchtlinge mit ihren traumatischen Erfahrungen anhören. Die Vorwürfe lauteten, dass man für die Hilfe viel zu lange gebraucht hätte. Auch fühlten sich viele Flüchtlinge von den AJDC-Mitarbeitern wie Unmündige behandelt, und man empfand das AJDC generell als zu bürokratisch und zu wenig zionistisch. Es entwickelte sich eine komplizierte Beziehungsgeschichte zwischen Joint, britischer Militärregierung, UNRRA, österreichischer Verwaltung und den jüdischen Überlebenden. Die Joint-Mitarbeiter vor Ort nahmen eine produktive Mittlerrolle zwischen allen beteiligten Parteien ein, obwohl die Unterstützungen, die exklusiv für die jüdischen Überlebenden bestimmt waren, unweigerlich zu Spannungen führen mussten.
90 Ebd. 91 Memorandum to Mr. E. Warburg, David Weingard, 9. 11. 1949, JDC Archives, G_45-54/1/1/4/ ADM.172, 2499324. 92 Foreign Staff Salary Changes, 1. 2. 1952, JDC Archives, G_45-54_ADM_014R_0681. 93 Letter to Mr. E. Schellman, 18. 5. 1953, JDC Archives, G_45-54/4/8/3/GER.109, 2058371.
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Das Leben in den jüdischen Flüchtlingslagern der britischen Zone Österreichs zwischen 1945 und 1949 veränderte sich stetig. Der Einfluss des AJDC auf das Lagerleben kann nicht genug betont werden. Erst durch die umfangreichen Hilfslieferungen und Projekte konnte ein funktionierender Lagerbetrieb aufrechterhalten werden. Das AJDC-Programm versuchte die kulturellen und religiösen Hintergründe sowie die leidvollen Erfahrungen der Menschen zu berücksichtigen. Auch bei der Versorgung und Wiedereingliederung der wenigen nach Graz zurückgekehrten Jüdinnen und Juden und der Reetablierung jüdischen Lebens in der Region spielte der Joint eine wesentliche Rolle. Die Unterstützung und Hilfsprogramme des AJDC wirkten sich direkt und indirekt auf die physische und psychische Entwicklung der überlebenden Jüdinnen und Juden nach dem Zweiten Weltkrieg aus. Durch klar formulierte Projekte, die sowohl kurzfristig einen Erfolg brachten, aber auch langfristig der Motivation dienten, versuchte der Joint, die primären Bedürfnisse und die zukünftigen Ziele der Überlebenden zu unterstützen.
zeitgeschichte extra
Philipp Strobl
Austrian-Jewish Refugees in Pre- and Wartime Australia. Ambivalent Experiences of Encounter
1.
Refugees in Australia – A Historical Introduction
Refugee migration to Australia has a short history compared to other states. Many factors are responsible for this, amongst others the fact that most of the refugees of the 19th and early 20th century may have “perceived the country to be too remote”, as historian Klaus Neumann puts it in his recent book about Australia’s responses to refugees.1 The country was barely touched by the major refugee movements of the late 19th century.2 Consequently, when the first Australian parliament congregated on 9 May 1900, refugee issues were not to be found on any agendas. Furthermore, three quarters of a century would pass before a comprehensive refugee policy was announced in parliament. Until the 1970s, refugees were regarded as alien immigrants thus having to match strict ethnic, and financial immigration criteria. Once arrived in Australia, “they were supposed to leave behind their experiences of suffering, and their allegiances to their native countries”3. As historian Andrew Marcus puts it, Australians, since the turn of the 19th century developed a “clear concept of themselves as […] superior to all nonEuropean [high status]4 people”. Thus, as he claims, “discrimination on the grounds of race became normal, accepted behaviour.”5 From its first foundational meeting on, the Australian parliament designed laws such as the Immigration Restriction Bill or the Pacific Island Labourers Bill to exclude those who 1 Klaus Neumann, Across the Seas: Australia’s response to refugees: A History (Collingwood: Black Inc., 2015), 5. 2 Except for some few German Lutherans who fled Prussia and the odd émigrés from Europe, see: Neumann, Across the Seas, 17. 3 Neumann, Across the Seas, 1. 4 Generally, only people from Great Britain and northern Europe were seen as high-status immigrants. Migrants from southern, or Eastern Europe usually were regarded as a distinct racial group, see: Andrew Markus, Australian race relations, 1788–1993, (St Leonhard: Allen & Unwin, 1994), 145. 5 Ibid., 111.
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have been regarded as “undesirable”. As a result, Australia’s population became even more racially homogenous during the first four decades of the 20th century.6 Until 1948, its residents were British subjects. They came overwhelmingly from the British Isles, either by birth or by descent. Australia’s Chinese-born population, which constituted the largest non-indigenous, non-European minority, for example, shrank from 29,000 to 6,400 during those four decades.7 This, however should not overshadow the fact that the predominantly British-Australian settler society yielded its own socio-cultural specifics, such as contacts between the British and the indigenous population or other marginalised groups, often under highly asymmetrical relations of power, which also affected identity formation.8 Racial prejudices and negative attitudes towards immigration increased during the Great Depression of the 1930s, reinforcing the prevailing assumption “that Australia should remain as British as possible.”9 At that time even informed opinion was still cautious about the number of immigrants Australia could absorb and it was repeatedly stressed that immigration should be on a “modest scale”.10 The events of the spring 1938 Anschluss, when Nazi Germany occupied Austria and triggered a large wave of refugees, thus coincided with a general atmosphere of mistrust towards migrants in Australia. Increased numbers of people seeking refuge from Nazi oppression caused the international community in July 1938 to organise a conference in the French spa town of Évian-les-Bains to discuss an international response to the refugee crisis. The conference turned out to be a “dismal failure”.11 Australia, like most of the other participating states, retained a negative position on the liberalisation of its immigration policy12 and potential asylum-seekers faced strict requirements influenced by anti-Semitic and racist criteria.13 The Australian delegate summarised the official Australian stance vis-à-vis the intake of refugees as follows: 6 Neumann, Across the Seas, 15. 7 Ibid. 8 For more information on Australian settler colonialism, see: Fiona Paisley, “The ItaloAbyssinian Crisis and Australian Settler Colonialism in 1935,” in: History Compass 15 (2017): 8–11; Georgine Clarsen, Mobile Encounters: Bicycles, Cars and Australian Settler Colonialism, in: History Australia 12:1 (2015): 165–186; Lisa Slater, Anxieties of belonging in settler colonialism: Australia, race and place (New York: Routledge, 2019). 9 Ursula Wiemann, “German and Austrian Refugees in Melbourne 1933–1947,” unpublished MA thesis, University of Melbourne, 1965, 47. 10 Ibid., 45; for more information on media reactions to Jewish refugees who came to Australia during the 1930s, see: Philipp Strobl, Die Flüchtlingskrise der 1930er Jahre in australischen Tageszeitungen. Eine medienhistorische Diskursanalyse (Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 2019). 11 Neumann, Across the Seas, 36. 12 Suzanne D. Rutland, The Jews in Australia (Cambridge: University Press, 2005), 57. 13 Birgit Lang, Eine Fahrt ins Blaue: Deutschsprachiges Theater und Kabarett im australischen Exil und Nach-Exil 1933–1988 (Berlin: Weidler Buchverlag Berlin, 2006), 41.
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“it would no doubt be appreciated that as we have no racial problem we are not desirous of importing one.”14 During the year 1938, more than 20.000 visa applications matched the strict Australian requirements15 and one year later, Australia restricted the annual number of “Jewish migrants” to 5.000 over a period of three years.16 This was the situation when the protagonists of this paper arrived.
2
Aims and Research Questions
This paper interrogates the initial phase when refugees’ made contacts after their arrival in Australia. It examines intercultural everyday encounters in so called contact zones – a term coined in 1991 by the linguist Mary Louise Pratt to describe social spaces, where cultures meet, clash, and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power.17 It is informed by an extended multi-layer concept of identity formation, which is a useful tool to reconstruct and comprehend the dynamic and “hybrid” patterns of identities involved in migration processes.18 As “strangers”19 in a new land, the refugees experienced, what has been described as “everyday otherness”, a form of “cultural crisis – reflecting both danger and opportunity – as long-term regional residents and new ‘visible migrants’ engage in the challenges of intercultural interaction”.20 Their first experiences of encounter are of particular interest for this analysis since they have shaped their sense of belonging and subsequently affected the dynamics of their identity formation process and the ways they imagined their future lives in Australia. This paper firstly introduces a theoretical framework reworked and adapted to analyse the hybrid identity formations that had taken place once European, Jewish refugees had entered a country, they perceived as geographically and 14 Southern Cross, 21 October 1938, 10. 15 Lang, Fahrt ins Blaue, 41. 16 Paul R. Bartrop, Australia and the Holocaust 1933–45 (Kew: Australian Scholarly Publishing, 1994), 115ff. 17 Marie Louise Pratt, “Art of the Contact Zone,” in: Profession 91 (1991), 33–40, 33. 18 Mario De La Rosa, “Acculturation and Latino adolescents’ substance use: A Research Agenda for the Future”: in: “Substance Use&Misuse 37 (2002): 429–456; Hani Zubida et. al., “Home and Away: Hybrid Perspective on Identity Formation in 1.5 and second Generation Adolescent Immigrants in Israel,” in: Clocalism: Journal of Culture, Politics and Innovation (2013): 1–28. 19 Alfred Schuetz, “The Stranger: An Essay in Social Psychology,” in: American Journal of Sociology 49 (1944): 499–507. 20 David Radford, “‘Everyday otherness’ – intercultural refugee encounters and everyday multiculturalism in a South Australian rural town,” in: Journal of Ethnic and Migration Studies (2016): 2128–2145, 2130.
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culturally “strange”. It focuses on interactions between refugees and the local population to analyse intercultural everyday encounters21 between Austrian refugees, as “the strangers” and Australians “as the locals”.22 It pursues an actor centred approach using refugee memories to unearth and question everyday-life situations of Jewish World War II refugees in Australia such as encounters at the workplace, or the next-door grocery store after the arrival of the refugees. Influenced by the school of thought of “New Biography”23, this paper analyses these sources in their context of origin and appreciates the fact that their “genuine truth” is not constituted by historically secured facts but rather by the pictures and fragments of the past, they offer. Subsequently, the paper categorises and compares refugees’ memories and contextualises them against the literature on identity formations. This allows to demonstrate the dynamics and hybridity of self-identities, as well as the complex ways, encounters had impacted upon their social relations and their acculturation. Researching memories of everyday encounters offer reliable insights into the intercultural, social coexistence of people. As we will see, encounters with “everyday otherness” can be difficult because they imply the possibility for conflict, misunderstanding and antagonism.24 They constitute important situations in the lives of the refugees that “may facilitate, or impede mutual understandings and integration” during a crucial phase within the migration process.25 Researching, comparing, highlighting and analysing the memories of selected key moments in the arrival process of World War II refugees in Australia did not have received much scholarly attention so far. Thus, more research on these processes is needed and will improve our understanding of the complexities, challenges, effects, and strategies of encounters between refugees and the members of a host society. This paper is located at the intersection of urban studies, biography, and the history of migration. More particularly, it is situated within a small but growing, interdisciplinary research body that analyses the significance of contact with 21 The concept of “interculturalism” emphasises processes that take place between culturally different individuals during their encounter, see: Aleksandra Winiarska, “Intercultural Neighbourly Encounters in Warsaw from the Perspective of Goffman’s Sociology of Interaction,” in: Central and Eastern European Migration Review 4 (2015), 43–60, 44. 22 Schuetz, “The Stranger”. 23 See: Katharina Prager, “Überlegungen zu Biographie und Exil im 20. Jahrhundert,” Exilforschung Österreich: Leistungen, Defizite & Perspektiven, ed. Evelyn Adunka et al. (Vienna: Mandelbaum, 2018); Philipp Strobl, “‘Ich habe nie die Absicht gehabt, autobiographische Arbeiten zu schreiben’ – Exil und Autobiographie im transnationalen Leben von Paul Hatvani-Hirsch,” in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 29 (2018): 58–79; Levke Harders, “Migration und Biographie: Mobile Leben schreiben,” in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 29 (2018): 17–36. 24 Radford, “Everyday otherness”, 2131. 25 Winiarska, “Intercultural Neighbourly Encounters”, 44.
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“difference” or “otherness” as a means to achieve social change.26 It draws upon a qualitative biographical approach to comprehend hybrid, dynamic, highly individualised, contested and contextual encounter-situations through the eyes of the main proponents, thus examining how they narrate their experiences of cross-cultural contact upon their encounters. This is particularly important since encounters with and across difference can best be exemplified when analysed within the context of an individual’s life story.27 Upon their arrival in Australia, all of the persons whose lives were researched for this study had no previous connections to Australia and thus occupied positions of “strangers” in the sense that they “observed specific behaviours, habits, and lifestyles” and experienced “norms of conduct which might be surprising or strange to them, both in a positive and negative way.”28 Memories of their encounter experiences offer a reflective judgment of the meaning of their experiences. They show, how refugees recalled their experiences of “everyday otherness” upon their arrival, a process that, as I argue, sustainably affected the formations of their identities in Australia. The following case studies derived from a research project about Austrians who fled to Australia after the 1938 Anschluss.29 The material researched in this study includes a series of semi-structured interviews with 13 participants.30 As geographers Gill Valentine and Joanna Sadgrove argue, biographical narrative interviews are “particularly useful in enhancing understandings about the situated and relational nature of people’s identities, attitudes and values” and provide a “unique type of evidence as to when and where prejudices are shaped, reinforced and interrupted”, which helps us to comprehend different forms of “everyday otherness”.31 Additionally, this study draws upon diary entries, letters, 26 See for example: Gill Valentine and Joanna Sadgrove, “Biographical Narratives of Encounter: The Significance of Mobility and Emplacement in Shaping Attitudes towards Difference,” in: Urban Studies 51/9 (2014): 1979–1994; Radford, “Everyday otherness”; Helga Leitner, “Spaces of Encounters: Immigration, Race, Class, and the Politics of Belonging in Small-Town America,” in: Annals of the Association of American Geographers 102/6 (2011): 1–19; Winiarska, “Intercultural Neighbourly Encounters”; Ien Ang, “Beyond Chinese Groupism: Chinese Australians Between Assimilation, Multiculturalism and Diaspora,” in: Ethnic and Racial Studies 37/1 (2014): 1184–1196; Johan Anderson et. al., “Consuming campus: geographies of encounter at a British university,” in: Social and Cultural Geography 13 (2012): 501– 515. 27 Valentine and Sadgrove, “Biographical Narratives”, 1982. 28 Marinus Ossewaarde, “Cosmopolitanism and the Society of Strangers,” in: Current Sociology 55 (2007): 367–388. 29 The project entitled “Österreichische Migration nach Australien (1938–1947)” is funded by the Austrian Science Fund and was conducted at Swinburne University of Technology in Melbourne and the University of Innsbruck. 30 The quotes from the interviews, used in this paper are original and not copy edited. 31 Valentine and Sadgrove, “Biographical Narratives”, 1982.
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autobiographies, governmental migration records stored at the National Archives of Australia, as well as newspaper articles.32 The samples were chosen to represent the diversity of the overall group of Austrian refugee migrants33 in terms of gender, place of birth, demographics and family composition, date of naturalisation, nationality, place of residence in Australia.
3.
Hybrid Identity Formations – A Theoretical Framework
The classical image of immigrants and refugees is that they make home in a foreign place, adapt to another environment, and then assimilate the culture of the receiving country. They are expected to reduce and finally terminate their linkages and ties with their home country.34 This picture has lost much of its relevance since research has shown that transnational ties in many cases remain important determinants of identity shaping processes. Due to the increased research on migration and the realisation that migrations are complex, reciprocal, and dynamic processes, assimilation theories are increasingly inappropriate to explain the interacting identities, migration processes create. Recent research particularly stresses the role of imported and adapted cultural capital as the migrant’s and refugee’s “treasure chest”35 and increasingly discovers migrants and refugees as “cultural translators” and “agents of knowledge” who live, work and think between at least two different spaces.36 Building on ideas of multiple and diverse identities, political scientists Hani Zubida, Liron Avi, and 32 All persons interviewed have agreed to be interviewed and expressed their wish to be identified in the study. 33 A throughout analysis of naturalisation records in the National Archives of Australia (NAA) has recently been undertaken as part of the project mentioned in footnote 29. It allows a factbased analysis of the whole group along the above-mentioned criteria. The analysis showed that 1,509 certificates of naturalisation had been issued to 2,655 Austrians between 1939 and 1949 and that Austrian refugee-migration to Australia was predominantly urban. 34 Kenneth D. Madsen and Ton van Naerssen, “Migration, Identity, and Belonging,” in: Journal of Borderlands Studies 18 (2003): 61–75. 35 Strobl, Langer. 36 Simone Lässig and Swen Steinberg, “Knowledge on the Move: New Approaches toward a History of Migrant Knowledge,” in: Geschichte und Gesellschaft 43 (2017): 313–346; Simone Lässig, “The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda,” in: Bulletin of the German Historical Institute 59 (2016): 29–58; Philipp Strobl, “Migrant Biographies as a Prism for Explaining Transnational Knowledge Transfers,” Migrant Knowledge, October 7, 2019, https://migrantknowledge.org/2019/10/07/migrant-biographies/; Andrea Westermann, “Migrant Knowledge: An Entangled Object of Research,” Migrant Knowledge, March 14, 2019, https://migrantknowledge.org/2019/03/14/migrant-knowledge/; Philipp Strobl, “From Niche Sport to Mass Tourism: Transnational Lives in Australia’s Thredbo Resort,” in: Leisure Cultures and the Making of Modern Ski Resorts, edited by Philipp Strobl and Aneta Podkalicka (London: Palgrave, 2018), 185–214.
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Robin Harper suggest a theoretical approach based on sociologist Mario De La Rosa’s conceptual framework of identity formation to approach the topic. They identified four modes of identity:37 1) Low level of cultural identity with the refugees’ culture of origin and low level of cultural identity with the prevailing host society’s mainstream values, described by the phrase “Neither here nor there” 2) Low Level of cultural identity with their culture of origin and high level of cultural identity with the prevailing host society’s mainstream values, described by the phrase “Here and not there” 3) High level of cultural identity with their culture of origin and low level of cultural identity with the prevailing host society’s mainstream values, described by the phrase “There and not here” 4) High level of cultural identity with their culture of origin and high level of cultural identity with the prevailing host society’s mainstream values, described by the phrase “Both, here and there” Employing a non-directional and a multidimensional meaning to these four terminological modes is crucial, since labels alone are insufficient to shape our understanding of how refugee identities are being formed.38 Thus, a more open perspective that recognised the hybrid nature of identities allows to understand and question the processes in which ties to the host country, the origin country, both of them or neither of them create dynamic patterns of identity. This helps us to gain insights into the “hybrid” nature of identities, showing that refugees can hold different, even contradicting identities with loose boundaries. Hybridity, as related to migration, is usually conceived as the process of cultural mixing in which immigrants and refugees “adopt aspects of the host culture and rework, reform, and reconfigure them in production of new hybrid cultures or hybrid identities.”39 Thus it can be promising to envisage the process of identity formation as “hybrid” in order to understand the complexities emerging from the encounter experiences of different cultures.
37 Hani Zubida et. al., “Home and Away: Hybrid Perspective on Identity Formation in 1.5 and Second Generation Adolescent Immigrants in Israel,” in: Glocalism: Journal of culture, Politics and Innovation (2013): 1–28, 3f. 38 Zubida et. al., “Home and Away” 4. 39 V.S. Kalrah et. al., Diaspora and Hybridity (London: Sage, 2005), 71.
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4.
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Encounter Situations
There were only very few organisations in Australia that dealt with the refugees during the late 1930s and the Second World War. Apart from a few denominational organisations such as the Australian Jewish Welfare Society (AJWS) and the Jewish communities of Melbourne and Sydney40, refugees who made it to Australia had little official, institutionalised support. Those who were allowed to enter the country technically arrived as migrants: the government expected them to produce enough financial capital and the necessary skills to provide for themselves, thus it did not see any need to support them. Due to the official refusal of treating refugees differently to regular migrants, most of the new arrivals, particularly those who were not members of a religious community, were left on their own. To make things worse, public discourses were largely against them and they were widely perceived as a threat to the labour market as well as to the homogeneity of the “British” society.41 Furthermore, Australians were not accustomed to encountering larger numbers of strangers. In this context, it seems particularly promising to examine refugee memories of encounter experiences during their initial contact phase after the refugees’ arrival to see how they remembered and depicted “everyday otherness”. It is important to understand how locals and refugees responded to each other and how their individual response to the challenges of their intercultural encounters affected their identities. After arriving in their new host countries, many refugees built up social ties to respond to notions of “everyday otherness” and promote themselves and their cultural capital. Their strategies of building up ties are also highly relevant for this study. The fact that almost all of them had hastily escaped into a different social and cultural context without having had any time for preparation and that they, as well as the members of the host society, had diverging definitions of how they ought to behave in everyday life situations, further affected the forming of their identities.42 Class affiliation was another important factor that determined the procedure of making contacts to members of the host society. Most of the refugees belonged to the educated Viennese upper and middle classes. A substantial part of them had pursued middle-class professions in Austria. Many worked as doctors, artists, lawyers or tradesmen before coming to Australia. Their escape in most cases 40 Lang, Fahrt ins Blaue, 36. 41 Wiemann, German and Austria Refugees, 48; Eva Knabl, Sarah Petutschnig, David Röck, “But Sympathy cannot go so far as to Permit them to pour into Australia like a Cataract”– Die negative Rezeption von Flu¨ chtlingen in australischen Medien, in: Philipp Strobl (ed.), Die Flu¨chtlingskrise der 1930er Jahre in australischen Tageszeitungen. Eine medienhistorische Diskursanalyse (Hamburg: Verlag Dr. Kovac, 2018), 81–90, 81. 42 Winiarska, “Intercultural Neighbourly Encounters”, 46.
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meant a considerable biographical disruption for them. In Australia, refugees were expected to fully adapt values and norms and to gratefully carry out the jobs Australians did not want to do. In most cases, they ended up doing low paid casual and domestic work that differed greatly from their former middle-class professions.43 These different expectations caused difficulties and tensions, as the refugees memoirs showed. Depending on the refugees’ needs and interests, as well as on the expectations of local Australians, the process of making contacts was highly dynamic and hybrid and turned out to be different in every single case. As we will see, refugees made very ambivalent experiences when interacting with their new fellow countrymen, ranging from friendly support and sympathy, tolerance, rejection, bullying, Anti-Semitism, to violent assaults. In many cases, they described more than one different type of experience. By and large, three everyday life situations of encounter with their new fellow citizens dominated almost all depictions: – Immediate encounters after their arrival – Everyday neighbourhood encounters – Encounters at the workplace In the following, I will use these three situations to structure my analysis of the memories, refugees had on their encounter experiences.
a)
Immediate Encounters after the arrival
The experiences refugees made upon their arrival after their long journey around the world were particularly important for the ways they imagined their future in their new homeland. It was a time when they gained first impressions of Australia. Thus, it is not surprising that the moment of arrival dominated the refugees’ depictions of their past. Most of them were in a precarious financial situation. Their sudden escape from Nazi-occupied Austria, had left them with scarce financial resources. By the end of 1938, it was practically impossible to take more than 10 Reichsmark out of Germany due to discriminatory Nazi taxation laws.44 Consequently, refugees generally arrived in Australia with either very little financial capital, or with debts because of the high costs of the passage to Australia and the fact that most of them had borrowed the so-called landing money required to enter the country. “Those who arrived before the outbreak of the war had great difficulties to find a job. Their slender financial resources dwindled 43 Wiemann, German and Austria Refugees, 147. 44 For more information see: Hannelore Burger, Heimatrecht und Staatsbürgerschaft österreichischer Juden (Vienna: Böhlau, 2014), 150.
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dangerously”, as one refugee put it.45 Since there was virtually no financial backing from the government, some of the refugees depended on the support of denominational aid organisation (such as the Jewish Welfare Society, or local Jewish communities). Many, however, were left entirely on their own, especially those who were no members of a denominational organisation. Some had distant relatives or casual acquaintances to look after them and help them settle in. Some mentioned that Australians supported them by picking them up at the port or assisting them with accommodation. Maria Bergel who arrived in Adelaide in 1938 with her husband and her two daughters recalled: “A Ms. Solomon picked us up with her car and wanted to show us the Synagogue. […] We were welcomed by the rabbi. He offered us his help and support. Ms. Solomon organised accommodation for us.”46 Annemarie Mutton, who arrived with her husband in 1938 recalled being picked up at the port by acquaintances: “We arrived in Melbourne for disembarkation very early in the morning. We were met at the ship by Dr. Bill Wishart and his wife Olive, who had guaranteed for us. They took us in their car to their house in Auburn Road, Hawthorn. They gave us a room with a double bed. […] They had arranged a sort of housekeeping job for us […] not far from them.”47
As the Viennese art historian Gertrude Langer described, she and her husband were welcomed at the port “with open arms.” She even recalled having had “the most wonderful time socially, really immediately.”48 Australians also supported the Langers’ search for a job. In her case, a local professor of architecture mediated a job in an architectural company for her husband. Elisabeth Ziegler, who arrived in Sydney in June 1939 together with her husband made similar experiences: “We came to Sydney and Mr. Starr was there waiting for us. […] We were lucky that Mr. Starr had friends who lost their housemaid. And I started to become a housemaid with them. They were very nice. ”49 Others had no personal contacts and received no support from aid organisations or private supporters. I their cases memories of isolation and loneliness were particularly dominant. Viola Winkler who arrived in Sydney described her feelings of estrangement: “Everything was strange in Australia: the landscape, the language, no one was friendly, and no one attempted to help us. I had the greatest
45 Karl Bittmann, Strauss to Matilda: Viennese in Australia 1938–1988 (Maryborough: Wenkart Foundation, 1988), 15. 46 M. Bergel, personal communication, n.d. 47 State Libary of Victoria, MS12651, Mutton Annemarie, Papers, ca. 1930–1987. [manuscript]., c. 1930–1987. 48 National Library of Australia (NLA), Gertrude Langer Interviewed by Barbara Blackman [sound recording], Oral TRC 1171 (transcript), 37. 49 Sydney Jewish Museum (SJM), Class: AU006, title: Liesel Ziegler Oral History Interview.
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difficulties finding a job.”50 Arriving in mid-1938 Kurt Selby was not welcomed at the port by anyone and had to organise himself accommodation. He even suffered from occasional Anti-Semitism, as his daughter recalled: “He lived alone in a boarding house when he arrived. He was attacked for being Jewish and went to the police.”51 Helen Roberts, who had organised a job for herself in Sydney prior to her escape had to find out after her arrival that the job was taken. “I put an ad in the Sydney Morning Herald. We got a letter from a man who said he was a doctor and he can send us a permit. When we came here there was nothing. And he said there was everything here for us but there was nothing,” she later stated in an interview.52 John Hearst who arrived in Melbourne together with his wife gave insights into another aspect of the treatment refugees in search of a job had to accept: “In March 1939 we arrived here. The next day they [members of the Jewish Welfare Society] picked us up and brought us to the boarding house and then we were invited to go to the office of the Jewish welfare society and then they will see that they get us some employment. The easiest way to get employment was to work as a married couple… It was a fantastic thing. You should have seen how we were examined. There came a bloke named Joseph. He looked at Mummy and touched her arms and said: Oh, she is quite strong – should be alright. Looked at me: Oh, he’s quite alright too. Could be quite useful. I felt like on a slave market – it was terrible.”53
b)
Everyday Neighbourhood Encounters
The neighbourhood was a very important place for encounters with the local population. Depending on the refugees’ specific situation and the neighbourhood they choose, their experiences of encounter varied greatly. Some described that they came into a very friendly and supportive neighbourly environment. “As a corollary we appreciated the fast-instant assistance, given us from all of our neighbours when a grassfire broke lose in our back garden,” Annemarie Mutton recalled in her memoirs and further stated: “In Hawthorn, we had already established an image of ourselves as people, not only just aliens, or colloquially bloody reffos. […] The Australians, we met through letters of
50 Verein Lernen aus Zeitgeschichte (eds.), A Letter To the Stars. Holocaust – Die Überlebenden. Schüler schreiben Geschichte (Vienna: author’s edition, 2005), 311. 51 Eleanor Hart (daughter of Selbys), in discussion with the author, Melbourne, June 2016. 52 SJM, AU022, title: Helen Roberts Oral History Interview. 53 J. Hearst, personal communication, n.d.
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introduction and then by being handed around a bit were hospitable and kind. An Australian friend even lend us his car.”54
After her arrival in provincial Brisbane, Gertrude Langer described the fast and instant support she received by some of her neighbours: “I was still in my room thinking what to do, not knowing quite where to turn, when all of a sudden, I was told to come down into the hall, there is a young lady there asking for me. So, I said, ‘Well, that can’t be so because I do not know a single soul in Brisbane’. ‘Oh, yes. She said she wants to meet Dr Langer’. So, I said all right, so I went down and there stood a very tall woman, young, there with a bunch of flowers. […] Well, anyhow, Margaret and I became friends almost immediately and I had my first friend in about 24 hours. She couldn’t do enough for me. She said, ”What can I help you with first?”. I said, ‘Finding a place where to live’.”55
Eva Bostock, who arrived in Sydney in 1939 together with her husband described that one of their neighbours invited them to a holiday trip only one month after her arrival: “We made friends in the bakery [the place where they lived] and they introduced us to other people. They had a 1927 Essex. And we went on a trip to Mt. Kosciusko.”56 Elisabeth Ziegler, who moved into a small town in the Hunter Valley north of Sydney described some initial difficulties when she encountered her new neighbours: “When we came to this little town, we were like a wonder to them [the neighbours]. They had never seen a Jew or a foreigner before. It was much harder for them than for us, [they were] a little bit suspicious at first probably but it worked out well.”57
Before she moved to the small town, she had lived rather isolated in Sydney as she described.58 The isolation they encountered in their neighbourhoods was a dominant issue in many memories. After his arrival in Melbourne, John Hearst described initial difficulties in finding local friends: “We had not many Australian friends – only one neighbour.”59 The Viennese writer Paul Hirsch-Hatvani who arrived in Melbourne aged 47 stated in one of his autobiographical post-war writings: “At first, there were not many Australians around when we [a group of German-speaking refugees] met.” He further wrote in a letter to a friend in the United States: “To be honest, for years, we have been living here in complete
54 State Libary of Victoria (SLV), MS12651, Mutton Annemarie, Papers, ca. 1930–1987. [manuscript]., c. 1930–1987. 55 NLA, Langer, 51. 56 SJM, Class: AU033, title: Eva Bostock Oral History Interview. 57 SJM, Class: AU006, title: Liesel Ziegler Oral History Interview. 58 Ibid. 59 J. Hearst, personal communication, n.d.
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isolation. There are almost no people to have at least some kind of interesting conversations with.”60 Some refugees, on the other hand, described that they encountered an atmosphere of hostility and rejection in their neighbourhoods. Viola Winkler recalled: “People were not used to refugees and kept away. There were no English classes and no welcoming things. I had to be on my own. People used to abuse me in the bus: ‘reffo go home to where you came from’ […] From September 1939 on we became enemy aliens. We were treated as if we were one of the Nazis. […] We were outcasts.”61
Annemarie Mutton recalled some Anti-Semitic encounters in her neighbourhood and a suspicious behaviour of governmental officials: “Emil [a friend] and I were attacked by a stranger after leaving the office after hours. The police came and asked: ‘Did he attack you because you are a Jew’?’ We were kept over an hour to answer questions of our origin. […] We confirmed the same story but were listened to with suspicion.”62
Making local friends was a key event that featured prominently in the refugee’s memories. Again, we can see from the memories that this game-changing event usually happened faster, in case the refugees had someone to support them, as the above-mentioned story of Gertrude Langer showed. If refugees were left on their own and thus felt isolated in their neighbourhood making local friends took them much longer. Viola Winkler recalled such a game-changing experience, that sustainably affected her further live in Australia: “After some years in Australia, I met a painter who introduced me to local people and artists in Sydney. This woman changed my entire life in Australia. She showed me the best places in Sydney – sometimes it just needs a kind-hearted person to make the world a better place for others.”63
Another space of encounter which concerned the refugees’ children was the school. Joan Lynn who arrived in Adelaide aged three recalls: “I do not remember any insults from Australians except for one boy in school. There was this kid who did not want to sit next to me because he claimed I was a Nazi.”64 Others felt isolated because of language and ethnic barriers: “My sister and I at first had only one friend in school. She was a German girl to whom we spoke exclusively 60 Monash University Library (MUL), Paul Hatvani letter to Fritz Czucka, 20 October 1961. 61 United States Holocaust Memorial Museum (USHMM), USC Shoah Foundation Institute testimony of Viola Winkler, Oral History, VHA Interview Code: 5134. 62 State Libary of Victoria, MS12651, Mutton Annemarie, Papers, ca. 1930–1987. [manuscript]., c. 1930–1987. 63 USHMM, USC Shoah Foundation Institute testimony of Viola Winkler, Oral History, VHA Interview Code: 5134. 64 Joan Lynn, Interview with the author, 28 February 2016.
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German. We had problems learning English during the first years,” as Sue Copolov recalls, who arrived in Melbourne in 1939 at the age of 10.65 Annemarie Mutton recalled the xenophobia, she and her husband encountered when they searched for a school for her oldest daughter and attended the open day of a local school: “It had been announced by a note to the parents to make an effort to come and see the school, if possible fathers also. Ernest [her husband] made a valiant effort to desist from going to the office early but to come with me to see Muriel’s school and meet her teachers. The headmaster was introduced to us, or we to him. He looked at Ernest and said: ‘Well, thanks for coming Mr. Bowen, of course our men, our fathers have to go to work, they can’t come.’ Ernest was so devastated, so enraged, so hurt, he left at once. He never again came to any single function of any of the children’s school or activities.”66
Some of the refugees settled in ethnic or religious communities which offered them a place to live together with people sharing the same fate and ethnic or religious background. This helped them to overcome feelings of isolation, as Kurt Selby’s daughter recalled: “He settled in a Jewish Community and had most of his contacts with other members of his group. It was a safer little world he created for himself and his wife.”67 Bruno Bush, who fled Vienna in 1939 also described that he found a home in a Jewish community in Sydney: “We spoke Yiddish at home. My children went to a Jewish Kindergarten and got a Jewish education.”68
c)
Encounters at the Workplace
The workplace was the third major place where refugees usually encountered local Australians. For many of them, the place of employment offered the most intense opportunities to make new social contacts. Viola Winkler’s description of her hasty and unspectacular wedding three months after her arrival in Sydney, where only two of her husband’s “workmates” participated, indicates the importance of contacts made at the workplace: “We married in a registry office. He [her husband] brought two workmates with him as witnesses, they brought along a sponge cake, we had this for lunch, there was nothing else, my husband went back to work.”69
65 Sue Copolov, Interview with the author, 14 August 2017. 66 State Libary of Victoria, MS12651, Mutton Annemarie, Papers, ca. 1930–1987. [manuscript]., c. 1930–1987. 67 Eleanor Hart (daughter of Selby), in discussion with the author, Melbourne, June 2016. 68 B. Bush, personal communication, n.d. 69 USHMM, USC Shoah Foundation Institute testimony of Viola Winkler, Oral History, VHA Interview Code: 5134.
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Maria Bergel opened up a grocery store in Adelaide together with her husband in 1941. She recalled: “Many people came to see the new strangers with their strange accent. In the end – it [her shop] was like a club. We made many friends.”70 The workplace however also offered the framework for tensions and negative encounters, especially during the first months after the refugees’ arrival. John Hearst, who had managed a chain of furniture stores in Vienna, for example, had found employment as a domestic servant together with his wife after his arrival in Melbourne. He recalled being exploited by his employer: “We found a job as housekeepers: Alice [his wife] had to cook and I had to mow the lawn and wash the car. We got accommodation and very little pocket money. […] I felt like on a slave market. Alice was crying all day ‘we are treated like slaves’”.71 Helen Roberts, who also worked as a domestic servant after her arrival in Sydney described similar conditions: “I had to go there and do the sewing for them. They treated me like the last servant. I remember I was so hungry because they did not give me anything to eat. The things I had to sort of go through were just incredible.”72 Hans Eisler, who found a job on an agricultural farm described even worse conditions: “That’s probably the worst four months of my life because the people I worked for on the poultry farm were very cruel. They made me sleep in the barn. I was bitten by rats […] They gave me food once or twice a day and if I asked for more, they refused it. No meat. One egg, and jam on Sundays was the big treat. They were the meanest people I have ever met. They were supposed to pay me five shillings a week. I did get it a few times but certainly not weekly. I was completely dependent on them. I could not speak English. I did not know what to do.”73
Besides poor working conditions, some refugees recalled being mobbed by their workmates. In an interview, Hans Eisler described: “They were rather cruel, particularly to me because I was younger. It was bastardisation exercises – having to shove pears with your nose through cow dung. I remember very distinctly the day war was declared – I’d only been there about a month. It was Sunday night, the fire was going, and Menzies declared war on Germany. And I felt so good. They played the national anthem, ‘God save the King’. I stood up and they all laughed at me. Then, when I sat down, they removed the chair and I fell…They had a lot of fun at my expense, and that hurt at the time…Then came the Jewish holidays and I remember asking to be excused…and that sort of set me aside from the rest.”74
70 71 72 73
M. Bergel, personal communication, n.d. J. Hearst, personal communication, n.d. Helen Roberts, interview. Glen Palmer, Reluctant Refugee: Unaccompanied Refugee and Evacuee Children in Australia, 1933–45, Diss. Phil, University of Adelaide 1995, 277. 74 USHMM, Oral history interview with Hans Eisler, Accession Number: 2009.214.61 | RG Number: RG-50.617.0061.
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Since the government was never tired to assure that refugees would not occupy jobs Australians could do, the public generally reacted very sensitively on that issue. Mobbing and negative public reactions were omnipresent whenever wellqualified refugees tried to obtain one of the more prestigious jobs. The announcement of the Sydney City Council to hire the highly skilled Viennese electro-technician Walter Diesendorf as an assistant engineer in December 1938, provoked an aggressive wave of resistance and a negative media echo. On March 1939, for example, the Queensland based Morning Bulletin complained about the cast, claiming that it is irresponsible to put “such a man [!] into a key industry. The man [Diesendorf] would be interned if we were at war with Germany.”75 Ernest Bowen’ wife remembered the buzz caused by her husband’s appointment as a foreman in a wool mill: “Ernest was introduced to the Laycocks, owners of Laconia Woolen Mills. They employed him as a foreman. He was a well experienced, well trained textile man and well qualified to reorganize this or that procedure. However, the depression still left many people unemployed and the factory workers went on strike because they said this sort of job should be given to an Australian. It had not been proved that Ernest had qualifications not obtainable in Australia of an Australian born citizen. The case came to court.”76
The architect Karl Langer encountered similar reactions when he was appointed town planner for Brisbane (Queensland), as his wife described: “That was in 1946 and the returned soldiers made such a campaign against him that he declined the job before he even started it. They pulled his name through the papers and I do not know what all, even through parliament, and Karl nearly lost his health over it. It was so upsetting, you have just no idea. […] It was so absolutely terrible what they did to him.”77
5.
Analysis
The Australian government expected refugees from National Socialism to cater for their own needs and their own costs of living: not much was done to support their acculturalisation. There was generally little public knowledge about the refugees’ sensitive situation. Some of them were able to gain support from Jewish communities. Non-religious refugees or those who belonged to different faiths, however, in most cases did not receive any support at all. These factors com75 Morning Bulletin, 15 March 1939, 12. 76 State Libary of Victoria, MS12651, Mutton Annemarie, Papers, ca. 1930–1987. [manuscript]., c. 1930–1987. 77 NLA, Langer, 51.
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plicated the refugees’ settling process and, in many cases, influenced their level of identifications with their new host society. “Class” was an important factor that affected refugee encounters and offered additional points of rupture. Viennese refugees moved from a society characterised by a marked class distinction into one that was much less segmented socially. Most of them had belonged to the educated upper and middle classes and suffered from an intense biographical disruption. They had pursued middleclass professions in Vienna and, after their escape to Australia, were expected to do jobs, Australians did not want to do. Consequently, many recalled being exploited as cheap labour force, or even as “slave labour” as John Hearst put it. This sometimes led to tensions with the local population, what also affected encounter situations. Refugees further recalled that encounters with locals during that phase took place mainly on three different occasions: Immediate encounters after their arrival, everyday neighbourhood encounters, and encounters at the workplace. The experiences they made on these occasions affected the kind of their cultural identification with their host society. The first phase of encounters, immediately after the refugees’ arrival, carried the most diverging memories. Some of the refugees recalled being welcomed at the port and having found shelter and accommodation. They even mentioned that their hosts had organised jobs for them. In those cases, the initial arrival phase was not remembered as a time of isolation and desperation but rather as a new, challenging but positive experience. Interviews with Maria Bergel, Annemarie Mutton, Gertrude Langer und Elisabeth Ziegler who recalled having enjoyed local support show that they engaged themselves more intensely with their new host society and generally identified more positively with their host culture, at the same time either keeping up ties to relatives and friends in their country of origin, or to other members of the exile community. Others recalled the first days and weeks after their arrival as a period of isolation and estrangement. As John Hearst’s memories show, they sometimes also felt exploited: many regarded themselves as helpless and felt that they were at the mercy of their fellow-Australians. Prevailingly negative reports on their early encounters and their isolated living situations indicated an initial low level of identification with the Australian society. As we can see, encounter experiences were extremely individualised. In general, there were no visible class, or age-specific differences: all of those interviewed for this paper came from an upper-middle class background. Roberts and Hearst had even established contacts to Australians before coming to Australia, however, despite their previous contacts, perceived their initial encounters as rather unsupportive. Encounters in the neighbourhood were remembered similarly different. As many interviewees pointed out, social capital and networks played a substantial
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role in overcoming notions of isolation. Many stressed the importance of having been introduced personally or by letter to their neighbours. Thus, as they depicted, personal reference was quintessential for them to extend their social contacts in their neighbourhoods. In general, elderly refugees sometimes felt stuck “in between two worlds” thus keeping a lower level of cultural identity with their new host society. A good example can be the writer Paul Hatvani, who came to Australia at the age of 47 and later described his feelings of identification and belonging with the words “neither here, nor there.”78 In contrast, others such as Kurt Selby who decided to settle into ethnic or religious neighbourhoods created themselves a “new home away from home”, incorporating many aspects of their old home context in Australia including culture and language. The workplace was the last space of encounter analysed in this paper. In most cases, refugees were unable to find employment in Australian companies, since there were only few jobs available due to the tense economic situation. Consequently, most of them started their own businesses, based on their European knowledge and cultural capital. In some cases, they made a living by referring to and identifying with their Austrian or European culture. The Adelaide based refugee Maria Bergel, who opened up a European Deli, or Charles William Anton who founded the first Austrian style ski club in New South Wales are only two of many examples of refugees who identified themselves professionally with elements of their former home culture. In those cases, ties with the old home country remained strong and the refugees also maintained a high level of cultural identification with their new host society. Refugees who were able to compete on the labour market because of their sought-after professional know-how usually made different experiences. They almost unanimously faced waves of resistance and hostility directed against foreigners who were suspected to take away high profile jobs from Australians in times of economic tension, as the life-stories of Karl Langer, Walter Diesendorf and Ernest Bowen show.
6.
Conclusion
History allows us to see the present in a new light. It highlights the peculiarities of the status quo and suggests affinities between what was and what is. In this sense, historians have been making countless efforts to analyse and understand the complex processes of migration and forced-migration. By analysing biographical case studies, this paper offered an insight into the complexities and divergence of identity forming processes related to forced migrations. As the journey through the memories presented here indicate, the formations of identities are highly 78 Paul Hatvani, “Nicht da, nicht dort: Australien,” in: Akzente 6 (1973): 564–571.
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individualised and hybrid. What I particularly intended to show is that many different degrees and kinds of cultural identifications deployed once refugees who were forced to flee their home countries had entered a host society. These identifications were hybrid and could change depending on the experiences the refugees made. Comprehending these processes by firstly locating them through the narrations of the protagonists’ experiences as well as by contextualising them against the background of their cultural domain can help shaping our understanding of the complex processes related to forced migrations. The level of cultural identity among the people analysed here was fluid. Over time, many refugees reduced the bonds to their old homeland, because of many different reasons: Some did not have friends and family in Austria anymore, some consciously cut their ties to a society that had forced them to leave. Others, contrarily, intensified their contacts, visited Europe several times after the war even making new friends and ties. People such as Sue Coppolov, Gerry Felser, or Charles William Anton, for example, used their ties to build up solid businesses in Australia based on contacts with their former home society. As we have seen, the study of encounter experiences of historical actors allows comprehensive insights into everyday encounters in so called contact zones that shaped identity processes. They could be explored much more intensely and much more research is needed in this field. Thus I hope that the approach demonstrated in this study will offer a starting point for further socio-historical analyses in the field.
Abstracts
Post-war experiences. Exclusion and Inclusion of Victim- and Perpetrator-Collectives after 1945 Susanne Korbel “It seems to me, that there is a mistake about what is ‘de-nazification’”. Debates on denazification and re-democratization of the University of Graz 1945 to 1955 In this article, I examine discussions on denazification and re-democratization at the University of Graz in the post-war years. I ask how the encounter of actors with differing closeness to and pasts in National Socialism affected the denazification processes of the microcosm of the university in the Austrian state Styria. Against the backdrop of legal developments in Austria, I analyze the implementation of laws and strategies applied by actors in order to delay legal punishment and to prevent facing consequences. Finally, the article discusses how the failed re-appointment of expelled persons contributed to the increasing provincialization of the University of Graz over the next decades. The article thus shows how the authorities in Vienna, the British military government in Styria, the protagonists at the university and newspapers discussed denazification and a re-democratization. Keywords: Postwar Austria – Denazification – University History
Marco Jandl German Studies in Graz between reconstitution and continuity, narratives of innocence and denazification politics The field of German Studies in Austria was particularly affected by acts of denazification in the post-war years. Nearly all members of this scientific discipline
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were politically examined. The professors at the “Seminar für Deutsche Philologie” in Graz, except for lecturer Hugo Kleinmayr, had come to terms with the National Socialist regime too. During the denazification of the Seminar its members developed multiple strategies to prove political reliability. The historical files show that the argumentations were mostly accepted uncritically. The scientists fled into innocuous topics and pretended to have always acted apolitically in their academic work. They quickly returned to a regular working mode and a critical examination with the recent past did not happen. This narrative of an unpolitical science became fragile after a period of deafening silence. Instead, the image of a discipline especially prone to nationalist ideology was established. Political agendas can be traced back to the beginnings of the Seminar in the 19th century. The tight links with the Folklife Studies (“Volkskunde”) are a significant example. This study however departs from generalizing assertions. A nuanced perspective reveals a complex image of a university department during the National Socialist era and afterwards. It determines the scopes of actions available to the institute members. Thus, the scientists displayed various, and frequently inconsistent actions and patterns of behaviour. Keywords: Postwar Austria – Denazification – University History
Markus Roschitz The Denazification of teachers in the region of South-West Styria On the basis of specific cases of the South-West-Styrian region, this essay provides an analysis of the different stages of Denazification. The involvement of authorities, the administrative process and undertaken measures are explained in detail. The British Education Branch in particular enforced the Denacification of teaching staff, while the Styrian Education Authority (Steiermärkischer Landesschulrat), as soon as cut off British control, lacked severity in action. Hence, the question whether the Denazification process can be considered successfully conducted is discussed in the last section of this essay. Keywords: Postwar Austria – Denazification – Educational History
Lukas Nievoll “Jewish” Testemony. Aspects of Dealing with Holocaust Survivors exemplified by the 1963 trial of Franz Murer in Graz This article deals with the trial against the National Socialist war criminal Franz Murer, which took place in Graz in 1963. This trial can be regarded as a paradigmatic case study showing the inadequate judicial punishment of National
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Socialist crimes by jury courts in post-World War II Austria. A particular focus lies on the treatment and depiction of Holocaust survivors in court, many of whom had experienced Murer as the “Lord of life and death” in the Vilna Ghetto. In addition, this article also takes the court interpreters into account, who themselves were Holocaust survivors. It became clear that Austrian politics and society in general had no willingness to deal with National Socialist criminals in an appropriate way. Keywords: Transitional Justice – War Criminals – Holocaust Survivors
Heribert Macher-Kroisenbrunner The American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) in the British zone of Austria At the End of the Second World War millions of people in Europe were uprooted and searching for a new home. The AJDC was in the Displaced Person (DP) camps of Europe to assist the survivors of the Holocaust. Also, the rebuilding of Jewish communities in Europe in the post-war period offered hope and a future to the survivors. The article focuses the activities of the AJDC in the British zone of occupation of Austria. The Joint opened an office in Graz in 1945 and assistance thousands of Jewish refugees in the British zone. In Graz, the AJDC worked to improve the lot of the needy, the poor, and the sick and helped establish institutions such as homes for students and kids, Jewish schools, social welfare programs and health clinics. The Joint also played a decisive role in the reestablishment of the Jewish community and the Jewish life in the region. Keywords: Postwar Austria – Holocaust – Displaced Persons
Philipp Strobl Austrian-Jewish Refugees in Pre- and Wartime Australia Ambivalent Experiences of Encounter As “strangers” in a new land, Jewish refugees from National Socialism had experienced, what has been described as “everyday otherness” upon their arrival in Australia. This paper analyses refugees’ memories of everyday-life situations to demonstrate the dynamics of self-identities and the diverse and complex ways, encounters had impacted upon their social relations and their identity formation in Australia. Located at the intersection of urban studies and the history of migration, it draws upon qualitative, biographical approaches based on the refugees’ memories of their early years after their arrival to pin down experiences of encounter. Memories on their encounter experiences offer a reflective judg-
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ment of the meaning of their experiences. They show, how refugees recalled having experienced “everyday otherness” upon their arrival, a process that, as this paper argues, sustainably affected success or failure of their transition from being a “stranger” in the contact phase towards their acculturation. Keywords: Cultural Encounters – Jewish Refugees – Australia
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Andreas Audretsch/Claudia C. Gatzka (Hg.), Schleichend an die Macht. Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen, Bonn, Dietz Verlag 2020, 132 Seiten. Es braucht wohl nicht besonders betont werden, dass die „Neue Rechte“ derzeit – im Schatten der COVID-19-Pandemie – in unterschiedlichem Ausmaß zunehmend Zuspruch gewinnt. Sei es in den USA, in Italien, Frankreich oder Deutschland sowie auch hierzulande, wo der Sprecher der rechtsextremen Identitären regelmäßiger Studiogast eines Privatsenders ist und wo am Nationalfeiertag im Einklang mit vielen rechten Gruppierungen gegen das Tragen von Masken demonstriert wird. Im Kern geht es dem rechten Populismus um die Begründung eines neuen, vielfach autoritären, und rassistischen Nationalismus in Abkehr aller Menschenrechte. Die Geschichte ist – wie Jürgen Kocka im vorliegenden Band eingangs feststellt – ein „Kampffeld“, in welchem durch verkürzte oder verzerrte Aussagen abstruse politische Theorien (wieder-)begründet oder untermauert werden (S. 14). Geschichtsbilder spielen eine tragende Rolle, um jene „kulturelle Hegemonie“ zu erreichen, die – nach Gramsci – notwendig ist, um einen Konsens zwischen Herrschenden und Beherrschten herzustellen. Das ist auch der Ansatz, mit dem die HerausgeberInnen des Bandes zusammen mit weiteren HistorikerInnen und PolitikwissenschafterInnen die Instrumentalisierung von Geschichte durch die „Neue Rechte“ an Hand einiger Beispiele beleuchten. Schließlich geht es ganz zentral darum, um die Geschichte zu kämpfen, „um eine Zukunft zu haben“ (S. 17), wie Andreas Audretsch und Claudia C. Gatzka in ihrer Einleitung formulieren. Im ersten Teil des Bandes wird in drei Aufsätzen die rechtspopulistische Geschichtsdeutung in Deutschland, Italien und Ungarn analysiert. In Deutschland ergeht sich – wie Andreas Audretsch beschreibt – die AfD in überkommenen Großmachtphantasien und beschwört einmal mehr die kulturelle und militärische Überlegenheit der Deutschen. Der Lega Nord geht es nach den Darlegungen von Claudia C. Gatzka weniger um eine Rehabilitierung des Faschismus – auch wenn sich Matteo Salvini immer wieder faschistischer Symbole bedient und sich im weiteren Umfeld Relativierungsstrategien zeigen –, als um eine Umwertung republikanischer Gründungsmythen. Salvini enteignet die Festa della Liberazione am 25. April von der politischen Linken und stilisiert die Lega „zu den ‚wahren‘ Erben der italienischen Befreiungsbewegungen“ (S. 43). „Befreiung“ wird damit zur umfassenden Chiffre, mit der das Land von Flüchtlingen, Islamismus und chinesischer oder deutscher Handelsdominanz „befreit“ werden soll. Ähnlich versucht sich in Ungarn Viktor Orbán als Nachfolger all jener zu stilisieren, die den Kampf des Landes gegen übermächtige Feinde, wie einst die Habsburger oder später die Sowjetunion, führten. Stephan Ozsváth sieht Ungarns Erinnerungspolitik als „Ku-
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lissenschieben in einem großen Theater der Erinnerung“ (S. 57). Wer sich aber gegen den Ab- und Aufbau von Denkmälern, die Umbenennung von Straßen und Plätzen und gegen den Aufbau neuer orbankonformer Erinnerungssubjekte wehrt, wird mundtot gemacht (S. 25). Während in den rechtsextremen Parteien und Gruppierungen die zur Legitimation zukünftiger Macht notwendigen Geschichtsbilder laufend nach den aktuellen Entwicklungen angepasst werden, zeigt Ungarn, wie brutal Geschichtskonstruktionen durch die „Neue Rechte“ an der Macht durchgesetzt werden. Im zweiten Teil des Bandes wird die rechtspopulistische Geschichtsdeutung an Hand von Demokratie, Frauenrechten, Religion und Corona-Pandemie behandelt. Markus Linden zeigt, wie von den Rechtspopulisten daran gearbeitet wird, einen ethnischen, kulturell beengten und minderheitsfeindlichen Volksbegriff mehrheitsfähig zu machen. Dem rechten Antifeminismus geht es – wie Claudia C. Gatzka zeigt – vor allem um die Bewahrung des „Abendlandes“ vor muslimischer Unterwanderung durch die völkische Aufladung von Frauenrechten und die Einengung der Emanzipationsgeschichte auf das „weiße“ Europa (S. 69). Im Bereich der Religion wird von der „Neuen Rechten“ gleichsam eine homogene europäische christliche Tradition konstruiert, die die Errungenschaften der Aufklärung negiert und sich gegen MuslimInnen richtet. Um die Rettung und/oder Befreiung des ethnisch verstandenen „wahren Volkes“ geht es im Beitrag über die Corona-Epidemie, in der die Rechtspopulisten eine Chance sehen. Zum einen soll „das Volk“ von einer bösen Elite befreit werden, die das Virus benützt, um die Weltherrschaft zu erringen. Zum anderen ist das Volk vor einem „bösen Virus“ zu schützen, welches durch offene Grenzen ins Land kam. Dabei werden immer wieder historische Narrative bedient. Im Kern sind alle von den neuen Rechten geschaffenen und propagierten Geschichtsbilder ähnlich: Es geht um die Instrumentalisierung von Freiheitskämpfen, um die Propagierung ehemaliger Größe und um die Beschwörung eines nie da gewesenen Volkes, einer „Volksgemeinschaft“, wie sie die Nationalsozialisten erträumten. Die Dekonstruktion des Nationalen und vieler überkommener Mythen durch die Geschichtswissenschaft wird völlig negiert. Für die AutorInnen des Beitrages ist klar: „Die Corona-Pandemie darf nicht zum ‚historischen Wendepunkt‘ hin zum Nationalismus werden, wie es die Neue Rechte erträumt“ (S. 102). Paul Jürgensen und die erst kürzlich ob ihrer demokratiegeschichtlichen Studien mit dem Anna-Krüger-Preis ausgezeichnete Münchner Historikerin Hedwig Richter sehen denn auch Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft in der Verantwortung für die Geschichte und die Zukunft (S. 105). Diesem Appell sich anzuschließen ist dieses schmale, doch inhaltsschwere Bändchen gewidmet, welches – wenn auch nur Ausschnitte aus einem breiten und immens wichtigen Forschungsfeld bearbeitet werden – ganz
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entscheidende Anstöße für eine weitere intensive Beschäftigung mit der Geschichtspolitik der „Neuen Rechten“ bietet. Klaus-Dieter Mulley
Glanz und Grauen. Kulturhistorische Untersuchungen zur Mode und Bekleidung in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. v. LVR-Industriemuseum, Textilfabrik Cromford, Ratingen 2018, 417 Seiten. Kaum eine andere Epoche ist so gut erforscht und publizistisch so umfassend aufgearbeitet wie die Zeit des Nationalsozialismus. Umso erstaunlicher ist es, dass dem Thema Mode und Bekleidung in der NS-Zeit bis dato nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Gloria Sultanos gedruckte Dissertation „Wie geistiges Kokain… Mode unterm Hakenkreuz“ (1995) und Irene Guenthers Buch „Nazi Chic? Fashioning Women in the Third Reich“ (2004) seien an dieser Stelle als herausragende Monographien genannt; Teilaspekte finden sich in Aufsätzen über Kostümgeschichte, Jugendkulturen oder auch nationalsozialistische Sexualpolitik. Wenn wir die Augen schließen und an Mode im Nationalsozialismus denken, dann sehen wir Bilder von Frauen im Dirndlkleid und Männern in Uniform. Doch diese Vorstellung ist ein Klischee und entspricht nicht der Realität. Ein großangelegtes Forschungsprojekt zur Bekleidungsgeschichte der 1930/40erJahre und eine daraus resultierende Ausstellung mit einem sehr umfangreichen Katalog zeigen uns ein vielfältiges und vielschichtiges Bild der Mode und Bekleidung in der Zeit des Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt steht die umfangreiche Textilsammlung des LVR-Textilmuseums. Für das Projekt wurde umfangreiches Quellenmaterial wie Privatfotos, Modezeitungen, Broschüren und die Erinnerungen von Zeitzeuginnen ausgewertet. Der Katalog gliedert sich in fünf große Themenblöcke und schließt mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis ab. Der erste Themenblock beschäftigt sich mit Methoden, Bekleidungsforschung weiterzuentwickeln und neue Perspektiven im Hinblick auf ein methoden- und quellenpluralistisches Vorgehen zu etablieren. Die weiteren Bereiche des Katalogs bieten der Leserin und dem Leser unterschiedliche Zugänge innerhalb der Gesamtfragestellung, zeigen die verschiedenen Ausformungen von Mode und Bekleidung im Nationalsozialismus, leiten sodann über zu einer umfangreichen Darstellung der unterschiedlichsten Facetten des Kleiderkonsums. In einem Kapitel zum Thema Inklusion und Ausgrenzung geht es vor allem um die Klei-
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dung von Jugendlichen in der NS-Zeit und der abschließende Ausblick befasst sich mit Entnazifizierung, die auch den Bereich der Kleidung betraf. Herausgehoben und farblich abgesetzt werden Einzelobjekte mit detaillierter Beschreibung wie beispielsweise „Sechs Lederknoten, zur HJ-Uniform getragen“ oder „Holzkiste mit Stoffresten“. Anhand dieser speziellen Objekte wird exemplarisch konkretisiert, was es im korrelierenden Kapitel inhaltlich und methodisch herauszuarbeiten galt. In den einzelnen Beiträgen wird die von den Nationalsozialisten propagierte „Deutsche Mode“ ebenso thematisiert wie die Einführung von neuen Materialien wie Kunstseide oder Zellwolle. Mode im deutschen Film der NS-Zeit steht als Wunschvorstellung im Gegensatz zur realen Rationierung von Kleidung und einer damit einhergehenden „Textilnot“ während des Zweiten Weltkriegs. Die Reichskleiderkarte hatte auch eine politische und lenkende Dimension, diente sie doch auch der Bevorzugung von „Volksgenossen“ beziehungsweise dem Ausschluss von bestimmten Gruppen. Kleidung ist in mehrfachem Sinn politisch und gerät einerseits durch „Arisierung“ und Ausbeutung in die Spirale der Gewalt, andererseits dient Kleidung auch der Ideologie und markiert durch Uniformierung, Parteiabzeichen, aber auch dem „Judenstern“ die Zugehörigkeit oder den Ausschluss aus der „Volksgemeinschaft“. Im Detail behandelt der Band unter anderem folgende Themenfelder: Instrumentalisierung der Tracht, die Herausbildung von Konsummustern und deren Veränderung während der Kriegsjahre, Vorbilder und Widersprüchlichkeiten im Modeverständnis, „Arisierungen“ in der Textilindustrie, die SwingJugend, Notgarderobe beziehungsweise Kleidung aus Ersatzstoffen sowie die Perspektive der „kleinen Leute“ anhand zahlreicher Originalobjekte. Ein Konvolut von datierten und ausgepreisten Originalstoffen bietet darüber hinaus interessante Erkenntnisse über zeittypische Stoffqualitäten sowie die zunehmende Qualitätsminderung durch Beimischung synthetischer Fasern während der Kriegsjahre. Der hochwertig gestaltete Katalog ist durchgehend illustriert mit zahlreichen Objektfotos, zeitgenössischen Privatfotos und Abbildungen aus Modezeitungen. Mit den Abbildungen einzelner Kleidungsstücke und deren ausführlicher Beschreibung in den Begleittexten bietet dieser Band auch für Personen, die keine Gelegenheit zum Besuch der Ausstellung hatten, ein fast haptisches Erlebnis und macht das Thema Mode und Bekleidung im Nationalsozialismus zu einer spannenden visuellen Zeitreise. Michaela Pfundner
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Beatrix Bastl, Die jüdischen Studierenden der Akademie der bildenden Künste Wien 1848–1948 (Schriften zur Kulturgeschichte 56), Hamburg, Verlag Dr. Kovacˇ 2019, 289 Seiten. Zahlreiche deutsche und österreichische Universitäten und Hochschulen haben sich in den letzten Jahrzehnten mit ihren jüdischen Studierenden und Lehrenden beschäftigt. Mit „Die Akademie der bildenden Künste Wien im Nationalsozialismus. Lehrende, Studierende und Verwaltungspersonal“ (2015) hat Verena Pawlowsky diese Zeit kompakt und trotzdem detailreich und differenziert dargelegt. Nun folgt Beatrix Bastl mit einer Studie zu den jüdischen Studierenden über den langen Zeitraum von 1848 bis 1948. Das Buch besteht neben einer 66-seitigen Einleitung im Hauptteil aus einem 185-seitigen „alphabetischen Personenverzeichnis“ jüdischer Studierender mit 480 Kurzbiografien, ergänzt um 28 Biografien von Studierenden mit „ungeklärter Konfession“. Die Biografien differieren im Umfang zwischen drei Zeilen (Maximilian Baumgarten) und vier Seiten (Friedrich Kiesler). Einige Studierende, die später bekannte KünstlerInnen wurden, teilweise auch selbst Akademie-ProfessorInnen, werden ausführlicher behandelt. Basis der Arbeit sind die Inskriptionsunterlagen der Studierenden aus dem Archiv der Akademie der Bildenden Künste, mit dessen Beständen die Autorin als ehemalige Leiterin bestens vertraut ist. Sie verweist auf die generellen Schwierigkeiten der Quellenlage und darauf, „dass man in dieser Frage zu keinen endgültigen Ergebnissen kommen kann“ (S. 9). Sie nahm eine „Erhebung aller möglichen Daten im Akademiearchiv“ (S. 10) in Angriff. Die teilweise nur sehr spröden Kerninformationen aus den Inskriptionsunterlagen reichert Bastl in mühevoller Kleinarbeit aus zahlreicher, teils auch sehr entlegener Literatur an, die am Ende jeder Biografie sowie in einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis angeführt wird. So gibt es nun zu vielen Personen biografische Erstinformationen, die noch kaum in anderer Literatur zu finden sind. Darin liegt auch ein großes Verdienst dieser Publikation. Interessierte LeserInnen werden allerdings vor schwerwiegende Probleme gestellt. Die im Titel genannten Kernbegriffe „jüdisch“ und „Studierende“ sowie der ausgewiesene Zeitraum verschwimmen bei der Lektüre weitgehend. Wer als „jüdisch“ definiert und berücksichtigt wird, problematisiert die Autorin zwar an verschiedenen Stellen, legt aber nicht offen, nach welchen Kriterien sie letztlich ihre Zuordnungen getroffen hat. Ungeachtet welches erwartbare Kriterium man anlegt – Zugehörigkeit zur entsprechenden Religionsgemeinschaft, Selbstdefinition oder Fremdzuschreibungen (etwa rassenbiologistische oder legistische im Nationalsozialismus) –, so finden sich in der Auflistung jeweils auch Gegenbeispiele. So gaben von den 480 „jüdischen Studierenden“ 77 bei der Inskription eine andere Konfession oder konfessionslos an: römisch-katholisch (19), altka-
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tholisch (1), evangelisch AB oder HB (7), „ohne Konfession“ (50). Das amtliche Religionsbekenntnis bei Eintritt in die Akademie war zumindest bei diesen immerhin 16 Prozent nicht der Zuordnungsgrund. Wer „jüdisch“ ist und wer nicht, entscheidet die Autorin nach anderen Kriterien, deren Offenlegung in einer wissenschaftlichen Arbeit notwendig gewesen wäre. Dass von dieser Hauptliste eine eigene Liste mit 28 Biografien unter dem Titel „ungeklärter Konfession“ abgegrenzt ist (worunter sich fünf Personen als römisch-katholisch, eine Person als protestantisch und 22 als konfessionslos deklarierten), ließe hingegen erwarten, dass bei den anderen die Konfession erstens geklärt und zweitens scheinbar doch das entscheidende Kriterium gewesen sei. Auch die zentrale Kategorie „Studierende der Akademie“ wird nirgends erläutert. Das Alltagsverständnis von einer „Person, die an der Akademie studiert hat“, scheint naheliegend. Doch der alphabetisch erste Biografieeintrag stellt mit Grete Adler eine Person vor, die nie an der Akademie studiert hat. Adler war römisch-katholischer Konfession, ihr Aufnahmeansuchen wurde 1938 abgelehnt. Sie galt nach den NS-Rassegesetzen „als ‚Halbjüdin‘ und ‚Mischling 1. Grades‘“ (S. 26, 75). „Jüdisch“ wird hier zu einer problematischen Übernahme der rassenbiologisch-ideologisch definierten Fremdzuschreibung im Sinne des Nationalsozialismus. Wieso Adler als „Studentin der Akademie“ gilt, ist damit aber nicht erklärt. Auch der gewählte Zeitraum „1848–1948“ wird nicht begründet. Die klassische „100 Jahre“-Periodisierung priorisiert eher die Logik der „runden Zahl“ statt inhaltlichen Kriterien zu folgen. Der Beginn scheint willkürlich gesetzt. Wer erwartet, die Arbeit setzt mit der ersten Zulassung jüdischer Studierender (wie immer definiert) an der Akademie ein, wird in der Einleitung durch die Aufzählung von jüdischen Studierenden zwischen 1833 und 1843 eines Besseren belehrt. Die Wahl scheint auch nicht mit der Quellenlage zusammenzuhängen. Denn die Autorin erwähnt in der Einleitung, dass „die mosaischen Schüler der Akademie zwischen 1848 und 1868 […] nur schwer fassbar“ seien, „da in den Matrikelbüchern keine Konfession genannt wird“ (S. 16), und stellt im Kapitel „Quellenlage/Quellenkritik“ nochmals klar, dass man für 1848–1868 „nicht mit Sicherheit sagen kann, welcher Studierender der mosaischen Konfession angehörte“ (S. 22). Dass der Untersuchungszeitraum der Arbeit 1948 endet, scheint auch keinen Formalkriterien wie Überlieferungslage, datenschutz-, personenoder archivrechtlichen Fragen geschuldet zu sein. So wird auch die Biografie eines noch lebenden ehemaligen Studierenden (S. 94) vorgestellt, obwohl dieser 1948–1952 an der Akademie studiert und bei der Inskription 1948 als Religionsbekenntnis „römisch-katholisch“ angegeben hatte. Ein weiteres Manko ist das Fehlen einer statistischen Auswertung dieser – wie auch immer definierten – Personengruppe. Im 38-seitigen Kapitel „Auswertung der Daten“ reduziert sich die „Auswertung“ auf nur zwei Seiten. Auf 36 Seiten
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listet die Autorin 15 Biografien von „Akademieprofessoren (in Auswahl)“ (S. 39– 57) und neun Biografien unter dem Titel „Deportierte/Ermordete/Emigranten/ Ungewisse Schicksale“ (S. 58–74) auf. In der zweiseitigen Datenauswertung wird über die gesamten 100 Jahre für die Kategorien Konfession, Muttersprache, Herkunftsländer, Studienrichtung, soziale Herkunft, Wohnbezirke der Studierenden in Wien jeweils eine einmalige Gesamtzahl je Variable dieser Kategorien angegeben. Ohne eine zeitliche oder inhaltliche Differenzierung, ohne Relation zwischen den Variablen, ohne Angaben einer allfälligen Häufung in bestimmten Zeiträumen oder über Ansteigen bzw. Sinken einzelner Angaben in verschiedenen Perioden. Es gibt auch keine Angabe zur jeweiligen Grundgesamtheit (zählt man die Einzelwerte jeweils zusammen ergibt sich für jede Kategorie eine unterschiedliche Zahl) und vor allem keine Vergleichszahlen zur Gruppe der nicht-jüdischen Studierenden. Es erübrigt sich fast darauf hinzuweisen, dass zahlreiche Kategorien bzw. Variablen sich in den behandelten 100 Jahren verändert haben. Dass die Kategorie „Geschlecht“ bei der Auswertung gänzlich fehlt, scheint auf den ersten Blick wettgemacht durch zwei eigene Kapitel „Weibliche Studierende“ und „Männliche Studierende“. Bei den weiblichen Studierenden wird darauf verwiesen, dass sie erst ab 1920 an der Akademie zugelassen werden, gefolgt von elf „exemplarischen“ Kurzbiografien, die nochmals im alphabetischen Hauptteil abgedruckt sind, dort mit Quellen- und Literaturangaben. Dasselbe gilt für das Kapitel „Männliche Studierende“, wo auf fünf Einleitungszeilen unkommentiert 21 Biografien folgen, wieder gedoppelt zum alphabetischen Hauptteil. Auswahlkriterien und Erkenntnismehrwert erschließen sich dem Rezensenten nicht. Die wissenschaftliche Verwendbarkeit der biografischen Datensammlung leidet unter den nicht deklarierten und vielfach nicht nachvollziehbaren Definitionskriterien der Autorin, bietet aber immerhin verdienstvolle biografische Informationen. Herbert Posch Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Dunkelheit des politischen Horizonts. Salzburg 1933 bis 1938 in den Berichten der Sicherheitsdirektion, 3 Bde. (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-WilfriedHaslauer-Bibliothek 70), Wien/Köln/Weimar, Böhlau 2019/2020. Die Publikation von Quellentexten ist seit geraumer Zeit ziemlich aus der Mode gekommen. Den Salzburger Historiker Robert Kriechbaumer hat das noch nie sonderlich beeindruckt. Er zeichnet über die letzten zwanzig Jahre für eine ganze Reihe einschlägiger Herausgeberschaften verantwortlich, wobei einen wichtigen thematischen Schwerpunkt die 1930er-Jahre bilden. Die inhaltliche Bandbreite
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reichte dabei von der visuellen Repräsentation der austrofaschistischen Diktatur (Ein Vaterländisches Bilderbuch, 2002) über Innenansichten der Vaterländischen Front (Österreich! und Front Heil!, 2005) bis hin zu den christlichsozialen Parteitagen der Ersten Republik („Dieses Österreich retten…“, 2006). Der vorliegenden Zusammenschau von Akten der Salzburger Sicherheitsdirektion zwischen der Parlamentsausschaltung 1933 und der NS-Machtübernahme 1938 ging bereits eine Edition von Berichten derselben Behörde in der Zweiten Republik voraus (Neues aus dem Westen, 2016). Kriechbaumers Akribie und Schaffenskraft verdient schon per se Anerkennung. Mit einigem Recht kann er für sich in Anspruch nehmen, entgegen den Konjunkturen des Fachs das Potenzial von Quelleneditionen anschaulich zu machen, mitunter allerdings auch, welche Schwierigkeiten und Herausforderungen damit verbunden sind. Aber der Reihe nach. Das voluminöse Subjekt dieser Rezension ist eine dreibändige, in Summe stolze 1755 Seiten starke Quellensammlung, die sich chronologisch in drei Abschnitte gliedert: der erste Band behandelt die Phase der Niederschlagung der Ersten Republik und der Aufrichtung der Diktatur unter Engelbert Dollfuß zwischen März 1933 und Februar 1934; der zweite Band setzt ein mit dem Nachhall der Februarkämpfe 1934 und erstreckt sich bis zum Juliabkommen mit dem Deutschen Reich 1936; der dritte Band schließlich widmet sich der sukzessiven Desintegration und schließlich dem Kollaps des Regimes bis zum „Anschluss“ 1938. Im Fall der Februarkämpfe und des Juliputsches werden die Dokumente der Sicherheitsdirektion ergänzt um Darstellungen des Bundesheeres und um Auszüge aus Gerichtsakten. Die Dokumente sind in sich unterteilt in einen Abschnitt zur allgemeinen Stimmungslage und nachfolgend in Rubriken zur NSDAP, Sozialdemokratie, zur KPÖ und zu Regimeloyalisten mit Schwerpunkt auf die Heimwehr. Die weitaus meisten Quellen widmen sich in allen drei Bänden der NSDAP. Den historischen Dokumenten jeweils vorgeschalten sind ausführliche, primär politikgeschichtlich orientierte Einleitungen, die allgemeinere Entwicklungslinien zusammenfassen und den Quellen damit einen Rahmen geben. Inhaltlich greift diese Kontextualisierung weit über die Salzburger Landesgrenzen hinaus, verweist aber immer wieder auf diese zurück. Je nach Band nimmt die historische Einbettung zwischen einem Drittel und der Hälfte des Gesamtumfanges ein, sie wird zudem durch Bildtafeln ergänzt. Schon aufgrund seiner geografischen Lage war Salzburg ein wichtiger Schauplatz zwischen dem österreichischen Regime, heimischen NS-Aktivisten und dem Deutschen Reich. Hinzu kam eine sozioökonomische Struktur, die eher ungünstige Voraussetzungen für die Linke bildete. Abseits von einzelnen Industrieenklaven wie Hallein oder Bürmoos gelang es der Sozialdemokratie – ganz zu schweigen der Kommunistischen Partei – nicht, sich nachhaltig zu verankern. Die große Auseinandersetzung, die Salzburg spätestens seit dem Verbot der
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Sozialdemokratie 1934 prägte, war daher jene zwischen dem österreichischen Regime und der NSDAP, dies- wie jenseits der Grenze. Diese Konfrontation ist auch das Thema der weitaus meisten von Kriechbaumer zusammengestellten Dokumente; polizeiliche Wahrnehmungen zu Aktivitäten der Linken spielen demgegenüber eher eine flankierende Rolle. Die sorgfältig kommentierten Quellen zeichnen ein dichtes atmosphärisches Bild der von den Nationalsozialisten verfolgten Strategie der Spannung, die martialische Propaganda mit ökonomischem Druck und physischer Gewalt verband. So illustriert die interne Schilderung eines Papierbölleranschlages auf die Bundespolizeidirektion Salzburg im Jänner 1934 eindrücklich, dass man es bei dieser Art Sprengmitteln keineswegs bloß mit etwas elaborierteren Knallfröschen zu tun hatte: „Der durch die Explosion hervorgerufene Luftdruck hat sämtliche Fensterscheiben des Stiegenhauses bis zum zweiten Stock zertrümmert. Von der Glastüre des Stiegenhauses wurde der Rahmen des Oberlichtfensters herausgeschleudert. Selbst die Scheiben der gegenüberliegenden Glastüre […] wurden durch die Explosion zertrümmert. Es wurden nahezu 100 Fensterscheiben […] zertrümmert“ (Bd. 1, S. 286). Dass es NS-Anhängern überhaupt möglich gewesen war, eine derartige Höllenmaschine mitten im Herzen des Sicherheitsapparates zu zünden und anschließend unerkannt zu entkommen war im Hinblick auf die strikte Austeritätspolitik des österreichischen Regimes nicht ohne Ironie: die Bundespolizeidirektion hatte sich veranlasst gesehen, den „Torposten […] infolge der angeordneten Sparmaßnahmen auf[zu]lassen“ (ebd.). Trotz des stetig steigenden Druckes, auch das illustrieren die hier versammelten Dokumente deutlich, war das Dollfuß-Regime in keinem Moment gewillt, einen Schulterschluss mit der heimischen Linken im Sinne einer gemeinsamen Abwehrfront zu vollziehen, obwohl die Sozialdemokratie mehrfach und geradezu flehentlich ihre diesbezügliche Bereitschaft betonte. Die Salzburger Christlichsozialen, allen voran Landeshauptmann Franz Rehrl und Altkanzler Rudolf Ramek, waren, ähnlich der oberösterreichischen Landespartei, den gemäßigten, demokratisch orientierten Kräften zuzurechnen und verfolgten die Errichtung der Diktatur mit Skepsis. So erklärte Rudolf Ramek gegenüber dem sozialdemokratischen Landesparteisekretär laut dessen Gedächtnisprotokoll noch zwei Tage vor den Februarkämpfen 1934, man stehe „unmittelbar vor blutigen, entscheidenden Ereignissen“, zwar seien Dollfuß und seine Regierung bei 80 Prozent der Bevölkerung regelrecht verhasst, „aber sie haben Waffen, sie haben die Exekutive hinter sich, sie haben die Unterstützung von Mussolini“. Dollfuß sei „jederzeit bereit, wenn er mit den Nazi eine Plattform findet, sie in die Regierung aufzunehmen. Dollfuß und Starhemberg, jeder für sich, verhandelt hinter dem Rücken der anderen mit den Nazi.“ Die Faschisierung seiner Partei, zugleich aber auch seinen eigenen eng begrenzten Handlungsspielraum resümierte Ramek: „Wir Christlichsozialen haben nichts mehr zu reden. […]. Jetzt ist wohl eine neue
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Situation, es steht alles hinter Dollfuß. Wir wissen zwar nicht, ob er ein Christlichsozialer ist, aber jedenfalls hinter ihm.“ (Bd. 1, S. 301–303). Die Monate zwischen den Februarkämpfen und dem Juliputsch 1934 waren in Salzburg von regem Aktivismus des NS-Untergrundes gekennzeichnet, der in Kombination mit permanenten Grenzverletzungen, unrechtmäßigen Verhaftungen durch deutsche Behörden und Scharmützeln mit SA-Männern die Sicherheitskräfte sichtbar überforderte. Die Konsequenz waren unter anderem geharnischte Kritik an den Sicherheitskräften und Forderungen privater Unternehmer nach der Ausgabe von Waffen, um ihre Produktionsmittel gegen NSAngriffe schützen zu können (Bd. 2, S. 278–280). Die Behörden reagierten auf derlei Impertinenz unschlüssig und hielten zwar fest, dass sie „die Grenzen einer erlaubten Kritik überschritten“ und dementsprechend „zum Anlasse einer Bestrafung genommen werden könnte[n]“, sahen jedoch letztlich von einer strafrechtlichen Verfolgung ab (Bd. 2, S. 280–281). Insgesamt erweist sich der Sicherheitsapparat im Lichte der Quellen vor allem in der Phase der Regimedurchsetzung als klar pro-diktatorischer Akteur, der konsequent gegen die Linke vorgeht. Im weiteren Verlauf machen sich dann zwar teilweise erfolgreiche Unterwanderungsversuche durch die NSDAP bemerkbar (Bd. 2, S. 304, 455), vereinzelt sabotieren NS-Sympathisanten auch Fahndungserfolge (Bd. 3, S. 480), der Funktionalität der Exekutive in ihrer Gesamtheit tat das aber offenbar ebenso wenig Abbruch wie ihrer Regimeloyalität bis in die letzten Wochen des Regimes im Februar 1938. Die Ausforschung nationalsozialistischer Strukturen und die Verhaftung von NS-AktivistInnen betrieb die Exekutive konsequent, zum Teil in Abstimmung mit der Vaterländischen Front. Dabei stieß sie auch wiederholt auf Prominente, so wurde der junge Gottfried von Einem mit seinem Bruder vorübergehend festgesetzt, weil sie bei ihrer Einreise aus Deutschland Stiefel und SAHosen trugen (Bd. 2, S. 338), auch Karl Heinrich Waggerl geriet als NS-Sympathisant in Kalamitäten. Interessanterweise konnte ihm diese auch ein prominenter Fürsprecher wie Guido Zernatto („kein Grund zur Annahme […] dass er sich in irgendeiner illegalen Organisation betätigt hätte“) nicht restlos ersparen. Auf Zernattos Intervention hin wurde lediglich zugesichert, Amtshandlungen gegen Waggerl künftig „nur nach genauer Prüfung des Tatbestandes“ durchzuführen (Bd. 2, S. 474–477). Das Misstrauen der Behörden gegenüber Waggerl sollte sich nach dem „Anschluss“ umgehend bestätigen. Die Stärke der vorliegenden Quellensammlung besteht in der Möglichkeit, sich ein Bild von vielen verschiedenen, lokalen Vorgängen zu machen. Dabei kommt eine Fülle von Episoden zum Vorschein, die in stärker abstrahierten wissenschaftlichen Abhandlungen allenfalls punktuell Berücksichtigung finden könnte. Die Publikation adressiert denn wohl auch ein interessiertes Publikum über die historische Zunft hinaus, was auch durch die einleitenden historischen Ab-
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risse unterstrichen wird, die in Summe ein eigenes Buch über das Dollfuß/ Schuschnigg-Regime ergäben. In diesen Skizzen kommt der dezidiert konservative Standpunkt des Herausgebers deutlich zum Ausdruck. So wird zur Illustration einer „allgemeinen“, mehrheitlich offenbar skeptischen Gefühlslage angesichts der Republikproklamation ausschließlich auf zwei prominente Christlichsoziale, Friedrich Funder und Leopold Kunschak, verwiesen (Bd. 1, S. 23); um die allgemeine Bedrohungslage für die bürgerliche Welt 1920 zu unterstreichen, werden sowohl die Beruhigung der Lage in Österreich seit der Jahresmitte 1919 als auch der Kapp-Putsch ausgeklammert, wohl aber die Ruhrkämpfe (die eine direkte Folge des Kapp-Unternehmens waren) bemüht (Bd. 1, S. 25). Das Polizeimassaker im Juli 1927 in Wien assoziiert Kriechbaumer ausschließlich mit „Exzessen der Demonstranten“ (Bd. 1, S. 28), die Wiener Sozialdemokratie habe 1932 ihre Salzburger Genossen „in Erwartung des bevorstehenden Endes des Kapitalismus zu einer radikalen Abkehr der bisher geübten konkordanzdemokratischen Praxis“ drängen wollen (Bd. 1, S. 89). Generell wird der Sozialdemokratie und ihrer, ganz in der bürgerlichen Diktion der 1930er-Jahre „Obstruktionspolitik“, die in der Hitze des Gefechtes auch mal zur „Destruktionspolitik“ mutiert (Bd. 1, S. 120), ein gerütteltes Maß Mitverantwortung an der Errichtung der Diktatur in Österreich zugewiesen. Seitens der Regierungsspitze sei die Entscheidung für die Ausschaltung der Demokratie keineswegs planvoll getroffen worden, sondern durch eine „Vielzahl von innen- und außenpolitischen Faktoren beeinflusst“ gewesen, überdies seien „totalitäre oder autoritäre Regime“ europaweit ohnehin im Trend gelegen (Bd. 1, S. 120). Die militärische Zerschlagung der Opposition soll so gar niemand gewollt haben: Als Zeuge für diese, im Hinblick auf Dollfuß’ Einlassungen im christlichsozialen Klubvorstand doch eher überraschende These wird ausgerechnet der notorische Lügner Ernst Rüdiger Starhemberg aufgerufen (Bd. 1, S. 203) und im Vorbeigehen auch noch dessen Rivale Emil Fey gegen den Vorwurf in Schutz genommen, er hätte es bewusst auf eine militärische Konfrontation ankommen lassen wollen (Bd. 1, S. 205). Und überhaupt hätten doch auch die Schutzbündler nicht für die Erhaltung der Demokratie gekämpft, „sondern für die Diktatur des Proletariates, (bei vielen nach sowjetischem Muster)“ (Bd. 1, S. 206). Auch HistorikerInnen, die dem Herausgeber weltanschaulich näherstehen als der Rezensent, werden angesichts solch gewagter Behauptungen eventuell Zweifel anmelden. Unbesehen solcher Differenzen hätte man sich hinsichtlich der Quellenedition im engeren Sinne einige ausführlichere Bemerkungen zum institutionellen Hintergrund der Quellen gewünscht. Die Einsetzung von Sicherheitsdirektoren des Bundes per 21. Juni 1933 war nicht nur in der Vorstellung Dollfuß’ eng mit der Taktik verknüpft, „zunächst scharf gegen die Sozi“1 vorzugehen, sie bildete 1 Wortmeldung Dollfuß in der Sitzung des Christlichsozialen Klubvorstandes vom 20. 4.1933,
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tatsächlich eine wichtige Stufe im seit Ende der 1920er-Jahre laufenden Prozess zur Zentralisierung von Sicherheitsagenden bei gleichzeitiger Umpolitisierung der Exekutive. Zugleich waren Polizei und Gendarmerie, wie Ramek zurecht bemerkte, eine proaktive Stütze des Regimes, was bei der Bewertung des Quelleninhaltes natürlich zu berücksichtigen wäre. Zum besseren Verständnis würde außerdem ein Verweis darauf beitragen, dass die Sicherheitsdirektionen auch unter den verschiedenen Trägergruppen des Austrofaschismus umkämpft waren, zumal es ihnen seit September 1933 auch oblag, missliebige Personen in Anhaltelager einzuweisen. So wurde in Salzburg wie in den meisten anderen Bundesländern zunächst auf Betreiben von Heeresminister Vaugoin und gegen den Willen von Sicherheitsminister Fey ein Bundesheeroffizier zum Sicherheitsdirektor ernannt, der nach Vaugoins Demontage als Minister zur Jahreswende 1933/34 umgehend durch Polizeidirektor Rudolf Scholz ersetzt wurde. Überdies wäre etwas mehr Information über die Dimensionen und Beschaffenheit des Gesamtbestandes und die Kriterien für die Auswahl des schließlich publizierten Korpus von Vorteil, um Rückschlüsse auf die Repräsentativität der edierten Quellen zu ermöglichen. Nicht zuletzt wäre es im Sinne der besseren Benutzbarkeit wünschenswert gewesen, das Personenregister sowohl um ein Orts- als auch um ein Sachregister zu ergänzen. Florian Wenninger
zit. n. Walter Goldinger (Hg.), Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932–1934, Wien 1980, 239.
Autor/inn/en
Marco Jandl, MA Centrum für Jüdische Studien sowie Lecturer am Institut für Bildungsforschung und PädagogInnenbildung der Karl-Franzens-Universität Graz, [email protected] Susanne Korbel, BA MA, Dr. phil. Centrum für Jüdische Studien sowie Lehrbeauftragte an der Karl-FranzensUniversität Graz, [email protected] Gerald Lamprecht, Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz, [email protected] Heribert Macher-Kroisenbrunner, MA Historiker, Mitarbeiter am Universalmuseum Joanneum, [email protected] Klaus Dieter Mulley, Dr. Wien, [email protected] Lukas Nievoll, Mag. phil. Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz, [email protected] Michaela Pfundner, Mag. Österreichische Nationalbibliothek, [email protected] Herbert Posch, Dr. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, [email protected]
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Markus Roschitz, MMag. Dr. phil. Institut für Geschichte der Universität Graz und Mitteleuropazentrum der Andrássy Universität Budapest, [email protected] Philipp Strobl, PhD., MA, Mag. Stiftung Universität Hildesheim, [email protected] Heidemarie Uhl, PD Mag. Dr. phil. Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, [email protected] Florian Wenninger, Mag. Dr. Institut für Historische Sozialforschung / Arbeiterkammer Wien, [email protected]
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II.
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Womens Alpine Club war ihr die Teilnahme gestattet.“ Namen von Zeitungen/Zeitschriften etc. siehe unter „Anführungszeichen“. Anführungszeichen im Fall von Zitaten, Hervorhebungen und bei Erwähnung von Zeitungen/Zeitschriften, Werken und Veranstaltungstiteln im Fließtext immer doppelt: „“ Einfache Anführungszeichen nur im Fall eines Zitats im Zitat: „Er sagte zu mir : ,….‘“ Klammern: Gebrauchen Sie bitte generell runde Klammern, außer in Zitaten für Auslassungen: […] und Anmerkungen: [Anm. d. A.]. Formulieren Sie bitte geschlechtsneutral bzw. geschlechtergerecht. Verwenden Sie im ersteren Fall bei Substantiven das Binnen-I („ZeitzeugInnen“), nicht jedoch in Komposita („Bürgerversammlung“ statt „BürgerInnenversammlung“). Darstellungen und Fotos als eigene Datei im jpg-Format (mind. 300 dpi) einsenden. Bilder werden schwarz-weiß abgedruckt; die Rechte an den abgedruckten Bildern sind vom Autor/von der Autorin einzuholen. Bildunterschriften bitte kenntlich machen: Abb.: Spanische Reiter auf der Ringstraße (Quelle: Bildarchiv, ÖNB). Abkürzungen: Bitte Leerzeichen einfügen: vor % oder E/zum Beispiel z. B./unter anderem u. a. Im Text sind möglichst wenige allgemeine Abkürzungen zu verwenden.
III.
Zitation
Generell keine Zitation im Fließtext, auch keine Kurzverweise. Fußnoten immer mit einem Punkt abschließen. Die nachfolgenden Hinweise beziehen sich auf das Erstzitat von Publikationen. Bei weiteren Erwähnungen sind Kurzzitate zu verwenden. – Wird hintereinander aus demselben Werk zitiert, bitte den Verweis Ebd./ebd. bzw. mit anderer Seitenangabe Ebd., 12./ebd., 12. gebrauchen (kein Ders./Dies.), analog: Vgl. ebd.; vgl. ebd., 12. – Zwei Belege in einer Fußnote mit einem Strichpunkt; trennen: Gehmacher, Jugend, 311; Dreidemy, Kanzlerschaft, 29. – Bei Übernahme von direkten Zitaten aus der Fachliteratur Zit. n./zit. n. verwenden. – Indirekte Zitate werden durch Vgl./vgl. gekennzeichnet. Monografien: Vorname und Nachname, Titel, Ort und Jahr, Seitenangabe [ohne „S.“]. Beispiel Erstzitat: Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 311. Beispiel Kurzzitat: Gehmacher, Jugend, 311. Bei mehreren AutorInnen/HerausgeberInnen: Dachs/Gerlich/Müller (Hg.), Politiker, 14. Reihentitel: Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945 (Veröffentlichungen des Ludwig-
Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 27), Innsbruck/Wien [bei mehreren Ortsangaben Schrägstrich ohne Leerzeichen] 1997, 45. Dissertation: Thomas Angerer, Frankreich und die Österreichfrage. Historische Grundlagen und Leitlinien 1945–1955, phil. Diss., Universität Wien 1996, 18–21 [keine ff. und f. für Seitenangaben, von–bis mit Gedankenstich ohne Leerzeichen]. Diplomarbeit: Lucile Dreidemy, Die Kanzlerschaft Engelbert Dollfuß’ 1932–1934, Dipl. Arb., Universit8 de Strasbourg 2007, 29. Ohne AutorIn, nur HerausgeberIn: Beiträge zur Geschichte und Vorgeschichte der Julirevolte, hg. im Selbstverlag des Bundeskommissariates für Heimatdienst, Wien 1934, 13. Unveröffentlichtes Manuskript: Günter Bischof, Lost Momentum. The Militarization of the Cold War and the Demise of Austrian Treaty Negotiations, 1950–1952 (unveröffentlichtes Manuskript), 54–55. Kopie im Besitz des Verfassers. Quellenbände: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. II, hg. v. United States Department of States, Washington 1958. [nach Erstzitation mit der gängigen Abkürzung: FRUS fortfahren]. Sammelwerke: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995. Beitrag in Sammelwerken: Michael Gehler, Die österreichische Außenpolitik unter der Alleinregierung Josef Klaus 1966–1970, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger/ Hubert Weinberger (Hg.), Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung Klaus (Veröffentlichung der Dr.-Wilfried Haslauer-Bibliothek, Forschungsinstitut für politisch-historische Studien 1), Salzburg 1995, 251–271, 255–257. [bei Beiträgen grundsätzlich immer die Gesamtseitenangabe zuerst, dann die spezifisch zitierten Seiten]. Beiträge in Zeitschriften: Florian Weiß, Die schwierige Balance. Österreich und die Anfänge der westeuropäischen Integration 1947–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 1, 71–94. [Zeitschrift Jahrgang/Bandangabe ohne Beistrichtrennung und die Angabe der Heftnummer oder der Folge hinter die Klammer ohne Komma]. Presseartikel: Titel des Artikels, Zeitung, Datum, Seite. Der Ständestaat in Diskussion, Wiener Zeitung, 5. 9. 1946, 2. Archivalien: Bericht der Österr. Delegation bei der Hohen Behörde der EGKS, Zl. 2/pol/57, Fritz Kolb an Leopold Figl, 19. 2. 1957. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA)/AA, II-pol, International 2 c, Zl. 217.301-pol/ 57 (GZl. 215.155-pol/57); Major General Coleman an Kirkpatrick, 27. 6. 1953. The National Archives (TNA), Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 371/103845, CS 1016/205 [prinzipiell zuerst das Dokument mit möglichst genauer Bezeichnung, dann das Archiv, mit Unterarchiven, -verzeichnissen und Beständen; bei weiterer Nennung der Archive bzw. Unterarchive können die Abkürzungen verwendet werden].
Internetquellen: Autor so vorhanden, Titel des Beitrags, Institution, URL: (abgerufen Datum). Bitte mit rechter Maustaste den Hyperlink entfernen, so dass der Link nicht mehr blau unterstrichen ist. Yehuda Bauer, How vast was the crime, Yad Vashem, URL: http://www1.yadvashem.org/ yv/en/holocaust/about/index.asp (abgerufen 28. 2. 2011). Film: Vorname und Nachname des Regisseurs, Vollständiger Titel, Format [z. B. 8 mm, VHS, DVD], Spieldauer [Film ohne Extras in Minuten], Produktionsort/-land Jahr, Zeit [Minutenangabe der zitierten Passage]. Luis BuÇuel, Belle de jour, DVD, 96 min., Barcelona 2001, 26:00–26:10 min. Interview: InterviewpartnerIn, InterviewerIn, Datum des Interviews, Provenienz der Aufzeichnung. Interview mit Paul Broda, geführt von Maria Wirth, 26. 10. 2014, Aufnahme bei der Autorin. Die englischsprachigen Zitierregeln sind online verfügbar unter : https://www.verein-zeit geschichte.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_verein_zeitgeschichte/zg_Zitierregeln_ engl_2018.pdf Es können nur jene eingesandten Aufsätze Berücksichtigung finden, die sich an die Zitierregeln halten!