Städte an Mosel und Rhein von der Antike bis nach 1945 9783515104562

In der historischen Entwicklung der Region an Rhein und Mosel spielten die Städte als Zentren der Macht und der militäri

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German Pages 143 [146] Year 2013

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Table of contents :
Inhalt
Städte an Mosel und Rhein – von der Antike bis nach 1945. Zum Geleit
Die Stadt Trier in der Antike
Worms und Speyer im hohen und späten Mittelalter – zwei Schwesterstädte im Vergleich
Städte und ihr Umland in der Frühen Neuzeit
Landau – Geschichte eines deutsch-französischen Grenzfalles
Koblenz nach 1800: Eine Stadtgesellschaft jenseits von Entfeudalisierung und Säkularisation
Mainz nach 1945: Wiederaufbauplanungen zwischen Vision und Wirklichkeit
Die Autoren
Bildnachweis
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Städte an Mosel und Rhein von der Antike bis nach 1945
 9783515104562

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Städte an Mosel und Rhein von der Antike bis nach 1945

mainzer vortr äge Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz Band 16

Franz J. Felten (Hg.)

Städte an Mosel und Rhein von der Antike bis nach 1945

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10456-2

Inhalt

Vorwort...............................................................................................

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Lukas Clemens.................................................................................... Die Stadt Trier in der Antike

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Gerold Bönnen.................................................................................... Worms und Speyer im hohen und späten Mittelalter – zwei Schwesterstädte im Vergleich

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Johannes Dillinger............................................................................... Städte und ihr Umland in der Frühen Neuzeit

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Michael Martin.................................................................................... Landau – Geschichte eines deutsch-französischen Grenzfalles

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Wolfgang Hans Stein.......................................................................... Koblenz nach 1800 – eine Stadtgesellschaft jenseits von Entfeudalisierung und Säkularisation

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Rainer Metzendorf.............................................................................. Mainz nach 1945 – Wiederaufbauplanungen zwischen Vision und Wirklichkeit

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Die Autoren.........................................................................................

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Bildnachweis.......................................................................................

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Städte an Mosel und Rhein – von der Antike bis nach 1945. Zum Geleit Nur wenige deutsche Regionen können den mit diesem Titel formulierten Anspruch in so herausragender Weise einlösen wie unser Bundesland. Ja, wir standen wieder vor der Qual der Auswahl, wollten wir doch nicht nur die unterschiedlichen Epochen, sondern auch Regionen berücksichtigen und, wenn möglich, thematisch vielfältige Akzente setzen. Die vorliegenden Aufsätze lösen, des bin ich gewiss, diesen Anspruch ein, konnten wir doch neben Historikern und Archivaren unterschiedlicher historischer Fachrichtungen auch einen Architekten und Stadtplaner für die spannende Zeit des Wiederaufbaus nach 1945 gewinnen. Ich danke allen Vortragenden, dass sie sich nicht nur für die wieder sehr gut besuchten Vorträge zur Verfügung gestellt, sondern auch ihre Manuskripte mit Abbildungen und Auswahlbibliographien teils früher, teils später für den Druck eingeliefert haben, so dass der Band drei Jahre nach der Vortragsreihe den Mitgliedern als Jahresgabe und in den Buchhandel gegeben werden kann. Von den antiken Städten haben wir Trier ausgesucht, das durch seinen Rang alle Römerstädte hierzulande überstrahlt – und für das wir in Lukas Clemens, viele Jahre selbst als Archäologe in Trier und heute als Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Trier tätig, einen ganz herausragend ausgewiesenen und überdies unserem Institut eng verbundenen Fachmann gewinnen konnten. So kann er uns am Puls der Forschung Gründung und Frühphase der Stadt in der Talaue der Mosel anschaulich machen, den enormen Aufschwung von Stadt und Umland im 2. Jahrhundert schildern, als die Stadt nicht nur eine neue Moselbrücke bekam, sondern auch Großbauten wie das heute noch beeindruckende Amphitheater, den heute verschwundenen Circus mit 500 m langer Pferderennbahn, die Barbarathermen am Moselufer, zu ihrer Zeit die größte Anlage ihrer Art im gesamten Imperium neben den Trajansthermen in Rom, und nicht zuletzt die nördlich der Alpen einzigartige Stadtmauer mit über 30 Türmen und fünf Torburgen, von denen heute noch die weltberühmte Porta Nigra im Norden Zeugnis gibt. In der Krise des 3. Jahrhunderts wurden auch Trier und seine Region von den Germaneneinfällen 275/276 schwer getroffen, die Stadt stieg aber danach zum Vorort der Provinz Belgica Prima, zum Sitz der Verwaltung von acht gallischen Provinzen, ja der gallischen Präfektur und Kaiserresidenz auf. Von deren glänzendem Ausbau, der un-

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ter Konstantin begann und von seinen Nachfolgern Valentinian und Gratian im späten 4. Jahrhundert vollendet wurde, zeugen noch heute die Reste der riesigen Palastanlage, die als Basilika bekannte Palastaula, die Doppelkirchenanlage, die heute in Dom und Liebfrauenkirche weiterlebt, am südlichen Ende die noch hoch aufragenden Ruinen der so genannten, nie vollendeten Kaiserthermen. Damit einher ging eine Blüte von Landwirtschaft (Spargel und Wein!) und Gewerbe, die aber auch archäologisch nachweisbare Umweltschäden zur Folge hatten. Schon um 400 verlor Trier seinen Status als Kaiserresidenz, die gallische Präfektur zog sich nach Arles zurück, ihr folgten zahlreiche römische Bürger. Die Stadt Trier wurde in kaum 20 Jahren viermal von fränkischen Kriegern erobert und verwüstet, ein fünftes Mal 455, bevor sie nach dem kurzen spätrömischen Zwischenspiel des comes Treverorum fränkischer Herkunft gegen Ende des Jahrhunderts ins entstehende fränkische Reich eingegliedert wurde und seither „nicht mehr im Zentrum weltpolitischer Ereignisse (stand;) vielmehr war ihre weitere Geschichte von eher regionaler Relevanz“ (L. Clemens). Für das hohe und späte Mittelalter (mit einem Ausblick bis in die Gegenwart) vergleicht Gerold Bönnen, der umfassend als Kenner des mittelalterlichen Städtewesens nicht nur unseres Raumes ausgewiesene Leiter des Wormser Stadtarchivs, Worms und Speyer als Schwesterstädte. Die beiden nur 40 km voneinander entfernten Bischofs- und Reichsstädte (bis 1798) erlebten in dieser Zeit „eine bemerkenswert ähnliche Entwicklung“ (G. Bönnen) und erfahren in neuerer Zeit nicht nur ihrer Dome halber, sondern auch wegen ihres jüdischen Erbes zunehmend erhöhte Aufmerksamkeit. Der Beitrag schildert zunächst die Parallelen in der baulichen Entwicklung und der Stadtherrschaft in der Zeit der Salier und Staufer, in der die Bürger beider Städte von den Herrschern früh umfangreiche Rechte erhielten, die sie zu fortschrittlichen und als Vorbild genommenen Formen der städtischen Selbstverwaltung ausbildeten und diese, anders als Mainz, auch bis 1798 behaupten konnten. Sie waren führende Mitglieder des 1254 von Mainz und Worms aus begründeten „Rheinischen Bundes“, der sich in Zeiten schwacher königlicher Herrschaft für Rechtssicherheit und Friedenssicherung einsetzte, und – nach seinem schnellen politischen Scheitern – auch späterer regionaler Städtebünde. Für die bemerkenswerten Bindungen der beiden Städte untereinander und ihre weit reichenden Beziehungen zu anderen Städten waren die jüdischen Gemeinden (mit früher innerer Autonomie und bis zur Vertreibung der Juden aus Speyer im 15. Jahrhundert eng miteinander vernetzt) von großer Bedeutung. Im aschkenasischen Judentum erlangten sie eine bis ins späte Mittelalter und darüber hinaus wirkende Vorrangstellung, gerade auch im geistig-geistli-

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chen Bereich. Die innere Verfassung der Stadt und die Strukturen ihrer Führungsgruppen waren in Worms und Speyer auffallend ähnlich, ebenso GLH LQQHUHQ .RQÀLNWH GLH ]XU7HLOKDEH YRQ$XIVWHLJHUQ DXV GHP +DQGwerk am Stadtregiment führten. Regelmäßig fungierten Vertreter der Speyerer und Wormser Eliten bei den oft heftigen und lang anhaltenden .RQÀLNWHQDXFKPLWGHU*HLVWOLFKNHLWLQGHU1DFKEDUVWDGW±XQGGDUEHU hinaus – als Vermittler („Ratsfreunde“). „Für die Stadtverfassung ist die enge Bindung der Städte untereinander geradezu konstitutiv geworden“ (G. Bönnen). Anders als Mainz, das 1462 vom Erzbischof erobert und seiner strikten Stadtherrschaft unterworfen wurde, konnten die Räte in Speyer und Worms ihre Rechte auch in Zeiten enger werdender Handlungsspielräume in einer von der aufstrebenden Kurpfalz bestimmten politischen Situation weitgehend wahren – bis schließlich die erstarrten Verhältnisse 1798 im Gefolge der Französischen Revolution beseitigt wurden. Nach dem Wiener Kongress, der Worms eine Randexistenz im Großherzogtum Hessen bescherte, was nur teilweise durch industrielle Entwicklung kompensiert wurde, während Speyer ein Kultur- und Verwaltungszentrum der bayrischen Rheinpfalz wurde, Bistum blieb und bis heute Sitz rheinland-pfälzischer Landesbehörden ist, entwickelten sich die beiden Städte, die Jahrhunderte im Gleichtakt geschritten waren, sehr unterschiedlich, um neuerdings im Zeichen ihres reichen kulturellen Erbes wieder gemeinsam aktiv zu werden. Johannes Dillinger, Heisenberg-Stipendiat und Gastdozent an der Johannes Gutenberg-Universität im Bereich der Frühen Neuzeit, behandelt in weitem Ausgriff „Städte und ihr Umland in der Frühen Neuzeit“ unter kulturwissenschaftlichem Aspekt und mit theoretischem Ansatz als zentrale Orte mit Blick auf Religion, Kultus und Kultur einerseits, Ökonomie, Politik und Administration andererseits. Im 16. bis 19. Jahrhundert neu aufkommende Wallfahrtsorte liegen demnach eher in ländlichen Orten, doch ziehen Köln, Trier und Aachen weiterhin Pilgermassen an, die auch ökonomische Bedeutung haben. Die Handelsmetropole am Rhein war Köln, die als Welthandelsstadt alle anderen Städte an Rhein und Mosel weit übertraf und ihr agrarisches Umland und dessen Gewerbe streng kontrollierte. Mainz, obgleich verkehrsgünstig an Rhein und Main gelegen, konnte seit dem späten Mittelalter weder mit Köln noch Frankfurt konkurrieren. Freilich war die ökonomische Kraft Triers noch bescheidener, obwohl die Stadt von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges im Umland SUR¿WLHUWH ]%%UJHUDOV.UHGLWJHEHU $QGHUHUVHLWVZXUGHGLH|NRQRPLsche Macht der Stadt als bedrohlich empfunden, was sich auch in der Hexenverfolgung auswirkte. Koblenz, die neue Residenz der Trierer ErzbiVFK|IH.XUIUVWHQEHUÀJHOWHDXFK|NRQRPLVFKGLHDOWH0HWURSROH

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Vorwort

Städte waren nicht nur Absatzmärkte für landwirtschaftliche Produkte des Umlandes, sondern zogen auch Zuwanderer aus den Dörfern an, wobei sich konfessionell und politisch bedingte Unterschiede, etwa in Koblenz, Köln und Mainz, feststellen lassen. Die rechtlichen Unterschiede zwischen Land und Stadt waren in unserem Raum nicht so stark wie die Vorstellung der städtischen Freiheit suggeriert, zumal frühmoderne Herrschaft die rechtlichen Unterschiede zugunsten einer einheitlichen Untertanenschaft nach unten nivellierte. Auch die Zeichenfunktion der (Stadt) Mauer wird relativiert, waren doch auch zahlreiche Dörfer teilweise aufwendig befestigt, wie in Einzelfällen heute noch zu sehen. Bei den Landständen gab es deutliche Unterschiede etwa zwischen Kurmainz auf der einen, Kurtrier, Kurpfalz und Pfalz-Zweibrücken auf der anderen Seite. In Trier waren auch die Bauern mit Abgeordneten in den Volllandtagen vertreten, doch fanden diese nur selten statt, während in den fast jährlich tagenden Ausschusslandtagen mit voller Beschlusskompetenz nur Abgeordnete von 14 Städten den Dritten Stand repräsentierten. Auch für die Volllandtage übertrugen Dörfer die Wahrnehmung ihrer Rechte gerne erfahrenen Deputierten aus den Städten oder gar lokalen Beamten der Herrschaft, wogegen die Städte protestierten, so dass nach 1652 nur noch städtische Deputierte die 14 Städte und die zu ihrer Klientel gehörigen Dörfer auf den Volllandtagen vertraten und so die zentrale Funktion der Stadt auch politisch festigten. Michael Martin, lange Jahre Leiter des Stadtarchivs und des Museums seiner Heimatstadt, gibt in geradezu literarischem Stil einen Überblick über Landaus Geschichte als die eines deutsch-französischen Grenzfalles, mit Schwerpunkt auf den „Zeiten voller Kriege, Entbehrungen und politischer Wechselfälle“ (M. Martin), vor allem seit dem 17. Jahrhundert. Im Dreißigjährigen Krieg wechselte Landau sieben Mal den Besitzer; in den folgenden Jahrzehnten baute Frankreich seine Herrschaft auch über Landau aus. Ihr sichtbarstes Symbol, die von Vauban errichtete Festung, raubte den Landauern ihre besten Weinbergslagen und veränderte die gesamte städtische Topographie. Sie ermöglichte aber auch, dass Landau eine der größten Garnisonen und Hauptnachschubplatz in den folgenden Kriegen wurde und von den in der Pfalz ansonsten so sichtbaren Verheerungen des Pfälzischen Erbfolgekriegs verschont blieb. Von der Blüte der Stadt im 18. Jahrhundert zeugen heute noch prächtige barocke Bürgerhäuser, die auch den Zweiten Weltkrieg überstanden. Landau, eine französische Stadt mit deutscher Bevölkerung und etwa gleich starker französischer Garnison, mit entsprechenden demographischen Folgen, begeisterte sich früh und nachhaltig für die Französische Revolution und vermittelte LKUH,GHHQLQV5HLFK±DXFKQDFK0DLQ],QGHQIROJHQGHQ.ULHJHQSUR¿-

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tierte Landau, wie schon um 1700, von seiner Funktion als Festung und Nachschubbasis, und zahlreiche Landauer machten unter Napoleon Karriere. Der Übergang unter bayerische Herrschaft 1816 verlief nicht reibungslos, doch fanden die Landauer in König Maximilian, der sie noch in französischer Zeit kennen gelernt hatte, einen Fürsprecher. In Landau wurden die als Hauptverantwortliche für das Hambacher Fest angeklagten Siebenpfeiffer und Wirth von den aus der Stadt und dem Umland stammenden Geschworenen nicht verurteilt, sondern erst im zweiten Anlauf in Zweibrücken. Der Krieg von 1870/71 wurde auch in Landau mit nationaler Begeisterung begrüßt; der Sieg und die Annexion des Elsass befreiten die Stadt aus ihrer Grenzlage, erlaubten die weitgehende Schleifung der Festung und ermöglichten schnelles Wachstum, Ausbau prächtiger Straßen und Parkanlagen. Die Blüte endete mit der Niederlage von 1918, die Landau wiederum zur Grenzstadt machte, nun mit großer französischer Besatzung, die vor allem nach ihrem Ende 1930 die historische Erinnerung dominierte. Nach 1945 wiederholte sich zunächst die Geschichte der Zeit nach 1918, doch anders als damals überwanden Politik und Zivilgesellschaft in den Fünfziger Jahren die aus der jeweiligen Erinnerung gespeiste Feindschaft. 1959 schon, drei Jahre vor Mainz, wurde in Landau eine noch heute blühende Deutsch-Französische Gesellschaft gegründet. Nach dem Abzug der Garnison 1999 wurden französische Kasernen zu Wohnungen umgebaut und Landau hofft auf eine neue prosperierende Entwicklung. Wolfgang Stein, Archivar am Landeshauptarchiv in Koblenz und vorzüglicher Kenner der politischen und administrativen Geschichte, und vor allem der archivalischen Überlieferung (nicht nur) der französischen Zeiten links des Rheins, nutzt eine gute Quellen- und Forschungslage, um „am Beispiel der Stadt Koblenz die regionale Besonderheit der linksrheinischen Städte als integraler Bestandteil des nachrevolutionären Frankreichs von 1798 bis 1813 darzustellen und nach den sozialgeschichtlichen Folgen zu fragen“ (W. H. Stein). Hierzulande wurde die Modernisierung im 19. Jahrhundert wesentlich durch die Veränderungen von Gesellschaft und Recht im Gefolge der Französischen Revolution bestimmt, die dann im Laufe der Zeit wieder in die allgemeine Entwicklung in Deutschland einmündete. Nach kurzer Einleitung über Koblenz vor der französischen Annexion beschreibt Stein, unter stetem Hinweis auf Forschungsbedarf und die seit 1798 stark verbesserte Quellenlage, zunächst Entfeudalisierung, Säkularisation und die Folgen für Bauern, Bürger und Adel. Nach der Flucht des Kurfürsten 1794, des Adels und eines Teils der höheren Beamtenschaft, verlor der Adel zunächst seine städtischen Palais in der Residenzstadt wie auch seine ländlichen Güter, konnte sie aber 1804 unter

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bestimmten Bedingungen wieder erhalten. Aber in Koblenz, wie in den südlichen rheinischen Departements, kam es zu keiner „Rearistokratisierung“ der Gesellschaft, und der Adel kehrte auch nachher nicht mehr in die Stadt zurück. Für die unter der französischen Herrschaft in der Stadt gebliebenen Beamten boten sich nur geringe Chancen, vor allem in der -XVWL]XQGDOV$QZlOWH.DXÀHXWHXQG8QWHUQHKPHUSUR¿WLHUWHQYRQGHU Säkularisierung, nach französischer Lesart: Nationalisierung der Kirchengüter seit 1802, die in den Quellen gut zu verfolgen ist, vor allem die Versteigerungen und die daraus folgenden Umschichtungen. Koblenzer Stifts- und Klosterkirchen wurden Gemeinde- und Militärkirchen, manche Klostergebäude wurden durch die öffentliche Hand (als Hospital, Magazin, Lazarett oder Gefängnis) genutzt, aber meist bald abgerissen. Es mag überraschen, aber wie ein Vergleich der Sozialstruktur vor und nach der Revolution zeigt, war die „Stadt ohne Adel und ohne Klöster faktisch schon im 18. Jahrhundert vorgeprägt“, die französische Annexion radikalisierte eine schon eingeleitete Entwicklung und machte sie unumkehrbar (W. H. Stein). Die geschlossene städtische Gesellschaft (mit Bürgerrecht, Zunftbindung und identitätsstiftendem Katholizismus) wurde nun aufgebrochen. Koblenz blieb Verwaltungsstadt mit den entsprechenden ChanFHQIU YRUDOOHPMXQJH %HDPWHXQG$QZlOWH.DXÀHXWHXQG8QWHUQHKmer kann man zu den Revolutionsgewinnern zählen, die eine neue Elite bildeten und auch den erneuten Umbruch 1813/15 gut überstanden. Für die Handwerker, vor 1794 mit 40% die größte Bevölkerungsgruppe, verschärften die französischen Reformen (Freizügigkeit, Wirtschaftsfreiheit) die schon vorher durch Überbesetzung und ländliches Gewerbe verursachten wirtschaftlichen Probleme. Der Übergang zu den Unterschichten, GLHXQWHUGHP=XVDPPHQEUXFKGHUNLUFKOLFKHQ$UPHQSÀHJHOLWWHQZDUHQ ÀLH‰HQG,QVJHVDPWLVWIHVW]XKDOWHQGDVV(QWIHXGDOLVLHUXQJXQG6lNXODULsation in Koblenz wie in anderen linksrheinischen Städten schneller und umfassender als im Rechtsrheinischen eine neue bürgerliche Elite hervorbrachten, die von den neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten, insbesondere auch von den Nationalgüterverkäufen, und dem politischen System der QDSROHRQLVFKHQ=HLWSUR¿WLHUWHXQGDXFKGHQhEHUJDQJ]XUSUHX‰LVFKHQ Zeit erfolgreich schaffte. Für 80% der Bevölkerung, die meisten Handwerker und Angehörige der Unterschichten, hatte sich die Lage durch die Neuerungen eher verschlechtert. Die Landeshauptstadt wird in einem bis an die Gegenwart heranreichenden Beitrag des Architekten und Stadtplaners Rainer Metzendorf behandelt. Die Planungen für einen tief in die Stadtstruktur eingreifenden Wiederaufbau von Mainz begannen, wie er sehr anschaulich, auch mit Abbildungen von Plänen und Modellen, zeigt, schon nach den schweren

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Bombenangriffen 1942/1943. Nach 1945 schienen die inzwischen hinzugekommenen Zerstörungen revolutionäre Neuplanungen zu ermöglichen. Die französische Militäradministration beauftragte den Pariser Architekten Marcel Lods, der mit Le Corbusier ein Manifest rationaler und funktionaler Stadtplanung verfasst hatte, Mainz als „modernste Stadt“ Europas, wenn nicht der Welt zu planen. Seine ersten Entwürfe trennten die unterschiedlichen Nutzungen streng: Die Reste der Altstadt waren für Geschäftshäuser, Kultur- und Unterhaltungsstätten vorgesehen, zwischen Dom und mittlerer Bleiche sollte das Verwaltungszentrum der neuen Landeshauptstadt entstehen, der übrige Bereich, vom Rhein bis zur Universität in der Flakkaserne im Westen der Stadt mit Wohnhochhäusern in großzügigen Grünanlagen bebaut werden. Hafen, Bahnhöfe, Flugplatz und ,QGXVWULHVROOWHQDXIGHUUHFKWHQ5KHLQVHLWH3ODW]¿QGHQ±GLHIUHLOLFK]XU amerikanischen Besatzungszone gehörte. Gegen diesen utopischen Entwurf, der an die französischen Stadtplanungen für Saarbrücken erinnert, von denen heute noch das Scheibenhaus des Kultusministeriums parallel zur Saar zeugt, erarbeitete der Mainzer Baurat Gerhard Lahl heimlich eine moderatere Alternative auf der Basis des gewachsenen Stadtgrundrisses. Auf Betreiben von Erich Petzold, Leiter des Hochbau- und Planungsamtes, wurde dessen Lehrer, Prof. Paul Schmitthenner aus Stuttgart, von der 6WDGWPLWHLQHPÄRI¿]LHOOHQ³*HJHQHQWZXUI]X/RGVEHDXIWUDJW$XFKHU nutzte die überkommene Stadtstruktur, plante aber z.B. in der Verlängerung der Kaiserstraße eine neue Straßenbrücke, deren Auffahrt die Christuskirche zum Opfer fallen sollte. Die Franzosen reagierten empört auf die „intrigant“ eingefädelte Konkurrenz. Petzold verlor die Leitung des Amtes, sein Nachfolger distanzierte sich sofort und öffentlich von der Planung Schmitthenners, und Lods betrieb mit seinem Team die Fortentwicklung seiner Planungen, die nun bis zu 120 m lange 20-geschossige Wohnhäuser auf dem Taubertsberg vorsahen. Die Mainzer ließen sich von den suggestiven Skizzen, die das gute Neue dem schlechten Alten plakativ entgegensetzten, nicht überzeugen; repressive Maßnahmen, wie das Verbot des Wiederaufbaus in der Neustadt, belasteten die Stimmung, zumal die Wohnungsnot drängte und die für 1947 geplanten Neubauten an der Wallstraße sich aufgrund mangelhafter Baugrunduntersuchung verzögerten. Nach einem öffentlichen Angriff Petzolds verwarf der Stadtrat 1948 die Planungen von Lods – sie leben als Unterrichtsgegenstand für modernen Städtebau im Hochschulunterricht weiter. Doch auch Schmitthenner kam nicht zum Zuge, das Planungsamt wurde aufgelöst, der Wiederaufbau verlief ohne Gesamtkonzept. Erst ab 1955 erstellte der aus Weimar in den Westen gekommene Stadtplaner Egon Hartmann einen neuen innerstädtischen Gesamtplan, der vor allem eine neue Verkehrsführung in Anknüp-

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Vorwort

fung an gegebene Hauptstraßenzüge vorsah. 1956 richtete die Stadt auch wieder ein Stadtplanungsamt ein, in dem sich in fünf Jahren sechs Amtsleiter abwechselten – wie die Trainer in einem gegen den Abstieg kämpfenden Bundesligaverein. Neue radikale Pläne einer autogerechten Stadt VFKHLWHUWHQ QDFK KDUWHQ .RQÀLNWHQ ]ZLVFKHQ 9HUZDOWXQJ XQG 6WDGWUDW wurde der international bekannte Stadtplaner Ernst May mit einer neuen Generalplanung beauftragt. Das unter ihm arbeitende „Büro des Planungsbeauftragten der Stadt Mainz“ verwarf das Konzept einer autogerechten Stadt, plante einen Gürtel von 16 Hochhäusern auf den Höhen rings um GLH,QQHQVWDGWIUGLH1HXVWDGWZXUGHHLQHPRGL¿]LHUWH%ORFNEHEDXXQJ mit Entkernung und Öffnung der Innenhöfe vorgesehen. Für einzelne Bereiche der Stadt wurden auch konkrete Durchführungspläne erarbeitet. Der Hochhausring Mays wurde auf Betreiben des 1960 wieder ins Amt gekommenen Baudezernenten Jacobi gestoppt, doch konnte dieser nicht verhindern, dass Ende der 1960er Jahre „in einer wahllosen Beliebigkeit Projekte entstanden, die den baukulturellen Umgang mit dieser traditionsreichen Stadt leugneten und die Stadtsilhouette von Mainz, einst weltberühmt durch die Stiche von Merian, ungebührlich entstellten“, bevor der Stadtrat 1971 die „Reißleine zog“ (R. Metzendorf). Nach den Eingemeindungen von sechs Vororten 1969 wurde die Gesamtplanung überarbeitet, die historische Altstadt saniert und die Planungen für die rechtsrheinischen alten Mainzer Gebiete aufgegeben. Damit reichen unsere Vorträge bis in unmittelbare Vergangenheit, ja Gegenwart, wie in anderer Weise auch die über Landau, Speyer und Worms. In Mainz verzieren das „Mosch-Center“ am Münsterplatz und die vor einigen Jahren sanierten Bonifatiustürme beim Hauptbahnhof immer noch den Ausblick von der Bogenhalle auf dem neu bebauten Kästrich. Zwei Hochhäuser in der Berliner Siedlung stehen seit langem leer und werden demnächst abgerissen. Unweit des Hauptbahnhofs zielt der „tote“ Stummel der Hochstraße mitten in die Grünanlagen am Linsenberg und erinnert so an den Wahn der autogerechten Stadt – die Planungen für die Umgestaltung der Ludwigsstraße entzweien die Gemüter, ebenso die Frage nach Sanierung oder Abriss des als architektonisches Juwel gelobten Rathauses. Mit der Hoffnung, wieder einen interessanten Band präsentieren zu N|QQHQGHUGDV*HIDOOHQXQVHUHU0LWJOLHGHUXQGGHUEULJHQ/HVHU¿QGHW verbinde ich meinen verbindlichen Dank an die Referenten, an Frau Dr. Hedwig Brüchert für die Redaktion und die Einrichtung für den Druck, an die studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres Instituts für Geschichtliche Landeskunde unter der bewährten Leitung von Dr. Elmar Rettinger für den Einsatz rund um die Vortragsreihe, vom Entwerfen der

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Flyer bis zur Betreuung der Technik und des Büchertischs, schließlich an die Akademie des Bistums Mainz – Erbacher Hof unter Leitung von Prof. Dr. Peter Reifenberg für die wiederum gewährte Gastfreundschaft im Haus am Dom und im Ketteler-Saal. Mainz, im April 2013

Franz J. Felten

Lukas Clemens

Die Stadt Trier in der Antike Gründung und Frühphase der Stadt Trier, die an der Mosel gelegene Augusta Treverorum, ist eine römische Gründungsstadt. Ihre Anfänge reichen in die Regierungszeit des Augustus, der von 16 bis 13 v. Chr. persönlich in Gallien weilte. Reste monumentaler Großbauten belegen, dass urbane Infrastrukturen bereits in den letzten Regierungsjahren des Imperators (gest. 14 n. Chr.) bestanden haben müssen. Auch das erste rechtwinklige Straßenraster, das eine Fläche von rund 54 ha umfasste, stammt noch aus augusteischer Zeit. Als neuer Hauptort des Trevererstammes war die Stadt nachweislich auf der „grünen Wiese“ an einer wichtigen Fernverbindung angelegt worden, welche vom Mittelmeer über die Flusssysteme von Rhône und Saône über das Plateau von Langres der 0RVHOÀXVVDEZlUWVIROJHQGELVLQGLH7ULHUHU7DOZHLWHUHLFKWH'RUWEHUquerte die Straße über eine erste 18/17 v. Chr. errichtete hölzerne Pfahljochbrücke den Fluss, um anschließend durch die Eifel bis zu den Militärlagern an Rhein und Lippe zu verlaufen. Die Stadt an der Mosel wurde als neuer Hauptort des Trevererstammes, als Zentrum der civitas Treverorum, angelegt. Seine Einwohnerschaft setzte sich vornehmlich aus einheimischen Kelten zusammen, die aus den älteren oppida und castella, aber auch kleineren Dorfsiedlungen in der Moseltalweite zusammengezogen wurden oder sich freiwillig hier niederließen. Daneben lebten zur Gründungszeit auch Militärs im Stadtgebiet bzw. seinem unmittelbaren Umland, die mit dem Aufbau der Infrastrukturen, aber auch mit der Sicherung von Siedlung und Flussübergang betraut waren. Ein in Trier aufgefundener Grabstein belegt eine aus Spanien stammende Reitereinheit (ala Hispanorum) im Treverergebiet, die nachweislich im Jahre 16/17 n. Chr. an den Rhein nach Mainz verlegt wurde. Darüber hinaus dürften nur wenige zivile Einwanderer aus den Provinzen um das Mittelmeer – wir wissen etwa von der Anwesenheit römischer Kaufleute – in der neuen Stadt gelebt haben. Wie die Gallier insgesamt, so adaptierten auch die Treverer nach der Eingliederung ihres Stammesgebietes in das Imperium Romanum die mediterran geprägte römische Kultur. Wesentliches Medium dieses Vorganges war die neu eingeführte lateinische Sprache. Diese Akkulturation vollzog sich nicht ad hoc, sondern in einem Prozess, den man treffend als Romani-

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Lukas Clemens

sierung charakterisiert. Zugleich tradierten die Rom Unterlegenen aber DXFKZHLWHUKLQLKUHHLJHQHQ*HEUlXFKH*HSÀRJHQKHLWHQXQG9RUVWHOOXQgen. Um diese Verschmelzung von einheimischen mit den durch die Eroberer neu installierten Lebens- und Handlungsformen sprachlich konzise zu umschreiben, bezeichnet man die keltische Bevölkerung Galliens unter römischer Herrschaft nach einer ersten Konsolidierungsphase als „Gallorömer“. Der Weg von den keltischen Treverern hin zu den Gallorömern der civitas Treverorum, die letztendlich dann römisches Bürgerrecht erhielten, war freilich kein gradliniger, sondern lange Zeit geprägt von Misstrauen bis hin zu offener Ablehnung zumindest von Teilen des Stammes. Nach ihrer prominenten Rolle im Gallischen Krieg und einer Revolte des Jahres 30/29 v. Chr. erfahren wir durch den römischen Historiker Tacitus von zwei weiteren Erhebungen der Treverer: einer rasch niedergeschlagenen Empörung 21 n. Chr. unter dem Adligen Iulius Florus, den aber nur Teile seines Stammes unterstützten, und einem Aufstand während des römischen Bürgerkrieges nach dem Tode Kaiser Neros. Damals, im

Rekonstruktion der Trierer Talweite zur Gründungszeit von Augusta Treverorum

Die Stadt Trier in der Antike

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Jahr 69 n. Chr., schlossen sich die Treverer einer Revolte der am Niederrhein siedelnden germanischen Bataver an. Bei den Aufständischen handelte es sich um Hilfstruppen des römischen Heeres unter dem Kommando HLJHQHUDGOLJHU2I¿]LHUHGLHDXIGLHIDOVFKH6HLWHJHVHW]WKDWWHQQlPOLFK auf den ehemaligen Befehlshaber des untergermanischen Heeres, den nur ein knappes Jahr amtierenden Kaiser Vitellius. Durchsetzen konnten sich aber der Befehlshaber im jüdisch-römischen Krieg, Vespasian, und die ihn in den nordgallischen und germanischen Provinzen anerkennenden Truppen. Die Treverer wurden letztendlich in drei Schlachten bei Bingen, zehn .LORPHWHUÀXVVDEZlUWVYRQ7ULHUEHL5LROXQGVFKOLH‰OLFKLQ7ULHUVHOEVW JHVFKODJHQZREHLGLH(QWVFKHLGXQJDXIGHU0RVHOEUFNH¿HO7DFLWXVEHhauptet, dass namentlich genannte Anführer und 113 Ratsherren sich einer Verurteilung durch die Flucht ins rechtsrheinische Germanien entzogen. Trifft diese Aussage in ihrem Kern zu, und einiges spricht dafür, dann dürften die Folgen der Erhebung einen radikalen Umwälzungsprozeß innerhalb der treverischen Stammesaristokratie und damit auch für die Führungsschichten ihres Hauptortes Trier zur Folge gehabt haben. Tatsache ist jedenfalls, dass mit den militärischen Ereignissen im Verlauf des so chaotischen Vierkaiserjahres 69 und seinen Nachwirkungen der Widerstand der Treverer gegen die Staatsgewalt endgültig gebrochen war. Eine eigene nach dem Stamm benannte römische Reiterhilfstruppe (ala Treverorum) ist später nicht mehr überliefert. In der Folgezeit sollten vielmehr diejenigen Kräfte innerhalb des Adels die Oberhand behalten, die auf Kooperation und Integration setzten. Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass sich die Frühgeschichte Triers nicht ohne Exkurse zum Stamm der Treverer bzw. zu ihrem Stammesgebiet, der civitas Treverorum, erzählen lässt, denn Territorium und Hauptort waren in der Antike sowohl in personeller als auch in administrativer Hinsicht untrennbar miteinander verbunden. Dies kommt besonders anschaulich in den Strukturen der Selbstverwaltung zum Ausdruck. Das die Geschicke des Stammes leitende Gremium war nämlich zugleich der Stadtrat (ordo decurionum) von Trier. Seine Mitglieder entstammten durchgängig der Stammesoberschicht, die sich aus Großgrundbesitzern und reichen .DXÀHXWHQ PLW ZHLWYHU]ZHLJWHQ *HVFKlIWVYHUELQGXQJHQ ]XVDPPHQVHW]WH Innerhalb dieses Rates hat es nach den für die Treverer so verhängnisvollen Ereignissen des Jahres 69/70 offenkundig drastische Veränderungen gegeben, so dass in der Folgezeit etliche neue Familien Zugang in bedeutende öffentliche Ämter fanden. Seit dem Verlauf des 1. Jahrhunderts sind Zeugnisse überliefert, in welchen Trier als colonia Treverorum bezeichnet wird. Dennoch war die Stadt keine Kolonie im rechtlichen Sinne, also eine Gründung von römi-

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schen Bürgern, vielmehr dürfte es sich hierbei um einen Ehrentitel handeln, der auf kaiserliche Veranlassung – und hier spricht einiges für eine Übertragung unter Claudius (41–54) – vergeben wurde. Damit einher wird eine Verleihung des Bürgerrechtes an die Mitglieder des Gemeinderats gegangen sein, während die übrigen Treverer aber weiterhin das Bürgerrecht ihres Stammes besaßen. Die Gewährung des römischen Bürgerrechts für alle freien Bewohner der römischen Provinzen sollte erst unter Kaiser Caracalla im Jahr 212/213 erfolgen. Wie müssen wir uns das Siedlungsbild der Stadt während des 1. Jahrhunderts vorstellen? Nach der Festlegung des Gründungsschemas war die Stadt rasch gewachsen. Bereits um das Jahr 44 bezeichnet der Geograph Pomponius Mela Trier als äußerst wohlhabende Stadt (urbs opulentissima). In einer ganzen Reihe von Arealen konnte frühe Wohn- und Gewerbebebauung nachgewiesen werden. Die Häuser waren zunächst aus Fachwerk errichtet worden. Immer wieder gefundene hochwertige mehrfarbige Wandbemalung verweist auf eine gehobene Wohnqualität. Gelegentlich nachgewiesene hölzerne Wasserrinnen gewährleisteten die Versorgung mit Frischwasser. Bereits in den 20er und 30er Jahren des 1. Jahrhunderts wuchs die Bebauung dann im Osten und Norden über den augusteischen Grundriss hinaus. Nach der Jahrhundertmitte wurden einzelne Wohnkomplexe von Neubauten in solider Steinbauweise abgelöst. Auf dem südlichen Gräberfeld errichteten vornehme Treverer nun aufwendige steinerne Mausoleen mit lebensgroßen Darstellungen der Verstorbenen. An Stelle der ersten Pfahljochbrücke wurde im Jahr 71 eine neue auf Steinpfeilern ruhende Brücke errichtet, die im Flussgrund auf hölzernen Pfahlrosten gründete. Womöglich war die ältere Brücke durch die Kämpfe des Vorjahres derart beschädigt worden, dass deshalb ein Neubau erforderlich geworden war. Auch das Forum, während der Antike das politische und ökonomische Zentrum einer jeden Stadt, dürfte schon in der Gründungsphase errichtet worden sein. Es lag am Schnittpunkt der beiden Hauptstraßen von cardo und decumanus maximus. Auf dem Forumsgelände bzw. in seiner unmittelbaren Nachbarschaft waren Behörden und Magistrat untergebracht, hier befand sich der Versammlungsort des Gemeinderates, das Rathaus (die curia). Daneben war das Forum Ort des Marktgeschehens mit entsprechenden Verkaufsmöglichkeiten und Lagerkapazitäten. Bereits im Verlauf des 1. Jahrhunderts wurde seine Fläche durch Überbauung einer frühen West-Ost-Straße erheblich erweitert, so dass der gesamte Komplex nun eine Ausdehnung von vier Stadtvierteln (insulae) erreichte, was Ausmaßen von rund 135 x 175 m entsprach. Darüber hinaus gab es in Trier bereits am Ende des 1. Jahrhunderts einen Tempel des Staatsgötterkultes. Nach seinem Standort in Rom auf einem

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der sieben Hügel der Stadt wurde der Kultbau auch andernorts als Kapitol bezeichnet. Hier wurde das „Dreigestirn“ – die Trias Jupiter-Juno-Minerva – verehrt und vielleicht auch der Kaiserkult zelebriert. Das Kapitol dürfte identisch sein mit der monumentalen Tempelanlage am Moselufer nördlich der Römerbrücke, die erst zwischen 1977 und 1979 wiederentdeckt wurde. Zur Innenausstattung gehörte wohl ursprünglich die allerdings von ihrem Standort entfernt aufgefundene kolossale Sitzstatue der Juno. Auch innerhalb des Kultbezirkes am Altbachtal wurden gegen Ende des 1. Jahrhunderts die ersten Heiligtümer in Stein errichtet. Hierzu zählte ein monumentaler Tempel mediterranen Stils, ähnlich der Maison Carée in Nîmes, der den östlichen Abschluß des Kultbereichs bildete. Das mit einer Säulenvorhalle ausgestattete Bauwerk überragte den ganzen Bezirk von einer Anhöhe aus. Auf dem Trier gegenüber gelegenen westlichen Moselufer befand sich bereits im 1. Jahrhundert ein weiterer Tempelkomplex, der – neben Quellgottheiten – einer gallo-römischen Gottheit, Lenus Mars, geweiht war. Oberhalb des Kultbezirkes trat aus den Buntsandsteinformationen die eingefasste Quelle des Irrbaches hervor, dessen Wasser eine Heilfunktion vor allem bei Augenleiden nachgesagt wurde. Aufgefundene Weiheinschriften stützen eine Deutung der Anlage als Stammesheiligtum der Treverer. Das 2. Jahrhundert Im Verlauf des 2. Jahrhunderts erfuhren die Stadt und ihr Umland einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung. Dieser ging mit einer lang andauernden, gut zweihundertjährigen Friedenszeit einher, die mit einer Ausnahme im Jahr 196/197, auf die wir noch zu sprechen kommen, vom Ende des Bataver-Aufstandes bis in die 70er Jahre des 3. Jahrhunderts Bestand haben sollte. Ein monumentales Ausbauprogramm, dem neben einer Finanzierung durch den Gemeinderat auch umfangreiche staatliche Geldmittel zugrunde lagen, spiegelte nun die gestiegene Bedeutung der Moselmetropole. So wurden zu dieser Zeit im Osten der Stadt zwei eindrucksvolle Spielstätten erbaut. Weder vor der römischen Okkupation noch nach dem endgültigen Untergang dieses Weltreiches sind vergleichbare Bauwerke, Ausdruck einer ausgeprägten Freizeitkultur, entstanden – sieht man einmal von den Sportarenen des 20. und 21. Jahrhunderts ab. Noch heute gehört das Amphitheater zu den besonders beeindruckenden Zeugnissen römischer Monumentalarchitektur. Die Zuschauerränge des elipsenförmigen Bauwerks mit Platz für rund 18.000 Personen wurden auf Erdanschüttungen gesetzt. Inschriften auf den Steinbänken benennen einzelne Platzinhaber. Geboten wurden hier – wie in anderen Arenen des Imperium Romanum – vornehm-

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lich Gladiatorenkämpfe und Tierhatzen, aber auch kulturelle Veranstaltungen. Unweit des Amphitheaters dürfte sich auch eine Kaserne der Arenakämpfer befunden haben, deren Kollegium in einer Weihung inschriftlich bezeugt ist. Beeindruckend sind die ausgedehnten Kelleranlagen unter der Arena mit den in Fels gehauenen Aussparungen für Hebebühnenvorrichtungen und Holzmasten für Tuchsegel als Sonnen- bzw. Regenschutz. Nach der Errichtung der Stadtbefestigungen in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts, in welche das Amphitheater einbezogen wurde, fungierte die Spielstätte zugleich als Osttor, das man aus der Stadt kommend durch den nördlichen Eingang betrat. Anschließend führte der Weg über die Arena und durch den südlichen Ausgang der Anlage aus der Stadt hinaus. Nur rund 150 m nordöstlich des Amphitheaters wurde im 2. Jahrhundert der Circus, eine rund 500 m lange Pferderennbahn, erbaut. Obwohl von diesem monumentalen Bauwerk heute keine Überreste mehr sichtbar sind, lassen sowohl schriftliche Zeugnisse als auch kleinere archäologische Beobachtungen an Lage und Ausdehnung keinen Zweifel. Die Zuschauertribünen dürften Schätzungen zufolge damals Platz für mehr als 50.000 Menschen aus Stadt und Umland geboten haben. Hier konnte man in der Folgezeit die berühmtesten Pferdelenker des Römischen Reiches und ihre Pferdegespanne bewundern. Derartige Sportler genossen eine Verehrung, wie sie heute den erfolgreichen Formel 1-Fahrern zuteil wird. Es gab während der Kaiserzeit in den großen Städten Vereine, die ihre eigenen Pferdelenker und Gespanne unterhielten. Möglicherweise hat es auch in Trier – wie andernorts im Imperium Romanum – in Korporationen organisierte Fan-Clubs von Rennställen gegeben, die sich nach Farben benannten, welche eine Jahreszeit symbolisierten. Ein bedeutender Mäzen des Trierer Pferderennsportes war sicherlich jener Besitzer einer prächtigen Stadtvilla, der gut einhundert Jahre nach Errichtung des Circus den Rennfahrer Polydus mit seinem Vierspänner auf einem Mosaikboden verewigen ließ. Dem gesteigerten Verkehrsaufkommen trug der Bau einer neuen Brücke über die Mosel Rechnung, deren Pfahlroste, auf denen die Steinpfeiler im Flussgrund ruhen, dendrochronologisch in die Jahre 144–152 datiert werden. Die noch heute genutzte Brücke ist die größte erhaltene ihrer Art außerhalb des Mittelmeerraumes. Zu den eindrucksvollsten Großbauten der Stadt gehörten zweifelsohne die an der Mosel nahe der Römerbrücke gelegenen Barbarathermen, so seit dem 19. Jahrhundert nach einem südlich benachbarten Dominikanerinnenkloster St. Barbara benannt. Zur Errichtung dieser multifunktionalen Freizeitstätte wurden zwei Wohnviertel samt dazwischen verlaufender Straße niedergelegt. Mit einer rechteckigen Ausdehnung von 172 x 240 m war sie

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zur Zeit ihrer Errichtung neben den Trajansthermen in Rom der zweitgrößte Badekomplex im gesamten Imperium Romanum. Ihre Vorbilder stammen neuen Untersuchungen zufolge aus Nordafrika. Neben der üblichen Ausstattung mit Umkleideräumen, Toiletten, Sportplätzen, Warm- und Kaltbadesälen sowie Schwitz- und Massageräumen sind innerhalb der römischen Thermenarchitektur die beiden ebenfalls nachgewiesenen beheizbaren Schwimmbecken bislang singulär. Der Bau wies eine reiche Marmorausstattung auf, darunter zahlreiche römischen Kopien von Bildwerken berühmter griechischer Künstler, von denen einige mit Hilfe aufgefundener )UDJPHQWHLGHQWL¿]LHUWZHUGHQNRQQWHQ Im Verlauf des 2. Jahrhunderts wurde das Stadtareal erweitert, in der Wohnarchitektur setzte sich der allgemeine Trend zur Steinbauweise fort. Der erreichte Wohlstand wird an den großartigen Grabdenkmälern sowie der Größe und Ausstattung einzelner Stadtvillen erkennbar, deren Räumlichkeiten mit farbigen Bildmosaiken ausgestattet waren. Größere Wohnhäuser erhielten eine eigene Badeanlage, in den dazugehörigen Gärten befanden sich Zierteiche. Die hierfür benötigte Wasserversorgung wurde jetzt grundlegend dem Bedarf einer zahlenmäßig wachsenden Bevölkerung und ihren Bauten angepasst. Mehrere gemauerte Gefälleleitungen belieferten das Stadtgebiet. Die am besten dokumentierte Ruwerwasserleitung nahm ihren Anfang oberhalb der Einmündung der Riveris in die Ruwer und verlief über eine Länge von fast 13 Kilometern, bis sie oberhalb des Amphitheaters in das Stadtgebiet eintrat und wohl auf ein Wasserverteilungsbauwerk östlich des Amphitheaters zulief. Dabei überwandt die Leitung einen Höhenunterschied von lediglich 7,74 m. Eine Berechnung der Mindestförderleistung hat die Wassermenge von 25.000 m3 pro Tag ergeben, eine beachtliche Menge für nur diese eine Versorgungsleitung, wenn man bedenkt, dass der heutige durchschnittliche Tagesverbrauch von Trier bei rund 21.000 m3 liegt. Wie umsichtig der Zulaufbereich der Leitung gewählt war, verdeutlicht die Tatsache, dass sich noch heute die städtische Wasserversorgung aus demselben Gebiet speist und die Reinheit der dortigen Quellen Tafelwasserqualität erreicht. Der Bauboom der Stadt ging einher mit ihrer politischen Aufwertung. Trier wurde jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach Sitz einer wichtigen überregionalen Verwaltung, an deren Spitze der Finanzprokurator der Provinzen Gallia Belgica und der beiden Germanien stand. Er entstammte dem Ritterstand, und als Beauftragter des Kaisers erhielt er immerhin ein Jahresgehalt von 200.000 Sesterzen (zum Vergleich: Ein Legionär erhielt damals einen Sesterz pro Tag; ein Lehrer für Griechisch und Latein etwa vier Sesterze pro Schüler und Monat). Der Aufgabenbereich dieser Behörde umfasste die Eintreibung der direkten und darüber hinaus einen Teil der indirekten Steu-

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ern. Als ihr topographischer Standort wird der unter der spätantiken Palastaula nachgewiesene Vorgängerbau, der sogenannte Procuratorenpalast, angenommen. Im Vorfeld seiner Errichtung wurden vier Wohnquartiere samt einer Straßenkreuzung niedergelegt. Zu den Baulichkeiten der Gemeindeverwaltung haben u.a. auch Bürogebäude und Räumlichkeiten zur Lagerung von Schriftgut gehört. Ein solcher Komplex ist möglicherweise 1987 auf dem Gelände des Viehmarktplatzes und somit zwei Stadtquartiere (insulae) nördlich des Forums entdeckt worden. Der ursprüngliche mehrgeschossige Großbau, dessen Überreste heute unter einem Schutzbau konserviert sind, entzieht sich zwar ELVODQJHLQHUVLFKHUHQ,GHQWL¿]LHUXQJGRFKGHXWHQPlFKWLJH.HOOHUUlXPH mit Wandregalen auf die Nutzung als Archiv oder Bibliothek hin, bevor das Gebäude gegen Ende des 3. Jahrhunderts einen Umbau in eine Thermenanlage erfuhr. Zwischen 160 und 180, inmitten der Zeiten der Pax Romana, erhielt die Stadt eine eindrucksvolle, rund 6,4 km lange Ummauerung. Über sechs Meter hoch, gegliedert durch über 30 Türme und fünf Torburgen, fasste sie ein Stadtareal von 285 ha ein. Nördlich der Alpen sucht dieses %DXZHUNVHLQHVJOHLFKHQ1HEHQVLFKHUOLFKDXFKIRUWL¿NDWRULVFKHQ)XQNWLonen hatte diese massiv und offenbar in relativ kurzer Zeit einheitlich erbaute Anlage vor allem einen repräsentativen Charakter, der das Selbstbewusstsein der Stammesgemeinde zum Ausdruck brachte. Von den Stadttoren hat als eindrucksvolles Beispiel das Nordtor, die Porta Nigra, überdauert. Von den weiteren Toren verzahnte das Brückentor die neue Steinbrücke mit der Stadtmauer, während die beiden anderen Portae im Südosten auf der Heiligkreuzer Höhe bzw. im Süden auf der heutigen Kreuzung von Saar- und Töpferstraße lagen. Trier bildete das Zentrum einer ausgedehnten Agrarlandschaft. Die Landwirtschaft im weitesten Sinne war eine der wesentlichen ökonomischen Grundlagen der treverischen Oberschicht, die neben ihren Stadtvillen über ausgedehnte Landgüter verfügte. Auf ihnen arbeitete vornehmlich eine einheimische Bevölkerung als Saisonarbeiter und Pächter, während Sklaven auf dem Agrarsektor in den nordwestlichen Provinzen so gut wie keine Rolle spielten. Neben der Getreideproduktion dürften bereits im 2. Jahrhundert die Viehzucht – auf den Höhenzügen von Eifel und Hunsrück insbesondere die Schafzucht – für eine bedeutende Textilproduktion sowie im Moseltal der Weinanbau dominiert haben. (LQHQÀRULHUHQGHQ7XFKKDQGHOEH]HXJHQHLQHUVHLWVLQVFKULIWOLFKEHUlieferte Trierer Fernhändler, andererseits Bildszenen eindrucksvoller Grabdenkmäler. Derartige Monumente, die neben dem Gedenken an die Verstorbenen auch der Selbstdarstellung einer Familie dienten, zeigen im-

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mer wieder Szenen von Tuchproben oder -handel. Berühmtes Beispiel ist GLHUXQGDFKW.LORPHWHUÀXVVDXIZlUWVYRQ7ULHUQRFKKHXWHVWHKHQGH,JHler Säule, ein aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts stammender 23 m hoher Grabpfeiler der Secundinier, einer treverischen Familie. Diese war im Textilgeschäft reich geworden, was auf zahlreichen Darstellungen zum Ausdruck gebracht wird. Doch nicht nur Tuchhändler nutzten ihre Grabmäler als eine Art „Litfasssäule“. Das Grabmonument eines reichen treverischen Großwinzers mit Abbildungen von Weinbergsarbeiten stammt von der luxemburgischen Obermosel aus Grevenmacher. Szenen zum WeinKDQGHO¿QGHQVLFKDXIHLQHU5HLKHYRQ6WHLQGHQNPlOHUQGHUHQ4XDGHULQ der spätrömischen Kastellmauer von Neumagen gefunden wurden. Hierbei handelt es sich um die Überreste von Grabmonumenten des 2. und der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts, die ehemals an den Ausfallstraßen von Trier standen und als Baumaterial für die Befestigung des an der Mittelmosel gelegenen Kleinstädtchens abgetragen wurden. Die Denkmäler zeigen den Transport – wohl von Wein – in den beiden typischen Warenbehältnissen der Antike: der aus Keramik getöpferten Amphore des Mittelmeerraumes und dem Holzfass der Gallier. Ihr Nebeneinander auf Darstellungen treverischer Grabmäler lässt sowohl auf einen Import mediterraner Erzeugnisse als auch die Ausfuhr einheimischer Weine schließen. Epigraphisch sind Treverer als Weinhändler in Lugdunum/Lyon, der südgallischen Handelsmetropole, nachgewiesen. Außer der Weinproduktion und seinem Vertrieb wurde in Trier aber offenbar auch die Herstellung eines anderen alkoholischen Getränkes in größerem Umfang betrieben. Allein vier Trierer Inschriften nennen nämlich Bierbrauer bzw. Bierverleger, darunter eine Frau. Es sind neben einer Metzer Grabinschrift die einzigen derartigen Nennungen im reichhaltigen Bestand römerzeitlicher Steindenkmäler überhaupt, was den hohen Stellenwert der Bierproduktion für die Moselregion unterstreicht. 'DQHEHQ¿QGHQVLFK%HOHJHIU7ULHUHU)HUQKlQGOHUDX‰HUKDOELKUHV Stammesgebietes, die mit Salz oder Fischsaucen Geschäfte machten. Exportorientiert arbeitete die Keramikindustrie der Moselmetropole, die seit der Mitte des 1. Jahrhunderts im südlichen Stadtgebiet ansässig war. Die Produktpalette umfasste Gebrauchs- und Tafelgeschirr, Öllampen und Terrakotten. Besondere Bedeutung erlangten in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts Manufakturen, die einerseits schwarzglasiertes TrinkgeVFKLUU VRJHQDQQWH 6FKZDU]¿UQLVZDUH  VRZLH DQGHUHUVHLWV 6FKVVHOQ Schalen und Platten aus Terra Sigillata, ein vornehmes Tafelgeschirr mit glänzend rotbraunem Schlickerüberzug und Reliefverzierung, herstellten. Der Aufstieg der Augusta Treverorum zur nordgallischen Metropole spiegelt sich nicht zuletzt in der nachgewiesenen Vielfalt religiöser Kulte.

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Eindrucksvoll kommt das Nebeneinander unterschiedlicher Glaubensvorstellungen im Bereich des städtischen Tempelbezirkes im Altbachtal zum Ausdruck. Dieses Kultareal ist das größte seiner Art nördlich der Alpen. Obwohl die vollständige Ausdehnung nach Osten und Süden noch gar nicht ermittelt werden konnte, fanden sich allein auf einer untersuchten Fläche von rund 5 ha etwa 70 Kultbauten, bestehend aus Altären, Kapellen und zum Teil in ummauerten Bereichen eingefassten Tempeln. Seinen monumentalen Abschluss fand das Areal im Osten durch einen auf die dortige natürliche Anhöhe gesetzten mächtigen Podiumstempel in klassisch italisch-römischer Ausführung, den sogenannten Tempel am Herrenbrünnchen. Einen Ausbau erfuhr dieser heilige Bezirk vor allem im Verlauf des 2. Jahrhunderts, unter anderem wurde nun ein Kulttheater erbaut. Die verehrten Gottheiten spiegeln in gewisser Weise auch die HerNXQIW YHUVFKLHGHQHU %HY|ONHUXQJVJUXSSHQ 6R ¿QGHQ VLFK QDFK ZLH YRU keltische Götter, die nun aber den Namen einer römischen Gottheit – oftmals um einen einheimischen Beinamen ergänzt – erhalten (interpretatio Romana). Ein weit verbreitetes Beispiel im Trevererraum war Merkur, dem durchaus unterschiedliche Schutzfunktionen nachgesagt wurden. Ein Gott heilender Quellen war Apollo Grannus, und der keltische Mars wies neben der ihm klassisch zugewiesenen Rolle als Kriegsgott auch eine heilund fruchtbringende Komponente auf. Neben unterschiedlichen, schon lange verehrten Muttergottheiten ist Epona, die Göttin der Reisenden und Fuhrleute, aber auch der Transporttiere, hervorzuheben. Unter den im Zuge der Romanisierung in Trier etablierten italisch-römischen Gottheiten sind neben Jupiter, Juno und Minerva weitere Repräsentanten des mediterranen Götterhimmels wie Diana, Venus, Amor oder Viktoria vertreten. Ursprünglich in den östlichen Provinzen des Imperium Romanum beheimatet waren orientalische Gottheiten, wie der unbesiegbare Sonnengott, die Erlösergottheit des stiertötenden Mithras, die Göttin der Zauberkunst Hektate oder die Herrscherin der Unterwelt, Proserpina, sowie die Erdmutter Kybele und ihr Begleiter Attis. Aus Ägypten gelangten schließlich die Fruchtbarkeitsgottheiten Isis und Serapis an die Mosel. 'DUEHUKLQDXV¿QGHQVLFKLPPHUZLHGHUYLHOIlOWLJH)RUPHQDOOWlJOLchen Aberglaubens. Besonders aussagekräftig sind Zeugnisse von Schadenzauber, sogenannte Fluchtäfelchen (GH¿[LRQHV) aus Bleiblech, die vornehmlich an Orten deponiert wurden, an denen man mit Dämonen in Kontakt zu treten glaubte. Zu Trier wurden derartige mentalitätsgeschichtlich hoch interessanten Beispiele im Arenakeller des Amphitheaters gefunden, also an einem Platz, an dem Menschen gewaltsam umgekommen waren. Die Täfelchen nennen u.a. Prozessgegner und ihre Advokaten oder die untreue Partnerin.

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Gegen Ende des 2. Jahrhunderts geriet Trier dann in den Sog dramatischer, das gesamte Imperium erschütternder politischer Ereignisse: Nach der im Jahr 192 erfolgten Ermordung Kaiser Commodus‘ gelang es in dem anschließenden Bürgerkrieg Septimius Severus, die Macht an sich zu reißen. Sein letzter Widersacher war der Statthalter von Britannien, Clodius Albinus, der als Anhänger des Severus ursprünglich als dessen Nachfolger in der Reichsherrschaft vorgesehen war. Mit der Erhebung des Sohnes des Severus, Aurelius Antonius, genannt Caracalla, zum Mitregenten waren jedoch die Weichen für eine dynastische Thronfolge gestellt, was Albinus zur Revolte veranlasste: Er ließ sich 196 zum Augustus ausrufen, setzte mit seinen Truppen nach Gallien über und wählte seine Residenz in dem zuvor eroberten Lyon. Die Niederlage seiner Truppen und der anschließende Selbstmord des Albinus im Februar des darauffolgenden Jahres beendeten jedoch dieses Intermezzo, das vor allem Gallien kurzzeitig in ein Chaos gestürzt hatte, was nicht zuletzt zahlreiche Münzschatzfunde verdeutliFKHQ'HUVLHJUHLFKH6HYHUXVOLH‰HLQÀX‰UHLFKH3DUWHLJlQJHUGHV8VXUSDtors enteignen und ordnete Hinrichtungen an. Trier war ganz offenkundig von den Bürgerkriegswirren betroffen gewesen. Auf diese Tatsache lässt sich womöglich eine Inschrift (CIL XIII 6800) beziehen, welche der 22. Legion an ihrem Garnisonsstandort Mainz für militärische Hilfeleistung während einer Belagerung der civitas Treverorum dankt. Vermutlich ist die Stadt bzw. ihr Stammesgebiet von Anhängern des Clodius Albinus bedroht und vielleicht sogar kurzfristig eingenommen worden. Vor diesem Hintergrund enormer politischer Instabilität ist auch die Verbergung des großen Goldmünzschatzes zu sehen, der 1993 in der Trierer Feldstraße gefunden wurde. In einem Bronzegefäß waren über 2500 Aurei unter dem Lehmboden eines Kellers in einem Privathaus verborgen worden, das nur ein Stadtviertel nördlich der monumentalen Tempelanlage am Moselufer lag. Die letzten Münzen, die einen nahen Verbergungszeitpunkt anzeigen, sind im Jahr 196/197 geprägt worden. Die Tatsache, dass das Anwesen noch bis weit in die Spätantike hinein bewohnt wurde und in dieser Zeit mehrere Umbauten erfuhr, verdeutlicht, dass die späteren Bewohner nichts von dem ungeheuren Reichtum ahnten, der unter ihren Füßen schlummerte. Über den unbekannten Besitzer und seine Motive lassen sich lediglich Spekulationen anstellen. Möglicherweise war diese enorme Barschaft, immerhin im Gegenwert eines Jahresgehaltes des ProYLQ]VWDWWKDOWHUVYRQHLQHPHLQÀXVVUHLFKHQ3DUWHLJlQJHUGHV&ORGLXV$OELnus vergraben worden, der aufgrund seines kurze Zeit später eingetretenen Todes nicht mehr dazu gekommen war, den Schatz zu heben. Ob es sich bei dieser enormen Summe um Privatvermögen, einen unterschlagenen Tempelschatz oder Geld für die Entlohnung von Truppen beziehungs-

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weise die Gewinnung von Parteigängern handelte, muss unbeantwortet bleiben. Vielleicht ist das Stadthaus nach dem Untergang des Clodius AlELQXV XQG VHLQHU$QKlQJHUVFKDIW NRQ¿V]LHUW XQG VSlWHU DQ HLQHQ 3DUWHLgänger des Severus ausgegeben worden. Unter Severus‘ Sohn und Nachfolger Caracalla erfolgte mit der um 212/213 erlassenen Constitutio Antoniniana die Verleihung des römischen Bürgerrechts an die meisten Einwohner des Römischen Reiches, so auch an breite Bevölkerungsschichten der civitas Treverorum und ihres Vorortes Trier. Mit diesem Erlass wurde die schrittweise erfolgte Integration der in den ehemals eroberten Gebieten lebenden Menschen in die Sozialstruktur der römischen Gesellschaft juristisch weitgehend abgeschlossen. Wie setzte sich die Bevölkerung Triers in der mittleren Kaiserzeit zusammen? An der Spitze stand weiterhin als Vertrauter des Kaisers der Finanzprokurator für die Provinz Belgica und die beiden Germanien. Es folgte die Gruppe der reichen treverischen Grundbesitzer und Großkaufleute, aus denen sich auch der Gemeinderat rekrutierte. Die Mittelschicht setzte sich vor allem aus einheimischen Kleinhändlern und Handwerkern zusammen, darunter gab es die in einem gestaffelten Abhängigkeitsverhältnis lebenden Gruppen der Bediensteten und Saisonarbeiter, aber auch der Sklaven. Zudem hielten sich zeitweilig immer wieder Auswärtige, seien es .DXÀHXWH9HUZDOWXQJVEHDPWHRGHU0LOLWlUVLQGHU0RVHOVWDGWDXI Die Krise des 3. Jahrhunderts und das Imperium Galliarum Im Verlauf des 3. Jahrhunderts haben sich die Rahmenbedingungen innerhalb des Imperium Romanum drastisch geändert, was dramatische Auswirkungen zur Folge hatte. Deshalb hat die Forschung dieses Zeitalter zurecht mit dem Schlagwort der Krise charakterisiert. Auf den Tod des letzten Kaisers aus der Dynastie der Severer, Alexander Severus, 235 während eines Feldzuges gegen die Alamannen in Mainz folgte eine Phase herrschaftlicher Destabilisierung. In rascher Folge lösten sich vornehmlich aus militärischen Kreisen stammende Herrscher und Usurpatoren, die sogenannten Soldatenkaiser, ab. Die bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen führten immer wieder zum Abzug von Truppeneinheiten aus den Grenzregionen des Reiches, was auswärtige Gegner zu Einfällen ermutigte. Neben den persischen Sasaniden in Syrien und Steppenvölkern in Nordafrika waren es Verbände der Franken und Alamannen, welche die germanischen und gallischen Provinzen heimsuchten. Spätestens ab dem Jahr 260 mußte der obergermanisch-raetische Limes endgültig aufgegeben werden. Nach Ausweis der Münzfunde brach um die Mitte des 3. Jahrhunderts auch der Fernhandel größeren Umfangs zusammen; wachsender Steuerdruck und eine

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zunehmende Münzverschlechterung sind weitere Symptome einer weite Lebensbereiche erfassenden Krise. Ob diese Ereignisse mitbedingt oder gar ausgelöst wurden durch einen klimatischen Einbruch seit den 20er Jahren des 3. Jahrhunderts, der sich durch deutlich kältere Jahresdurchschnittstemperaturen und große Trockenheiten auszeichnete, bleibt noch eingehender zu überprüfen. Rezente naturwissenschaftliche Untersuchungen lassen vermuten, dass derartig sich abzeichnende Entwicklungen zu katastrophalen Auswirkungen in der Agrarwirtschaft sowohl der weströmischen Provinzen als auch der angrenzenden Gebiete der Germania Magna geführt haben könnten. Aufgrund der innenpolitischen Auseinandersetzungen, aber auch äußerer Bedrohungen scherten seit 260 unter eigenständigen Usurpatoren große Teile des Imperiums für einige Zeit aus dem Reichsverband aus, da 5RP]XVFKZDFKZDUGHQ$XÀ|VXQJVHUVFKHLQXQJHQZLUNXQJVYROOHQWJHgenzutreten. Im Westen umfasste das von Rom losgelöste sogenannte Gallische Sonderreich große Teile Galliens, daneben Britannien, Germanien und die iberische Halbinsel. Unter seinem ersten Kaiser Postumus (260– 269) wurde das frontnah zur Reichsgrenze gelegene Köln zur Residenz. Trier spielte in der Geschichte des kurzlebigen Imperium Galliarum eine wichtige Rolle. Wohl spätestens seit dieser Zeit verlegte der Statthalter der Provinz Belgica, der vorher in Reims amtierte, seinen Amtssitz in die Moselmetropole. Hier residierte der unter Postumus zum Mitkonsul erhobene Victorinus, dessen Palast unweit westlich des Forums entdeckt wurde. Eine Inschrift auf einem dort gefundenen Mosaikboden nennt ihn als Prätorianertribun, wohl des Postumus. Victorinus folgte von 269 bis 271 dem ermordeten Postumus als Herrscher des Gallischen Sonderreiches nach. Er erlitt jedoch schon bald das Schicksal seines Vorgängers. Nun gelangte der damalige Statthalter Aquitaniens, Tetricus, als Augustus an die Macht (271–274). In der Forschung geht man davon aus, daß er seit 272 Trier als Residenz für sich und seinen gleichnamigen zum Caesar erhobenen Sohn wählte. Diese Annahme wird seit kurzem durch starke archäologische Argumente gestützt. Rund 50 m westlich der Porta Nigra konnte 2005 innerhalb der römischen Stadtmauer umfangreiches Fundmaterial – wie Schrötlinge und Probeabschläge von Goldmünzen – geborgen werden, das zweifelsfrei auf die in unmittelbarer Nähe gelegene und bislang unbekannte Münzprägestätte unter Tetricus zu beziehen ist. Mit der Kapitulation des Tetricus war zugleich das Zwischenspiel des Gallischen Sonderreiches beendet, dessen Provinzen unter Kaiser Aurelian wieder dem Imperium Romanum einverleibt wurden. Doch Aurelian verstarb bereits im Jahr 275, und die anschließenden unübersichtlichen Verhältnisse im Reich ermöglichten 275/76 verheerende Germanenein-

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fälle. Vor allem Franken und Alamannen drangen bis weit in das Innere Galliens vor, mit durchaus katastrophalen Folgen für die Moselregion und die Stadt Trier. Der archäologische Befund läßt keinen Zweifel an den dramatischen Auswirkungen: Selbst Trier war offenbar von den Plünderungen betroffen, was heftige Zerstörungen an der Stadtmauer erkennen lassen. So bedeuteten das 2. und 3. Viertel des 3. Jahrhunderts sicherlich einen Einschnitt in der Geschichte Galliens und in einem besonderen Maße für die Stadt Trier, ging doch eine langandauernde Zeit des Friedens und damit verbunden auch der wirtschaftlichen Prosperität zuende. Gleichzeitig wurden aber für die Moselmetropole wichtige zukunftsweisende Grundlagen geschaffen, erlangte die Stadt doch einen enormen Zugewinn an politischen Standortfaktoren, indem sie nicht nur zum Amtssitz des Statthalters der belgischen Provinz, sondern auch zur Residenzstadt des Gallischen Reiches mit dazugehöriger Ausstattung (Truppen, Verwaltungsbehörden, Münzstätte etc.) aufstieg. Trier wird Kaiserresidenz des Römischen Reiches Umfassende reichspolitische Neuerungen wurden dann unter dem ab 284 amtierenden Kaiser Diokletian sowie seit 306 unter Konstantin I. eingeführt. Im Zuge einer Reform der zivilen Verwaltung erfolgte zunächst ab 293 eine Aufteilung der alten Provinzen. Trier rangierte seit dieser Zeit als Vorort der Provinz Belgica Prima. Darüber hinaus erhielt die Stadt den Sitz der Gallischen Diözese und somit eines Verwaltungssprengels, der acht Provinzen umfasste und von der Rheingrenze bis weit nach Zentralgallien hinein reichte. Schließlich kam es – möglicherweise erst unter den Konstantinsöhnen – zur Einrichtung der Prätorianerpräfektur in Gallien, deren Präfekt ebenfalls in Trier residierte. Dieser neue Verwaltungsbereich reichte von Mauretanien über die iberische Halbinsel und Gallien mit den germanischen Provinzen bis nach Britannien. Er war in seiner Ausdehnung annäKHUQGLGHQWLVFKPLWGHU(LQÀXVVVSKlUHGHVYRUPDOLJHQ*DOOLVFKHQ6RQGHUreiches. Neben dem Aufstieg Triers zur bedeutendsten Verwaltungsmetropole in den nordwestlichen Provinzen wurde die Moselstadt aufgrund ihrer strategisch günstigen Situation an wichtigen Fernverbindungen und ihrer Grenznähe zu einem bevorzugten Aufenthaltsort der spätantiken Herrscher; alles in allem ein enormer Bedeutungszuwachs, der ihr bereits unter den gallischen Usurpatoren zugefallen war. Zunächst wählten der Mitkaiser Diocletians, Maximian, im Jahr 286 und seit 293 dann sein Unterkaiser, der Caesar Constantius Chlorus, Trier zu ihrer wichtigsten Residenzstadt. Mit dem enormen Zuwachs an zent-

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ralörtlichen Aufgaben war auch die Etablierung neuer Behörden und zusätzlichen Personals in der Moselstadt verbunden. Nachdem Trier in der mittleren Kaiserzeit lange als reine Zivilstadt wenig Militär beherbergt hatte, müssen wir nun – wie bereits während der Zeit des Imperium Galliarum – von einer permanenten Anwesenheit größerer Truppenverbände, darunter einer Palastgarde zum Schutz des jeweils in der Stadt weilenden Hofes, ausgehen. Auch die Anfänge eines ausgedehnten befestigten Areals in Hafennähe, auf dem riesige Speicherhallen entstanden, dürfte – neueren archäologischen Untersuchungen zufolge – noch in das ausgehende 3. Jahrhundert zurückreichen und unter militärischer Verwaltung gestanden haben. Unter Constantius Chlorus wurde zudem in Trier – wie schon unter dem Usurpator Tetricus – erneut eine Münzprägestätte eingerichtet, in der bald mehrere Abteilungen arbeiteten. Sie stieg rasch zu einer der wichtigsten derartigen Einrichtung im Römischen Reich auf. Nach dem überraschenden Tod des Constantius Chlorus wählte dessen Sohn, Konstantin der Große, die Moselmetropole zu seiner bevorzugten Residenz. Erst ab 316 hat er Trier aufgrund seiner dauerhaft erforderten Präsenz im Osten des Reiches – abgesehen von einem kurzen Besuch 328/329 anlässlich eines Feldzuges gegen die Germanen – nicht mehr aufgesucht. Anschließend wählten seine Söhne Trier zu ihrer zeitweiligen Residenz. Unter Konstantin erfolgte ein systematischer Ausbau der Residenzstadt. Dabei konnte er bereits auf Ansätze unter den gallischen Usurpatoren bzw. unter Maximian und seinem Vater anknüpfen. An der Stelle einer ausgedehnten Palastanlage des 2. Jahrhunderts, den die Forschung versuchsweise als Procuratorenpalast angesprochen hat, wurde noch vor 300 mit der Errichtung einer rund 67 m langen und über 27 m breiten Palastaula (die sogenannte Basilika) mit zugehöriger Vorhalle begonnen. Einen prachtvollen, in konstantinischer Zeit umgestalteten Wohnbau haben die nach den Kriegszerstörungen des Zweiten Weltkrieges durchgeführten Ausgrabungen im Dombereich zutage gefördert. Rückschlüsse auf seine exzeptionelle Ausstattung lässt das berühmte Deckengemälde eines Zimmers zu, das Frauenbüsten in Lichtkränzen, Männer und Erotenpaare zeigt. Ein weiteres unter Konstantin errichtetes Bauwerk ist für Trier bislang lediglich auf Grund von Indizien zu erschließen. Dabei handelt es sich um das Mausoleum für den 306 in York verstorbenen Vater Konstantins, Constantius Chlorus. Neuerdings hat sich Lothar Schwinden mit guten Gründen für einen möglichen Standort südöstlich des Circus und damit auch im topographischen Gefüge des Palastviertels ausgesprochen, wo nachweislich noch bis an die Wende zum 14. Jahrhundert ein als memoria bezeichneter antiker Großbau stand.

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Unter Konstantin setzt die öffentliche Förderung des Christentums ein. In seine Regierungszeit, genauer, in das zweite Jahrzehnt des 4. Jahrhunderts, fällt auch die erste Errichtung eines eigenständigen christlichen Kirchenbaus auf dem heutigen Areal der ehemaligen Domkurie von der Leyen gegenüber der Liebfrauenkirche. Sie ist die älteste nachgewiesene christliche Kultanlage in den nordwestlichen Provinzen. Der Bau erfuhr in den 30er Jahren eine Erweiterung nach Osten. Hierbei handelt es sich offenbar um eine kaiserliche Stiftung. Eine Christengemeinde hat es in Trier aber schon vorher gegeben, über ihre Anfänge, die vielleicht sogar bis in das 2. Jahrhundert zurückreichen, ist jedoch nichts bekannt. In dieser Frühzeit haben die christlichen Gottesdienste – wie es andernorts bezeugt ist – in privaten Räumlichkeiten, sogenannten Hauskirchen, stattgefunden. Die beiden ersten Ortsbischöfe, Eucharius und Valerius, welche die mittelalterliche Überlieferung zu Schülern des Apostels Petrus machte, amtierten in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts. Ihre Gräber werden noch heute in der mittelalterlichen Krypta der auf dem südlichen Gräberfeld von Trier entstandenen Abteikirche St. Eucharius/St. Matthias verehrt. Nach Auskunft der Inschrift einer Altarstiftung durch den späteren Ortsbischof Cyrillus aus der Mitte des 5. Jahrhunderts ruhten sie bereits damals auf dem dortigen Friedhof. Der unter Konstantin den Trierer Christen vorstehende Agricius und sein Nachfolger Maximinus wurden hingegen auf dem nördlichen Gräberfeld bestattet. In unmittelbarer Nähe zu der Grablege der beiden Bischöfe entstand noch in konstantinischer Zeit eine erste Begräbnishalle der Christengemeinde. Die archäologische Forschung hat überzeugend herausgearbeitet, dass das initiierte imperiale Bauprogramm der Moselresidenz in der Folgezeit nur schleppend vorankam: So werden offenbar die Arbeiten an der neuen öffentlichen Badeanlage (Kaiserthermen) noch in konstantinischer Zeit – wohl nach dem dauerhaften Wegzug des Herrschers – eingestellt. Gleiches gilt für die Ausführungen an der Markthalle im Forumsbereich. Schließlich werden die beheizbaren Fußböden in die Empfangshalle des Palastbezirkes (die sogenannte Basilika) erst in nachkonstantinischer Zeit eingebaut. Auch der Kirchenausbau im Dombereich hat eine Unterbrechung erfahren. Vieles, was folglich unter den Herrschern Maximian, Constantius Chlorus bzw. Konstantin geplant und begonnen wurde, blieb vorerst unvollendet. Die Stadt scheint zu dem Zeitpunkt, als sich Konstantin dauerhaft in der östlichen Reichshälfte zu engagieren begann, eine riesige Großbaustelle gewesen zu sein, und daran sollte sich in den nächsten Jahrzehnten wenig ändern.

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Plan der römischen Stadt Trier im 4. Jahrhundert: 1. Barbarathermen; 2. Circus; 3. Amphitheater; 4. Palastaula; 5. Forum; 6. Kaiserthermen; 7. Kirchenanlage; 8. Coemeterialbasilika; 9. Tempelbezirk Altbachtal.

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Die zweite Hälfte des 4. Jahrhunderts Mit der 367 erfolgten erneuten Etablierung des kaiserlichen Hofes in Trier unter den Kaisern Valentinian I. (364–375) und Gratian (367–383) ging die Wiedereröffnung der dortigen Münzstätte einher. In der Folgezeit sind wichtige staatliche Manufakturen in der Stadt bezeugt, so kaiserliche Webereien, Waffenfabriken zur Herstellung von Schilden und Wurfmaschinen, aber auch Gold- und Silberwerkstätten. Der unter der konstantinischen Dynastie begonnene Ausbau der Stadt zur Kaiserresidenz wurde wieder aufgegriffen und prachtvoll vollendet, wobei jedoch deutliche MoGL¿]LHUXQJHQGHUXUVSUQJOLFKHQ3OlQHGHXWOLFKZHUGHQ6RLVWGHUNDLVHUliche Palastbezirk fertiggestellt worden, der auf einer Fläche von mindestens etwa 400 x 450 m ausgedehnte Wohn-, Verwaltungs- und RepräsentaWLRQVEDXWHQ DEHU DXFK PLW 6lXOHQJlQJHQ HLQJHIDVVWH +RIÀlFKHQ XPschloss. Hierzu zählte die imposante Palastaula, die der Schauplatz für staatliche Empfänge, Audienzen und Jubiläumsfeiern gewesen ist. Fußboden und Wandheizung, Inkrustationen aus Buntmarmoren, Wandmalereien und Mosaike gehörten zur Innenausstattung der monumentalen Halle. In noch heute erhaltenen Nischen der Nordwand waren Statuen – wohl die von Kaisern – aufgestellt. Im Süden wurde das Regierungsviertel von den sogenannten Kaiserthermen begrenzt. Die Ausführung des eine Fläche von vier Stadtquartieren einnehmenden mächtigen Baukörpers war um die Wende zum 4. Jahrhundert als öffentliches Bad begonnen, aber nicht vollendet worden. Vielmehr wurden die bereits errichteten Mauerzüge des Kaltwasserbadetraktes niedergelegt und dafür das sich anschließende Hofareal erweitert. An der Nordostecke kam dafür ein kleines Bad als Anbau zur Ausführung. Über die Art der Nutzung ist viel spekuliert worden. Vorgeschlagen wurden eine Nutzung als Kaiserforum (wie erklärt sich dann der kleine Thermenanbau?), als Amtsgebäude bzw. Wohnpalast oder aber als Kaserne der kaiserlichen Leibgarde. Ein Zusammenhang mit dem Residenzbezirk ist jedenfalls zwingend anzunehmen. Wohl auf kaiserliche Initiative sind zudem die Kirchenanlagen und die große Begräbnishalle der Trierer Christengemeinde auf dem vor der Stadt gelegenen nördlichen Gräberfeld nun fertiggestellt bzw. vergrößert worden. Östlich an den Palast schlossen sich die öffentlichen Spielstätten an, der nun erheblich ausgebaute Circus, der einer Festrede aus konstantinischer Zeit zufolge den Vergleich mit der stadtrömischen Pferderennbahn nicht zu scheuen brauchte, und das ältere, in die Stadtummauerung einbezogene Amphitheater. Gerade der Konnex von Palast und Circus als Ort

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der Kaiserverehrung ist auch in anderen Residenzen nachzuweisen, so in Rom oder in Mailand, Thessaloniki und Konstantinopel. 'DV7UHYHUHUODQGZXUGHLQWHQVLY]XU$QSÀDQ]XQJYRQODQGZLUWVFKDIWlichen Produkten und Gartenkulturen genutzt. So ist durch bleierne Warenetiketten beispielsweise der Anbau von Spargel bezeugt. Im Zuge der Romanisierung waren Walnuss-, Obst- und Rebkulturen in die Trierer Talweite gelangt. Auch die Wassermühle ist eine von den Römern nach Gallien importierte Innovation. Der Dichter Ausonius erwähnt Getreidemahlwerke und darüber hinaus mit Wasserkraft betriebene Steinsägen an der Q|UGOLFKGHU6WDGWLQGLH0RVHOÀLH‰HQGHQ5XZHU,PXPPDXHUWHQ6WDGWbereich konnte zudem eine spätantike Wassermühle am Altbach nachgewiesen werden. Die Archäologie hat daneben Hinweise auf Umweltschäden feststellen können, die durch die dichte Besiedlung ausgelöst wurden. So lag Trier während der Spätantike inmitten einer weitgehend „kahlen“ Kulturlandschaft. Der enorme Bedarf an Bauholz sowie vor allem an Brennmaterial für die großen Thermen, aber auch die vielen privaten Bä-

Rekonstruktion der Stadt Trier und ihres Umlandes in der Spätantike

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der und zahllosen Heizungsanlagen hatte zur Abholzung des zuvor umfangreichen Waldbestandes geführt. Dieser Vorgang bedingte, dass entlang der zur Mosel abfallenden Hänge Erosionsschäden auftraten, die etwa auf dem der Stadt gegenüber gelegenen Moselufer zur Verschüttung eines Straßenzuges führten. Benötigte Holzvorräte mussten aus den VogeVHQPLWVHLQHQGLFKWHQ7DQQHQZlOGHUQKHUEHLJHÀ|‰WZHUGHQ0|JOLFKHUweise erfolgte mit aus diesem Grund nun eine Abwanderung der in der Südstadt arbeitenden Töpfereibetriebe in die ton- und waldreichen Regionen um Speicher in der Eifel. Der Ausstoß luftverunreinigender Partikel aus den vielen Heizungsanlagen, aber auch den Öfen gewerblicher Betriebe führte – bedingt durch die natürliche Kesselsituation des Stadtgebietes – womöglich zu ersten Smogbildungen in der Trierer Talweite. Untersuchungen in den Ablagerungen der Eifelmaare haben einen deutlich erhöhten Wert anthropogen eingebrachter Schwermetalle wie Blei und Kupfer nachgewiesen. Mit dem Zuwachs an politischen und administrativen Aufgaben dürfte auch die Bevölkerung Triers in spätrömischer Zeit angewachsen sein. Über die Einwohnerzahl der Kaiserresidenz ist immer wieder spekuliert worden. Trotz der enormen politischen Bedeutung hat die Moselstadt aber nicht annähernd die Bevölkerungsdichte mediterraner Metropolen des Reiches erlangt. Zwar ist für den Circus von einem Fassungsvermögen zwischen 50 und 100.000 Besuchern in der Spätantike auszugehen, doch ist hierbei in Rechnung zu stellen, dass der Einzugsbereich dieser Spielstätte sicherlich weit über das engere Stadtgebiet hinausreichte. In Trier fehlen im Stadtbild die mehretagigen Mietskasernen der Mittelmeergroßstädte, hier scheint eine zwei- bis zweieinhalbgeschossige Bauhöhe vorherrschend gewesen sein. Zudem wird die Bebauung an den Siedlungsrändern unweit der Stadtmauer deutlich lockerer. Auf Grund dieser Beobachtungen und der Tatsache, dass große Bereiche des ummauerten Stadtareals als Standorte von imperialen bzw. öffentlichen Monumentalbauten geQXW]WZXUGHQLVWIUGLHKDJUR‰H6WDGWÀlFKHHLQH%HY|ONHUXQJYRQ bis zu 40.000 Menschen anzunehmen. Die Trierer Christengemeinde boomte regelrecht im Windschatten der Kaiserresidenz. Bereits in den 30er und 40er Jahren des 4. Jahrhunderts wurde die erste Kirche im späteren Dombereich zu einem riesigen KultNRPSOH[HUZHLWHUWGHUDXVYLHUGUHLVFKLI¿JHQ+DOOHQEHVWDQGYRQGHQHQ jeweils zwei in westöstlicher Ausrichtung aneinandergrenzten. Zwischen diesen langgezogenen, parallel angeordneten Kirchen lag ein rund 64 m2 großes Taufbecken (Baptisterium). Der in den 40er Jahren begonnenen Quadratbau im Nordosten der Anlage wurde erst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts fertiggestellt. Er bildet den Kern des heutigen Domes. Der

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mächtige Ziegelbau diente der Verehrung einer dort aufbewahrten Herrenreliquie. Dies bezeugen zahlreiche frühchristliche Pilgereinritzungen mit den Anrufungen Gottes (Vivas in Deo etc.) auf Schrankenwänden, die im Chorbereich der heutigen Liebfrauenkirche zutage kamen. Der Bestattungsplatz der Trierer Christengemeinde lag nördlich der Stadtmauern. An der Stelle der ersten Begräbnishalle erfolgte im Bereich des späteren Klosters St. Maximin um die Jahrhundertmitte die Errichtung eines Neubaus, der wohl noch im letzten Drittel des 4. Jahrhunderts einen Ausbau erfuhr, so dass er nun eine Länge von rund 100 m und eine Breite von etwa 30 m aufwies. Wie die langjährigen Ausgrabungen des Rheinischen Landesmuseums ergeben haben, bot die Coemeterialbasilika Platz für etwa 1.000 Sarkophage, die durch marmorne Inschriften markiert wurden. Bislang sind aus dem heutigen Trierer Stadtgebiet mehr als 1.100 derartige frühchristliche Inschriften vornehmlich aus der Spätantike bekannt geworden. Diese Zahl spiegelt die enorme Bedeutung der örtlichen Christengemeinde wider, die nur mit der Förderung durch den kaiserlichen Hof erklärt werden kann. Zwar dürfte in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts die Mehrheit der in Trier lebenden Bevölkerung christlichen Glaubens gewesen sein, dennoch hat es auch weiterhin Anhänger paganer Kulte sowohl in der Moselstadt als auch ihrem Umland gegeben. Hierauf verweist ein Blick auf den großen Tempelbezirk am Altbach. Dort sind ebenfalls Änderungen in spätrömischer Zeit zu konstatieren. So wurden einige Kultbauten aufgegeben, und an ihrer Stelle entstand ein Wohnquartier. Andere Tempel aber wurden weiter aufgesucht, was nicht zuletzt die dort geopferten Münzen anzeigen. Darüber hinaus gab es weiterhin reich ausgestattete Privathäuser mit Mosaiken, die heidnische Motive zeigen oder Kleinkunst mit paganen Darstellungen. Es dauerte noch lange Zeit, bis die alt überkommenen religiösen Vorstellungen endgültig christlichen Glaubensinhalten weichen mussten oder von diesen adaptiert wurden. Das Ende der Metropolenfunktion Triers (390–406/07) Mit dem Ende des 4. Jahrhunderts wurde die politische Situation für die Moselregion immer bedrohlicher. Trier ging nun seiner Bedeutung als Kaiserresidenz verlustig; die Herrscher der westlichen Reichshälfte amtierten nun in Mailand. Auch der Sitz der gallischen Präfektur wurde an der Wende zum 5. Jahrhundert nach Arles zurückverlegt. Mit dem Abzug GHU9HUZDOWXQJHLQKHUJHKHQGGUIWHQHLQÀXVVUHLFKH3HUVRQHQJUXSSHQGLH Stadt verlassen haben, die nun in eine politische Randlage geriet. Den in kurzen Abständen aufeinander folgenden Invasionen germanischer Ver-

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bände hatten die zu großen Teilen selbst aus germanischen Söldnern bestehenden römischen Truppen nur wenig entgegenzusetzen. Zwischen 410/11 und 428 oder 435 wurde Trier insgesamt viermal erobert. Immer waren es fränkische Gruppen, zuletzt unter Beteiligung von Burgundern. Jedes Mal konnte die Stadt aber anschließend von regulären Truppen wieder eingenommen werden. Über diese desaströsen Jahre besitzen wir einen aufschlussreichen Bericht des Presbyters Salvian von Marseille. Salvian stammte aus romanischem Adel und wurde im Rhein-Mosel-Raum, womöglich in Trier selbst, geboren. In seiner um die Mitte des 5. Jahrhunderts verfassten Schrift „Über die Lenkung Gottes“ (De gubernatione Dei) schildert er drastisch die Auswirkungen der dritten Einnahme der Stadt, die er offenbar als Zeuge miterlebt hatte. Zugleich bezeugt Salvain das Fortleben einer romtreuen Adelsschicht in Trier, die von den in Oberitalien residierenden Kaisern die Erlaubnis für das Abhalten von Wagenrennen erbaten. In diese Jahre gehört offenbar auch ein jüngst auf dem Gelände des heutigen Mutterhauses und somit in Moselnähe dokumentierter Grabungsbefund im Stadtbereich. Hier kamen die bestatteten Leichname zweier geköpfter Personen zum Vorschein, die mit Hilfe naturwissenschaftlicher Datierungsmethoden den Jahrzehnten nach 400 zugewiesen werden können. Im Jahr 451 wurde Trier wahrscheinlich auch von dem Hunnenzug gestreift, der abrupt und endgültig auf den Katalaunischen Feldern nahe von Troyes in der Champagne sein Ende fand. Wohl 455 erfolgte eine abermalige Brandschatzung der Stadt durch die Franken. In den folgenden knapp 20 Jahren konnte sich noch eine inselhafte römische Herrschaftssphäre unter dem romanisierten Franken Arigius und seinem Sohn, dem comes Treverorum Arbogast, im Trierer Land halten. Um 485 ist das Moselgebiet dann aber dauerhaft im Machtbereich der rheinischen Franken aufgegangen. Spätestens seit der Wende zum 6. Jahrhundert gehörte es zum Großfränkischen Reich König Chlodwigs. In der Folgezeit stand die Stadt nicht mehr im Zentrum weltpolitischer Ereignisse, vielmehr war ihre weitere Geschichte von eher regionaler Relevanz.

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Ausgewählte Literatur Anton, Hans Hubert: Trier im Übergang von der römischen zur fränkischen Herrschaft. In: Francia 12 (1984), S. 1–52. %LQVIHOG$QGUHD9LYDVLQGHR'LH*UDI¿WLGHUIUKFKULVWOLFKHQ.LUFKHQDQODJHLQ7ULHU .DWDORJHXQG6FKULIWHQGHV%LVFK|ÀLFKHQ'RPXQG'L|]HVDQPXVHXPV7ULHU  Trier 2006. Breitner, Georg/Goethert, Klaus-Peter: Ein Altar für Augustus und Roma in Trier. Zum Neufund einer Marmorplatte mit Rankendekor. In: Funde und Ausgrabungen im Bezirk Trier 40 (2008), S. 7–13. Clemens, Lukas/Löhr, Hartwig: Drei neue Landschaftsbilder zur Geschichte der Trierer Talweite in der Spätbronzezeit, der Spätantike und dem Hochmittelalter. In: Funde und Ausgrabungen im Bezirk Trier 33 (2001), S. 103–134. Cüppers, Heinz: Trier. In: Die Römer in Rheinland-Pfalz, hg. von Heinz Cüppers, Stuttgart 1990, S. 577–653. Fontaine, Thomas: Ein letzter Abglanz vergangener kaiserlicher Pracht. Zu ausgewählten archäologischen Befunden aus dem Areal der römischen Kaiserresidenz in Trier. In: Palatia. Kaiserpaläste in Konstantinopel, Ravenna und Trier, hg. von Margarethe König (Schriftenreihe des Rheinischen Landesmuseums Trier 27), Trier 2003, S. 130–161. Ghetta, Marcello: Spätantikes Heidentum. Trier und das Trevererland (Geschichte und Kultur des Trierer Landes 10), Trier 2008. Gilles, Karl-Josef: Die Münzstätte der Gallischen Kaiser in Trier. In: Archäologie in Rheinland Pfalz 2005, Mainz 2007, S. 74–77. Goethert, Karin: Kaiser, Prinzen, prominente Bürger. Römische Bildniskunst des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. im Rheinischen Landesmuseum Trier (Schriftenreihe des Rheinischen Landesmuseums Trier 25), Trier 2002. Goethert, Karin: Spätantike Glasfabrikation in Trier. Funde aus dem Töpfereiviertel und an der Hohenzollernstraße. In: Trierer Zeitschrift 73/74 (2010/2011), S. 67– 146. Goethert, Klaus-Peter: Römerbauten in Trier. Porta Nigra, Amphitheater, Barbarathermen, Thermen am Viehmarkt, Kaiserthemen (Edition Burgen, Schlösser, AlWHUWPHU5KHLQODQG3IDO])KUXQJVKHIW $XÀ5HJHQVEXUJ Goethert, Klaus-Peter: Untersuchungen zum Gründungsschema des Stadtplanes der Colonia Augusta Treverorum. Die Geburt der Stadt an der Mosel. In: Archäologisches Korrespondenzblatt 33, (2003), S. 239–258. Heinen, Heinz: Trier und das Trevererland in römischer Zeit (2000 Jahre Trier 1), Trier 1985. Heinen, Heinz: Frühchristliches Trier. Von den Anfängen bis zur Völkerwanderung, Trier 1996. Heinen, Heinz: Reichstreue nobiles im zerstörten Trier. Überlegungen zu Salvian, gub. VI 72–89. In: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 131 (2000), S. 271–278. Heinen, Heinz: Überfüllte Kirchen. Bischof Athanasius über den Kirchenbau in Alexan-drien, Trier und Aquileia. In: Trierer Theologische Zeitschrift 111 (2002), S. 194–211. Hoffmann, Peter/Hupe, Joachim/Goethert, Karin: Katalog der römischen Mosaike aus Trier und dem Umland (Trierer Grabungen und Forschungen 16), Trier 1999. Kiessel, Marko: Die Architektur des spätantiken Palastareals nordöstlich und östlich

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der spätantiken Aula in Trier. In: Untergang und Neuanfang, hg. von Jörg Drauschke, Roland Prien u. Sebastian Ristow (Studien zu Spätantike und Frühmittelalter 3), Hamburg 2011, S. 77–106. Kuhnen, Hans-Peter (Hg.): Das römische Trier (Führer zu archäologischen Denkmälern in Deutschland 40), Stuttgart 2001. Löhr, Hartwig: Drei Landschaftsbilder zur Natur- und Kulturgeschichte des Trierer Landes. In: Funde und Ausgrabungen im Bezirk Trier 30 (1998), S. 7–27. Luik, Martin: Römische Wirtschaftsmetropole Trier. In: Trierer Zeitschrift 64 (2001), S. 245–282. Morscheiser-Niebergall, Jennifer: Die Anfänge Triers im Kontext augusteischer Urbanisierungspolitik nördlich der Alpen (Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen 30), Trier 2005. Neyses, Adolf: Lage und Gestaltung von Grabinschriften im spätantiken CoemeterialGroßbau von St. Maximin in Trier. In: Jahrbuch des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz 46 (1999), S. 413–446 u. Taf. 33–36. Neyses, Adolf: Die Baugeschichte der ehemaligen Reichsabtei St. Maximin bei Trier .DWDORJHXQG6FKULIWHQGHV%LVFK|ÀLFKHQ'RPXQG'L|]HVDQPXVHXPV7ULHU  Trier 2001. Rettet das archäologische Erbe in Trier. Zweite Denkschrift der Archäologischen TrierKommission (Schriftenreihe des Rheinischen Landesmuseums Trier 31), Wiesbaden 2009. Schwinden, Lothar: Christliche Bestattungen und Grabinschriften [in Trier]. In: Konstantin der Große. Ausstellungskatalog Trier 2007, hg. von Alexander Demandt u. Josef Engemann, Mainz 2007, S. 263–276. Schwinden, Lothar: Vor 1700 Jahren – Konstantins Erhebung zum Kaiser und die Vergöttlichung seines Vaters Constantius. In: Funde und Ausgrabungen im Bezirk Trier 39 (2007), S. 63–77. Simon, Erika: Das Programm der frühkonstantinischen Decke in Trier, Mainz 2007. Weber, Winfried: Der Basilikenkomplex auf dem Domfreihof in Trier. Die jüngsten Ausgrabungen im Bereich des Doms und der Liebfrauenkirche. In: Antike Welt 27 (1996), S. 121–127. Weber, Winfried: Constantinische Deckengemälde aus dem römischen Palast unter GHP 7ULHUHU 'RP %LVFK|ÀLFKHV 'RP XQG 'L|]HVDQPXVHXP 7ULHU 0XVHXPV IKUHU YHUlQGHUWH$XÀ7ULHU Weber, Winfried: Neue Forschungen zur Trierer Domgrabung. Die archäologischen Ausgrabungen im Garten der Kurie von der Leyen. In: Neue Forschungen zu den Anfängen des Christentums im Rheinland, hg. von Sebastian Ristow (Jahrbuch für Antike und Christentum. Erg.-Bd., Kl. Reihe 2), Münster 2004, S. 225–234. Weber, Winfried: Vom Coemeterialbau zur Klosterkirche. Die Entwicklung des frühchristlichen Gräberfeldes im Bereich St. Maximin in Trier. In: Römische Quartalschrift 101 (2006), S. 240–259. Witschel, Christian: Trier und das spätantike Städtewesen im Westen des Römischen Reiches. In: Trierer Zeitschrift 67/68 (2004/05), S. 223–272.

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Worms und Speyer im hohen und späten Mittelalter – zwei Schwesterstädte im Vergleich Vorbemerkung1 Im Gebiet des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz liegen neben den EHLGHQHU]ELVFK|ÀLFKHQ6LW]HQ7ULHUXQG0DLQ]DOVLQEHVRQGHUHU:HLVH aus der Antike heraus geprägten geistlichen und weltlichen Zentralorten auch die nur etwa 40 Kilometer voneinander entfernt gelegenen Bischofsund später (bis 1798) Reichsstädte Worms und Speyer als für die Städtelandschaft an der Rheinachse prägende und in ihrer Bedeutung und hinsichtlich ihres baulichen Erbes bis heute nachwirkende urbane Zentren. Die zwei Städte haben seit der Zeit nach etwa der Jahrtausendwende eine bemerkenswert ähnliche Entwicklung genommen, die im Rückblick immer wieder zum Vergleich anregt – dies umso mehr, als sie sich beide bis heute als in einer Art Wettbewerb um Aufmerksamkeit und kulturtouristische Präsentation sehen. Nicht zuletzt die 2011/12 angelaufene Bewerbung des Landes Rheinland-Pfalz um die Aufnahme der jüdischen Stätten und Traditionen der drei Städte Worms, Speyer und Mainz bzw. ihrer mittelalterlichen Judengemeinden in die Welterbeliste der UNESCO kann das Bewusstsein der vorherrschenden Gemeinsamkeiten, Beziehungsnetze und Kommunikationsebenen (weit über das jüdische Erbe hinaus) vor allem zwischen Worms und Speyer stärker als bisher in das allgemeine Bewusstsein bringen. Auch die heutige Rolle der beiden Mittelzentren innerhalb der Europäischen Metropolregion Rhein-Neckar, nämlich die der historisch-kulturellen, aus dem Mittelalter heraus bedeutsamen urbanen Zentren in einer Region sonst weit jüngerer, heute die Landschaft dominierender Städte wie Mannheim und Ludwigshafen, verschafft ihnen eine gute Ausgangsbasis für eine verstärkte gemeinsame Wahrnehmung als Orte überregional wirkmächtiger städti1

Der vorliegende Beitrag stützt sich auf Beiträge des Verf. über das über Jahrhunderte enge Verhältnis der beiden in Vielem ähnlichen Bischofs- und Reichsstädte. Da bei dem Vortrag Anfang 2010 in Mainz keine neuen Forschungsergebnisse präsentiert wurden, sondern vor allem Bildmaterial im Mittelpunkt stand, kann es hier nur um eine knappe Zusammenfassung der dort vorgetragenen Überlegungen gehen. Im Übrigen sei auf die Literaturliste am Schluss verwiesen.

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scher Errungenschaften, eingebettet in die Phase einer geradezu spektakulären mittelalterlichen Hochblüte. Vor dem Hintergrund dieser gleichsam aktuellen Voraussetzungen soll im Folgenden versucht werden, den Vergleichbarkeiten, Gemeinsamkeiten und Beziehungsnetzen der beiden „Schwesterstädte“ seit dem 11. Jahrhundert nachzugehen und aufzuzeigen, wie geradezu zwillingshaft die Gegebenheiten in beiden Zentren waren und (mit einem Schwerpunkt während des Mittelalters) auch noch bis zum Ende des Alten Reiches 1798 blieben und wie eng sich die Beziehungen zwischen beiden Zentren über VHKU ODQJH =HLWUlXPH JHVWDOWHWHQ 'LHVH 3DUDOOHOHQ XQG 9HUÀHFKWXQJHQ sind erst durch die am Schluss des Beitrags nur stichwortartig aufzugreifenden getrennten Entwicklungswege des 19. und 20. Jahrhunderts verschüttet worden und haben in der Wahrnehmung der beiden Städte bis heute nicht den ihnen angemessenen Platz gefunden. Parallelen in Topographie und Stadtherrschaft von der Salierzeit bis etwa 1200 Worms und Speyer verbindet zunächst (und das bleibt für die Stadtentwicklung bis zum Ende des Alten Reiches 1798 grundlegend) die Funktion als in die römische Antike zurückreichende urbane Zentren und seit dem frühen Mittelalter bestehende Bischofssitze. Beide civitates werden daher durch zumindest gewisse Kontinuitätslinien zwischen der Epoche der römischen Zivilisation auf der Basis der Vorortfunktion für ihr Umland (später das Bistumsgebiet) gekennzeichnet, wobei viele diesbezügliche Fragen wie etwa die nach dem Alter der ersten christlichen Gemeinden, Lage und Qualität der Siedlungsschwerpunkte und dem Fortbestehen urbaner Strukturen in der Zeit der Völkerwanderung quellenbedingt kaum beantwortet werden können. Ausgehend von diesen Grundlagen entfalteten sich beide Städte erst seit der Jahrtausendwende und nahmen dabei eine bis in die Neuzeit prägende städtische Entwicklung und topographisch-rechtliche Dynamik. Das Herrschergeschlecht der Salier, die als bedeutendste regionale Adelsfamilie schon vor 1000 im Raum um die beiden Bischofssitze eine starke Position innehatten, steht in beiden Städten in ganz unterschiedlicher Weise gleichsam am Startblock für die „eigentliche“ mittelalterliche Stadtbildung. Während es in Worms schon unter dem überaus bedeutsamen Bischof Burchard (1000–1025), der die faktische stadtherrschaftliche Stellung der Familie in „seiner“ Stadt entscheidend beschneiden konnte, gelang, die Stadt in baulicher und rechtlicher Hinsicht ganz neu „aufzustellen“ (Domneubau, Errichtung und Ausstattung von neuen Kollegiat-

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stiften, Ummauerung, rechtliche Regelungen für den Verband der bischöfOLFKHQ +|ULJHQ 3ÀHJH GHU 'RPVFKXOH DOV LQWHOOHNWXHOOHV =HQWUXP XD  entwickelten sich die aus Worms vertriebenen Salier seit 1024/25 zu den entscheidenden Förderern und eigentlichen Urbanisierern der bis dahin in Ausstattung und Bedeutung klar hinter Worms zurückstehenden Stadt Speyer. Nach Erlangung der Königswürde wurde seit König Konrad II. ab 1024 der Mariendom zu einer monumentalen Familiengrablege ausgebaut. Im Laufe des 11. Jahrhunderts wuchs die Stadt bis zum Beginn des 12. Jahrhunderts um ein Mehrfaches, Stifte wurden auch hier errichtet. Das Stadtgebiet erweiterte sich innerhalb eines Zeitraums von gut einhundert Jahren vermutlich mindestens um das vierfache auf um 1150 etwa 60 Hektar! Die Herausbildung der seither jahrhundertelang bestehenden, schon allein für die Stadtgestalt prägenden Stiftsinfrastruktur – einhergehend mit HLQHP ODQJVDPHQ $XVEDX GHU ELVFK|ÀLFKHQ 6WDGWKHUUVFKDIW ± ZDU XP 1030/1040 in beiden Städten abgeschlossen. Eben diese multifunktionalen Institutionen waren es, die in Stadt und Umland u.a. durch Besitzrechte, religiöse und Wehrfunktionen sowie ihre differenzierte familia, also den an sie gebundenen Personenverband, tragende, das städtische und geistige Leben in Vielem neu organisierende Verbände markieren. Auch für das topographische Gefüge beider Zentren sind die Stifte prägend geworden, waren sie doch allesamt in die stetig ausgebaute Verteidigungsinfrastruktur der Städte eingebunden. Die Bedeutung gerade der geistlichen Institutionen kann in beiden bis in die Neuzeit stark geistlich geprägten Städten generell kaum hoch genug eingeschätzt werden. Stadt und Domkirche zu Speyer haben ihren um 1000 noch beträchtlichen Entwicklungsrückstand gegenüber den meisten Bischofsstädten des Reiches (auch gegenüber Worms) nicht nur im Hinblick auf ihre urbane und zentralörtliche Bedeutung aufgeholt, es war im Grunde eine ganz neue Stadt entstanden, deren Mittelpunkt, der gigantische Mariendom mit seiner Königsgrablege, eine ungeheure politische wie sakral-liturgische Wirkmächtigkeit entfalten sollte, eine Wirkung, die nicht mit dem Ende der für die Stadt so wichtigen Dynastie 1125 endete. Beide Städte erreichten im 11. und 12. Jahrhundert durch das ZusamPHQVSLHOELVFK|ÀLFKN|QLJOLFKHU)|UGHUXQJ|NRQRPLVFKHQ$XIVFKZXQJV (Münzprägung, Handelsleben, Judenansiedlungen), ähnlicher topographisch-geistlicher Prägung und durch vergleichbar tiefgreifende Veränderungen im Gesellschaftsgefüge eine für deutsche Städte außerordentlich bedeutsame Rolle als Vorreiter auf dem Gebiet der langsamen Entfaltung „frühbürgerlicher“ Gegebenheiten. Während die Wormser schon 1074 im Gegenzug für die politisch-militärische Hilfe für den Salierkönig Heinrich

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IV. eine beispiellose Urkunde mit wirtschaftlich attraktiver Zollbefreiung an königlichen Zollstätten erlangen konnten und somit als Rechtspartner des Königs auftraten, genossen die Bürger Speyers ab 1111 bis dahin nirgends erteilte Freiheitsrechte und die Reduzierung grundherrlicher Bindungen. Diese Privilegien hatte ihnen und allen künftigen Zuwanderern in die Stadt der letzte salische Herrscher Kaiser Heinrich V. im Zusammenspiel mit der Geistlichkeit zugestanden und den Text der Bestimmungen sogar in goldenen Lettern über dem Portal der Marienkathedrale anbringen lassen. Für beide Städte hat später Heinrichs Nachfolger Friedrich I. Barbarossa die jeweiligen bürgerlichen Rechte der Bewohner 1182 und 1184 bestätigt und entscheidend erweitert (auch in Worms brachte man den Urkundentext am gerade neu erbauten Dom an) – die damit unterstrichene Nähe der Stadt zum Königtum und deren wirtschaftlich-politische Bedeutung für die Staufer war Basis für die rechtliche Festigung der Position der beiden auch baulich weiter wachsenden Zentren als künftige Reichsstädte. Als langfristig wesentlicher Faktor für die Stadtentwicklung, für den rechtlichen Status der Bewohner und die Handlungsmöglichkeiten einer fortschrittlichen kommunalen Organisationsform erwies sich in Speyer und Worms sicher deutlich stärker als in fast allen anderen Bischofsstädten des Reiches die königliche Präsenz und Bindung. Die bewusste Förderung urbaner Kräfte und Organisationsformen ist seit der Salierzeit in beiden Städten unübersehbar und höchst folgenreich. Zugleich traten die Kathedralstädte als militärisch-ökonomische Faktoren immer mehr in das Bewusstsein und politische Kalkül der Herrschenden. Auch die langfristigen Folgen der mit religiösen Vorstellungen und Handlungen zutiefst verwobenen Rechtssetzung für die Speyerer Bürger von 1111 sind beachtlich – sie waren nicht nur die Basis für die Herausbildung einer Stadtgemeinde, die bis zum Ende des Alten Reiches 1798 (wie auch im Falle der in vielem parallelen ‚Schwesterstadt’ Worms) als Reichsstadt bestand. Die salischen Bestimmungen, von Stefan Weinfurter zu Recht als ‚Magna Charta der Bürgerschaft‘ charakterisiert, dienten nachfolgenden Gemeindebildungen als modellhaftes Vorbild. So wünschten sich die Bewohner von Annweiler im Jahre 1219 als von König Friedrich II. einzuräumendes städtisches Recht das (gut hundert Jahre alte) Recht der Speyerer Bürger. Entsprechend wurden die Bestimmungen auch zugestanden, und die cives der Siedlung unterhalb des Trifels hatten ihrerseits für „ihren“ Herrscher Gebetsleistungen und Memorialdienst zu verrichten – ganz nach dem Speyerer Vorbild. Die jeweiligen Bischöfe und ihr geistlich-laikales Umfeld standen in engen Kontakten untereinander, was sich schon in der Abfolge der großen

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Bauprojekte zeigt: Kaum war der beispiellose Neubau der Speyerer Domkirche um 1111 vollendet, begann man auch in Worms mit einem Neubau von St. Peter. Die Dome waren in beiden Städten Mittelpunkte der Stadt und ihrer führenden Kreise, die Wormser versuchten mit Urkundenfälschungen, denselben bevorzugten Status wie die Speyrer Bürger zu erlangen. So wundert es nicht, dass die Verfassungs- und Rechtsentwicklung der beiden Städte seit dem 12. Jahrhundert gleichartig, ja fast identisch verlaufen ist. In Größe und Ausstattung standen sich die beiden Städte in kaum etwas nach, man stand in engem Austausch miteinander. Diese Verschwisterung hat im Laufe des 13. Jahrhunderts eine neue Qualität angenommen und wurde durch formelle Bündnisstrukturen mit langer Nachwirkung zusätzlich unterstützt. Ratsherrschaft, Bündniswesen und regionale Bedeutung im 13. Jahrhundert Ein besonders interessantes Zeugnis für die Beziehungen von Speyer und Worms um 1200 und damit in einer „Inkubationszeit“ neuer verfassungsrechtlicher Dynamik ist ein in beiden Ausfertigungen erhaltener, textlich fast identischer Zollvertrag der Bürger (cives) beider Städte vom Jahre 1208/09. Die Quelle ist zudem als Beleg für das Aufkommen bündischer Netzwerke und das Verhältnis beider Städte von großem Wert, zumal dieses Abkommen den ab 1254 in der Region sich ausbreitenden Städtebünden in charakteristischer Weise vorausgeht. Aussteller der Urkunden sind jeweils die Bürger (Cives de Wormatia bzw. de Spira), wobei letztere in dieser Form erstmals nachweisbar als Urkundenaussteller auftreten. Die beiden Pergamente waren mit den verloren gegangenen Stadtsiegeln beglaubigt. Für Speyer ist dies die erste von der Stadt ausgestellte Urkunde und zugleich die früheste Erwähnung des im Übrigen mit dem Wormser eng verwandten Stadtsiegels. Das Siegel folgt in seiner Gestaltung mit der im Mittelpunkt stehenden Dom- und Stadtpatronin Maria dem Wormser Vorbild mit einer fast identischen Petrus-Darstellung unter Kombination einer sakralen (Dom-) und profanen Architektur. Das Wormser Siegel war vermutlich um 1184 – direkt nach dem Abschluss des Dombaues 1181 – gestochen worden und ist urkundlich erstmals zum Jahre 1198 genannt, ein Indiz für die engen Kontakte beider Seiten in ihrer Blütezeit um 1200. Unter Erlaubnis der beiden Bischöfe sei, so heißt es im Vertrag, mit den cives der jeweiligen Gegenseite Einigkeit über die beidseitigen Zollsätze erzielt worden. Die mit deutschsprachigen Begriffen operierenden Urkunden nennen dann die zu entrichtenden Zollsätze für den Transport von Lastkarren auf dem Landweg und von Lasten per Schiff und die dabei

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Gerold Bönnen Stadtsiegel Worms, Exemplar an Urkunde Stadtarchiv Worms

auf dem Markt zu zahlenden Zölle der jeweiligen Bürger, bei denen es sich offenkundig um Händler handelt. Die Sätze sollen jeweils gegenseitig gültig sein; eventuelle Strafzahlungen sollen zur gemeinschaftlichen Verwendung der Stadt genutzt werden, mit anderen Worten: Beide Kommunen verfügen über kommunale Einnahmen, sicher vor allem für die Stadtverteidigung, und sind bestrebt, diese Einkünfte zu vermehren. 'LH=XVWLPPXQJGHUELVFK|ÀLFKHQ6WDGWKHUUHQ]XGHPQRFKLQ$QZHsenheit des im Juni 1208 ermordeten Königs Philipp von Schwaben verhandelten Vertrag verweist auf die in dieser Zeit noch enge Zustimmungsgemeinschaft zwiVFKHQ GHP ELVFK|ÀLFKHQ Stadtherrn und den um 1200 fester herausgebildeten kommunalen Führungsgremien. An der Spitze stand der Stadtrat, der für Speyer und Worms fast zeitgleich 1198 belegt ist. Zugleich unterstreicht die Quelle das hohe Maß an eigenständigem und stetig wachsendem Handlungsspielraum der Führungsgruppen, deren wirtStadtsiegel Speyer, an Städtevertrag 1293

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schaftliche Verfügungsmacht in beiden Städten auf dem Handelsverkehr beruhte. Daneben bezeugt der Vertrag die Gleichartigkeit der städtischministerialischen Interessen und Probleme in beiden Nachbarstädten. Dass die Städte hier auf Augenhöhe Vereinbarungen treffen können, unterstreicht neben anderem die Parallelität der verfassungsrechtlichen Entwicklung in den Bischofsstädten und die dezidiert handelsbezogenen Interessen der Städte bzw. der in ihr tonangebenden Familien und FamilienYHUElQGH 'DVV DXVJHUHFKQHW ZlKUHQG GHV VWDX¿VFKZHO¿VFKHQ 7KURQ streits seit 1198 ein solcher Vertrag zustande kam, kann als Zeichen zunehmender herrschaftlicher Unsicherheit gewertet werden, eine Lage, die auch in anderen Regionen gerade den Städten neue Aufgaben in der Wahrung der Ordnung in Wirtschaft und Politik zugewiesen hat. Das ausgeprägte, für die frühe Stadt- und Verfassungsentwicklung ohnehin besonGHUV]XEHWRQHQGH$XVPD‰DQ.RQVHQVPLWGHPELVFK|ÀLFKHQ6WDGWKHUUQ wird ausdrücklich für beide Städte erwähnt. Der Zollvertrag von 1208/09 ist gleichsam als Vorstufe des ab 1254 sich verfestigenden Bündniswesens in der Region zu werten. Schon im November 1227 haben dann die Bürger von Speyer und Straßburg einen Vertrag über die Belangung von Schuldnern in ihren beiden Städten geschlossen, womit ebenfalls wirtschaftliche Fragen und Aspekte des gegenseitigen Bürgerrechts geregelt werden. Hier ist übrigens von einem „alten Freundschaftsbund“ beider Städte die Rede. Sicher ist, dass sich während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts am Mittelrhein ein erstes Netz bündischer Strukturen herausgebildet hat, zu dessen Voraussetzungen und Grundlagen der Handelsverkehr der städtischen Führungsschichten als Quelle ihres Reichtums gehört. Gemeinsame ökonomische Interessen waren es zunächst, die gemeinsames politisches Handeln gefördert haben. Fragt man nach den Voraussetzungen für die bald nach 1200 einsetzende und lang wirkende Bindung der Städte Worms und Speyer untereinander, so darf man die engen Kontakte der vor allem im Fernhandel aktiven jüdischen Gemeinden seit dem späten 11. Jahrhundert keinesfalls außer Acht lassen. Es ist kein Zufall, dass die christliche Trias der bündisch miteinander verschränkten Kathedralstädte Speyer, Mainz und Worms in den stets urban fundierten Judengemeinden der SchUM-Städte gleichsam ihre Entsprechung gefunden hat. Besonders hervorzuheben sind die seit der Begründung einer Speyerer Judengemeinde durch Bischof Rüdiger Huzmann 1084 (er siedelte Juden ausdrücklich mit dem Ziel an, seine Stadt zu entwickeln und gestand ihnen daher wichtige Rechte zu) sehr engen verwandtschaftlichen, geistig-religiösen und ökonomischen Kontakte und Verbindungen mit Worms und Mainz. Diese drei Städte erlangten rasch eine Vorrangstellung unter den entstehenden Gemeinden im

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Gerold Bönnen Judenbad (Mikwe) Speyer, oberirdischer Bereich

aschkenasischen Judentum, eine Bedeutung, die im 13. Jahrhundert und lange darüber hinaus nachgewirkt hat (SchUM). Gerade die Bauforschungen und Grabungen der letzten Jahre im Bereich der Speyerer Synagoge haben die engen Abhängigkeiten und direkten JHJHQVHLWLJHQ %HHLQÀXVsungen im Bereich der Gemeindebauten und -einrichtungen zwischen Speyer und Worms eindrucksvoll unterstrichen. Gemeinsame Rabbinerversammlungen, Austausch von Wissen in Gestalt autoritativ wirkender Gelehrter, in Speyer wie in Worms formal durch gleichartig geregelten königlichen Schutz gewährleistete hohe Gemeindeautonomie nach innen (Urkunde Kg. Heinrichs IV. 1090) und ein dichtes Kommunikationsnetz gehören ebenso in dieses Bild wie der in beiden Städten auf dem Fernhandel beruhende wirtschaftliche AktiRQVUDKPHQGHUMGLVFKHQ+lQGOHUXQG.DXÀHXWHGLHJDQ]JH]LHOWLP Sinne einer weiteren Urbanisierung des aufstrebenden Speyer angezogen werden sollten. Bis zu ihrer Vertreibung im 15. Jahrhundert aus Speyer (in Worms bewahrte die Gemeinde ihre Kontinuität bis zur NS-Zeit) teilten die untereinander stets eng vernetzten jüdischen Gemeinden Worms und Speyer das gleiche Schicksal im Hinblick auf ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage, die rechtliche Stellung in einer christlichen Mehrheitsgesellschaft, die Regelung ihrer inneren Angelegenheiten und anderes. Der Austausch untereinander und die gegenseitigen Anregungen und Befruchtungen (auch im Blick auf die bauliche Ausgestaltung ihrer Gemeindezentren) konnten kaum enger sein. Gerade diese Bindungen sind ein Indiz für die enge Verwobenheit der Geschichte beider Städte über die so bedeutsame jüdische Minderheit hinaus.

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Judenbad (Mikwe) Worms, um 1184/85

Doch zurück in das 13. Jahrhundert, in dem sich immer wieder Parallelen in der Stadtentwicklung beider urbaner Zentren zeigen, darunter (neben vielen anderen Feldern) die rechtliche Stellung der Stadt zwischen VWDX¿VFKHP .|QLJWXP ELVFK|ÀLFKHQ +HUUVFKDIWVDQsprüchen und einer dynamischen bürgerlichen Führungsgruppe mit dem Stadtrat an der Spitze, die untereinander um die Verfassungsentwicklung und die Frage nach der Herrschaft in der und über die Stadt und ihre Bürger ringen. Zu dem Zeitpunkt, als Speyer und Straßburg 1227 einen Vertrag geschlossen haben, muss es bereits einen ersten überregionalen Bund rheinischer und wetterauischer Städte gegeben haben, über den wir allerdings nur durch ein Verbot König Heinrichs (VII.) von 1226 etwas erfahren. In diesem Jahr, in dem in Oberitalien nicht zufällig auch GHU]ZHLWH/RPEDUGHQEXQGEHJUQGHWZXUGH¿QGHQVLFKQ|UGOLFKGHU$Open erste Spuren eines mehrseitigen städtischen Bündnisses. An einen Urteilsspruch König Heinrichs (VII.) gegen die Reichsstadt Oppenheim schließt sich im Urkundentext ein Satz an, mit dem die confederationes sive iuramenta zwischen den civitates Mainz, Bingen, Worms, Speyer, Frankfurt, Gelnhausen und Friedberg aufgehoben werden. Die Phase einer intensiven Wirkmächtigkeit zwischenstädtischer Bündnissysteme und Beziehungsnetze vor allem zwischen Worms und Speyer lässt sich recht genau datieren: Es handelt sich um die Zeit zwischen dem ersten Rheinischen Bund 1254/56 und dem faktischen Ende großräumiger und wirkungsvoller städtischer Bündnissysteme kurz vor 1400. Neuere Forschungen (Kreutz 2005) haben gezeigt, wie eng innerstädtische Entwicklungen und das überregionale Kommunikations- und Bündnisnetz der

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Städte vor allem im Raum zwischen Mainz und Straßburg miteinander verÀRFKWHQXQGYHUVFKUlQNWZDUHQ Zunächst einige Bemerkungen zum Rheinischen Bund von 1254/56: Als für dessen Gründung entscheidender Faktor erweist sich die politische Lage am Mittelrhein samt ihren ökonomischen Implikationen. Als Folge des Endes der Stauferherrschaft ab 1250 entstand hier ein gefährliches Machtvakuum, das nicht zuletzt eine massive Beeinträchtigung von Handelsverkehr und Sicherheit der Straßen mit sich brachte. Bei den großen Städten ist jetzt zudem ein neuartiger, dezidierter Anspruch auf politische Mitsprache selbst bei der Königswahl zu beobachten – verbunden mit einem schärfer als je zuvor formulierten Anspruch auf eine Funktion der Städte und ihrer Führungsgremien als Friedenswahrern und damit Trägern öffentlicher, an sich originär herrschaftlicher Aufgaben mit klarem religiösem Rückbezug. Nicht zufällig haben gerade von Speyer und Worms aus seit den frühen 1220er Jahren die aus Italien sich ausbreitenden Franziskaner die neuen religiösen Ideale höchst erfolgreich verbreitet, sehr bald auch war der Predigerorden in beiden Städten präsent. Überhaupt lassen sich die seither festzustellenden neuen Ordensgründungen (gerade auch die seit ca. 1230 besonders aufblühenden Frauengemeinschaften) und die Bildung kommunal mitgeprägter Hospitäler auf das Beste miteinander vergleichen und erfolgen nachgerade parallel zueinander. Den Anfang des Bündnissystems machte im Februar 1254 eine confoederatio pacis et concordie zwischen Mainz und Worms. Ungewöhnlich war die am Beginn stehende religiöse Anrufungsformel der handelnden Parteien. Der schriftlichen Fixierung war eine öffentliche Schwurhandlung vorausgegangen, was auch umgekehrt erfolgen sollte. So kam es zwischen beiden Städten zur Festsetzung gegenseitiger Rechtsgleichheit im Zivilrecht und damit einer Art gemeinsamen Bürgerrechts (nostri concives). Dazu kommt ein die Sicherheit der Verkehrswege und Ungeldfragen betreffender Abschnitt und die Einsetzung eines Schiedsrichtergremiums aus vier vom Rat zu bestimmenden Männern zur Streitbeilegung. Dem Wormser Vertrag mit Mainz sind auch Sondierungen nach Speyer mit dem Ziel der Beilegung von Streitigkeiten vorausgegangen. Ein Anfang 1254 JHO|VWHU.RQÀLNW]ZLVFKHQEHLGHQ6HLWHQVFKZHOWHRIIHQEDUVFKRQVHLWGHQ 1220er Jahren. Es ging um die durch die Stadt Worms zu entrichtende Zahlung einer Schuldsumme; der Betrag stammte aus unrechtmäßig beschlagnahmten Waren. Wir erkennen hier einen Versuch zum Aufbau eines Bündnisnetzes bzw. zum Hineinführen auch von Speyer in ein Bündnis, was aber zunächst noch nicht geglückt ist. Ab April 1254 ist dann mit Oppenheim eine weitere Stadt dazugestoßen. Dieser Beitritt stellt gegenüber dem vorherigen Bündnis einen klaren

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qualitativen Sprung dar. An Veränderungen gegenüber dem erstem Vertrag der beiden „Großen“ ist eine ausformuliertere Begründung des Handelns hervorzuheben, die für die weitere Bundesentwicklung gleichsam grundgeVHW]OLFKHQ 5DQJ HUKLHOW 'LH 3ÀHJH GHV )ULHGHQV PLW 9HUZHLV DXI -HVXV Christus als Friedenswahrer) und die Bewahrung der Gerechtigkeit seien gemeinsame Ziele. Weiter werden der Schutz der Armen, des Klerus und der Juden herausgestellt. Im Mai 1254 folgte dann ein Vertrag von Mainz mit Bingen unter Übernahme der gleichen Abmachungen wie in dem Kontrakt zwischen Mainz und Worms. Damit waren zwei große und zwei mittlere (d.h. jüngere) Städte bündnismäßig zusammengeschlossen, der Nukleus für den nun entstehenden Rheinischen Bund. Der Rheinische Bund wurde während der zweiten Jahreshälfte 1254 in zwei Schritten konstituiert. Zunächst kam es zu einem Städtetreffen Mitte Juli 1254 in Mainz. Am Ende der Verhandlungen standen der Abschluss bzw. gegenseitige Beschwörung eines Friedens auf zehn Jahre (pax generalis DOVGHUHQZLFKWLJVWH=LHOHGHU6FKXW]GHU6FKZDFKHQGLH3ÀHJHGHU Gerechtigkeit, die Abschaffung unrechtmäßiger Zölle und der Kampf gegen Friedensbrecher genannt werden. Vereinbart wurden Regelungen zur Beilegung von Streitigkeiten untereinander über eine Schiedskommission. Anfangs waren nur Städte involviert, später stießen dann auch nicht wenige Adlige und Bischöfe zu dem Bündnis dazu. Organisatorische und programmatische Fortschritte wurden dann bei der Wormser Bundestagung im Oktober 1254 erzielt. Überliefert ist eine in 21 Artikeln gefasste Liste mit Beschlüssen, die „zur Ehre Gottes, der Kirche und des heiligen Reiches“ abgefasst wurden. Sie betreffen unter anderem den Aufbau einer militärischen Infrastruktur in Gestalt eines Truppenverbandes und einer 5KHLQÀRWWH]XUPLOLWlULVFKHQ.RQWUROOHGHV)OXVVHV$XIVFKOXVVUHLFKVLQG die Regelungen von Kommunikationsfragen und der Aufbau eines zwischenstädtischen Botensystems. Im Mittelpunkt aller Bemühungen standen Maßnahmen zur Friedenssicherung. Wichtig war die Erhebung einer 6WHXHU LP 8PODJHYHUIDKUHQ GLH 9HUSÀLFKWXQJ GHU 6WlGWH ]X LQWHQVLYHU Propaganda für den Beitritt und damit gezielte Zuwachsbestrebungen des Bündnisses. Als Mittel gegen widerspenstige Gegner – vor allem aus den Reihen des Adels – wurde neben Kriegszügen auch der Einsatz von Boykottmaßnahmen festgeschrieben. Bedeutsam für das Selbstverständnis der Handelnden ist die ausgeprägte Friedensideologie, die als Bezugsgrundlage und LegitimationsbaVLVGHQÄKHLOLJHQ)ULHGHQ³KlX¿JXQGLQYHUVFKLHGHQHQ)RUPHOQEHVFKZRren hat. Auf diesem Gebiet sind neben den ohnehin virulenten Vorbildern der oberitalienischen Städte auch Ideen der Gottes- und Landfriedensbewegung und eine für die Zeit ganz typische Vermischung gesellschaftspo-

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litischer und religiöser Vorstellungen in Rechnung zu stellen. Die Bewegung verzeichnete eine außerordentliche Anziehungskraft, und schon die Zeitgenossen betonten das Außergewöhnliche dieses neuartigen Friedensbundes. Der Bund präsentierte sich im Oktober in Worms kampfbereit und mit einem in Ansätzen erkennbaren Ausmaß an innerer Struktur; Ende Juni 1255 konnte ein beachtliches weiteres Wachstum festgestellt werden. Die Lage änderte sich nach dem überraschenden Tod König Wilhelms von Holland im Januar 1256 schlagartig, da die nun erneut anstehende Frage der Königswahl und -anerkennung das Bündnis auf eine extreme Belastungsprobe gestellt hat. Das Einschwören der Bundesmitglieder auf eine Neutralität bei der Wahl des neuen Königs gelang nicht. Dies war einer der wichtigsten Gründe für das Scheitern des Bundes insgesamt. Immerhin blieb er jedoch bis zum Herbst des Jahres 1256 funktionsfähig. Erst am Beginn 1257 büßte der Bund seine Handlungsfähigkeit endgültig ein und ¿HOJOHLFKVDPLQVHLQHDQIlQJOLFKHQ%HVWDQGWHLOH±UHJLRQDOH%QGQLVV\Vteme – auseinander. Festzuhalten ist, dass zwischen 1254 und 1256 bündisches Verhalten in noch nie erlebter Intensität erprobt und ausgeweitet wurde. Der Radius der städtischen Kommunikation erfuhr eine gewaltige Ausdehnung, was mit einer Steigerung des Selbstbewusstseins der in den städtischen Zentren agierenden Führungsschichten einherging. Die Städte blieben von nun an für etwa 150 Jahre ein eminent wichtiger Faktor der Politik und der Königsherrschaft in der Region und darüber hinaus. Eine wesentliche Grundlage für die hier geschilderten Bündnisbeziehungen, die für Speyer und Worms besonders in einem Vertrag des Jahres 1293 kulminierten, blieb die starke Ähnlichkeit in der Herkunft und Zusammensetzung der jeweiligen städtischen Führungsgruppe. In beiden 6WlGWHQVWDPPWHGLHVHDXVGHUELVFK|ÀLFKHQ'LHQVWPDQQVFKDIW 0LQLVWHULalität) des 12. Jahrhunderts; hier (im Umfeld des Stadtherrn, mit dem man bis weit in das 13. Jahrhundert generell in einer engen Zustimmungsgemeinschaft lebte) hatten sich früh und in beiden Zentren ähnlich mächtige Familienverbände herausgebildet, in denen sich militärische Fähigkeiten, Grundbesitz auch im Umland, Handelstätigkeit, überregionale Beziehungen vor allem im Dienst des Königtums und politisches Geschick in besonderer Weise konzentrierten. Diese im 13. Jahrhundert zunehmend oligarchisch agierenden, sich tendenziell sozial abschließenden Eliten der Städte stellen die Räte und das sonstige politische Führungspersonal. Sie waren in beiden Städten zudem maßgeblich als Stifter und Schenkgeber der „neuen“ religiösen Gemeinschaften des 12. und 13. Jahrhunderts aktiv und prägten durch ihr ökonomisches wie politisches Gewicht die in den Städten stark fundierten, in Stadthöfen ihren Grundbesitz und Handel organisierenden Zisterzienserklöster (z.B. Schönau, Otterberg, Eußerthal)

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ebenso wie sie sich den (wie erwähnt auffallend gezielt und früh etablierten) Bettelorden als Förderer öffneten. Im Gegenzug zu diesen Nahbeziehungen, die sich beim wiederum direkt vergleichbaren Engagement der Räte für die aufblühenden Hospitäler wiederholt haben, schlossen die seit dem 11. Jahrhundert bestehenden .ROOHJLDWVWLIWHDOVQDFKZLHYRUHLQÀXVVUHLFKHJHLVWOLFKH*HPHLQVFKDIWHQ die sich hier wie dort um 1250 in formalen Bündnissen gegen Übergriffe der bürgerlichen Räte zusammenschlossen, die neuen bürgerlichen Kräfte ausdrücklich aus ihren Reihen aus. Gleichzeitig erodierte die Macht der %LVFK|IHLQXQGEHUGLH6WlGWHZHQQJOHLFKZHVHQWOLFKH(LQÀXVVP|JOLFKkeiten und Rechtsvorbehalte erhalten blieben: Stadtherren blieben sie GXUFKDXVPXVVWHQDEHULKUH(LQÀXVVP|JOLFKNHLWHQVWHWVQHXGXUFKVHW]HQ Dies gelang umso mehr, als seit den 1260er Jahren erstmals (und in beiden 6WlGWHQ IDVW ]HLWJOHLFK  .RQÀLNWH LQQHUKDOE GHU EUJHUOLFKHQ )KUXQJVgruppen aufkamen. Am Ende des 13. Jahrhunderts nahmen dann neue, nachwachsende Kräfte aus den handwerklich fundierten Gruppen der Stadt Anlauf, um eine Beteiligung an der Stadtherrschaft zu erstreiten. Vor DOOHPGLH)UDJHGHU6WDGW¿QDQ]HQXQGGHU%HVWHXHUXQJERWHLQ(LQIDOOVWRU um ab 1300 den alten, eingefahrenen Ratsgremien und den hinter ihnen stehenden Familien, Clans und Cliquen neue Kräfte, die sich in den Zünften als von Beginn an umfassenden politisch-gemeinschaftlichen Vereinigungen organisierten, an die Seite zu stellen. Zu den Beziehungen beider Städte bis um 1500 Neuartige Konsequenzen der seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vor allem zwischen Speyer und Worms zustande gekommenen Städtebünde wurden seit der Wende zum 14. Jahrhundert deutlich sichtbar und erreichten bis zum Ende des darauffolgenden Säkulums eine beachtliche Wirkmächtigkeit. Diese zeigte sich sowohl hinsichtlich der äußeren Beziehungen wie auch im Hinblick auf die gleichen Mustern folgende innere Verfassungsentwicklung der Städte. Zu den Auswirkungen der Verträge, von denen die 1293 erfolgte Erneuerung des beidseitigen Abkommens (wie erwähnt) besonders wichtig wurde, gehört unter anderem das gegenseitige Eingreifen von Vertretern der städtischen Führungsgruppen in die (man würde heute IRUPXOLHUHQ LQQHUHQ$QJHOHJHQKHLWHQGHU3DUWQHULP)DOOHYRQ.RQÀLNWHQ um die Stadtverfassung und inneren Unruhen. Im Interesse einer Stabilisierung der latent instabil-bedrohten Verfassungsverhältnisse und damit der Machtbalance zwischen unterschiedlichen Gruppierungen traten die in Quellen als „Ratsfreunde“ bezeichneten Partner als Vermittler in diesen zum

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Teil blutigen, jedenfalls für die regionale Machtbalance durchaus nicht selten gefährlichen Bürger- und Verfassungskämpfen auf. Als erstes Beispiel sei das Verhalten der Stadt Worms mit ihren mittelrheinischen Partnern im Falle des sog. Severinsaufstandes in Speyer skiz]LHUW(VJLQJEHLGHPLP-DKUHNXOPLQLHUWHQ.RQÀLNW ZLH]HLWQDKLQ anderen Städten auch) um politische Mitspracherechte von in Zünften organisierten aufstrebenden sozialen Schichten, die die Rechtmäßigkeit des Handelns der sich tendenziell sozial abschließenden Ratsoligarchie in Frage stellten und im Laufe der 1320er Jahre zunehmende Ansprüche auf Mitherrschaft in der Stadt beanspruchten. Ein gewaltsamer Versuch zur Restaurierung der alten Ordnung durch „konservative“ Kräfte des alten Rates führte zu ihrer Vertreibung aus der Stadt am Severinstag 1330. Die Räte von fünf Nachbarstädten schalteten sich nun vermittelnd ein und suchten über ein Schiedsrichtergremium zwischen den „ausgefarnen“ Patriziern und den Zünften einen Ausgleich zu erzielen, wozu sie ausdrücklich bevollmächtigt worden waren. Die Enge der auch persönlichen Beziehungen lässt darauf schließen, dass die Vermittler in Speyer sogar persönlich bekannt gewesen sein dürften. Vereinbart wurde eine Neubesetzung des Stadtrates unter Beteiligung der als unschuldig geltenden, nicht ausgezogenen Ratsherren. Einige Zeit später sorgte man auch für eine friedliche Rückkehr der Emigranten. Es liegt auf der Hand, dass Machtverschiebungen und Verfassungsänderungen in einer Stadt nicht ohne Rückwirkungen auf die Gegebenheiten in den anderen Partnerstädten blieben. Während der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren die Geschicke der Stadt Worms in vielfältiger Weise PLWGHQHQGHU1DFKEDUVWlGWH0DLQ]6SH\HUXQG2SSHQKHLPYHUÀRFKWHQ Um 1350 ist das Bemühen der drei Bischofsstädte erkennbar, in den bedeutsamen Fragen der städtischen Außenpolitik eine gemeinsame Linie zu ¿QGHQXDLQGHQ7KURQVWUHLWLJNHLWHQXQGGHU)UDJHGHU/DQGIULHGHQ6R wird insbesondere im Zusammenhang der Judenverfolgungen vom Frühjahr 1349 ein dichtes zwischenstädtisches Nachrichtennetz sichtbar. Den umgekehrten Fall einer Speyerer Vermittlung in Wormser AngeleJHQKHLWHQ PDUNLHUHQ EHLVSLHOKDIW GLH JUDYLHUHQGHQ .RQÀLNWH ]ZLVFKHQ Stadtbürgerschaft bzw. Stadtrat zum einen und dem Stiftsklerus mit dem Bischof um 1385/86 zum anderen. Hintergrund der Auseinandersetzungen war wieder einmal die seit dem 13. Jahrhundert virulente Frage der Besteuerung des Weinverkaufs der Geistlichkeit. Im Jahre 1384 hatte der Rat – vermutlich auch vor dem Hintergrund gestiegener Kosten für den Rheinischen Städtebund – das Weinmaß geändert und damit diese so wichtige und aufgrund der rechtlichen Sonderstellung der Geistlichkeit juristisch-politisch brisante Abgabe indirekt erhöht. Bereits unmittelbar nach dem ersten

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Eintrag in das Eidbuch der Stadt Worms betr. Bund mit Speyer, kurz nach 1400

Protest des Stiftsklerus 1384 schalteten sich die rheinischen Partnerstädte LQGHQ.RQÀLNWHLQ%LVFKRIXQG.OHUXVGLHLQGHP9RUJHKHQGHU6WDGWHLnen Verstoß gegen die in den Verfassungsbestimmungen von 1366 (welche ihrerseits maßgeblich durch partnerstädtische Vermittler zustande gekommen waren) vereinbarten Prinzipien sahen, schlossen ein formelles Bündnis zur Verteidigung der Freiheiten der Wormser Kirche. $QIDQJEUDFKWHGLH6WDGW:RUPVGLHVHQ.RQÀLNWDXIGLH(EHQH des Städtebundes und mahnte die Bundesstädte um Unterstützung. Inzwischen zog der Streit immer weitere politische Kreise, und auch König Wenzel wurde involviert. Der Stadt gelang es, die Bettelorden auf ihre Seite zu ziehen: Drei der vier Mendikantenkonvente traten 1385 in das Bürgerrecht GHU6WDGWHLQHUKLHOWHQ6FKXW]EULHIHXQGYHUSÀLFKWHWHQVLFK]XUHJHOPl‰Lgen Prozessionen für die Stadt und ihren Rat. Anfang 1386 eskalierte der .RQÀLNWXQGVWHLJHUWHVLFK]XJHZDOWVDPHQhEHUJULIIHQGHU6WDGWDXI*HLVWliche, die gefangengesetzt und misshandelt wurden; das Stift St. Cyriakus in Neuhausen wurde geplündert. Als Grund für die Tollkühnheit der Wormser nennt ein geistlicher Chronist aus Mainz ausdrücklich ihren Rückhalt im Städtebund. Der Rat versuchte nun aber, die Situation zu entschärfen. Eine Reihe von Städten, u.a. Speyer, sagte der Geistlichkeit Fehde an, worauf der Bischof das Interdikt über Worms verhängte. Unter bestimmten Bedingungen erklärten sich die Verbündeten aus Mainz, Speyer und Straßburg zu einer Vermittlung bereit. An einer Beruhigung der Lage beteiligte sich auch Pfalzgraf Ruprecht der Jüngere, der zunächst einen Waffenstill-

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Gerold Bönnen Flugschrift des Rates der Stadt Worms betr. den .RQÀLNWPLW dem Klerus, Druck bei Peter Drach in Speyer, Jan. 1500 (Ausschnitt)

stand ausgehandelt hatte. Anschließend begannen Verhandlungen unter maßgeblicher Beteiligung von Ratsfreunden aus Mainz und Speyer. Beide Städte besiegelten 1386 den nun ausgefertigten Kompromiss auch mit, der als sogenannte „5. Rachtung“ (Verfassungsurkunde) Verfassungsrang erhielt und das Verhältnis von Geistlichkeit und Stadt in den traditionell strittigen Fragen zu regeln bemüht war. Speyer und Mainz traten auch in begleitenden Vereinbarungen über die Schadensregulierung der Übergriffe als Vermittler und Besiegler auf. Über die VermittlungstäWLJNHLW KLQDXV HQJDJLHUWHQ VLFK GLH 3DUWQHUVWlGWH DXFK ¿QDQ]LHOO EHL GHU :RUPVHU.RQÀLNWO|VXQJ*HPl‰HLQHU5HFKQXQJGHV5KHLQLVFKHQ%XQdes in Speyer, seinem faktischen Mittelpunkt, sollten die Bundesstädte immerhin 300 Gulden für die Bemühungen aufwenden, um den Bann und die Acht über die Stadt Worms aufzuheben. Gerade in der Zeit der 1380er Jahre waren die Geschicke der mittelrheinischen Städte untereinander auf GDVHQJVWHPLWHLQDQGHUYHUÀRFKWHQ

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Die Bundesbriefe und die erhaltene Korrespondenz der Jahre zwischen etwa 1254 und 1380 bieten eine äußerst breite Palette von Regelungen mit Einblick in städtische Politik und städtisches Alltagsleben. Zentrale Bedeutung besaß die Sicherung der einschlägigen Verträge durch Eid, woGXUFKDXFKQDFKIROJHQGH6WDGWUlWHYHUSÀLFKWHWZXUGHQ'LHVWlGWLVFKH3Rlitik war auf ständige Vergewisserung und Erneuerung ihrer vertraglichen Grundlagen angewiesen. Das Problem mangelnder SanktionsmöglichkeiWHQ ZXUGH GXUFK GDV .RQÀLNWO|VXQJVPLWWHO GHU %LOGXQJ YRQ 6FKLHGVJUHPLHQ]XHQWVFKlUIHQJHVXFKW(V¿QGHQVLFKELXQGPXOWLODWHUDOH9HUWUDJVregelungen zu Rechts- und Wirtschaftsfragen und insgesamt das Bestreben zur Bildung überstädtischer Gemeinschaften. Besonders beachtlich sind Bestimmungen zum gemeinsamen Bürgerrecht und die Bildung gemeindeübergreifender Zünfte. Ein wesentliches Element des Bündnissystems war ein funktionierendes Kommunikationssystem u.a. mittels Boten und informelle Kontakte der Städte auf dem Weg persönlich-familiär-handelsmäßiger Beziehungen ihrer städtischen Führungsgruppen. Betrachtet man den mittelrheinischen Raum, so ragen die drei Bischofsstädte Mainz, Worms und Speyer als bestimmende Akteure heraus. Als programmatische Motive des Handelns werden die Wahrung von Frieden, Gerechtigkeit und Allgemeinwohl sowie der Gedanke von Solidarität, Gegenseitigkeit und Verantwortung greifbar. Immer wieder erfolgt eine ausdrückliche Berufung auf religiöse Grundideen und Legitimation. Zwischen 1226 bis 1389 war Worms in allen Städtebünden und Landfrieden vertreten, Speyer kann als das Zentrum des Rheinischen Bundes von 1381 gelten. Die äußere Politik und das innere Gefüge der drei urbanen Zentren waren in der fraglichen Zeit in hohem Maß von Beziehungen der drei Städte zueinander abhängig. Es muss herausgestellt werden, dass das in den Quellen so bezeichnete eidgenossenschaftliche Beziehungsnetz der beiden Städte Worms und Speyer auch über das Ende der Wirksamkeit größerer städtischer Bündnissysteme um 1400 hinaus während des 15. Jahrhunderts gewissermaßen (modern gesprochen) Verfassungsrang erhalten und noch über lange Zeit bewahrt hat. Für die Stadtverfassung ist die enge Bindung der Städte untereinander geradezu konstitutiv geworden, wie ein Eidestext aus dem im Wormser Stadtarchiv verwahrten Eidbuch, einem zentralen Dokument städtischer Schriftlichkeit und Verwaltung aus dem frühen 15. Jahrhundert in Worms, für die Trias Mainz, Speyer und Worms bezeugt. Der Bezug auf „unsere ewige verbuntnisze, die wir miteinander han, als der briff besagt, den wir egenant dry stede gegenander darueber versigelt geben han“ folgt in einer für die Stadtverfassung wichtigen Aufstellung zentraler städtischer Eidestexte gleich nach der Betonung der für den Status als Reichsstadt konstitutiven direkten Beziehungen zum König.

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Nach dem erzwungenen Ausscheiden von Mainz aus dieser Trias aufgrund der gewaltsamen Übernahme der Stadtherrschaft durch den Erzbischof 1462 und damit dem Ende der politischen Eigenständigkeit der Stadt haben Worms und Speyer umso enger kooperiert. Im Übrigen waren die Nachbarstädte auch in verfassungsrelevante Rechtsgeschäfte einbezogen, so in den Kauf des Münzerhauses durch die Stadt Worms 1491, mit dem eine Mediatisierung der rechtlich exklusiven Münzerhausgenossen einherging; Boten aus Speyer und (nun auch verstärkt als Partner genannt) Frankfurt werden im Vorfeld dieses Vertrages als Vermittler genannt. Die enge Bindung der „Ratsfreunde“ an das Geschehen in der Nachbarstadt wurde in einer Zeit enger werdender städtischer Handlungsspielräume für die Politik der Stadt zu einem Grundpfeiler des städtischen Handelns. Besonders eindrucksvoll lässt sich dies an den Ereignissen beim und nach dem Herrschaftsantritt des juristisch geschulten, humanistisch gebildeten Wormser Bischofs Johann von Dalberg (1482-1503) 1482/83 ablesen, ZlKUHQG GHVVHQ$PWV]HLW GLH .RQÀLNWH PLW GHU 6WDGW LKUHQ +|KHSXQNW erreicht haben. 'LH UHLFK ÀLH‰HQGHQ HU]lKOHQGHQ 4XHOOHQ EHULFKWHQ JDQ] VHOEVWYHUständlich über die Präsenz einer größeren Abordnung der „Ratsfreunde“ aus Speyer mit dreißig Berittenen bei den Auseinandersetzungen um den rituellen Einritt des Bischofs in seine Stadt 1482/83 („Item ist gewonlich, das der rate unser frunde und eytgenossen von Spier bitt sich zurusten mit etlichen gewapneten uff 30 pferde ungeverlich uns helffen unsern bischof zu empfaen“). Zum einen verstärkten diese Verbündeten das Auftreten der Stadt nach außen und bildeten so ein Gegengewicht gegen die Verbündeten des Bischofs vor allem aus dem Umfeld der Pfalzgrafen, zum anderen berieten sich die Ratsherren mit den Speyrern immer wieder in Fragen der Verfassung und des Zeremoniells, zumal in Speyer eine ganz ähnliche Verfassungssituation im Gemengelage von König, Bischof, Geistlichkeit, Rat und Zünften herrschte: Hier konnten die Ratsvertreter aus der Schwesterstadt aus eigener Erfahrung vermitteln und Ratschläge geben, zu- oder abraten, bestärken oder bremsen. 'LH.RQÀLNWHXPGLH(LGHXQGGLH$QHUNHQQXQJGHU6WDGWYHUIDVVXQJ durch den Bischof wurden zunächst vertagt und dann auf einem Rechtstag in Speyer verhandelt, wobei auch Vertreter der Städte Basel, Straßburg und Frankfurt aktiv auf der Seite der Stadt mitgewirkt haben. Man spürt in den Quellen die Defensive, in die die Stadt immer mehr gelangte, wenn es in Aufzeichnungen städtischer Provenienz zu den Streitigkeiten um den Einritt heißt: „Die Städtefreunde fürchteten sich so sehr wie wir und bei jeder Gelegenheit rieten sie auf ihre Eide, dass wir die Rachtung und den Eid annehmen sollten, denn wir vergäben uns nichts und täten es mit Eh-

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ren“. Diese Vorsicht hätte fast zum Zerwürfnis geführt, so dass die Speyrer selbstbewusst entgegnet haben sollen: „Wollt ihr nicht folgen, so hättet ihr uns wohl daheim lassen können“. Das Drängen der Speyerer, einen Kompromiss anzunehmen, hatte schließlich Erfolg: „die Städtefreunde rieten ernstlich dazu und meinten, man sollte es nicht zu Krieg und Kosten kommen lassen, weil man nicht in der Lage wäre, Kriege zu führen“. Die Zeit wirklich kräftiger städtischer Eigenständigkeit war vorbei, man konnte allenfalls den rechtlichen Besitzstand wahren, was dem Rat in Worms wie (abgeschwächt) in Speyer auch weitgehend gelang. Angesichts der politischen Lage und der Macht der Kurpfalz erscheinen die Bedenken der Städte nur umso verständlicher, wären sie doch unweigerOLFKLQPLOLWlULVFKH.RQÀLNWHPLWKLQHLQJH]RJHQZRUGHQ Dass die engen Kontakte und eine dezidierte Vermittlungsbereitschaft GHU6SH\HUHU5DWOHXWHLQGHPZHLWHUVFKZHOHQGHQ'DXHUNRQÀLNW]ZLVFKHQ Rat und Geistlichkeit bis an die Schwelle des 16. Jahrhunderts andauerte, belegt eine aufschlussreiche Passage in dem ohnehin überaus wichtigen „Tagebuch“ des führenden Ratsmanns und Bürgermeisters Reinhard Noltz zum Oktober 1500. Zu diesem Zeitpunkt – knapp ein Jahr nach dem im Hintergrund stehenden Auszug des Klerus aus der Stadt – seien drei namentlich genannte Altbürgermeister und der Stadtschreiber von Speyer mit ihren Beglaubigungsschreiben im Wormser Rat erschienen und hätten LKU%HGDXHUQEHUGLHVWHWLJHQ.RQÀLNWH]XP$XVGUXFNJHEUDFKWJOHLFKzeitig sei man im Hinblick auf das freundnachbarliche Herkommen beider Städte, ihrer Lage und Verhältnisse bereit, hier vermittelnd einzuspringen. Dabei wird seitens der Speyerer betont, dass der Wormser Rat selbstverständlich auch die Konsultation mit den „guten Freunden“ aus Straßburg und Frankfurt suchen müsse, was eventuell als Zeichen noch fortbestehenGHUIRUPDOHU%LQGXQJHQXQGYHUWUDJOLFKHU9HUSÀLFKWXQJHQJHJHQEHUEHLden Städten angesehen werden kann. Konkrete Folgen hat das Angebot nicht gehabt, es zeigt aber die Umgangsformen und die Nähe der handelnden Personen und Institutionen zueinander. Ausblick bis in die Gegenwart Die archivalische Überlieferung im Wormser Stadtarchiv zeigt im Umfeld der dramatischen Wandlungen der politisch-herrschaftlichen RahmenbeGLQJXQJHQHLQIRUWOHEHQGHV,QWHUHVVHGHU:RUPVHUDQGHQ.RQÀLNWHQ]ZLschen Stadt und Klerus in Straßburg und besonders Speyer: Bis in das 18. Jahrhundert reichen Abschriften zu diesbezüglichen Streitigkeiten in den städtischen Archivbeständen; auch die Lehmannsche Chronik von Speyer und andere Druckschriften standen dem Rat zur Verfügung.

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Inwieweit bei den fortbestehenden Beziehungen der Städte, die sich auch im urkundlichen Material abzeichnen, die gemeinsame konfessionelle Ausrichtung als seit der Mitte des 16. Jahrhunderts lutherische Reichsstadt (mit weiterbestehenden altgläubigen Institutionen und dem Bischofssitz) eine Rolle gespielt hat, wurde bislang noch nicht untersucht. Immerhin sind beide Städte, die gleichermaßen als Austragungsorte von Reichstagen dienten (und dabei ihre rechtlich höchst wichtigen direkten Beziehungen zu den .DLVHUQLQJDQ]lKQOLFKHU:HLVHSÀHJHQXQGDXVEDXHQNRQQWHQ PLWGHQ Ereignissen des Reformationsjahrhunderts auf das Engste verbunden: Was den Wormsern der Reichstag von 1521 mit der Verweigerung des Widerrufs durch Martin Luther vor Kaiser und Reich war und ist, das ist für Speyer die namengebende, ja identitätsstiftende Protestation der lutherischen Reichsstände auf dem Reichstag von 1529. So konnten beide Städte vor allem seit dem 19. Jahrhundert zu besonderen Erinnerungsorten der Reformation werden, deren Einführung allerdings hier wie dort in einem langen, keineswegs geradlinigen Prozess verlief, an deren Ende in beiden Fällen (aufgrund des Bleiberechts der altgläubigen Institutionen) eine Mehrkonfessionalität stand, ein kompliziertes, streitanfälliges, rechtlich exakt geregeltes Nebeneinander von bischöflicher Restherrschaft und immer stärker lutherisch-orthodox ausgerichtetem Stadtregiment. Nachdem beide im „Würgegriff“ der benachbarten Kurpfalz stehenden, sich jedoch als autonome Gemeinwesen erfolgreich ihre gewachsene Eigenständigkeit konservierenden Städte auch die schicksalhaften Tage im Frühjahr 1689 mit der jeweils fast totalen Zerstörung im Zuge des Pfälzischen Erbfolgekrieges erleben mussten, teilten sie schließlich am Ende des Alten Reiches 1798 den schnellen Zusammenbruch der überkommenen, in jeder Hinsicht überholten Verhältnisse, die im 18. Jahrhundert (bei allen Wiederaufbauleistungen wie den beiden fast zeitgleich erbauten Dreifaltigkeitskirchen als lutherischen Hauptgottesdienstorten) zu einer totalen Erstarrung der unbeweglich gewordenen Verfassung und Rechtswirklichkeit geführt hatten. Im Grunde begann eine Auseinanderentwicklung der Städte erst mit dem 19. Jahrhundert: Nachdem beide Städte (Speyer als ArrondissementHauptort hierarchisch vorn) als Teil des französischen Staates 1800 in das neu gebildete „Département Donnersberg“ eingegliedert worden waren und jede zentralörtliche Funktion verloren hatten, erhielt Speyer nach dem Übergang an Bayern 1816 wieder zentrale Aufgaben in kirchlicher und Verwaltungshinsicht, vor allem als Sitz der Regierung für die Rheinpfalz mit dem beinahe abgerissenen Dom als altem und neuem baulichen FixSXQNW'LHVH6SH\HUDOVEUJHUOLFKH%HDPWHQVWDGWSUR¿OLHUHQGHELVKHXWH

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nachwirkende Funktionsbreite (Sitz der evangelischen Landeskirche wie eines katholischen Bistums, von Landesarchiv und -bibliothek, seit 1945 von Landesrechnungshof, Verwaltungshochschule, Historischem Museum der Pfalz u.v.a.) steht in erheblichem Kontrast zur Wormser Entwicklung seit dem Wiener Kongress: Als ab 1816 hessische Landstadt an der Peripherie des Staates, aller zentralen Funktionen beraubt (bis heute verfügt die Stadt über keine obere Landeseinrichtung), der Dom zur Pfarrkirche herabgestuft und in Teilen abgerissen, das Bistum 1801 aufgelöst usw., mussten neue bürgerliche Kräfte an der Stadtspitze seit dem Vormärz im Wege nun industriell geprägter Neuansätze (in erster Linie die Lederindustrie) einen langsamen Wiederaufstieg versuchen, der von schwachen Grundlagen her (die Stadt zählte um 1800 kaum noch 5.000 Einwohner) gelang und Worms als eine sich ganz neu konstituierende Industriestadt in das 20. Jahrhundert geführt hat. Einschneidend war dann der Zweite Weltkrieg: Während Speyer seine im Wesentlichen barocke Bausubstanz aus der Zeit nach dem Wiederaufbau ab etwa 1700 bewahren konnte, wurde Worms noch kurz vor Kriegsende 1945 durch zwei Bombenangriffe wesentlicher Teile seiner Innenstadt und damit seines ebenfalls barocken Gesichts sowie vieler baulicher wie kultureller Reste seiner einst so großen Geschichte beraubt. Hinzu kommt, dass Speyer sich seit der Zweitausendjahrfeier 1990 städtebaulich-touristisch enorm weiterentwickelt hat und prominente Politiker gern noch prominentere Gäste öffentlichkeitswirksam in die Stadt mit ihrem Kaiserdom und hier den Gräbern vieler mittelalterlicher römisch-deutscher Herrscher (seit 1981 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes) führten – in Worms dagegen hatte man in der Selbstwahrnehmung als graue Industriestadt mit ausgeprägten Strukturproblemen zu tun und sah sich gegenüber dem Glanz ausstrahlenden Speyer zunehmend abgehängt. Auch wenn sich das inzwischen stark verändert hat: Durch diese und andere Umstände sind die für beide Städte so grundlegenden Gemeinsamkeiten und VerbinGXQJHQGLH(LQÀXVVQDKPHDXILKU8PODQGXQGGLHJHJHQVHLWLJH%HIUXFKtung bzw. gemeinsame Bedeutung als Zentren früher bürgerlicher Rechtsentfaltung mit Vorbildwirkung weit über die Region hinaus zu Unrecht in Vergessenheit geraten – es ist Zeit, daran wieder zu erinnern und sich stärker gemeinsam zu „vermarkten“.

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Weiterführende neuere Literatur Andermann, Kurt: Bürgerrecht. Die Speyerer Privilegien von 1111 und die Anfänge persönlicher Freiheitsrechte in deutschen Städten des hohen Mittelalters. In: Historische Zeitschrift 295, 2012, S. 593–624. Bönnen, Gerold: Speyer und Worms – Regionale Bedeutung der Städtebünde. In: Kurpfalz und Rhein-Neckar. Kollektive Identitäten im Wandel, hg. v. Volker Gallé u.a. (Heidelberger Veröffentlichungen zur Landesgeschichte und Landeskunde 13), Heidelberg 2008, S. 63–79. Bönnen, Gerold: Der Zollvertrag zwischen den Städten Worms und Speyer vom Jahre 1208/09. In: Der Wormsgau 27, 2009, S. 39–64. Bönnen, Gerold: Der Rheinische Bund von 1254/56: Voraussetzungen, Wirkungsweise, Nachleben. In: Städtebünde – Städtetage im Wandel der Geschichte, hg. v. Franz J. Felten (Mainzer Vorträge 11), Stuttgart 2007, S. 13–35. Bönnen, Gerold: Speyer und Worms im 11. und frühen 12. Jahrhundert. In: Die Salier. Macht im Wandel, hg. v. Historischen Museum der Pfalz, Bd. Essays, München 2011, S. 141–149. Bönnen, Gerold: Handel und Gewerbe, Städtewesen und jüdische Gemeinden. In: Kreuz – Rad – Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte, Bd. 1: Von den Anfängen der Erdgeschichte bis zum Ende des Alten Reiches, hg. v. Lukas Clemens, Franz-Josef Felten u. Matthias Schnettger, Mainz 2012, S. 419–464. Europas Juden im Mittelalter, hg. v. Historischen Museum der Pfalz, Speyer 2005. Bönnen, Gerold (Hg.): Geschichte der Stadt Worms, Stuttgart 2005. Happ, Sabine: Stadtwerdung am Mittelrhein. Die Führungsgruppen von Speyer, Worms und Koblenz bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2002. Hirschmann, Frank G.: Die Anfänge des Städtewesens in Mitteleuropa. Die Bischofssitze des Reiches bis ins 12. Jahrhundert, Teilbd. 1 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 59, 1), Stuttgart 2011 [Worms: S. 284–316, Speyer S. 316–347]. Kreutz, Bernhard: Städtebünde und Städtenetz am Mittelrhein im 13. und 14. Jahrhundert (Trierer Historische Forschungen 54), Trier 2005. Die SchUM-Gemeinden Speyer – Worms – Mainz. Auf dem Weg zum Welterbe, hg. v. d. Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Schriftleitung: Pia Heberer u. Ursula Reuter, Regensburg 2013. Voltmer, Ernst: Von der Bischofsstadt zur Reichsstadt. Speyer im Hoch- und Spätmittelalter (10. bis Anfang 15. Jahrhundert). In: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. 1, Stuttgart 1983, S. 249–368. Voltmer, Ernst: „Zwölf Männer, nach deren Rat die Stadt regiert werden soll“. Der Speyerer Rat im Mittelalter. In: 800 Jahre Speyerer Stadtrat, Speyer 1998, S. 27– 80.

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Städte und ihr Umland in der Frühen Neuzeit Dieser Text befasst sich mit den Wechselbeziehungen zwischen frühneuzeitlichen Städten und ihrem Umland in der Mosel-Rhein-Region. Nach einer knappen Klärung von Grundlagen sollen die großen Problemfelder Religion, Ökonomie und Politik skizziert werden. Die Frage nach Stadt und Umland wird seit den 1970er Jahren in der Geschichtswissenschaft intensiv diskutiert. Heute ist sie jedoch von besonderer Aktualität. Die Kulturwissenschaften interessieren sich seit dem Beginn der 1990er Jahre verstärkt für den geographischen oder topographischen Raum. Man spricht gern vom spatial turn, der Raumwende. Für Landeshistoriker kam diese Raumwende nicht überraschend: Der Zusammenhang zwischen Kultur und Raum in der konkreten Gestalt geographischer Gegebenheiten einer bestimmten Region ist einer ihrer zentralen Forschungsinhalte. Freilich soll nicht gesagt werden, dass Raum Kultur determiniert – die alte Geopolitik ist endgültig verabschiedet. Es sollte sich aber fast von selbst verstehen, dass die Kultur den Raum formt. Das Mosel-Rhein-Gebiet, das im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht, bietet als Weinbauregion offensichtliche Beispiele für die nach den Bedürfnissen der Gesellschaft gestaltete Topographie. Aber alle menschliche Formung des natürlichen Raumes kann von diesem Raum, seiner Beschaffenheit und seinen Distanzen nicht einfach komplett absehen. Auch hierfür bieten das Mosel- und das Rheinland beste Beispiele: Es wäre offensichtlich unbefriedigend, z.B. die Entwicklung der Kommunen Rheinhessens oder des Hunsrücks ohne Berücksichtigung ihrer jeweiligen klimatischen Lage und ihrer Böden zu beschreiben. Es überrascht nicht weiter, dass die Städte, die in vergleichsweise breiten Tälern liegen, wie Mainz und Trier, früh Großstädte mit Hauptstadtfunktionen wurden, während die Städte in beengten Tallagen mit steilen Hängen, wie Bacharach, Bingen oder Cochem, diese Entwicklung nicht erlebten. Das soll nun durchaus nicht heißen, dass Trier und Mainz vergleichsweise bedeutende Städte wurden, schlicht weil sie sich in günstigen Tallagen befanden. Wohl aber, dass zu den günstigen Voraussetzungen, die Wachstum und Bedeutungszuwachs dieser Orte ermöglichten, auch ihre Topographie gehörte. Bereits hier wird deutlich, dass die Frage nach dem Raum im Hinblick auf die Stadt nicht nur die Frage nach der Segmentierung der Stadt selbst, den unterschiedlichen

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Räumen innerhalb der Stadt sein darf. Die Frage nach dem Raum im Hinblick auf die Stadt ist notwendigerweise auch die Frage nach dem Umland. In der Terminologie des Geographen Peter Schöller aus dem Jahr 1953 ZLUGGLH6WDGWTXDVLDQKDQGLKUHV8PODQGHVGH¿QLHUW'LH6WDGWZLUGDOV zentraler Ort verstanden. Zentrale Orte sind diejenigen „Siedlungen, die Mittelpunkte eines Gebietes sind, Dienste und Güter anbieten, deren Gesamtbedeutung über die eigene Einwohnerzahl hinausgeht und zur Versorgung dieses Gebietes dient³6FK|OOHUGH¿QLHUWHGDV8PODQGGHU6WDGW DOVGHQ5DXPPLWGHPVLHGHQHQJVWHQ.RQWDNWHSÀHJWH9RP8PODQG wurde das Hinterland unterschieden, das mit der Stadt nur noch durch VSH]L¿VFKH ZHLW GLPHQVLRQLHUWH 9HUVRUJXQJVSUR]HVVH YHUEXQGHQ ZDU Schöller baute hier auf der Theorie der zentralen Orte auf, die Walter Christaller in der Zwischenkriegszeit entwickelt hatte. Christaller hat sich dann selbst ins wissenschaftliche Abseits gestellt, als er sich und seine Pläne für funktionale Siedlungsstrukturen der NS-Diktatur andiente. In GHU*HVFKLFKWVZLVVHQVFKDIWVSH]L¿VFKLQGHU/DQGHVJHVFKLFKWHKDWVLFK Franz Irsigler für die Theorie der zentralen Orte stark gemacht. Zumindest auf den ersten Blick kommt dieses geographische Theorieangebot unserer Fragestellung entgegen. Es geht bei ihm gar nicht um einzelne Siedlungen, sondern um Beziehungen zwischen Siedlungen. Besonders interessant sind hier die Kategorien, in die diese Beziehungen eingeteilt werden: Der zentrale Ort soll für sein Umland in dreifacher Hinsicht bedeutend sein, nämlich im religiös-kulturellen Bereich, im ökonomischen und im politisch-administrativen. Dennoch sind die Probleme der Theorie der zentralen Orte offensichtlich. Der zentrale Ort – sprich Stadt – scheint von seinem Umland unabhängig, während das Umland einseitig auf den Mittelpunktsort angewiesen ist. Die Geographie bzw. Siedlungsgeographie nach Christaller wollte die Beziehungen zwischen Städten und ihrem Umland exakt beschreiben und messen. Welche Waren von welchem Wert wanderten über welchen Weg und welche Wegstrecke in welchem Volumen zur Stadt? Ziel war es, Zentralität und Umland mathematisch zu erfassen. Vor solchen Illusionen muss die Kulturgeschichte warnen. Es geht dabei nicht nur darum, dass wir in historischen Quellen in DOOHU5HJHOQLFKWGLHJHQDXHQXQGYROOVWlQGLJHQ'DWHQVlW]H¿QGHQGLHPLW Hilfe von mathematisch-geographischen Methoden erschlossen werden können. Es geht vielmehr darum, dass die Frage nach der Bedeutung der zentralen Orte eine kulturwissenschaftliche Frage ist. Diese kann als solFKHJDUQLFKWPDWKHPDWLVFKRGHUUHLQTXDQWL¿]LHUHQG|NRQRPLVFKEHDQWwortet werden. Mathematische Messreihen geben grundsätzlich keine Auskunft über die Bedeutung, die die Zeitgenossen bestimmten Kulturelementen zubilligen. Z.B. gibt die Anzahl der in Trier erworbenen Wall-

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fahrtsandenken keine Auskunft darüber, was diese Wallfahrtsandenken in den Orten des Umlandes bedeuteten und was sie über die Bedeutung der Stadt Trier für ihre Nachbarn aussagten. Hinzu kommt, dass die Theorie von zentralem Ort und Umland auf einer problematischen Vorannahme basiert. Sie geht wie selbstverständlich von einem einheitlichen, großen Staatsgebiet aus, in dem sich die zentralen Orte gruppieren. Allzu deutlich verrät die Lehre von den zentralen Orten hier ihre Herkunft aus politischen Konzepten des 20. Jahrhunderts, die nicht nur den Nationalstaat, sondern im Fall von Christallers Variante der Theorie die imperiale Eroberung großer Räume mitdachten. Wer auch nur die gröbsten Züge der Geschichte des Reiches vor dem 19. Jahrhundert kennt, weiß, dass es einheitliche große Staatsgebiete nicht kannte. Irsigler musste bei seiner Adaption des geographischen Theorieangebots einräumen, dass politische Grenzen, die Grenzen von Fürstenstaaten, das Umland eines zentralen Ortes klar beschnitten. Eine Kernannahme der Theorie von zentralem Ort und Umland soll dennoch als Untersuchungsaufgabe diesem Text zugrunde gelegt werden, schlicht weil sie sich als Strukturprinzip eignet: Die Stadt, der zentrale Ort, soll im Hinblick auf Religion, Kultus und Kultur, im Hinblick auf die Ökonomie und im Hinblick auf Politik und Administration Bedeutung für sein Umland haben. Was zentraler Ort ist und was Umland und wie sie interagieren, sollte sich also erweisen, wenn konkret nach dem religiöskulturellen, dem ökonomischen und dem politisch-administrativen Bereich gefragt wird. Also sollen die Städte an Mosel und Rhein zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert unter diesen drei Blickwinkeln betrachtet werden. Die zentrale Funktion der Städte an Mosel und Rhein in religiös-kultureller Hinsicht scheint offensichtlich. Städte waren die Sitze der Erzbischöfe und ihrer Universitäten. Ganz konkret und gerade auch in seiner räumlichen Dimension sichtbar wird das Stadt-Umland-Verhältnis im Hinblick auf Religion, wenn das Wallfahrtswesen betrachtet wird. Aus den Dörfern kamen Pilgerströme in die Städte, um die dort aufbewahrten Reliquien zu verehren: sei es der Heilige Rock in Trier, seien es die riesigen Reliquienschätze von Köln, seien es die Reliquien der Aachener Heiltumsfahrt. Dennoch muss bei näherer Betrachtung die zentralörtliche Funktion der Städte im Hinblick auf das Wallfahrtswesen stark relativiert werden: Selbstverständlich hatten die Städte kein Monopol auf Reliquien und heilige Stätten. Die Zahl der Wallfahrtsorte nahm im Verlauf der Frühen Neuzeit nicht ab, sondern drastisch zu. Damit einher ging der relative Bedeutungsgewinn, den die große Zahl vergleichsweise kurzer, regionaler :DOOIDKUWHQXQGG|UÀLFKHU:DOOIDKUWVRUWHYHU]HLFKQHWH'LH:DOOIDKUW]X

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den Vierzehn Nothelfern, die sich 1729 in Gonsenheim etablierte, wäre HLQ%HLVSLHOIUHLQHVSlWHDEHUJOHLFKZRKOHUIROJUHLFKHG|UÀLFKH:DOOfahrt. Vergleichsweise junge heilige Stätten aus dem 18. und 19. Jahrhundert – z.B. Sinzig mit dem „Heiligen Vogt“ oder gar Marpingen – scheinen tendenziell in Dörfern zu liegen. Ist in einer zunehmend aufgeklärten Welt die ländliche Peripherie der Rückzugsort des Mirakulösen geworden? Hat also die Stadt ihre Zentralitätsfunktion im Hinblick auf Religion an das Dorf abgegeben, weil die Religion selbst vom Zentrum an den Rand des kulturellen Lebens gerutscht ist? Ist die Stadt also zentral geblieben, die marginalisierte traditionelle Frömmigkeit aber kein Ausdruck von Zentralität mehr? Eine solche (UNOlUXQJZlUHXQEHIULHGLJHQG(LQ$XIVWLHJQHXHUG|UÀLFKHU:DOOIDKUWVorte bedingte nicht notwendigerweise den Niedergang älterer städtischer heiliger Stätten. Köln wäre ein gutes Beispiel. Außerdem fragte die Stadt das Mirakulöse offenkundig nach: Auch Einwohner von Städten suchten GHQ G|UÀLFKHQ :DOOIDKUWVRUW DXI :DKUVFKHLQOLFKHU GUIWH VHLQ GDVV GLH überschaubareren kirchlichen und staatlichen Ordnungsstrukturen und lokalen Traditionen der Landgemeinden eher Freiräume für neue Kultstätten ERWHQDOVGLH6WlGWH'|UÀLFKH*HPHLQGHQDQGHUHQ:DOOIDKUWVDQJHERWHQ sich Interesse regte, konnten rasch aufsteigen und zu neuen Mittelpunkten werden. Das beste Beispiel im ganzen Rheingebiet ist wohl Kevelaer. Als das dortige Gnadenbild 1642 zum ersten Mal gezeigt wurde, hatte der Ort zehn Häuser. Fünfzig Jahre später hatte er bereits 150. Der Befund zu Religion und Kult widersetzt sich einer Umsetzung in Zentralitätskategorien und Stadt-Land-Paradigmen. Die Wallfahrten zu den vielen Reliquien im Rhein- und Moselgebiet strichen weniger einzelne Orte heraus, als sie die Region infrastrukturell und in der Außenwahrnehmung zusammenwachsen ließen. Dazu passt, dass man versuchte, Reisen zu unterschiedlichen Wallfahrtszielen zu kombinieren. So gab es im 16. Jahrhundert Versuche, die Pilgerfahrt zum Heiligen Rock in Trier mit der zu den Textilreliquien in Aachen zu verbinden. Es versteht sich YRQ VHOEVW GDVV GLH 0RVHO5KHLQ5HJLRQ YRQ GLHVHQ :DOOIDKUWHQ SUR¿tierte, auch wenn die protestantischen Gebiete aus dem Pilgerwesen ausschieden. Weder die international bedeutsamen Fernwallfahrten, die das Mosel-Rhein-Gebiet betrafen, noch die regionalen Wallfahrten lassen sich auf ein Stadt-Umland-Verhältnis reduzieren. Das gilt sogar für die Produktion von Wallfahrtswaren. In Köln, Trier oder Aachen wurden massenhaft sehr beliebte Wallfahrtsmedaillen verkauft. Diese wurden im späten 17. und 18. Jahrhundert vor allem von spezialisierten Handwerkern aus Salzburg, Augsburg und dem Münchener Raum gefertigt und in die Region importiert.

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Damit sind bereits Fragen der Ökonomie angesprochen. Hier muss zunächst wieder an den frühneuzeitlichen Territorialstaat erinnert werden. Dieser sah es in der Regel als eine seiner Aufgaben an, den freien Austausch von Gütern nicht zuzulassen. Mit Zöllen und vielerlei Marktbeschränkungen war das ökonomische Verhältnis von Stadt und Umland immer schon von staatlichen Vorgaben geprägt. Köln kann auch hier als Beispiel dienen. Es besteht kein Zweifel, dass die Reichsstadt Köln die Handelsmetropole am Rhein war. Die internationalen Handelsbeziehungen und der durch die Niederlande vermittelte Anteil am Kolonialhandel sprengten jede Stadt-Umland-Beziehung. Wichtiger für das Umland der Metropole war, dass Köln schon im ausgehenden Mittelalter geradezu Gewerbe exportieren konnte. Im Umfeld der Stadt ließen sich Produktionsbetriebe nieder, die ursprünglich aus Köln kamen, dort jedoch nicht hatten weiter arbeiten können: Es gab nicht genug bezahlbare Grundstücke, und es fehlte an Energieträgern, d.h. an Brennholz und nutzbarer Wasser- oder Windkraft. Der Stadt als Absatzmarkt bzw. Umschlagplatz blieben die Betriebe verbunden. Nach dem Dreißigjährigen Krieg emanzipierten sich die „Gewerbegebiete“, nämlich die Nordeifel, daneben Stolberg, Solingen und Elberfeld, jedoch klar von der Stadt. Dabei half der Zuzug von protestantischen Handwerkern aus den Niederlanden, die hier Aufnahme fanden. Über sein unmittelbares agrarisches Umland übte Köln scharfe Kontrolle aus. Die Reichsstadt Köln verfügte im Gegensatz zu anderen Reichsstädten, wie Dortmund oder Aachen, über keinen nennenswerten territorialen Besitz. Es war zur militärischen Sicherung der Stadt, vor allem aber, um wenigstens einen Teil der Kernversorgung mit Lebensmitteln gewährleisten zu können, wichtig, das kleine Territorium vor der Stadt zu kontrollieren. Die nächste Umgebung, der Raum zwischen der Stadtmauer und der Grenze des Herrschaftsgebietes der Reichsstadt Köln, wurde von den genossenschaftlichen Landbesitzerorganisationen der Bauerbänke beherrscht. Die Bauerbänke waren an den Rat der Stadt angelagert, unter dessen Führung sie begrenzte Selbstverwaltungsrechte ausübten. Von den fünf regional unterschiedenen Bauerbänken wurde nur eine tatsächlich von auf dem Land lebenden Bauern dominiert. In den übrigen hatten in der Stadt Köln ansässige Landbesitzer, darunter auch kirchliche Einrichtungen, das Sagen. Es ist bezeichnend, dass das Bauerngeding, die Versammlung einer Bauerbank mit Gerichtsfunktion, jeweils unmittelbar beim nächsten Tor der Stadt Köln tagte. Deutlicher konnte der Bezug zur Stadt kaum mehr im Raum symbolisiert werden. Für die Versorgung der Reichsstadt mit Lebensmitteln war das direkte Umland wichtig: Immerhin 10% des Schlachtviehs, ein Fünftel des Getreides und – aus Gründen der

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Haltbarkeit der Waren gab es hier freilich kaum eine Alternative – fast alles Obst und Gemüse, das in Köln verbraucht wurde, kam aus dem von den Bauerbänken kontrollierten Gebiet. Freilich war Köln eine Welthandelsstadt, die sich klar von allen anderen Orten des Untersuchungsgebiets abhob. Die ökonomische Bedeutung von Mainz war weit geringer. Selbstredend war auch diese Stadt ein bedeutender Umschlagsort. Die Lage an zwei wichtigen Wasserstraßen war außerordentlich günstig. Mit dem Stapelrecht von 1463 ausgestattet, schaffte es Mainz gerade eben nicht nur Anbieter aus der Umgebung, sondern auch durchreisende Fernhändler in seinen Handel einzubinden. Das Mainzer Kaufhaus stellte einen zentralen Umschlagsplatz dar. Mainz erhielt hier zweifellos in ökonomischer Hinsicht zentralörtliche Funktionen. Für die nahe Messestadt Frankfurt war Mainz jedoch keine ernsthafte Konkurrenz. Deutlich gegenüber der Frankfurter Metropole gestärkt wurde Mainz erst 1748/49. Die Mainzer Messe wurde ins Leben gerufen, die zumindest für das Rheinland eine große Bedeutung erlangte. Kurmainzer Untertanen wurde es untersagt, an der Frankfurter Messe teilzunehmen. Freilich gingen diese Maßnahmen auf die Initiative des Kurfürsten, nicht die der Stadt zurück. Konkreter und wirksamer zeigte sich die ökonomische Macht von Mainz über das Umland im Bruderschaftswesen. Unter den Mainzer Bruderschaften waren zwei Agrarbruderschaften: die Gärtner mit eigenem Landbesitz und die Häcker als Landarbeiter. Die für die Versorgung der Stadt wichtige Bewirtschaftung des an sie angrenzenden Agrarlandes wurde also von städtischen Einrichtungen organisiert. Noch deutlich bescheidener war die ökonomische Kraft Triers. Auch die Trierer kontrollierten Teile ihres agrarischen Umlandes. 1624 machte der Anteil des auswärtigen Immobilienbesitzes am gesamten Immobilienbesitz der Stadtbürger 13% aus, im Jahr 1653 aber schon 36%: Trier hatte RIIHQVLFKWOLFKYRP=XVDPPHQEUXFKG|UÀLFKHU6WUXNWXUHQLP'UHL‰LJMlKULJHQ.ULHJSUR¿WLHUWVHLHVGXUFKGDV$XVNDXIHQYRQ%DXHUQRGHUVHLHV durch den Umzug wohlhabenderer Landwirte in die sicherer erscheinende Stadt. Als Absatzmarkt für die in der Stadt Trier hergestellten Waren wirkte das Umland kaum. Es fehlte in den Dörfern schlicht an Geld, um städtische Waren einzukaufen. Es mangelte selbst an der zur Kooperation nötigen Substanz. Von einer wirtschaftlichen Zentralortsfunktion der Stadt Trier kann daher schwerlich gesprochen werden. Die Stadt produzierte im Wesentlichen für sich selbst. Eine Ausnahme stellte das Geldgeschäft dar: Wenigstens einige wohlhabende Bürger Triers betätigten sich während der Krise um 1600 als Kreditgeber für die Landbevölkerung. Man könnte hier geradezu von Privatbanken sprechen. Beliebt gemacht haben sie sich dadurch nicht. Die Dörfer des Umlandes von Trier erlebten die ökonomische

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Macht der Stadt als bedrückend und bedrohlich. In Hexenprozessen aus der Trierer Region hieß es immer wieder, dass die Hexen aus der Stadt Trier die gefährlichsten seien. Sie führten die Hexenbande an und gaben die Kommandos, die die Hexen aus den Dörfern schlicht ausführen mussten. Hier hat sich die Spannung zwischen Stadt und Umland sogar in die Hexenimagination hinein ausgewirkt. Diese wenig produktive ökonomische Beziehung zum Umland ist einer der Gründe für den Niedergang Triers im 16. bis 18. Jahrhundert. Nicht nur in politischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht lief Koblenz, die neue Residenz des Kurfürsten, der alten Kathedralstadt den Rang ab. Der Befund ist also vielfältig: Köln übersprang mit seinem Handel das Umland, musste aber einige Machtmittel in dessen Kontrolle investieren. Mainz sah sich einem harten Konkurrenten gegenüber, der es auf das Umland verwies. Triers Umland war so schwach, dass es ökonomisch uninteressant wurde und der Stadt wenig Chancen bot. Nirgends können wir feststellen, dass die Stadt schlicht wirtschaftlich dominierte. Das Bild des ökonomischen Stadt-Umland-Verhältnisses zeigt allenfalls eine wechselseitige Abhängigkeit. Es entblößt die Achillesverse der Stadt in der Lebensmittelversorgung. Die Ökonomie wäre unzureichend beschrieben ohne einen Blick auf die Arbeitsmigration. Die Stadt war Ziel von Migranten. Die Zuwanderung in die Stadt ist als ein Element ihrer Zentralität gedeutet worden. Das Umland der Stadt könnte damit als Abwanderungsgebiet beschrieben werden. Betrachtet man die Migration, so zeigt sich, dass die Stadt-Umland%H]LHKXQJNODUHLQHQJHVFKOHFKWVVSH]L¿VFKHQ$VSHNWKDWWH'LH0HKU]DKO der Zuwanderer war männlichen Geschlechts. Je weiter der Herkunftsort von der Stadt entfernt lag, desto höher war der Männeranteil. Die frühneuzeitliche Migration in Städte war großenteils Nahmigration. Die meisten Neubürger deutscher Städte der Frühen Neuzeit scheinen aus einem Radius von weniger als 20 km in diese Städte gewandert zu sein. Das kann nicht weiter erstaunen: Offensichtlich sollten bereits vor der Verlagerung des Wohnortes Kontakte in die aufnehmende Stadt bestehen. Z.B. kamen rund 40% aller Zuwanderer, die im 18. Jahrhundert nach Koblenz zogen, aus Orten, die weniger als 25 km von der Stadt entfernt lagen. Aus jedem Dorf zwischen Koblenz und Cochem zog wenigstens eine Person in die Stadt. Mit einer Ausnahme: Winningen. Die Ursache dafür ist bezeichnend für die städtische Migration der Frühen Neuzeit. Winningen lag in einer kleinen Exklave der Hinteren Grafschaft Sponheim, einem Baden und der Kurpfalz unterstehenden Territorium. Dort war der Protestantismus eingeführt worden. Für die protestantischen Winninger war ein Umzug in das katholische Koblenz im geistlichen Kurfürs-

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tentum Trier problematisch. Selbst wenn die Herrschaft auf ihr Recht, die Konfession der Untertanen zu bestimmen, verzichtet hätte, wäre es den Zuwanderern doch schwer gefallen, als Angehörige einer allenfalls geduldeten konfessionellen Minderheit Fuß zu fassen. Entsprechend sucht man auch Zuwanderer aus den rechtsrheinischen nassauischen Staaten, die sich ebenfalls zur Reformation bekannten, in Koblenz fast völlig vergebens. 'DJHJHQ¿QGHQVLFKGXUFKDXV1HXEUJHUDXVHEHQVRZHLWHQWIHUQWHQDEHU katholischen Herrschaftsgebieten. Dies dürfte einer der Gründe sein, wieso Mainz eine Ausnahme von der Regel der Nahmigration darstellt. Im 18. Jahrhundert kamen 60% der Mainzer Neubürger aus Dörfern, die über 50 km weit entfernt lagen. Mainz war umgeben von den pfälzischen, nassauischen und hessischen Staaten, also von protestantischen Territorien. Die Stadt Mainz spielte bezüglich der Zuwanderung auch in anderer Hinsicht eine Sonderrolle. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass frühmoderne Städte zurückhaltend bei der Aufnahme von Neubürgern waren. Man fürchtete, dass sie eine wirtschaftliche Konkurrenz darstellen oder sich als ökonomisch unzuverlässig erweisen und die kommunale Armenfürsorge in Anspruch nehmen könnten. Die Kölner Gaffel der Textilproduzenten etwa konnte beim Rat durchsetzen, dass Seidenbetriebe, die von niederländischen Exulanten gegründet worden waren, in den 1580er Jahren wieder schließen mussten. Für die Stadtwirtschaft bedeutet dies in WHFKQRORJLVFKHU +LQVLFKW HLQHQ HPS¿QGOLFKHQ 5FNVFKODJ $OOHUGLQJV fanden sich um 1600 unter den größten Steuerzahlern Kölns vornehmlich QHX DXV GHQ 1LHGHUODQGHQ JHNRPPHQH )HUQKDQGHOVNDXÀHXWH 0DLQ] konnte nicht so aktiv wie Köln auftreten. Durch die Zerschlagung der alten städtischen Ordnung durch den Kurfürsten im Gefolge der Stiftsfehde waren die Zünfte in politisch weit schwächere Bruderschaften überführt worden. Diese waren für Gesellen aus anderen Städten vergleichsweise leicht zugänglich. Hinzu kam, dass die kurfürstliche Residenz in Mainz einen dauernden Bedarf an spezialisierten Handwerkern hatte. Diese wurden von den Fürsten aktiv angeworben und in der Stadt angesiedelt, ohne Rücksicht auf die Bedenken und Beschwerden der Bruderschaften. Mit entsprechender Protektion des Kurfürsten durften dann auch Protestanten nach Mainz ziehen. Kurfürst Johann Philipp von Schönborn konnte die Klagen der Bürgerschaft gegen seine Zuwanderungspolitik schlicht ignorieren. Er zog durch sein Wiederaufbau- und Bauprogramm nach dem Dreißigjährigen Krieg italienische Handwerker und Händler in die Stadt. Die Schwäche der städtischen Einrichtungen gegenüber dem Kurfürsten ermöglichte in Mainz sehr hohe Zuwanderungsraten. Entscheidend für die ökonomische Entwicklung der Stadt wurden ihre Funktion als Residenzstadt und die Machtverhältnisse zwischen Kommune und Herrschaft.

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Feststellen lässt sich, dass das personell erschließbare Umland einer Stadt von konfessionellen und politischen Strukturen geprägt war. Die Beschränkung der Nahmigration auf konfessionsgleiche Räume konnte nur durch die Intervention einer relativ starken Herrschaft überwunden werden. Freilich hat eine solche Zuwanderungs- oder gar Peuplierungspolitik nichts mehr mit der Stadt und ihren Interessen zu tun: Hier ging es, wie der Mainzer Fall klar zeigt, lediglich darum, die Wünsche der Herrschaft zu befriedigen, die sich über die Stadt und die Anliegen der Bürger hinwegsetzen konnte. Hier ist nun der politische Bereich berührt. Wieso wollten so viele Menschen vom Dorf in die Stadt wandern? Gab es außer den Verdienstmöglichkeiten noch andere Gründe für die Migration? Der politische Bereich birgt das wichtigste Klischee der Geschichte der Stadt. Gern wird auf die Freiheit der Stadt verwiesen, mit der sie sich angeblich ganz klar von ihrem Umland unterschied. Die Lehrpläne der Schulen sehen vielfach vor, dass die antike Polis und die deutsche Stadt des Mittelalters als Stufen auf dem steilen Weg zur westlichen Demokratie behandelt werden. In jedem anderen Kontext als dem demokratischer Identitätsbildung würde man über eine solch absurde Geschichtsklitterung bloß lachen. Die städtische Freiheit wird vornehmlich als persönliche Freiheit ihrer Bürger gesehen. Wer vom Dorf in die Stadt zog, der sollte frei von feudalen BindunJHQ XQG SHUV|QOLFKHQ UHFKWOLFKHQ 9HUSÀLFKWXQJHQ GHP DGHOLJHQ +HUUQ gegenüber werden. Die Spruchweisheit ist bis zum Überdruss zitiert: Stadtluft macht frei. Freilich stimmt das nur sehr bedingt. Der Zuzug in eine Stadt war in der Frühen Neuzeit, wie oben schon angedeutet, durchaus nicht frei. Wer nicht nur einfach darauf hoffen wollte, in der Stadt geduldet zu werden, sondern vollwertiger Bürger zu werden wünschte, der musste mehr tun als schlicht in der Stadt zu bleiben. Wer Bürgerrechte genießen wollte, musste sich in die Gemeinschaft der Bürger einkaufen. Pointiert formuliert: Es machte nicht Stadtluft frei, sondern Geld. Wesentlich anders sahen die rechtlichen Bedingungen in den Dörfern des städtischen Umlands oft gar nicht aus. Zunächst einmal darf die Einschränkung der persönlichen Freiheit der Bauern in der Untersuchungsregion nicht überschätzt werden. Die Leibeigenschaft war weitgehend bedeutungslos. Das Mosel- und Rheingebiet war das Kernland der so genannten Westdeutschen Grundherrschaft. Ein Großteil der Bauern bewirtschaftete sein eigenes Land oder bezahlte lediglich feste Abgaben an einen adeligen oder kirchlichen Herrn. Der bäuerliche Landbesitz war in der Regel teilbar und vererbbar. Ein Fremder, der volles Mitglied der Dorfgemeinschaft werden wollte, musste sich ebenfalls einkaufen. Die Verhältnisse lagen hier durchaus parallel zum Erwerb des städtischen Bürger-

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rechts. Wer etwa Anfang des 17. Jahrhunderts Bürger von Drais werden wollte, hatte 10 Gulden Einzugsgeld zu zahlen und musste darüber hinaus ein Mindestvermögen nachweisen. Wer das nicht konnte, wurde nur als Einwohner minderen Rechtes geduldet. Die Scheidung zwischen Stadt und Dorf scheint anhand der Fron zu JHOLQJHQ'LH9HUSÀLFKWXQJ]XU$UEHLWVOHLVWXQJHLQHPDGHOLJHQ+HUUQJHJHQEHUXQWHUVFKLHG'|UÀHUDQVFKHLQHQGYRQ6WDGWEUJHUQ*UXQGVlW]OLFK KDWWHQ6WDGWEUJHUQLFKWGLH3ÀLFKWGHU+HUUVFKDIW'LHQVWH]XOHLVWHQ$Olerdings versuchten zumindest die Kurfürsten von Trier, die Fron im 18. Jahrhundert drastisch auszudehnen. Clemens Wenzeslaus von Sachsen, der letzte Trierer Kurfürst, versuchte ab den 1770er Jahren, die Bürger von Trier und Koblenz zur Fron beim Wegebau beizuziehen. Die Städte wehrten sich heftig. Sie erklärten, dass die Fron mit der Freiheit der Stadtbürger unvereinbar sei. Wer von ihnen Fronarbeit verlange, der versuche sie „unter die Bauern herabzusetzen“. Clemens Wenzeslaus hat sich jedoch 1787 durchgesetzt. Von dieser Zeit an mussten die Städter, wenn sie nicht selbst körperlich arbeiten wollten, eine Ersatzzahlung leisten. Der Kurfürst verfolgte hier eines der ganz großen Projekte frühmoderner Herrschaft: die Vereinheitlichung des Untertanenverbandes. Sonderrechte sollten abgebaut werden, gleich, ob es nun die des Adels, der Kirche oder bestimmter .RPPXQHQ ZDUHQ 0LW GHU $XVGHKQXQJ GHU )URQYHUSÀLFKWXQJ DXI GLH Stadt sollte eine der letzten Bastionen städtischer Privilegien fallen. Wohlgemerkt: Die Anpassung erfolgte auf dem niedrigeren Niveau. Es ist bezeichnend, dass mit der Wegebaufron die Stadtbürger quasi zum Dienst im Umland und bis zu einem gewissen Grad auch für das Umland herangezogen wurden. Diese Infrastrukturmaßnahme verdankte sich ganz der Initiative der Herrschaft. Der Kurfürst stellte fest, dass es zum Wohl des ganzen Landes wichtig sei, die Straße von Trier in Richtung Mainz auszubauen. Allerdings dachten die Revolutionsregimes der 1790er weder in Trier noch in Mainz daran, die Fron abzuschaffen. Wie steht es mit dem anderen Klischee zur politisch-administrativen Sonderstellung der Stadtbürger? In der Stadt sollte das Leben sicherer sein. Die Stadtmauer schützte die Bürger. Hob nicht das Befestigungsrecht die Stadt aus dem Umland heraus? Wieder präsentiert die Spruchweisheit scheinbar eine historische Erkenntnis: Bürger und Bauer trennt nichts als die Mauer. Diese Binsenweisheit kann mit dem Beispiel der linksrheinischen Vororte der Stadt Mainz (Bretzenheim, Ebersheim, Laubenheim, Gonsenheim, Hechtsheim, Finthen, Weisenau und Mombach) aber widerOHJWZHUGHQ'LHVHG|UÀLFKHQ*HPHLQGHQKDWWHQVHKUZRKOHLQH%HIHVWLgung. Diese Dorfbefestigungen bestanden mehrheitlich nur aus einem Erdwall, einer Hecke und einem Graben. Daneben gab es jedoch aufwän-

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digere Dorfmauern, von denen in Mombach und Laubenheim Reste noch sichtbar sind. Diese Dorfbefestigungen mögen Sicherheit vor den Gartknechten geboten haben, stellungslosen Söldnern, die im Land herumzogen und deren Broterwerb zwischen Bettelei und paramilitärischen Angriffen auf kleine Siedlungen oszillierte. Gegen eine reguläre Armee des 17. Jahrhunderts waren die Dorfbefestigungen wirkungslos. Tatsächlich sind Bewohner der Vororte während frühneuzeitlicher Kriege nach Mainz JHÀRKHQ6LFKGRUWKLQ]XUFN]X]LHKHQZDUVHLWGHP0LWWHODOWHUGDV5HFKW der Bevölkerung des Umlandes. Dieser Rückzug konnte freilich ein Weg vom Regen in die Traufe sein. Auch Mainz hat bekanntlich im DreißigjähULJHQ.ULHJIDVWNDPSÀRVDXIJHEHQPVVHQ'LH6WDGWEHIHVWLJXQJGDVRIfensichtlichste Mittel zur Kontrolle der städtischen Umgebung, versagte exemplarisch. Erst die Zitadelle, die Johann Philipp von Schönborn mit riesigem Aufwand errichten ließ, hob Mainz militärisch auf ein neues Niveau. In den Zusammenhang der wehrhaften Dörfer gehörte auch das Gebück, die von den Kommunen gemeinsam erhaltene Wehrhecke zum Schutz des Rheingaus. Im Kontext des Kriegswesens sei hier nur am Rand bemerkt, dass Bürger ebenso wie Bauern in den Landesaufgeboten dienten. Diese Milizen dürfen in ihrer militärischen wie politischen Bedeutung insbesondere für Kurpfalz und Kurmainz nicht unterschätzt werden. Ganz besonders stark schien die Rolle der Städte im Ständewesen zu sein. Der Absolutismus war eine politische Theorie, keine politische Realität. Die meisten frühmodernen Monarchen regierten mit Hilfe der Stände. In der Regel trat neben den ersten Stand der Geistlichkeit und den zweiten Stand des Adels der Dritte Stand. Theoretisch war dies die Vertretung von Bürgern und Bauern, in der Praxis jedoch meist die exklusive Vertretung einer Minderzahl mächtiger Städte. Die Frage nach der landständischen Repräsentation ist Teil der Frage nach der Beziehung zwischen Stadt und Umland. Repräsentationsberechtigt waren grundsätzlich keine Personengruppen, sondern Kommunen. Das Kurfürstentum Mainz stellte bezüglich des Ständewesens eine Ausnahme dar: Es gab keine ständische Vertretung für Kurmainz insgesamt. Allerdings gab es innerhalb des kurmainzischen Territoriums regionale Ständevertretungen im Rheingau und im Oberstift. Die allzu weit vom Untersuchungsraum an Mosel und Rhein entfernten nördlichen Gebietsteile von Kurmainz seien hier ausgeklammert. Sowohl im Rheingau als auch im Oberstift genossen ländliche Gemeinden und kleine Städte gewisse ständische Grundkompetenzen bei der Steuerverwaltung. Allerdings waren sie stets schwach und allenfalls im Ansatz in der Lage, Steuerzahlungen auch zu verweigern. Dennoch muss festgestellt werden, dass diese kleinen Städte ständische Rechte besaßen, über die die

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Hauptstadt so nicht verfügte. Tatsächlich wurden dem Verbund der Neun Städte des Oberstifts (Amorbach, Aschaffenburg, Dieburg, Buchen, Seligenstadt, Miltenberg, Walldürn, Küllsheim, Tauberbischofsheim) sowie den Rheingauern sogar Rechte innerhalb der Stadt Mainz eingeräumt. Von 1480 bis 1526 hatten diese Städte das Recht, bei einer Vakanz des Kurfürstenthrons zusammen mit Vertretern der Stadt und des Domkapitels die Martinsburg zu besetzen. Die ständischen Organisationen des Kurfürstentums Trier, PfalzZweibrückens und der Kurpfalz werfen ein ganz neues Licht auf die Beziehung zwischen Stadt und Umland. Diese Territorien gehörten zu den wenigen frühneuzeitlichen Staaten, die den Bauern das Recht einräumten, Abgeordnete zu den Ständeversammlungen zu entsenden. Am deutlichsten ausgeprägt war dieses ungewöhnliche Element der politischen Ordnung in Kurtrier. Als die Stände Kurtriers sich in den Bündnissen von 1456 bzw. 1502 formiert hatten, hatten die dort vertretenen Städte bereits die Dörfer ihres Umlandes mit in den Bund gebracht. Auf den kurtrierischen Ständeversammlungen waren stets 14 Städte vertreten. Bei so genannten Volllandtagen kamen die Deputierten der Bauerngemeinden des städtischen Umlandes hinzu. Die Zahl der vertretenen Kommunen wuchs so auf rund 70 an. Der kurtrierische Dritte Stand war undifferenziert die Organisation der Bauern und der Stadtbürger. Die Landgemeinden Kurtriers hatten also ständische Repräsentationsrechte, aber es fehlte ihnen buchstäblich die „Selbstständigkeit“, sie waren – im Gegensatz etwa zu den ständisch organisierten Bauern Ostfrieslands – kein eigener Stand. Volllandtage, zu denen die Deputierten der Dörfer geladen wurden, tagten selten. So fanden etwa Volllandtage 1598, 1599 und 1603 statt, der nächstfolgende aber erst 1619. Neben den Volllandtagen standen die Ausschusslandtage. Dort war der Dritte Stand nur durch Abgeordnete der 14 Städte vertreten. Solche Ausschusslandtage traten fast jährlich zusammen. Die Ausschusslandtage waren voll beschlussfähig. Hier zeigt sich bereits, GDVVGLH6WlGWHGHXWOLFKHLQÀXVVUHLFKHUZDUHQDOVDOOHDQGHUHQ.RPPXnen. Das tatsächliche Verhältnis von Stadt und Land im Hinblick auf das Ständewesen wird also nur richtig verstanden, wenn nicht nur die politischen Strukturen und ihre Ordnung, sondern die konkrete ständische Praxis betrachtet wird. Sehr bedeutsam für die Stadt-Umland-Beziehung im Ständewesen waren zwei Umstände: Es gab keine Wahlkreise im modernen Sinn. Und HV JDE NHLQH 5HVLGHQ]SÀLFKW IU /DQGWDJVDEJHRUGQHWH GK GHU 'HSXtierte, der eine Gemeinde vertrat, musste nicht in ihr wohnen. Der Zuschnitt der Abgeordnete entsendenden Gebiete veränderte sich immer wieder. So nahmen in der Mitte des 16. Jahrhunderts z.B. das Amt Ehren-

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breitstein und die Gemeinde Niederlahnstein getrennt voneinander an Landtagen teil. Anfang des 17. Jahrhunderts erschien nur der Ort NiederODKQVWHLQ'DQDFKYHUVFKZDQGGHU2UWXQGGDV$PWDOOHLQ¿UPLHUWHXQWHU den Landtagsteilnehmern. Eine Kommune, die zu einem Landtag einen Deputierten entsandte, konnte dies beim folgenden Landtag einfach unterlassen, ohne dass das irgendwelche Sanktionen nach sich gezogen hätte. Offenbar entsandten Dörfer nur dann einen Abgeordneten, wenn sie ein Anliegen hatten, das auf dem Landtag besprochen werden sollte. Sah ein Dorf jedoch seine Interessen ausreichend durch die Nachbardörfer oder einen ländlichen Amtsbezirk repräsentiert, konnte es auf einen eigenen Deputierten leicht verzichten. Das Dorf bettete sich damit geradezu selbst in ein Umland ein. Einen kommunalen „Individualismus“ bezüglich ihrer politischen Repräsentation kannten die Dörfer nicht. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts spielte sich auf den kurtrierischen Volllandtagen eine 3UD[LVHLQGLHGDV5HSUlVHQWDWLRQVV\VWHPZHLWHUÀH[LELOLVLHUWH'LH$EJHordneten der Dörfer konnten, wenn sie auf dem Landtag erschienen waren, ihr Mandat an andere Deputierte weitergeben. Sie übertrugen die Wahrnehmung ihrer Interessen an die Abgeordneten einer anderen Kommune und gaben ihre Stimme an diese ab. In aller Regel übertrugen dörfliche Abgeordnete ihre Stimme an die Deputierten von Städten. Diese Praxis wurde „Constitution“ genannt. Mit der „Constitution“ ordneten sich die Dörfer selbst in das Umland einer Stadt ein. Alle zum Landtag geladenen Kommunen des Kurfürstentums Trier, Städte ebenso wie Dörfer, entsandten in aller Regel Personen als Abgeordnete zum Landtag, die bereits ein kommunales Amt innehatten. Die Deputierten der Städte waren stets der Stadtrat, die Bürgermeister, die Schöffen und der Stadtschreiber. Aus den Landgemeinden kamen, soweit sich das in den Quellen noch verfolgen lässt, die Ortsvorsteher, die Geschworenen oder die Schöffen als Abgeordnete zum Landtag, ferner die Amtsträger der landständischen Finanzverwaltung. Nun entwickelten aber einige Dörfer reges Interesse daran, Personen aus anderen Gemeinden als Abgeordnete zu gewinnen. Von vornherein bestimmten sie niemand aus den eigenen Reihen, sondern Personen aus den Räten der 14 Städte als ihre Abgeordneten. Diese Praxis darf nicht mit der „Constitution“ verwechselt werden: Hier gaben nicht die Deputierten von Dörfern ihre Mandate auf dem Landtag weiter, vielmehr bestimmten die Dörfer selbst Bürger der dominierenden Städte als ihre Abgeordneten. Einige Landtagsteilnehmer hatten Mandate von bis zu drei Kommunen gleichzeitig. Begehrt als Deputierte waren Personen, die bereits mehrere Landtage besucht hatten, also Erfahrung und Sachkenntnisse besaßen. Der Trierer Stadtschreiber Wilhelm

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von Bitburg erhielt für die sechs Landtage zwischen 1598 und 1601 nicht weniger als elf Mandate. Neben Trier vertrat er drei Landgemeinden. Einige Personen, in der Regel die Schreiber der größeren Städte, erwarben VLFKGHQ5XIHLQÀXVVUHLFKHÄ/DQGWDJVIDFKOHXWH³]XVHLQ,KUH'LHQVWHDOV Deputierte wurden von den Landgemeinden nachgefragt. Die Dörfer entsandten also stets Personen aus ihrem eigenen politischen Führungskreis oder politisch versierte Experten von außen. Erfahrung mit Recht und Verwaltung, Sachkenntnisse über Politik waren das entscheidende Kriterium bei der Auswahl von Abgeordneten. Man könnte im bescheidenen Rahmen von einer Expertokratie, einer Herrschaft der Fachleute im Dritten Stand Kurtriers, sprechen. Die Stadt-Umland-Beziehung wird hier von einem neuen Blickwinkel aus sichtbar. Die Stadt und LKU G|UÀLFKHV 8PODQG XQWHUVFKHLGHQ VLFK ZHVHQWOLFK GXUFK LKU :LVVHQ voneinander. Der zentrale Ort wurde zum zentralen Ort durch die Dichte der in ihm lebenden Personen mit Fachkenntnissen. Die Dorfgemeinden erkannten diese Überlegenheit der Stadt aktiv an. Sie wollten von Personen aus den Städten repräsentiert werden. Die Dörfer ordneten sich selbst in das Umland einer Stadt ein, indem sie die Dienste städtischer Experten nachfragten. Darf das Stadt-Umland-Verhältnis also einfach anhand eines unterschiedlichen Bildungsniveaus beschrieben werden? Damit würde die Stadt vom Dorf wesentlich dadurch unterschieden, dass sie ein Ort mit Bildungseinrichtungen und Anstellungschancen für Personen mit gehobener Ausbildung war. Der Befund lässt sich jedoch sowohl tiefer als auch VSH]L¿VFKHULQWHUSUHWLHUWHQ,QGHU3UD[LVGHU9HUJDEHYRQ/DQGWDJVPDQdaten wurde nicht irgendein Wissen nachgefragt. Nachgefragt wurden konkret Sachkenntnisse in Recht und Verwaltung. Erfahrung in der Kommunikation mit den Behörden des Landesherrn zählte. Das von den Dörfern nachgefragte Wissen waren nicht einfach akademische Kenntnisse. Es war vielmehr – in allen Bedeutungen des Wortes – Herrschaftswissen. Es ging um das Wissen um die Herrschaft: den Staat, die Verwaltung und das Steuerwesen. Das Stadt-Umland-Verhältnis lässt sich also nur beschreiben, wenn ein dritter Akteur einbezogen wird: der territoriale Staat. Die Stadt war dem Dorf überlegen, weil sie besser mit der Herrschaft umgehen konnte. Der Unterschied zwischen Stadt und Dorf bestand zu einem wesentlichen Teil in ihrer unterschiedlichen Beziehung zur Landesherrschaft. Die Nähe zur Herrschaft, die größere Kompetenz im Umgang mit dem Landesherrn machte die Stadt den Dörfern überlegen. :HQQ ZLU ]XUFN LQ GDV NXUWULHULVFKH 6WlQGHZHVHQ VFKDXHQ ¿QGHQ wir dort eine indirekte Bestätigung unserer Deutung. Neben den Personen aus den Städten versuchten die Dörfer nämlich auch, die Lokalbeamten

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des Landesherrn zu ihren Deputierten zu machen. Bäuerliche Gemeinden entsandten immer wieder die Beamten der Herrschaft, um auf dem Landtag mit der Herrschaft über Steuern zu verhandeln. Das erscheint widersinnig. Verstehbar ist dieses politische Verhalten der Dörfer nur, wenn bedacht wird, dass die besten Experten für Politik und Verwaltung auf dem Land wohl vielfach die Beamten der kurfürstlichen Herrschaft waren. Gegen die Beamten als Abgeordnete der Dörfer schritten die Städte ein. Sie setzten durch, dass die Amtsträger des Kurfürsten nicht mehr zu Deputierten gemacht werden durften. Damit freilich blieb den Dorfkommunen kaum etwas anderes übrig, als Abgeordnete aus den Städten zu benennen. Die weitere Entwicklung war nur konsequent. Wenn es die Dörfer des städtischen Umlands nicht schafften, eigene Experten für Recht und Verwaltung zu stellen, dann war ihre politische Repräsentation an sich verzichtbar. Mit der Verdrängung der Beamten als Abgeordnete brach die Standschaft der Bauerngemeinden Kurtriers insgesamt zusammen. Nach 1652 erschienen nur noch städtische Deputierte auf den Landtagen. Die Anzahl der repräsentierten Kommunen reduzierte sich damit von rund 70 auf 14. Diese drastische politische Flurbereinigung machte die Landgemeinden vollends zur politischen Klientel der Städte. Die Stadt begründete und festigte ihre Position als zentraler Ort durch ihre Fähigkeit, mit der Landesherrschaft zu kommunizieren. Herrschaftsnähe wurde zum Kriterium für Zentralität. Dieser Text hat versucht, sich dem Stadt-Umland Problem in der Mosel-Rhein Region in der Frühen Neuzeit anzunähern. Dabei wurden die Problemfelder von Religion und Kultus, von Ökonomie und von Politik betrachtet. Immer wieder ist dabei der Staat begegnet. Ohne diesen dritten Akteur ist das Handeln der Städte und Dörfer und ihr Verhältnis zueinander nicht befriedigend zu beschreiben, geschweige denn zu deuten. Klar sehen lassen sich die Kommunen und ihre Beziehungen untereinander nur auf der Folie des Fürstenstaats, des entstehenden Territorialstaats der Frühen Neuzeit. Die Frage, was Zentrale, was Umland ist, entschied sich vornehmlich an den Maßgaben des Staates.

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Landau – Geschichte eines deutsch-französischen Grenzfalles „Fremder, kommst Du nach Landau...“, dann lass‘ Dich als Bahnreisender nicht vom ersten Anblick der Stadt abschrecken, lass‘ Dich als Autofahrer nicht von den unvermeidlichen Werbezonen am Stadtrand beeindrucken! Viel eher lässt sich der Charme der Stadt für die erahnen, die aus dem Pfälzerwald kommen und für die sich bei Birkweiler der Blick in die Ebene weitet und die Silhouette der Stadt deutlich wird. Noch beeindruckender präsentiert sich die Stadt für diejenigen, die von Karlsruhe her den Bienwald verlassen und die Höhe über der Stadt erreichen. Türme und Dächer sind zu erkennen, der große Jugendstilbau der Festhalle, nur wenige Hochhäuser und dominierende Neubauten. Man fahre in die Stadt hinein, den breiten Ringstraßen folgend, und, vielleicht ist es gerade Samstagmorgen; man gehe auf den Rathausplatz mit seinem Wochenmarkt. Hier schlägt der Puls der Stadt, und hier lernt man die Landauer kennen. Da wird gestikuliert, laut gesprochen und gelacht. Auswärtige und vor allem die aus dem Norden glauben sich schon in Frankreich und wissen nicht, wie nahe sie einer historischen Grundgegebenheit sind, die die Stadt bis heute prägt. Ob man will oder nicht – nur wenn man die Geschichte der Stadt kennt, versteht man auch ihre Straßen, Bauten und ihre Bewohner. Also gehen wir zurück in Landaus Vergangenheit. Allerdings nicht in die „gute alte Zeit“, sondern in Zeiten voller Kriege, Entbehrungen und politischer Wechselfälle. Wir holen nicht so weit aus, alle Spuren menschlicher Besiedelungsepochen aufzuzählen, die rund um die Stadt gefunden wurden. Sie deuten auf frühe Präsenz von Menschen, aber sie sind eben nicht im Innern der 6WDGW]X¿QGHQVRQGHUQVLHEHOHJHQGDVVGLHKHXWLJHQ6WDGWG|UIHUZHVHQWlich älter als Landau sind. Im Stadtinnern selbst sind derlei Spuren nicht nachweisbar, dies hängt mit der topographischen Lage Landaus in einem früheren Feuchtgebiet zusammen. Eine Bodenbeschaffenheit, die auch die heutigen Bewohner noch spüren, wenn sie oft vergeblich gegen die Feuchtigkeit in ihren Kellern kämpfen. Erst gegen Ende des 13. Jahrhunderts taucht die Siedlung, wie man so schön sagt, aus dem Dunkel und Nebel der Geschichte auf. Eine kleine Ansiedlung, die dem Grafen von Leiningen gehört, bekommt den Namen

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Landau. So schön und romantisch, wie sich der Name der Stadt als „Landesaue“ noch interpretieren lässt: die Herkunft ist, wie so oft, viel profaner. Emich IV. von Leiningen wollte ganz einfach Landau als Gegenstück zu der ebenfalls leiningischen Burg Landeck ausbauen. Und ganz profan geht es auch bei der zugegebenermaßen rasanten Entwicklung des Fleckens zu. Von einer Stadt kann um diese Zeit noch nicht die Rede sein. Erst mit der Verleihung des Hagenauer Stadtrechts im Jahre 1274 durch Rudolf von Habsburg wird eine ökonomische Schnellentwicklung festgeschrieben und durch die Privilegierung auch noch gefördert. Denn die Verleihung bedeutete nicht nur eine theoretische königliche Auszeichnung, sondern mit dem Recht, wöchentlich einen Markt abhalten zu dürfen, die Möglichkeit zu wirtschaftlicher Entfaltung. Und diese nutzten die Landauer Bürger. Wie schnell dies vonstatten ging, lässt sich nicht nachweisen, wie wir überhaupt über die Frühzeit unserer Stadt wenig schriftliches Material besitzen. Aber es gibt deutliche Anhaltspunkte für das emporstrebende Landau: Schon zwei Jahre nach der Privilegierung schenkt Emich mit Einverständnis seines Neffen, des Bischofs von Speyer, den Augustiner-Chorherren von Zabern in Landau Grund und Boden, um hier bei einer bereits bestehenden Kirche (vielleicht stand sie in der Nähe der heutigen Burggasse) ein Kloster und ein Spital zu errichten. Zuständig war für Landau zu dieser Zeit immer noch die Kirche in Queichheim. Doch dies sollte sich bald ändern: Die Einwohnerzahl Landaus muss rasch zugenommen haben, und zwar so schnell, dass Bischof Friedrich von Speyer der Stadt die Errichtung einer eigenen städtischen Pfarrkirche erlaubte. Mit ihrem Die Landauer Stiftskirche

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Bau wurde wahrscheinlich im Jahre 1281 begonnen. Es war das Geburtsjahr der Stiftskirche. In den folgenden Jahren häufen sich die Indizien für eine ökonomische Blüte der Stadt und für eine Entwicklung, der umliegende Dörfer wie Oberbornheim, Mühlhausen, Eutzingen oder Servelingen nicht gewachsen waren und die von dem aufstrebenden Landau förmlich geschluckt wurden. Ihre Ländereien gehen in der Landauer Gemarkung auf, und an die Siedlungen erinnern nur noch z. T. falsch aufgestellte Gedenksteine und Straßennamen. Gekrönt wird diese Phase mit der Erhebung der Stadt zur Reichsstadt durch Rudolf von Habsburg im Jahre 1291. Dieser Akt bedeutet auch gleichzeitig das Ende des Aufschwungs. 6FKRQZLUGGLH6WDGWYRQGHPLQ¿QDQ]LHOOHQ1|WHQVWHFNHQGHQ.|nig Ludwig von Bayern an den Bischof von Speyer verpfändet. Lange VXFKWH/DQGDXQDFKSROLWLVFKHQXQG¿QDQ]LHOOHQ0|JOLFKNHLWHQDXVGLHsem Abhängigkeitsverhältnis herauszukommen. Finanzielle Probleme allein können es nicht gewesen sein, denn 1432 gründete die Stadt immerhin die erste städtische und damit weltliche Lateinschule im pfälzischen Raum, und 1508 erwarb Landau das Dorf Nussdorf. Im Jahr 1511 schließlich konnte die riesige Ablösesumme an den Bischof bezahlt werden. Nun war der Weg frei für eine Neuorientierung nach Süden. Hier hatte sich bereits seit 1354 eine Vereinigung von zehn elsässischen Städten gebildet, die bekannte „Dekapolis“. Dieser Bund hatte sich aus einem defensiven Grundgedanken heraus entwickelt, aus der ständigen und auch beUHFKWLJWHQ)XUFKWDOV)DXVWSIDQGGHVSROLWLVFKXQG¿QDQ]LHOOJHVFKZlFKten Kaisers missbraucht zu werden. Aus diesem Defensivbündnis entwickelte sich im Laufe der Zeit eine politische Organisation, die sich sogar eigene Verwaltungsinstanzen schuf. Nicht zuletzt hatte der Bund eigene Vertreter auf den Reichstagen und ein eigenes Kontingent von 92 Mann für das Reichsheer. In diesen Bund trat Landau am 14. April 1521 ein. %HUHLWVYLHU-DKUHQDFKLKUHP%HLWULWWKDWWHGLH6WDGW%QGQLVYHUSÀLFKtungen zu erfüllen: für Weißenburg, das wegen seiner Unterstützung aufständischer Bauern 1525 von Ludwig V. belagert wurde, war eine hohe Bürgschaft zu zahlen. Es war im übrigen auch das Jahr, in dem am Sonntag nach Ostern während der Kirchweih in Nussdorf der pfälzische BauHUQNULHJDXVEUDFK(LQ.RQÀLNWDXVGHPVLFKGLH6WDGWZHLWJHKHQGXQG unbeschadet heraushalten konnte. In den langjährigen Auseinandersetzungen mit der Kurpfalz im 16. Jahrhundert hingegen war es dann Landau, das von der Unterstützung GXUFKGLH'HNDSROLVSUR¿WLHUWH9RUDOOHPKDQGHOWHHVVLFKXPNXUSIlO]Lsche Ansprüche im Zoll-, Jagd- und Geleitrecht, alles Streitigkeiten, denen „mit gemeinem Rath, Hilf und Beystandt des ganzen Vereins“, so nannte

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sich die Dekapolis, „begegnet und Belästigten beygesprungen werden sollte“. Nur bruchstückhaft sind wir allerdings über das Funktionieren dieses territorial doch sehr auseinandergezogenen Bündnisses informiert. Und ebenso lassen uns die Quellen im Stich, wenn wir danach fragen, wie weit sich im Laufe der Zeit Handelsbeziehungen mit elsässischen Städten entwickelten. Nur ansatzweise können wir von einer Brückenfunktion unserer Stadt im Export elsässischer Produkte, vor allem natürlich Wein, nach Norddeutschland und nach Holland, sprechen. Das politische Schicksal der Dekapolis im 17. Jahrhundert wird von einem Datum geprägt, das auch gleichzeitig eine Zäsur in der pfälzischen und Landauer Geschichte darstellt: 1648, das Jahr des Westfälischen Friedens, der dreißig Jahre Krieg, Not und Elend abschloss – Landau hatte in dieser Zeitspanne siebenmal den Besitzer gewechselt, und die Bevölkerungszahl war von 2.500 auf 1.500 gesunken. In diesem Friedensvertrag wurde dem französischen König die Schutzfunktion für die Dekapolis übertragen, die bislang der Kaiser innegehabt hatte. Ludwig XIV. benutzte diese Rolle als Hebel, die vollen Souveränitätsrechte über die Dekapolis und damit auch über Landau zu erreichen. Zuerst auf dem Verhandlungsweg, dann mit militärischem Druck konnte dieser Anspruch auch durchgesetzt werden. Landau und die Mitgliedsstädte der Dekapolis wurden mehr und mehr in das Königreich Frankreich integriert. Nach dem Frieden von Nymwegen (1679), der Ludwig XIV. seine widerrechtlichen Eroberungen im Elsaß beließ, betrachtete Frankreich die Queich als seine Nordgrenze. In den „Souveränitätslanden“, wie das Gebiet südlich der Queichlinie hieß, beanspruchte nun Frankreich Souveränitätsrechte. Nirgends wurden die neuen Machtverhältnisse deutlicher als in den ehemaligen Reichsstädten wie Landau: Die Reichsunmittelbarkeit der Stadt wurde aufgehoben, der König wurde durch einen Beamten, den PräWRUYHUWUHWHQGHUJDQ]GLUHNWXQGPDVVLY(LQÀXVVDXIDOOHVWlGWLVFKHQ*UHmien nahm und die Finanzverwaltung kontrollierte. Dies mag nach einer Usurpation klingen, das war sie auch, aber diese französische Machtpolitik war überaus subtil und beließ den Landauern noch Eigenrechte. Zu denken ist dabei zum Beispiel an die Sprachregelung, ein durchaus bekanntes Mittel politischer Okkupation. Wer sich die Landauer Rats- und Gerichtsprotokolle aus dem Ende des 17. und aus dem 18. Jahrhundert betrachtet, wird feststellen, dass beide Sprachen verwendet wurden. Für juristische Auseinandersetzungen galt die Regel, dass jede Partei ihre Sache vor Gericht in der ihr eigenen Sprache vorbringen konnte. Ein Verfahren, das erst mit der Französischen Revolution ein abruptes Ende fand. Sichtbarer und deutlichster Ausdruck der französischen Politik war jedoch Landaus Ausbau zu einer Festung. Vauban, der französische Fes-

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tungsbaumeister, hatte in seiner Denkschrift über Landau den König eindringlich auf die Bedeutung der Stadt als Einfallstor ins Elsass geschildert, eine Bresche im französischen Verteidigungssystem, die gesichert werden musste. Dass die Festung dann doch nicht „eine der stärksten der Christenheit“ wurde, wie sich Vauban das vorgestellt hatte, ist ein anderes Kapitel. Tatsache ist, dass der Bau die Topographie der noch mittelalterlich geprägten Stadt völlig veränderte.

Modell der Landauer Festung aus dem späten 17. Jahrhundert

Der Abriss der alten Stadtmauern, der Stadtbrand vom Juni 1689, der den ganzen Bereich links der Marktstraße verwüstete, und der Bau des Forts, der den Landauern ihre besten Weinbergslagen raubte, seien hier nur als Stichworte genannt. Mehr als 10.000 Mann waren zwischen 1688 und 1691 beim Bau der Festung beschäftigt, eine logistische und architektonische Meisterleistung, von der heute nur noch die beiden Stadttore und das damals außerhalb der Stadt gelegene Fort erhalten sind. Mit der Festung kamen die Kriege. Und einer der schlimmsten war der Pfälzische Erbfolgekrieg. Bei diesem Stichwort fällt fast jedem geschichtsbewussten Pfälzer ein Name ein: Mélac. Er steht stellvertretend für das schlimme Jahr 1689 und den Pfälzischen Erbfolgekrieg. Aber, neuere Forschungen zeigen es, er war nicht der Hauptverantwortliche. Er war und bleibt der Sün-

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denbock, zu dem er sich freilich zum großen Teil durch sein extrovertiertes Gehabe selbst gemacht hat. Noch heute sind die Spuren der Verwüstung in der Topographie der Dörfer und Städte zu sehen. Was uns als romantisch erscheint, die Ruinen der Burgen und Schlösser, ist nichts weiter als die sichtbarste Hinterlassenschaft dieses Krieges – eines Krieges, der das Verhältnis zwischen Pfälzern und Franzosen nachhaltig negativ prägen sollte. Landau spielte in dieser Zeit eine Sonderrolle. Als französische Stadt und Festung war es vor dem Schlimmsten bewahrt geblieben und wurde zum Das Französische Tor Hauptnachschubplatz und einer der größten Garnisonen im Elsass. Insofern hatte Vauban im Nachhinein unwissentlich recht, wenn er davon gesprochen hatte, die Stadt könne sich glücklich preisen, zu Frankreich zu gehören. Das Ende des Pfälzischen Erbfolgekrieges bedeutete freilich nicht das Ende der Kriegszeiten in der Südpfalz. Die exponierte Lage der französischen Exklave Landau brachte zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Belagerung nach der anderen. Militäraktionen, bei denen oft Zehntausende von Soldaten die Umgebung der Stadt durch Fouragieren, Kontributionen und Plünderungen verarmen ließen. Freilich, die Herrschaft wechselte zwischen Franzosen, und, ja, wie soll man sagen: Österreichern, Kaiserlichen oder Deutschen? Ein dauerhaftes Relikt aus diesen Belagerungszeiten bleibt im französischen Wortschatz als eines der wenigen deutschen Wörter. Bei einer der Belagerungen, im Jahre 1702, kam der damals erst 24-jährige König Joseph mit einer eigens neu konstruierten Kutsche von Wien nach Landau. Von dieser Kutsche stammt der „Landauer“, „le landau“ im Französischen, als Name für einen Kinderwagen.

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Erst die Jahre zwischen 1720 und 1789 waren Zeiten ruhiger Entwicklung. Die prächtigen barocken Bürgerbauten, vor allem in der Martin-Luther- und der Meerweibchenstraße, die den Zweiten Weltkrieg überstanden haben, sind dafür sichtbare Beweise. Natürlich ist hier ganz bewusst die Jahreszahl 1789 genannt. Was sich mit diesem Datum in der Allgemeingeschichte verbindet, dürfte bekannt sein. Hier geht es darum, Landaus Sonderrolle in diesen bewegten Jahren der Französischen Revolution darzustellen. Es ist eine Stadt mit rund 3.000 Einwohnern, einer fast ebenso starken französischen Garnison, verwaltungsmäßig eine französische Stadt, deren Bewohner mehrheitlich deutsch sprechen und die sich in erster Linie weder als Deutsche noch als Franzosen, sondern einfach als Landauer fühlen. Eine Konstellation, die für uns, die wir eher von nationalen Vorstellungen geprägt sind, nur schwer nachzuvollziehen ist. Die Landauer begeisterten sich in unserer Region als erste und auch am beständigsten für die neuen Ideen. Kristallisationspunkt der Bewegung war der Jakobinerklub, eine Vereinigung Landauer Männer, sieht man von den drei oder vier unbenannten und unbekannten weiblichen Mitgliedern einmal ab, die das ganze Spektrum der Landauer Bevölkerung repräsentierten. Sie verstanden sich als die Speer-

Barocke Bürgerbauten in der Martin-Luther-Straße und der Meerweibchenstraße

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spitze der Revolution, als solche agierten sie mit ihrer Propaganda in der näheren Umgebung, und als solche wurden sie auch in Paris verstanden. Es war der Landauer Klub, der von dort die Aufgabe erhielt, französische Schriften ins Deutsche zu übersetzen und ins Innere des Reichs weiterzuleiten, und, dies sollte doch vermerkt werden, es war ein Landauer, nämlich Maire Glöckner, der im Auftrag von General Custine den Mainzern erklären sollte, wie man einen Jakobinerklub zu gründen und zu führen hatte. Wenn der revolutionäre Elan in der Pfalz und auch in Landau im /DXIHGHU-DKUHDEÀDXWHVRODJGLHVQLFKW]XOHW]WDQGHQSK\VLVFKHQXQG psychischen Belastungen der Bevölkerung während der Kriegszeiten. Sie unterschieden sich in einem wesentlich von früheren Kriegsbelastungen: Es handelte sich diesmal um einen ideologischen Krieg, und wer die Parole „Krieg den Palästen, Frieden den Hütten“ ernst genommen hatte, der sah sich doch grausam von der Realität enttäuscht, wo unterschiedslos requiriert und geplündert wurde. Aber auch in dieser Plünderzeit spielte Landau wieder eine Sonderrolle, wie hundert Jahre zuvor. Als kriegswichtiger Festung und Nachschubplatz blieben der Stadt, wenn wir einmal von den Schäden während der Belagerung Ende 1793 absehen, Plünderungen, Geiselnahme und Kontributionen erspart. Eine Sonderrolle, die weitgehend unbekannt ist, spielte die Stadt auch durch persönliche Verbindungen

„Parteigänger“. Szene aus der Französischen Revolution, Ölgemälde von Carl Wendling (1851-1914) im Rathaus von Landau (Pfalz)

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nach Frankreich. Bei 8% der Heiraten im 18. Jahrhundert stammte der Bräutigam aus Frankreich, und bei 14% der Geburten war ein Franzose als Vater aufgetreten – aber freilich nicht immer geblieben. Eine Tendenz, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehr und mehr verstärkte und ihren Höhepunkt natürlich zu dem Zeitpunkt fand, als Landau nicht mehr französische Enklave in deutschem Gebiet war, sondern mit seinem Umland in die französische Republik und dann in das napoleonische Kaiserreich integriert war. Diese statistisch erfassten Verbindungen lassen sich auch an Georg Friedrich Dentzel Personen und Persönlichkeiten festmachen. Nur einige Namen seien hier genannt: Georg Friedrich Dentzel, der Pfarrer der Landauer Stiftskirche vor der Revolution, Initiator des Jakobinerklubs, Abgeordneter des Nationalkonvents, später napoleonischer Militär, der es bis zum Feldmarschall gebracht hat. Im Übrigen war er der Schwiegervater des berühmten Barons Haussmann, der als Präfekt die Stadt Paris mit ihren großen Boulevards architektonisch prägte. Oder Philipp Jakob Stieler, vom einfachen Soldaten zum General unter Napoleon aufgestiegen. Oder ein gewisser Müller, der Napoleon als Spion in Indien diente, um dort die Möglichkeiten einer eventuellen Eroberung zu erkunden. Nicht aufzuzählen sind die zahlreichen Landauer, die es mindestens zum Ritter der Ehrenlegion brachten. Diese Auszeichnungen sieht man übrigens noch heute auf manchen Landauer Grabsteinen vermerkt. Es gab aber auch unmilitärische Karrieren. Der Lebenslauf von Karl Heinrich Schattenmann ist dafür ein Beispiel. 1785 in Landau geboren, Besitzer eines Weinguts in Rhodt, dann ins Elsaß verzogen, wurde er in %RX[ZLOOHU'LUHNWRUGHUGRUWLJHQ0LQHQSUR¿OLHUWHVLFKLP:HLQEDXPLW der Einführung neuer Methoden in der Viehzucht, und letztendlich ist ihm ein damals neues Verfahren zur Beschotterung von Straßen zu verdanken. Auch der Rhodter Pfarrerssohn Johann Michael Soehne sollte hier genannt werden. Früh zu Geld gekommen, konnte er sich um 1790 den Bau GHV%RHFNLQJVFKHQ+DXVHVDP0DUNWSODW]OHLVWHQÀRKYRUGHU5HYROXWLRQ

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ausgerechnet nach Paris, trat dort in ein bedeutendes Bankhaus ein, in dem er Karriere machte, und half im Jahre 1794, mitten in der Terrorzeit, der Landauer Delegation, die versuchte, ihre gefangenen Mitbürger aus den Gefängnissen der Revolutionsjustiz zu befreien. An einen weiteren Bewohner des genannten Boeckingschen Hauses aus dem darauf folgenden Jahrhundert ist zu erinnern: an Michel Bréal, einen hier geborenen Franzosen, der in Frankreich als Altphilologe und Linguist zum „Inspecteur général des écoles“ aufstieg und Pierre Coubertin die Idee nahe brachte, den Marathonlauf ins olympische Programm aufzunehmen. Bréal war auch einer der wenigen französischen Intellektuellen, die im Jahre 1914 DOV3D]L¿VWHQYRUGHPGURKHQGHQ.ULHJZDUQWHQ(UWDWGLHV]XVDPPHQPLW seinem Schwiegersohn Romain Rolland. Das waren nur einige Beispiele. Die Reihe derer, die nach Frankreich gingen oder die mit dem Nachbarland enge Beziehungen hatten, ließe sich mühelos fortsetzen. Hier sind ja nur Biographien bekannterer Männer erwähnt. Zu erläutern wären natürlich noch die vielen Kontakte weiterer Bevölkerungskreise durch Handelsbeziehungen oder durch Studienauf-

Geburtshaus von Michel Bréal

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enthalte an französischen Universitäten und Hochschulen. Neben diesen freiwilligen Kontakten mit dem Nachbarland gab es freilich auch die ungewollten derer, die in Napoleons Heeren kämpften und aus vielerlei Gründen die Rückkehr in die Heimat nicht mehr antraten oder nicht mehr schafften. Ziemlich abrupt brachen die Verbindungen in dem Moment ab, als das Land südlich der Queich im Ersten und Landau im Zweiten Pariser Frieden 1816 zu Bayern kamen. Der Übergang zu den neuen Herrschaften erfolgte nicht ohne Reibungen. Im Einzelnen können wir die Grundstimmung in der Bevölkerung zwar nicht nachvollziehen, aber es gab zum Beispiel den, wie es in einem Polizeibericht heißt, „ungebärdigen Freiheitsmann Hessert“, einen früheren Landauer Jakobiner, der beim Einmarsch der Bayern vor seinem Haus quer über die Straße die Trikolore hisste, und es gab vor allem einen Zwischenfall, mit dem sich sogar der bayerische König beschäftigen musste: Der noch aus französischer Zeit stammende Kommandant der Nationalgarde und frühere Jakobiner Schröder war einer Anweisung der neuen Machthaber nicht gefolgt oder hatte sich von ihnen missachtet gefühlt, ein Verhalten, das bei den bayerischen 2I¿]LHUHQK|FKVWHV%HIUHPGHQDXVO|VWH6LHGLH]XPHLVWJHJHQLKUHQ:LOlen nach Landau versetzt worden waren, scherten sich wenig um die französische Vergangenheit der Landauer Bürger. Anders König Maximilian, der in Landau seine militärische Karriere, übrigens in einem französischen 5HJLPHQWEHJRQQHQKDWWH(U]HLJWH9HUVWlQGQLVIUGLH%H¿QGOLFKNHLWHQ XQG(PS¿QGOLFKNHLWHQGHU6WDGWEHZRKQHU1LFKWRKQH*UXQGEHVXFKWHHU nach der Angliederung der Pfalz an Bayern die neue Provinz und ganz besonders ausführlich Landau. Und aus dieser Einstellung heraus empfahl er den Vorgesetzten vor Ort Mäßigung im Umgang mit den Landauern. „Auf die Polizei dahier kann ich nicht rechnen (...), die Herren wären lieber französisch“, hatte zum Beispiel der Festungskommandant nach München gemeldet, worauf Max Joseph antwortete: „Beurteilen Sie die Landauer nicht zu streng, es sind gute Leute, ich kenne sie genau. Man muss ein wenig Nachsicht mit Menschen haben, die so lang unter einer Regierung gestanden sind, welche ganz verschieden von der jetzigen war“ (StadtA LD, AI,2). Die bayerische Garnisonszeit bietet wenig Stoff zu langen Ausführungen. Das gemächliche Leben in einer Soldatenstadt scheint auch Auswärtige nicht oder nur negativ beeindruckt zu haben. Gustav Freytag, der fast vergessene scharfe Beobachter deutscher Sitten und Gebräuche, empfand den Ort vor allem als einen Sammelplatz „biertrinkender Individuen“. Wie gesagt, wir könnten über die Zeit fast hinweggehen, wenn in Landau nicht die juristische Aufarbeitung des Hambacher Festes stattgefunden

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hätte. Die Bayern hatten den Prozess gegen die Hauptverantwortlichen Siebenpfeiffer und Wirth sicher bewusst wegen der starken Militärpräsenz LQGHU)HVWXQJVWDWW¿QGHQODVVHQ$EHUVLHKDWWHQZRKOQLFKWGDPLWJHUHFKnet, dass die aus Landau und Umgebung stammenden Geschworenen für einen Freispruch plädieren würden. Erst im zweiten Anlauf, in der Verhandlung in Zweibrücken, sollte es zur Verurteilung kommen. Am Rande sei vermerkt, dass bei diesem Prozess ein gewisser Xaver Gabelsberger als 3URWRNROODQWIXQJLHUWHXQG]XPHUVWHQPDOVHLQH(U¿QGXQJGLH*DEHOVEHUger Kurzschrift, die uns als Stenographie bekannt ist, praktizierte. Fast vierzig Jahre später, im Jahre 1870, brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Landau lag sozusagen in der vordersten Frontlinie. Vielleicht gab es selbst zu dieser Zeit noch schwache Erinnerungen an die ehemalige Zugehörigkeit der Stadt zum jetzigen Feind. Man registrierte jedenfalls in München jede Bemerkung oder Handlung, die auf eine beVRQGHUH$I¿QLWlWGHU/DQGDXHU]X)UDQNUHLFKKlWWHQVFKOLH‰HQODVVHQ8P ehrlich zu sein: Es gab zu dieser Zeit nichts dergleichen. Das nationale Fieber dieser Jahre hatte auch Landau erreicht. Man fühlte sich hier, wie überall, als Deutsche. Der gewonnene Krieg brachte für Landau eine neue Situation: Nicht mehr Grenzstadt zu sein, bedeutete auch das Ende der Festung. Kein Wunder, dass man die Wälle, die die Stadt so lange eingeschnürt und in ihrer Entwicklung gehemmt hatten, in den achtziger Jahren radikal schleifte. Peter Heil hat dies in seiner Dissertation im Vergleich mit den Städten Haguenau, Séléstat und Belfort gut herausgearbeitet. Diese Zeit ist leider bislang von Lokalhistorikern noch nicht genügend bearbeitet und gewürdigt worden, wenn wir einmal von der kunstgeschichtlichen Perspektive absehen, mit der das schnelle Wachsen und die Entstehung der noch heute imposanten bürgerlichen Bauten betrachtet wurde. Immerhin verdanken wir diesen Jahren die glücklicherweise fast noch intakte Ringstraßenbebauung und die Parkanlagen, die zusammen mit den Festungsresten das Bild der heutigen Stadt entscheidend prägen. Die Stadt war kaum richtig aufgeblüht, da brach der Erste Weltkrieg aus. Er und vor allem sein Ende bedeuteten für Landau einen tiefen Sturz in die wirtschaftliche und politische Bedeutungslosigkeit. Das traditionelle Absatzgebiet Elsass war nicht mehr zugänglich, der Rhein wurde eine fast unüberwindliche Grenze. Auch in diesen Jahren spielte Landau eine Sonderrolle. Es war die größte französische Garnison in der Pfalz; hier, in der Villa Streccius, residierte der Oberkommandierende, und Landau war der Sitz des obersten französischen Militärgerichtshofes. Vor allem mit ihm und seinen Urteilen verband sich für die Pfälzer die Erinnerung an die, wie es damals hieß, „Zeit der Schande und der Schmach“.

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Der Abzug der Besatzung im Jahre 1930 wurde von allen begrüßt. Die Erinnerung an die französische Vergangenheit, auch an die frühere, wurde nun systematisch verdrängt und ausgelöscht. In der lokalen Geschichtsschreibung war nun alles zur Besatzungszeit geworden, und für differenzierte Darstellungen blieb kein Raum. Vielleicht war es wirklich dieses Versailles-Trauma, das die hiesige Region zu Beginn der dreißiger Jahre schneller und mehr als andere deutsche Gegenden so empfänglich machte für nationale und nationalistische Propaganda; vielleicht war es auch das Gefühl, sich in dieser neuen Grenzlage durch besondere Reichstreue beweisen zu müssen und zu wollen. So oft auch Landau in der Vergangenheit eine Sonderrolle gespielt haben mag – ab 1933 gab es nichts mehr, was die Stadt von anderen unterschieden hätte: Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Mitbürger, politische Unterdrückung und die Leiden des Krieges. Die Topographie der Stadt trägt heute noch die Spuren der Jahre zwischen 1939 und 1945: Gesichtslose Nachkriegsbauten kaschieren nur dürftig die Bombenlücken in der Innenstadt. Nach 1945 wiederholt sich die Geschichte von 1918. Wieder wurde Landau von Franzosen besetzt, und die Anfangsjahre der Besatzung nach 1945 waren nicht dazu angetan, freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln. Von Zukunftsperspektiven war nur ansatzweise die Rede. Zu groß waren die ideellen und materiellen Zerstörungen auf beiden Seiten. Frankreich blieb nach den Erfahrungen der drei letzten Kriege und aus alter historischer Tradition immer noch einem Sicherheitsdenken verhaftet, das das linke Rheinufer als Glacis begriff und nutzen wollte. In dieser Tendenz wurden auch jetzt, wie nach 1918, separatistische Strömungen gefördert. All diese Ideen einer Vereinigung des Gebiets mit Frankreich scheiterten jedoch bald. Denn beide Völker hatten, Gott sei Dank, mit ihren politischen Köpfen großes Glück: Auf deutscher Seite war es Adenauer, und auf französischer Seite waren es Schuman und de Gaulle. Was jedoch noch wichtiger war, waren die vielen privaten Initiativen, die den Boden für eine Verständigung und dann auch für freundschaftliche Bindungen schufen. In Landau hat sich auf dieser Basis dann im Jahre 1959 die DeutschFranzösische Gesellschaft gebildet, die heute, 14 Jahre nach dem Abzug der französischen Garnison, immer noch über 500 Mitglieder zählt. In dieses Bild enger Verbundenheit mit dem Nachbarland gehört auch die Tatsache, dass Landau für das französische Militär immer zu den beliebtesten Garnisonsstandorten gehörte. Wir sind heute auf einem anderen Weg zu einer Vereinigung. Er wird noch eine ganze Weile schwierig sein. In diesem Spannungsfeld muss /DQGDXQXQVHLWGLH)UDQ]RVHQDEJH]RJHQVLQGHLQHQHXH5ROOH¿Q-

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Das Quartier Chopin - gelungenes Beispiel für die Umwandlung einer Kaserne in ein Wohnquartier

den. „Visionen statt Divisionen sind gefragt“, so formulierte es der Landauer Schriftsteller Wolfgang Schwarz. Seit 1999 entwickelt sich die Stadt G\QDPLVFK 'LH EHKXWVDPH 8PZDQGOXQJ GHU ZHLWOlX¿JHQ PLOLWlULVFKHQ Liegenschaften ist weit fortgeschritten, und die Landesgartenschau im Jahre 2014 wird der Stadt nochmals einen Entwicklungsschub geben. Viele Neubürger werden hierher ziehen, die Stadt wird sich – wie in der Vergangenheit auch – immer weiter verändern, vielleicht schneller und tiefgreifender als dies früher geschah, und es wird Mühen, Mut und Phantasie erfordern, ein intaktes Gemeinwesen zu erhalten. Es bleibt somit nur die Hoffnung, dass die Stadt in der Zukunft ihr ureigenes sympathisches Erscheinungsbild nicht verliert.

Literatur Heil, Peter: Von der ländlichen Festungsstadt zur bürgerlichen Kleinstadt. Stadtumbau zwischen Deutschland und Frankreich, Landau, Haguenau, Séléstat und Belfort zwischen 1871 und 1930 (Geschichtliche Landeskunde Bd. 49), Stuttgart 1999. Imhoff, Andreas: Landau. Wirtschaft und Gesellschaft in einer Garnisonsstadt, Kaiserslautern 1996. Martin, Michael: Kleine Geschichte der Stadt Landau, Karlsruhe 2011. Range, Helmut: Die Ringstraßen in Landau 1871–1914, Landau 2007.

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Koblenz nach 1800 Eine Stadtgesellschaft jenseits von Entfeudalisierung und Säkularisation Mit Koblenz soll nicht nur eine weitere Stadt des Landes vorgestellt werden, sondern es soll vor allem die Umbruchsituation der Städte in der Region vom Alten Reich zur Moderne an einem Beispiel thematisiert werden. Dazu hat es in jüngster Zeit ein Forschungsprojekt unter Leitung von Lothar Gall gegeben, das diesen Wandel unter den Weberschen Kategorien des Übergangs von der traditionalen zur modernen Gesellschaft oder auch kürzer vom alten zum neuen Bürgertum beschrieben hat. Ausgehend von der eingeführten Städtetypologie wurden sechs Städtetypen an Hand von 15 ausgewählten Beispielen analysiert, darunter aus dem rheinischen Raum Köln als Handels- und Gewerbestadt und Aachen als frühindustrielle Gewerbestadt. Dieser Ansatz erhöht zwar einerseits die Vergleichbarkeit der Studien, lässt aber andererseits regionale Besonderheiten nur als Individualfaktoren der jeweiligen behandelten Stadt zur Geltung kommen, ohne ihrer regionalen Bedeutung wirklich gerecht zu werden. Insofern soll am Beispiel von Koblenz weniger der allgemeine Wandel von der Residenzstadt des 18. Jahrhunderts zur Verwaltungsstadt des 19. Jahrhunderts dargestellt werden, der in dem erwähnten Forschungssample schon mit Karlsruhe, München, Münster und Wiesbaden belegt ist. Vielmehr soll die gute sozialgeschichtliche Forschungslage für Koblenz mit den Arbeiten insbesondere von Klaus Eiler, Busso von der Dollen, Etienne François, Jürgen Müller, Wolf-Ulrich Rapp u.a. dazu genutzt werden, am Beispiel der Stadt Koblenz die regionale Besonderheit der linksrheinischen Städte als integraler Bestandteil des nachrevolutionären Frankreichs von 1798 bis 1813 darzustellen und nach deren sozialgeschichtlichen Folgen zu fragen. Der städtische Modernisierungsprozess der Stadt im 19. Jahrhundert wurde in den Städten der rheinischen Departements ganz wesentlich durch den Import der Rechtsinstitute der Französischen Revolution bestimmt, darunter insbesondere von den Instituten der Entfeudalisierung und der Säkularisation. Will man deshalb die regionale Besonderheit der rheinischen Städte bei diesem Prozess untersuchen, muss man diesen Instituten nachgehen und ihre Bedeutung für die städti-

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schen Gesellschaften zu bestimmen versuchen. Letztlich ist das natürlich ein Bypass, der mit dem Ende des Napoleonischen Empire langsam, aber stetig wieder in den Mainstream der nationalen Entwicklung einmündete. Gleichwohl hat die Zugehörigkeit zu Frankreich aber für die linksrheinische Stadtentwicklung Faktoren geschaffen, die weit über die begrenzte Zeit dieser Epoche hinaus wirksam waren. Im Folgenden soll deshalb zunächst (1.) die Stadt Koblenz und ihre soziale Gliederung vor der französischen Annexion um 1794 vorgestellt werden. Darauf sollen (2.) Entfeudalisierung und (3.) Säkularisation mit ihren Folgen für die Präsenz von Adel und Klöstern in der Stadt untersucht werden, ehe dann (4.) die einzelnen Schichten der Städtischen Gesellschaft ohne Adel und Klöster vorgestellt werden. Schließlich soll (5.) versucht werden, als Ergebnis die Bedeutung von Entfeudalisierung und Säkularisation für die Entwicklung der städtischen Gesellschaften in den linksrheinischen französischen Departements zu bestimmen. 1. Koblenz vor der französischen Annexion Der nachmalig als Donator von Stadtbibliothek und Stadtmuseum in Koblenz bekannt gewordene Pfarrer Joseph Gregor Lang (1755–1834) charakterisierte seine Heimatstadt in einer Reisebeschreibung des Rheins folgendermaßen: „Wer Koblenz in einem Zeitraume von zwanzig Jahren nicht gesehen hat, wird die auffallendste Metamorphose bemerken, die man sich gewiss nicht durch erzählte Vorstellungen davon wird machen können. Eine Zwischenzeit der letzten zehn Jahre hat hier in Gebräuchen, Sitten, Ton, Denkund Lebensart einen so merkbaren Unterschied gemacht, als ihn sonst ein Jahrhundert nicht machte, ja er ist so groß, so wichtig und auffallend, dass ein Reisender, der vor dieser Zeit hier gewesen ist, an einen nie gesehenen Ort zu kommen glaubt.“ Diese Hymne meint nun nicht – wie man vermuten könnte – die durch die französische Annexion verursachten Veränderungen, sondern der Text stammt von 1789/90 und bezieht sich auf die Neuerungen seit dem Regierungsantritt des letzten Kurfürsten von Trier Clemens Wenzeslaus von Sachsen im Jahre 1768. Der Text ist auch nicht reine Panegyrik, sondern steht in einem Reisebuch, das sich am Markt behaupten wollte und sich PLWGUHL$XÀDJHQELVDXFKGXUFKDXVEHKDXSWHWKDW Der Hymnus bezieht sich also auf den klassizistischen Schlossbau in Koblenz, der ab 1786 teilweise bezugsfertig war. Aber dieser Schlossbau hatte über den engeren herrschaftlichen Bereich hinaus auch die angrenzende Stadt stark verändert. Eine Stadtbeleuchtung war geschaffen wor-

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den (ab 1761). Der innerstädtische Friedhof war vor die Stadttore verlegt worden (1777). Eine Wasserleitung war von außerhalb in die Stadt geführt worden (1783–1786) und endete in einem öffentlichen Brunnen, dem Clemensbrunnen (1781). Die Rhein- und Moselfronten der Stadt waren entrümpelt worden, und die Neustadt, also die direkte Umgebung des QHXHQ6FKORVVHVKDWWHVRJDUHLQH.DQDOLVDWLRQHUKDOWHQXQGZDUJHSÀDVtert worden. Darüber hinaus hatte man die mehr absolutistischen Maßnahmen des Schlossbaus und der Stadtplanung mit Maßnahmen der Aufklärung verbunden: Man hatte ein privates Theater gebaut (1787), eine öffentliche Bibliothek eingerichtet (1779), und es hatte sich eine Lesegesellschaft gegründet (1784). Schließlich hatten Stadterneuerung und Bildungsimpulse auch Auswirkungen auf die Stadtgesellschaft, wie das sog. Toleranzedikt von 1783 zeigt, das die Stadt für protestantische Zuwanderer öffnete, auch wenn es dies nur bedingt tat und vor allem auf eine Belebung der Wirtschaft abzielte. Die kurzen Hinweise mögen als Beleg dafür genügen, dass die kurtrierische Residenz nicht einfach eine verschlafene Provinzstadt war, als die Franzosen sie 1794 besetzten. Trotzdem begann nun ein ganz neuer Transformationsprozess. 2. Entfeudalisierung und Adelspräsenz Dieser Transformationsprozess kann zunächst mit zwei negativen Kategorien beschrieben werden, die auf die Zerstörung von tradierten sozio-politischen Strukturen verweisen: Entfeudalisierung und Entsakralisierung bzw. Säkularisation. Entfeudalisierung (abolition de la féodalité) bezieht sich auf den revolutionären Beschluss der französischen Nationalversammlung vom 4./5. August 1789, mit dem sie das gesamte Feudalsystem aufhob: „L‘Assemblée nationale détruit entièrement le régime féodal“. Das war schon für Frankreich recht vollmundig formuliert, und die französischen Parlamentsjuristen hatten auch alle Mühe, bei der Umsetzung den schmalen Grat zwiVFKHQ 6R]LDOUHYROXWLRQ XQG 5HVWDXUDWLRQ ]X ¿QGHQ 1RFK NRPSOH[HU LVW der Begriff aber in der Anwendung auf das besetzte Rheinland. Einerseits war die Aufhebung des Feudalsystems und des Zehnten der Kernpunkt der französischen Revolutionspropaganda, andererseits aber war die französische Militärbesatzung in den Jahren vor 1798 selbst daran interessiert, die bisherigen Steuern weiterhin einzutreiben und daraus ihre im Lande stehenden Armeen zu unterhalten. Zu einer wirklichen Durchführung der Entfeudalisierung kam es dann erst nach 1798 mit der Einrichtung der neuen Departements, wobei die Aufhebung der alten Feudalabgaben im

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Zusammenhang mit der Einführung des französischen Steuersystems erfolgte, und zwar zunächst deklaratorisch durch die Instruktion des Direktoriums für den neuen Regierungskommissar Rudler vom 4. November 1797, verkündet ab dem 11. November 1797 und dann durch den Aufruf des Regierungskommissars Rudler selbst an die Bevölkerung der neuen Departements vom 11. Dezember 1797, was beides durch Plakatdrucke und andere Publikationsformen überall in Französisch und Deutsch bekannt gemacht wurde und sogar rückwirkend ab dem Beginn des VI. Jahres der Republik (22. September 1797) gelten sollte. Die juristische Fixierung folgte dann am 26. März 1798, als Rudler eine Zusammenstellung der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen der Nacht vom 4./5. August 1789 und der darauf folgenden Gesetze publizierte und damit für die rheinischen Departements in Kraft setzte. Dabei ist es bedeutsam, dass in den linksrheinischen Departements die Entfeudalisierung mit aller revolutionären Schärfe eingeführt wurde und somit im Unterschied zu der späteren Einführung in den rechtsrheinischen Rheinbundstaaten unter Napoleon auch wirklich griff. Freilich waren damit weder die juristischen noch die realen Verhältnisse geklärt. Im Kleinen wiederholte sich nun in den rheinischen Departements der vorher schon in Innerfrankreich ausgetragene Streit, welche Abgaben nun feudal und damit entschädigungslos aufgehoben waren, welche nur ablösbar waren und welche nur zeitlich begrenzte Pachtverhältnisse darstellten, bei denen die Abgaben weiter gezahlt werden mussten. Interessiert an dieser Auseinandersetzung waren zudem nicht nur die grundbearbeitenden Bauern, die zunächst glaubten, dass alle Grundabgaben nun aufgehoben worden seien, sowie der grundbesitzende Adel, der natürlich von seinen alten Rechten zu retten suchte, was zu retten war. Interessiert an dieser Auseinandersetzung war wiederum nicht zuletzt DXFKGHUIUDQ]|VLVFKH)LVNXVGHUGHQNRQ¿V]LHUWHQXQGHQWHLJQHWHQ$GHOV und Kirchenbesitz verwaltete und vor allem zu Anfang zu einem großen Teil erst einmal verpachtete. Somit war der französische Staat, der die Feudalrechte gerade aufgehoben hatte, über seinen Fiskus wieder direkt an der Eintreibung der Feudalabgaben interessiert. Eine Klärung erfolgte letztlich erst durch das Gesetz über die Natur und die Merkmale der Grundrenten und die Feudalqualität der Reallasten vom 10. Oktober 1804. Das ist im einzelnen hier nicht darzustellen, es ist aber eigentlich auch noch gar nicht darstellbar, denn eine Studie, die über die juristische Ebene hinaus die wirkliche Umsetzung untersucht hätte, wäre erst noch zu unternehmen. Klarer sind nur die allgemeineren Folgen der Entfeudalisierung. Unzweifelhaft war die Entfeudalisierung eine Bauernbefreiung, indem der Bauer nun voller Eigentümer seines Besitzes wurde. Dagegen verlor der

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Adel sein Obereigentum und viele seiner bisherigen Einkünfte. Aber der Adel konnte auch gewinnen, nämlich dort, wo er landsässig war und seinen Besitz selbst bewirtschaftete; hier war er nun selbst gewissermaßen in der Position der Bauern und konnte die feudalen Lehensbindungen abstreifen. Schon 1974 hat Weitz dazu aufgrund der preußischen Adelsmatrikel gezeigt, dass dies zu einer Zweiteilung der rheinischen Adelspräsenz führte. Während am Niederrhein der dort landsässige Adel sogar noch gestärkt wurde und seinen Lehensbesitz nun zu vollem Eigentum erhielt, wurde am Mittelrhein der hier reichsunmittelbare Adel in einem Großteil seines Besitzes und seiner Einkünfte getroffen. Auch wenn man die unterschiedliche Adelsdichte im 18. Jahrhundert mit berücksichtigen muss, bleibt der Unterschied frappierend. Die südlichen Rheinlande wurden mit der französischen Besetzung weitgehend ein Land ohne Adel, und lediglich im fruchtbaren Mayfeld gab es auch danach noch einen nennenswerten Adelsbesitz. Darüber hinaus hatte die Entfeudalisierung auch noch weitergehende Folgen. Sie hob auch sonstige Privilegierungen auf. Mit der Inkraftsetzung des Gesetzes vom 19. Juni 1790 wurde der Adel als rechtliche Institution aufgehoben, und mit der Inkraftsetzung des Gesetzes vom 17. Juni 1791 verloren auch die ständischen Korporationen wie insbesondere die Zünfte ihren Rechtsstatus. Schließlich ist auch noch die völlige Erneuerung der staatlichen Verwaltung hinzuzunehmen, auch wenn sich hier die kriegerische Eroberung mit dem Import des französischen Verwaltungssystems verbindet. Die Folge war aber eindeutig: Alle Verwaltungsfunktionen der Reichsstände auf dem linken Rheinufer waren aufgehoben. Was bedeutete das nun auf der lokalen Ebene und zumal im Fall einer Stadt wie Koblenz? Koblenz war die Residenzstadt eines geistlichen Kurfürsten mit einer Bevölkerung von 8.000 bis 9.000 Einwohnern. Der kurfürstliche Hof, das waren der Kurfürst und sein Hofstaat, das waren auch die Regierung und die Verwaltungen, und das waren schließlich noch der weitere Kreis von Advokaten, Notaren und anderen auf den Hof ausgerichteten Professionen. Schon allein für diesen Personenkreis ist mit einem Anteil des Hofes an der Gesamtbevölkerung von fast einem Viertel zu rechnen. Es handelte sich also um einen großen Hof in einer kleinen Stadt. So ist es auch verständlich, dass der Hof weit über den direkt dazu gehörigen Personenkreis die Stadtgesellschaft dominierte. Der Hof war ein Wirtschaftsmagnet. Deutlich ist auch die gesellschaftliche Anziehungskraft des Hofes. Ziel des gesellschaftlichen Aufstieges in der Stadt war nicht so sehr der Eintritt in die städtischen Eliten, sondern die Einnahme städtischer Funktionen war bestenfalls ein Zwischenschritt, um das eigentliche Ziel zu erreichen,

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nämlich den Eintritt in die Hofgesellschaft des Kurfürsten sowie in dessen Regierung und Verwaltungen. Dies alles endete plötzlich mit der Flucht des Kurfürsten am 5. Oktober 1794. Das war ein Exodus großen Ausmaßes, auch wenn man nicht ganz genau beziffern kann, wie groß der dadurch eingetretene Bevölkerungsverlust der Stadt war. Wichtiger als der numerische Bevölkerungsverlust waren auch die strukturellen Folgen des Residenzverlustes. Ein Staat war zusammengebrochen. Das konnte nicht ohne Folgen für die ihn maßgeblich stützenden Schichten bleiben, darunter insbesondere für den Adel. In Mainz ist die ehemalige Adelsdominanz noch heute im Stadtbild sehr präsent. In Koblenz ist das nicht mehr der Fall, obwohl auch hier einst mit 21 gefreiten Adelssitzen eine ganz ähnliche Struktur bestand. Nur waren es weniger die Erthal, Schönborn oder Ostein etc., sondern eher die v. d. Leyen, Eltz oder Bürresheim etc. Aber es ist die gleiche Standesgruppe, wenn auch im 18. Jahrhundert wohl nur die Bassenheim in beiden Städten zugleich mit Häusern vertreten waren. Es ist also die Reichsritterschaft, die mit ihren Stadtpalais die gesellschaftliche Szene beherrschte. Gestützt auf ihren Grundbesitz und ihre +HUUVFKDIWVUHFKWHEHVHW]WHVLHGLH+RIlPWHUXQG2I¿]LHUVVWHOOHQDPNXUfürstlichen Hof und lebte vor allem von ihrer Symbiose mit der Reichskirche, die ihr die Sitze in den mittelrheinischen Domkapiteln fast exklusiv reservierte. In der Stadt Koblenz selbst war sie durch den Oberamtmann präsent, der zuletzt ein Breidbach-Bürresheim war. Diese Herrlichkeit endete nun abrupt mit der französischen Beset]XQJ'HUDOOHUJU|‰WH7HLOGHVULWWHUVFKDIWOLFKHQ$GHOVÀRK'LHIUDQ]|VLVFKH9HUZDOWXQJEHKDQGHOWHGLH*HÀRKHQHQQDFKGHUIUDQ]|VLVFKHQ(PLJUDQWHQJHVHW]JHEXQJ NRQ¿V]LHUWH LKUHQ %HVLW] XQG QDKP VLFK YRQ GHQ Stadtpalais, was sie brauchte für Mairie (Eltz-Kempenich), Präfektur /H\HQ  *HQGDUPHULH 6DI¿J  6WDGWNRPPDQGDQWXU .HUSHQ  5HFKWVschule (Metternich). Das war spektakulär, trifft aber nicht den Kern der Entfeudalisierung. Nach der völkerrechtlichen Legalisierung der Annexion durch den Frieden von Lunéville von 1801 wurde nämlich die Beschlagnahme des Adelsbesitzes durch Arrêté der Konsuln vom 11. Mai 1804 neu geregelt. 'HU$GHOHUKLHOWVHLQHNRQ¿V]LHUWHQ*WHU]XUFNZHQQHULQGHQUKHLQLschen Departements oder sonst in Frankreich Wohnsitz nahm, oder er konnte sie binnen einer Dreijahresfrist verkaufen. Auch in Koblenz wurden nun fast alle Stadtpalais den reichsritterschaftlichen Familien wieder zurückgegeben. Einige Adelige haben dann auch in der napoleonischen Notabeln-Gesellschaft wieder Repräsentati-

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onsaufgaben wahrgenommen, so ein Boos von Waldeck als Präsident des Departementwahlkollegiums, Mitglied des Generalrates und Mitglied der Ehrenlegion oder ein Eltz-Rübenach als Mitglied der Stadtverwaltung und als Maire von Koblenz. Auffällig ist aber, dass in Koblenz und zumindest den südlichen rheinischen Departements die für Innerfrankreich unter Napoleon konstatierte Rearistokratisierung der Gesellschaft nicht eintritt. Die genannten ehem. ritterschaftlichen Notabeln sind Ausnahmefälle, während sonst die Ritterschaft ihren Immobilienbesitz in Koblenz früher oder später verkauft, sich auf ihre Landsitze zurückzieht oder nach Österreich-Ungarn abwandert. Auch in preußischer Zeit tritt der alte Adel nur selten wieder in der Beamtenschaft auf, kehrt aber auch jetzt nicht wieder in die Stadt zurück. Wenn im heutigen Stadtbild von Koblenz nur noch ganz wenige ehem Adelspalais erhalten sind (Bürresheimer Hof am Florinsmarkt, Eltz-Rübenacher Hof, die heutige Stadtbibliothek, und der Heddesheimer Hof im Entenpfuhl sowie der Metternicher Hof am Münzplatz), so sind dafür kaum Zerstörung im letzten Krieg und/oder folgender Abriss zugunsten der Stadtmodernisierung verantwortlich zu machen. Dies war nämlich nur der Endpunkt des Phänomens. Begonnen hatte die Liquidierung der alten Adelssitze vielmehr schon mit den Verkäufen unter dem Empire, die sich dann im weiteren 19. Jahrhundert kontinuierlich fortsetzten. Aber es ist überhaupt die Frage, wie groß die Symbiose des Adels mit der Stadtgesellschaft auch vor 1794 gewesen war. Die Stadtpalais zeugen vor allem von einer symbolischen Präsenz in der Stadt. Sicher war es auch eine gesellschaftliche Präsenz, aber die betraf mehr den Hof als die Stadt. Dagegen war die eigentliche Symbiose von Adel und Stadt eher klein, und so kann man aus der Perspektive einer städtischen Gesellschaftsgeschichte schon fragen, ob das Ende der reichsritterschaftlichen Adelspräsenz wirklich ein so großer Einschnitt für die Stadt gewesen ist. Das gilt freilich nicht in gleicher Weise für die Präsenz des Amtsadels sowie auch der sonstigen höheren Beamtenschaft und der akademischen Berufe. Sie hingen wirklich am Tropf des Hofes und hatten deshalb große Schwierigkeiten, das Ende des Kurstaates zu verkraften. Im Gegensatz zu dem reichsritterschaftlichen Adel, der vor allem repräsentative Funktionen in Verwaltung und Armee ausübte, trugen Amtsadel und höhere Beamtenschaft tatsächlich Regierungs- und Verwaltungsarbeit. Nach einer Zugehörigkeit von mehreren Generationen zur kurfürstlichen Beamtenschaft konnte Inhabern von Spitzenämtern der erbliche Adel verliehen werden, so im Fall der Coll, der Hommer, der Hontheim, der Lassaulx etc. Dabei war der Amtsadel in Koblenz nur unwesentlich größer als der ritterschaftliche Adel, so dass der Adel in der Stadt insgesamt etwa 45 Familien

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umfasste. Dagegen bestanden die höhere Beamtenschaft aus 93 Familien und die sonstigen akademischen Berufe nochmals aus 56 Familien. $XFKYRQ$PWVDGHOXQGK|KHUHU%HDPWHQVFKDIWÀRKHLQ7HLOPLW dem Kurfürsten. Das betraf aber besonders die Inhaber der höchsten Ämter, während die sonstigen Beamten vor Ort blieben und nun sehen mussten, wie sie ohne Hof und Regierung durchkamen. Trotz dieser höheren Präsenz in der Stadt ist aber der Anteil der ehemaligen höheren Beamten an den napoleonischen Notabeln doch recht begrenzt. Von Angehörigen GHU)DPLOLHQGHVHKHPDOLJHQ$PWVDGHOV¿QGHWVLFKQRFKHLQ&DURYpLQGHU Finanzverwaltung, ein Lassaulx als Dekan der Rechtsschule und ein Linz in Justizfunktionen. Auch von den Angehörigen der sonstigen höheren BeDPWHQIDPLOLHQ¿QGHQVLFKHLQLJH0LWJOLHGHUYRUDOOHPLQGHU-XVWL]GHU Anwaltschaft und im Notariat wieder und bekleiden auch Ehrenämtern in der Munizipalverwaltung (Burret, Cadenbach, Mähler, Nell, Schmitz etc.), so dass die Verbindung mit den freien akademischen Berufen wieder stärker hervortrat. Alles in allem bedeutet dies keine sehr große Kontinuität. Insgesamt machen reichsritterschaftlicher Adel, Amtsadel, höhere Beamtenschaft und freie akademische Berufe mit etwa 200 Familien gut 10% der Bevölkerung aus. Die Entfeudalisierung bedeutete für sie einen Verlust der gesellschaftlichen Stellung und eines Teils des Vermögens sowie den Verlust des Brotberufes. Neue Berufsmöglichkeiten ergaben sich hier vor allem in der Justiz und deren Umfeld. In der sonstigen Verwaltung ist dagegen die direkte Kontinuität von der kurfürstlichen zur französischen Verwaltung sehr viel geringer. Abgesehen von wenigen Ausnahmen hat deshalb die Entfeudalisierung durch die französische Besetzung vor allem die alten kurfürstlichen Gesellschafts- und Verwaltungs-Eliten stark getroffen. 3. Säkularisation und Kirchenpräsenz Die altständische Gesellschaft von Koblenz wurde außer durch die Entfeudalisierung vor allem durch die Säkularisation verändert. Die Säkularisation ist viel genauer zu fassen als die Entfeudalisierung, außer vielleicht, GDVVGHU%HJULIIHLQHGHXWVFKH%LQQHQGH¿QLWLRQLVWXQGLQ)UDQNUHLFKZHder im zeitgenössischen Recht erscheint noch in der heutigen Historiographie rezipiert wurde und immer nur als Nationalisierung bezeichnet wird. Die Durchführung erfolgte durch einen besonderen Arrêté der Konsuln vom 9. Juni 1802 und damit erst nach Inkrafttreten des Konkordates zum Osterfest 1802. Damit wurden alle geistlichen Institutionen, außer den Bischofssitzen, den Domkapiteln und den Pfarreien aufgehoben und ihr Ver-

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mögen zugunsten des Staates eingezogen. Ausgenommen waren auch alle JHLVWOLFKHQ.RUSRUDWLRQHQGLHDXVVFKOLH‰OLFKGHU.UDQNHQSÀHJHRGHUGHP Unterricht dienten, doch spielten diese faktisch kaum eine Rolle. Auch die Stadt Koblenz war stark von geistlichen Institutionen geprägt. Hier befanden sich: eine geistliche Herrschaft (Deutscher Orden), zwei Stifte (St. Florin, St. Kastor), fünf Klöster (Dominikaner zweimal, Franziskaner, Karmeliter, Kartäuser) sowie außerdem verschiedene Höfe von auswärtigen Klöstern. Alle diese Institutionen wurden aufgehoben und ihr Besitz als Nationalgut verstaatlicht und dann versteigert. An einer staatlichen Eigennutzung war der französische Fiskus trotz zahlreicher lokaler Anfragen nicht interessiert, da dies keine Rendite erbrachte. Insofern bildet der ehemalige Immobilienbesitz der innerstädtischen sowie der auswärtigen Klöster den allergrößten Teil der 337 Nationalgüterversteigerungen für Koblenz. Die Klostergebäude wurden vielfach zunächst profan genutzt, dann aber früher oder später meist niedergelegt. Der sonstige Immobilienbesitz wurde anderweitig genutzt. Die Forschung über die Nationalgüterversteigerung hat dazu vor allem statistische Studien angestellt, weniger aber die lokalen Besitz- und Nutzungsumschichtungen verfolgt, die, ausgehend von den Nationalgüterversteigerungen, weiter über Notariat und Kataster zu untersuchen wären. So können nur einige Schlaglichter aus der Literatur der DenkmalSÀHJH JHZRUIHQ ZHUGHQ (LQH NLUFKOLFKH .RQWLQXLWlW JDE HV QXU GD ZR neue kirchliche Nutzungsmöglichkeiten gefunden wurden. Vielfach dienten die solideren Klosterkirchen nun als Gemeindekirchen, wobei man nicht selten die baulich weit weniger anspruchsvollen alten Gemeindekirchen abriss (z.B. in Köln). So wurde auch in Koblenz die ehemalige Stiftskirche St. Kastor zur katholischen Gemeindekirche und etwas später die Stiftskirche St. Florin zur evangelischen Gemeindekirche. Darüber hinaus fanden in preußischer Zeit ehemalige Klosterkirchen auch als Militärkirchen Verwendung, und zwar die Kirche des Karmeliterklosters als katholische Militärkirche und die Schlosskirche als evangelische Militärkirche. Schließlich war schon vor 1794 die Jesuitenkirche zur Annexkirche von St. Kastor geworden. Trotz Profanisierung gab es zumindest eine städtebauliche Kontinuität, bei der die Gebäude erhalten blieben, und zwar dort, wo Klöster durch die öffentliche Hand weiter genutzt wurden. Das betraf zunächst die Stadt Koblenz selbst, die das ehemalige Franziskanerkloster als städtisches Hospital nutzte. Das betraf auch den preußischen Staat. Er nutzte die Gebäude der Deutschordenskommende zunächst als Militärmagazin und richtete dort später sein Staatsarchiv ein. Außerdem wurden in dem ehemaligen Dominikanerkloster das Militärlazarett eingerichtet und das Karmeliterkloster als Gefängnis genutzt.

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Wenn deshalb heute die gesamte alte städtische Klosterkultur im Stadtbild komplett verschwunden ist, so ist das auch in diesem Fall nicht nur eine Folge der Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges und/ oder der folgenden Abrisse zugunsten der Stadtmodernisierung. Krieg und Wiederaufbau vernichteten nämlich nur noch die letzten baulichen Hüllen, in denen längst eine säkulare Nutzung eingezogen war. Die nicht mehr kirchlich genutzten Gebäude waren vielmehr schon ab Anfang des 19. Jahrhunderts verschwunden. Darüber hinaus hatte es schon in kurfürstlicher Zeit erste Klosteraufhebungen gegeben. Das betraf die Dominikanerinnen in der Weißergasse sowie die Jesuiten mit ihrem Gymnasium. Überhaupt zielte die aufgeklärte kurfürstliche Politik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts darauf ab, die Klöster zu reglementieren und ihre Neurekrutierung einzuschränken, dafür aber ihre Einkünfte und ihr Vermögen stärker für den Staat heranzuziehen. Selbst in einem geistlichen Staat wie Kurtrier folgte man also der antiklösterlichen Politik der Zeit. Das erklärt auch, warum es in nachfranzösischer Zeit in Koblenz keine Neubesiedlung der alten Klöster mehr gegeben hat. Zwar ist auch heute Koblenz keine Stadt ohne Klöster, aber die heutigen Klöster sind Neugründungen ab der zweiten Hälfte GHV-DKUKXQGHUWVXQGEH¿QGHQVLFKPHLVWDQGHU3HULSKHULHGHU6WDGW Eine Wiederbesiedelung säkularisierter Klöster hat es nur in einem Fall gegeben, nämlich bei den Kapuzinern im (rechtsrheinischen) Ehrenbreitstein, die 1861 das erst 1813 säkularisierte Kloster zurückerwarben. Die Klöster waren somit aus dem Stadtbild verschwunden, und auch hier kann man wie schon beim Adel sagen, dass dies die städtische Gesellschaft gar nicht so sehr betraf. Die großen Stifter waren geistliche Herrschaften, die ihre Besitzungen außerhalb der Stadt hatten. Die kleineren Klöster waren in geistlicher Hinsicht wenig auffällig. Ihre schulischen Aufgaben (Jesuiten) und ihre karitativen Dienste (Hospitäler) waren schon kommunalisiert worden oder wurden nun kommunalisiert. Selbst auf den OHW]WHQ=ZHFNGHU.O|VWHUDOVVFKLFKWHQVSH]L¿VFKH9HUVRUJXQJVDQVWDOWHQ lernte man bald zu verzichten. So ist das Ausbleiben einer Neubesiedlung im 19. Jahrhundert ein deutlicher Hinweis darauf, dass man die alten Klöster eigentlich nicht mehr in der Stadt brauchte. 4. Bürgertum jenseits von Entfeudalisierung und Säkularisation So einschneidend die revolutionären Maßnahmen der Aufhebung von Adel, feudaler Grundherrschaft und Klöstern auch waren, so kann doch festgestellt werden, dass die Stadt ohne Adel und ohne Klöster faktisch schon im 18. Jahrhundert vorgeprägt war. Die französische Besetzung ra-

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dikalisierte mit Entfeudalisierung und Säkularisation nur eine schon eingeleitete Entwicklung, machte sie freilich damit auch unumkehrbar. Was wurde nun aber aus einer Stadt ohne Adel und geistliche Korporationen? Was bedeuteten Entfeudalisierung und Säkularisation über die (negative) Aufhebung von Adel und Klöstern hinaus nun (positiv) für die städtische Gesellschaft? Dies soll noch dargestellt werden. Die Studien von François und Müller zeigen dazu eine interessante Kongruenz. François analysiert Koblenz am Ende des Alten Reiches als eine korporative, traditionale und katholische Gesellschaft, die aus der Kernschicht eines mittleren Kleinbürgertums von Handwerkern und kleiQHQ .DXÀHXWHQ EHVWDQG =XVDPPHQJHKDOWHQ ZXUGH GLHVH *HVHOOVFKDIW durch drei Prinzipien: 1. das Bürgerrecht, das den Zugang zur Rechtsgemeinschaft der Stadt kontrollierte; 2. das Zunftsystem, das die Verteilung der Nahrungsgrundlage kanalisierte und die Probleme der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung durch soziale Abschließung und Verteidigung der Privilegien beantwortete; 3. den tridentinischen Katholizismus, der die innere Identität der GesellVFKDIWGH¿QLHUWHXQGLKUH$EVFKOLH‰XQJQDFKDX‰HQEHJUQGHWH Alle drei Klammern wurden nun durch die französische Annexion gesprengt, wie Müller die Analyse fortführt: 1. Das städtische Bürgerrecht wurde aufgehoben und durch ein egalitäres Staatsbürgerrecht ersetzt. Die Stadtgemeinde war nicht länger eine besondere Rechtsgemeinschaft, sondern eine Einwohnergemeinde innerhalb eines nationalen Staates, in dem jeder Staatsbürger eine freie Zuzugsmöglichkeit hatte, die allein durch eine nationale Passgesetzgebung, nicht aber durch ein lokales Bürgerrecht beschränkt war. 2. Das Zunftsystem wurde ebenfalls aufgehoben. Zur Ausübung auch von bisher zünftigen Berufen bedurfte es keiner Aufnahme in eine Zunft mehr. Eine einfache Anmeldung zur Gewerbesteuer in Form der Patente genügte für die Berufsausübung. Damit herrschte nun Gewerbefreiheit, die an keine ständischen Beschränkungen mehr gebunden war. 3. Der Katholizismus verlor seine privilegierte Ausschließlichkeit und war mit den anderen christlichen Konfessionen nun gleichgestellt. Es galt nun Religionsfreiheit. Die französische Annexion bedeutete somit das Ende der Stadt als geschlossener Rechtsgemeinschaft mit rechtlicher Abschließung nach außen, ständischer Gliederung nach innen und einer identitätsstiftenden Konfession. Damit aber war nun das soziale Gefüge der Stadt in Frage

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gestellt, dessen Funktionieren ja ganz wesentlich auf der städtischen und korporativen Kontrolle über den Zugang zur Stadt und den innerstädtischen Funktionen beruht hatte. Dagegen wurde dieses Sozialgefüge der Stadt nun von Faktoren bestimmt, die nur noch bedingt von der Stadt selbst zu kontrollieren waren. Potentiell konnte jeder (französische) Staatsbürger nach Koblenz einwandern und hier seinen Beruf ausüben, und auch die Religion war kein Ausschließungsgrund mehr. Wie reagierte nun die Stadt als Ganzes und in ihren einzelnen Schichtungen auf die neue rechtliche und gesellschaftliche Lage? 4.1. Beamte und freie Berufe Trotz des Verlustes des kurfürstlichen Hofes und trotz der nur geringen Kontinuität bei den ehemals führenden Beamtenfamilien verlor Koblenz mit der französischen Annexion nicht seine Verwaltungsfunktion. Als Departementshauptstadt mit Präfektur und höheren Gerichten sowie der Rechtsschule blieb Koblenz eine Verwaltungsstadt. So bildete sich eine neue Beamtenschicht heraus, die etwa die gleiche Stärke wie die im Alten Reich erreichte, nun aber zum größten Teil aus neuem Personal bestand. Viele waren natürlich Franzosen, besonders in der allgemeinen Verwaltung und in den Domänen- und Steuerverwaltungen. Dagegen gab es auch viele Einheimische in der Justiz und einigen Fachverwaltungen sowie in der Munizipalität und den Wahlkollegien, wenn man diese zur Verwaltung zählen will. Betrachtet man dieses Personal aus der Perspektive der französischen Zeit (Faber), so sieht man eine große Kontinuität von vorfranzösischen Beamten besonders in der Justiz. Wählt man dagegen die umgekehrte Perspektive und fragt nach der Kontinuität von vorfranzösischen Beamten in der Zeit nach der Annexion, so erscheint die Kontinuität weit weniger groß und ist um so kleiner, je höher die ehemaligen Positionen in der Verwaltungshierarchie gewesen waren. Die früheren Spitzenbeamten ZDUHQPLWGHP.XUIUVWHQJHÀRKHQ$EHUDXFKGLHK|KHUHQ%HDPWHQGLH in Koblenz geblieben waren, wie z.B. die meisten Hofkammerräte, kehrten meist nicht mehr in öffentliche Ämter zurück, sondern mussten sich mit anwaltlichen Funktionen begnügen, so z. B. auch der ehemalige Syndikus der kurtrierischen Landstände Peter Ernst Lassaulx. Das war nicht nur eine Notlösung, denn das französische Recht bot Anwälten und Notaren durchaus größere Betätigungsfelder als das Rechtssystem des Alten Reiches. Größer ist dagegen die Kontinuität, wenn man nicht die Personen, sondern die Familien betrachtet. Hier erkennt man, dass die deutschen Beamten der französischen Verwaltung vor allem junge Beamte waren, die vor der Besetzung gerade die Universität absolviert oder gerade

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erst Anfangspositionen in der kurfürstlichen Verwaltung übernommen hatten. Viele kamen auch aus der Anwaltschaft, d. h. aus Familien, die erst auf einen sozialen Aufstieg in Fürstennähe gewartet hatten. .DXÀHXWH $EJHVHKHQ YRQ $GHO XQG .LUFKH ELOGHWHQ .DXÀHXWH XQG 8QWHUQHKPHU schon im 18. Jahrhundert die wirtschaftliche Oberschicht der Stadt. Dabei waren sie mit ca. 10% der städtischen Bevölkerung fast genau so groß wie die leisure class aus Verwaltung und Kirche. Überregional waren die KoEOHQ]HU.DXÀHXWHXQG8QWHUQHKPHU]ZDURKQHJU|‰HUH%HGHXWXQJDEHU lokal bildeten sie die Führungsschicht und besaßen durch ihre Stellung im Stadtrat eine Machtposition. Noch der Kleinhandel war einträglicher als das meist überbesetzte Handwerk. Andererseits waren aber auch erste Unternehmer erfolgreicher als der Handel in Form des Lokalhandels. Trotzdem bestand die traditionelle Interessenwahrnehmung der Kaufleute in der Verteidigung ihrer Handelsprivilegien gegenüber Handwerk, -XGHQXQG(LQZDQGHUHUQGLHDOOHLQGHQ.DXÀHXWHQGHQ+DQGHOPLWEHstimmten Waren erlaubten. Doch bereits vor der Französischen Revolution wurde diese Privilegierung durch Einwanderung aufgelockert. Schon seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts arbeiteten italienische Handwerker XQG.DXÀHXWHPLWHLQHUEHUUHJLRQDOHQ9HUQHW]XQJLQGHU6WDGWXQGGDV 7ROHUDQ]HGLNWYRQKDWWHHLQLJHSURWHVWDQWLVFKH.DXÀHXWHLQGLH6WDGW gebracht. 6R YHUZXQGHUW HV QLFKW LQ .DXÀHXWHQ XQG 8QWHUQHKPHUQ VR ORNDO beschränkt ihr Aktionsradius auch war, die eigentlichen Revolutionsgewinner zu erkennen. So laut auch von den Städten mit Stapelrecht (Mainz, Köln) die Klage über die Verlegung der Zollgrenze an den Rhein und die Handelsbeschränkungen durch die Kontinentalsperre geführt wurde, so deutlich brachte die wirtschaftliche Abtrennung der linksrheinischen Departements vom rechtsrheinischen Deutschland und die Protektion des ganzen napoleonischen Europas gegen die englische Warenproduktion auch Vorteile. Über den bisher dominierenden lokalen Versorgungshandel KLQDXVNRQQWHQGLH.DXÀHXWHLKU+DQGHOVVSHNWUXPXQGLKUHQ$NWLRQVUDdius erweitern, was auch Chancen für Newcomer bot. Zu nennen wären etwa die Weinhandlung von Deinhard, die noch heute als Marke existiert, die Tabakhandlungen von Tesche und Wencelius sowie der Kolonialwarenhandel und die Kommissionsgeschäfte von Korn und Schaffhausen. Noch stärker war der Aufschwung von Unternehmen, die nun unabhängig von der englischen Konkurrenz für den französischen Markt produzieren konnten, so die Blechwarenfabrik der Gebrüder Fink,

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GLHDEXQWHUGHP1DPHQ6FKDDIKDXVHQXQG'LHW]¿UPLHUWHXQGDXFK noch bis in den Ersten Weltkrieg existierte. Hier wurden Gebrauchsgegenstände für gehobene Ansprüche wie Bildtafeln, Bildtabletts, Ofen- und Wandschirme bis hin zu Kaffeegeschirr, Kleinmöbeln und Lampen hergestellt, alles fein lackiert, mit Mustern aus Flora und Fauna verziert und oft auch mit Repliken zeitgenössischer rheinischer Landschaftsmalerei geschmückt, wie sie in einer kürzlichen Ausstellung des Mittelrhein-Museums in Koblenz zu sehen waren. Daneben betrieben die Unternehmer Seiffert, Schneider und Milz mehrere Bekleidungsmanufakturen. Erst als zusätzlicher Geschäftszweig kamen dann die Nationalgüterverkäufe hinzu, an denen sich viele Vertreter der Koblenzer Wirtschaftselite als Händler und Vermittler beteiligten (Seligmann Vater und Sohn, Lenz, Lallier, Burkard, Dahl, Linz etc.) und bei denen sie umfangreiche Finanzinvestitionen weit über die Stadt Koblenz hinaus tätigten. Auch wenn diese Wirtschaftsaktivitäten nicht immer von langer Dauer waren und überhaupt in dieser Zeit noch keine sehr starke Branchentrennung herrschte, ist ein take-off in den napoleonischen Friedensjahren deutlich erkennbar, der sich vor allem in der Zunahme der Stadtbevölkerung PDQLIHVWLHUWH.DXÀHXWHXQG8QWHUQHKPHUELOGHWHQVRHLQHQHXHVWlGWLVFKH Elite, die nicht mehr im Schatten von Adel, Beamtenschaft und Klerus stand. Sie konnte die Zeit von 1794–1814 als eine regelrechte Gründerzeit (Müller) zu vielen dynamischen Neugründungen nutzen. Der Gewinn an Vermögen und wirtschaftlichem Status war in der Regel stark genug, um auch die Krise der Trennung von Frankreich nach dem Zusammenbruch des Napoleonischen Empires zu überstehen und sich in dem neuen Wirtschaftsraum Preußen umzuorientieren. Führte so auch in der Regel keine direkte Verbindung von den wirtschaftlichen Dynamik in der napoleonischen Zeit zur industriellen Gründerzeit des neuen Deutschen Reiches nach 1871, so sollte die Gewinnung und Konzentration von Kapitalien nicht unterschätzt werden, die in den napoleonischen Jahren in den rheinischen Städten möglich war. 4.3. Handwerk Die Handwerker waren mit einem Anteil von 40% die größte Bevölkerungsgruppe in der Stadt. Mit ihrer zünftigen Ordnung, ihrem ausgeprägten Korporatismus und ihrem religiösen Brauchtum bildeten die Handwerker im 18. Jahrhundert die eigentliche Stadt, auch wenn sie in Koblenz die städtische Politik schon lange nicht mehr kontrollierten und die politische Repräsentanz einer abgegrenzten Oligarchie hatten überlassen müssen. Gerade diese politische Ausgrenzung des Handwerks zeigt aber seine

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Schwäche schon vor der Französischen Revolution. Der wirtschaftliche Raum des Handwerks wurde von mehreren Seiten in die Zange genommen. Das Produktionsmonopol der Zünfte war gebrochen, nachdem in den Umlandgemeinden in verschiedenen Branchen Produktionen im Verlagssystem entstanden waren (dies betraf die Spinner, Weber und Gerber). Auch in der Stadt selbst war das Handwerksmonopol der Zünfte bedroht. Der Adel in seinen Freihöfen und der Klerus konnten unzünftige Handwerker an den Zünften vorbei anstellen, und neue Berufe insbesondere im Luxushandwerk und im Bauhandwerk hatten sich außerhalb der Zünfte entwickelt. Das größte Problem der Zünfte war aber ihre Überbesetzung. Längst waren im Laufe des 18. Jahrhundert die demographischen Verluste der Kriege des 17. Jahrhunderts ausgeglichen worden. Vielmehr zeigte sich ein zunehmender Bevölkerungsdruck, der immer mehr Menschen in die Städte drängte und den hier vornehmlich das Handwerk zu verkraften hatte. Das führte zu einer chronischen Überbesetzung der meisten Gewerbe (Schneider, Schuster, Weber), wobei immer mehr Meister sich einen immer kleineren Kundenkreis teilen mussten. Am schlimmsten hatte es das Transportgewerbe von Fuhrleuten und Schiffern getroffen, deren Zunftmitglieder schon fast zur Unterschicht zu zählen waren. Nur einige Nahrungsmittelgewerbe (Bäcker, Metzger) hatten sich von dieser Entwicklung abkoppeln können und erfreuten sich somit bei einer sogar wachsenden Kundschaft eines relativen Wohlstandes. Dabei ist nicht ganz klar, worauf diese vorteilhafte Sondersituation beruhte. Eine Drosselung der Einwanderung kommt als Grund nur für die Metzger in Frage, die in der Tat eine indigene Mehrheit hatten. Dagegen waren die Bäcker mehrheitlich Zugewanderte. Bei dieser Lage konnten die französischen Reformen nur eine Verschärfung der Krise bringen. War schon der Residenzbau in Koblenz an den Zünften vorbeigegangen, so zählten die Zünfte auch zu den Verlierern der französischen Liberalisierung. Die Verteidigung der eigenen Interessen durch Abschließung und Festhalten an den alten zünftigen Strukturen, die schon im Alten Reich nicht mehr richtig geholfen hatte, brachte bei der neuen französischen Wirtschaftsverfassung mit Freizügigkeit und Gewerbefreiheit noch viel weniger Erfolg. Aber egal, ob mit oder ohne die französischen Reformen, die Probleme des beginnenden Pauperismus waren mit den Mitteln der Zeit kaum zu lösen, und ganz unrational war das Verbarrikadieren in den alten Strukturen auch nicht. Wenn in Koblenz die Seiler und Fassbinder ihre Zünfte als illegale Privatorganisationen fortführten, konnten sie doch zumindest eine soziale Struktur aufrechterhalten, die einen gewissen Schutz gegen absolute Armut bot.

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4.4. Unterschichten Solche sozialen Netzwerke hatten die Unterschichten nicht, die zumindest ebenso durch ihre materielle Armut wie durch ihre soziale Amorphie gekennzeichnet waren. Tagelöhner, Dienstboten und Aushilfen, alleinstehende Witwen und Juden sowie andere am Rande der städtischen Gesellschaft lebende Personen waren in der napoleonischen Zeit zahlenmäßig deutlich angewachsen und dürften dann ebenfalls etwa 40% der Bevölkerung ausgemacht haben. Diese Zunahme war vor allem durch Zuwanderung zustande gekommen. Als Ortsfremde, die vielfach nur auf Zeit in der Stadt arbeiteten, um dann wieder in ihre Herkunftsgemeinden zurückzukehren, waren sie nicht scharf von ständig vagabundierenden Personen zu trennen, die das eigentliche Armutsproblem der Zeit darstellten. Statistisch lässt sich zwar noch ein gewisser Unterschied zwischen den Jahreseinkommen der Handwerker (800 Francs) und der UnterschichWHQ  )UDQFV  HUUHFKQHQ IDNWLVFK VLQG DEHU GLH hEHUJlQJH ÀLH‰HQG besonders nach unten. Handwerker konnten leicht in Armut fallen, und bei einigen Gewerben war diese Gefahr besonders groß (Schiffer, Fuhrleute, Gärtner, Winzer). Entfeudalisierung und Säkularisation hatten die Probleme auch hier eher noch verschärft, indem der abgewanderte Adel und die aufgehobenen Klöster keine Armenhilfe mehr leisten konnten. Dafür gab es nun zwar eine öffentliche Armenhilfe, aber deren materielle Möglichkeiten waren deutlich geschrumpft, so dass in der Regel nur die polizeiliche Disziplinierung blieb. 5. Ergebnis Kommen wir zum Schluss zu unserer Ausgangsfrage zurück: Inwieweit wurde der Weg der städtischen Gesellschaft in das bürgerliche 19. Jahrhundert durch Entfeudalisierung und Säkularisation bestimmt? Ohne Zweifel haben Entfeudalisierung und Säkularisation in den linksrheinischen Städten wie Koblenz sehr viel schneller und umfassender HLQH QHXH EUJHUOLFKH (OLWH DXV %HVLW]EUJHUWXP .DXÀHXWHQ 8QWHUQHKmern, freien Berufen und Beamten installiert, als dies zeitgleich in den rechtsrheinischen Städten der Fall war. Ohne Konkurrenz durch den Adel und seine Privilegien konnten sie von den neuen wirtschaftlichen MögOLFKNHLWHQLQ+DQGHOXQG*HZHUEHSUR¿WLHUHQXQGGXUFKGLH1DWLRQDOJterverkäufe weitere Vermögenswerte akkumulieren. Darüber hinaus gab ihnen auch der napoleonische Staat die Möglichkeit zu einer breiten gesellschaftlichen Etablierung. Das Instrument der Meistbesteuertenlisten

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steckte den Rahmen der wirtschaftlich erfolgreichen Spitzengruppe ab, aus deren Reihen die Repräsentationsämter besetzt wurden. Es ist das napoleonische System der Notabeln, das Grundbesitz und wirtschaftlichen Erfolg mit gesellschaftlichem Ansehen honorierte. Dieses System war in Koblenz besonders stark ausgeprägt, indem hier übereinstimmend für die letzte Meistbesteuertenliste von 1813 wie für die Partizipation im Munizipalrat eine Gruppenverteilung von 60% BesitzEUJHUWXP DXV *UXQGHLJHQWPHUQ .DXÀHXWHQ XQG 8QWHUQHKPHUQ VRZLH von 30% an Bildungsbürgern aus freien Berufen und Beamten, aber nur von 10% Handwerkern galt. Das verweist auf die Kehrseite des Notabelnsystems. Handwerker und Unterschichten, die zusammen immerhin 80% der städtischen Gesellschaft ausmachten, nahmen an dieser Elitenentwicklung nicht teil. Für sie hatten sich die Rahmenbedingungen bei Fortbestehen des demographischen Druckes eher verschlechtert, und beide waren von dem Notabelnsystem ausgeschlossen. Die Trennung zwischen den Notabeln und den Mittel- und Unterschichten war in Koblenz besonders krass, weil die Protomodernisierung des aufgeklärten Absolutismus mit Schlossbau und städtischer Modernisierung hier schon vorgearbeitet hatte. Das bestätigt sich auch aus der Gegenperspektive. Säkularisation fand zeitgleich mit den linksrheinischen Departements durchaus auch im rechtsrheinischen Deutschland statt. Allerdings behielt hier der Staat den bäuerlich genutzte Grundbesitz der Klöster als Domänenbesitz in eigener Verwaltung, so dass eine Versteigerung des Klosterbesitzes wie in den linksrheinischen Departements nicht stattfand, mit der alleinigen Ausnahme von Bayern. Der Staat wurde so zu einem bedeutenden Grundherrn. Das nützte den Bauern allerdings nur wenig, denn eine Entfeudalisierung, die diesen Namen verdiente und den Bauern das volle Eigentum über ihre Erbleihegüter gegeben hätte, fehlte rechtsrheinisch. Eine Bauernbefreiung, wie sie linksrheinisch schon durch die Einführung der französischen Gesetze erfolgt war, eröffnete sich rechtsrheinisch erst mit Zeitverzug und sehr viel langsamer durch die Möglichkeit, die feudalen Grundlasten gegen Entschädigung abzulösen. Anstelle der nicht erfolgten Entfeudalisierung fand rechtsrheinisch nur die Mediatisierung des Adels und überhaupt aller ehemaligen Feudalherren, die nicht zu souveränen Landesherren geworden waren, statt. Diese Maßnahme stärkte wiederum vor allem den Staat und beließ Adel und Standesherren gewisse Reservatrechte, die dann auch erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts langsam abgebaut wurden. Förderten im rechtsrheinischen Deutschland also Säkularisation und Mediatisierung nicht die bäuerliche Eigentumsentwicklung, so trugen sie allerdings auch nicht zur Besitzsteigerung des

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Bürgertums bei, denn die Bereicherungsmöglichkeiten durch die Nationalgüterversteigerungen gab es hier nicht. Auch die innerstädtischen Faktoren des Transformationsprozesses sind nicht auf die linksrheinischen Departements beschränkt. Freizügigkeit und Koexistenz der christlichen Kirchen galten auch in den neuen rechtsrheinischen Staaten. Dagegen stellten aber hier die Einführung der Gewerbefreiheit und die Umwandlung der Bürgergemeinde in eine Einwohnergemeinde einen längerfristigen Prozess dar, der sich bis in die Jahrhundertmitte hinzog. Überall behielten die Zünfte noch längere Zeit eine wirtschaftliche und soziale Bedeutung. Insofern verliefen die Transformationsprozesse der städtischen Gesellschaft im rechtsrheinischen Deutschlands durchaus langsamer als in den linksrheinischen französischen Departements, aber dadurch war hier auch die im Linksrheinischen krasser verlaufende Auseinanderentwicklung von wirtschaftlichen Eliten und traditionellen Mittelschichten etwas gedämpfter. Weiteren Aufschluss über diese längerfristigen Entwicklungstendenzen der ständischen Gesellschaften könnten neue Untersuchungen geben. Die vorliegenden sozialgeschichtlichen Pionierstudien für Koblenz beruhen auf dem Quellenkorpus des Alten Reiches. Sie benutzen als Leitquelle die Akten der Steuer für den städtischen Immobilienbesitz. Das erlaubte es, den gesellschaftlichen Übergang vom Alten Reich zum französischen Empire nachzuvollziehen. Die Quelle hat aber bestenfalls eine Indikatorfunktion. Schon für die Zeit ab 1798 aber stehen neue Quellengruppen zur Verfügung, die eine weit umfassendere Sozialanalyse erlauben. Insbesondere das französische Notariat und der französisch-preußische Kataster ermöglichen es nämlich, weit präziser und sehr viel langfristiger die Vermögensentwicklung und überhaupt die Lebenssituation der städtischen Einwohnerschaft zu analysieren und sogar Aspekte der bürgerlichen Mentalitätsgeschichte zu erfassen. Hier eröffnet sich ein weites Forschungsfeld, das sich auf das ganze lange 19. Jahrhundert ausdehnen ließe und noch kaum entdeckt worden ist. Diese Aufarbeitung kann hier nicht geleistet werden. Der Vortrag wollte vorerst nur den Kahlschlag darstellen, den Entfeudalisierung und Säkularisation hinterließen. Er wollte auch auf die Einführung der neuen rechtlichen Rahmenbedingungen durch die Übernahme des französischen Revolutionsrechtes hinweisen, so insbesondere auf die Neuerungen von Einwohnergemeinde, Zuzugsrecht, Gewerbefreiheit, Religionsfreiheit sowie überhaupt dem egalitären Zivilrecht. Vor allem aber wollte er zeigen, dass es auf dieser Grundlage bis in die napoleonische Zeit zu einer weitgehenden Umgestaltung der Gesellschaft mit der Herausbildung von Notabelnstrukturen gekommen war, die dann auch relativ problemlos den

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Anschluss an die wirtschaftsliberale Stadtverfassung der preußischen Zeit ¿QGHQNRQQWH'DIULVW.REOHQ]HLQJXWHV%HLVSLHOIUGLHOLQNVUKHLQLVFKH Städtelandschaft, dem somit paradigmatische Bedeutung zukommt. Quellen Bormann, Karl Theodor Friedrich/Daniels, Alexander von (Hg.): Handbuch der für die königlich-preußischen Rheinprovinzen verkündigten Gesetze, Verordnungen und Regierungsbeschlüsse aus der Zeit der Fremdherrschaft, Bd. I–VIII, Köln 1833– 1843. Hansen, Joseph: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution 1780–1801, Bd. I–IV, Bonn 1931–1938.

Literatur Das von Lothar Gall geleitete Forschungsprojekt „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“ wurde 1988 auf dem Bamberger Historikertag programmatisch umrissen (Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, hg. v. Lothar Gall, München 1990). Darauf folgte die Präsentation der ersten Einzelergebnisse (Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780–1820, hg v. Lothar Gall, München 1991) und der Versuch einer vergleichenden Synopse (Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, hg. v. Lothar Gall, München 1993). Die Einzelstudien erschienen in der Reihe „Stadt und Bürgertum“ mit bisher 13 Bänden.

Entfeudalisierung und Säkularisation: Engels, Wilhelm: Ablösungen und Gemeinheitsteilungen in der Rheinprovinz, Bonn 1957. Schieder, Wolfgang/Koltes, Manfred (Hg.): Säkularisation und Mediatisierung in den vier rheinischen Departements 1803–1813, Teil 1–5, Boppard 1994. Weitz, Reinhold: Die preußische Rheinprovinz als Adelslandschaft. In: RheinVjbll 36, 1974, S. 333–354.

Koblenz: YRQGHU'ROOHQ%XVVR'HUKDXSWXQGUHVLGHQ]VWlGWLVFKH9HUÀHFKWXQJVUDXP.REOHQ] Ehrenbreitstein in der frühen Neuzeit, Köln 1979. Ders.: Die Koblenzer Neustadt. Planung und Ausführung einer Stadterweiterung des 18. Jahrhunderts, Köln, Wien 1979. Eiler, Klaus: Stadtfreiheit und Landesherrschaft in Koblenz. Untersuchungen zur Verfassungsentwicklung im 15. und 16. Jahrhundert (Geschichtliche Landeskunde, 20), Wiesbaden 1980. François, Etienne: Koblenz im 18. Jahrhundert. Zur Sozial- und Bevölkerungsstruktur einer deutschen Residenzstadt, Göttingen 1982. Heyen, Franz-Josef (Hg.): 2000 Jahre Koblenz im Herzen Europas. Ein Stadtatlas (Landesvermessungsamt Rheinland-Pfalz), Koblenz 1992.

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Just, Leo: Franz von Lassaulx, Bonn 1926. Kerber, Dieter/Schmidt, Hans-Josef (Hg.): Geschichte der Stadt Koblenz. Bd. 1–2, Stuttgart 1993. Müller, Jürgen: Von der alten Stadt zur modernen Munizipalität. Die Auswirkungen der Französischen Revolution in den linksrheinischen Städten Speyer und Koblenz, Koblenz 1990. Rapp, Wolf-Ulrich: Stadtverfassung und Territorialverfassung. Koblenz und Trier unter Kurfürst Clemens Wenzeslaus (1768–1794), Frankfurt a. M. 1995. Stein, Wolfgang Hans: Französisches Scheidungsrecht im katholischen Rheinland 1798–1803. In: Palatia Historica. Festschrift Ludwig Anton Doll, hg. v. Pirmin Spiess, Mainz 1994, S. 463–488.

Rainer Metzendorf

Mainz nach 1945 Wiederaufbauplanungen zwischen Vision und Wirklichkeit Es gibt nur wenige Städte, und in Rheinland-Pfalz nur eine, die nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg so umfassend und gleichzeitig so kontrovers überplant wurden wie Mainz. Zahlreiche Stadtplaner und Architekten, darunter Namen von internationalem Rang, lieferten unterschiedlichste Vorschläge für einen Neu- oder Wiederaufbau von Mainz. 25 Jahre brauchte diese Stadt, um ihre baulichen Kriegsschäden einigermaßen zu bereinigen. Das bedeutete 25 Jahre lange Auseinandersetzungen zwischen Visionen und Realitäten, zwischen langfristigen Zielen und zeitgenössischen Tendenzen, zwischen Politik und Wirtschaft, aber auch zwischen Macht und Ohnmacht der beteiligten Personen. 25 Jahre spannende Stadtbaugeschichte, die wir hier im Rückblick passieren lassen wollen. Die nationalsozialistische Nachkriegsstadt von 1944/45 Unter dem Eindruck der schweren Luftangriffe auf Mainz im August 1942 und 1943, bei denen vor allem das weitere Umfeld des Domes getroffen worden war, begannen noch im Kriegsjahr 1944 die ersten Planungen einer Stadtreparatur. Während der städtische Architekt Adolf Bayer die auf der Südseite zerstörte Ludwigsstraße nach modernen Gesichtspunkten mit kammartigen Scheibenhäusern neu zu gestalten versuchte, überplante der Darmstädter Architekturprofessor Dr. Karl Gruber den „Heiligen Bezirk“ um den Dom (Abb. 1) nach überlieferten Vorgaben aus dem Mittelalter. Lediglich den Gutenbergplatz verkürzte er und setzte die Bebauung gegenüber der Alten Universität etwas ab, um dadurch den Turm der Quintins-Kirche perspektivisch besser in Szene setzen zu können. In Erwartung weiterer Zerstörungen und Vorausahnung kommender Ereignisse ließ Reichsminister Albert Speer durch den „Arbeitsstab Wiederaufbauplanung“ einige Deutsche Städte von Berlin aus neu konzipieren. Auf seine Empfehlung hin erhielt Hanns Dustmann (1902–1979), Reichsarchitekt der Hitlerjugend und Mitgestalter beim Umbau von Berlin zur Welthauptstadt „Germania“, den Auftrag, vorausschauend für Mainz einen Idealplan nach dem Kriege zu entwerfen. Bereits im Sommer 1944, gut ein halbes Jahr vor der eigentlichen, fast völligen Zerstörung

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Abb. 1: Karl Gruber, Der „Heilige Bezirk“ um den Dom, 1944

von Mainz, begann Dustmann in Abstimmung mit Gauleiter Jakob Sprenger seine Arbeit. Leitgedanke war eine ringförmige Stadtanlage (Abb. 2) mit dem „Deutschen Rhein“ als Mittelachse. Im Zentrum neben den Schlossbauten, direkt am Fluss gelegen, sollte ein mächtiges Gauforum entstehen, dessen demonstrativ aufragender Turm einen städtebaulichen Kontrapunkt zum historischen Domgebirge bildete. Damit diese Vision der Nachkriegsstadt im Landschaftsbild auch würdevoll in Erscheinung treten könne, plante man zur Einrahmung an der westlichen topographischen Höhenkante eine bogenförmige, 500 Meter breite, gärtnerisch gestaltete Grünzone. Kurz nach Kriegsende gab es sogar ernsthafte Überlegungen, die 1945 vom Bombenhagel zu rund 85 Prozent verwüstete Stadt ganz aufzugeben und auf der anderen Rheinseite ein neues Mainz entstehen zu lassen.

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Abb. 2: Hanns Dustmann, Stadtmodell von 1944/45

„Mayence – ville verte“. Französische Planungen von 1946 bis 1948 Im Sommer 1945 wurde nach Absprache zwischen den West-Alliierten die französische Besatzungszone eingerichtet und der Rhein im Bereich der Stadt Mainz zur Grenze zwischen der amerikanischen und der französischen Zone erklärt. Ein Jahr später ordnete die französische Militärverwaltung die Bildung eines neuen Landes Rheinland-Pfalz an und bestimmte Mainz zu dessen Hauptstadt. Der für Mainz zuständige Bezirksdelegierte für Rheinhessen General Jacobsen distanzierte sich von den bisher erstellten deutschen Wiederaufbauplanungen für die Stadt und beauftragte bereits im Frühjahr 1946 den Pariser Architekten Marcel Lods (1891–1978), Mainz als „Stadt der Zukunft“ mit französisch geprägtem Kulturanspruch zu konzipieren. Zugleich sollte hiermit gegenüber den anderen Besatzungsmächten die politische Bedeutung Frankreichs im zukünftigen Europa demonstriert werden. Marcel Lods hatte bereits in den 1930er Jahren mit seinen durch vorgefertigte Bauteile erstellten Wohnhochhäusern in und um Paris für internationales Aufsehen gesorgt. Zusammen mit Le Corbusier hatte er 1945 das „grille CIAM“, ein Manifest der rationalen und funktionalen Stadtplanung, formuliert. Somit schien er als Theoretiker mit praktischer Erfahrung prädestiniert für die gestellte Aufgabe, die „modernste Stadt“ der

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Welt, zumindest aber von Europa, zu entwerfen. Gemeinsam mit seiner Frau kam Lods nun nach Mainz und errichtete in einer ehemaligen Lagerbaracke auf dem Linsenberg sein Planungsbüro. Zur Seite standen ihm unter anderem sein französischer Kollege Gérald Hanning (1919–1978), den er aus dem Büro von Le Corbusier abgeworben hatte, und Adolf Bayer (1909–1999), Stabsentwerfer aus dem Mainzer Planungsamt und dort mitverantwortlich für den vor und in den Kriegsjahren erstellten, überregionalen Wirtschaftsplan von Bingen über Mainz bis nach Frankfurt. Bereits vom 10. Mai 1946 stammen die ersten Entwürfe von Lods zum „Plan de Mayence“ samt Umgebung bis hin zum Anschluss an Wiesbaden. Abgesehen von dem weniger zerstörten Teilbereich der Altstadt zwischen Zitadelle, Augustinerstraße und Dom ist darin der historische Stadtgrundriss von Mainz ausgelöscht und durch eine radikale Vision ersetzt (Abb. 3). Nach den Prinzipien der funktionalen Stadt sind die unterschiedlichen Nutzungen streng getrennt. Die Reste der Altstadt, eingebettet in durchgehende Grünzüge, sind ausschließlich für Geschäftshäuser, Kultur- und Unterhaltungsstätten vorgesehen. Zwischen dem Dombereich und der Großen Bleiche soll das Verwaltungszentrum der neuen Landeshauptstadt entstehen. Der übrige Bereich vom Rhein bis zur neu gegründeten Universität in der ehemaligen Flakkaserne ist als „ville verte“, als

Abb. 3: Marcel Lods, Mainz - Stadt der Zukunft, Skizze 1946

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vertikale „Gartenstadt“ aus parallel versetzten Scheibenhochhäusern mit JUR‰UlXPLJHQ*UQÀlFKHQXQGVFKZXQJYROODEJHVWXIWHQ(UVFKOLH‰XQJVbändern geplant. Die überörtlichen Verkehrswege für Schiene, Land und :DVVHU PLW +DIHQ VDPW *UR‰ÀXJKDIHQ IU GLH 5HJLRQ VLQG DOV ]HQWUDOH Bündelung auf Kasteler Seite konzipiert und zu einem Knotenpunkt zusammengefasst. Dieser „Platz der Bahnhöfe“ ist durch einen Tunnel mit dem neuen Verwaltungszentrum und der reinen Wohnstadt jenseits des Flusses verbunden. Im Zuge der strengen Trennung unterschiedlicher Nutzungszonen ist sogar die Industrie als Störfaktor des reinen Wohnens auf die andere Rheinseite verbannt und in Bänderform beidseitig des Maines bis Hanau angesiedelt. Eine Idee, die möglicherweise Adolf Bayer mit seinem Wirtschaftsplan von 1943 eingebracht hat, die aber unter den gegebenen Bedingungen ziemlich unrealistisch wirkte. Lagen doch diese für Mainz überlebensnotwendigen Gewerbegebiete in der amerikanischen Verwaltungszone. Den Wiederaufbau der historischen Mainzer Altstadt südlich der Ludwigsstraße überließ Lods dem städtischen Planungsamt und widmete sich ganz der konkreten Ausarbeitung seiner Idealstadt. Gegenplanungen von Gerhard Lahl und Prof. Paul Schmitthenner Nicht nur in den Mainzer Amtsstuben stieß diese „Traumstadt“ auf große Skepsis, und man glaubte zunächst, dass sich dieser französische Spuk wegen der utopisch anmutenden Ansprüche schnell von selbst erledigen würde. Gegen die von der Militärregierung verordnete Planung erarbeitete Baurat Gerhard Lahl (1910–1994) vom städtischen Planungsamt deshalb in geheimer Mission eine Alternative (Abb. 4), die mit moderaten Veränderungen den Wiederaufbau von Mainz auf dem überlieferten Stadtgrundriss vorsah. Lediglich die Umgestaltung des Rheinufers versuchte, mit euphorischen Ansätzen städtebauliche Missstände aus der Vergangenheit zu bereinigen. Der südliche Stadteingang, bis dahin ein heterogenes Gebilde von Zufälligkeiten, wurde als „Dagobertplatz“ baulich gefasst, der Winterhafen zwecks Ausstellungspark mit fünf Großhallen und opulenter 6WDGWKDOOH ]XJHVFKWWHW GLH GDV 6WDGWELOG HPS¿QGOLFK VW|UHQGHQ 6HLWHQrampen der Straßenbrücke geschleift bzw. geradeaus durch die abzureißende Ruine des Zeughauses weitergeführt, um dann den Verkehr im rückwärtigen Bereich des Kurfürstlichen Schlosses abzuleiten. Durch diese Verlegung der Rheinstraße bot sich die Chance, Schloss und Rheinufer über den vorgesehenen Schlossgarten als öffentliche Grünanlage in eine ungestörte, direkte Beziehung zu bringen. Im August 1946 war dieses Grundkonzept abgeschlossen.

Abb. 4: Gerhard Lahl, Rahmenplanstudie 1946

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Oberbaurat Erich Petzold (1901–1951), wegen seiner Zugehörigkeit zur SPD von den Nationalsozialisten im Jahre 1933 aus dem städtischen Dienst entlassen und nach Kriegsende als neuer Amtsleiter des Hochbauund Planungsamtes zurückgeholt, erkannte jedoch, dass diese stadtinternen Überlegungen allein schon wegen der verdeckten Vorgehensweise wenig Erfolg haben dürften. Er überzeugte deshalb den Mainzer Oberbürgermeister Dr. Emil Kraus, den renommierten Architekten und Stadtplaner Prof. Paul Schmitthenner (1884–1972) aus Stuttgart für 50.000 Mark RI¿]LHOOPLWHLQHP*HJHQJXWDFKWHQ]XGHP(QWZXUIYRQ/RGV]XEHDXIWUDgen. Mit diesem geschickten Schachzug konnte Petzold seinen ehemaligen, ihm vertrauten Hochschullehrer ins Spiel bringen und glaubte gleichzeitig, dadurch die städtische Behörde aus der politischen Schusslinie nehmen zu können. Prof. Paul Schmitthenner, ein Vertreter traditionsgebundenen und landschaftsbezogenen Bauens, begann Ende September 1946 mit seiner Arbeit und legte im folgenden Jahr seine Konzeption vor. Im Wesentlichen beschränkte er sich auf den bestehenden Stadtgrundriss, auch weil er somit auf die in Takt gebliebene unterirdische Infrastruktur als unverzichtbares Kapital aufbauen konnte. Lediglich an einigen Stellen griff er im größeren Maßstab korrigierend ein. So konzipierte er die neue Rheinbrücke in Verlängerung der Kaiserstraße, legte für die Brückenrampe die Christuskirche nieder und schlug vom Schillerplatz über Theater, Dom bis hin zum neuen Rathaus am Rhein eine Folge von festlichen Platzräumen vor. Ganz bewusst vertiefte er seine Planung nur beim Wiederaufbau der südlichen Altstadt mit ausführungsreifen Vorschlägen (Abb. 5), um nicht ]XVHKULQ.RQÀLNWHPLWGHU%HVDW]XQJVPDFKW]XJHUDWHQ

Abb. 5: Paul Schmitthenner, Ansicht des Theaters zum Gutenbergplatz, Skizze 1947

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Die französische Militärregierung und Chefplaner Lods waren jedoch brüskiert und erreichten bei der Stadt Mainz, dass der Antreiber dieser Intrigantenplanung, Erich Petzold, als Leiter des Hochbau- und Planungsamtes entlassen und durch den linientreuen Architekten Richard Jörg ersetzt wurde. Jörg, ein Studienfreund von Adolf Bayer, dem deutschen Mitarbeiter von Lods, distanzierte sich als neuer Amtsleiter postwendend und öffentlich von Schmitthenner und Petzold. Perfektion und Scheitern der Planungen von Marcel Lods Unbeirrt führte Lods mit seinem Team die Planungen von Mayence fort. Der Verkehrstunnel unter dem Rhein wurde durch eine Brücke ersetzt, das Rheinufer mit Sport- und Freizeitanlagen attraktiv gestaltet und die Erschließung im Sinne von absoluter Trennung zwischen Auto- und Fußver-

Abb. 6: Marcel Lods, Neuplanung von Mainz 1947

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kehr neu konzipiert. Zwei durchgesteckte Sichtachsen, die eine vom historischen Zentrum am Rhein hinauf zum Hartenberg, die andere von der Petersaue bis zum Linsenberg, geben nun dem vorher allzu starr wirkenden Stadtgebilde eine übergreifende Struktur, die mit der umgebenden Landschaft verknüpft ist (Abb. 6). Während Lods in der „Unterstadt“, der vormaligen Neustadt, zehngeschossige Häuser mit Flachdächern vorsah, die wegen geringerer Etagenhöhen letztendlich aber nicht größer waren als die Firste der traditionellen Gebäude aus der Gründerzeit, schlug er in der „Oberstadt“, auf dem Taubertsberg, bis zu 20-geschossige, 160 Meter lange Hochhausscheiben vor. Zwischen diesen Wohneinheiten erstreckten sich Grün- und Sportanlagen sowie die erforderlichen Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten oder Schulen in eingeschossiger, lockerer Pavillonbauweise. Sonnenstandsberechnungen außerhalb und innerhalb der Gebäude, funktional gut durchdachte Systemgrundrisse, perfekt ausgerüstet mit technischen Ausstattungen und großzügig bemessenen Balkonen, entsprachen den idealen Zielvorstellungen einer neuen Planergeneration. ,Q SODNDWLYHQ 6NL]]HQ JUD¿VFKHQ 0HLVWHUZHUNHQ GHV IUDQ]|VLVFKHQ Mitarbeiters G. Hanning, wurden die üblen Verhältnisse aus der Vergangenheit der hoffnungsvollen Zukunft gegenübergestellt (Abb. 7) und über

Abb. 7: M. Lods – G. Hanning, Zukunft gegen Vergangenheit, Skizzen 1947

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Gespräche, Vorträge und Ausstellungen der Versuch unternommen, die Mainzer von den Vorteilen dieser Ideen zu überzeugen. Dennoch stand der größte Teil der Bevölkerung diesen Planungen verständnislos gegenüber. Man wollte kein modernes Mayence mit rationalen Ansprüchen, sondern lieber das gemütliche Mainz von früher. Außerdem war den Ausgebombten das schnelle Dach über dem Kopf wichtiger als die langatmige Debatte um den idealen Städtebau der Zukunft. In der fast völlig zerstörten Mainzer Neustadt spitzte sich indes die Lage dramatisch zu. Dortigen Grundstückseigentümern wurde der Wiederaufbau ihrer Häuser behördlich untersagt, weil die neuen Stadtstrukturen nicht mit dem überkommenen Gefüge der Liegenschaften übereinstimmten. Wegen der noch ungelösten Problematik einer entsprechenden Umlegung der Grundstücke forcierte man einen Baustart auf dem unkomplizierter erscheinenden Gebiet der Oberstadt. Im März 1947 lagen die ausführungsreifen Pläne für eine Bebauung an der Wallstraße vor, doch führte der zu schlechte Baugrund und die vernachlässigte BerücksichtiJXQJGHUXQWHULUGLVFKHQ)RUWL¿NDWLRQVDQODJHQDXVGHU)HVWXQJV]HLWDXFK dort zu nicht einkalkulierten Verzögerungen. Im Frühjahr 1948 kam es zum offenen Bruch. Während die StadtverZDOWXQJ YRQ 0DLQ] GXUFK RI¿]LHOOHV 6WLOOVFKZHLJHQ VFKHLQEDU LKUH =Xstimmung zu den französischen Planungen ausdrückte, griff der geschasste Amtsleiter Erich Petzold in einem Leitartikel der Allgemeinen Zeitung vom 13. März öffentlich ein und traf mit seiner leidenschaftlich geführten Anklage mitten in die Seele der Mainzer Bevölkerung. Wenige Tage nach diesem mutigen Angriff lehnte der Stadtrat von Mainz das städtebauliche Konzept der französischen Militärregierung ab. Nach der kurz darauf erfolgten Währungsreform und den daraus resultierenden wirtschaftlichen Konsequenzen in Deutschland verloren die Franzosen ihr engagiertes Interesse an dem von ihnen initiierten Land Rheinland-Pfalz. Trotz dieser Niederlage von Marcel Lods ist „Mayence – ville verte“ in die Stadtbaugeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Heute gehört diese „Stadt der Zukunft“ wegen ihrer konsequenten Systematik und Klarheit als Musterbeispiel idealistischer Stadtplanung der Nachkriegszeit zum akademischen Lehrprogramm von Hochschulen und Universitäten. Blockierte Planung zu Beginn der 1950er Jahre Die Hoffnung von Prof. Paul Schmitthenner, nach dem Scheitern von Marcel Lods mit dem städtebaulichen Gesamtplan für Mainz beauftragt zu werden, erfüllte sich nicht. Nach den über zwei Jahre dauernden Diskussionen über die Wiederherstellung oder Neugestaltung ihrer im Kriege zer-

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störten Stadt hatten die Mainzer genug von externen Planern. Ohne übergreifendes Gesamtkonzept und mit täglichen Kompromissen behaftet, begannen sie in Eigenregie mit dem Wiederaufbau ihrer Stadt. Die städtischen Mitarbeiter Adolf Bayer und Richard Jörg führten die Planungen für die Altstadt fort und entwarfen auf dem Hochplateau des Taubertsberges einen neuen Stadtteil mit konzentrierter Wohnbebauung, Sportbad und Stadion. Der Stadtrat von Mainz glaubte an die langfristige Gültigkeit dieser scheinbar abgeschlossenen Planungen und löste das 1946 gegründete Wiederaufbauamt inklusive Stadtplanungsamt 1949 als EHUÀVVLJDXI(LQ%HVFKOXVVGHUEHUPHKUHUH-DKUH]XQDKH]XFKDRWLschen Verhältnissen in der baulichen Weiterentwicklung von Mainz führte. Der Stadtplaner Bayer verließ daraufhin Mainz, wurde Stadtbaurat in Offenbach und erhielt 1961 eine Professur für Städtebau an der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Jörg, Architekt und Leiter des Hochbauamtes, blieb noch zwei Jahre länger bei der Mainzer Stadtverwaltung und fertigte bis 1952 eine Neuplanung für die Altstadt, der es vor allem wegen einer difformen Verkehrsgrundlage an einem stadtbaukünstlerischen Gesamtkonzept mangelte. Bei genauerer Betrachtung erwiesen sich diese Pläne als wenig brauchbar, da sie zudem kein Gespür für das Wesen der Mainzer Altstadtstruktur zeigten und wegen ihrer zusammenhanglosen Inselplanungen in Fachkreisen prompt als „Frikadellenpläne“ beschmunzelt wurden. Die Neustadt aus der Gründerzeit überließ man mehr oder weniger ihrem Schicksal. Dort kam es sogar vor, dass die Vermessungsabteilung des Tiefbauamtes(!), der als Unterer Baubehörde das Wohnungswesen zugeordnet war, Baugenehmigungen erteilte. Dabei genügte es, wenn diese Vorhaben dem entsprechenden Fluchtlinenplan aus dem 19. Jahrhundert entsprachen. Rahmenplanung Dr. Egon Hartmann von 1955 Dr. Ing. Egon Hartmann (1919–2009), Chefarchitekt und technischer Leiter des Thüringischen Landesprojektierungsbüros für Stadt- und Dorfplanung in Weimar, 1951 Gewinner bei dem Planungswettbewerb für die städtebauliche Gestaltung des Zentrums in Berlin-Ost und später Nationalpreisträger der DDR, wechselte 1954 vom Osten in den Westen und begann auf Empfehlung seines ehemaligen Weimarer Hochschullehrers *HUG2IIHQEHUJ±PLWWOHUZHLOHHLQÀXVVUHLFKHU5HIHUHQWIU6WlGWHEDXLP Ministerium für Finanzen Rheinland-Pfalz – am 13. Juli des gleichen Jahres seinen Dienst im Hochbauamt der Stadt Mainz. +DUWPDQQ HEHQVR TXDOL¿]LHUWHU $UFKLWHNW ZLH 6WDGWSODQHU XQG VLFK selbst als „Urbanist“ bezeichnend, erarbeitete 1955 ohne Auftrag und nach

Abb. 8: Egon Hartmann, Rahmenplanung der Innenstadt von 1955

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Feierabend eine städtebauliche Gegenplanung für die Mainzer Altstadt. Diese Überlegungen bestechen neben ihrer sauberen städtebaulichen Gliederung durch ein konsequent durchdachtes Verkehrskonzept. Auf der Grundlage seiner privat gefertigten, eingehenden Analysen über die Altund Neustadt, über einen Außenring, verbindende Fußgängerwege und vernetzende Grünanlagen fertigte Hartmann noch im gleichen Jahr, nun LP RI¿]LHOOHQ $XIWUDJ GHV %DXDXVVFKXVVHV HLQHQ LQQHUVWlGWLVFKHQ *Hsamtplan im Maßstab 1:5.000 (Abb. 8). Zehn Jahre nach Kriegsende war dies der erste zusammenhängende Aufbauplan für Mainz. Die wesentliche Aussage dieser Grundsatzplanung war das in sich schlüssige Verkehrskonzept als Rückgrat städtebaulicher Fortschreibung. In Verlängerung der Kaiserstraße schlug Hartmann eine zusätzliche Brücke über den Rhein vor, die zur Entlastung der Haupterschließung im innerstädtischen Verkehr dienen sollte. Angebunden an einen äußeren Ring legte er Hauptstraßenzüge fest, die sich nach den bestehenden Gegebenheiten richteten und durch untergeordnete Parallelstraßen einen inneren und einen äußeren Parkring mit Fußgängerwegen von maximal 80 Metern /lQJHDQERWHQ'LHVHNRRUGLQLHUWH9HUNQSIXQJYRQUXKHQGHPXQGÀLHßendem Verkehr hatte eine zukunftsweisende Aussagekraft. Neugründung des Stadtplanungsamtes im Jahre 1956 Mit den Grundsatzstudien von Egon Hartmann hatte die Stadt Mainz zwar ein ausbaufähiges Planungskonzept, aber kein Amt, das diese Ziele hätte umsetzen können. Das Hochbauamt versuchte ab Mitte 1955 diesen Part zu übernehmen, war aber schlichtweg überfordert. Erst als die Bezirksregierung von Rheinhessen mit einer Zwangsbeplanung durch das Land drohte und das Bundesbauministerium in Bonn mit dem sogenannten „Preuskerprogramm“ Förderungsmittel für den Bau von 2.000 Wohnungen in der Innenstadt in Aussicht stellte, dafür allerdings entsprechende Planungen forderte, reagierte die Stadt Mainz und installierte mit Beginn des Jahres 1956 wieder ein eigenständiges Stadtplanungsamt. Unter dem Baudezernenten Dr. Ing. Carl Dassen (1889–1973) schieQHQGLH9RUVWHOOXQJHQYRQ+DUWPDQQ]XQlFKVW*UXQGODJHGHURI¿]LHOOHQ Fortschreibung zu sein. Dazu gehörte ein Flächennutzungsplanentwurf im Maßstab 1:10.000, der auch die rechtsrheinischen Gebiete mit einbezog. Hartmann verzichtete hier auf die von ihm ursprünglich vorgeschlagene zweite innerstädtische Brücke in der Verlängerung der Kaiserstraße und ersetzte diese zugunsten zweier Tangentenbrücken für die Stadtautobahn eines „Mainzer Ringes“. Die Turbulenzen gingen jedoch weiter. In den folgenden fünf Jahren wechselten sich sechs Amtsleiter ab, warfen wegen

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unterschiedlicher Auffassungen sowie störenden Querelen innerhalb und außerhalb des Amtes das Handtuch oder wurden strafversetzt. Die autogerechte Stadt von Josef Werner Streif Brisant wurde es mit dem Stadtplaner Josef Werner Streif, einem forsch auftretenden, jungen Absolventen der Technischen Hochschule in Karlsruhe. Er hielt sich weniger an die ihm gestellten Aufgaben und verpasste der Mainzer Innenstadt ein radikal neues Verkehrskonzept mit – ganz dem damaligen Zeitgeist entsprechend – kreuzungsfreien Hoch- und Tunnelstraßen. Höhepunkt dieser ziemlich akademisch wirkenden Planung war die totale Flächensanierung zwischen Ludwigsstraße und Großer Bleiche (Abb. 9) mit einer autobahnähnlichen Durchgangserschließung vom Linsenberg mitten durch die Mainzer Altstadt. Als die Amtsleitung des Stadtplanungsamtes diesen Ideen nicht folgen wollte, stellte sie Streif dem einÀXVVUHLFKHQ6WDGWUDW)ULW]*UHEQHU6WDWLNHUPLWXPIDQJUHLFKHQ$XIWUlJHQ für den Straßenbau, vor. Gemeinsam suchten sie nach einer externen Persönlichkeit, der man die Umsetzung dieser Verkehrsvisionen zutrauen konnte, und fanden diese in Dr. Hans Jacobi, der beim Wiederaufbau von Köln bereits entsprechende Erfahrung gesammelt hatte. Dr. Ing. Jacobi (1913–2005) kam 1956 nach Mainz, wurde Stadtbaudirektor und im Januar 1957 als Nachfolger von Dr. Ing. Carl Dassen für zwölf Jahre zum Baudezernenten gewählt. Er forcierte die Planungen von 6WUHLI DQIDQJV UDGLNDO VSlWHU GDQQ PRGL¿]LHUWHU VFKHLWHUWH DEHU GDPLW

Abb. 9: Große Bleiche, Planungsvariante 1955

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noch im gleichen Jahr im Mainzer Stadtrat. Auch der anschließende Entwurf von Streif, eine gewaltige Bandstadt auf dem linksrheinischen Höhenzug, erhielt im Stadtrat eine Abfuhr. Hartmann, der vor allem das neue Verkehrskonzept für falsch und in der Praxis undurchführbar hielt, lehnte eine fachliche Zusammenarbeit auf dieser Basis ab, landete auf dem Abstellgleis und wurde zu Bestandsaufnahmen des Mainzer Umlandes verdonnert. Diese Kartierungen bildeten die Grundlage für den späteren Flächennutzungsplan. In dieser Zeit der „Planungsabstinenz“ beteiligte sich Hartmann an dem von der Bundesrepublik Deutschland international ausgeschriebenen städtebaulichen Wettbewerb „Hauptstadt Berlin“. Mit einer baulichen Neugestaltung der Mitte sollte die geistige Aufgabe Berlins als zukünftige Hauptstadt Deutschlands und moderne Weltstadt zum Ausdruck gebracht werden. Gegen prominente Konkurrenz wie Le Corbusier, Hans Scharoun oder Roland Rainer errang Hartmann hierbei einen Zweiten Preis. Mit welcher Besessenheit und unter welchen Bedingungen er diese Aufgabe meisterte, belegt das Detail, dass er in seiner beengten Wohnung in Gonsenheim sein Reißbrett über das Kinderbett legte und die Nächte durcharbeitete, während seine Tochter unter diesem notdürftig zusammengebastelten Zeichentisch schlief. Parallel zu diesen Planungstätigkeiten promovierte Hartmann bei den Professoren Max Guther und Karl Gruber an der Technischen Hochschule in Darmstadt mit dem Thema: „Mainz – Analyse seiner städtebauOLFKHQ(QWZLFNOXQJ³1RFKKHXWHLVWGLHVH$UEHLWHLQH3ÀLFKWOHNWUHIU jeden, der sich mit Mainzer Stadtbaugeschichte und Stadtplanung beschäftigt. Die Spannungen zwischen Verwaltung und Rat und da besonders zwischen dem neuen Baudezernenten Dr. Hans Jacobi (CDU) und dem gleichzeitig in seiner zweiten Amtszeit bestätigten Oberbürgermeister Franz Stein (SPD) steigerten sich bis zu öffentlich ausgetragenen Streitereien. Als dann auch noch die Planungen für staatlich geförderte Wohnungen nach dem Preuskerprogramm ins Stocken gerieten und für Mainz bereitgestellte Gelder wegen fehlender Konzepte abgezogen wurden, ließ man im Januar 1958 in einer nicht-öffentlichen Stadtratssitzung externe Gutachter ihre Stellungnahmen zu den baulichen Angelegenheiten von Mainz vortragen. Als Vertreter der Akademie für Städtebau empfahl der Darmstädter Professor Max Guther, einen unabhängigen und unvoreingenommenen Planer einzuschalten. Noch im gleichen Monat beauftragte die Stadt Mainz daraufhin den erfahrenen und international anerkannten Prof. Dr. Ernst May mit einer grundsätzlichen Generalplanung inklusive Wirtschaftsplan für Mainz. May hatte in den 1920er Jahren das „Neue Frankfurt“ gestaltet und von 1930 bis 1933 in Russland mehrere Städte geplant.

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Abb. 10: Ernst May, Planung für einen Hochhausgürtel um Mainz, 1958

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Dr. Jacobi, überzeugter Christ und schon aus ideologischen Gründen kritischer Skeptiker gegenüber dem wegen seiner Aktivitäten in der UdSSR linksverdächtigen May, schoss so lange quer, bis ihn Oberbürgermeister Stein im Juli 1958 von seinem Posten als Baudezernent enthob und ihn durch den hauptamtlichen Beigeordneten Rudolf Gemmer, Erster Werkleiter der Stadtwerke, ersetzte. „Das Neue Mainz“ von Prof. Dr. Ernst May, 1958–1960 Im Januar 1958 begannen Prof. Dr. Ing., Dr. phil. Ernst May (1886–1970) XQGGDVÄ%URGHV3ODQXQJVEHDXIWUDJWHQGHU6WDGW0DLQ]³VRGLHRI¿]Lelle Bezeichnung, ihre Tätigkeit. Das Team bestand aus Kollegen, die May aus seinem Hamburger Büro mitgebracht hatte, externen Fachberatern, wie dem Züricher Verkehrsexperten Prof. Dr. Ing. Kurt Leibrand und dem Soziologen Prof. Dr. Felix Boesler, sowie drei städtischen Mitarbeitern, darunter Egon Hartmann, der bereits zu seiner Weimarer Zeit mit %RHVOHUHQJ]XVDPPHQJHDUEHLWHWXQGGLHVHQHPSIRKOHQKDWWH,P6GÀgel der Zitadelle stellte die Stadt Mainz die notwendigen Räumlichkeiten zur Verfügung. May distanzierte sich von den vorliegenden Planungen einer autogerechten Stadt und griff auf die bereits von Hartmann erstellten Untersuchungen und Ergebnisse zurück. Er überließ diesem die Fortschreibung, erweiterte sie jedoch mit einem übergreifenden Leitgedanken im Außenbereich. Auch Leibrand übernahm ohne Änderung die Grundzüge der Hartmannschen Verkehrsplanung und befasste sich vorwiegend mit der detaillierten Ausarbeitung der wichtigsten Knotenpunkte. $XIGHQGLH6WDGWÀDQNLHUHQGHQ+|KHQUFNHQOHJWH0D\HLQHQ*UWHO mit insgesamt 16 Hochhäusern (Abb. 10), um das in der Rheinebene liegende Zentrum mit auf Fernwirkung angelegten Gebäuden einzurahmen. )UGLH0DLQ]HU1HXVWDGWIRUFLHUWH0D\HLQHPRGL¿]LHUWH%ORFNEHEDXXQJ die in wesentlichen Teilen auf den Strukturen des überlieferten Stadtgrundrisses aufbaute. Als städtebauliche Akzentuierung waren lediglich ein elf-geschossiges Punkthochhaus an der Ecke Große Bleiche/Bauhofstraße (Mitte der 1990er Jahre abgerissen) für das neue Regierungsviertel des Landes Rheinland-Pfalz (Abb. 11) und ein ebenfalls elf-geschossiges Scheibenhochhaus für das neue Verwaltungs- und Betriebszentrum der Stadtwerke in der Rheinallee vorgesehen und wurden auch ausgeführt. Beide Gebäude waren in ihrer Höhenentwicklung so dimensioniert, dass sie in keiner Konkurrenz mit den großen Kirchenbauten standen und trotzdem dem Anspruch von repräsentativen Wahrzeichen ihrer Quartiere gerecht wurden.

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Abb. 11: Regierungsviertel, Modell und Ausführung von Viertel und Ries, 1960

Charakteristisch bei der Planung für die Mainzer Neustadt war vor allem die Entkernung der ursprünglich geschlossenen, stark überbauten Blöcke und deren Öffnungen an den Ecken, die einer besseren Durchlüftung der Innenhöfe dienen sollten. Auf Empfehlung von May wurde 1959 vom Stadtrat eine neue, eigene Bauordnung für die Stadt Mainz beschlossen, EHL GHU VLFK XD GXUFK GLH (LQIKUXQJ GHU *HVFKR‰ÀlFKHQQXW]XQJV]DKO zeitgemäßere Gestaltungsmöglichkeiten ergaben.

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Über die grundsätzlichen Aussagen des im Maßstab 1:1.000 gefertigten Aufbauplanes für die Mainzer Alt- und Neustadt hinaus gab es für bestimmte Bereiche ganz konkrete Durchführungsvorschläge. Als Beispiel hierfür dient Hartmanns Studie aus dem Jahre 1958 für die Mainzer Rheinuferbebauung mit Rathaus, Hotel und Stadthalle (Abb. 12). Er entwarf eine zusammenhängende Baugruppe für den Bereich zwischen Fischtor und Brückenkopf mit räumlich gestalteten Plätzen unterschiedlicher Größe, die sich nach allen Seiten, vor allem aber zum Rhein hin orientierten. Ein Forum, das der großartigen Lage der Stadt Mainz am Rhein entsprechen und gleichzeitig als Auftakt zu der faszinierenden Raumfolge am Dom dienen sollte. Dieser Vorschlag wurde detailgetreu in den vom Stadtrat am 21. November 1958 beschlossenen Programmplan aufgenommen, später aber nicht weiter vertieft, um dem 1962 bundesweit ausgeschriebenen Rheinufer- mit anschließendem Rathauswettbewerb nicht vorzugreifen. Nach dem Abschluss des Aufbau- bzw. Programmplanes für die Mainzer Innenstadt im Herbst 1958 erstellte das Büro des Planungsbeauftragten den Flächennutzungsplan für die gesamte Mainzer Gemarkung, also auch für die ehemaligen Stadtgebiete Kastel, Kostheim, Gustavsburg und Ginsheim, der dann am 12. April 1960 (fälschlicherweise) als „Aufbauplan“ von den städtischen Körperschaften zum Beschluss erhoben wurde. Somit

Abb. 12: Egon Hartmann, Rathaus und Stadthalle, 1958

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war der Auftrag von Prof. Ernst May abgeschlossen. Stadt und Land bereiteten sich nun auf Grund dieser Vorlagen intensiv mit Hochbaumaßnahmen in der Innenstadt (beispielsweise Regierungsviertel, Hallenbad, Erweiterung des Gutenberg-Museums und Neugestaltung der Kaiserstraße) auf die 1962 anstehende 2000-Jahr-Feier von Mainz vor. Laut Vorschlag von May sollte nach seiner Tätigkeit in Mainz Dr. Egon Hartmann die Leitung des Stadtplanungsamtes übernehmen. Dieser wechselte jedoch auf eigenen Wunsch nach München, erarbeitete dort den Stadtentwicklungs- und Flächennutzungsplan und entwarf danach für die bayerische Landeshauptstadt die drei Entlastungsstädte Schleißheim, Freiham und Perlach, letztere ein Satellit für 80.000 Einwohner. Die Hochhausdiskussion bis 1971 Kurz vor der Verabschiedung von Prof. Dr. Ernst May als Planungsbeauftragter der Stadt Mainz kehrte Dr. Hans Jacobi, nach Einleitung eines aufwändigen Klageweges, nach 17-monatiger Pause im Januar 1960 als Baudezernent bis 1969 wieder in Amt und Ehren zurück. Als erbitterter Gegner von Hochhäusern jeglicher Art hinterfragte er den mit dem 18-stöckigen Projekt in der Göttelmannstraße am Volkspark bereits begonnen Mayschen Hochhausring um Mainz und erreichte, dass dieser Gedanke abgebrochen und nicht weiter verfolgt wurde. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sich später starke Kräfte durchsetzten mit dem Ziel, die Mainzer Innenstadt mit Hochhäusern zu verdichten. Ende der 1960er Jahre entstanden so in einer wahllosen Beliebigkeit Projekte, die den baukulturellen Umgang mit dieser traditionsreichen Stadt leugneten und die Stadtsilhouette von Mainz, einst weltberühmt geworden durch die Stiche von Merian, ungebührlich entstellten. Als Anfang der 1970er Jahre das so genannte „Mosch-Center“ in der Münsterstraße neben dem Proviantamt sowie die „Bonifatiustürme“ am Hauptbahnhof (Abb. 13) bereits genehmigt waren, weitere Projekte anstanden und beispielsweise mit dem geplanten SparNDVVHQKRFKKDXVDP0QVWHUSODW]HLQH*HVFKR‰ÀlFKHQ]DKOYRQ EHL 3,0 ist laut Baunutzungsverordnung in Kerngebieten eigentlich Schluss) erreicht werden sollte, zog der Stadtrat von Mainz die Reißleine. Am 15. Mai 1971 fand im Kurfürstlichen Schloss eine öffentliche Anhörung statt, bei der über Bebauungshöhen in der Innenstadt diskutiert wurde. Unter dem Vorsitz von Oberbürgermeister Jockel Fuchs und der Leitung von Baudezernent und Bürgermeister Gottfried Ledroit gaben zehn externe Gutachter, darunter die in der Bundesrepublik führenden Professoren für Städtebau und Architektur ebenso wie mit Dr. Gottfried Kiesow als Landeskonservator von Hessen ein junger, engagierter Denk-

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Abb. 13: Bonifatius-Hochhäuser, Nachbarschaften am Hauptbahnhof

PDOSÀHJHU LKUH (PSIHKOXQJHQ DE XQG VWHOOWHQ VLFK GHU DQVFKOLH‰HQGHQ Diskussion. Nachdem man zur Unterstützung der Meinungsbildung mit Hilfe von Ballons die geplanten Gebäudehöhen über der Innenstadt markiert hatte, war das Thema über weitere Hochhäuser in der Mainzer Innenstadt vom Tisch. Schlussbemerkung Ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende schienen die baulichen Kriegswunden in Mainz grob geheilt zu sein. Für die einen mehr recht als schlecht, für die anderen mehr schlecht als recht. Das Spannungsfeld zwischen Vision, Politik, Wirtschaft und Tagesgeschäft war hier zu groß, um Städtebau als Stadtbaukunst zu praktizieren. Unterschiedlichste Hindernisse führten dazu, dass sich die anfangs hohen und anspruchsvollen Er-

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wartungen von Marcel Lods bis Ernst May nicht erfüllten, sondern auf Schritt und Tritt Kompromisse eingegangen wurden, mit denen wir uns heute in Mainz auseinanderzusetzen haben. Die Eingemeindungen der Vororte Finthen, Drais, Marienborn, Hechtsheim, Ebersheim und Laubenheim im Jahr 1969 führten zu einer annähernden Verdoppelung des Stadtgebietes. Mit der dadurch notwendig gewordenen grundsätzlichen Überarbeitung der integrierten Gesamtplanung von 1970 begann für Mainz eine neue Ära von Stadtentwicklung, die sich in den baulichen Aktivitäten, abgesehen von der im gleichen Jahr beginnenden Sanierung der historischen Altstadt, nun mehr auf die Außenbereiche konzentrierte, die rechtsrheinischen Planungen aber aufgab. Quellen Egon Hartmann, Schreiben an Rainer Metzendorf vom Januar 1994. Acht Seiten und 17 Anlagen. Stadtarchiv Mainz, ZGS/Z 10, 2010/5: Tätigkeitsbericht d. früheren Stadtplaners Dr.Ing. Egon Hartmann, 1994. Stadtarchiv Mainz, Nachlässe (alph.): Prof. Adolf Bayer, Dr. Carl Reiner Dassen und Michael Oppenheim. Stadtarchiv Mainz, ZGS: Zeitungsberichte von 1945 bis 1970. Landeshauptstadt Mainz: Öffentliches Hearing Bebauungshöhen in der Innenstadt. 6WHQRJUD¿VFKHU%HULFKW Stadtarchiv Mainz, VOA8/1910: Johann Werner Streif, Kommentare und Stellungnahmen zu den Wiederaufbauplänen von Mainz, 1957.

Literatur $UEHLWVNUHLV6WDGWSODQXQJXQG'HQNPDOSÀHJH0DLQ]EOHLEW0DLQ]"0DLQ] Durth, Werner und Gutschow, Niels: Architektur und Städtebau der fünfziger Jahre. Köln 1987. Durth, Werner und Gutschow, Niels: Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940-1950. Zweiter Band – Städte, Braunschweig/Wiesbaden 1988. Durth, Werner und Sigel, Paul: Baukultur – Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin 2009, S. 454–458. Frank, Hartmut: Trümmer. Traditionelle und moderne Architektur im Nachkriegsdeutschland. In: Grauzonen – Kunst und Zeitbilder – Farbwelten 1945-1955, hg. v. Bernhard Schulz, Berlin 1983, S. 43-84. Hartmann, Egon: Mainz, Analyse seiner städtebaulichen Entwicklung. Stuttgart 1963 (zugl. Diss. TH Darmstadt 1962). Hartmann, Egon: Stufen am Wege, Band II, Der Urbanist: Unveröffentlichtes Manuskript, München 2008, S. 212–268. Henning, Heinrich: Mainz – das Schicksal einer Stadt. In: Die neue Stadt, Zeitschrift für Architektur und Städtebau, 1953, H. 2, S. 49–83.

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Jacobi, Hans: Ein Jahrzehnt Planung und Bau des ganzheitlichen Mainzer Verkehrssystems. In: 40 Jahre Mainzer Automobil-Club, Mainz 1966, S. 107–115. /DQGHVDPW IU 'HQNPDOSÀHJH 5KHLQODQG3IDO]$UFKLWHNWXU XQG 6WlGWHEDX GHU HU Jahre. Mainz 1992. Link, Alexander: Zerstörung und Wiederaufbau. In: Leben in den Trümmern. Mainz 1945 bis 1948, hg. v. Anton Maria Keim und Alexander Link, Mainz 1985, S. 13–32. May, Ernst (Hg.), mit Felix Bösler u. Kurt Leibbrand: Das neue Mainz. Erläuterungsbericht des Planungsbeauftragten zur Generalplanung der Stadt Mainz, Mainz 1961. Metzendorf, Rainer: Beim Wiederaufbau Meilensteine gesetzt. Portrait eines Mainzer Stadtplaners: Egon Hartmann zum 75. Geburtstag. In: Mainz Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte, 14. Jg. (1994), H. 3, S. 114–120. Metzendorf, Rainer: Die „Neue Hauptstraße“ von Mainz. Planungsgedanken aus dem Jahre 1946 zum Umbau der Rheinstraße und zur Umgestaltung des Rheinufers. In: Mainz Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte, 16. Jg. (1996), H. 4, S. 108–109. Metzendorf, Rainer: Mayence – Stadt der Zukunft. Französische Planungen von 1946 bis 1948. In: Mainz Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte, 26. Jg. (2006), H. 4, S. 26–31. Metzendorf, Rainer: Nachkriegs-Stadtentwicklung: „Frikadellenpläne“ und Luftballons. In: Die neue Firmenzentrale der Stadtwerke Mainz AG, Festschrift der Stadtwerke Mainz AG (Hg.), Mainz 2009, S. 6–10, sowie in: Mainz Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte, 30. Jg. (2010), H. 1, S. 46–51 Metzendorf, Rainer: Die Ludwigsstraße im Wandel der Zeiten. In: Mainz Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte, 31. Jg. (2011), H 3, S. 36–45. Metzendorf, Rainer: Egon Hartmann und das neue Mainz. In: Mainzer Zeitschrift – Mittelrheinisches Jahrbuch, Jahrgang 106/107 (2011/2012), S. 309–326. Metzendorf, Rainer; Mainz und sein Rathaus – eine unendliche Geschichte? In: Mainz Vierteljahreshefte für Kultur, Politik, Wirtschaft, Geschichte, 33. Jg. (2013), H. 1, S. 64–71. Oppenheim, Michel: Die städtebauliche Entwicklung der Stadt Mainz. masch.-schr. vervielf., Mainz 1948. Stadt Mainz, Baudezernat (Hg.): 1896–1996. 100 Jahre Mainzer Bauämter. Wege und (UJHEQLVVH0DLQ]$XÀ

Die Autoren

Dr. Gerold Bönnen geb. 1964, Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Trier, 1989 Staatsexamen, 1993 Promotion („Die Bischofsstadt Toul und ihr Umland während des hohen und späten Mittelalters“), 1994-1996 Ausbildung für den höheren Archivdienst, seit 1996 Leiter des Stadtarchivs Worms. Herausgeber und Autor mehrerer Beiträge der „Geschichte der Stadt Worms“ (Stuttgart 2005) sowie zahlreicher Untersuchungen zur mittelalterlichen Stadtgeschichte, insbesondere von Worms, zur Geschichte der Städtebünde und der SchUM-Städte. Prof. Dr. Lukas Clemens geb. 1961 in Düsseldorf, Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Trier, Promotion 1991 zum Dr. phil. in Geschichte mit einer Arbeit über „Trier – Eine Weinstadt im Mittelalter“, 2000 Habilitation im Fach Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mainz mit der Arbeit „Tempore Romanorum constructa. Zur Nutzung und Wahrnehmung antiker Überreste nördlich der Alpen während des Mittelalters“, von 1993 bis 2004 Kustos am Rheinischen Landesmuseum Trier für die Referate Mittelalterarchäologie und Stadtarchäologie, seit 2004 Professor für Mittelalterliche Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Trier. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Wirtschafts- bzw. Technikgeschichte des Mittelalters sowie Mittelalterarchäologie. Weitere Infos s. Homepage: http://geschichte.uni-trier.de/index.php?id=46. Prof. Dr. Johannes Dillinger geb. 1968, Studium von Geschichte, katholischer Theologie und Pädagogik in Tübingen und Norwich, Promotion in Geschichte in Trier, Habilitation (Venia legendi für Neuzeit und Landesgeschichte) in Trier, Gastdozent in Washington, Stanford, Neu Delhi, Senior Lecturer in Oxford. Seit 2009 Heisenberg-Stipendiat an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2012 Umhabilitierung nach Mainz. Forschungsschwerpunkte: Verfassungsgeschichte, Magie, Kriminalität, Vergleichende Landesgeschichte.

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Anhang

Dr. Michael Martin geb. 1947, Studium der Fächer Französisch, Geschichte und Buch-, Schrift- und Druckwesen an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Ausbildung im Höheren Archivdienst, Hohenlohe Zentralarchiv Neuenstein, Stadtarchiv Mannheim, Leiter des Stadtarchivs Landau (1988– 2012). Publikationen zur Lokal- und Regionalgeschichte. Dr.-Ing. Rainer Metzendorf geb. 1941 in Hamburg, 1963–1968 Studium an der Technischen Hochschule in München, 1993 Promotion an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Seit 1972 in Mainz, 1978–2004 Stadtplanungsamt Mainz, 1998 Professur für das Lehrfach Entwurf im Fachbereich Architektur an der Fachhochschule Mainz. Mitglied des Deutschen Werkbundes, 2. Vorsitzender in Rheinland-Pfalz von 20042007, Preise bei Planungswettbewerben sowohl als Architekt als auch als Stadtplaner. Veröffentlichungen über Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts. Dr. Wolfgang Hans Stein 1975 Dr. phil. an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, 1977 Assessor des Archivwesens an der Archivschule Marburg, danach bis 2010 im Archivdienst des Landes Rheinland-Pfalz tätig, zuletzt stellvertretender Leiter des Landeshauptarchivs Koblenz. 1997-2000 Abordnung an das Deutsche Historische Institut in Paris. Forschungsschwerpunkte: deutschfranzösische Geschichte der frühen Neuzeit, der Französischen Revolution und des Empire.

Anhang

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Bildnachweis S. 18

Entwurf: Hartwig Löhr, Ausführung: Hartmut Albrecht

S. 33

Rheinisches Landesmuseum Trier

S. 35

Entwurf: Lukas Clemens/Hartwig Löhr, Ausführung: Hartmut Albrecht

S. 46 unten, 48

Stadtarchiv Speyer

S. 46 oben

Stadtarchiv Worms, Abt. 1 A II Nr. 84a

S. 49

Stadtarchiv Worms

S. 55

Stadtarchiv Worms, Abt. 1 B 23, 15. Jh.

S. 56

Stadtarchiv Worms, Abt. 1 B Nr. 1922

S. 59

Stadtarchiv Worms, Abt. 1 B Nr. 1807: geb. Sammlung JHGUXFNWHU$NWHQEHWU.RQÀLNWH]ZLVFKHQ6WDGWXQG.OHUXV in Speyer

S. 82, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 94

Stadtarchiv Landau

S. 100

Wolfgang Hans Stein: Untertan, Citoyen, Staatsbürger, Koblenz 1981, Nr. 125, S. 115

S. 101

Reinhold Weitz: Die preußische Rheinprovinz als Adelslandschaft. In: RheinVjbll 38 (1974), S. 346

S. 118

Dom- u. Diözesanarchiv, Mainz

S. 119. 120, 124, 125

Stadtarchiv Mainz

S. 122, 130, 135, 137

Rainer Metzendorf, Mainz

S. 123

Nachlass Paul Schmitthenner, Stuttgart

S. 128

Renate Beck-Hartmann, München

S. 132, 134

Stadt Mainz

M A I N Z E R VO RT R ÄG E Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde der Universität Mainz e.V. Die Mainzer Vorträge des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Johannes GutenbergUniversität Mainz e.V. verfolgen das Ziel, wichtige historische Themen und Ergebnisse der Forschung einem breiten, historisch interessierten Publikum zu präsentieren. Dank der seit Jahren vorzüglichen Kooperation mit der Akademie des Bistums Mainz – Erbacher Hof steht dafür mit dem Haus am Dom ein idealer Veranstaltungsort im Herzen der Stadt zur Verfügung. So trägt die jeweils im Januar/Februar veranstaltete Vortragsreihe ebenso wie die Präsentation der neuen Bände der wissenschaftlichen Reihe Geschichtliche Landeskunde im Rathaus und an anderen Orten dazu bei, die Verbindung zwischen der Universität und der Stadt zu vertiefen. Die Vortragsreihe steht jeweils unter einem Generalthema, das von Fachleuten vorwiegend, aber nicht ausschließlich mit regionalgeschichtlichem Bezug in verschiedenen historischen Epochen behandelt wird. Die wachsenden Zuhörerzahlen bestätigen, dass das Konzept angenommen wird. Die Drucklegung in einer preiswerten Reihe will vor allem den Hörerinnen und Hörern die Gelegenheit geben, den flüchtigen Eindruck des Vortrags zu vertiefen bzw. versäumte Vorträge nachzulesen. Die einzelnen Bände werden allen Mitgliedern des Instituts für Geschichtliche Landeskunde e.V. auf Anforderung als Jahresgabe überreicht. Die Vorträge wie die Publikation wenden sich also nicht primär an die Fachwissenschaftler, die gleichwohl willkommen sind (und in erfreulicher Zahl erscheinen). Die gedruckte Vortragsfassung bietet in der Regel weiterführende Literaturhinweise, aber nur ausnahmsweise Fußnoten und Register. Wenn die Mainzer Vorträge trotzdem wissenschaftlich anregend wirken, so ist das ein willkommener Nebeneffekt.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 0949–4596

Franz J. Felten (Hg.) Bonifatius – Apostel der Deutschen Mission und Christianisierung vom 8. bis ins 20. Jahrhundert 2004. 159 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08519-9 10. Michael Matheus (Hg.) Lebenswelten Johannes Gutenbergs 2005. 216 S. mit 23 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07728-6 11. Franz J. Felten (Hg.) Städtebünde – Städtetage im Wandel der Geschichte 2006. 121 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08703-2 12. Franz J. Felten (Hg.) Mainzer (Erz-)Bischöfe in ihrer Zeit 2008. 169 S. mit 19 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08896-1

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Franz J. Felten (Hg.) Frankreich am Rhein Vom Mittelalter bis heute 2009. 236 S. mit 43 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09327-9 Franz J. Felten (Hg.) Wirtschaft an Rhein und Mosel Von den Römern bis ins 19. Jahrhundert 2010. 114 S. mit 16 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09820-5 Franz J. Felten (Hg.) Befestigungen und Burgen am Rhein 2011. 171 S. mit 55 Abb., Graph. und Ktn., kt. ISBN 978-3-515-10072-4 Franz J. Felten (Hg.) Städte an Mosel und Rhein von der Antike bis nach 1945 2013. 143 S. mit 33 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10456-2

In der historischen Entwicklung der Region an Rhein und Mosel spielten die Städte als Zentren der Macht und der militärischen Präsenz, des Handels und der Kultur seit der Antike stets eine wichtige Rolle. Am Beispiel von ausgewählten Städten des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz werden einzelne dieser Aspekte in verschiedenen Epochen schlaglichtartig beleuchtet. In diesem Raum kam der Stadt Trier in der Antike eine herausragende Bedeutung zu. Worms und Speyer werden als führende Städte im hohen und späten Mittelalter vergleichend behandelt.

Eine Festungsstadt im Grenzgebiet wie Landau hatte – meist in kriegerischer Auseinandersetzung – oft Berührung mit dem französischen Nachbarn. An der Geschichte von Koblenz wird der Wandel von der Residenz- zur Verwaltungsstadt im Umbruch vom 18. zum 19. Jahrhundert deutlich, während für die Wiederaufbauplanung nach dem Zweiten Weltkrieg in der französischen Zone Mainz als interessantes Beispiel dient. Den Beziehungen zwischen den Städten und ihrem Umland in der frühen Neuzeit widmet sich ein weiterer Beitrag.

www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag

ISBN 978-3-515-10456-2

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