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German Pages 292 Year 2001
CHRISTOF-ULRICH GOLDSCHMIDT
Die Wissenszurechnung
Schriften zum Bürgerlichen Recht Band 247
Die Wissenszurechnung Ein Problem der jeweiligen Wissensnorm, entwickelt am Beispiel des § 463 S. 2 BOB
Von Christof-Ulrich Goldschmidt
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Goldschmidt, Christof-U1rich: Die Wissenszurechnung : ein Problem der jeweiligen Wissensnorm, entwickelt am Beispiel des § 463 S. 2 BGB I Christof-Ulrich Goldschmidt. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Schriften zum bürgerlichen Recht; Bd. 247) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10142-1
Alle Rechte vorbehalten Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany
© 2001
ISSN 0720-7387 ISBN 3-428-10142-1 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 97069
Meinen Eltern und meinem Bruder Stefan
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Juristischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation angenommen. Das Manuskript wurde im Mai 1999 abgeschlossen. Rechtsprechung und Literatur wurden weitestgehend bis Ende April 2000 nachgetragen. Meinem wissenschaftlichen Lehrer, Herrn Professor Dr. Eduard Picker, der sich mir stets als kritischer Gesprächspartner zur Verfügung gestellt hat, danke ich für die hervorragende und engagierte Betreuung. Herrn Professor Dr. Jan Schröder danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens und seine wertvollen Anmerkungen zu meiner Arbeit. Meinen Eltern danke ich für die großzügige Unterstützung, ohne die diese Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Dmen und meinem Bruder Stefan, die mir immer helfend zur Seite gestanden haben, widme ich diese Arbeit. Frankfurt am Main, im März 2001
Christof-Ulrich Goldschmidt
Inhaltsübersicht Einleitung .............................................................................
23
Wissenszurechnung - das Problem der dogmatischen Begründung einer Haftungsverschärfung ...........................................................................
24
1. Teil
Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
26
1. Abschnitt Die Lösungsvorschläge zur Wissenszurechnung
26
I. Allgemeine Rechtfertigungsgründe ..............................................
26
11. Wissenszurechnung über § 166...................................................
37
III. Wissenszurechnung über § 278 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen ..................
60
V. Organisation der internen Kommunikation.......................................
71
VI. Die Rechtsprechung zur Wissenszurechnung .....................................
79
VII. Vorschlag de lege ferenda ........................................................
81
2. Abschnitt Die Wissenszurechnung als Problem der Wissensnormen
84
I. Ablehnung einer Einheitslösung .................................................
84
11. Kompromiß zwischen Verkehrsschutz und Handlungsfreiheit ....................
86
III. Wissensnormen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung .. . . . . . . . . . . . . . . .
87
3. Abschnitt Die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 I. Definition der Arglisthaftung ....................................................
97 98
11. Haftungsgrund des § 463 S. 2 .................................................... 106
10
Inhaltsübersicht
III. Rechtsgrund für die Beschränkung auf eine Vorsatzhaftung ...................... 114 IV. Bestätigung durch die Entstehungsgeschichte .................................... 117 V. Haftung für Organisationsarglist .......................................... . ...... 136 4. Abschnitt Die FahrlässIgkeitshaftung
149
I. Fahrlässigkeitshaftung aus PVVoder c.Lc. ....................................... 151 11. Pflichtverletzung ................................................................ 153 III. Verletzung einer Hauptleistungspflicht ........................................... 155 IV. Verletzung einer Nebenleistungspflicht ........................................... 156 V. Schutzpflichtverletzung .......................................................... 172 2. Teil
Wissenszurechnung bei juristischen Personen
207 207
I. Einführung
11. Gleichsetzung von "Organwissen" mit "Wissen der juristischen Person" .......... 212 III. Wissenszurechnung über die Vorschriften der Passivvertretung ................... 219 IV. Wertende Zurechnung von Schilken .............................................. 223 V. Zurechnung über § 166 I und 11 .................................................. 227 VI. Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation ......... 233 VII. Zurechnung über § 31 ............................................................ 237 VIII. Folgerungen für die Wissenszurechnung .......................... .. ............. 241 IX. Zurechnung des Wissens von Gesellschaftern .................................... 252 3. Teil
Wissenszurechnung bei Gesamthandsgesellschaften
261
I. Wesen der Gesamthandsgesellschaft ............................................. 261 11. Folgerungen für die Wissenszurechnung ......................................... 263 Ergebnis der Untersuchung .......................................................... 270 LiteraturverzeichnJs ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . . . .. . . .. 272 Sachwortverzeichnis . . .. . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . . .. . . .. 290
Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................................................................
23
Wissenszurechnung - das Problem der dogmatischen Begründung einer Haftungsverschärfung ...........................................................................
24
I. Teil
Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
26
1. Abschnitt
Die Lösungsvorscbläge zur Wissenszureclmung I. Allgemeine Rechtfertigungsgründe ..............................................
26 26
I. Arbeitsteilung ................................................................
27
a) Arbeitsteilung bei der Kenntniserlangung .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
28
b) Kritik .....................................................................
28
c) Arbeitsteilung bei der Wissensspeicherung ................................
29
d) Kritik .....................................................................
29
e) Folgerung: Arbeitsteilung als Begrenzungsprinzip .........................
30
2. Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins ...
31
a) Begründung der Wissenszurechnung ......................................
31
b) Kritik .....................................................................
31
3. Gleichstellung arbeitsteilig handelnder Organisationen mit Einzelpersonen ...
32
a) Begründung der Wissenszurechnung ......................................
32
b) Kritik .....................................................................
33
c) Folgerung: Gleichstellungsargument als Begrenzungsprinzip ..............
33
4. Risikoverteilung .............................................................
34
a) Begründung der Wissenszurechnung ......................................
34
b) Kritik .....................................................................
34
c) Folgerung: gerechte Risikoverteilung als Begrenzungsprinzip .............
35
5. Zusammenfassung ...........................................................
36
12
Inhaltsverzeichnis 11. Wissenszurechnung über § 166...................................................
37
1. Richardi .....................................................................
38
2. Kritik ......................... . .............. . ...............................
40
3. Waltermann ..................................................................
40
4. Kritik ........................................................................
42
5. Schilken .....................................................................
42
6. Kritik ........................................................................
44
7. Schultz.......................................................................
45
8. Kritik ........................................................................
46
9. Ablehnung einer mit § 166 I begründeten Wissenszurechnung ................
47
a) Beschränkung auf das rechtsgeschäftliche Handeln ........................
47
b) Beschränkung auf den Stellvertreter.......................................
47
c) Beschränkung auf den konkret Handelnden................................
47
d) Beschränkung auf das konkrete Rechtsgeschäft ............................
48
10. Zusammenfassung ...........................................................
48
III. Wissenszurechnung über § 278 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
1. Reimer Schmidt - Obliegenheiten ............................................
50
2. Kritik ........................................................................
51
3. Canaris ......................................................................
52
4. Kritik ........................................................................
53
5. Ablehnung einer mit § 278 begründeten Wissenszurechnung .................
54
a) Risikoverteilung bei der Wissenszurechnung ..............................
54
b) Risikoverteilung bei § 278.................................................
55
aa) § 278 und der zum Wissen führende Akt der Kenntniserlangung .......
56
bb) § 278 und das präsente Wissen der Hilfspersonen ......................
58
cc) § 278 und die unterlassene Weitergabe des Wissens ...................
59
6. Zusammenfassung ...........................................................
60
IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen ..................
60
1. Zurechnung des Speicherwissens über § 166 I und 11 .........................
61
2. Kritik ........................................................................
62
a) Vergleich mit einem unbeteiligten Stellvertreter ......................... . .
62
b) Eigengeschäft .............................................................
62
c) Funktionsunterschied zwischen Wissensvertreter und Speichermedium ....
63
Inhaltsverzeichnis
13
d) Arbeitsteilung .............................................................
64
e) Fahrlässigkeitshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .
64
f) § 16611 ...................................................................
65
g) Dokumentationspflicht ....................................................
65
h) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
3. Ausweitung des Tatbestandsmerkmals der Kenntnis ..........................
65
a) Bohrer ....................................................................
66
b) Medicus ...................................................................
67
c) BGH ......................................................................
68
4. Kritik ........................................................................
69
a) Fahrlässigkeitshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . .
69
b) Dokumentationspflicht ....................................................
70
5. Zusammenfassung...........................................................
71
V. Organisation der internen Kommunikation.......................................
71
I. Schultz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
2. Kritik ........................................................................
73
3. Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation .....
73
4. Kritik ........................................................................
76
a) Beherrschbarkeit des Wissensdefizits ......................................
76
b) Ausschluß natürlicher Einzelpersonen .....................................
77
c) Erwartungshaltung des Rechtsverkehrs....................................
77
d) Treu und Glauben .........................................................
78
e) Fahrlässigkeitshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
5. Zusammenfassung ...........................................................
79
VI. Die Rechtsprechung zur Wissenszurechnung .....................................
79
I. Wissensvertreter .............................................................
79
2. Organisationspflicht und Speicherwissen .....................................
80
3. Kritik................... . ................ . ...................................
81
VII. Vorschlag de lege ferenda ........................................................
81
I. Waltermann ............................ . .....................................
81
2. Kritik ........................................................................
82
14
Inhaltsverzeichnis 2. Abschnitt
Die Wissenszurecbnung als Problem der Wissensnonnen
84
I. Ablehnung einer Einheitslösung .................................................
84
1. Lehre von der Einheitslösung ................................................
84
2. Kritik ........................................................................
85
II. Kompromiß zwischen Verkehrsschutz und Handlungsfreiheit ....................
86
III. Wissensnormen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung ....... . . . . . . . . . .
87
1. Beispielsfall gutgläubiger Erwerb ............................................
88
2. Beispielsfall Eigentümer - Besitzer - Verhältnis ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
3. Beispielsfall Arglisthaftung ..................................................
88
4. Lösung des Beispielsfalls gutgläubiger Erwerb ...............................
89
5. Lösung des Beispielfalls Eigentümer - Besitzer - Verhältnis. . . . .. .. . . . . . . . . . .
90
6. Lösung des Beispielfalls der Arglisthaftung ..................................
91
a) Haftung nur für Abschluß und Verhandlungsbevollmächtigte ..............
91
b) Haftung für alle Hilfspersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
c) Waltermann - de lege ferenda .............................................
94
d) Organisationsverschulden .................................................
95
7. Zusammenfassung und Ausblick auf die weitere Untersuchung........ .......
96
3. Abschnitt
Die ArgUstbaftung nach § 463 S. 2
97
I. Definition der Arglisthaftung ....................................................
98
1. Vorsatzhaftung ...............................................................
98
2. Arglisthaftung frei von moralischen Vorwürfen ...............................
99
3. Verschweigen eines Mangels trotz greifbarer Anhaltspunkte.................. 100 4. Verschweigen eines Mangelverdachts ........................................ 101 a) Unbestimmter und globaler Verdacht...................................... 101 b) Bestätigung durch die ratio des § 463 S. 2 ................................. 102 5. Schweigen auf gut Glück..................................................... 103 6. Erklärungen ins Blaue hinein................................................. 104 7. Zusammenfassung............................. .............................. 106
Inhaltsverzeichnis
15
11. Haftungsgrund des § 463 S. 2 .................................................... 106 1. § 463 S. 2 als gesetzlich geregelter Fall der culpa in contrahendo ............. 106 2. § 463 S. 2 als Ausnahmevorschrift oder Strathaftung ......................... 107 3. § 463 S. 2 als Ausdruck einer gesetzlichen Garantie für die Ehrlichkeit des Verkäufers ................................................................... 108 4. § 463 S. 2 als Ausdruck einer Störung des vertraglichen Äquivalenzverhältnisses ........................................................................ 109 5. § 463 S. 2 als notwendige Folge der Verkäuferpflicht zur Lieferung einer fehlerfreien Sache ............................................................... 11 0 6. Zurückbleiben der Kaufsache hinter der Leistungsvereinbarung .............. 111 7. Bestätigung der Thesen Flumes .............................................. 112 8. Zusammenfassung ........................................................... 114 III. Rechtsgrund für die Beschränkung auf eine Vorsatzhaftung ...................... 114 1. § 463 S. 2 als Haftungsbeschränkung ......................................... 115 2. Ausschluß einer Untersuchungspflicht ........................................ 116 3. § 463 S. 2 als Schutzvorschrift zugunsten des Verkäufers ..................... 117 IV. Bestätigung durch die Entstehungsgeschichte .................................... 117 1. 1. Kommission ............................................................... 118 2.2. Kommission............................................................... 123 3. Zwischenergebnis und Ausblick.............................................. 125 4. Folgerungen für die Wissenszurechnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 126 a) Schutzvorschrift zugunsten des Verkäufers ................................ 127 b) Haftungsbeschränkung .................................................... 127 5. Anwendung auf Hilfspersonen ............................................... 127 a) Abschluß- und Verhandlungsbevollmächtigte .............................. 128 b) Verminler, Bote und interne Berater....................................... 129 c) Am konkreten Rechtsgeschäft unbeteiligte Hilfsperson .................... 130 6. Abgrenzung zu anderen Lehren .............................................. 130 a) Abgrenzung zur Lehre von der Einheitslösung ............................. 130 b) Abgrenzung zur Lehre der allgemeinen Rechtfertigungsgründe ............ 131 c) Abgrenzung zur Lehre von Schilken ....................................... 132 d) Abgrenzung zu der an § 166 orientierten Lehre............................ 134 e) Abgrenzung zu der an § 278 orientierten Lehre............................ 135 7. Zusammenfassung ........................................................... 135
16
Inhaltsverzeichnis V. Haftung für Organisationsarglist ................................................. 136 1. Arglisthaftung bei Verschweigen eines globalen Mangelverdachts ............ 137 2. Gleichstellung von wirklichem Wissen und bewußt vermiedenem Wissen .... 138 3. Bestätigung durch die ratio des § 463 S. 2 .................................... 139 4. Abgrenzung zur Untersuchungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 139 5. Abgrenzung zur Fahrlässigkeitshaftung ...................................... 139 6. Arglisthaftung für bewußt vermiedenes Wissen als Lösung der Wissenszurechnungsproblematik ........................................................ 140 a) Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation .. 141 b) Dokumentations- und Abfragepflicht ...................................... 142 c) Vertikaler Informationsaustausch .......................................... 143 d) Vorsatz hinsichtlich eines Fehlers der Kaufsache ........................... 144 e) Abgrenzung zur Fahrlässigkeit ............................................ 144 f) Parallele zum Werkvertragsrecht .......................................... 146
7. Zusammenfassung ........................................................... 148
4. Abschnitt Die Fahrlässigkeitsbaftung
149
I. Fahrlässigkeitshaftung aus PVVoder c.i.c. ....................................... 151 11. Pflichtverletzung ................................................................ 1S3 111. Verletzung einer Hauptleistungspflicht ........................................... 155 IV. Verletzung einer Neben1eistungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 156 1. Untersuchungspflicht ........................................................ 157 a) Keine Untersuchungspflicht ............................................... 157 b) Generelle Untersuchungspflicht ........................................... 158 c) Untersuchungspflicht des gewerblichen Verkäufers........................ 159 2. Untersuchungspflicht des Gebrauchtwagenhändlers .......................... 160 a) Agenturgeschäft ........................................................... 160 b) Eigengeschäft ............................................................. 162 aa) Keine Untersuchungspflicht des Gebrauchtwagenhändlers ............. 163 bb) Generelle Untersuchungspflicht des Gebrauchtwagenhändlers ......... 164 3. Aufklärungspflicht ........................................................... 165 a) Rechtsprechung........................................................... 166 aa) Grundsätzlich keine Auskunftspflicht ................................. 166 bb) Ausnahmen........................................................... 167
Inhaltsverzeichnis
17
b) Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 168 aa) Regelmäßig bestehende Aufklärungspflicht ........................... 168 bb) Aufklärungspflicht nur in Ausnahmefällen ............................ 168 c) Stellungnahme ............................................................ 170 V. Schutzpflichtverletzung .......................................................... 172
1. Flume ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Stellungnahme zu Flume ..................................................... 174 3. Dogmatische Begründung der Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 175 a) Vertrag .................................................................... 175 b) Sozialer Kontakt .......................................................... 175 c) Vertrauen.................................................................. 176 d) Berufshaftung ............................................................. 177 e) Deliktsrecht ............................................................... 177 f) neminem laedere .......................................................... 178
g) Stellungnahme ............................................................ 180 4. Folgerungen für das zivilrechtliche Haftungssystem .......................... 181 5. Folgerungen für die Haftung eines arbeitsteilig handelnden Verkäufers ....... 182 a) Trennung zwischen Leistungspflichten und Schutzpflichten ................ 183 b) Schutzpflichtverletzung ................................................... 184 aa) Lieferung einer mangelhaften Sache .................................. 185 bb) Vertrag über eine mangelhafte Sache.................................. 187 cc) Lieferung und Vertragsschluß ......................................... 189 dd) Stellungnahme........................................................ 190 6. Wissenszurechnung als Verschuldensproblem ................................ 191 a) Sorgfaltsmaßstab .......................................................... 191 b) Einsatz von Hilfspersonen ................................................. 192 c) Unverschuldeter Verstoß gegen die Schutzpflicht .......................... 196 d) Zwischenergebnis ......................................................... 197 7. Verhältnis zur Sachmängelgewährleistungshaftung ........................... 197 8. Mangel- und Mangelfolgeschäden ... . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 199 9. Verjährung ................................................................... 200 10. Beweislast ................................................................... 203 11. Zusammenfassung 2 Goldschmidt
205
Inhaltsverzeichnis
18
2. Teil
Wissenszurechnung bei juristischen Personen I. Einführung
207 207
1. Streit zwischen Vertreter- und Organtheorie .................................. 207 2. Suche nach der ,,richtigen" Zurechnungsnonn ................................ 208 3. Wissenszurechnung bei mehreren Organwaltern .............................. 209 a) Gesamtvertretung ...................................... . .................. 209 b) Einzelvertretung ........................................................... 210 c) Ausgeschiedener Organwalter ............................................. 211 d) Privates Wissen ........................................................... 212
11. Gleichsetzung von "Organwissen" mit "Wissen der juristischen Person" .......... 212 1. Wissen des unbeteiligten Organwalters ....................................... 212 2. Wissen des ausgeschiedenen Organwalters ................................... 213 3. Privates Wissen.............................................................. 214 4. Stellungnahme............................................................... 214 a) Mystifikation der Organtheorie ............................................ 214 b) Verstoß gegen das Gleichstellungsargument ............................... 215 c) Gleichsetzung von Vorsatz und Fahrlässigkeit ............................. 217 d) Garantiehaftung ........................................................... 217 e) Beschränkung auf die Organwalterebene .................................. 218 f) Zusammenfassung......................................................... 218
III. Wissenszurechnung über die Vorschriften der Passivvertretung ................... 219 1. Umfassende Wissenszurechnung ............................................. 219 2. Stellungnahme............................................................... 219 a) Ausnahmevorschriften zu § 164 III ........................................ 220 b) Beschränkung auf das jeweilige Rechtsgeschäft ........................... 222 c) Kein Unterschied zur Theorie der absoluten Wissensgleichstellung ........ 222 d) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 223 IV. Wertende Zurechnung von Schilken .............................................. 223 1. Wissen der amtierenden Organwalter ......................................... 223 2. Kritik an der Auffassung von Schilken ....................................... 224 a) Möglichkeit zum Selbstschutz ............................................. 224
Inhaltsverzeichnis
19
b) Kein erheblicher Unterschied zur naturalistischen Anwendung der Organtheorie .................................................................... 225 c) Möglichkeit zum Mißbrauch .............................................. 226 d) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 226 V. Zurechnung über § 166 I und n
..................................................
227
1. Baumann .................................................................... 227 2. Kommentarliteratur zum GmbHG ............................................ 228 3. Stellungnahme ............................................................... 229 a) Unterscheidung zwischen .,Eigen-" und .,Fremdwissen" in § 166 I ......... 229 b) Unanwendbarkeit des § 166 11 ............................................. 230 c) Historische Interpretation Baumanns ...................................... 231 d) Risikoverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 232 e) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . ... ... .. .. . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . ... . . . .. .. 233 VI. Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation ......... 233
1. Wissen des konkret handelnden Organwalters ................................ 233 2. Wissen sonstiger Organwalter ................................................ 234 3. Kritik an der Wissenszurechnung kraft Organisationspflicht .................. 235 a) Konkret handelnder Organwalter .......................................... 235 b) Vermengung von Vorsatz und Fahrlässigkeit............................... 236 c) Garantiehaftung ........................................................... 236 d) Ausschluß des Vergessens ................................................. 236 e) Zusammenfassung. . . . . . . .. . . .. . . . . . . . . ... . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . .. .... 237 VII. Zurechnung über § 31 ............................................................ 237 1. Rechtsgedanke des § 31 ...................................................... 237 2. Unmittelbare Anwendung des § 31 ........................................... 237 3. Analoge Anwendung des § 31 ................................................ 238 a) Gesetzeslücke ............................................................. 238 b) Vergleichbare Interessenlage .............................................. 238 aa) Korrelation von Vor- und Nachteilen .................................. 238 bb) Gleichstellungsargument .............................................. 239 cc) Arbeitsteilung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 239 dd) Repräsentant als Wissensvertreter ..................................... 240 c) Anwendung im rechtsgeschäftlichen Bereich .............................. 240 2·
20
Inhaltsverzeichnis
VIll. Folgerungen für die Wissenszurechnung ......................................... 241 l. Zurechnung als Eigenwissen ................................................. 241
2. Wissen des konkret handelnden Organwalters ................................ 242 3. Wissen des ausgeschiedenen Organwalters ................................... 242 4. Wissen eines arn konkreten Rechtsgeschäft unbeteiligten Organwalters ....... 244 5. Privates Wissen.............................................................. 249 6. Wissenszurechnung unterhalb der Organebene ............................... 250 7. Haftung fllr Organisationsarglist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 250 8. Fahrlässigkeitshaftung ....................................................... 251 9. Zusammenfassung ........................................................... 251 IX. Zurechnung des Wissens von Gesellschaftern .................................... 252 I. Gleichsetzung des Gesellschafterwissens mit dem Wissen der juristischen Person ....................................................................... 252 2. Zurechnung nach § 16611 .................................................... 252 3. Zurechnung kraft Mitgliedschaft ............................................. 253 4. Zurechnung nach § 166 I und 11 .............................................. 253 5. Zurechnung kraft Durchgriffs ................................................ 254 6. Stellungnahme ............................................................... 255 7. Zusammenfassung ........................................................... 260
3. Teil
Wissenszurechnung bei Gesamthandsgesellschaften
261
I. Wesen der Gesamthandsgesellschaft ............................................. 261 l. Traditionelle Gesamthandstheorie ............................................ 261
2. Gesamthandsgesellschaft als Rechtssubjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 262 11. Folgerungen für die Wissenszurechnung ......................................... 263 l. Traditionelle Gesamthandstheorie ............................................ 263
2. Gesamthandsgesellschaft als Rechtssubjekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264 a) Wissen des konkret handelnden Gesellschafters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 265
Inhaltsverzeichnis
21
b) Wissen eines am konkreten Rechtsgeschäft unbeteiligten Gesellschafters c) Wissen des ausgeschiedenen Gesellschafters d) Privates Wissen 30
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Wissenszurechnung unterhalb der Gesellschafterebene
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Haftung für Organisationsarglist und Fahrlässigkeitshaftung Zusammenfassung
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Ergebnis der Untersuchung Literaturverzeichnis Sachwortverzeichnis
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Einleitung Wissenszurechnung - hinter diesem Begriff verbirgt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Person haftet, wenn infolge arbeitsteiligen Handelns nicht sie selbst, sondern eine andere Person rechtlich relevante Umstände kennt oder infolge von Fahrlässigkeit nicht kennt. Wenn beispielsweise der Gebrauchtwagenhändler G sich nicht mehr selbst mit dem Einkauf und der Reparatur der Gebrauchtwagen befaßt, sondern seinen Angestellten R damit betraut hat, die Fahrzeuge zu erwerben, auf Mängel zu untersuchen und gegebenenfalls zu reparieren, dann werden alle rechtserheblichen Mängel eines Fahrzeugs, die während des Einkaufs und der Reparatur zutage treten, nicht von G, sondern ausschließlich von R zur Kenntnis genommen. Erwirbt R nun einen Unfallwagen und repariert er diesen Unfallwagen so geschickt, daß selbst schwerste Mängel nicht mehr äußerlich sichtbar sind, dann weiß nicht G, sondern allein R, daß der Gebrauchtwagen mit einem Fehler behaftet ist. 1 Verkauft G diesen Unfallwagen unter Ausschluß der Gewährleistung an den Käufer K, ohne ihn darauf hinzuweisen, daß das Kraftfahrzeug ein Unfallwagen ist, dann stellt sich die Frage, ob der an sich gutgläubige G allein aufgrund des Wissens seiner Hilfsperson R gemäß § 463 S. 2 BGB 2 haftet. Kann das Wissen eines Rechtssubjekts einem anderen Rechtssubjekt mit der Folge seiner Haftung zugerechnet werden? Diese Frage wird in Literatur und Rechtsprechung äußerst kontrovers diskutiert. 3 Neben allgemeinen Rechtsgedanken wird vor allem die Vorschrift des § 166 herangezogen, um eine Haftung des Geschäftsherrn kraft Wissenszurechnung bejahen zu können. Aber auch mit § 278 oder mit dem Gedanken der ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation wird die Wissenszurechnung und damit die Haftung des Geschäftsherrn begründet. Bei juristischen Personen und Gesamthandsgesellschaften wird die Wissenszurechnung auch auf § 31 oder auf die Vorschriften über die Passivvertretung gestützt (§§ 28 II, 1629 I S. 2 HS. 2 BGB, 125 II S. 3 HGB, 78 II S. 2 AktG, 35 II S. 3 GmbHG). 1 Ein vergleichbarer Sachverhalt lag der Entscheidung des LG München I, ZIP 88, 924 zugrunde. 2 Soweit nicht anders gekennzeichnet, sind alle §§ solche des BGB. 3 In der dem Beispielsfall zugrundeliegenden Entscheidung des LG München I, ZIP 88, 924 hat das Landgericht eine Arglisthaftung des Geschäftsherrn bejaht. Reinking und KippeIs lehnen dagegen eine Arglisthaftung des Geschäftsherrn ab und konstruieren statt dessen eine Fahrlässigkeitshaftung aus culpa in contrahendo wegen Organisationsverschuldens (vgl. Reinking-Kippels S. 895 f.). Huber wiederum lehnt nicht nur eine Arglisthaftung des Geschäftsherrn, sondern auch eine Fahrlässigkeitshaftung ab (vgl. Soergel-Huber § 476 Rdn. 42 und Fußnote 12).
24
Einleitung
Wissenszurechnung - das Problem der dogmatischen Begründung einer Haftungsverschärfung Die Wissenszurechnung dogmatisch zu begründen, ist schwierig, weil das BGB auf das Handeln von Einzelpersonen im eigenen Namen zugeschnitten ist. 4 Rechtsnormen, die an die Kenntnis oder das Kennenmüssen bestimmte Rechtsfolgen anknüpfen, sind auf ein Rechtssubjekt grundsätzlich nur dann anwendbar, wenn gerade dieses Rechtssubjekt die rechtserheblichen Umstände im maßgeblichen Zeitpunkt gekannt oder infolge von Fahrlässigkeit nicht gekannt hat. s Dies soll an einigen beispielhaft herausgegriffenen Rechtsnormen verdeutlicht werden. Nach § 463 S. 2 haftet der Verkäufer auf Schadensersatz, wenn er einen Fehler arglistig verschwiegen hat. § 990 I begründet eine verschärfte Haftung, wenn der Besitzer beim Erwerb des Besitzes nicht in gutem Glauben war. Ein gutgläubiger Eigentumserwerb ist nach §§ 932 ff. ausgeschlossen, wenn der Erwerber nicht in gutem Glauben ist. Alle diese Vorschriften setzen nach ihrem Wortlaut voraus, daß der konkret handelnde Verkäufer, Besitzer oder Erwerber die rechtserheblichen Umstände kennt. Dagegen finden die genannten Vorschriften nach ihrem Wortlaut keine Anwendung, wenn irgendein Dritter beispielsweise die Ehefrau oder ein Freund des gutgläubigen Verkäufers, Besitzers oder Erwerbers die rechtserheblichen Umstände kennt. Diese beispielhaft herausgegriffenen Vorschriften veranschaulichen damit einen wesentlichen Grundsatz des BGB: Im Rechtsverkehr ist grundsätzlich jede Person nur für das eigene Tun und Unterlassen verantwortlich und muß dementsprechend auch nur fUr die eigene Kenntnis oder die eigene fahrlässige Unkenntnis einstehen. 6 Der Grundsatz, daß jedes Rechtssubjekt nur für die eigene Kenntnis und die eigene fahrlässige Unkenntnis verantwortlich ist, enthält also eine Haftungsbeschränkung: Gehaftet wird grundsätzlich nur fUr eigenes Wissen, nicht aber für das fremde Wissen dritter Personen. Dieser Grundsatz wird durchbrochen durch die Wissenszurechnung. Die Wissenszurechnung setzt sich über die rechtliche Vielheit verschiedener Rechtssubjekte hinweg. 7 Rechtsnormen, die an die Kenntnis oder das Kennenmüssen bestimmte Rechtsfolgen knüpfen, sind aufgrund der Wissenszurechnung nicht nur dann anwendbar, wenn das von der jeweiligen Rechtsnorm konkret betroffene Rechtssubjekt über das rechtserhebliche Wissen verfügt, sondern auch dann, wenn das maßgebliche Wissen bei einem anderen Rechtssubjekt vorhanden ist, das von der anzuwendenden Rechtsnorm nicht betroffen ist. Die Wissenszurechnung fUhrt beispielsweise dazu, daß der Verkäufer einer mangelhaften Sache nicht nur dann
4
5 6 7
Waltennann, Arglist S. 889; WaItennann, Wissenszurechnung S. 185. Waltennann, Wissenszurechnung S. 185. Larenz, AT § 2 ß c). Drexl S. 499.
Einleitung
25
gemäß § 463 S. 2 auf Schadensersatz haftet, wenn er selbst den Mangel der Kaufsache wissentlich verschweigt, sondern auch dann, wenn eine von ihm eingesetzte Hilfsperson den Fehler der Kaufsache kennt und verschweigt. Durch die Wissenszurechnung werden also die subjektiven Tatbestandsmerkmale einer Rechtsnorm durch Umstände ausgefüllt, die zum Rechtskreis eines anderen Rechtssubjekts gehören. 8 Die Wissenszurechnung führt zu einer erheblichen Haftungsverschärfung. Denn das Rechtssubjekt haftet nicht nur bei eigener, sondern auch bei fremder Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis. Durch die Wissenszurechnung tritt neben die Verantwortung für eigenes Wissen eine Verantwortung für fremdes Wissen. 9 Diese in der Wissenszurechnung liegende Haftungsverschärfung bedarf einer positiven Rechtfertigung, denn der Verantwortungsbereich eines Rechtssubjekts kann nicht willkürlich erweitert werden. Im folgenden soll deshalb untersucht werden, wie in Literatur und Rechtsprechung die in der Wissenszurechnung liegende Haftungsverschärfung dogmatisch begründet wird. Da in der Literatur und der Rechtsprechung die Wissenszurechnung bei natürlichen Personen teilweise anders begründet wird als die Wissenszurechnung bei juristischen Personen und Gesamthandsgesellschaften, soll auch in der folgenden Untersuchung zwischen der Wissenszurechnung bei natürlichen Personen, der Wissenszurechnung bei juristischen Personen und der Wissenszurechnung bei Gesamthandsgesellschaften unterschieden werden.
8 9
Drexl S. 499. Taupitz, Wissenszurechnung S. 17.
l.Teil
Wissenszurechnung bei natürlichen Personen 1. Abschnitt
Die Lösungsvorschläge zur Wissenszurechnung Zu der Frage, inwieweit das Wissen oder Wissenmüssen Dritter zuzurechnen ist, enthält das BGB keine allgemeingültige Zurechnungsregel. 10 Lediglich für das Recht der Stellvertretung bestimmt § 166 I, daß nicht die Person des Vertretenen, sondern die des Vertreters in Betracht kommt, soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch Willensmängel oder durch die Kenntnis oder das Kennenmüssen gewisser Umstände beeinflußt werden. Die gesetzliche Regelung der Wissenszurechnung wird als unzureichend,l1 unvollkommen 12 und lückenhaft 13 angesehen. Es wird deshalb versucht, allgemeine Regeln zu entwickeln, die auf alle Fälle der Wissenszurechnung Anwendung finden und mit deren Hilfe alle Fälle der Wissenszurechnung einheitlich gelöst werden können. 14
I. Allgemeine Rechtfertigungsgründe Um alle Fälle der Wissenszurechnung einheitlich lösen zu können, wird die Wissenszurechnung vielfach auf allgemeine Rechtfertigungsgründe zurückgeführt. Im Zentrum der allgemeinen Rechtfertigungsgründe steht der Gedanke der Arbeitsteilung. Aber auch der Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins, der Gleichstellung von arbeitsteilig handelnden Organisationen mit Einzelpersonen und der Gedanke der Beherrschbarkeit des Wissensdefizits werden als allgemeine Rechtfertigungsgründe herangezogen. Diese allgemeinen Rechtsgedanken können nur dann als ein allgemeingültiges Prinzip der Wissenszurechnung 'anerkannt werden, wenn sie auch tatsächlich alle Fälle der Wissenszurechnung insbesondere den in § 166 I gesetzlich geregelten 10 11 12
13 14
Richardi S. 395; Waltennann, Arglist S. 889 f.; Waltennann, Wissenszurechnung S. 185. Scheueh, Festschrift Brandner S. 121. Lehmann S. 1027. Waltennann, Arglist S. 889. Vgl. nur Scheueh, Wissenszurechnung S. 830.
1. Abschn., I. Allgemeine Rechtfertigungsgründe
27
Grundfali der Wissenszurechnung erfassen. Wenn ein allgemeiner Rechtsgedanke schon den in § 166 I geregelten Grundfali der Wissenszurechnung nicht zu begründen vermag, dann muß dieser allgemeine Rechtfertigungsgrund generell als Zurechnungskriterium ausscheiden. In der folgenden Untersuchung soll deshalb die Vorschrift des § 166 I als Kontrollvorschrift herangezogen werden. Wenn die Anwendung des § 166 I und die Anwendung des allgemeinen Rechtsgedanken auf denselben Fall der Wissenszurechnung zu unterschiedlichen Ergebnissen führt, zeigt dies, daß die in der Wissenszurechnung liegende Haftungsverschärfung nicht generell mit diesem allgemeinen Rechtsgedanken begründet werden kann und dieser kein allgemeingültiges Grundprinzip darstellen.
1. Arbeitsteilung Eine Wissenszurechnung erfolgt, weil einem Rechtssubjekt rechtserhebliche Informationen fehlen. Allerdings führt nicht jedes Informationsdefizit automatisch zu einer Wissenszurechnung. Eine Wissenszurechnung wird nur in den Fällen vorgenommen, in denen die Wissenslücke bei einem Rechtssubjekt durch Arbeitsteilung verursacht worden ist. Wenn beispielsweise der Geschäftsherr G im Verkauf und die von ihm eingesetzte Hilfsperson H im Einkauf tätig ist, dann werden alle rechtserheblichen Umstände, die während des Einkaufs zutage treten, aufgrund der Arbeitsteilung ausschließlich von der Hilfsperson H, nicht aber von dem Geschäftsherrn G wahrgenommen. Der arbeitsteilige Einsatz der Hilfsperson H führt also beim Geschäftsherrn G zu einer Wissenslücke, die durch die Wissenszurechnung geschlossen werden soll. Die Wissenszurechnung wird zwar nach allgemeiner Meinung auf das Prinzip der Arbeitsteilung zurückgeführt. 15 Gleichzeitig ist man ist sich aber auch darin einig, daß nicht jede Arbeitsteilung automatisch eine Wissenszurechnung begründet. So soll die zwischen verschiedenen Wirtschaftseinheiten bestehende Arbeitsteilung nicht zu einer Wissenszurechnung führen. Die beispielsweise zwischen einem Zulieferer, einem Hersteller und einem Zwischenhändler bestehende Arbeitsteilung soll nach überwiegender Auffassung nicht dazu führen, daß dem Hersteller das Wissen seines Lieferanten oder dem Zwischenhändler das Wissen des Herstellers zugerechnet wird. 16 Aber auch nicht jede Arbeitsteilung, die innerhalb einer Wirtschaftseinheit besteht, soll automatisch eine Wissenszurechnung nach sich ziehen. So besteht Einigkeit, daß einem Geschäftsherrn das Wissen arbeitsteilig eingesetzter Boten oder Vgl. nur: Waltermann, Arglist S. 889; Waltermann, Wissenszurechnung S. 182. BGH NIW 68,2238,2239; BGH NJW - RR 89, 1189, 1190; BGHZ 48, 118, 1201 Palandt-Heinrichs § 278 Rdn. 13; Soergel-Wolf § 278 Rdn. 34; Müko-Hanau § 278 Rdn. 18; Huber, Haftung S. 304 ff.; a.A.: Esser-Schmidt, Schuldrecht 1,2 § 27 1 2 S. 92 ff.; Rathjen S. 447 ff. \S
16
28
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
das Wissen arbeitsteilig eingesetzter Hilfspersonen, die eine völlig untergeordnete Funktion ausüben, nicht zugerechnet werden kann. 17 Wenn nicht jede Arbeitsteilung automatisch zu einer Wissenszurechnung führt, stellt sich die Frage, wie der für die Wissenszurechnung relevante Begriff der Arbeitsteilung definiert werden muß. Diese Frage wird in der Literatur unterschiedlich beantwortet. Im wesentlichen lassen sich in der Literatur zwei Ansätze verfolgen: Zum einen wird auf die Arbeitsteilung bei der Kenntniserlangung, zum anderen wird auf die Arbeitsteilung bei der Wissensspeicherung abgehoben.
a) Arbeitsteilung bei der Kenntniserlangung
Arbeitsteilung i. S. d. Wissenszurechnung ist nach einer in der Literatur verbreiteten Ansicht nur dann gegeben, wenn "die Hilfsperson mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn so eingesetzt ist, daß gerade die Möglichkeiten der Kenntniserlangung auf sie verlagert werden".18 Maßgeblich soll also die Arbeitsteilung bei der Kenntniserlangung sein.
b) Kritik
Diese Definition der Arbeitsteilung, die allein auf die Verlagerung der Kenntniserlangung abstellt, wird der Wissenszurechnung nicht gerecht. Denn die maßgeblichen Wissensnormen, d. h. die Rechtsnormen, die an die Kenntnis oder die fahrlässige Unkenntnis bestimmte Rechtsfolgen knüpfen, stellen nicht auf den Akt der Kenntniserlangung ab. Entscheidend für die Anwendung einer Wissensnorm ist allein, ob die maßgeblichen Umstände in dem vom Gesetz vorgegebenen Zeitpunkt bekannt oder infolge von Fahrlässigkeit nicht bekannt sind. Der Unterschied zwischen dem Akt der Kenntniserlangung und dem Zustand des Wissens ist erheblich. Er wird vor allem bei Wissensnormen, die allein auf die positive Kenntnis abstellen, in zeitlichen Distanzfällen deutlich. Wenn zwischen der Kenntniserlangung und dem Zeitpunkt, in dem das Wissen erheblich wird, ein größerer Zeitraum liegt, dann kann das einmal erlangte Wissen beispielsweise 17 BGH WM 55, 1225; BGH WM 74, 312; Soergel-Leptien § 166 Rdn. 6; Errnan-Brox § 166 Rdn. 5; Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 18; Enneccerus-Nipperdey § 182 II a Fußnote 9; Flume, Rechtsgeschäft § 43 4; Hoffmann S. 373; Larenz-AT § 30 I c; Schilken S. 216 ff.; Waltermann, Wissenszurechnung S. 201; Richardi S. 401; Reinking-Kippels S. 894. 18 Waltermann, Wissenszurechnung S. 200; vgl. auch die Definition des Wissensvertreters bei Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 6; Müko-Schramm § 166 Rdn. 23 a; StaudingerSchilken § 166 Rdn. 6; Jauemig-Jauemig § 166 Rdn. 3; Larenz-Wolf § 46 Rdn. 107 ff. S. 885 f.; Köhler, AT § 18 Rdn. 43 S. 218 f.; Soergel-Leptien Vor § 164 Rdn. 91, § 164 Rdn. ll, § 166 Rdn. 6; Errnan-Brox Vor § 164 Rdn. 27; RGRK-Steffen Vor § 164 Rdn. 19; Kaiser S. 89; Musielak S. 854; Brehm Rdn. 436; Giesen Rdn. 431; Schellhammer Rdn. 2230.
1. Abschn., I. Allgemeine Rechtfertigungsgründe
29
durch Vergessen wieder verloren gegangen sein. Ist das rechtserhebliche Wissen in dem von der Wissensnorm vorgegebenen maßgeblichen Zeitpunkt aufgrund des Vergessens nicht präsent, dann kann auch die Wissensnorm, die allein auf positive Kenntnis abstellt, nicht angewendet werden. Würde man in zeitlichen Distanzfällen für die Anwendung der Wissensnorm genügen lassen, daß die Kenntnis irgendwann einmal erlangt worden ist, würde man nicht nur den vom Gesetz vorgesehenen Zeitpunkt, in dem das rechtserhebliche Wissen vorliegen muß, contra legern auf den Zeitpunkt der Kenntniserlangung vorverlegen, sondern auch eine auf das positive Wissen beschränkte Vorsatzhaftung in eine Fahrlässigkeitshaftung umwandeln. Es kann bei der Wissenszurechnung deshalb entgegen der überwiegenden Ansicht in der Literatur nicht auf den Akt der Kenntniserlangung und die Arbeitsteilung im Rahmen der Kenntniserlangung ankommen.
c) Arbeitsteilung bei der Wissensspeicherung
Eine im Zunehmen begriffene Literaturmeinung sieht die für die Wissenszurechnung relevante Arbeitsteilung in dem Akt der Wissensspeicherung. 19 Danach besteht die für die Wissenszurechnung relevante Arbeitsteilung darin, daß ein Rechtssubjekt die rechtserheblichen Informationen nicht in seinem eigenen Gedächtnis speichert, sondern in dem Gedächtnis einer Hilfsperson oder in künstlichen Wissensspeichern (z. B. Akten oder Computerdateien).
d) Kritik
Auch diese Definition der Arbeitsteilung, die auf den Akt der Wissensspreicherung abstellt, vermag nicht zu überzeugen. Bei Wissensnormen, deren Tatbestand auf die positive Kenntnis beschränkt ist, kommt es allein auf das präsente Wissen an, nicht aber auf das gespeicherte Wissen. Das Gedächtniswissen muß genau wie das in künstlichen Wissensspeichern enthaltene Wissen erst abgerufen werden, damit es zum präsenten Wissen wird. Beim Gedächtniswissen wird das Wissens durch ein "sich Erinnern" abgefragt. Bei künstlichen Wissensspeichern wird das relevante Wissen durch ein Suchen in dem betreffenden Speichermedium abgefragt. In beiden Fällen ist aber für die Anwendung einer Wissensnorm, die allein auf die positive Kenntnis abstellt, nur das Wissen relevant, das nach der erfolgten Abfrage tatsächlich vorhanden ist. Es spielt also nur das präsente Wissen eine Rolle, an das sich das Rechtssubjekt tatsächlich erinnert hat oder das es tatsächlich in einem künstlichen Speichermedium gefunden hat. Dagegen vermag das fahrlässig 19 Vgl. die Autoren, die das in künstlichen Speichern enthaltene Wissen dem Gedächtniswissen gleichstellen: Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 1; Bohrer S. 129 ff.; Medicus, Wissenszurechnung S. 12; Medicus, AT Rdn. 904 a ff.; W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1394; W. Schultz, Vertreterhandeln 11 S. 2094; Roth-Altmeppen § 35 Rdn. 77.
30
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
vergessene Gedächtniswissen oder das fahrlässig nicht gefundene Speicherwissen eine auf die positive Kenntnis beschränkte Vorsatzhaftung nicht zu begründen. Im übrigen entfaltet eine auf die Wissensspeicherung abstellende Definition der Arbeitsteilung keine Abgrenzungskraft. Angesichts der immer weiter zunehmenden Zahl von künstlichen Speichermedien führt nicht jedes gespeicherte Wissen automatisch zu einem entsprechenden Wissen des Geschäftsherrn. Bei einer Wissenszurechnung kann von vornherein nur das gespeicherte Wissen eine Rolle spielen, auf das der Geschäftsherr zugreifen kann. Die Definition der für die Wissenszurechnung relevanten Arbeitsteilung müßte also um das Kriterium der Verfügbarkeit des gespeicherten Wissens erweitert werden. Angesichts der heute immer weiter zunehmenden Vernetzung von Datenbanken ist aber durchaus fraglich, wo die Verfügbarkeit des gespeicherten Wissens endet.
e) Folgerung: Arbeitsteilung als Begrenzungsprinzip Die Wissenszurechnung kann nicht generell mit dem Prinzip der Arbeitsteilung begründet werden. Die für die Wissenszurechnung relevante Arbeitsteilung läßt sich nicht abstrakt und für alle Fälle der Wissenszurechnung einheitlich definieren, denn das Wissen ist ein Zustand, so daß eine Arbeitsteilung im Wissen schon begrifflich gar nicht möglich ist. Es soll aber nicht bestritten werden, daß der Gedanke der Arbeitsteilung für die Wissenszurechnung relevant ist, denn die Wissenszurechnung erfolgt gerade in den Fällen, in denen durch Arbeitsteilung Wissenslücken und damit auch Haftungslücken entstehen. Die Arbeitsteilung dient aber insofern nicht zur Begründung, sondern zur Begrenzung der Wissenszurechnung. Eine Wissenszurechnung muß von vornherein in den Fällen ausscheiden, in denen nicht arbeitsteilig gehandelt wird. Wenn beispielsweise die Ehefrau des Geschäftsherrn G, die im Geschäftsbetrieb ihres Mannes nicht tätig ist, Kenntnis von rechtserheblichen Umständen hat, dann kann dem G das Wissen seiner Ehefrau nicht zugerechnet werden, denn in diesem Fall ist die Wissenslücke des G nicht durch Arbeitsteilung verursacht worden. Der Gedanke der Arbeitsteilung dient also insoweit der Begrenzung der Wissenszurechnung, als eine Zurechnung von vornherein in den Fällen ausscheiden muß, in denen das Wissensdefizit des Geschäftsherrn nicht auf arbeitsteiliges Handeln zurückzuführen ist. Daß die Arbeitsteilung nur ein sehr grobes Begrenzungskriterium ist, wird in den Fällen deutlich, in denen trotz Arbeitsteilung eine Wissenszurechnung nicht vorgenommen wird.
1. Abschn., I. Allgemeine Rechtfertigungsgründe
31
2. Gedanke der Korrelation von Vorund Nachteilen arbeitsteiligen Handeins
a) Begründung der Wissenszurechnung Die Wissenszurechnung wird allgemein als unerläßliche haftungsrechtliche Kompensation der Arbeitsteilung verstanden: eine Wissenszurechnung müsse erfolgen, weil derjenige, der die Vorteile der Arbeitsteilung in Anspruch nehme, auch deren Nachteile zu tragen habe (Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handelns).20 Diese Begründung beruht auf der Vorstellung, daß mit der Erweiterung des Geschäftskreises auch die Gewinnmöglichkeiten erweitert werden: Da der Geschäftsherr finanziell von der Arbeitsteilung profitiere, müsse er auch die gewinnmindernde Verantwortung für das Wissen seiner Hilfspersonen tragen. b) Kritik
Der Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins ist nicht geeignet, die Wissenszurechnung dogmatisch zu begründen, denn der Hinweis auf die Korrelation von Gewinnmöglichkeit und gewinnminderndem Kostenrisiko greift nicht in allen Fällen der Wissenszurechnung. Nicht erfaßt werden die Fälle des § 523 I und des § 524 I. Wenn eine mangelhafte Sache verschenkt wird, kann eine Wissenszurechnung nicht damit begründet werden, daß die Kosten der Wissenszurechnung dem Nutzen der Arbeitsteilung entsprechen, denn ein Schenker kann durch den Einsatz von Hilfspersonen seine Gewinnmöglichkeiten nicht vergrößern. Außerdem führt der Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins nicht zu einer Lösung der Wissenszurechnung, sondern verlagert die Problematik in ein Definitionsproblem. Bei Anwendung des Korrelationsgedankens hängt die Wissenzurechnung davon ab, wie man den Begriff der Arbeitsteilung definiert. Wie aber bereits gezeigt wurde, ist eine für die Wissenszurechnung sachgerechte Definition der Arbeitsteilung nicht möglich. Deshalb hilft auch der auf dem Begriff der Arbeitsteilung autbauende Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins nicht weiter. Im übrigen setzt sich der Korrelationsgedanke in Widerspruch zu § 166. Nach dem Korrelationsgedanken wird privates Wissen einer Hilfsperson im Rahmen der Wissenszurechnung nicht relevant. 21 Aus der privaten Tatigkeit der Hilfsperson zieht der Geschäftsherr keine Vorteile und muß deshalb auch nicht den Nachteil in Kauf nehmen, für das private Wissen der Hilfsperson einstehen zu müssen. Dage20 Scheuch, Wissenszurechnung S. 830; Scheuch, Festschrift Brandner S. 129; Raiser, Anmerkung S. 27. 21 M.Schultz, Wissenszurechnung S. 480; Taupitz, Wissenszurechnung S. 27.
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
32
gen wird dem Vertretenen über § 166 I auch das private Wissen eines Stellvertreters zugerechnet, denn § 166 I unterscheidet nicht zwischen privatem und dienstlichem Wissen. Wenn der Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins aber schon den in § 166 I geregelten Grundfall der Wissenszurechnung nicht zu begründen vermag, dann muß dieser Gedanke generell als Zurechnungskriterium ausscheiden.
3. Gleichstellung arbeitsteilig handelnder Organisationen mit Einzelpersonen
Die Wissenszurechnung wird vielfach auch mit einem Vergleich zu einer Einzelperson begründet. Wenn eine Einzelperson in allen Bereichen selbst handelt, verfügt sie auch selbst über die rechtserheblichen Informationen. Für den Vertragspartner einer Einzelperson spielt demnach auch nur das Wissen dieser Einzelperson eine Rolle. Wenn dagegen ein Geschäftsherr Hilfspersonen einsetzt, dann kennt nicht mehr der Geschäftsherr, sondern nur noch die vom Geschäftsherrn eingesetzte Hilfsperson die rechtserheblichen Umstände. Die durch die Arbeitsteilung verursachte Wissensaufspaltung darf den Rechtsverkehr nicht benachteiligen. Der Vertragspartner einer arbeitsteilig handelnden Organisation darf im Hinblick auf das Wissen nicht schlechter gestellt werden als der Vertragspartner einer Einzelperson (Gleichstellungsargument).22
a) Begründung der Wissenszurechnung
Das Gleichstellungsargument wird vielfach dazu benutzt, um eine pauschale Wissenszurechnung zu begründen. 23 Nach dieser Auffassung "geht es grundsätzlich nicht an, daß Unternehmen durch Arbeitsteilung in Fragen "gutgläubig" bleiben, in denen Einzelpersonen mit Selbstverständlichkeit nach dem normalen Lauf der Dinge bösgläubig wären".24 Nach dieser Auffassung stellt das Gleichstellungsargument den arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn in seinem Wissen so, als hätte er wie eine Einzelperson in allen Bereichen selbst gehandelt. Bei einem so verstandenen Gleichstellungsargument wird dem Geschäftsherrn das Wissen aller seiner Hilfspersonen zugerechnet.
Scheuch, Wissenszurechnung S. 830; Hagen S. 161. Staub-Canaris Rdn. 106 und Rdn. 800 f.; zustimmend Waltermann, Wissenszurechnung S. 206 ff., insbesondere S. 208. 24 Staub-Canaris Rdn. 800 a; zustimmend Waltermann, Wissenszurechnung S. 208. 22 23
1. Abschn., I. Allgemeine Rechtfertigungsgründe
33
b) Kritik
Eine derart weitreichende Wissenszurechnung verstößt gegen den eigentlichen Sinn des Gleichstellungsarguments. 25 Der Vertragspartner eines arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn wird bei einer pauschalen Wissenszusammenrechnung gegenüber dem Vertragspartner einer Einzelperson privilegiert. Eine pauschale Wissenszusammenrechnung führt dazu, daß der arbeitsteilig handelnde Geschäftsherr viel mehr Informationen hat als eine Einzelperson, denn eine Vielzahl von Hilfspersonen wird in viel größerem Umfang rechtserhebliche Umstände kennen als eine Einzelperson, die zwangsläufig nur über eine vergleichsweise beschränkten Erkenntnisradius verfügt.26 Darüber hinaus wird dem Vergessen nicht Rechnung getragen, wenn der Geschäftsherr so gestellt wird, als habe er in allen Bereichen wie eine Einzelperson gehandelt. Eine natürliche Person kann rechtserhebliche Umstände wieder vergessen. Dagegen ist das dem Geschäftsherm zugerechnete Wissen ein hypothetisches Wissen, das der Geschäftsherr niemals wieder vergessen kann. Wenn man den Geschäftsherrn in seinem Wissen so stellt, als habe er in allen Bereichen selbst gehandelt, kann dem Geschäftsherrn nur das "dienstlich" erlangte Wissen seiner Hilfspersonen zugerechnet werden, denn der Geschäftsherr würde nur die konkrete dienstliche Tätigkeit der Hilfsperson selbst vornehmen. Dagegen würde der Geschäftsherr niemals im privaten Bereich der Hilfspersonen tätig werden. Das so verstandene Gleichstellungsargument schließt also die Zurechnung privaten Wissens aus. Damit setzt sich das Gleichstellungsargument in Widerspruch zu der allgemeinen Vorschrift des § 166 I. Wie bereits ausgeführt wurde, wird dem Vertretenen über § 166 I auch das private Wissen des Stellvertreters zugerechnet. Damit zeigt sich, daß das Gleichstellungsargument zur Begründung der Wissenszurechnung nicht herangezogen werden kann.
c) Folgerung: Gleichstellungsargument als Begrenzungsprinzip
Das Gleichstellungsargument besagt, daß der Vertragspartner einer arbeitsteilig handelnden Organisation im Hinblick auf das Wissen nicht schlechter, aber auch nicht besser gestellt werden darf als der Vertrags partner einer Einzelperson. Insofern dient das Gleichstellungsargument bei richtigem Verständnis nicht dazu, die Wissenszurechnung zu begründen, sondern nur dazu, die Wissenszurechnung zu beschränken. Die Wissenszurechnung darf nicht so weit gehen, daß dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn die Möglichkeit genommen wird, rechtserhebliche Umstände zu vergessen. Genau wie bei einer Einzelperson muß auch innerhalb ei25 Taupitz, Wissenszurechnung S. 27; kritisch zum Gleichstellungsargument auch Koller S. 77 ff. 26 Taupitz, Wissenszurechnung S. 27; Koller S. 80.
3 Goldschmidt
34
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
ner arbeitsteilig handelnden Organisation ein Vergessen möglich sein. Das Gleichstellungsargument verhindert also, daß das Vergessen durch die Wissenszurechnung ausgeschlossen wird. Darüber hinaus beschränkt das Gleichstellungsargument die Wissenszurechnung quantitativ. Ein Geschäftsherr kann nicht alles das wissen, was seine Hilfspersonen einmal zur Kenntnis genommen haben. Dem Geschäftsherrn kann deshalb auch nicht das Wissen aller seiner Hilfspersonen zugerechnet werden. Allerdings enthält das Gleichstellungsargument keine Aussage zu der Frage, wie der Kreis der Hilfspersonen, deren Wissen zugerechnet werden kann, zu ziehen ist. Schließlich erfordert das Gleichstellungsargument, daß die Wissenszurechnung den Ergebnissen entspricht, die bei Anwendung des § 166 I erzielt werden. Denn die Wissenszurechnung bei natürlichen Einzelpersonen und bei arbeitsteilig handelnden Organisationen darf im Prinzip nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.
4. Risikoverteilung a) Begründung der Wissenszurechnung
Auch der Gedanke der Risikoverteilung wird zur Begründung der Wissenszurechnung herangezogen. 27 Der Geschäftsherr hat durch die Einschaltung von Hilfspersonen das Risiko geschaffen, daß rechtserhebliche Umstände nicht mehr von ihm selbst, sondern von seinen Hilfspersonen wahrgenommen werden. Das Risiko, daß durch die Arbeitsteilung Wissensdefizite entstehen, liegt damit in der Sphäre des arbeitsteilig handelnden Unternehmers. Insofern liegt es nahe, dem arbeitsteiIig handelnden Geschäftsherrn auch dieses Risiko der Wissensdefizite zuzuweisen. Eine unbeschränkte Risikozuweisung würde aber für den arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung begründen. Deshalb können die Risiken, die sich aus der Wissensaufspaltung ergeben, dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn nur insoweit zugewiesen werden, als der Geschäftsherr diese Risiken veranIaßt hat und durch eine entsprechende Organisation beherrschen kann (Gedanke der gerechten Risikoverteilung).28
b) Kritik
Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung kann nicht zur Begründung einer Wissenszurechnung herangezogen werden, denn dieser allgemeine Rechtsgrundsatz regelt den Umfang der Wissenszurechnung nicht. Der Kreis der Hilfspersonen, 27 28
Waltermann, Wissenszurechnung S. 197 f.; Scheuch, Wissenszurechnung S. 830. Waltermann, Wissenszurechnung S. 197 f.; Scheuch, Wissenszurechnung S. 830.
1. Abschn., I. Al1gemeine Rechtfertigungsgrunde
35
deren Wissen dem Geschäftsherrn zugerechnet werden kann, wird vom Gedanken der gerechten Risikoverteilung nicht festgelegt.
c) Folgerung: gerechte Risikoverteilung als Begrenzungsprinzip
Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung gewinnt aber an Bedeutung, wenn man ihn mit der jeweiligen Wissensnorm in Verbindung setzt. Die Wissensnormen enthalten in ihrem Tatbestand teilweise eine Beschränkung auf positive Kenntnis, teilweise wird der positiven Kenntnis eine (grob)fahrlässige Unkenntnis gleichgestellt. Die jeweilige Wissensnorm regelt damit selbst, in welchem Fall einem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn das Risiko eines Wissensdefizits zugewiesen werden kann. Wenn die Wissensnorm die Haftung auf eine Vorsatzhaftung beschränkt, dann kann dem Geschäftsherrn auch nur das vorsätzlich verursachte Wissensdefizit zugewiesen werden. Wenn die Wissensnorm dagegen eine Fahrlässigkeitshaftung begründet, dann reicht es aus, wenn das Wissensdefizit auf Fahrlässigkeit beruht. Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung und die jeweilige Wissensnorm ergänzen und bedingen sich also gegenseitig. Wenn man den Gedanken der gerechten Risikoverteilung mit der jeweiligen Wissensnorm in Verbindung setzt, dann nimmt der Gedanke der gerechten Risikoverteilung die Funktion wahr, die Wissenszurechnung sachgerecht zu begrenzen. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden. Wenn der Gebrauchtwagenhändler G seinen Angestellten R damit betraut, die zum Verkauf bestimmten Gebrauchtwagen einer gründlichen Inspektion zu unterziehen, dann werden Umstände, die bei dem späteren Verkauf rechtserheblich werden, ausschließlich von R zur Kenntnis genommen. Wenn R bei einer Inspektion feststellt, daß der von ihm untersuchte Gebrauchtwagen einen schweren Unfallschaden aufweist, dann weiß R, daß dieser Gebrauchtwagen mit einem Mangel behaftet ist. Verkauft G diesen Gebrauchtwagen, ohne den Käufer auf den Unfall hingewiesen zu haben, dann rechnet die ganz herrschende Meinung dem G das Wissen des R zu und bejaht eine Arglisthaftung des G nach § 463 S. 2. Dieses Ergebnis ist aber dann zweifelhaft, wenn R alles Menschenmögliche getan hat, um die erlangte Information an G weiterzuleiten und wenn Gebenfalls nichts unversucht gelassen hat, um von dem eventuell bestehenden Wissen des R Kenntnis zu erlangen. Wenn trotz größter Anstrengungen auf Seiten des R und auf Seiten des G die relevanten Informationen nicht an den Käufer gelangen, dann fällt es schwer, die Wissenszurechnung und damit die Arglisthaftung des G zu bejahen. Nach richtiger Auffassung kann in einem solchen Fall das Wissen des R dem G nicht zugerechnet werden, denn eine solche Wissenszurechnung würde gegen den Gedanken der gerechten Risikoverteilung verstoßen. Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung ist auf die jeweilige Wissensnorm zurückzuführen. Die im Beispielsfall einschlägige Wissensnorm ist § 463 S. 2. Die Vorschrift des § 463 S. 2 beschränkt die Haftung des Verkäufers auf eine reine Vorsatzhaftung. Dementspre3'
36
l. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
chend gebietet der auf die Wissensnonn zurückgeführte Gedanke der gerechten Risikoverteilung, daß eine Wissens zurechnung nur bei vorsätzlichem Verhalten in Betracht kommt. Dem Verkäufer ist das Risiko eines Wissensdefizits nur insoweit zuzuweisen, als dieses Wissensdefizit auf Vorsatz beruht. Da in dem gebildeten Beispielsfall das Wissensdefizit auf Fahrlässigkeit oder auf Zufall beruht, muß nach dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung eine Wissenszurechnung ausscheiden. Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung dient also dazu, die Wissenszurechnung zu begrenzen. Als Begrenzungskriterium ist der Gedanke der gerechten Risikoverteilung besonders wichtig. Denn er verhindert, daß eine Vorsatzhaftung durch eine mißbräuchliche Wissenszurechnung in eine Fahrlässigkeitshaftung oder gar in eine verschuldensunabhängige Haftung umgewandelt wird. Nach dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung ist einem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn das Risiko eines Wissensdefizits, das er durch die Einschaltung einer Hilfsperson selbst geschaffen hat, nur insoweit zuzurechnen, als die jeweilige Wissensnonn eine Zuweisung dieses Risikos rechtfertigt. Enthält die Wissensnonn eine reine Vorsatzhaftung, dann wird dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn das Risiko eines Wissensdefizits nur dann zugewiesen, wenn er seine eigene Unwissenheit vorsätzlich verursacht hat. Begründet die Wissensnonn dagegen eine Fahrlässigkeitshaftung, dann ist dem Geschäftsherrn das Risiko, daß er durch den Einsatz von Hilfspersonen die rechtserheblichen Umstände selbst nicht kennt, schon dann zuzuweisen, wenn der Geschäftsherr seine eigene Unkenntnis fahrlässig verursacht hat.
s. Zusammenfassung Die Wissenszurechnung kann also nicht mit allgemeinen Rechtsgedanken begründet werden. Eine Wissenszurechnung erfolgt regelmäßig in Fällen der Arbeitsteilung. Der Begriff der Arbeitsteilung ist aber so weit und unpräzise, daß er nicht generell zur Begründung der Wissenszurechnung herangezogen werden kann. Dementsprechend ist auch der auf dem Begriff der Arbeitsteilung aufbauende Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins zur Begründung der Wissenszurechnung nicht geeignet. Das Gleichstellungsargument und der Gedanke der gerechten Risikoverteilung können ebenfalls nicht zur Begründung der Wissenszurechnung herangezogen werden, weil beide Rechtsgedanken sich in Widerspruch zu § 166 I setzen. Das Gleichstellungsargument und der Gedanke der gerechten Risikoverteilung dienen aber dazu, die Wissenszurechnung sachgerecht zu begrenzen.
1. Abschn., 11. Wissenszurechnung über § 166
37
11. Wissenszurechnung über § 166 Die wohl überwiegende Ansicht stützt die Wissenszurechnung auf die Vorschrift des § 166. 29 Kennzeichnend für diese Auffassung ist, daß der persönliche Anwendungsbereich des § 166 I ausgedehnt wird. Mit § 166 I wird nicht nur das Wissen eines Stellvertreters zugerechnet, sondern auch das Wissen sonstiger Hilfspersonen, die nicht die Stellung eines Stellvertreters inne haben. Daß § 166 I über den Kreis der eigentlichen Stellvertreter hinaus Anwendung findet, wird unterschiedlich begründet. Zum Teil wird § 166 I analog angewendet, zum Teil wird auf den Rechtsgedanken des § 166 I abgestellt. Die an § 166 I orientierte Auffassung hat große Probleme, den Umfang der Wissenszurechnung exakt zu bestimmen. Man ist sich zwar darin einig, daß die Wissenszurechnung über die Figur des Stellvertreters hinausgehen muß. Übereinstimmung besteht auch darin, daß der persönliche Anwendungsbereich des § 166 I nicht auf jede Hilfsperson ausgedehnt werden kann. So werden nach überwiegender Auffassung der Bote und die völlig untergeordnete Hilfskraft von der Wissenszurechnung nach § 166 I ausgenommen. 30 Aber in dem weiten Bereich, der zwischen der Figur des Stellvertreters und der Figur des Boten bzw. der völlig untergeordneten Hilfskraft liegt, gelingt es der an § 166 I orientierten Auffassung nicht, eine klare Grenze für die Wissenszurechnung zu ziehen. Als Anhaltspunkt für die Wissenszurechnung wird lediglich die schillernde Figur des Wissensvertreters herangezogen. Wissensvertreter ist nach überwiegender Auffassung ,jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls weiterzugeben; rechtsgeschäftliche Vertretungsmacht ist nicht erforderlich, ebenso wenig eine Bestellung zum Wissensvertreter...31 29 Palandt-Heinrichs Vor § 164 Rdn. 14 und § 166 Rdn. 6 ff.; Müko-Schramm Vor § 164 Rdn. 58, § 166 Rdn. 23 ff.; Staudinger-Schilken Vor § 164 Rdn. 86 f., § 166 Rdn. 6; Soergel-Leptien Vor § 164 Rdn. 91, § 164 Rdn. 11, § 166 Rdn. 6; Ennan-Brox Vor § 164 Rdn. 27, § 166 Rdn. 5 ff.; RGRK-Steffen Vor § 164 Rdn. 19, § 166 Rdn. 9; Jauernig-Jauernig § 166 Rdn. 3; Larenz-Wo1f § 46 Rdn. 107 ff. S. 885 ff.; Köhler, AT § 18 Rdn. 43 f. S. 218 f.; Kaiser S. 89; Musielak S. 854; Brehm Rdn. 436; Giesen Rdn. 431; Schellhammer Rdn. 2230. 30 Soergel-Leptein § 166 Rdn. 6; Ennan-Brox § 166 Rdn. 5; Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 18; Waltennann, Wissenszurechnung S. 201; Richardi S. 401; Enneccerus-Nipperdey § 18211 a Fußnote 9; Flurne, Rechtsgeschäft § 434; Hoffmann S. 373; Larenz, AT § 30 I c; Schilken S. 216 ff.; Reinking-Kippe1s S. 894. 31 Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 6; Müko-Schramm § 166 Rdn. 23 a; Staudinger-Schilken § 166 Rdn. 6; Jauernig-Jauernig § 166 Rdn. 3; Larenz-Wolf § 46 Rdn. 107 ff. S. 885 f.; Köhler, AT § 18 Rdn. 43 S. 218 f.; Soergel-Leptien Vor § 164 Rdn. 91, § 164 Rdn. 11, § 166 Rdn. 6 "gewisse Selbständigkeit"; Ennan-Brox Vor § 164 Rdn. 27 ,,mit eigener Entscheidungsgewalt; RGRK-Steffen Vor § 164 Rdn. 19 ,,mit eigener Entscheidungsgewalt"; Kaiser S. 89; Musielak S. 854; Brehm Rdn. 436; Giesen Rdn. 431; Schellhammer Rdn. 2230.
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
38
Mit der Figur des Wissensvertreters läßt sich aber eine exakte Grenzziehung nicht vornehmen. Ob der Kreis der Wissensvertreter größer oder enger gezogen wird, hängt davon ab, in welchem Ausmaß die Person des Stellvertreters zur Vorbildfigur genommen wird. Die sehr stark an der Figur des Stellvertreters orientierten Auffassungen rechnen nur das Wissen solcher Hilfspersonen zu, die eine vertreterähnliche Stellung inne haben. Die Auffassungen, die sich von der Vorbildfigur des Stellvertreters gelöst haben, rechnen auch das Wissen von Hilfspersonen zu, die keine Ähnlichkeit mehr mit einem Stellvertreter haben. Die im folgenden dargestellten exemplarischen Äußerungen machen deutlich, daß die Wissenszurechnung mit der Vorschrift des § 166 I in höchst unterschiedlichem Maße begrenzt wird.
1. Richardi Die Wissenszurechnung ist nach Richardi ein "selbständiges Zurechnungsprinzip,,32 und als solches auf den in § 166 normierten Rechtsgedanken zurückzuführen. 33 Schon in der von ihm verwendeten Terminologie - Richardi benutzt die Begriffe der "Wissensvertretung" und des "Wissensvertreters" - wird deutlich, wie eng er die Zurechnung des Wissens an das Rechtsinstitut der Stellvertretung und an die Vorschrift des § 166 anknüpft. Nach Richardi erschöpft sich die Bedeutung des § 166 nicht in einer fallbezogenen Umsetzung der dem Stellvertretungsrecht zugrundegelegten Repräsentationstheorie. 34 Vielmehr ist § 166 nach seiner Ansicht "als Anwendungsfall der Wissensvertretung zu betrachten".3s Er sieht in der Regelung des § 166 "die Normierung eines allgemeinen Rechtsgedankens": § 166 beruht "auf dem normativen Gedanken, daß wer einen anderen mit Entscheidungsgewalt betraut, um sich über ihn am Rechtsverkehr zu beteiligen, auch dessen Willensmängel und Kenntnisse gegen sich gelten lassen muß". 36 Dieses Zurechnungsprinzip verdient nach Richardi überall dort Anerkennung, "wo jemand sich arbeitsteilig am Rechtsverkehr beteiligt, indem er einem anderen die Besorgung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung überträgt".37 Nach Richardi muß derjenige, der einen anderen mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten in eigener Verantwortung betraut, sich das in diesem Rahmen erlangte Wissen des anderen zurechnen lassen. Den in § 166 normierten Rechtsgedanken verwendet Richardi nicht nur zur Begründung, sondern auch zur Begrenzung der Wissensvertretung. Nicht jede vom 32
33 34 3~
36
37
Richardi S. 388, Richardi S. 395 und Richardi S. 403. Richardi S. 395 ff.; vgl. auch: Richardi S. 403. Richardi S. 395 f. Richardi S. 395. Richardi S. 397; vgl. auch: Richardi S. 403. Richardi S. 402.
1. Abschn., 11. Wissenszurechnung über § 166
39
Geschäftsherrn eingesetzte Hilfsperson ist nach Richardi automatisch ein Wissensvertreter. Nach seiner Ansicht ist dem Geschäftsherrn nur das Wissen einer solchen Hilfsperson zuzurechnen, die "den Geschäftsherrn in ähnlicher Weise repräsentiert, wie ein rechtsgeschäftlicher Stellvertreter bei der Vornahme von Rechtsgeschäften".38 Der Stellvertreter ist für Richardi die Vorbildfigur für den Wissensvertreter. Dementsprechend ist eine Wissensvertretung nach Richardi "überall dort anzuerkennen, wo der Dritte bei der Erledigung der ihm übertragenen Aufgaben eine tatsächlich ähnliche Stellung wie ein Vertreter bei der Vornahme von Rechtsgeschäften hat". 39 Die erste Voraussetzung für die Wissensvertretung ist nach Richardi ein der Bevollmächtigung entsprechender Akt: der Geschäftsherr muß die Hilfsperson einsetzen und mit der Besorgung bestimmter Geschäfte betrauen. Wissensvertreter ist nach Ansicht von Richardi damit nur die Hilfsperson, die "mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn die rechtserhebliche Kenntnis haben und erlangen kann".40 Nach Richardi ist aber nicht erforderlich, daß die Hilfsperson "zum Wissensvertreter bestellt wird; denn für die Wissenszurechnung kommt es nicht darauf an, daß der Geschäftsherr sie gewollt hat. Sie tritt ohne Rücksicht auf seinen Wissen ein, wenn der Geschäftsherr sich arbeitsteilig am Rechtsverkehr beteiligt.,,41 Die zweite Voraussetzung für die Zurechnung von Wissen ist nach Richardi, daß der Wissensvertreter mit einer "selbständigen Tatigkeit,,42 und ,,in bestimmtem Umfang mit der Entscheidungsgewalt für bestimmte Angelegenheiten betraut" ist. 43 Der Wissensvertreter zeichnet sich nach seiner Ansicht durch seine ,,zuständigkeit", "seine selbständige Stellung in bezug auf den übertragenen Bereich" aus.44 Dementsprechend kommt es nach Richardi bei der Frage, ob dem Geschäftsherrn das Wissen einer Hilfsperson zugerechnet werden kann, "die als Mittler nur vorbereitend tätig sein soll, [ ... ] entscheidend darauf an, ob sie aus eigener Verantwortung das Rechtsgeschäft mit dem Vertragsgegner vorbereitet hat".45 Das Wissen einer Hilfsperson, die für den Geschäftsherrn eine mangelhafte Kaufsache entgegennimmt oder ein fehlerbehaftetes Werk abnimmt, kann nur dann zugerechnet werden, wenn der Geschäftsherr die "Empfangszuständigkeit" auf die Hilfsperson übertragen hat, d. h. der Geschäftsherr muß die Hilfsperson damit betraut haben, die Kaufsache oder das Werk in eigener Verantwortung entgegenzunehmen".46 Sobald die Hilfsperson unselbständig arbeitet und das Kriterium der eigen38 39 40 41
42
43 44
45 46
Richardi S. 403. Richardi S. 397. Richardi S. 398; vgl auch: Richardi S. 403. Richardi S. 398; vgl auch: Richardi S. 403. Richardi S. 398. Richardi S. 401. Richardi S. 401, vgl. auch: Richardi S. 403. Richardi S. 401 f. Richardi S. 402.
40
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
verantwortlichen Zuständigkeit nicht erfüllt ist, muß nach Richardi eine Wissensverantwortung ausscheiden. Deshalb kann nach seiner Ansicht das Wissen einer bloß untergeordneten Hilfsperson dem Geschäftsherrn nicht zugerechnet werden. 47
2. Kritik Die Kriterien, mit deren Hilfe Richardi die Figur des Wissensvertreters zu bestimmen versucht, erweisen sich als nicht praktikabel. Denn die von ihm gewählten Begriffe der "selbständigen Tätigkeit", und der ,.Entscheidungsgewalt in bestimmten Angelegenheiten" sind zu unbestimmt, als daß sie eine klare Grenzziehung im Einzelfall ermöglichen würden. Die von Richardi genannten Zurechnungskriterien eröffnen einen so großen Spielraum, daß mit diesen Kriterien auch eine Wissenszurechnung begründet werden könnte, die weit über die von Richardi intendierte enge Grenzziehung hinausgeht. Problematisch ist auch, daß Richardi nur das Wissen der Hilfspersonen zurechnet, die den Geschäftsherrn in ähnlicher Weise repräsentieren wie ein rechtsgeschäftlicher Stellvertreter. Damit beschränkt Richardi die Wissenszurechnung auf die Hilfspersonen, die nach außen in Erscheinung getreten sind. Die für die Wissenszurechnung typischen Fälle bestehen aber gerade darin, daß das relevante Wissen bei einer Hilfsperson vorhanden ist, die den betreffenden Geschäftsvorgangs lediglich intern bearbeitet hat und gerade nicht mit dem Vertragspartner in Kontakt getreten ist. Diese Fälle vermag Richardi mit seiner engen Definition des Wissensvertreters nicht zu erfassen.
3. Waltennann Nach Waltermann kann dem § 166 "der Grundgedanke entnommen werden, daß derjenige, der einen anderen statt seiner mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten betraut, sich das in diesem Rahmen erlangte Wissen des anderen zurechnen lassen muß".48 Dieser Grundgedanke ist "als Ausdruck eines auf den Gedanken der Risikozuweisung zurückgehenden Zurechnungsprinzips" nach Waltermann auch jenseits der Stellvertretung von Bedeutung.49 Bei der analogen Anwendung des § 166 I auf die Fälle der Wissenszurechnung kommt es nach Waltermann "auf die Vergleichbarkeit des betreffenden Sachverhalts an".50 Eine Wissenszurechnung kommt nach Waltermann nur in Betracht, Richardi S. 397. WaIterrnann. Wissenszurechnung S. 198 und S. 226. 49 WaIterrnann. Wissenszurechnung S. 198; vgl. auch Walterrnann, Wissenszurechnung S. 197 f. und S. 225; Walterrnann, Arglist S. 891. 50 Walterrnann, Wissenszurechnung S. 198. 41 48
1. Abschn., ß. Wissenszurechnung über § 166
41
wenn der Geschäftsherr das Handeln der Hilfsperson veraniaßt hat. Voraussetzung für die analoge Anwendung ist also nach Waltennann ein der Bevollmächtigung entsprechender privatautonomer Akt: der Geschäftsherr muß die Hilfsperson "eingeschaltet", "mit der Erledigung einer Aufgabe betraut haben".5! Dieses Kriterium der Betrauung begrenzt nach der Auffassung von Waltennann die Wissenszurechnung: ,jenseits der eingeräumten Befugnisse scheidet eine Wissenszurechnung aus".52 Dementsprechend rechnet Waltennann das Wissen eines Boten, der lediglich eine Transportaufgabe wahrnimmt, nicht zu. Nach Waltennann erlangt der Bote bei der Durchführung der Transportaufgabe relevante Kenntnisse nicht kraft seiner arbeitsteilig ausgeübten Funktion, sondern kraft Zufalls.53 Weitere Voraussetzung für die analoge Anwendung des § 166 I ist nach Waltermann, daß "die Hilfsperson eine ähnliche Stellung [ ... ] wie ein Vertreter" hat. 54 ,,Für die analoge Anwendung kommt es darauf an, ob der Geschäftsherr sich in ähnlicher Weise repräsentieren läßt wie der Vertretene durch den rechtsgeschäftlichen Stellvertreter."55 Dabei stellt Waltennann auf "die Funktion des Mitarbeiters" ab. 56 Der Geschäftsherr muß nach Waltennann "den Mitarbeiter so eingesetzt haben, daß dieser an seine Stelle tritt, während er selbst es unterläßt, sich um die nach der jeweiligen Nonn relevanten Fragen zu kümmern".57 Nach Waltennann ist entscheidend, daß "die Hilfsperson mit Wissen und Wollen des Geschäftsherrn so eingesetzt ist, daß die Möglichkeiten der Kenntniserlangung auf sie verlagert werden".58 Dagegen kommt es nach Waltennann - wie das Beispiel des Vertreters mit gebundener Marschroute beweist - auf eine besondere Eigenverantwortlichkeit oder auf eine besondere Entscheidungsgewalt der Hilfsperson nicht an. 59 ,,Die Forderung nach einer Eigenverantwortlichkeit des Handeins der Hilfskraft" kann nach der Auffassung von Waltennann "nicht mehr bedeuten, als daß der Geschäftsherr ihr in der Weise freie Hand gelassen hat, daß Tatsachen, deren Kenntnis nach dem Gesetz erheblich sind, nicht von ihm, sondern statt seiner von der zuständigen Hilfskraft, insoweit "verantwortlich" zur Kenntnis genommen werden".60 Insofern kommt nach Waltennann eine Wissenszurechnung immer dann in Betracht, wenn die Hilfskraft "in eine bestimmte Funktion eingesetzt ist, und etwas erfährt, das der Geschäftsherr erfahren würde, wenn er selbst handelte".6! Dementsprechend rechWaltermann, Wissenszurechnung S. 198; Waltermann, Arglist S. 891. Waltermann, Wissenszurechnung S. 198. 53 Waltermann, Wissenszurechnung S. 201. 54 Waltermann, Wissenszurechnung S. 199; Waltermann, Arglist S. 892. ss Waltermann, Wissenszurechnung S. 199; vgl. Waltermann, Arglist S. 892. 56 Waltermann, Arglist S. 892; Waltermann, Wissenszurechnung S. 199. 57 Waltermann, Arglist S. 892; Waltermann, Wissenszurechnung S. 199 f. 58 Waltermann, Arglist S. 892; Waltermann, Wissenszurechnung S. 200. S9 Waltermann, Arglist S. 891 f.; Waltermann, Wissenszurechnung S. 199 f. 60 Waltermann, Arglist S. 892; Waltermann, Wissenszurechnung S. 199 f. 61 Waltermann, Arglist S. 892; Waltermann, Wissenszurechnung S. 200.
51
S2
42
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
net Waltennann das Wissen des internen Beraters nicht zu. ,,Der Geschäftsherr wird durch den Berater weder arbeitsteilig ersetzt, noch tritt dieser für den Geschäftsherrn handelnd in Erscheinung". 62
4. Kritik Anders als Richardi verzichtet Waltennann auf das Kriterium der "Selbständigkeit" und der "selbständigen Entscheidungsgewalt" . Dadurch zieht Waltennann den Kreis der Wissensvertreter weiter als Richardi. Waltennann hält aber wie Richardi am Repräsentationsgedanken des Stellvertretungsrechts fest und rechnet nur das Wissen solcher Hilfspersonen zu, die nach außen in Erscheinung getreten sind. Deshalb ist Waltennann ebenso wie Richardi dem Vorwurf ausgesetzt, nicht alle Fälle der Wissenszurechnung zu erfassen. Wenn zum Beispiel der Gebrauchtwagenhändler G seinen Angestellten R damit beauftragt hat, die zum Verkauf stehenden Gebrauchtwagen auf Mängel zu untersuchen, dann nimmt R anstelle des G die rechtserheblichen Umstände zur Kenntnis. Gleichwohl könnte man nach der Auffassung von Waltennann dem G das Wissen seines Angestellten R nicht zurechnen. Denn nach Waltennann ist für eine Wissens zurechnung erforderlich, daß der Geschäftsherr sich über die Hilfskraft am Rechtsverkehr beteiligt und durch die Hilfskraft im Rechtsverkehr arbeitsteilig ersetzt wird. 63 Der Angestellte R tritt aber zu keinem Zeitpunkt nach außen handelnd in Erscheinung. Damit könnte nach Waltennann das Wissen des R genau wie das Wissen eines internen Beraters nicht berücksichtigt werden. Das Beispiel zeigt, daß es nicht sachgerecht ist, wenn man die Wissenszurechnung auf die Hilfspersonen beschränkt, die nach außen handelnd in Erscheinung getreten sind. Durch diese Beschränkung der Wissenszurechnung würde man dem Geschäftsherr die Möglichkeit zum Mißbrauch eröffnen. Der Geschäftsherr könnte seine Haftung gering halten, indem er es seinen Hilfspersonen überläßt, die rechtserheblichen Umstände wahrzunehmen, gleichzeitig aber alle Hilfskräfte vom potentiellen Geschäftspartner fernhält.
S.Schilken Schilken geht bei der Frage der Wissenszurechnung nicht von den Zurechnungsnonnen aus, sondern setzt bei den Nonnen an, die die Kenntnis oder das Kennenmüssen für rechtserheblich erklären. 64 Bei allen Wissensnonnen sieht Schilken "die maßgebliche Grundlage für die Berücksichtigung von Kenntnis und Kennenmüssen" darin, "daß der Betroffene eines sonst in Fonn eines bestimmten Rechts62
63 64
Waltermann, Wissenszurechnung S. 201. Waltermann, Wissenszurechnung S. 201. Schilken S. 51 ff.
1. Abschn., 11. Wissenszurechnung über § 166
43
vorteils gesetzlich vorgesehenen Schutzes nicht bedarf, weil er zu einem Selbstschutz aufgrund der bekannten oder bei gebotener Verläßlichkeitsprüfung erkennbaren Tatsachen in der Lage War',.65 Der ,.Aspekt des Selbstschutz" ist nach Schilken tragender "Grund dafür, bei (gebotener) Kenntnis einen ansonsten eintretenden Rechtsvorteil auszuschließen bzw. bestimmte Rechtsnachteile eintreten zu lassen".66 Derjenige, der die rechtlich relevanten Umstände kennt oder kennen muß, hat es nach Schilken "in der Hand, sein jeweiliges Verhalten der (gebotenen) Kenntnis entsprechend einzurichten".67 Der Wissen(müssen)de kann "sich selbst vor nachteiligen Folgen seines Handeins schützen und verdient nicht den Schutz, den das Gesetz dem Gutgläubigen zubilligt. ,,68 Bei der Frage, ob das Wissen von Hilfspersonen dem Geschäftsherrn in der Weise zugerechnet werden kann, daß der vom Gesetz vorgesehene Vorteilsschutz entfällt, knüpft Schilken an die Vorschrift des § 166 an. Nach Schilken hat der Gesetzgeber in § 166 "die Zurechnung von Wissen und Wissenmüssen für den weiten Bereich der Rechtsgeschäfte allgemeingültig geregelt" und damit "eine grundlegende Wertung für sämtliche Fälle getroffen, in denen ein vorgesehener Vorteilsschutz vom Wissen(müssen) bestimmter Personen [ ... ] abhängt".69 Die in § 166 enthaltene Wertung entspricht nach Schilken der ratio der Wissensnormen, wonach das Wissen(müssen) berücksichtigt wird, weil der Wissen(müssende) die Möglichkeit zum Selbstschutz hat. 7o Denn § 166 beruht nach Schilken auf dem allgemeinen Grundsatz, daß die Kenntnis und das Kennenmüssen derjenigen Hilfsperson relevant ist, "der der Geschäftsherr die Überprüfung der den Vorteilsschutz rechtfertigenden Tatsachen [ ... ] überlassen hat".71 Die mit der Betrauung der Hilfsperson einhergehende "Verlagerung des gebotenen Selbstschutzes" begründet nach Schilken die Wissenszurechnung. 72 Von diesen Grundsätzen ausgehend will Schilken das Wissen des Stellvertreters nach § 166 dem Vertretenen zurechnen. Dagegen bleibt nach Schilken das Wissen eines Boten außer Betracht. Bei sonstigen ,,Hilfspersonen, die zwar nicht bei der Erklärung oder deren Empfang selbst, wohl aber bei der Vorbereitung oder Abwicklung vom Geschäftsherr eingesetzt werden", wendet Schilken § 166 analog an. 73 "Unverzichtbare Voraussetzung" für die analoge Anwendung des § 166 ist nach Schilken "die Betrauung der Hilfsperson mit selbständiger Entscheidungsge-
M 66 67 68
69 70 71 72 73
Schilken S. 57. Schilken S. 53. Schilken S. 52. Schilken S. 52. Schilken S. 302. Schilken S. 60. Schilken S. 225. Schilken S. 225. Schilken S. 223; vgl. auch Schilken S. 223 ff.
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
44
walt im rechtsgeschäftlichen Bereich".74 Erforderlich ist, daß der Geschäftsgehilfe eine "selbständige Stellung in bezug auf den ihm zur Bearbeitung obliegenden Bereich" innehat und daß "der Geschäftsgehilfe seine (auch) für den Vorteilsschutz erhebliche Entscheidung ersatzweise anstelle des Geschäftsherrn" trifft. 7s Damit ist nach Schilken dem Geschäftsherrn analog § 166 das Wissen eines "Sachbearbeiters" zuzurechnen, der "mit der Vorbereitung oder Abwicklung des Rechtsgeschäfts(bereichs) in der Weise betraut ist, daß ihm die Überprüfung rechtlich bedeutsamer Umstände zufälIt".76 ,,Auch das Wissen(müssen) eines Beraters, den der Geschäftsherr lediglich intern mit der Bearbeitung des betreffenden Geschäftsvorgangs betraut" hat, kann nach Schilken über § 166 analog zugerechnet werden, da nach seiner Auffassung ein offenes Handeln der Hilfsperson gegenüber dem Geschäftsgegner für die Analogie nicht erforderlich ist. 77 Nicht zugerechnet werden kann nach der Ansicht von Schilken das Wissen eines Geschäftsgehilfen, "der bestimmte Umstände lediglich vorzuprüfen, die diesbezüglichen Unterlagen aber noch dem Geschäftsherrn zu eigener Beurteilung vorzulegen hat". 78 Denn diesem Geschäftsgehilfen fehlt nach der Ansicht von Schilken "die erforderliche selbständige Stellung in bezug auf den ihm zur Bearbeitung übertragenen Bereich".79 Ebensowenig kann das Wissen eines Geschäftsgehilfen zugerechnet werden, "der lediglich technische Vertragsgrundlagen zu bearbeiten oder sonst Umstände zu überprüfen hat", die Bereiche des rechtsgeschäftlichen Vorteilsschutzes nicht tangieren. 8o Denn nach Schilken muß die ,,zuständigkeit" der Hilfsperson "gerade den Bereich erfassen, für den es auf Kenntnis oder Kennenmüssen bestimmter Umstände ankommt".81 Dementsprechend ist nach Schilken "die Kenntnis des zu den Geschäftsverhandlungen zugezogenen Steuerberaters von einem gemäß §§ 459 ff. erheblichen Mangel der gekauften Sache" dem Geschäftsherrn nicht zuzurechnen. 82
6. Kritik Schilken verankert die Wissenszurechnung nicht bei der Zurechnungsnorm, sondern bei der Wissensnorm. Auf diesen Ansatz werde ich später zurückkommen. Ansonsten kämpft Schilken genau wie Richardi und Waltermann mit dem 74
7S 76
77
78 79
80 81 82
Schilken S. 227. Schilken S. 227. Schilken S. 225. Schilken S. 226. Schilken S. 227. Schilken S. 227. Schilken S. 226 f. Schilken S. 227. Schilken S. 227.
1. Abschn., 11. Wissenszurechnung über § 166
45
Problem, die Figur des Wissensvertreters zu definieren. Anders als Richardi und Waltermann verzichtet Schilken auf das Kriterium der Repräsentation. Schilken rechnet damit auch das Wissen von Hilfspersonen zu, die lediglich intern gehandelt haben und nicht nach außen in Erscheinung getreten sind. Durch den Verzicht auf das Kriterium der Repräsentation kann Schilken den Kreis der Wissensvertreter weiter ziehen als Richardi und Waltermann. Gleichzeitig entfernt sich Schilken in größerem Maße von der Vorbildfigur des Stellvertreters. Denn der Repräsentations- und Offenkundigkeitsgrundsatz des Stellvertretungsrechts setzen voraus, daß der Stellvertreter nach außen in Erscheinung getreten ist. Wenn Schilken auch das Wissen des internen Beraters zurechnet, gibt er das Offenkundigkeitsprinzip und das Repräsentationsprinzip für die Figur des Wissensvertreters auf. Schilken begrenzt den Kreis der Wissensvertreter ausschließlich mit dem Kriterium der Selbständigkeit. In Übereinstimmung mit Richardi fordert Schilken, daß der Wissensvertreter eine "selbständige Stellung" inne hat und über "selbständige Entscheidungsgewalt" verfügt. Schilken begrenzt damit wie Richardi den Kreis der Wissensvertreter vertikal, indem er an die Stellung der Hilfsperson innerhalb der Hierarchie des Unternehmens anknüpft. Genau wie Richardi ist damit auch Schilken dem Vorwurf ausgesetzt, daß die Kriterien der "Selbständigkeit" und der ,,Entscheidungsgewalt" zu vage sind, um eine griffige Abgrenzung zu ermöglichen. Die von Schilken genannten Kriterien schaffen keine starren, unüberspringbaren Grenzen der Wissenszurechnung, sondern lassen die Entscheidung, ob eine Zurechnung erfolgt, im Einzelfall offen. Das führt zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit, denn die unbestimmten Abgrenzungskriterien lassen in vielen Einzelfällen eine Entscheidung in beide Richtungen zu. Dadurch ist für den Geschäftsherrn in der Regel nicht vorhersehbar, für welches Wissen er die Verantwortung zu tragen hat.
7. Schultz Nach Schultz beruht § 166 "nicht darauf, daß jemand gerade Willenserklärungen für einen anderen abgibt, sondern allgemein auf der Einschaltung eines anderen für die Erledigung eigener Angelegenheiten".83 Deshalb müsse sich ein Geschäftsherr nach § 166 das Wissen aller seiner Hilfspersonen zurechnen lassen. Für die Wissenszurechnung kommt es nach der Auffassung von Schultz nur darauf an, daß die Hilfsperson "nach der internen Arbeitsorganisation dazu berufen ist, bestimmte Umstände - verantwortlich, d. h. mit Wirkung für den Geschäftsherrn - zur Kenntnis zu nehmen".84 "Entscheidend" für die Wissenszurechnung ist nach Schultz M. Schultz, Wissenszurechnung S. 478. M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480; vgl. auch: M. Schultz, Wissenszurechnung S.479. 83
84
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
46
"die Selbständigkeit" der Hilfsperson "beim Akt der Kenntnisnahme".85 Nach Schultz bezieht sich die verantwortliche Selbständigkeit nicht auf die Besorgung bestimmter Angelegenheiten, sondern allein auf die Kenntnisnahme selbst. 86 Für die Frage, "wann die Person einen anderen verantwortlich, d. h. mit Wirkung für ihn, im Wissen vertritt", ist nach Schultz allein die interne Arbeitsorganisation entscheidend. Nach Schultz ist "derjenige Wissensvertreter, dessen Aufgabe es gerade ist, bestimmte Umstände zur Kenntnis zu nehmen".87 Wissensvertreter sind nach Schultz aber auch die Hilfspersonen, "die innerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches etwas erfahren, was den Geschäftsherrn angeht, was Rechtsfolgen hätte, wenn der Geschäftsherr es selbst wüßte".88 Damit hängt nach Schultz die Wissenszurechnung allein davon ab, daß die Hilfsperson bei der Kenntnisnahme "zuständig" ist, d. h. "sich im vom Geschäftsherrn zugewiesenen Aufgabenbereich bewegt". 89 Insofern rechnet Schultz dem Geschäftsherrn auch das Wissen derjenigen Hilfsperson zu, "die nicht gleichzeitig befugt ist, aus den erlangten Kenntnissen Konsequenzen zu ziehen oder gar Entscheidungen zu treffen, sondern die schlicht die erlangten Kenntnisse speichern oder weitergeben soll, damit ein anderer entscheidet".90 Privates Wissen, das die Hilfsperson außerhalb ihres Aufgabenbereiches erlangt, kann nach der Auffassung von Schultz nicht zugerechnet werden.
8. Kritik Innerhalb der an § 166 orientierten Auffassungen zieht Schultz den Kreis der Wissensvertreter am weitesten. Schultz verzichtet auf jede personale Beschränkung der Wissenszurechnung. Wissensvertreter ist nach seiner Auffassung jede für den Geschäftsherrn tätige Hilfsperson. Damit hat sich Schultz von seinem dogmatischen Ausgangspunkt - der Vorschrift des § 166 I - vollkommen entfernt. Während Richardi und Schilken durch die Kriterien der "Repräsentation" und der "selbständigen Entscheidungsgewalt" bemüht waren, die Figur des Wissensvertreters an der Vorbildfigur des Stellvertreters auszurichten, sind bei Schultz die letzten Reminiszenzen an die Figur des Stellvertreters völlig entfallen. Darüber hinaus setzt sich Schultz in Widerspruch zu seinem dogmatischen Ausgangspunkt, wenn er das private Wissen der Hilfskräfte nicht zurechnet. Denn § 166 I unterscheidet gerade nicht zwischen privatem und dienstlichem Wissen. Vielmehr wird nach § 166 I auch das private Wissen des Stellvertreters zugerechnet. 85 86 87 88 89 90
M. M. M. M. M. M.
Schultz, Wissenszurechnung S. 479. Schultz, Wissenszurechnung S. 479. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. Schultz, Wissenszurechnung S. 479.
1. Abschn., 11. Wissenszurechnung über § 166
47
9. Ablehnung einer mit § 166 I begründeten Wissenszurechnung
Das Problem der Wissenszurechnung kann nicht dadurch gelöst werden, daß man die Vorschrift des § 166 I analog oder ihrem Rechtsgedanken nach anwendet. § 166 I hat einen in mehrfacher Hinsicht stark beschränkten Anwendungsbereich. Aufgrund dieser normimmanenten Beschränkungen vermag § 166 I nicht alle Fälle der Wissenszurechnung zu erfassen.
a) Beschränkung auf das rechtsgeschäftliche Handeln
Nach § 166 I kommt eine Wissenszurechnung nur in Betracht, soweit die rechtlichen Folgen einer Willenserklärung durch die Kenntnis oder das Kennenmüssen beeinflußt werden. § ·166 I regelt also unmittelbar nur die Wissens zurechnung im Rahmen eines Rechtsgeschäftes. Das Problem der Wissenszurechnung ist aber nicht auf den rechtsgeschäftlichen Bereich beschränkt. So stellt sich die Frage der Wissenszurechnung beispielsweise auch im Rahmen der Abnahme des Werkes nach § 640, des Überbaus nach § 912 oder des Besitzerwerbs durch einen Besitzdiener nach § 990.
b) Beschränkung auf den Stellvertreter
Die Vorschrift des § 166 I ist unmittelbar nur auf die Person des Stellvertreters anzuwenden. § 166 I setzt damit voraus, daß die Hilfsperson über Vertretungsmacht verfügt. Das Problem der Wissenszurechnung besteht aber gerade darin, daß die rechtserhebliche Kenntnis bei einer Hilfsperson vorhanden ist, die nicht zum Handeln nach außen befugt ist.
c) Beschränkung auf den konkret Handelnden
Gemäß § 166 I wird nicht das Wissen irgendeines Stellvertreters zugerechnet, sondern nur das Wissen desjenigen Stellvertreters, der den rechtsgeschäftlichen Tatbestand verwirklicht hat. Wenn beispielsweise der Geschäftsherr über mehrere Stellvertreter verfügt, kommt es nach § 166 I nur auf den Wissensstand des konkret handelnden Stellvertreters an. Das Wissen der am konkreten Rechtsgeschäft unbeteiligten Stellvertreter bleibt nach § 166 I außer Betracht. Bei der Wissenszurechnung besteht das Problem aber gerade darin, daß das rechtserhebliche Wissen bei einer Hilfsperson vorhanden ist, die an den rechtsgeschäftlichen Verhandlungen nicht beteiligt ist und in der Regel sogar von dem Abschluß des Rechtsgeschäfts noch nicht einmal etwas weiß.
48
l. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
d) Beschränkung auf das konkrete Rechtsgeschäft § 166 I erfordert das entscheidende Wissen bei einer bestimmten Willenserklärung. Die Vorschrift des § 166 I bezieht sich damit auf eine konkrete Rechtsbeziehung. 91 Das positive Wissen eines Stellvertreters schadet dem Geschäftsherrn nach § 166 I nur bei dem Rechtsgeschäft, das dieser Stellvertreter abschließt. Dagegen spielt das Wissen dieses Stellvertreters keine Rolle bei einem zweiten Rechtsgeschäft, das von dem unwissenden Geschäftsherrn später selbst abgeschlossen wird. § 166 I enthält nämlich nicht die Fiktion, das von einer Hilfsperson erlangte Wissen sei von diesem Augenblick an das Wissen des Geschäftsherrn, auch wenn der Geschäftsherr dieses Wissen in Wirklichkeit nicht erlangte. 92 Bei der Wissenszurechnung besteht das Problem aber darin, daß das Wissen einer Hilfsperson relevant ist, die am Abschluß des konkreten Rechtsgeschäfts unbeteiligt ist.
10. Zusammenfassung
Die Auffassungen, die eine Wissenszurechnung aus einer analogen Anwendung oder aus dem Rechtsgedanken des § 166 I abzuleiten versuchen, müssen sich über alle Beschränkungen des § 166 I hinwegsetzen, um jeden Fall der Wissenszurechnung erfassen zu können. Die an § 166 I orientierte Auffassung dehnt diese Vorschrift so weit aus, daß im Ergebnis in § 166 der Grundsatz des § 278 projiziert wird. 93 Dadurch bleibt von der ursprünglichen Vorschrift nichts mehr übrig. § 166 I wird zu einer leeren Hülle und verliert jede Aussagekraft. Dadurch entsteht das Problem, daß sich mit einer inhaltlich entleerten Vorschrift die Grenzen der Wissenszurechnung nicht mehr exakt bestimmen lassen. Um die Wissenszurechnung begrenzen zu können, ist die an § 166 I orientierte Lehre gezwungen, die Figur des Wissensvertreters heranzuziehen. Damit wird die Wissenszurechnung zu einem von einer konkreten Vorschrift losgelösten Begrifflichkeitsproblem. Von der jeweiligen Definition des Wissensvertreters hängt ab, ob das Wissen von Hilfspersonen zugerechnet werden kann, die nicht nach außen handelnd in Erscheinung getreten sind. Die Definition des Wissensvertreters bestimmt auch, ob privates Wissen der Hilfspersonen zugerechnet werden kann. Darüber hinaus sind die vorgeschlagenen Definitionen des Wissensvertreters so vage und interpretationsbedürftig, daß trotz Definition eine klare Lösung des Einzelfalls im Dunkeln bleibt. Die unterschiedlichen Definitionen des Wissensvertreters sorgen eher für Verwirrung als rür Klarheit.
91 Waltermann, Wissenszurechnung S. 212; Waltermann, Arglist S. 892; BGH NJW 1984, 1953, 1954. 92 Waltermann, Wissenszurechnung S. 212; Waltermann, Arglist S. 892. 93 Hübner Rdn. 1230.
1. Abschn., III. Wissenszurechnung über § 278
49
Hinzu kommt, daß die einzelnen Auffassungen sich über die aus der jeweiligen Definition hergeleiteten Ergebnisse streiten, ohne sich über die Differenzen im Ausgangspunkt klar zu werden. Eine Auseinandersetzung mit der abweichenden Definition der anderen Seite erfolgt in der Regel nicht. Es ist also festzuhalten, daß die Wissenszurechnung nicht aus der Vorschrift des § 166 hergeleitet werden kann.
III. Wissenszurechnung über § 278 Die Wissenszurechnung wird auch mit der Vorschrift des § 278 begründet.94 Nach § 278 hat der Schuldner ein Verschulden seines gesetzlichen Vertreters und der Personen, deren er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten bedient, in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Nach seinem Wortlaut dient § 278 der Verschuldenszurechnung. Deshalb wird vielfach eingewandt, die Wissenszurechnung könne nicht auf § 278 gestützt werden, weil die Wissenszurechnung von der Verschuldenszurechnung unterschieden werden müsse. 95 Das Wissen sei kein Verhalten, sondern ein Zustand. 96 Dieser Einwand vermag nicht zu überzeugen, wenn das Wissen oder das Wissenmüssen wie beispielsweise bei § 463 S. 2 ein Element des Verschuldens ist. 97 In derartigen Fällen kann die Vorschrift des § 278 nicht von vornherein als Zurechnungsnorm verworfen werden. Auch der gelegentlich erhobene Einwand, § 278 könne keine Anwendung finden, weil die Wissenszurechnung kein Problem des Einstehens für Dritte sei,98 vermag nicht zu überzeugen. Denn die Wissenszurechnung bedeutet nichts anderes, als daß ein Rechtssubjekt rur das Wissen eines anderen Rechtssubjekts einzustehen hat. Die Wissenszurechnung ist insofern sehr wohl ein Einstehen rur Dritte. Die grundsätzlichen Einwände gegen die Anwendung des § 278 auf Fälle der Wissenszurechnung können nicht darüber hinwegtäuschen, daß § 278 als Grundlagennorm der Wissenszurechnung auf den ersten Blick durchaus verheißungsvoll erscheint. § 278 bietet gegenüber der Vorschrift des § 166 den Vorteil, daß bei § 278 der persönliche Anwendungsbereich wesentlich größer ist als bei § 166. Mit der Figur des Erfüllungsgehilfen kann ein wesentlich größerer Kreis von Hilfsper94 R. Schmidt, Obliegenheiten s. 283 ff., insbesondere S. 184 f. und S. 319; Staub-Canaris Rdn. 106 und Rdn. 800 a; Canaris, Karlsruher Forum S. 33 f.; Hoffrnann S. 373 f.; Wolff S. 1612 f. 95 Westerhoff S. 44; Grunewald, Karlsruher Forum S. 41; Lorenz, Karlsruher Forum S. 44; Taupitz, Karlsruher Forum S. 50; Medicus, Karlsruher Forum S. 51. 96 Schilken S. 55; Wetzel S. 47. 97 Westerhoff S. 44; Grunewald, Karlsruher Forum S. 41; Lorenz, Karlsruher Forum S. 44; Taupitz, Karlsruher Forum S. 50; Medicus, Karlsruher Forum S. 51. 98 Richardi S. 387; Möller, Wissen S. 12; Möller, Versicherung S. 27; Walterrnann, Wissenszurechnung S. 188.
4 Goldschmidt
50
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
sonen erfaßt werden als mit der Figur des Stellvertreters. Insofern dürfte eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung zu deutlich weniger Problemen führen als eine Wissenszurechnung, die mit § 166 begründet wird. Auch die ratio des § 278 stimmt mit wesentlichen Grundgedanken der Wissenszurechnung überein: Die Wissenszurechnung beruht auf dem Gedanken der Arbeitsteilung. Die durch die Arbeitsteilung verursachten Wissenslücken sollen durch die Wissenszurechnung geschlossen werden, denn die arbeitsteilig bedingte Zuständigkeitsaufspaltung darf nicht zu einer Besserstellung des Geschäftsherrn führen. Derjenige, der die Vorteile der Arbeitsteilung in Anspruch nimmt, hat auch deren Nachteile zu tragen. Diese für die Wissenszurechnung typischen Argumentationsmuster finden sich bei der Vorschrift des § 278 wieder: § 278 dient dazu, die Folgen der Arbeitsteilung haftungsrechtlich zu kompensieren. Die ratio des § 278 wird allgemein darin gesehen, daß derjenige, der bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen Hilfspersonen einsetzt, keine Haftungsvorteile auf Kosten des Geschäftspartners erlangen darf. 99 Auch § 278 wird auf den Gedanken zurückgeführt, daß derjenige, der die Vorteile der Arbeitsteilung in Anspruch nimmt, auch deren Nachteile zu tragen hat. lOo Angesichts der bei der Wissenszurechnung und bei der Zurechnungsnorm des § 278 übereinstimmenden Rechtsgedanken, liegt es nahe, die Wissenszurechnung auf die Vorschrift des § 278 zu stützen. Im folgenden soll näher untersucht werden, ob die Wissenszurechnung tatsächlich mit der Vorschrift des § 278 begründet werden kann. Exemplarisch für eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung stehen die Ausführungen von Reimer Schmidt und Canaris.
1. Reimer Schmidt - Obliegenheiten
Nach Reimer Schmidt muß ein Geschäftsherr analog § 278 für das Wissen der Hilfspersonen einstehen, deren er sich bei der Erfüllung von Obliegenheiten bedient. 101 Obliegenheiten sind nach Reimer Schmidt "dadurch gekennzeichnet, daß an ein tatbestandlich bestimmtes Verhalten des Obliegenheitsbelasteten eine diesem rechtlich nachteilige Rechtsfolge geknüpft ist, die nicht in einem Erfüllungs99 Picker, Haftung S. 488; Picker, Haftungssysteme S. 644; Staudinger-Löwisch § 278 Rdn. I; Müko-Hanau § 278 Rdn. I; Larenz, Schuldrecht I § 20 VIII S. 297; Mugdan TI S. 16 = Motive 11 S. 30. 100 Palandt-Heinrichs § 278 Rdn. I; Erman-Battes § 278 Rdn. I; Soergel-Wolf § 278 Rdn. I; Müko-Hanau § 278 Rdn. I; Esser-Schmidt, Schuldrecht 1,1 § 27 13 S. 94; Larenz, Schuldrecht I § 20 VIII S. 297; Gemhuber, Schuldverhältnis § 2011 3 S. 445; Enneccerus-Lehmann § 44 I I; Fikentscher Rdn. 513; Blomeyer § 24111; Spieß S. 664; BGHZ 95, 128, 132 ,,Die Vorschrift des § 278 BGB will den Gläubiger vor möglichen haftungsausschließenden Folgen einer arbeitsteiligen Wirtschaft schützen". 101 R. Schmidt, Obliegenheiten S. 283 ff.
1. Abschn., 1lI. Wissenszurechnung über § 278
51
anspruch oder einem Schadensersatzanspruch wegen Obliegenheitsverletzung besteht".102 Auf Obliegenheiten ist nach Reimer Schmidt § 278 analog anzuwenden. Denn auch bei Obliegenheiten gelte der allgemeine Grundsatz, daß derjenige, der sich die Vorteile der Arbeitsteilung zunutze mache, auch die damit für bestimmte andere Personen verbundenen Nachteile zu tragen habe. 103 Am Beispiel des § 16 VVG und am Beispiel des § 460 verdeutlicht Reimer Schmidt, daß die Wissenszurechnung auf die Zurechnung einer Obliegenheitsverletzung zurückzuführen sei. Der Tatbestand des § 16 VVG setzt nach der Auffassung von Reimer Schmidt grundsätzlich eine eigene Kenntnis des Versicherungsnehmers voraus. Wenn dem Versicherungsnehmer die Kenntnis eines Dritten zugerechnet wird, dann wird nach Reimer Schmidt "durch die Fiktion, daß der Versicherungsnehmer von dem Kenntnis habe, was bestimmte Dritte wissen, dem Versicherungsnehmer gewohnheitsrechtlich eine zusätzliche Obliegenheit auferlegt, sich entweder fortlaufend selbst die Kenntnis (unmittelbar oder von den Dritten) zu verschaffen oder die Dritten mit der Abgabe der Wissenserklärung zu betrauen".H)4 Diese Obliegenheit habe zur Folge, daß Versicherungsnehmer für das Wissen von Hilfspersonen analog § 278 einzustehen hat. Bei § 460 führe die allgemeine Achtsamkeit im Verkehr zu einer besonderen Untersuchungsobliegenheit des Käufers. lOS Dementsprechend müsse sich der Käufer analog § 278 das Wissen von Hilfspersonen zurechnen lassen. 106
2. Kritik Der Ansatz von Reimer Schmidt ist abzulehnen. 107 Auf Obliegenheiten ist § 278 nicht ohne weiteres anwendbar. 108 Darüber hinaus handelt es sich bei den Wissensnormen nicht um Obliegenheitstatbestände. 109 Obliegenheiten begründen weder einen Erfüllungsanspruch noch einen Schadensersatzanspruch bei ihrer Verletzung. Die Wissensnormen können dagegen sehr wohl einen Schadensersatzanspruch begründen wie die §§ 463 S. 2, 990 zeigen. R. Schrnidt, Obliegenheiten S. 315. R. Schrnidt, Obliegenheiten S. 319; vgl. auch R. Schrnidt, Obliegenheiten S. 286. 104 R. Schmidt, Obliegenheiten S. 286. lOS R. Schrnidt, Obliegenheiten S. 184. 106 R. Schrnidt, Obliegenheiten S. 184 f. 107 Ebenso Westerhoff S. 44 f.; Schilken S. 55 f., S. 95 f. und S. 236 f. 108 st. Rspr. RGZ 83, 43, 44; RGZ 117, 327, 329; RGZ 135,370,371; RGZ 158, 357, 361; RGZ 159, 337, 352; BGHZ 11, 120, 122; BGH NJW 1981, 1952; Erman-Battes § 278 Rdn. 47; Soergel-Wolf § 278 Rdn. 16; Palandt-Heinrichs § 278 Rdn. 21; Möller, Wissen S. 7; Wieling S. 354; Esser-Schmidt, Schuldrecht 1,1 § 27 I; a.A.: Müko-Hanau § 278 Rdn. 29. 109 Schilken S. 54 ff. und S. 95. 102 103
l. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
52
Die Obliegenheit zu befolgen, liegt im eigenen Interesse des Obliegenheitsbelasteten, da bei Verletzung der Obliegenheit ein Rechtsverlust oder rechtliche Nachteile eintreten. Bei den Wissensnormen fehlt dieser Nötigungs- oder Anreiztatbestand. llO Bei den §§ 932 ff. beispielsweise dient die Möglichkeit des gutgläubigen Erwerbs nicht als Anreiz dafür, daß jemand bestimmte Nachforschungen anstellt, um vom Nichtberechtigten zu erwerben. 11l Auch bei § 460 kann eine Untersuchungsobliegenheit nicht mit dem Interesse des Käufers begründet werden, sich die Mängelgewährleistungsanspriiche zu erhalten. ll2 Ebensowenig begründet § 16 VVG für den Versicherungsnehmer die Obliegenheit, Kenntnis zu haben. 113 Das Wissen ist vielmehr tatbestandliche Voraussetzung der Anzeige- und Auskunftspflicht. 114 Selbst wenn man den Standpunkt von Reimer Schmidt einnähme, könnte man nicht alle Fälle der Wissenszurechnung lösen. ll5 Beim gutgläubigen Erwerb beispielsweise besteht eine Sonderverbindung nur zwischen dem Käufer und dem Nichteigentümer. Dementsprechend kann dem Käufer nach § 278 das Wissen eines bösgläubigen VermiUlungsagenten nur im Verhältnis zum Nichteigentümer zugerechnet werden. Dagegen besteht zwischen dem wahren Eigentümer und dem Käufer in der Regel keine Sonderverbindung, so daß im Verhältnis zum wahren Eigentümer eine Wissenszurechnung nach § 278 ausscheiden müßte. Die Wissenszurechnung läßt sich also nicht dadurch begründen, daß man in die jeweilige Wissensnorm eine Obliegenheit hinein interpretiert, um auf diese Weise § 278 anwenden zu können.
3. Canaris Canaris befürwortet in allen Fällen, in denen die Wissensaufspaltung organisationsbedingt ist, 116 eine auf § 278 gestützte "Wissenszusammenrechnung".1l7 Nach der Auffassung von Canaris dürfen "größere Unternehmen durch die stärkere Arbeitsteilung und die damit verbundene "Wissensaufspaltung" nicht privilegiert werden",118 denn es gehe "nicht an, daß Unternehmen durch Arbeitsteilung "gutSchilken S. 56. Schilken S. 56. 112 Schilken S. 95; Auch Richardi S. 390 lehnt bei § 460 eine Obliegenheit ab. 113 Möller, Versicherung S. 25; Möller, Wissen S. 10; Staudinger-Löwisch § 278 Rdn. 38; Palandt-Heinrichs § 278 Rdn. 21; Müko-Hanau § 278 Rdn. 30. 114 Möller, Versicherung S. 25; Möller, Wissen S. 10; Staudinger-Löwisch § 278 Rdn. 38; Palandt-Heinrichs § 278 Rdn. 21; Müko-Hanau § 278 Rdn. 30. m Vg1. zum folgenden Beispiel Westerhoff S. 45. 116 Canaris, Karlsruher Forum S. 33 unter Aufgabe von Staub-Canaris Rdn. 800 a. 117 Staub-Canaris Rdn. 106. 118 Staub-Canaris Rdn. 106. 110 111
1. Abschn., III. Wissenszurechnung über § 278
53
gläubig" bleiben, in denen Einzelpersonen mit Selbstverständlichkeit nach dem normalen Lauf der Dinge bösgläubig wären".119 Nach Canaris ist deshalb ein Unternehmen "zumindest bezüglich besonders wichtiger und/oder dramatischer Umstände" als Einheit zu betrachten. 120 Die ,,zusammenrechnung des Wissens aller Wissensvertreter,,121 erreicht Canaris dadurch, daß er "mit dem Schutzzweck des § 278 BGB [ ... ] uneingeschränkt Ernst" macht. 122 Der Schutzzweck des § 278 besteht nach der Auffassung von Canaris darin, die arbeitsteiligen Vorteile des Geschäftsherrn zu kompensieren und "den Gläubiger vor den Risiken der Arbeitsteilung zu bewahren".123 Gemäß § 278 ist der Geschäftsherr nach der Ansicht von Canaris so zu stellen, als hätte "er selbst die fragliche Handlung vorgenommen (bzw. unterlassen) und dabei die Kenntnisse (und Fähigkeiten) aller seiner Gehilfen gehabt".124 § 278 erfordert nach Auffassung von Canaris nicht notwendigerweise "ein echtes persönliches Verschulden des Gehilfen", es genügt ein "fiktives Verschulden" des Geschäftsherrn. 125 Die auf § 278 gestützte Wissenszusammenrechnung entspricht nach Canaris "sowohl der rechtlichen Einheit des Unternehmens als auch dem Gedanken der Zurechnung des spezifischen Betriebs-, insbesondere Organisationsrisikos", 126 denn es sei "dem Unternehmen zu überlassen, ob und wie es eine entsprechende Informationsverteilung gewährleistet".127 Daß die Wissenszusammenrechnung damit zu einer "Verschärfung der Vertragsund Schutzpflichthaftung von einer echten Verschuldenshaftung in Richtung auf eine Risikohaftung" führt, hält Canaris für "durchaus sachgerecht". 128
4. Kritik Canaris kompensiert die durch die Arbeitsteilung bedingte Wissensaufspaltung mit einer Wissenszusammenrechnung. Das gesamte Wissen innerhalb des Unternehmens wird zu einem einheitlichen Wissen des Unternehmens addiert. Zwar will auch Canaris die Wissenszurechnung begrenzen. Anders als die an § 166 I orientierte Auffassung beschränkt Canaris die Wissenszurechnung aber 119
120 121 122 123
124 125 126 127 128
Staub-Canaris Rdn. 800 a. Staub-Canaris Rdn. 106. Staub-Canaris Rdn. 800 a. Staub-Canaris Rdn. 106. Staub-Canaris Rdn. 106; vgl. auch Canaris S. 34. Staub-Canaris Rdn. 106. Staub-Canaris Rdn. 106. Staub-Canaris Rdn. 800 a. Staub-Canaris Rdn. 800 a; vgl. auch Staub-Canaris Rdn. 106. Staub-Canaris Rdn. 106.
54
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
nicht personal mit der Figur des Wissensvertreters, denn Canaris rechnet dem Geschäftsherm das Wissen aller seiner Hilfspersonen zu, sondern inhaltlich, indem Canaris die Zurechnung auf "besonders wichtige und/oder dramatische Umstände" beschränkt. Diese inhaltliche Beschränkung der Wissenszurechnung vermag nicht zu überzeugen. Die Kriterien "besonders wichtig" und "besonders dramatisch" sind inhaltsleer und entfalten keine Abgrenzungskraft. Da sich das zuzurechnende Wissen immer nur auf bestimmte Tatbestandsmerkmale der jeweils einschlägigen Wissensnorm beziehen kann, ist das zuzurechnende Wissen als rechtserhebliches Wissen immer wichtig. Im Rahmen der Wissenszurechnung ist deshalb gar nicht vorstellbar, was unwichtiges oder undramatisches Wissen sein soll. Im übrigen widerspricht diese inhaltliche Beschränkung dem Gesetz. Weder die Zurechnungsnorm des § 278 noch die Wissensnormen, die an die Kenntnis oder das Kennenmüssen bestimmte Rechtsfolgen knüpfen, enthalten eine Beschränkung auf wichtige oder dramatische Umstände.
s. Ablehnung einer mit § 278 begründeten Wissenszurechnung Die Wissenszurechnung kann nicht mit der Vorschrift des § 278 begründet werden. Denn eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung entspricht nicht dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung, sondern wandelt eine Vorsatzhaftung in eine Fahrlässigkeits- oder sogar in eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung um.
a) Risikoverteilung bei der Wissenszurechnung
Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung soll die Wissenszurechnung sachgerecht begrenzen. Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung besagt, daß einem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn das Risiko eines Wissensdefizits, das er durch die Einschaltung von Hilfspersonen selbst geschaffen hat, nur insoweit zugewiesen werden kann, als die jeweilige Wissensnorm eine Zuweisung dieses Risikos rechtfertigt. Enthält die Wissensnorm eine reine Vorsatzhaftung, dann kann das Risiko eines Wissensdefizits dem Geschäftsherrn nur dann zugewiesen werden, wenn die Wissens lücke vorsätzlich verursacht worden ist. Verkauft beispielsweise der Geschäftsherr G einen mit Mängeln behafteten Gegenstand an den Käufer K und weist diesen nicht auf den Fehler der Kaufsache hin, kommt nach dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung eine Arglisthaftung gemäß § 463 S. 2 nur in Betracht, wenn G vorsätzlich verhindert hat, daß ihn das rechtserhebliche Wissen erreicht, oder wenn eine Hilfsperson des G das rechtserhebliche Wissen vorsätzlich nicht an G weitergegeben hat. In beiden Fäl-
1. Abschn., III. Wissenszurechnung über § 278
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len ist die Wissenslücke des G vorsätzlich verursacht worden, so daß nach dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung eine Arglisthaftung gerechtfertigt wäre. Wenn G aber die Aufklärung des K unterlassen hat, weil er durch eigene Fahrlässigkeit, durch ein fahrlässiges Verhalten seiner Hilfspersonen oder durch Zufall die relevanten Informationen nicht erhalten hat, dann muß nach dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung eine Wissenszurechnung und damit auch eine Arglisthaftung nach § 463 S. 2 ausscheiden. Das Beispiel verdeutlicht noch einmal, welche Bedeutung der Gedanke der gerechten Risikoverteilung bei der Wissenszurechnung hat. Der Gedanke der gerechten Risikoverteilung verhindert, daß eine Vorsatzhaftung durch die Wissenszurechnung in eine Fahrlässigkeitshaftung oder gar in eine verschuldensunabhängige Haftung umgeformt wird. b) Risikoverteilung bei § 278 § 278 beruht ebenfalls auf einer Risikoverteilung: der Schuldner hat das Risiko eines fehlerhaften Verhaltens seines Gehilfen zu tragen. 129 Das gesamte Leistungsverhalten des Gehilfen wird dem Schuldner über § 278 wie eigenes Verhalten zugerechnet. § 278 fingiert damit, daß nicht der Gehilfe, sondern der Geschäftsherr gehandelt hat. 130 Der Geschäftsherr wird durch § 278 so gestellt, wie wenn er selbst das schadensstiftende Verhalten seines Gehilfen beobachtet hätte. \31 § 278 macht also die Arbeitsteilung rückgängig.
Im Rahmen der Wissenszurechnung sind nun verschiedene Anknüpfungspunkt für eine Zurechnung nach § 278 denkbar: die Kenntniserlangung, das präsente Wissen oder die unterlassene Weitergabe des Wissens: Der Geschäftsherr kann durch § 278 so gestellt werden, als hätte er an Stelle seiner Hilfspersonen die rechtserheblichen Informationen selbst zur Kenntnis genommen. Der Geschäftsherr kann über § 278 aber auch so gestellt werden, als würde er in dem von der Wissensnorm vorgegebenen Zeitpunkt selbst über das präsente Wissen seiner Hilfspersonen verfügen. Schließlich kann der Geschäftsherr über § 278 auch so gestellt werden, als hätte er an Stelle seiner Hilfspersonen die rechtserheblichen Informationen selbst nicht weitergegeben. Diese drei Interpretationsmöglichkeiten
129 Esser-Schmidt, Schuldrecht 1,1 § 27 I 1 S. 91 und § 8 11 4 S. 136 f.; Larenz, Schuldrecht I § 20 VIII S. 297; Soergel-Wolf § 278 Rdn. 1; Palandt-Heinrichs § 278 Rdn. 1; ErmanBattes § 278 Rdn. 1; Müko-Hanau § 278 Rdn. 1. 130 Frotz S. 72 ff.; Picker, Haftung S. 488 f.; Soergel-Wolf § 278 Rdn. 57. 131 Frotz S. 72 ff.; Picker, Haftung S. 488 f.; Picker, Haftungssysteme S. 644; Gernhuber, Schuldverhältnis § 20 11 5 S. 448; Esser-Schrnidt, Schuldrecht 1,1 § 27 I 3 S. 95; Larenz, Schuldrecht I § 20 VIII S. 303; E. Schmidt, Dogmatik S. 511; Soergel-Wolf § 278 Rdn. 57; OLG Hamm NJW 89,2137,2138.
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
56
des § 278 fUhren im Rahmen der Wissenszurechnung zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. aa) § 278 und der zum Wissen führende Akt der Kenntniserlangung Wenn man im Rahmen der Wissenszurechnung die Arbeitsteilung rückgängig macht und deshalb den Geschäftsherrn so stellt, als habe er selbst die rechtserheblichen Umstände zur Kenntnis genommen, bezieht man § 278 nicht auf das präsente Wissen der Hilfspersonen, sondern auf den zum Wissen fUhrenden Akt der Kenntniserlangung. Für eine Vorsatzhaftung des Geschäftsherrn würde es demnach ausreichen, daß die Hilfsperson an Stelle des Geschäftsherrn Kenntnis von rechtserheblichen Umständen erlangt hat. Ein solches Verständnis des § 278 ist abzulehnen. § 278 kann nicht auf den Akt der Kenntniserlangung bezogen werden, weil der Geschäftsherr selbst dann einer Vorsatzhaftung ausgesetzt wäre, wenn die Hilfsperson die rechtserheblichen Umstände im Laufe der Zeit wieder vergessen hätte. Die Wissenszurechnung und damit die Vorsatzhaftung des Geschäftsherrn müßte auch in den Fällen bejaht werden, in denen weder der Geschäftsherr noch seine Hilfspersonen vorsätzlich gehandelt haben. Damit würde § 278 fUr den Geschäftsherrn eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung für die Kenntniserlangung durch seine Hilfspersonen begründen. Wenn der Geschäftsherr durch § 278 so gestellt wird, als habe er selbst die rechtserheblichen Umstände zur Kenntnis genommen, wird das Vergessen unmöglich. Die von der Hilfsperson tatsächlich erlangte Kenntnis wird durch die Zurechnung über § 278 zu einer normativen Kenntnis des Geschäftsherrn. Diesen durch die Zurechnung nach § 278 begründeten normativen Wissensstand kann der Geschäftsherr nicht vergessen, denn nur tatsächlich vorhandenes Gedächtniswissen kann vergessen werden. Mit dem Ausschluß des Vergessens setzt man sich aber in Widerspruch zu den Wissensnormen. Die Wissensnormen, die in ihrem Tatbestand allein auf positive Kenntnis abstellen, sind nicht anwendbar, wenn die rechtserheblichen Umstände im von der Wissensnorm vorgeschriebenen Zeitpunkt vergessen sind. Bei § 463 S. 2 beispielsweise scheidet eine Arglisthaftung aus, wenn der Verkäufer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses den Mangel der Kaufsache vergessen hat. 132 Die Vorsatzhaftung nach § 463 S. 2 kann auch nicht damit begründet werden, daß der Verkäufer zu einem früheren Zeitpunkt von dem Fehler der Kaufsache tatsächlich gewußt hat, denn eine Vermutung fUr den Fortbestand eines einmal eingetretenen tatsächlichen Zustands insbesondere fUr den Fortbestand einer einmal erlangten Kenntnis besteht nicht. 133 BGH NJW-RR 1987, 1415, 1416; Soerge1-Huber § 476 Rdn. 24. BGH NJW-RR 1987, 1415, 1416; BGH NJW-RR 1992, 333, 334; Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 26. 132
133
1. Abschn., III. Wissenszurechnung über § 278
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Das Vergessen darf durch die Wissenszurechnung nicht ausgeschlossen werden, denn das Vergessen ist ein Element des gesetzlich vorgesehenen Haftungsmaßstabs. Der Ausschluß des Vergessens würde den Haftungsmaßstab des Gesetzes zum Nachteil des Haftenden verändern: Das Gesetz geht bei Fahrlässigkeit von einem objektiven Sorgfaltsmaßstab aus. 134 Dieser objektive Sorgfaltsmaßstab muß als Mindestschutz von jedermann eingehalten werden. 135 Im Gegensatz dazu muß bei vorsätzlichem Handeln das Wissen und Wollen individuell festgestellt werden. Das Gesetz orientiert sich bei der Vorsatzhaftung an den individuellen Verhältnissen des jeweils Handelnden. Dies ergibt sich aus einem Umkehrschluß zu § 276 I S. 2. Anders als bei der Fahrlässigkeitshaftung nimmt das Gesetz bei der Vorsatzhaftung auf die individuellen Unzulänglichkeiten des konkret betroffenen Individuums Rücksicht. Der Schuldner kann die Vorsatzhaftung dadurch ausräumen, daß er sich auf fehlendes Wissen beruft. Das Gesetz schützt damit den vergeßlichen oder unaufmerksamen Schuldner. Durch den Ausschluß des Vergessens würde man contra legern auch bei der Vorsatzhaftung einen objektiven Haftungsmaßstab einführen. Gleichzeitig würde man den bei der Vorsatzhaftung gesetzlich vorgesehenen Verkehrsschutz aufgeben. Insofern kann eine Wissenszurechnung nur dann Bestand haben, wenn trotz der Zurechnung ein Vergessen weiterhin möglich bleibt. Wird § 278 auf den Akt der Kenntniserlangung bezogen, wird ein Vergessen aber gerade ausgeschlossen. Denn die durch § 278 bewirkte Zurechnung der Kenntniserlangung ist unabhängig davon, welche Entwicklung der tatsächliche Wissensstand der Hilfsperson nimmt. Kommt es für die Zurechnung nach § 278 allein darauf an, daß die Hilfsperson anstelle des Geschäftsherm die rechtserheblichen Umstände zur Kenntnis genommen hat, ist allein der Zeitpunkt der Kenntniserlangung maßgeblich, so daß Ereignisse, die nach diesem maßgeblichen Zeitpunkt eintreten, eine Zurechnung nach § 278 nicht mehr hindern. Deshalb wird auch die auf § 278 gestützte Wissenszurechnung nicht dadurch unterbrochen, daß die Hilfsperson nach Kenntniserlangung stirbt oder das relevante Wissen vergißt.
Im übrigen könnte das private Wissen der Hilfspersonen nicht zugerechnet werden, wenn § 278 auf den Akt der Kenntniserlangung bezogen wird. Da die Anwendung des § 278 eine arbeitsbedingte Funktionsverlagerung voraussetzt, müßte die Hilfsperson des Geschäftsherm mit einer Tätigkeit betraut sein, die der Geschäftsherr selbst hätte vornehmen müssen, wenn er nicht die Hilfsperson eingeschaltet hätte. Im Privatbereich findet aber einer derartig arbeitsteilig bedingte Funktionsverlagerung nicht statt. Der Geschäftsherr würde niemals im privaten Bereich der Hilfsperson tätig werden. Deshalb könnte dem Geschäftsherm über § 278 auch nicht das Wissen zugerechnet werden, das die Hilfsperson im privaten Bereich erlangt hat. Bei Anwendung des § 278 auf die Fälle der Wissenszurechnung müßte Vgl. ausführlich dazu: Deutsch S. 22 ff. Soergel-Wolf § 278 Rdn. 76; Palandt-Heinrichs § 276 Rdn. 15; Müko-Hanau § 276 Rdn.78. 134
13S
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
also zwischen privat und dienstlich erlangtem Wissen unterschieden werden. Eine derartige Abgrenzung ist schwierig und kaum praktikabel. Wird privates Wissens über § 278 nicht zugerechnet, würde sich eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung in Widerspruch zu der Wissenszurechnung setzen, die mit § 166 I begründet wird, denn § 166 I unterscheidet nicht zwischen privat und dienstlich erlangtem Wissen des Stellvertreters. Es besteht kein sachlicher Grund, dem Geschäftsherrn in Fällen, in denen die rechtsgeschäftliche Bindung oder Nichtbindung in Frage steht, auch das private Wissen seiner Hilfspersonen zuzurechnen und in Fällen, in denen eine auf die unterlassene Weitergabe des Wissens gestützte Wiedergutmachungspflicht geltend gemacht wird, die Zurechnung auf das von den Hilfspersonen dienstlich erlangte Wissen zu beschränken. Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung, bei der § 278 auf den Akt der Kenntniserlangung bezogen ist, nicht nur die Vorsatzhaftung in eine Fahrlässigkeitshaftung oder sogar in eine Gefährdungshaftung umwandelt, sondern auch zu einem Ausschluß des privaten Wissens und des Vergessens führt. Die an § 278 orientierte Wissenszurechnung setzt sich in Widerspruch zu § 166, wenn sie privates Wissen nicht berücksichtigt. Mit dem Ausschluß des Vergessens verstößt sie gegen geltendes Recht, denn bei der Vorsatzhaftung ist das Vergessen unabdingbares Element des Haftungsmaßstabs.
bb) § 278 und das präsente Wissen der Hilfspersonen Wenn § 278 auf das präsente Wissen der Hilfspersonen bezogen wird, kann das private Wissen der Hilfspersonen zugerechnet werden, denn der Geschäftsherrn wird über § 278 so gestellt, als habe er das gesamte präsente Wissen seiner Hilfspersonen. Es kommt dann nicht mehr darauf an, wo die Hilfspersonen ihre rechtserhebliche Kenntnis erlangt haben. Entscheidend ist allein, ob die Hilfsperson in dem von der Wissensnorm vorgegebenen Zeitpunkt über das rechtserhebliche Wissen tatsächlich verfügt. Wird § 278 auf das präsente Wissen der Hilfspersonen bezogen, ist auch ein Vergessen möglich. Die Wissenszurechnung müßte mangels präsenten Wissens ausscheiden, wenn die Hilfsperson die rechtserheblichen Informationen im maßgeblichen Zeitpunkt vergessen hat. Gleichwohl ist eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung abzulehnen. Auch wenn § 278 nicht auf den Akt der Kenntniserlangung, sondern auf das präsente Wissen der Hilfspersonen bezogen wird, wird eine Vorsatzhafiung in eine Fahrlässigkeitshaftung oder sogar in eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung umgewandelt. Durch die auf das präsente Wissen der Hilfspersonen bezogenen Fiktion des § 278 würde dem Geschäftsherrn das gesamte präsente Wissen seiner Hilfspersonen imputiert. Für die Vorsatzhaftung des Geschäftsherrn würde es also aus-
1. Abschn., III. Wissenszurechnung über § 278
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reichen, daß eine Hilfsperson des Geschäftsherrn über das rechtserhebliche Wissen verfügt. Wenn zum Beispiel der Geschäftsherr G einen mit Mängeln behafteten Gegenstand verkauft, ohne den Käufer auf den Fehler hingewiesen zu haben, dann würde der Geschäftsherr bereits dann gemäß §§ 463 S. 2, 278 haften, wenn eine Hilfsperson des G positiv weiß, daß der Kaufgegenstand mit einem Fehler behaftet ist. Wenn man § 278 auf das präsente Wissen der Hilfsperson bezieht, kommt es also nicht darauf an, warum das rechtserhebliche Wissen nicht an den Käufer gelangt ist. Der Geschäftsherr würde selbst dann gemäß §§ 463 S. 2, 278 auf Schadensersatz haften, wenn er alle Vorkehrungsmaßnahmen getroffen hätte, damit das rechtserhebliche Wissen von der Hilfsperson an den Käufer weitergegeben wird. Wenn der Geschäftsherr beispielsweise die betriebsinterne Kommunikation zwischen sich und seinen Hilfspersonen optimal organisiert hat und seine Hilfspersonen ständig dazu anhält, das rechtserhebliche Wissen an ihn weiterzugeben und seine Hilfspersonen diesen Anordnungen auch mit größtem Pflichtbewußtsein nachkommen, dann kann es dennoch vorkommen, daß rechtserhebliche Informationen auf ihrem Weg zum Geschäftsherrn aus Zufall oder Fahrlässigkeit verloren gehen und daß deshalb eine Aufklärung des Käufers unterbleibt. In diesen Fällen müßte eine Arglisthaftung des Geschäftsherrn nach § 463 S. 2 ausscheiden, denn weder der Geschäftsherr noch eine seiner Hilfspersonen haben vorsätzlich gehandelt. Wenn aber § 278 auf das präsente Wissen der Hilfspersonen bezogen wird, würde man gleichwohl eine Arglisthaftung des Geschäftsherrn nach §§ 463 S. 2. 278 mit dem Argument bejahen, daß eine Hilfsperson des Geschäftsherrn die rechtserheblichen Umstände positiv kannte. Damit wird deutlich, daß § 278 auch dann, wenn die Vorschrift auf das präsente Wissen der Hilfspersonen bezogen wird, eine ganz andere Risikoverteilung zugrunde liegt als der Wissenszurechnung. Wenn man über § 278 dem Geschäftsherrn das präsente Wissen aller seiner Hilfskräfte zurechnen würde, müßte man auch in den Fällen eine Wissenszurechnung und damit eine Vorsatzhaftung bejahen, in denen weder der Geschäftsherr noch die Hilfsperson vorsätzlich gehandelt haben. Insofern statuiert eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung für den Geschäftsherrn eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung für das Wissen seiner Hilfspersonen. Diese Garantiehaftung ist mit dem der Wissenszurechnung zugrundeliegenden Gedanken der gerechten Risikoverteilung nicht zu vereinbaren.
cc) § 278 und die unterlassene Weitergabe des Wissens Eine Vorsatzhaftung des arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn wird nur dann nicht in eine Fahrlässigkeits- oder Garantiehaftung umwandelt, wenn die vorsätzlich unterlassene Weitergabe des relevanten Wissens durch die Hilfsperson zum Anknüpfungspunkt des § 278 gemacht wird. Wenn beispielsweise eine Hilfsperson es vorsätzlich unterläßt, das rechtserhebliche Wissen an den Käufer weiterzugeben
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
oder wenn eine Hilfsperson die Aufklärung des Käufers vorsätzlich dadurch verhindert, daß sie die rechtserheblichen Infonnationen bewußt nicht an den Geschäftsherrn weiterleitet, dann handelt die Hilfsperson selbst vorsätzlich. Auf dieses vorsätzliche Verhalten der Hilfsperson kann § 278 angewendet werden, ohne daß gegen den Gedanken der gerechten Risikoverteilung verstoßen wird. Allerdings vennag es nicht zu befriedigen, wenn man die Wissenszurechnung auf die Fälle beschränkt, in denen die Hilfsperson ihr Wissen vorsätzlich zurückgehalten hat. In der Praxis werden die Fälle, in denen die Hilfsperson des Geschäftsherrn vorsätzlich rechtserhebliche Infonnationen verschweigt, eher selten sein. Die für die Wissenszurechnung typischen Fallkonstellationen bestehen vielmehr darin, daß die Hilfsperson, die über das rechtserhebliche Wissen verfügt, gerade nicht an dem konkreten Rechtsgeschäft beteiligt ist oder sogar von dem Abschluß des Rechtsgeschäfts nicht einmal etwas weiß. Insofern vennag § 278 nur einen kleinen Teil der für die Wissens zurechnung relevanten Fälle zu erfassen, wenn dem Geschäftsherrn über § 278 nur die vorsätzlich unterlassene Weitergabe des Wissens durch seine Hilfspersonen zugerechnet wird.
6. Zusammenfassung Die Wissenszurechnung kann nicht mit § 278 gelöst werden. Wenn dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn über § 278 der Akt der Kenntniserlangung zugerechnet wird, schließt man contra legern das Vergessen aus, wandelt eine Vorsatzhaftung in eine Fahrlässigkeitshaftung um und berücksichtigt im Gegensatz zu § 166 I das private Wissen der Hilfsperson nicht. Aber auch wenn dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn über § 278 das präsente Wissen seiner Hilfspersonen zugerechnet wird, wandelt man eine Verschuldenshaftung in eine Fahrlässigkeitshaftung oder sogar in eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung um. Über § 278 lassen sich nur die Fallkonstellationen erfassen, in denen eine Hilfsperson des Geschäftsherrn das rechtserhebliche Wissen vorsätzlich zurückgehalten hat. Die für die Wissenszurechnung typischen Fallkonstellationen werden damit gerade nicht erfaßt.
IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen Nimmt ein Rechtssubjekt rechtserhebliche Umstände zur Kenntnis, werden die relevanten Infonnationen zunächst im Gedächtnis dieses Rechtssubjekt gespeichert. Das Gedächtniswissen verschafft dem Wissensträger eine Ausschließlichkeitsstellung. Die im Gedächtnis gespeicherten Infonnationen können nur von dem Wissensträger selbst abgerufen werden. Anderen Personen sind die im Gedächtnis des Wissensträgers enthaltenen Infonnationen nicht unmittelbar zugänglich.
1. Abschn., IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen
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Der Wissensträger kann nun das in seinem Gedächtnis enthaltene Wissen in künstliche Wissensspeicher (z. B. Akten oder Computerdateien) übertragen. Dadurch macht der Wissensträger die relevanten Informationen auch anderen Rechtssubjekten unmittelbar zugänglich. Das Speicherwissen kann nicht nur vom ursprünglichen Wissensträger abgerufen werden, sondern auch von allen anderen Rechtssubjekten, die auf das Speichermedium Zugriff haben. In der Literatur wird nun die Auffassung vertreten, daß durch die Möglichkeit, auf die gespeicherten Daten unmittelbar Zugriff zu nehmen, der Verantwortungsbereich des einzelnen Rechtssubjekts erweitert werde. Nach dieser Literaturmeinung muß jedes Rechtssubjekt nicht nur für sein eigenes Gedächtniswissen rechtlich einstehen, sondern auch für das in künstlichen Speichern enthaltene Wissen, soweit ein Anlaß besteht, die relevanten Informationen abzurufen. 136 Diese Literaturansicht wird unterschiedlich begründet.
1. Zurechnung des Speicherwissens über § 166 I und n Schultz rechnet das in künstlichen Wissensspeichern enthaltene Wissen über § 166 I und 11 zu. Schultz vertritt die Auffassung, daß "die innerhalb eines künstlichen Speichers gesammelten Daten dem betreffenden Unternehmen dann als dessen Wissen zuzurechnen sind, wenn ein Anlaß bestand hat, die fraglichen Daten abzurufen".137 Schultz lehnt eine Pflicht zu Speicherung relevanter Daten ab. Nach seiner Auffassung soll "allein entscheidend sein, ob im konkreten Fall bei dem Unternehmen ein Aktenfundus oder ein elektronischer Datenträger vorhanden ist".138 Wenn das Rechtsgeschäft von einem gutgläubigen Vertreter abgeschlossen wird, wendet Schultz § 166 11 entsprechend an. Nach Schultz ist § 166 II auch in den Fällen anzuwenden, in denen "die Unkenntnis des Vertreters darauf beruht, daß der Vertretene es unterlassen hat, den Vertreter einzuweisen und über die einschlägigen Tatsachen zu informieren, wenn ein Anlaß dafür bestanden hat" .139 Nach seiner Auffassung genügt es für eine analoge Anwendung des § 16611, "wenn der Vertretene es versäumt hat, bei sich für eine Organisation zu sorgen, die den erforderlichen Informationsfluß vom Vertretenen zum Vertreter gewährleistet".l40 "Für den 136 Pa1andt-Heinrichs § 166 Rdn. 1; Bohrer S. 129 ff.; Medicus, Wissenszurechnung S. 12 ff.; Medicus, AT Rdn. 904 a ff.; W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1394; W. Schultz, Vertreterhandeln II S. 2094; Roth-Altmeppen § 35 Rdn. 77. m W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1393; vgl. auch: W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1394; W. Schultz, Vertreterhandeln 11 S. 2094. 138 W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1394; W. Schultz, Vertreterhandeln II S. 2094. 139 W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1393; W. Schultz, Vertreterhandeln II S. 2094. 140 W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1393; W. Schultz, Vertreterhandeln II S. 2094.
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
62
speziellen Fall der Wissensvermittlung durch künstliche Speicher" macht Schultz den Vertretenen analog § 166 n "dafür verantwortlich, daß die Speicher dem Vertreter zur Verfügung stehen und die erforderlichen Daten im konkreten Fall auch abgerufen werden". 141
2. Kritik Die Auffassung von Schultz ist abzulehnen. Der Inhalt künstlicher Wissensspeicher kann nicht über § 166 I zugerechnet werden.
a) Vergleich mit einem unbeteiligten Stellvertreter
Nach § 166 I kommt es nur auf das aktuelle Gedächtniswissen des konkret handelnden Vertreters an. Wenn mehrere Vertreter nebeneinander einzelvertretungsberechtigt sind, ist nach § 166 I nur das Wissen des konkret handelnden Vertreters maßgeblich. 142 Das Wissen eines zwar vertretungsberechtigten, aber am konkreten Rechtsgeschäft unbeteiligten Vertreters wird dem Vertretenen über § 166 I nicht zugerechnet. 143 Es kann keinen Unterschied machen, ob das relevante Wissen in dem Gedächtnis eines bevollmächtigten, aber nicht handelnden Stellvertreters oder in einem künstlichen Speichermedium enthalten ist. In beiden Fällen ist die relevante Information in einem Medium gespeichert, das beim konkreten Geschäftsabschluß nicht in Aktion getreten ist. Insofern muß in beiden Fällen auch gleich entschieden werden. Der Vergleich mit dem unbeteiligten Stellvertreter zeigt also, daß über § 166 I der Inhalt von Wissensspeichern nicht zugerechnet werden kann.
b) Eigengeschäjt
Daß § 166 I nicht auf künstliche Wissensspeicher anwendbar ist, zeigt sich nicht nur beim Vertreter-, sondern auch beim Eigengeschäft. Wenn der Geschäftsherr selbst ein Rechtsgeschäft abschließt, dann kommt es allein auf sein eigenes Wissen an. Das Wissen des Geschäftsherm erweitert sich beim Eigengeschäft nicht dadurch, daß der Geschäftsherr bei anderen Gelegenheiten Dritte mit Vollmachten ausgestattet hatte. Das Wissen von Stellvertretern, die an dem konkreten Geschäftsabschluß in keiner Weise beteiligt waren, kann dem Geschäftsherm beim Eigengeschäft nicht über § 166 I zugerechnet werden. Dem141 142 143
W. Schultz, Vertreterhandeln I S. 1393 f.; W. Schultz, Vertreterhandeln 11 S. 2094. Müko-Schrarnm § 166 Rdn. 21; Staudinger-Schilken § 166 Rdn. 23. Müko-Schrarnm § 166 Rdn. 21; Staudinger-Schilken § 166 Rdn. 23.
1. Abschn., IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen
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entsprechend kann dem Geschäftsherrn auch das in künstlichen Speichermedien enthaltene Wissen beim Eigengeschäft nicht über § 166 I zugerechnet werden. Wenn schon die bloße Existenz eines wissenden Stellvertreters nicht zu einem entsprechenden Wissen des Vertretenen führt, kann dementsprechend auch die bloße Existenz von künstlichen Speichermedien den Vertretenen nicht wissend machen. Denn das Speicherwissen ist rechtlich genau so zu behandeln wie das Wissen eines am Rechtsgeschäft unbeteiligten Vertreters.
c) Funktionsunterschied zwischen Wissensvertreter
und Speichermedium
Ein künstlicher Wissensspeicher kann auch nicht mit einem Wissensvertreter verglichen werden. Wissensvertreter ist nur derjenige, der nach der Organisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als dessen Repräsentant bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei angefallenen Informationen zur Kenntnis zu nehmen sowie gegebenenfalls weiterzuleiten. 144 Diese Voraussetzungen liegen weder bei einem Aktenstück noch bei einem Computer vor. Das künstliche Speichermedium nimmt nicht selbständig Informationen zur Kenntnis. Die rechtserheblichen Umstände werden vom Geschäftsherrn oder von einem Wissensvertreter zur Kenntnis genommen und erst nach der Kenntniserlangung in den Wissensspeicher eingegeben. Damit wird ein wesentlicher Funktionsunterschied zwischen einem Wissensvertreter und einem künstlichen Speichermedium deutlich. Der Wissensvertreter dient der Kenntniserlangung, die Akte oder der Computer dienen der Wissensspeicherung. Die Wissenszurechnung beruht aber nicht darauf, daß an irgendeiner Stelle rechtserhebliche Umstände gespeichert sind. Für die Wissenszurechnung ist allein entscheidend, daß rechtlich erhebliches Wissen präsent ist. Zwischen präsentem und gespeicherten Wissen besteht aber ein erheblicher Unterschied. Denn gespeichertes Wissen wird erst dann zu einem präsenten Wissen, wenn es tatsächlich abgerufen wird.
144 BGH NIW 92, 1099, 1100; Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 6; Müko-Schramm § 166 Rdn. 23 a; Staudinger-Schilken § 166 Rdn. 6; Jauemig-Jauemig § 166 Rdn. 3; Larenz-Wolf § 46 Rdn. 107 ff. S. 885 f.; Köhler, AT § 18 Rdn. 43 S. 218 f.; Soergel-Leptien Vor § 164 Rdn. 91, § 164 Rdn. 11, § 166 Rdn. 6 "gewisse Selbständigkeit"; Erman-Brox Vor § 164 Rdn. 27 ,,mit eigener Entscheidungsgewalt; RGRK-Steffen Vor § 164 Rdn. 19 ,,mit eigener Entscheidungsgewalt"; Kaiser S. 89; Musielak S. 854; Brehm Rdn. 436; Giesen Rdn. 431; Schellhammer Rdn. 2230.
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
d) Arbeitsteilung
Der Einsatz künstlicher Wissensspeicher stellt weder eine Arbeitsteilung i. S. d. Wissenszurechnung dar, noch führt er zu einem für die Wissenszurechnung maßgeblichen Wissensdefizit. Eine für die Wissenszurechnung relevante Arbeitsteilung liegt nur vor, wenn der Geschäftsherr seinen Aktionsradius derart erweitert, daß relevante Umstände nicht mehr von ihm selbst, sondern von Dritten zur Kenntnis genommen werden. Wenn ein Geschäftsherr in allen Bereichen selbst handelt und lediglich einen künstlichen Wissensspeicher einsetzt, um relevante Informationen zeitlich dauerhaft festzuhalten, dann liegt keine für die Wissenszurechnung relevante Arbeitsteilung vor. Denn mit einem nur der Speicherung dienenden Medium kann der Geschäftsherr allenfalls sein eigenes Gedächtnis entlasten, er erweitert damit aber nicht seinen Aktionsradius. Durch den Wissensspeicher erlangt der Geschäftsherr nicht zusätzliche Informationen, die er ohne den Wissensspeicher nicht erlangt hätte. Mangels Arbeitsteilung kann eine Wissens zurechnung nicht erfolgen. Der Einsatz künstlicher Wissensspeicher verursacht beim Geschäftsherrn noch nicht einmal ein Wissensdefizit, das durch eine Wissenszurechnung ausgeglichen werden müßte. Ein Geschäftsherr, der keine Hilfspersonen, sondern nur ein künstliches Speichermedium benutzt, nimmt alle rechtserheblichen Umstände selbst zur Kenntnis. Da der Geschäftsherr nur sein eigenes Wissen in den künstlichen Wissensspeicher eingibt, kann der Wissensspeicher auch nur die Informationen enthalten, die der Geschäftsherr selbst zur Kenntnis genommen hat. Insofern kann der Wissensspeicher keine zusätzlichen Informationen enthalten, die dem Geschäftsherrn unbekannt sind.
e) Fahrlässigkeitshaftung
Die Zurechnung künstlichen Speicherwissens führt zu einem Ausschluß des Vergessens und damit zu einer Gleichstellung von Vorsatz und Fahrlässigkeit. Hat der Geschäftsherr im konkreten Fall die relevanten Informationen vergessen und es trotz des konkreten Anlaß versäumt, die Wissensspeicher zu konsultieren, handelt er fahrlässig und nicht aufgrund des Speicherwissens vorsätzlich. Das Speicherwissen kann allenfalls zu einer fahrlässigen Unkenntnis führen, nicht aber zu einer positiven Kenntnis. Wird dem Geschäftsherrn dagegen der Inhalt künstlicher Wissensspeicher zugerechnet, werden die durch das Vergessen entstandenen Wissenslücken geschlossen. Der Ausschluß des Vergessens widerspricht aber geltendem Recht. Das Gesetz geht nur bei der Fahrlässigkeitshaftung von einem objektiven Sorgfaltsmaßstab aus. Der Vorsatzhaftung liegt dagegen ein subjektiver Haftungsmaßstab zugrunde, der auch die individuellen Verhältnisse des Handelnden berücksichtigt. Der Schuldner unterflillt deshalb nicht der Vorsatzhaftung, wenn er die rechtserheblichen Umstände vergessen hat. Dieser gesetzlich vorgesehene Ver-
1. Abschn., IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen
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kehrsschutz würde aufgeben, wenn dem Geschäftsherrn die Möglichkeit des Vergessens genommen wird. f)§1661I
Der Inhalt künstlicher Wissensspeicher kann auch nicht im Rahmen des § 166 TI von Bedeutung sein. Die Anwendung des § 166 TI setzt voraus, daß der Vertretene rechtserhebliche Umstände kennt. Maßgeblich für § 166 TI ist allein das Gedächtniswissen des Vertretenen. Die bloße Existenz von künstlichen Wissensspeichern führt nicht zu einer entsprechenden Kenntnis des Vertretenen und kann deshalb dem Vertretenen auch nicht nach § 166 TI angelastet werden. Aus § 166 TI kann entgegen der Auffassung von Schultz auch keine Organisationspflicht hergeleitet werden. Der Vertretene darf sich nach § 166 TI zwar nicht hinter der Unwissenheit seines Vertreters verstecken. Der Vertretene ist aber aufgrund von § 166 TI nicht verpflichtet, dem Vertreter alle relevanten Informationen zu verschaffen. g) Dokumentationspflicht
Abzulehnen ist auch die Ansicht von Schultz, daß eine pflicht zur Speicherung rechtserheblicher Daten nicht besteht. Würde die Wissenszurechnung allein davon abhängen, daß tatsächlich Wissensspeicher bestehen, hätte es der Unternehmer selbst in der Hand den Umfang seiner Haftung zu bestimmen. Der Unternehmer könnte seine Haftung dadurch verringern, daß er rechtserhebliche Daten gar nicht erst speichert und vorhandene Wissensspeicher zerstört.
h) Zusammenfassung
Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß der Inhalt künstlicher Wissensspeicher weder über § 166 I noch über § 166 TI zugerechnet werden kann. Da ein künst1icher Wissensspeicher rechtlich wie ein inaktiver Stellvertreter zu behandeln ist, sprechen die Grundsätze des § 166 I gegen eine Zurechnung von Speicherwissen. Die Zurechnung des Speicherwissens führt contra legern zu einem Ausschluß des Vergessens und wandelt eine Vorsatzhaftung in eine Fahrlässigkeitshaftung um.
3. Ausweitung des Tatbestandsmerkmals der Kenntnis Bohrer und Medicus wollen ebenfalls den Inhalt künstlicher Wissensspeicher zur Grundlage der Wissens zurechnung machen. Anders als Schultz versuchen Bohrer und Medicus aber nicht, das Speicherwissen konstruktiv zuzurechnen. Viel5 Goldschmidt
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
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mehr setzen Bohrer und Medicus bei der Wissensnorm an. Das Tatbestandsmerkmal der Kenntnis umfaßt nach der Auffassung von Bohrer und Medicus nicht nur das Gedächtniswissen, sondern auch das in künstlichen Wissensspeichern niedergelegte Wissen. Im einzelnen wird die Gleichstellung von Speicherwissen mit dem Gedächtniswissen unterschiedlich begründet.
a) Bohrer
Bohrer beruft sich auf das "Prinzip der Wissensverantwortung" 145 , das er "als ein selbständiges Strukturelement des privaten Rechtsverkehrs" und als "einen weiteren Baustein für eine künftige allgemeine zivilrechtliche Organisationslehre" versteht. 146 Nach Bohrer läßt sich die Gleichstellung von Aktenwissen und Gedächtniswissen "durch eine wertende Öffnung des Tatbestandsmerkmales "Kenntnis" begründen".147 Bei dieser Wertung berücksichtigt Bohrer vor allem "die beweisrechtliche Schwierigkeit des Wissensnachweises in zeitlichen Distanzfällen".148 Beweisrechtliche Wertungen führen nach Bohrer dazu, daß unter Kenntnis nicht nur aktuelle Kenntnis, sondern auch verfügbare Kenntnis zu verstehen iSt. 149 Nach der Auffassung von Bohrer muß sich derjenige, der ,,relevante Informationen nicht verfügbar hält und nutzt, [ ... ] materiellrechtlich behandeln lassen, als hätte er von ihnen Kenntnis".150 Die Kenntnis einer natürlichen Person ergibt sich damit nach Bohrer "aus der Verfügbarkeit der Information, deren Erfassung und Nutzung nicht im Belieben steht, sondern normativen (Verkehrs schutz-)Anforderungen unterliegt".151 Denn nach Bohrer beruht die Wissensverantwortung - ähnlich wie eine Verkehrssicherungspflicht - "auf dem Prinzip, daß die Teilnehmer des Rechts(geschäfts-)verkehrs zu dessen Schutz nicht nur für ihre tatsächliche Kenntnis einzustehen haben, sondern schon bei der Informationsentgegennahme, -dokumentation und -nutzung Dritt-Belange zu berücksichtigen haben". 152 Die Gleichstellung von verfügbarem Speicherwissen und Gedächtniswissen formt nach der Auffassung von Bohrer den beweisrechtlichen Wertungen entsprechend das materiellrechtliche Tatbestandsmerkmal der 'Kenntnis' in eine 'SollKenntnis' um. 153 Die normative 'Soll-Kenntnis' ist nach der Auffassung von Bohrer von einem 'Kennenmüssen' deutlich zu unterscheiden: "während 'Kennenmüs14~
146 147 148 149
ISO ISI 152 1~3
Bohrer S. Bohrer S. Bohrer S. Bohrer S. Bohrer S. Bohrer S. Bohrer S. Bohrer S. Bohrer S.
125 und S. 131. 131; vgl. auch Bohrer S. 125 und S. 129. 129. 127 f. 130. 130. 129. 129; vgl. auch Bohrer S. 130. 128.
1. Abschn., IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen
67
sen' aber an einem weitgefaßten Risikomaßstab orientiert ist, kann verfügbares Wissen im Rahmen der Wissensverantwortung nur unter sehr viel engeren Voraussetzungen tatsächlicher Kenntnis gleichgestellt werden".IS4
b) Medicus
Medicus vertritt die These, daß sich bereits das Wissen des natürlichen Menschen aus zwei Komponenten zusammensetzt: dem Gedächtniswissen und dem Wissen, das in künstlichen Speichermedien enthalten ist. ISS Um den Besonderheiten der künstlichen Wissensspeicher Rechnung zu tragen - das Speicherwissen ist meistens umfangreicher und dauerhafter als das Gedächtniswissen und die Suche in künstlichen Wissensspeichern ist regelmäßig mühsamer als ein einfaches sich erinnern -, stellt Medicus das Aktenwissen dem Gedächtniswissen nur insoweit gleich, als ein konkreter Anlaß besteht, die gespeicherten Daten abzurufen. IS6 Ob ein konkreter Anlaß besteht, hängt nach Medicus von der Zumutbarkeit im Einzelfall ab, der Bedeutung des Anlasses und der Schwierigkeit der Suche. IS7 Nach Medicus setzt sich auch bei arbeitsteilig handelnden Organisationen das relevante Wissen aus Gedächtnis- und Speicherwissen zusammen. IS8 ,,Das durch das Gedächtnis vermittelte Wissen muß bei den für den betreffenden Gegenstand zuständigen Personen gesucht werden."IS9 Das außerhalb des menschlichen Gedächtnis gespeicherte Wissen führt nach Medicus "sogar völlig unabhängig von einer bestimmten Person" zu einem entsprechenden Wissen der arbeitsteilig handelnden Organisation. Nach Medicus kommt es beim Speicherwissen "nur auf die Verfügbarkeit des versachlichten Informationsträgers an". 160 Auch bei arbeitsteilig handelnden Organisationen kann nach Medicus das in künstlichen Speichern enthaltene Wissen nur zugerechnet werden, wenn "ein Anlaß zur Benutzung der Speicher" bestanden hat. 161 Damit die Gleichstellung von abrufpflichtigem Speicherwissen und Gedächtniswissen nicht zu einer Fiktion entartet, muß nach der Auffassung von Medicus "wenigstens eine reale Möglichkeit bestehen, das Wissen aus dem eigenen Gedächtnis, aus Speichern oder von anderen Menschen zu beschaffen".162 Eine solche reale Möglichkeit besteht nach Medicus nicht mehr, "wenn Wissensträger für 1S4 155 156 157 158 159
160 161 162
S'
Bohrer S. 130. Medicus, Wissenszurechnung S. 5 f. und S. 7 f.; Medicus, AT Rdn. 904 a f. Medicus, Wissenszurechnung S. 7 ff.; Medicus, AT Rdn. 904 b. Medicus, Wissenszurechnung S. 14 und S. 15. Medicus, Wissenszurechnung S. 12. Medicus, Wissenszurechnung S. 12. Medicus, Wissenszurechnung S. 12. Medicus, Wissenszurechnung S. 12. Medicus, Wissenszurechnung S. 16.
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
68
eine Anfrage nicht mehr zur Verfügung stehen oder sich (normativ) nicht mehr erinnern können und auch anders gespeichertes Aktenwissen als erloschen gelten darf'. 163 Nach Medicus setzt die Gleichstellung von Akten- und Gedächtniswissen die Pflicht voraus, künstliche Wissensspeicher anzulegen. Diese Pflicht ergibt sich nach Medicus aus einer den Verkehrspflichten ähnlichen Wissensverantwortung: ,,Man hat je nach dem Verkehrskreis, in dem man sich bewegt, für ein Mindestmaß an Wissen einzustehen". 164 Deshalb müssen nach der Ansicht von Medicus alle informationen gespeichert werden, die aus Sicht des Wissenden im Zeitpunkt der Wahrnehmung mit gewisser Wahrscheinlichkeit später rechtserheblich werden können. 165 ,Je erkennbar wichtiger ein Umstand ist, um so länger muß er gespeichert bleiben. Wtrd die Speicherung zu früh aufgehoben, so beendet das die Wissenszurechnung nicht". 166 Medicus hat keine Bedenken, wenn durch die Gleichstellung von Akten- und Gedächtniswissen der Unterschied zwischen Wissen und Wissenmüssen verwischt wird. 167 Denn nach Medicus ist die Abgrenzung zwischen Wissen und Wissenmüssen "bloß quantitativ und damit weniger deutlich". Nach Medicus lassen sich die Überlappungen ,ja auch beim Beweis nicht vermeiden: Daß jemand etwas zu einer bestimmten Zeit gewußt hat, folgt vielfach nur aus der Evidenz, daß er es hätte wissen müssen". 168 c)BGH
Die Gleichstellung von künstlichem Speicherwissen und dem Gedächtniswissen ist inzwischen auch vom BGH vollzogen worden. 169 So hat der BGH im Jahre 1993 entschieden, daß einem Versicherer alle Daten über einen Versicherungsnehmer bekannt sind, die er in Datenbanken gesammelt hat, soweit Anlaß besteht, diese Daten abzurufen. 17o "Was ein Versicherer aufgrund eigener oder mit anderen Unternehmen gemeinsam geführter elektronischer Datensammlungen oder herkömmlichen Akten wissen kann, wird aktuelles, von ihm zu berücksichtigendes Wissen, soweit sich der Versicherungsnehmer darauf [ ... ] bezieht." 171 163 164 16S 166
167 168 169 170 171
Medicus, Wissenszurechnung S. 15. Medicus, Wissenszurechnung S. 8. Medicus, Wissenszurechnung S. 12. Medicus, Wissenszurechnung S. 12. Medicus, Wissenszurechnung S. 13. Medicus, Wissenszurechnung S. 13. BGH NJW 93, 2807 f.; BGH NJW 97,1917 ff. BGH NJW 93, 2807 f. BGH NJW 93, 2807.
1. Abschn., IV. Gleichstellung des Speicherwissens mit dem Gedächtniswissen
69
In einer zweiten Entscheidung aus dem Jahre 1997 geht der BGH sogar noch einen Schritt weiter. In Aktuelles Wissen ist nicht nur das tatsächlich gespeicherte Wissen, sondern auch das Wissen, das bei ordnungsgemäßer Organisation hätte gespeichert werden müssen. 173 Im konkreten Fall hatte eine Bank nicht dafür gesorgt, "daß das für spätere Geschäftsvorgänge relevante Wissen [ ... ] in einer Kartei oder auf einem elektronischen Speichermedium zur Verfügung steht".174 Obwohl ein Zugriff auf die nicht gespeicherten Daten tatsächlich nicht möglich war, "muß sich die Bank aus Gründen des Verkehrsschutzes so behandeln lassen, als habe sie von der Information Kenntnis".175
4. Kritik Die Gleichstellung von Akten- und Gedächtniswissen ist abzulehnen. a) Fahrlässigkeitshaftung
Wird der Inhalt künstlicher Wissensspeicher dem Geschäftsherrn als positive Kenntnis zugerechnet, wird das Vergessen ausgeschlossen und damit die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit aufgegeben. Auch in den Fällen, in denen alle Beteiligten eindeutig nur fahrlässig gehandelt haben, müßte man allein aufgrund des gespeicherten Wissens eine Vorsatzhaftung bejahen. Wenn beispielsweise der Geschäftsherr die relevanten Informationen nicht kennt und auch bei einer intensiven Suche im Speichermedium nicht findet, weil die Hilfsperson des Geschäftsherrn die relevanten Informationen aus Versehen in einer falschen Akte abgelegt oder in einer falschen Datei gespeichert hat, dann haben weder der Geschäftsherr noch die Hilfsperson vorsätzlich gehandelt. Deshalb ist auch nicht einzusehen, warum der Geschäftsherr einer Vorsatzhaftung unterliegen soll. Das gleiche muß gelten, wenn der Geschäftsherr die rechtserheblichen Umstände im maßgeblichen Zeitpunkt vergessen hatte. Das Vergessen ist ein wesentliches Element des vom Gesetz vorgesehenen Haftungsmaßstabs. Aus einem Umkehrschluß zu § 276 I S. 2 ergibt sich, daß bei einer Vorsatzhaftung das Wissen und Wollen individuell festgestellt werden muß. Anders als bei der Fahrlässigkeitshaftung nimmt das Gesetz bei der Vorsatzhaftung auf die individuellen Unzulänglichkeiten des konkret betroffenen Individuums Rücksicht. Der Schuldner kann der Vorsatzhaftung dadurch entgehen, daß er sich auf fehlendes Wissen beruft. Das Ge172
BGH NJW 97, 1917 ff.
173 BGH NJW 97,1917 f. 174 BGH NJW 97,1918. 175 BGH NJW 97,1918.
70
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
setz schützt damit den vergeßlichen oder unaufmerksamen Schuldner. Die Gleichstellung von Speicher- und Gedächtniswissen führt aber zu einem Ausschluß des Vergessens. Durch den Ausschluß des Vergessens würde der individuelle Haftungsmaßstab der Vorsatzhaftung in einen objektiven Haftungsmaßstab umgewandelt und damit der gesetzlich vorgesehene Verkehrsschutz aufgegeben. Entgegen der Auffassung von Medicus kann dem Vergessen auch nicht dadurch Rechnung getragen werden, daß die gespeicherten Informationen nach einem gewissen Zeitablauf gelöscht werden. Das Vergessen ist ebensowenig wie die Kenntnis normativ zu bestimmen. Kenntnis und Vergessen sind subjektive Umstände, die im jeweiligen Einzelfall tatsächlich und individuell festzustellen sind. Entgegen der Auffassung von Bohrer und Medicus kann die Vermischung von Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht damit begründet werden, daß positive Kenntnis als innere Tatsache nur äußerst schwierig nachzuweisen ist. Die im Prozeß auftretenden Beweisschwierigkeiten sind verfahrensrechtlich zu lösen. Beweisschwierigkeiten im Prozeß dürfen dagegen nicht dazu (ver)führen, materiellrechtliche Tatbestandsmerkmale aus Praktikabilitätsgründen normativ zu verändern. Anderenfalls würde jede Beweisschwierigkeit zu einer Aufgabe des materiellen Rechts führen.
b) Dokumentationspflicht
Nicht überzeugend begründen Bohrer und Medicus die Pflicht, rechtserhebliche Informationen in künstlichen Wissens speichern abzulegen. Eine gesetzliche Pflicht, Wissensspeicher anzulegen und relevante Informationen einzugeben, besteht grundsätzlich nicht. I ?6 Die Pflicht, wichtige Informationen abzuspeichern, wird in der Regel auch vertraglich nicht vereinbart. Eine vertragliche Vereinbarung käme regelmäßig zu spät. Sinnvollerweise kann eine vollständige Dokumentation nur im Zeitpunkt der Kenntniserlangung erfolgen. Der Zeitpunkt der Kenntniserlangung liegt aber regelmäßig vor dem Zeitpunkt, in dem die potentiellen Vertrags partner ihren ersten geschäftlichen Kontakt haben. Insofern besteht in den meisten Fällen im Zeitpunkt der Kenntniserlangung (noch) keine vertragliche Pflicht zur Speicherung der rechtserheblichen Daten. Die von Bohrer und Medicus befürwortete Pflicht, erlangte Informationen zu dokumentieren und gegebenenfalls abzurufen, kann nur als Verkehrspflicht zum Schutz fremden Vermögens eingeordnet werden. Verkehrspflichten schaffen Rechtspflichten zum Handeln aufgrund einer allgemeinen, nach der Verkehrsauffassung anzunehmenden Verpflichtung, bestimmte Lebensverhältnisse so zu regeln, daß Gefahren für andere tunlichst vermieden werden. I?? Eine Konkretisie116 Die vom Gesetz ausnahmsweise vorgesehenen Dokumentationspflichten sind für die hier vorgenommene Untersuchung nicht erheblich. Vgl. die Beispiele bei Medicus, Wissenszurechnung S. 7. 111 Pleyer-Hegel S. 687; Palandt-Heinrichs § 823 Rdn. 58.
1. Abschn., V. Organisation der internen Kommunikation
71
rung dieser Verkehrspflichten soll nach der Lehre von den Verkehrspflichten durch Richterrecht erfolgen. 178 Dabei verkennt die Lehre von den Verkehrspflichten, daß eine gesetzeskonträre Fortbildung des Haftungsrecht als fundamentale Rechtsgestaltung dem Gesetzgeber vorbehalten ist und nicht auf die Judikatur übertragen werden kann. I79 Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens sind deshalb nicht mit dem geltenden Recht zu vereinbaren. Die Verfasser des BGB haben sich generell gegen einen deliktsrechtlichen Vermögensschutz ausgesprochen. I80 Die Statuierung von Verkehrspflichten zum Schutz fremden Vermögens würde insofern das rechtspolitisch durchdachte, abgestufte System der drei Grundtatbestände der §§ 823 I, II und 826 zerstören. I8I Bohrer und Medicus können also die von ihnen befürwortete Dokumentationspflicht nicht überzeugend begründen.
s. Zusammenfassung Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß die Wissenszurechnung nicht mit einer Gleichstellung von künstlichem Speicherwissen und Gedächtniswissen zu begründen ist. Eine derartige Gleichstellung führt contra legern zu einem Ausschluß des Vergessens und gibt damit die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit auf. Auch die Dokumentationspflicht, die einer Gleichstellung von Gedächtnis- und Speicherwissen notwendigerweise vorgeschaltet ist, läßt sich nicht überzeugend begründen.
v. Organisation der internen Kommunikation Vor allem in der jüngeren Literatur wird in zunehmendem Maße die Frage aufgeworfen, ob der arbeitsteilig handelnde Geschäftsherr verpflichtet ist, den internen Informationsaustausch zu organisieren. I82 Hängt die Wissenszurechnung davon ab, ob der Geschäftsherr durch organisatorische Maßnahmen hätte sicherstellen können, daß das rechtserhebliche Wissen von der kenntniserlangenden Hilfsperson an die konkret handelnde Hilfsperson weitergeleitet wird?
Pleyer-Hegel S. 687; Müko-Mertens § 823 Rdn. 9 ff.; Huber, Verkehrspflichten S. 382. Picker, Haftungssysteme S. 1047; Picker, Haftung S. 496 ff. 180 Mugdan 11 S. 1072 ff.; Larenz-Canaris § 76 II12 c S. 406. 181 Erman-Schiemann § 823 Rdn. 76; Canaris, Schutzpflichten S. 78 f. und S. 81 ff. 182 Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 8; Larenz-Wolf § 46 Rdn. 110 ff. S. 886 f.; Köhler, AT § 18 Rdn. 44 S. 219; Hagen S. 163; Waltermann, Wissenszurechnung S. 208 f.; M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 178 179
72
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
In der Literatur stehen sich zwei Ansichten gegenüber. Schultz hält den Geschäftsherrn nicht für verpflichtet, eine interne Kommunikation zu organisieren. 183 Demgegenüber macht eine zunehmende Lehre die Wissenszurechnung von der Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation abhängig. 184
1. Schultz Schultz ist der Auffassung, daß eine arbeitsteilig handelnder Geschäftsherr schon aus eigenem Interesse "interne Informationswege" schaffen muß. 18S Nur wenn die rechtserheblichen Informationen rechtzeitig von der Hilfsperson an den Geschäftsherrn weitergeleitet worden sind, kann der Geschäftsherr aufgrund des erlangten Wissens sich "noch durch eigene Reaktionen vor nachteiligen Rechtsfolgen bewahren". 186 Nach Schultz besteht aber keine Pflicht zur Organisation der internen Kommunikation. 187 Der Geschäftsherr schaffe die internen Informationswege ausschließlich im eigenen Interesse, um sich selbst zu schützen. Nach Schultz kann es den Geschäftsherrn deshalb nicht entlasten, wenn eine interne Kommunikation mißglückt. 188 Eine Wissenszurechnung muß nach seiner Ansicht selbst dann erfolgen, wenn "der Aufwand der erforderlichen Organisation der Informationswege" in keinem Verhältnis zu dem daraus resultierenden Nutzen steht. 189 Nach Schultz kann derjenige, der "seine Arbeitskraft vervielfältigt", nicht nur die mit der Arbeitsteilung verbundenen "Vorteile einstreichen, sondern er muß auch die daraus folgenden Nachteile in Kauf nehmen". 190 Dieser für die Wissenszurechnung maßgebliche Leitgedanke darf nach der Auffassung von Schultz "nicht in den Fällen über Bord geworfen werden, in denen die Arbeitsteilung besonders intensiv ist, zu einer besonders großen Organisation und damit zu einem besonders großen Nutzen geführt hat".l9l Nach Schultz muß eine Wissenszurechnung sogar dann erfolgen, "wenn es im Einzelfall unmöglich sein sollte, die interne Information so zu organisieren, daß sie denjenigen erreicht, der sie zur Abwendung von Nachteilen benötigt". 192 "Denn der Geschäftsherr muß auch das Risiko einer insofern zu großen und zu schwerfälligen Organisation tragen". 193 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. Pa1andt-Heinrichs § 166 Rdn. 8; Larenz-Wo1f § 46 Rdn. 110 ff. S. 886 f.; Köhler, AT § 18 Rdn. 44 S. 219; Hagen S. 163; Waltermann, Wissenszurechnung S. 208 f. 18~ M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 186 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 187 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 188 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 189 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 190 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 191 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 192 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 193 M. Schultz, Wissenszurechnung S. 480. 183
184
I. Absehn., V. Organisation der internen Kommunikation
73
2. Kritik
Die Auffassung von Schultz ist abzulehnen. Sie beruht auf dem Gedanken der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins, also auf der Vorstellung, daß derjenige, der durch den Einsatz von Hilfspersonen seinen Geschäftsbereich ausweite und dadurch finanzielle Vorteile habe, auch die gewinnmindernde Verantwortung für das Wissen seiner Hilfspersonen tragen müsse. Dieser Rechtsgedanken hat sich aber nicht als tragfahig erwiesen, um die Wissenszurechnung zu begründen. Der Gedanke der Korrelation von Vor- und Nachteilen arbeitsteiligen Handeins widerspricht zum einen der Vorschrift des § 166 I, weil er anders als § 166 I privates Wissen nicht zurechnet, und erfaßt zum anderen nicht alle Fälle der Wissenszurechnung, wie die §§ 523, 534 beweisen. Darüber hinaus widerspricht die Auffassung von Schultz dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung. Dieser Gedanke besagt, daß eine Wissenszurechnung nur dann erfolgen kann, wenn der Geschäftsherr das Risiko eines Wissensdefizits auch beherrschen kann. Schultz will dagegen eine Wissenszurechnung auch in den Fällen vornehmen, in denen es dem Geschäftsherrn technisch oder zeitlich unmöglich ist, die arbeitsteilig bedingten Wissenslücken zu schließen. Schultz gibt damit nicht nur die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit auf, sondern befürwortet auch eine Gefährdungshaftung, die in dieser Art vom Gesetz nicht vorgesehen ist. Seiner Auffassung kann deshalb nicht gefolgt werden.
3. Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation
Anders als Schultz geht eine zunehmende Ansicht in der Literatur davon aus, daß eine Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation besteht. l94 Nach dieser Auffassung kann die Wissenszurechnung durch die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation sowohl begründet als auch begrenzt werden. 19S Entscheidend ist nach dieser Lehre die Frage: Was weiß ein Geschäftsherr, wenn er den internen Informationsaustausch zwischen seinen Mitarbeitern und sich selbst ordnungsgemäß organisiert hat? Bei fehlender oder fehlerhafter Organisation ist nach dieser Literaturauffassung der Geschäftsherr im Wissen so zu stellen, wie er bei einer ordnungsgemäßen Organisation stünde. Dem Geschäftsherrn wird also nach dieser Lehre nur das Wissen seiner Hilfspersonen imputiert, das ihn bei einem ordnungsgemäß organisierten Informationsaustausch tatsächlich erreicht hätte. Exemplarisch für diese Lehre ist die Auffassung von Taupitz. 194 Palandt-Heinriehs § 166 Rdn. 8; Larenz-Wolf § 46 Rdn. 110 ff. S. 886 f.; Köhler, AT § 18 Rdn. 44 S. 219; Hagen S. 163; Waltermann, Wissenszurechnung S. 208 f. 195 Palandt-Heinriehs § 166 Rdn. 8; Larenz-Wolf § 46 Rdn. 110 ff. S. 886 f.; Köhler, AT § 18 Rdn. 44 S. 219; Hagen S. 163; Waltermann, Wissenszurechnung S. 208 f.
74
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
Taupitz rechnet dem Geschäftsherrn über § 166 I das Wissen des konkret handelnden Vertreters zu, "unabhängig davon auf welche Art und Weise und in welchem Zusammenhang er die Kenntnisse erworben hat".I96 Taupitz rechnet also auch das private Wissen des konkret handelnden Vertreters gemäß § 166 I zu. Darüber hinaus rechnet Taupitz dem Geschäftsherrn auch die Kenntnisse derjenigen Hilfspersonen zu, die als sogenannte Repräsentanten oder Wissensvertreter ,,nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen sind, im Rechtsverkehr für ihn bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen".I97 Bei diesem Personenkreis kommt es nach Taupitz darauf an, daß die Hilfsperson das relevante Wissen "im Rahmen seines Geschäftskreises erlangt hat".198 Deshalb muß nach seiner Ansicht bei diesen Hilfspersonen das private Wissen und das bloß bei Gelegenheit erlangte Wissen von der Zurechnung ausgenommen bleiben. 199 Bei der Frage, inwieweit das Wissen sonstiger Hilfspersonen zugerechnet werden kann, unterscheidet Taupitz danach, ob der Geschäftsherr eine natürliche Person oder eine Organisation ist, wobei Taupitz zu den Organisationen die juristischen Personen, die Gesamthandsgesellschaften und sonstige Unternehmen zählt. 2OO Einer natürlichen Person kann nach der Auffassung von Taupitz das Wissen von Hilfspersonen dann nicht zugerechnet werden, wenn die Hilfspersonen an dem fraglichen Rechtsgeschäft, für das die Kenntnis relevant ist, nicht beteiligt sind. 201 Organisationen rechnet Taupitz dagegen das Wissen von Hilfspersonen, die aus der Organisation ausgeschieden oder an dem konkreten Rechtsgeschäft nicht beteiligt sind, unter folgender Voraussetzung zu: ,,Deren Kenntnis müßte bei ordnungsgemäß organisierter Kommunikation bei derjenigen Person vorhanden oder verfügbar sein, die rur die Organisation in concreto tatsächlich handelt".202 Den Gedanken der ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation verwendet Taupitz nicht nur zur Begründung, sondern auch zur Begrenzung der Wissenszurechnung. Nach Taupitz kann es "nur um die Zurechnung des Wissens gehen, das bei ordnungsgemäßer, und das heißt "optimaler" Organisation (unter Berücksichtigung der technischen Möglichkeiten, der erforderlichen Übermittlungszeit und des Datenschutzes) bei der konkret handelnden Person vorhanden oder verfügbar
196 197 198 199
200
201 202
Taupitz, Wissenszurechnung S. 16 und S. 24 f.; Taupitz. Versicherung S. 677. Taupitz. Wissenszurechnung S. 25; Taupitz. Versicherung S. 679. Taupitz, Wissenszurechnung S. 25; Taupitz. Versicherung S. 679 f. Taupitz, Wissenszurechnung S. 25; Taupitz. Versicherung S. 679 f. Taupitz, Wissenszurechnung S. 16. Taupitz. Wissenszurechnung S. 16 und S. 27. Taupitz. Wissenszurechnung S. 16 und S. 27.
1. Abschn., V. Organisation der internen Kommunikation
75
wäre".203 "Denn eine Organisation, in der alle Informationen, gleich welcher Bedeutung und gleichgültig, warum sie möglicherweise von Bedeutung sein werden, gleichermaßen und gleichzeitig bei allen Personen in dieser Organisation bekannt sind, gibt es nicht. ,,204 Taupitz begründet die Organisationspflicht mit der Erwartungshaltung des Rechtsverkehrs. Der Vertragspartner einer Organisation erwarte, daß der für die Organisation auftretende Repräsentant "die Fakten kennt, die bei einer Organisation dieses Zuschnitts üblicherweise von den tatsächlich Wissenden an andere, möglicherweise auf das Wissen Angewiesene, weitergegeben werden". 20S Grundlage der Organisationspflicht ist rur Taupitz "die auf den Gedanken von Treu und Glauben zu stützende Rechtspflicht (Organisationspflicht) aufgrund der Beherrschung eines selbsteröffneten Verkehrsbereichs - vergleichbar einer [ ... ] Verkehrspflicht: Eine am Rechtsverkehr teilnehmende Organisation muß (auch und gerade nach den berechtigten Erwartungen des Rechtsverkehrs) so organisiert sein, daß Informationen, deren außenwirkende Relevanz für andere Personen erkennbar ist, tatsächlich an jene Personen weitergegeben werden (Informationsweiterleitungspflicht); umgekehrt muß sichergestellt werden, daß ggf. nach erkennbar anderswo innerhalb der Organisation vorhandenen und für den eigenen Bereich auch außen wirkend wesentlichen Informationen nachgefragt wird (Informationsabfragepflicht)".206 Nach Taupitz hindert ein Verstoß gegen die Informationsweiterleitungspflicht die Wissenszurechnung nicht: speichert die Hilfsperson die relevante Information pflichtwidrig nicht in das Kommunikationsnetz ein, "wird das Zurechnungsobjekt gleichwohl so behandelt, als wäre die Information tatsächlich weitergegeben worden".207 Denn nach Taupitz bedeutet Wissenszurechnung nicht nur "Verantwortlichkeit rur fremdes Wissen", sondern auch "Verantwortlichkeit rur fremdes Verhalten, ggf. für fremde Informationsweitergabe".208 Auch ein Verstoß gegen die Informationsabfragepflicht entlastet die Organisation nicht. Die konkret handelnde Person ist nach Auffassung von Taupitz als wissend zu behandeln, wenn sie "auf das Wissen angewiesen ist und konkreten Anlaß sowie die konkrete Möglichkeit hat, es abzufragen".209 Denn Wissen ist nach Tau203 Taupitz, Wissenszurechnung S. 27; Taupitz, Versicherung S. 685; vgl. auch: Taupitz, Anmerkung S. 736. 204 Taupitz, Wissenszurechnung S. 27; Taupitz, Anmerkung S. 735. ws Taupitz, Wissenszurechnung S. 26; Taupitz, Versicherung S. 683; vgl. auch: Taupitz, Anmerkung S. 736. 206 Taupitz, Versicherung S. 688 f. 207 Taupitz, Wissenszurechnung S. 28; vgl. auch: Taupitz, Anmerkung S. 736. 208 Taupitz, Wissenszurechnung S. 16, S. 17 und S. 27; vgl. auch: Taupitz, Anmerkung S.736. 209 Taupitz, Wissenszurechnung S. 27; vgl. auch: Taupitz, Anmerkung S. 736.
76
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
pitz "Verantwortung für eigenes Wissen, für eigenes Verhalten, ggf. für eigene Infonnationssuche und Abfrage aus einem vorhandenen Speicher".210 Nach Taupitz müssen diejenigen Infonnationen in das Kommunikationsnetz eingespeichert werden, die "aus dem Blickwinkel des Wissenden" mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit rechtserheblich werden. 211 Nach Taupitz ist dabei nicht nur der Zeitpunkt der Wahrnehmung, sondern auch ein späterer Zeitpunkt maßgeblich: "erkennt deIjenige, der eine Infonnation erlangt hat, später selbst, daß die Infonnation für eine andere Person innerhalb der Organisation von Bedeutung ist oder sein wird, dann entsteht in diesem Moment die Pflicht zur Weitergabe der Infonnation bzw. Speicherung".212 4. Kritik a) Beherrschbarkeit des Wissensdejizits
Die Auffassung von Taupitz ist insoweit überzeugend als sie durch die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation die Wissenszurechnung begrenzt. Das Kriterium der Organisationspflicht verhindert, daß eine Verschuldenshaftung durch die Wissenszurechnung zu einer Art Garantiehaftung umgewandelt wird. Wenn beispielsweise eine Hilfsperson des Geschäftsherm rechtserhebliche Umstände zur Kenntnis nimmt und eine juristische Sekunde später der Geschäftsherr ein Rechtsgeschäft abschließt, bei dem die Kenntnis der Hilfsperson rechtserheblich ist, dann kann weder dem Geschäftsherm noch der Hilfsperson einen Verschuldensvorwurf gemacht werden, denn es ist zeitlich unmöglich, daß die rechtserhebliche Kenntnis rechtzeitig von der Hilfsperson an den Geschäftsherm gelangt. Würde man in dem gebildeten Beispielsfall eine Wissenszurechnung bejahen, würde man dem Geschäftsherm eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung für das Wissen seiner Hilfspersonen auferlegen. Es ist deshalb richtig, daß in einem solchen Fall das Kriterium der ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation eine Wissenszurechnung und damit eine Haftung des Geschäftsherm verhindert. Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation wird damit der Forderung gerecht, daß eine Wissenszurechnung nur erfolgen darf, wenn das Risiko eines Wissensdefizits für den Geschäftsherm beherrschbar ist (Gedanke der gerechten Risikoverteilung). Nur wenn der Geschäftsherr durch organisatorische Maßnahmen in der Lage gewesen wäre, die vorhandenen Wissenslücken durch einen internen Infonnationsaustausch zu schließen, kann ihm das Wissen seiner Hilfspersonen zugerechnet werden. Dagegen muß eine Wissenszu210 Taupitz. Wissenszurechnung S. 16, S. 17 und S. 27; vgl. auch: Taupitz, Anmerkung S.736. 211 Taupitz. Anmerkung S. 736. 212 Taupitz, Anmerkung S. 736.
1. Abschn., V. Organisation der internen Kommunikation
77
rechnung immer dann ausscheiden, wenn eine Übermittlung der relevanten Daten zeitlich oder technisch unmöglich ist, denn in solchen Fällen ist das Risiko eines Wissensdefizits für den Geschäftsherrn nicht beherrschbar. Es ist also festzuhalten, daß die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation dem Gedanken der gerechten Risikoverteilung entspricht. Außerdem schließt die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation aus, daß durch die Wissenszurechnung eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung begründet wird. Insofern ist die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation ein notwendiges Kriterium der Wissenszurechnung.
b) Ausschluß natürlicher Einzelpersonen
Entgegen der Auffassung von Taupitz trifft die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation nicht nur Organisationen, sondern auch natürliche Einzelpersonen mit mehreren Bevollmächtigten. Die von Taupitz vorgenommene Abgrenzung zwischen "sonstigen Unternehmen" und "natürlichen Einzelpersonen" ist nicht praktikabel. Der Begriff des "Unternehmens" ist so vage und unscharf, daß er eine klare Abgrenzung nicht ermöglicht. Darüber hinaus ist es nicht sachgerecht, wenn Privatpersonen mit mehreren Bevollmächtigten von der Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation ausgeschlossen werden. Die Organisationspflicht beruht auf dem Gedanken der Arbeitsteilung: arbeitsteilig bedingte Wissenslücken sollen durch einen internen Informationsaustausch geschlossen werden. Die Arbeitsteilung "sonstiger Unternehmen" unterscheidet sich aber in keiner Weise von der Arbeitsteilung einer Einzelpersonen mit mehreren Angestellten. Sowohl bei "sonstigen Unternehmen" als auch bei Privatpersonen mit mehreren Hilfskräften können Wissenslücken auftreten, die durch Arbeitsteilung verursacht worden sind. Insofern muß eine Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation des internen Informationsaustausches auch Privatleute treffen. Außerdem ist die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation - wie noch zu zeigen sein wird - aus der Wissensnorm selbst herzuleiten. Die Wissensnorm macht aber keinen Unterschied zwischen Privatpersonen und "sonstigen Unternehmen". Eine aus der Wissensnorm abgeleitete Organisationspflicht muß deshalb auch natürliche Einzelpersonen treffen.
c) Erwartungshaltung des Rechtsverkehrs
Entgegen der Auffassung von Taupitz kann eine Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation nicht mit der Erwartungshaltung des
1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
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Rechtsverkehrs begründet werden,213 denn der Vertragspartner wird sich nur an den Aussagen des ihm gegenüber auftretenden Verhandlungspartners orientieren. Dementsprechend könnte der Vertragspartner allenfalls darauf vertrauen, daß sein Verhandlungspartner alle rechtserheblichen Informationen abfragt und an ihn weiterleitet. Eine Hilfsperson, die gegenüber dem Vertragspartner nicht konkret handelnd in Erscheinung getreten ist, begründet dagegen keinen Vertrauenstatbestand. Dementsprechend kann der Vertragspartner auch nicht darauf vertrauen, daß rechtserhebliche Informationen von Hilfspersonen weitergeleitet werden, die an dem konkreten Geschäftsabschluß nicht beteiligt sind. Mit der Erwartungshaltung des Rechtsverkehrs kann also nicht begründet werden, warum Hilfspersonen zur internen informationsweitergabe verpflichtet sein sollen. d) Treu und Glauben Entgegen der Auffassung von Taupitz kann die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation auch nicht mit § 242 begründet werden. Die Anwendung des § 242 setzt nach richtiger Ansicht eine rechtliche Sonderverbindung voraus. 214 Eine solche rechtliche Sonderverbindung besteht nur zwischen dem Vertragspartner und dem Geschäftsherrn. Insofern könnte über § 242 allenfalls eine Informationsabfrage- und Informationsweiterleitungspflicht des Geschäftsherm begründet werden. Dagegen besteht zwischen dem Vertragspartner und der Hilfsperson keine rechtliche Sonderverbindung. Deshalb kann die Hilfsperson gegenüber dem Vertragspartner auch nicht aufgrund von § 242 verpflichtet sein, rechtserhebliche Informationen abzufragen oder weiterzuleiten. e) Fahrlässigkeitshaftung Taupitz ist nicht zu folgen, weil er die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit aufgibt. Nach Taupitz soll jeder Verstoß gegen die Informationsweiterleitungspflicht oder gegen die Informationsabfragepflicht zu einem positiven Wissen des Geschäftsherrn führen. Auch bei einem fahrlässigen Verstoß gegen die Pflicht zum internen Kommunikationsaustausch fingiert Taupitz die positive Kenntnis des Geschäftsherrn und unterwirft ihn einer Vorsatzhaftung. Das ist nicht überzeugend. Wenn gegen die Pflicht zum internen Informationsaustausch verstoßen wird, dann ist der Geschäftsherr infolge der unterbliebenen internen Kommunikation de facto unwissend. Der Verstoß gegen die Pflicht zum internen Kommunikationsaustausch kann beim Geschäftsherrn allenfalls eine fahrlässige UnkenntKritisch zur Vertrauenshaftung: Picker, Haftung S. 418 ff. Palandt-Heinrichs § 242 Rdn. 6; Soergel-Teichmann § 242 Rdn. 30 ff.; zweifelnd: Müko-Roth § 242 Rdn. 54 ff.; a.A.: Staudinger-Schmidt § 242 Rdn. 161 ff. 213
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l. Abschn., VI. Die Rechtsprechung zur Wissenszurechnung
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nis begründen, nicht aber eine positive Kenntnis. Hat der Geschäftsherr oder eine seiner Hilfspersonen trotz optimaler Organisation der internen Kommunikation fahrlässig gegen die Informationsabfrage- oder Informationsweiterleitungspflicht verstoßen, trifft die Hilfsperson bzw. den Geschäftsherrn auch nur einen Fahrlässigkeitsvorwurf. Entgegen der Auffassung von Taupitz kann der Geschäftsherr weder als positiv wissend behandelt noch einer Vorsatzhaftung ausgesetzt werden. Eine Vorsatzhaftung kann nur in den Fällen bejaht werden, in denen die Hilfsperson oder der Geschäftsherr vorsätzlich gegen die Informationsabfrage- oder Informationsweiterleitungspflicht verstoßen haben.
s. Zusammenfassung Zusammenfassend ist also festzuhalten, daß die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation ein wesentliches Element der Wissenszurechnung ist. Diese Pflicht entspricht dem Gedanken der Beherrschbarkeit des Wissensdefizits und verhindert eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung. Insofern ist die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation unabdingbar, um die Wissenszurechnung sachgerecht zu begrenzen. Zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation ist jedes Rechtssubjekt verpflichtet, das arbeitsteilig handelnd am Rechtsverkehr teilnimmt. Allerdings ist es bisher noch nicht gelungen, die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation dogmatisch richtig zu begründen. Die bisherigen Begründungsversuche überzeugen nicht, weil sie die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit aufgeben. Auf die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation werde ich in der weiteren Untersuchung noch einmal zurückkommen. Zunächst aber soll noch die Rechtsprechung zur Wissenszurechnung und ein Vorschlag de lege ferenda von Waltermann eingehend untersucht werden.
VI. Die Rechtsprechung zur Wissenszurechnung 1. Wissensvertreter Die Rechtsprechung hat keine eigene Theorie zur Wissenszurechnung entwikkelt. Die Judikatur begründet die Wissens zurechnung weitgehend mit § 1661. Der BGH wendet teilweise § 166 I entsprechend an,21S teilweise argumentiert er mit einer "Heranziehung des in § 166 BGB enthaltenen Rechtsgedankens".216 Dement21S BGHZ 41, 17,22; BGHZ 42,63,69; BGHZ 55,307,311 f.; BGHZ 83, 293, 295 f.; BGHZ 102, 316, 320. 216 BGH NJW 85, 2583; BGH NJW 86, 2315, 2316; BGH NJW 89, 2879, 2880.
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
sprechend rekurriert der BGH in zahlreichen Entscheidungen auf die Figur des Wissensvertreters. 211
2. Organisationspflicht und Speicherwissen Inzwischen hat sich der V. Zivilsenat des BGH der Auffassung von Taupitz und von Medicus "sowohl in der Begründung als auch in den praktischen Ergebnissen" angeschlossen. 218 Nach Ansicht des BGH beruht die Wissenszurechnung auf dem "Gedanken des Verkehrsschutzes und der daran geknüpften Pflicht zu ordnungsgemäßer Organisation der gesellschaftsinternen Kommunikation".219 Der BGH wendet sich gegen eine schrankenlose Wissenszurechnung. Die Wissenszurechnung sei persönlich und zeitlich zu begrenzen, denn die Wissenszurechnung dürfe nicht zu einer Fiktion entarten, die den am Rechtsverkehr teilnehmenden Geschäftsherrn weit über jede menschliche Fähigkeit hinaus belastet. 22o "Vielmehr muß für denjenigen Menschen, für den die Zurechnung gelten soll, wenigstens eine reale Möglichkeit, aber auch ein Anlaß bestehen, sich das Wissen aus dem eigenen Gedächtnis, aus Speichern oder von anderen Menschen zu beschaffen ...221 Ob eine Information überhaupt gespeichert werden muß, hängt nach Ansicht des BGH davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie später rechtserheblich werden könnte. 222 Zu beurteilen sei das nach dem Zeitpunkt der Wahrnehmung und nicht nach einem erst später erreichten Wissensstand. Auch die Dauer der Speicherung hängt nach Ansicht des BGH von der Wichtigkeit der Information ab. ,Je erkennbar wichtiger ein Umstand ist, um so länger muß er gespeichert bleiben. Wird die Speicherung zu früh aufgehoben, so beendet das die Wissenszurechnung nicht...223 Da sich auch das Erinnerungsvermögen des Menschen typischerweise nach der erkennbaren Wichtigkeit der Wahrnehmung und danach bestimmt, wie lange diese zurück liegt, kann nach der Auffassung des BGH auch der Inhalt von Speichern nur zugerechnet werden, "soweit ein besonderer Anlaß besteht, sich seiner in der konkreten Situation (noch) zu vergewissern".224 Dabei seien vor allem die Bedeutung des Anlasses und die Schwierigkeit bei der Suche von Bedeutung. 22s 211 218 219 220 221 222 223 224
BGH NJW 89, 2879, 2881; BGH NJW 92,1099,1100. BGH JZ 1996 S. 731, 733 = BGH NJW 96, 1339, 1341. BGH NJW 96, 1339, 1341; Vgl. auch Brandes S. 385. BGH NJW %,1339,1341. BGH NJW 96, 1339, 1341. BGH NJW 96, 1339, 1341. BGH NJW 96, 1339, 1341. BGH NJW %, 1339, 1341.
l. Abschn., VII. Vorschlag de lege ferenda
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3. Kritik Bei der dogmatischen Begründung der Wissenszurechnung stützt sich der BGH zunächst auf den Gedanken der ordnungsgemäßen Organisation der betriebsinternen Kommunikation. Der BGH geht zu Recht davon aus, daß dieses Kriterium notwendig ist, um die Wissenszurechnung sachgerecht begrenzen zu können. Durch die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation wird verhindert, daß sich eine Verschuldenshaftung durch die Wissenszurechnung in eine Garantiehaftung umwandelt. Nicht überzeugend ist dagegen die dogmatische Begründung dieser Pflicht. Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation kann entgegen der Auffassung des BGH nicht einfach mit dem Gedanken des Verkehrsschutzes begründet werden. Vielmehr ist, wie sich noch zeigen wird, die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation unmittelbar aus § 463 S. 2 herzuleitet. Abzulehnen ist auch die vom BGH im Anschluß an Medicus vorgenommene Gleichstellung von Speicherwissen und präsentem Wissen. Wenn der Inhalt künstlicher Wissensspeicher als positive Kenntnis zugerechnet wird, wird die Unterscheidung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit aufgegeben. Auch wenn der Geschäftsherr und die von ihm eingesetzten Hilfspersonen nur fahrlässig gehandelt haben, müßte allein aufgrund des gespeicherten Wissens eine Vorsatzhaftung bejaht werden. Im übrigen setzt sich der BGH zu seinem Ausgangspunkt, der Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation, in Widerspruch, wenn er eine Wissenszurechnung auch in den Fällen bejaht, in denen das gespeicherte Wissen zu früh gelöscht worden ist. Wenn das Speicherwissen trotz ordnungsgemäßer Organisation durch Fahrlässigkeit oder durch Zufall gelöscht worden ist, dann besteht für den Geschäftsherrn in den meisten Fällen keine Möglichkeit mehr, das verloren gegangene Wissen vollständig wieder zu beschaffen. Wenn der BGH in diesen Fällen gleichwohl eine Wissenszurechnung und damit eine Haftung des Geschäftsherrn bejaht, dann entartet die Wissenszurechnung zu der Fiktion, die der BGH durch die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation gerade vermeiden will. Insofern ist die Argumentation des BGH nicht schlüssig.
VII. Vorschlag de lege ferenda 1. Waltermann Nach Waltermann ist das BGB "auf das Handeln von Einzelpersonen im eigenen Namen zugeschnitten".226 Nach seiner Auffassung regeln weder die Wissensnorm BGH NJW 96, 1339, 134l. 226 Walterrnann, Arglist S. 889; vgl.: Walterrnann, Wissenszurechnung S. 182. 6 Goldschmidt
1. Teil; Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
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men, ob und inwieweit dem Geschäftsherrn das Wissen(müssen) von Hilfspersonen zuzurechnen ist, noch enthält das BGB eine allgemein gültige Zurechnungsnorm. 227 Mit einer analogen Anwendung des § 166 I können nach Waltermann nicht alle Fälle der Wissenszurechnung gelöst werden. 228 Nach seiner Ansicht kann das Wissen einer am konkreten Rechtsgeschäft unbeteiligten Hilfsperson nicht über § 166 I zugerechnet werden. 229 § 166 enthalte nicht "die Fiktion, von der Hilfsperson erlangtes Wissen sei von da an Wissen des Geschäftsherm,,230 und "hafte dem Geschäftsherm ab diesem Zeitpunkt sozusagen an".231 Mit dem Gedanken der ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation lassen sich nach Waltermann nur die Fälle lösen, in denen die Wissensnorm nicht positive Kenntnis fordert, sondern fahrlässige Unkenntnis genügen läßt. 232 Wenn der Geschäftsherr die Anforderungen nicht erfüllt, die eine Pflicht zum internen Informationsaustausch an ihn stellt, dann ist dem Geschäftsherrn nach der Ansicht von Waltermann nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen. 233 Nach seiner Auffassung bleibt der Lösungsweg über die Pflicht zum internen Informationsausgleich ,jedoch verschlossen, wenn eine Wissensnorm [ ... ] allein auf positive Kenntnis abstellt. 234 Nach der Ansicht von Waltermann bedarf es zumindest in den Fällen, in denen die Wissensnorm eine positive Kenntnis des Geschäftsherm fordert, einer gesetzlich neugeregelten Zurechnungsnorm. 235 Bei dieser gesetzlichen Neuregelung muß "die für den Bereich der Stellvertretung geltende, heute nicht mehr interessengerechte Ankopplung der Wissenszurechnung an eine konkrete, durch die Einschaltung der Hilfskraft gekennzeichnete Rechtsbeziehung unterbleiben, so daß dem Geschäftsherrn durch Hilfskräfte einmal "vermitteltes" Wissen auch weiterhin so zugerechnet wird, als hätte er das Wissen selbst erworben".236
2. Kritik Waltermann ist darin zuzustimmen, daß mit der inhaltlich begrenzten Vorschrift des § 166 I nicht alle Fälle der Wissenszurechnung erfaßt werden können. Waltermann, Arglist S. 890 f.; Waltermann, Wissenszurechnung S. 185 und S. 225. Waltermann, Arglist S. 891; Waltermann, Wissenszurechnung S. 187. 229 Waltermann, Wissenszurechnung S. 212 f.; Waltermann, Arglist S. 892. 230 Waltermann, Wissenszurechnung S. 212; Waltermann, Arglist S. 892. 231 Waltermann, Wissenszurechnung S. 208; Waltermann, Arglist S. 892. 232 Waltermann, Wissenszurechnung S. 208 f. 233 Waltermann, Wissenszurechnung S. 209. 234 Waltermann, Wissenszurechnung S. 210. m Waltermann, Wissenszurechnung S. 226; Waltermann, Arglist S. 895. 236 Waltermann, Wissenszurechnung S. 226. 227 228
1. Abschn., Vß. Vorschlag de lege ferenda
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Nicht gefolgt werden kann Waltennann aber darin, daß ein Verstoß gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation nur zu einer Fahrlässigkeitshaftung führen kann. Verhindert der Geschäftsherr vorsätzlich, daß ein Infonnationsaustausch zwischen seinen Mitarbeitern und ihm selbst stattfindet, dann hält sich der Geschäftsherr vorsätzlich unwissend. Im Rahmen der Vorsatzhaftung kann es aber keinen Unterschied machen, ob der Geschäftsherr positive Kenntnis von rechtserheblichen Umständen hat oder die positive Kenntnis bewußt venneidet und sich gezielt unwissend hält. Deshalb ist die Vorsatzhaftung in den Fällen zu bejahen, in denen der Geschäftsherr vorsätzlich gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation verstößt und es vorsätzlich unterläßt, den Infonnationsaustausch zwischen sich und seinen Mitarbeitern zu organisieren. Keine Zustimmung verdient Waltennanns Vorschlag de lege ferenda. Seine Forderung nach einer gesetzlich neugeregelten Zurechnungsnonn beruht auf der Vorstellung, daß die Wissenszurechnung einheitlich gelöst werden müsse. Waltennann will also alle Fallkonstellationen der Wissenszurechnung mit einer einzigen Zurechnungsnonn lösen. Diese Zurechnungsnonn soll nach seiner Ansicht abstrakt regeln, daß einem Rechtssubjekt das Wissen eines anderen Rechtssubjektes als eigenes, selbst erlangtes Wissen zugerechnet wird. Damit fordert Waltennann eine Zurechnungsnonn, die das Vergessen ausschließt und eine Vorsatzhaftung in eine Fahrlässigkeitshaftung umwandelt, denn das zugerechnete Wissen wird von dem Geschäftsherrn nicht tatsächlich zur Kenntnis genommen und kann deshalb auch nicht wieder vergessen werden. Die von Waltennann geforderte gesetzliche Neuregelung würde also dazu führen, daß eine Vorsatzhaftung mit Hilfe einer gesetzlich neugeregelten Zurechnungsnonn auch dann zu bejahen wäre, wenn weder der Geschäftsherr noch eine seiner Hilfspersonen vorsätzlich gehandelt haben. Die Frage, ob es de lege ferenda überhaupt anzustreben ist, das Vergessen auszuschließen und eine Vorsatzhaftung der Fahrlässigkeitshaftung gleichzustellen, kann angesichts der Vielzahl der Fallkonstellationen, in denen das Wissen oder das Wissenmüssen eine Rolle spielt, nicht generell beantwortet werden. Vielmehr müßte bei jeder Rechtsnonn, bei der eine bestimmte Rechtsfolge nur bei positiver Kenntnis bestimmter Umstände eintritt, im Einzelfall geprüft werden, ob der mit einer Beschränkung auf den Vorsatz verbundene Ausschluß der Fahrlässigkeit gerechtfertigt ist oder nicht. Ein Vorschlag de lege ferenda müßte deshalb bei der jeweiligen Wissensnonn ansetzen, nicht aber bei der Zurechnungsnonn.
l. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
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2. Abschnin
Die Wissenszurechnung als Problem der Wissensnormen I. Ablehnung einer Einheitslösung 1. Lehre von der Einheitslösung Es läßt sich nach der bisherigen Untersuchung konstatieren, daß die Frage, ob einem Rechtssubjekt das Wissen eines anderen Rechtssubjekts mit der Folge seiner Haftung zugerechnet werden kann, in Literatur und Rechtsprechung zwar heftig diskutiert, bis jetzt aber noch nicht überzeugend beantwortet worden ist. Eine schlüssige Lösung des Problems der Wissenszurechnung ist bislang nicht gelungen, weil die verschiedenen Lehren von der mehr oder weniger stark reflektierten Vorstellung ausgehen, daß die Wissenszurechnung ein Sonderproblem sei, das einheitlich gelöst werden müsse. Für die verschiedenen Lehren spielt es keine Rolle, ob dem Geschäftsherrn das Wissen seiner Hilfsperson beispielsweise im Rahmen der Arglisthaftung nach § 463 S. 2, der verschärften Haftung nach § 819 I oder des gutgläubigen Erwerbs nach §§ 932 ff. zugerechnet werden soll. Das Problem der Wissenszurechnung wird nicht bei den Rechtsnormen verortet, die an die Kenntnis oder das Kennenmüssen bestimmte Rechtsfolgen knüpfen. Vielmehr verstehen die verschiedenen Lehren die Wissenszurechnung als ein reines Zurechnungsproblem. Gelegentlich wird zwar eingeräumt, daß "sich aus den jeweiligen Wissensnormen und deren Regelungszusammenhang Anhaltspunkte für Reichweite bzw. Grenzen einer Wissenszurechnung ergeben" können. 231 In der Regel findet aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Rechtsnormen, die an die Kenntnis oder das Kennenmüssen bestimmte Rechtsfolgen knüpfen, nicht statt. Vielmehr wird regelmäßig die Frage, ob dem Geschäftsherrn das Wissen seiner Hilfspersonen zugerechnet werden kann, völlig losgelöst von der jeweils einschlägigen Wissensnorm beantwortet. Die Vorstellung, daß die Wissenszurechnung als ein von der jeweiligen Wissensnorm isoliertes Zurechnungsproblem einer einheitlichen Lösung bedarf, hat dazu geführt, daß vorallem darum gestritten wird, ob § 166 oder § 278 die ,,richtige" Zurechnungsnorm ist. Dabei werden diese beiden Zurechnungsnormen in der Diskussion vollkommen polarisiert. Fast einhellig wird davon ausgegangen, daß als Zurechnungsnorm entweder nur § 278 oder ausschließlich § 166 in Betracht kommt. 238 So wird beispielsweise die Vorschrift des § 278 als WissenszurechWaItennann, Wissenszurechnung S. 186. Vereinzelt wird zwar auch eine differenzierte Lösung vorgeschlagen. So begründen Reinicke-Tiedtke Rdn. 457 und Walter, Kaufrecht § 5 11 4 c) S. 177 die Wissenszurechnung im Rahmen der Arglisthaftung nach § 463 S. 2 sowohl mit § 166 als auch mit § 278. Dabei verstehen aber auch diese Autoren die Wissenszurechnung als ein reines Problem der ,,richtigen" Zurechnungsnonn. 237 238
2. Abschn., I. Ablehnung einer Einheitslösung
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nungsnonn mit dem Argument verworfen, daß eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung die "spezielle Wissenszurechnungsnonn" des § 166 überflüssig mache. 239 Der Gesetzgeber habe durch die besondere Regelung des § 166 deutlich gemacht, daß er die Wissenszurechnung als Sonderproblem betrachte und nicht über § 278 lösen wolle. 24o Dieser Einwand, daß eine auf § 278 gestützte Wissenszurechnung die Vorschrift des § 166 überflüssig mache, bringt sehr plastisch die Überzeugung zum Ausdruck, daß alle Fallkonstellationen, in denen sich die Problematik der Wissenszurechnung stellt, einheitlich gelöst werden müssen. Auch der Vorschlag de lege ferenda von Waltennann beruht auf der Vorstellung, daß alle Fallkonstellationen der Wissenszurechnung nur einheitlich und nur mit einer einzigen Zurechnungsnonn gelöst werden können, denn Waltennanns Vorschlag de lege ferenda führt im Ergebnis dazu, daß bei allen Wissensnonnen der Geschäftsherr in gleichem Umfang für das Wissen seiner Hilfspersonen einzustehen hat.
2. Kritik Eine Einheitslösung ist abzulehnen. Die Fallgestaltungen, in denen das Wissen oder Wissenmüssen eine Rolle spielt, sind zu unterschiedlich, als daß sie mit einer einzigen Zurechnungsnonn gelöst werden könnten. Eine Einheitslösung widerspricht darüber hinaus dem Gesetz. Das BGB kennt nicht "die" Hilfsperson, deren Wissen zugerechnet werden kann. Vielmehr unterscheidet das BGB danach, ob der Geschäftsherr einen Vertreter, einen Erfüllungsgehilfen, einen Verrichtungsgehilfen, einen Besitzdiener oder einen Boten eingesetzt hat. Dementsprechend enthält das BGB auch nicht "die" Zurechnungsnonn, sondern mehrere Zurechnungsnonnen, wie die §§ 31, 166 und 278 zeigen. Die Zurechnungsnonnen des BGB erfassen immer nur bestimmte Fallkonstellationen. Deshalb kann jede Zurechnungsnonn des BGB auch nur auf bestimmte, nicht aber auf alle Fälle der Wissenszurechnung angewendet werden. Welche Zurechnungsnonn Anwendung findet, entscheidet sich nach der Rechtsfolge der jeweiligen Wissensnonn. Wenn eine rechtsgeschäftliche Bindung oder Nichtbindung in Frage steht, so ist § 166 mit seinem Repräsentationsgedanken die einschlägige Bestimmung. Wird dagegen eine auf die unterlassen Weitergabe des Wissens gestützte Wiedergutmachungspflicht angeordnet, so ist § 278 die maßgebliche Zurechnungsvorschrift, denn bei Nonnen, die Ansprüche auf Schadensersatz begründen, hat das nicht weitergegebene "Wissen" dieselbe Funktion wie das "Verschulden". Deutlich wird die funktionelle Gleichstellung von "Wissen" und "Verschulden" bei der Arglisthaftung. Bei § 463 S. 2 beruht die Schadensersatzhaftung auf der unterlassenen Weitergabe des Wissens. Wenn im Rahmen des § 463 S. 2 dem Verkäufer das Wis-
239 240
Taupitz, Karlsruher Forum S. 50; Taupitz, Versicherung S. 688. Taupitz, Karlsruher Forum S. 50; Taupitz, Versicherung S. 688.
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
sen seiner Hilfspersonen zugerechnet wird, dann erfolgt die Wissenszurechnung, um eine Haftung auf Schadensersatz zu begründen. Insofern entspricht es der Systematik des geltenden Rechts, wenn sich die Wissenszurechnung aufgrund der schadenshaftungsrechtlichen Zurechnungsnorm des § 278 vollzieht. Am Beispiel des § 463 S. 2 zeigt sich, daß die Wissenszurechnung bei Wissensnormen, die eine Haftung auf Schadensersatz begründen, in die allgemeine Problematik der Verschuldenshaftung integriert werden kann. Wenn das Wissen oder Wissenmüssen ein Element des Verschuldens ist, dann bietet sich die Vorschrift des § 278 als Wissenszurechnungsnorm geradezu an. 241
Eine Einheitslösung existiert also de lege lata nicht. Eine Einheitslösung ist aber auch de lege ferenda nicht anzustreben. Die Fallgestaltungen, in denen das Wissen oder Wissenmüssen eine Rolle spielt, sind zu unterschiedlich, als daß sie mit einer einzigen Zurechnungsnorm gelöst werden könnten. Die Wissenszurechnung läßt sich nur dann sachgerecht lösen, wenn man danach differenziert, inwieweit die jeweilige Wissensnorm eine Wissenszurechnung zuläßt. Die jeweilige Wissensnorm bestimmt den Umfang und die Grenzen der Wissenszurechnung. 242
11. Kompromiß zwischen Verkehrsschutz und Handlungsfreiheit
Die Wissensnormen knüpfen an die Kenntnis oder das Kennenmüssen bestimmte Rechtsfolgen. Diese Rechtsfolgen sind regelmäßig für denjenigen rechtlich nachteilig, der über das rechtserhebliche Wissen verfugt oder infolge von Fahrlässigkeit nicht verfügt, denn sie schränken die Handlungs- und Bewegungsfreiheit des Wissenden ein. 243 So wird beispielsweise der Wissende in den Fällen der §§ 463 S. 2,48011,523,524 einer Schadensersatzhaftung unterworfen. In anderen Fällen führt das Wissen zu einer Verschlechterung der Rechtsstellung (z. B. §§ 819 I, 990 I) oder verhindert den Erwerb von Rechten (z. B. §§ 892 I, 932 ff.). Mit der Festsetzung derartiger Sanktionen verfolgen die Wissensnormen regelmäßig das Ziel, den Rechtsverkehr zu schützen. Die Wissensnormen erkaufen also den Schutz des Rechtsverkehrs auf Kosten der Bewegungs- und Handlungsfreiheit des einzelnen. 244 Das Schutzinteresse des Rechtsverkehrs wird dabei aber nicht pauschal höher bewertet als das Interesse des einzelnen an seiner Betätigungsfreiheit. Vielmehr werden die widerstreitenden Interessen gegeneinander abgewogen. Jede Wissensnorm ist Ausdruck eines individuellen Kompromisses zwischen Verkehrsschutz einerseits und Betätigungsfreiheit andererseits. Dieser Kompromiß 241 Westerhoff S. 44; Grunewald, Karlsruher-Forum S. 41; Lorenz, Karlsruher Forum S. 44; Taupitz, Karlsruher Forum S. 50; Medicus, Karlsruher Forum S. 51. 242 Waltermann, Wissenszurechnung S. 186. 243 Picker, Haftung S. 471; Picker, Haftungssysteme S. 1052 m. w. N. 244 Picker, Haftung S. 471; Picker, Haftungssysteme S. 1052 m. w. N.
2. Abschn., III. Wissensnonnen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung
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kann bei jeder Wissensnorm anders ausfallen. Einige Wissensnormen beschränken die Handlungs- und Bewegungsfreiheit des einzelnen nur im Fall seiner positiven Kenntnis (z. B. §§ 463 S. 2, 480 11, 523, 524, 819 I, 892 1,990 I S. 2). Andere Wissensnormen schützen den Rechtsverkehr bereits dann, wenn der einzelne infolge von grober Fahrlässigkeit unwissend ist (z. B. §§ 932 ff., 990 I S. 1).
III. Wissensnormen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung Jede Wissensnorm enthält einen ausgewogenen Komprorniß zwischen Verkehrsschutz einerseits und Handlungs- und Bewegungsfreiheit andererseits. Dieser ausgewogene Komprorniß zwischen Verkehrsschutz und Handlungsfreiheit darf durch eine Wissenszurechnung nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden: eine zu umfangreiche Wissenszurechnung würde die Handlungs- und Bewegungsfreiheit des arbeitsteilig arbeitenden Geschäftsherrn zu sehr einschränken, eine zu eng bemessene Wissenszurechnung den Rechtsverkehr nicht ausreichend schützen. Auch bei der Wissenszurechnung muß daher eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen vorgenommen werden, damit sowohl ein ausreichender Schutz des Rechtsverkehrs sichergestellt als auch eine für das Zusammenleben unerläßliche Handlungsfreiheit des einzelnen gewährleistet wird. Diese bei der Wissenszurechnung erforderliche Abwägung kann nicht pauschal und für alle Fälle einheitlich vorgenommen werden. Bei der Abwägung im Rahmen der Wissens zurechnung ist zu berücksichtigen, daß jede Wissensnorm selbst eine Entscheidung darüber getroffen hat, inwieweit das Verkehrsschutzinteresse das Interesse des einzelnen an seiner Handlungsfreiheit überwiegt. Die Wissenszurechnung darf sich zu dieser Entscheidung nicht in Widerspruch setzen, sondern muß die in der jeweiligen Wissensnorm enthaltene Abwägung übernehmen. Da jede Wissensnorm unterschiedliche Wertungen enthält, muß auch bei der Wissenszurechnung die Abwägung zwischen den widerstreitenden Interessen unterschiedlich ausfallen. Deshalb ist für die Frage, inwieweit einem arbeitsteilig handelnden Ge-schäftsherrn das Wissen seiner Hilfspersonen zugerechnet wird, nicht die Zurechnungsnorm entscheidend, sondern die Wissensnorm. Im folgenden an einigen Beispielen verdeutlicht werden, daß die Wissensnormen über den Umfang der Wissenszurechnung entscheiden. 245
245 Diese Beispielsfälle sind dem Sachverhalt nachgebildet, auf dem die Entscheidung des LG München I, ZiP 88, 924 beruht.
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
1. BeispielsfaU gutgläubiger Erwerb Der Gebrauchtwagenhändler G beschäftigt die drei Angestellten E, R und V. E ist rur den Einkauf der Gebrauchtwagen zuständig. R untersucht die eingekauften Kraftfahrzeuge auf Mängel und repariert vorhandene Schäden. V ist mit dem Verkauf der Gebrauchtwagen beschäftigt. Wenn E nun im Namen des G vom nichtberechtigten Verkäufer NE einen Gebrauchtwagen erwirbt, dann stellt sich die Frage, ob G nach §§ 932 ff. gutgläubig das Eigentum an dem Gebrauchtwagen erworben hat. Einen gutgläubigen Eigentumserwerb des G wird man mit Sicherheit dann verneinen, wenn E oder G bösgläubig i. S. d. § 932 II sind. Wie aber ist zu entscheiden, wenn E und G gutgläubig sind und lediglich R oder V wissen, daß der Verkäufer NE nicht der Eigentümer des Fahrzeugs ist? Kann der gutgläubige Eigentumserwerb eines arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn davon abhängen, daß Hilfspersonen, die mit dem Erwerb der konkreten Sache nichts zu tun haben, bösgläubig sind? Man wird wohl eher der Ansicht zuneigen, daß die Bösgläubigkeit des R oder des V nicht verhindern kann, daß der G gutgläubig das Eigentum an dem Gebrauchtwagen erwirbt. 2. Beispielsfall Eigentümer-Besitzer-Verbältnis Der Beispielsfall wird nun zunächst dahin abgewandelt, daß der Gebrauchtwagen, den E im Namen des G kauft, dem Eigentümer gestohlen worden ist. Der gestohlene Gebrauchtwagen wird von dem gutgläubigen E in Empfang genommen, von dem ebenfalls gutgläubigen R repariert und wird schließlich von V verkauft. V weiß jedoch, daß der Gebrauchtwagen gestohlen worden ist. Für Schadensersatzansprüche des E und Verwendungsersatzansprüche des G kommt es jetzt darauf an, ab welchem Zeitpunkt G gemäß §§ 990 I bösgläubig ist. In einer solchen Fallkonstellation erscheint es unbillig, dem G das Wissen des V bereits zu dem Zeitpunkt zuzurechnen, zu dem der gutgläubige E den Gebrauchtwagen für den ebenfalls gutgläubigen G in Empfang nimmt. Vielmehr wird man eher annehmen müssen, daß G erst ab dem Zeitpunkt der verschärften Haftung nach §§ 990 I S. 2, 987 ff. unterliegt, ab dem der bösgläubige V die tatsächliche Sachherrschaft über das Fahrzeug ausübt. 3. BeispielsfaU Arglisthaftung Der Beispielsfall wird nun ein zweites Mal abgewandelt. E erwirbt im Namen des G diesmal vom Berechtigten BE einen Unfallwagen. Die Unfallschäden sind äußerlich deutlich sichtbar. R repariert den Unfallwagen so geschickt, daß die UnfaIischäden für einen Laien nicht mehr zu erkennen sind. V weiß von den Unfallschäden nichts und verkauft den Unfallwagen im Namen des G an den Käufer K, ohne K auf die Unfallschäden hinzuweisen. Haftet G dem K gemäß § 463 S. 2 auf Schadensersatz, obwohl weder G noch V von dem Fehler der Kaufsache wußten?
2. Abschn., III. Wissensnonnen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung
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In einer solchen Fallkonstellation wird man viel eher geneigt sein, dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn auch das Wissen von Hilfspersonen zuzurechnen, die an dem Abschluß des konkreten Rechtsgeschäfts nicht beteiligt sind. Damit würde man dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn bei § 463 S. 2 in wesentlich größerem Umfang das Wissen von Hilfspersonen zurechnen, als beim gutgläubigen Erwerb nach §§ 932 ff. oder bei der verschärften Haftung nach § 990 I. Die drei Beispielsfälle zeigen, daß man schon vom bloßen Rechtsempfinden her bei jeder Wissensnorm den Kreis der Hilfspersonen, deren Wissen zugerechnet wird, anders bestimmen würde. In allen drei Beispielsfällen sind zwar durch arbeitsteiliges Handeln Wissenslücken entstanden sind. Aber nicht jede Arbeitsteilung führt automatisch zu einer Wissenszurechnung. Vielmehr bestimmt die einzelne Wissensnorm, in welchem Umfang arbeitsteiliges Handeln Grundlage einer Wissenszurechnung sein kann. 4. Lösung des BeispielsfaUs gutgläubiger Erwerb Der Tatbestand der §§ 932 ff. knüpft an die Einigung als Rechtsgeschäft an. 246 Deshalb kann auch für die Wissenszurechnung im Rahmen der §§ 932 ff. nur ein arbeitsteiliges Handeln bei der Einigung relevant werden. Im Rahmen des gutgläubigen Erwerbs kann nur das Wissen von Hilfspersonen zugerechnet werden, die vom Geschäftsherrn bei der Einigung arbeitsteilig eingesetzt worden sind. 247 Dagegen ist für den gutgläubigen Erwerb nach §§ 932 ff. unerheblich, ob der Geschäftsherr in anderen Bereichen außerhalb der rechtsgeschäftlichen Einigung arbeitsteilig mit Hilfspersonen arbeitet. Insbesondere kann dem Geschäftsherrn bei §§ 932 ff. das Wissen von Hilfspersonen, die lediglich mit dem Besitzerwerb betraut sind, nicht zugerechnet werden. 248 246 Auch wenn die Besitzerlangung die rechtfertigende Grundlage für den Schutz des guten Glaubens ist, so liegt dennoch das entscheidende Gewicht des gutgläubigen Erwerbs auf der rechtsgeschäftlichen Tätigkeit. Vgl.: Müller Rdn. 2396 e; Schilken S. 244. 247 Allg. Meinung: BGH NJW 82, 38, 39; Palandt-Bassenge § 932 Rdn. 7; StaudingerWiegand § 932 Rdn. 97; Müko-Quack § 932 Rdn. 49; Müko-Schramm § 166 Rdn. 26; Soergel-Mühl § 932 Rdn. 8; RGRK-Pikart § 932 Rdn. 27; Ennan-Michalski § 932 Rdn. 7; BaurStürner § 52 III 2 S. 528; Schilken S. 235 ff.. 248 RGZ 137, 23, 27 f.; Palandt-Bassenge § 932 Rdn. 8; Staudinger-Wiegand § 932 Rdn. 98; Müko-Quack § 932 Rdn. 52; Müko-Schramm § 166 Rdn. 26; Soergel-Mühl § 932 Rdn. 8; Ennan-Michalski § 932 Rdn. 7; RGRK-Pikart § 932 Rdn. 27; Baur-Stürner § 52 III 2 S. 528; Müller, Sachenrecht Rdn. 2396 e; a.A.: Staudinger-Schilken § 166 Rdn. 8 und Schilken S. 251 ff., insbesondere S. 260: Nach Schilken ist dem Geschäftsherrn im Rahmen der §§ 932 ff. das Wissen eines Besitzgehilfen (Besitzmittler oder -diener) zuzurechnen, falls dem Gehilfen hinsichtlich der Eigentumslage eine eigenverantwortliche Prüfungskompetenz übertragen worden ist.; Waltennann, Wissenszurechnung S. 205 f.: Waltennann rechnet das Wissen der Hilfsperson zu, soweit diese den Geschäftsherrn in einer Weise repräsentiert, daß sie an Stelle des Geschäftsherrn die Umstände wahrnimmt, die für die Eigentumsverhältnisse maßgeblich sind.
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
Die Wertungen der §§ 932 ff. bestätigen damit die Lösung des oben gebildeten Beispielfalles: der Gebrauchtwagenhändler G braucht sich nur das Wissen des für den Einkauf zuständigen E, nicht aber das Wissen des R und des V zurechnen zu lassen.
s. Lösung des Beispielfalls Eigentümer - Besitzer - Verhältnis Bei § 990 I führt gerade das Wissen eines Besitzdieners zu einer verschärften Haftung des Geschäftsherrn. Da der Tatbestand des § 990 I S. 1 an den Besitzerwerb anknüpft, kommt es für eine Wissenszurechnung im Rahmen des § 990 I S. 1 nur darauf an, ob beim Besitzerwerb arbeitsteilig gehandelt wird. Wenn der Geschäftsherr beim Besitzerwerb Hilfspersonen einsetzt, muß ihm das Wissen dieser Besitzdiener zugerechnet werden. 249 Dem Geschäftsherrn kann dagegen im Rahmen des § 990 I S. 1 das Wissen von Hilfspersonen, die nicht mit dem Erwerb der konkreten Sache beschäftigt sind, nicht zugerechnet werden. 2so Insofern spielt auch in dem oben gebildeten Beispielsfall das Wissen des R zu dem Zeitpunkt, zu dem E den Gebrauchtwagen für G in Empfang nimmt, keine Rolle, denn R ist nicht beim Erwerb der Sache eingeschaltet. Das Wissen des R wird erst im Rahmen des § 990 I S. 2 relevant.
249 Nahezu allgemein wird dem Besitzer der böse Glaube seines Besitzdieners zugerechnet. Heftig gestritten wird aber um die maßgebliche Zurechnungsnorm und damit um die Voraussetzungen der Zurechnung. Vgl.: Staudinger-Gursky § 990 Rdn. 38 ff. m. w. N.; Staudinger-Schilken § 166 Rdn. 10; Palandt-Bassenge § 990 Rdn. 6; Müko-Medicus § 990 Rdn. 11; RGRK-Pickart § 990 Rdn. 21; Erman-Hefermehl § 990 Rdn. 4; Lorenz, EBV S. 550 ff.; Soergel-Mühl § 990 Rdn. 19; Speziell zur Hereinnahme von Schecks: BGH NJW 97,1917,1918; BGH NJW 93, 1066, 1067; Palandt-Bassenge § 990 Rdn. 18; Soergel-Mühl § 990 Rdn. 20; Der Bank ist das Wissen aller am Einziehungs- und Einlösevorgang des Schecks beteiligten Personen zuzurechnen. Damit wird auch das Wissen von Hilfspersonen zugerechnet, die mit der Entgegennahme des Schecks am Schalter oder an der Poststelle betraut sind oder die über die Hereinnahme des Schecks als Sachbearbeiter zu entscheiden haben. 250 Str.: Gegen eine Zurechnung: Müko-Medicus § 990 Rdn. 14 a: Nach Medicus gehen die zur Wissenszurechnung entwickelten Grundsätze weit über § 990 hinaus und betreffen überwiegend andere Vorschriften.; Müller, Sachenrecht Rdn. 478 ff.: Nach Müller kann das Wissen von Hilfspersonen, die weder als Besitzmittler noch als Besitzdiener fungieren, dem Besitzer nicht zugerechnet werden.; Für eine Zurechnung: Wilhelm Rdn. 617: Wilhelm befürwortet bei § 990 eine Wissenszusammenrechnung innerhalb von Organisationen.; Wetzel S. 74 ff.: Wetzel will das Wissen der Hilfspersonen zurechnen, die arbeitsteilig gerade in Bezug auf den Besitzerwerb tätig geworden sind. Damit wird nach der Auffassung von Wetzel auch das Wissen von den Kaufvertrag abschließenden Angestellten relevant, die mit der technischen Abwicklung nichts mehr zu tun haben.; Staudinger-Gursky § 990 Rdn. 50: Gursky will das Wissen solcher Hilfspersonen zurechnen, die eigenverantwortlich das dem Besitz vorausgegangene Grundgeschäft abgeschlossen haben. Gursky will darUberhinaus das Wissen von Hilfspersonen zurechnen, die innerhalb einer hierarchisch aufgebauten Betriebsorganisation eigenverantwortlich die Entscheidung für den Neuerwerb der Sache treffen, den Vollzug der Entscheidung aber untergeordneten Stellen überlassen.
2. Abschn., III. Wissensnormen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung
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Der Tatbestand des § 990 I S. 2 knüpft nicht an den Besitzerwerb, sondern an die Ausübung des Besitzes an. Für die Wissenszurechnung im Rahmen des § 990 I S. 2 ist deshalb entscheidend, ob bei der Ausübung der tatsächlichen Gewalt über die Sache arbeitsteilig gehandelt wird. Der Geschäftsherr muß sich bei § 990 I S. 2 das Wissen einer Hilfsperson ab dem Zeitpunkt zurechnen lassen, ab dem die Hilfsperson für den Geschäftsherrn die tatsächliche Gewalt über die konkrete Sache ausübt. 251 Dagegen bleibt das Wissen von Hilfspersonen, die zu keiner Zeit die tatsächliche Gewalt über die Sache erlangen, für eine Haftung nach § 990 I S. 2 bedeutungslos. Es zeigt sich also, daß die in den §§ 932 ff., 990 I S. 1 und S. 2 enthaltenen Wertungen mit den Ergebnissen übereinstimmen, die bei der Lösung des oben gebildeten Beispielfalles gefunden wurden. Schwierigkeiten bereitet aber der Versuch, das Ergebnis des Beispielfalles mit den Wertungen des § 463 S. 2 in Einklang zu bringen. Bei § 463 S. 2 ist noch weitgehend ungeklärt, welche Wertungen dieser Vorschrift für die Wissenszurechnung maßgeblich sind.
6. Lösung des BeispielfaUs der Arglisthaftung a) Haftung nur für Abschluß und Verhandlungsbevollmächtigte
Die Frage, inwieweit das Wissen von Hilfspersonen eine Arglisthaftung des arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn begründen kann, ist äußerst umstritten. Zu dieser Frage werden im wesentlichen vier verschiedene Auffassungen vertreten. Es wird die Auffassung vertreten, daß dem Geschäftsherrn im Rahmen des § 463 S. 2 nur das Wissen von Hilfspersonen zugerechnet werden kann, die vom Geschäftsherrn beim Vertragsschluß arbeitsteilig eingesetzt worden sind.252 Nach 251 Str.: offengelassen von Palandt-Bassenge § 990 Rdn. 6 a.E.; gegen eine Zurechnung: Lorenz, EBV S. 554; Westermann, Besitzdiener S. 81 FuBnote 11; für eine Zurechnung: Helm S. 203 f.: Helm rechnet die Kenntnis jedes Gehilfen zu.; Wetzel S. 84 ff.: Wetzel rechnet nicht das Wissen sämtlicher Besitzdiener zu, sondern nur solcher Besitzdiener, die bezüglich der Sache in einer ähnlichen Position wie der Besitzer selbst stehen und rechtlich oder tatsächlich darüber entscheiden können, was mit der Sache geschieht. Wetzel unterscheidet insoweit zwischen Hilfspersonen, die zur Aufrechterhaltung des Besitztatbestandes ..notwendig" sind, und anderen ..unnötigen" Besitzdienern.; Staudinger-Gursky § 990 Rdn. 51: Gursky rechnet nur das Wissen von Hilfspersonen zu, die der Geschäftsherr wegen nachträglicher Zweifel an der Wirksamkeit seines Erwerbs mit der Überprüfung der Eigentumsverhältnisse betraut hat. Darüberhinaus berücksichtigt Gursky das Wissen solcher Hilfspersonen, denen vom Besitzer die Entscheidungsbefugnis darüber übertragen worden ist, was mit der Sache geschehen soll. 252 BGH NJW-RR 89, 650, 651; BGH LM § 463 Nr. 13 a S. 741, 742; Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 16; Müko-Westermann § 463 Rdn. 15; Soergel-Huber § 476 Rdn. 42 und Rdn. 45; Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 7, anders aber Rdn. 8.
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l. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
dieser Auffassung soll das Wissen von Hilfspersonen, die weder als Abschlußnoch als Vennittlungsbevollmächtigte gehandelt haben, eine Arglisthaftung nach § 463 S. 2 nicht begründen können. 253 Diese Auffassung vennag nicht zu überzeugen. Wenn man dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn im Rahmen des § 463 S. 2 nur das Wissen seiner Verhandlungs- und Abschlußbevollmächtigten zurechnet und das Wissen aller übrigen Hilfspersonen außer acht läßt, wird man dem Schutzinteresse des Rechtsverkehrs nicht gerecht. Der Geschäftsherr hätte es selbst in der Hand, seine Haftung nach § 463 S. 2 durch den Einsatz von Hilfspersonen auszuschließen. Der Geschäftsherr müßte lediglich in den Bereichen, in denen üblicherweise rechtserhebliche Informationen zur Kenntnis genommen werden, Hilfspersonen einsetzen und gleichzeitig dafür Sorge tragen, daß diese Hilfspersonen nicht mit dem Vertragspartner in Kontakt treten. Es widerspricht aber dem elementaren Gerechtigkeitsdenken, wenn dem Geschäftsherrn die Möglichkeit eröffnet wird, durch geschickte Organisation seines Betriebes die Haftung nach § 463 S. 2 auszuschließen. Deshalb muß im Rahmen des § 463 S. 2 auch das Wissen von Hilfspersonen eine Rolle spielen, die am konkreten Vertragsschluß nicht beteiligt sind. b) Haftung für alle Hiljspersonen
Es wird die Auffassung vertreten, daß sich ein arbeitsteilig handelnder Geschäftsherr im Rahmen des § 463 S. 2 das Wissen aller seiner Hilfspersonen zurechnen lassen muß. 254 Nach dieser Auffassung begründet auch das Wissen einer Hilfsperson, die am konkreten Vertragsabschluß nicht beteiligt und mit dem Vertragspartner nicht in Kontakt getreten ist, für den Geschäftsherrn die Arglisthaftung nach § 463 S. 2. 255 Auch diese Auffassung ist abzulehnen. Die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 kann nicht damit begründet werden, daß dem Geschäftsherrn das Wissen aller seiner Hilfspersonen zugerechnet wird. Eine derart weite Zurechnung dehnt den Verkehrsschutz zu sehr auf Kosten des arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn aus und wandelt die Vorsatzhaftung des § 463 S. 2 in eine verschuldensunabhängige Garantiehaftung um. Der arbeitsteilig handelnde Geschäftsherr würde aufgrund 253 BGH NJW-RR 89, 650, 651; BGH LM § 463 Nr. 13 a S. 741, 742; Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 16; Müko-Westerrnann § 463 Rdn. 15; Soergel-Huber § 476 Rdn. 42 und Rdn. 45; Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 7, anders aber Rdn. 8. 254 LG München I ZiP 88,924,925; Medicus, Wissenszurechnung S. 10 f. und S. 12; Müko-Schramm § 166 Rdn. 21 a; Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 8, anders: Rdn. 7; Bei juristischen Personen rechnet der BGH im Rahmen des § 463 S. 2 auch das Wissen von Organmitgliedern zu, die an dem konkreten Rechtsgeschäft nicht mitgewirkt haben. Vgl.: BGHZ 109, 327,330 ff. 2SS LG München I ZiP 88, 924, 925; Medicus, Wissenszurechnung S. 10 f. und S. 12; Müko-Schramrn § 166 Rdn. 21 a; Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 8, anders: Rdn. 7; für juristische Personen: BGHZ 109,327,330 ff.
2. Abschn., III. Wissensnonnen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung
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dieser weiten Zurechnung selbst dann nach § 463 S. 2 haften, wenn es technisch und zeitlich unmöglich gewesen wäre, die rechtserheblichen Informationen rechtzeitig von der Hilfsperson an den Vertragspartner weiterzuleiten. Das eigentliche Problem bei dieser Auffassung liegt aber nicht in der viel zu weiten Wissenszurechnung. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob das Verschweigen der aufgrund der Wissenszurechnung als bekannt angenommenen Mängel ein arglistiges Verschweigen i. S. d. § 463 S. 2 darstellt. 256 Das Tatbestandsmerkmal der Arglist setzt sich nach einer von der Rechtsprechung ständig benutzten Formel aus drei Elementen zusammen: (1) der Verkäufer muß den Fehler der Kaufsache kennen oder mit dem Vorhandensein eines Mangels rechnen; (2) der Verkäufer muß wissen oder damit rechnen, daß der Käufer den Fehler nicht kennt; (3) der Verkäufer muß wissen oder damit rechnen, daß der Käufer bei Kenntnis des Mangels den Kaufvertrag nicht oder nicht zu den gegebenen Bedingungen abgeschlossen hätte. Diese drei Elemente der Arglist lassen sich aber nicht ohne weiteres feststellen, wenn ausschließlich eine Hilfsperson über das rechtserhebliche Wissen verfügt, die an dem konkreten Rechtsgeschäft nicht mitwirkt oder womöglich von dem Abschluß des Rechtsgeschäftes nicht einmal weiß. Wenn der Geschäftsherr den Fehler der Kaufsache de facto nicht kennt, wird er deshalb auch keinen Vorsatz hinsichtlich der Unkenntnis des Käufers und hinsichtlich der Kausalität entwickeln. Die Hilfsperson des Geschäftsherrn kennt zwar den Fehler. Da sie aber mit dem Käufer nicht in Kontakt tritt und überdies von dem Rechtsgeschäft nicht weiß, wird sie sich in der Regel ebenfalls keine Gedanken darüber machen, ob der Käufer den Fehler der Kaufsache kennt und ob die Unkenntnis des Käufers ursächlich für den Vertragsschluß ist. Es liegen also weder in der Person des Geschäftsherrn noch in der Person der Hilfskraft alle drei Voraussetzungen der Arglist vor. Deshalb muß die Auffassung, die allein aufgrund der Wissenszurechnung eine Arglisthaftung des Geschäftsherrn für gegeben hält, besonders begründen, warum sie eine Arglisthaftung bejaht, obwohl das voluntative Element der Arglist, der Vorsatz hinsichtlich der Unkenntnis des Käufers und der Vorsatz hinsichtlich der Kausalität, weder beim Geschäftsherrn noch bei der Hilfsperson gegeben ist. Der BGH zieht zur Begründung des voluntativen Elements die Grundsätze des Anscheinsbeweises heran. Der BGH rechnet dem Geschäftsherrn das Wissen seiner Hilfspersonen zu und schließt von der durch Zurechnung begründeten normativen Kenntnis des Geschäftsherrn prima facie auf das voluntative Element der ArgliSt. 257 Nach Ansicht des BGH "erscheint es interessengerecht", einen arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn "auch hinsichtlich der weiteren Elemente des bedingten Vorsatzes nicht besser als eine natürliche Person zu stellen".258 Bei einer natürlichen Einzelperson könne nach der Lebenserfahrung von der Kenntnis eines 256
257 258
Flume, Wissenszurechnung S. 454; Schlechtriem S. 292. BGHZ 109, 327, 333; Palandt-Heinrichs § 166 Rdn. 8. BGHZ 109, 327, 333.
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
schwerwiegenden verborgenen Mangels auf die Einsicht und Billigung geschlossen werden, daß der Vertragspartner den Mangel vielleicht nicht kenne und anderenfalls den Vertrag möglicherweise nicht oder nicht so wie geschehen abgeschlossen hätte. 259 Die Begründung des BGH ist abzulehnen. 260 Der BGH begründet die Arglisthaftung des arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn mit einer doppelten Fiktion: durch die Wissenszurechnung wird fingiert, daß der de facto unwissende Geschäftsherr über das Wissen seiner Hilfskräfte verfügt, und mit dem Hinweis auf die Lebenserfahrung werden sowohl der Vorsatz hinsichtlich der Unkenntnis des Käufers als auch der Vorsatz hinsichtlich der Kausalität fingiert. Es ist aber nicht mehr nachvollziehbar, wenn der BGH von einer tatsächlich nicht vorhandenen Kenntnis auf die Kenntnis weiterer Umstände schließt. Nur von einer tatsächlich bestehenden Kenntnis kann prima facie auf das voluntative Element der Arglist geschlossen werden. Wenn der Geschäftsherr die rechtserheblichen Umstände tatsächlich nicht kennt, ist der prima - facie - Beweis in der Person des Geschäftsherrn nicht anzuwenden. Aber auch bei der Hilfskraft, die zwar über das rechtserhebliche Wissen verfügt, aber nicht mit dem Käufer in Kontakt getreten ist, hilft der Hinweis auf die Lebenserfahrung nicht weiter. Denn "der Schluß von der Kenntnis auf die Billigung lebt von der Unterlassung des gebotenen Hinweises gerade gegenüber dem Vertragspartner".261 Darüber hinaus unterstellt der BGH, daß der de facto unwissende Geschäftsherr auch dann geschwiegen hätte, wenn er das rechtserhebliche Wissen seiner Hilfspersonen selbst gehabt hätte. 262 Diese Unterstellung entbehrt jeder Grundlage. Es ist also festzuhalten, daß die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 nicht dadurch begründet werden kann, daß dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherrn das Wissen aller seiner Hilfspersonen zugerechnet wird. Allein die Kenntnis von dem Fehler stellt noch keine Arglist i. S. d. § 463 S. 2 dar. Das Wesen der Arglist besteht vielmehr darin, daß eine Vertragspartei im Bewußtsein der Unkenntnis der anderen Seite und im Bewußtsein der Vertragskausalität rechtserhebliche Umstände verschweigt. Insofern ist die Frage, ob das Wissen von am konkreten Rechtsgeschäft unbeteiligten Hilfspersonen zu einer Arglisthaftung des Geschäftsherrn führt, kein Zurechnungsproblem, sondern ein Problem der Arglisthaftung.
c) Waltermann - de lege ferenda
Waltermann ist der Auffassung, daß der arbeitsteilig handelnde Geschäftsherr de lege lata "nur für die Arglist derjenigen Hilfskräfte einzustehen hat, die in dem be259 260 261 262
BGHZ 109,327, 333. Reinking-Kippels S. 895; Waltennann, Arglist S. 893 f. Waltennann, Arglist S. 894. Reinking-Kippels S. 895.
2. Abschn., III. Wissensnonnen bestimmen den Umfang der Wissenszurechnung
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treffenden konkreten Rechtsgeschäft nach außen auftreten".263 Nach seiner Auffassung kann das Wissen von Hilfspersonen, die an dem konkreten Geschäftsabschluß nicht beteiligt sind, die Arglisthaftung des Geschäftsherm de lege lata nicht begründen. 264 Dieses Ergebnis ist nach Waltermann "angesichts des heutigen Ausmaßes organisationsbedingter Funktionsaufspaltung jedoch nicht sachgerecht". 265 ,,Eine organisationsbedingte "Wissensaufspaltung" darf sich nicht zu Lasten des Geschäftspartners auswirken.,,266 Waltermann befürwortet deshalb eine Lösung de lege ferenda. Nach seiner Ansicht bedürfen "die Wissenszurechnung und erst recht die Voraussetzungen der Arglist beim Einsatz von Hilfspersonen [ ... ] der gesetzlichen Neuregelung,,?67 Entgegen der Auffassung von Waltermann können die hier problematischen Fälle nicht mit einer gesetzlich neugeregeIten Zurechnungsnorm gelöst werden. Eine gesetzlich neugeregelte Zurechnungsnorm würde nur der Wissenszurechnung dienen, könnte aber nicht darüber hinweghelfen, daß in den hier problematischen Fällen weder in der Person des Geschäftsherm noch in der Person der Hilfskraft das voluntative Element der Arglist gegeben ist. Auch die Voraussetzungen des § 463 S. 2 bedürfen keiner gesetzlichen Neuregelung. Die Fälle, in denen ausschließlich eine am Rechtsgeschäfts unbeteiligte Hilfsperson über das rechtserhebliche Wissen verfügt, lassen sich - wie noch zu zeigen sein wird - auch de lege lata mit der Vorschrift des § 463 S. 2 lösen. d) Organisationsverschulden
Im Anschluß an die bereits dargestellte Ansicht von Taupitz wird gerade in jüngerer Zeit versucht, die Haftung des arbeitsteilig handelnden Geschäftsherm mit der Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation zu begründen. 268 Nach dieser Auffassung haftet der Geschäftsherr nicht aufgrund zugerechneten Wissens, sondern kraft Organisationsverschuldens. Innerhalb dieser Auffassung ist aber umstritten, ob eine Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation nur juristische Personen und Organisationen trifft269 oder ob auch ein Privatmann mit mehreren Bevollmächtigten Waltennann, Arglist S. 894. Waltennann, Arglist S. 894. 26S Waltennann, Arglist S. 894. 266 Waltennann, Arglist S. 894. 267 Waltennann, Arglist S. 895. 268 BGH NJW 96, 1339, 1340 f.; OLG Köln ZUR 93,281,283; Taupitz, Wissenszurechnung S. 26 ff.; Taupitz, Anmerkung S. 734 ff.; Taupitz, Versicherung S. 688 f.; Reinking-Kippels S. 285 f.; Lehmann S. 1030; Müko-Schrarnm § 166 Rdn. 21 a; wohl auch: Müko-Westermann § 463 Rdn. 15. 269 OLG Düsseldorf NJW-RR 97, 718; BGH NJW-RR 97, 270; BGH NJW 96, 1339, 1340 f.; Taupitz, Versicherung S. 27. 263
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
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der Organisationspflicht unterliegt. 270 Auch die Frage, ob der Verstoß gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation eine Arglisthaftung nach § 463 S. 2 begründet271 oder lediglich zu einer Fahrlässigkeitshaftung nach den Grundsätzen der c.i.c. führt,272 wird unterschiedlich beantwortet. Richtig an dieser Auffassung ist der Ansatz bei der Wissensnorm. Die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 kann nicht dadurch begründet werden, daß dem Geschäftsherrn das Wissen seiner Hilfspersonen imputiert wird. Vielmehr ist beim Geschäftsherrn anzusetzen und zu fragen, wann ein Geschäftsherr arglistig i. S. d. § 463 S. 2 handelt, wenn rechtserhebliche Informationen, die eine Hilfsperson an Stelle des Geschäftsherrn zur Kenntnis genommen hat, nicht an den Käufer gelangen. Soweit allerdings die Auffassung vertreten wird, daß die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation der internen Kommunikation nur eine juristische Person und eine Organisation trifft, kann ihr nicht gefolgt werden. Die Organisationspflicht folgt aus der Wissensnorm des § 463 S. 2 und diese Vorschrift unterscheidet nicht zwischen natürlichen und juristischen Personen. Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation muß deshalb auch natürliche Einzelpersonen mit mehreren Angestellten treffen. Das eigentliche Problem dieser Auffassung besteht aber darin, daß es bisher noch nicht gelungen ist, die Gleichstellung von Organisationsverschulden und Arglist dogmatisch zu begründen. Flume ist sogar der Auffassung, daß eine dogmatische Begründung für diese Gleichsetzung nicht existiert. 273
7. Zusammenfassung und Ausblick auf die weitere Untersuchung Bildet man einen konkreten Beispielsfall, wird deutlich, daß die allgemeine Frage nach der Wissenszurechnung nicht isoliert von der jeweils einschlägigen Wissens norm, also der Rechtsnorm, die an das Wissen oder das Wissenmüssen bestimmte Rechtsfolgen knüpft, beantwortet werden kann. Damit zeigt sich, daß die Wissens zurechnung in Wirklichkeit gar kein Zurechnungsproblem ist. Die Probleme der Wissenszurechnung lassen sich nicht durch eine direkte oder analoge Anwendung einer Zurechnungsnorm lösen. Vielmehr entscheidet die jeweils einschlägige Wissensnorm über den Umfang der Wissenszurechnung. Bei manchen Wissensnormen läßt sich der Umfang der Wissenszurechnung relativ leicht festlegen. Bei anderen Wissensnormen, wie beispielsweise bei der Vorschrift des § 463 S. 2, ist es dagegen schwieriger, den Umfang der Wissenszurechnung zu bestimmen. 270
Lehmann S. 1030; Reinking-Kippels S. 285 f.; wohl auch: Müko-Schramm § 166 Rdn.
21 a. 271 OLG Köln ZUR 93, 281, 283; BGH NJW 96, 1339, 1340 f.; Müko-Schramm § 166 Rdn. 21 a; Lehmann S. 1030. 272 Reinking-Kippels S. 286. 273 Flume, Wissenszurechnung S. 453 f.
3. Abschn.: Die Arglisthaftung nach § 463 S. 2
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In der folgenden Untersuchung soll deshalb die Vorschrift des § 463 S. 2 als exemplarische Demonstrationsnorm herangezogen werden, um zu zeigen, daß die Wissenszurechnung kein Problem der "richtigen" Zurechnungsnorm ist, sondern ein Problem der jeweils einschlägigen Wissensnorm, also ein Problem der Arglisthaftung. Damit ist das Arbeitsprogramm für die weitere Untersuchung festgelegt. Zunächst sind die für die Wissenszurechnung maßgeblichen Wertungen des § 463 S. 2 herauszuarbeiten. Anhand dieser Wertungen ist dann zu bestimmen, in welchem Umfang dem arbeitsteilig handelnden Geschäftsherm das Wissen seiner Hilfspersonen zugerechnet werden kann. Im Anschluß daran ist zu prüfen, ob der arbeitsteilig handelnde Geschäftsherr arglistig i. S. d. § 463 S. 2 handelt, wenn er die betriebsinterne Kommunikation nicht ordnungsgemäß organisiert. Schließlich ist zu untersuchen, ob in den verbleibenden Fällen, in denen eine Arglisthaftung nach § 463 S. 2 nicht vorliegt, eine Fahrlässigkeitshaftung in Betracht kommt. Wenn in der folgenden Untersuchung der Frage nachgegangen wird, ob der Verkäufer einer mangelhaften Sache nach § 463 S. 2 haftet, wenn nicht er selbst, sondern eine seiner Hilfspersonen den Fehler der Kaufsache kennt, dann darf nicht aus den Augen verloren werden, daß mit dieser Frage die allgemeine Frage nach der Wissenszurechnung gestellt ist. Die allgemeine Problematik der Wissenszurechnung wird lediglich am Beispiel des § 463 S. 2 konkretisiert.
3. Abschnitt
Die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 Gemäß § 463 S. 2 kann der Käufer statt der Wandelung oder der Minderung Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen, wenn der Verkäufer einen Fehler arglistig verschwiegen hat. Arglistig handelt nach der Definition der Rechtsprechung derjenige Verkäufer, der "einen Fehler mindestens für möglich hält, gleichzeitig weiß oder damit rechnet und billigend in Kauf nimmt, daß der Vertragsgegner den Mangel nicht kennt und bei Offenbarung den Vertrag nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt geschlossen hätte".274 Nach der Rechtsprechung setzt sich Arglist i. S. d. § 463 S. 2 aus drei Elementen zusammen: (1) der Verkäufer muß den Fehler kennen oder mit dessen Vorhandensein rechnen, (2) er muß davon ausgehen, daß dem Käufer dieses Wissen fehlt, (3) er muß die Kausalität zwischen der Unkenntnis des Käufers und dem Kaufabschluß kennen oder in Rechnung stellen. Diese von der Rechtsprechung entwickelte Definition der Arglist findet in der Kommentarliteratur ganz überwiegend Zustimmung. 275 274 BGH NJW 94, 254; BGHZ 117,363,368; ähnlich: BGH NJW 96, 1465, 1467; BGH NJW-RR 95, 254; BGH NJW-RR 92,330; BGH NJW 91,2138.
7 Goldschmidt
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1. Teil: Wissenszurechnung bei natürlichen Personen
I. Definition der Arglisthaftung 1. Vorsatzhaftung
Die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 ist nichts anderes als eine Vorsatzhaftung. Nach ganz allgemeiner Meinung bedeutet Arglist i. S. d. § 463 S. 2 nichts anderes als Vorsatz. 276 Dabei kann der Vorsatz direkt oder bedingt sein. Fahrlässigkeit, insbesondere grobe Fahrlässigkeit, reicht nicht aus, um eine Arglisthaftung nach § 463 S. 2 zu begründen. 277 Die Entstehungsgeschichte des § 463 S. 2 zeigt, daß die Gleichsetzung von Arglist und Vorsatz berechtigt ist. Insbesondere ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte, daß der Vorsatz des Verkäufers nicht nur auf den Fehler der Kaufsache, sondern auch auf die Unkenntnis des Käufers gerichtet sein muß. Der erste Entwurf (E I § 385) umschrieb den Tatbestand dahin, daß der Verkäufer verschärft haftet, wenn er den Mangel gekannt und dem Erwerber verschwiegen hat: "Ist zur Zeit der Schließung des Vertrages eine zugesicherte Eigenschaft nicht vorhanden gewesen oder ein damals vorhandener Mangel der im § 381 Abs. n bezeichneten Art von dem Veräußerer wissentlich verschwiegen, so hat der letztere neben dem Rechte der Wandelung oder Minderung gegen den Veräußerer Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung". Die 2. Kommission ersetzte das Wort "wissentlich" durch "arglistig".278 Sie wollte damit "diejenigen Fälle ausscheiden, in denen der Verkäufer einen Mangel anzuzeigen unterlassen hat, weil er annahm, daß der andere Theil den Mangel kenne".279 Der Verkäufer, der von der Kenntnis des Käufers überzeugt war und es deshalb in gutem Glauben unterlassen hat, einen ihm bekannten Mangel besonders hervorzuheben, sollte nach Ansicht der 2. Kommission nicht auf das Erfüllungsinteresse haften. Mit der Änderung des Wortlauts sollte also nur eine bestimmte Fallkonstellation aus der Verkäuferhaftung herausgenommen werden. Dagegen war nicht beabsichtigt, die Vorsatzhaftung des Verkäufers weitergehend zu verändern oder zu verschärfen. Von den genannten Ausnahmefällen abgesehen sollte der Verkäufer nach wie vor haften, wenn er den Fehler "wissentlich" verschwiegen hat. 27S Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 25 und Rdn. 36; Müko-Westermann § 463 Rdn. 8; Erman-Grunewald § 463 Rdn. 6; RGRK-Mezger § 463 Rdn. 5; Jauemig-Vollkommer § 463 Rdn. 9; Reinicke-Tiedtke Rdn. 456; a.A. Soergel-Huber § 463 Rdn. 25 und § 476 Rdn. 21. 276 Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 24; Müko-Westennann § 463 Rdn. 8; RGRK-Mezger § 463 Rdn. 5; Reinicke-Tiedtke Rdn. 456. 277 Palandt-Putzo § 463 Rdn.ll; Müko-Westermann § 463 Rdn.8; Ennan-Grunewald § 463 Rdn.7; Staudinger-Honsell § 463 Rdn.26; Soergel-Huber § 463 Rdn.21 i.V.m.§ 476 Rdn.24; RGRK-Mezger § 463 Rdn. 5. 278 Mugdan 11 S. 669; zur Parallelbestimmung des § 443 BGB: Mugdan 11 S. 656; zur Parallelbestimmung des § 476 BGB: Mugdan 11 S. 677; In allen genannten Fällen wurde mit gleicher Begründung das Wort "wissentlich" durch das Wort "arglistig" ersetzt. 279 Mugdan 11 S. 669.
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Mit der Änderung des Wortlauts hat die 2. Kommission Fallkonstellationen Rechnung getragen, die in der Praxis nicht gerade häufig auftreten. Nur in dem seltenen Fall, daß die Kaufsache einen äußerlich deutlich sichtbaren Fehler aufweist und von dem Verkäufer und Käufer gemeinsam besichtigt wurde, kann sich der Verkäufer die Meinung bilden, daß der Käufer den Mangel der Kaufsache ebenfalls kennt. 280 Die 2. Kommission hat aber nicht nur eine bestimmte Fallkonstellation aus der Verkäuferhaftung herausgenommen, sondern den Tatbestand auch um ein zweites subjektives Merkmal erweitert: den Vorsatz hinsichtlich der Unkenntnis des Käufers. Daß die 2. Kommission ein zweites subjektives Merkmal geschaffen hat, wäre deutlich geworden, wenn sie den Tatbestand ausformuliert hätte. Die Vorschrift hätte dann dahingehend gelautet, daß der Verkäufer dem Käufer auf das Erfüllungsinteresse haftet, wenn er den Fehler der Kaufsache wissentlich verschweigt und nicht von einer entsprechenden Kenntnis des Käufers ausgeht. Die 2. Kommission hat den Tatbestand aber nicht sprachlich um ein zweites Tatbestandsmerkmal erweitert, sondern sie hat den Vorsatz hinsichtlich des Fehlers und den Vorsatz hinsichtlich der Unkenntnis des Käufers in dem Tatbestandsmerkmal der "Arglist" zusammengefaßt. Die Rechtsprechung macht diese Zusammenfassung zweier Tatbestandsmerkmale wieder rückgängig, indem sie in der Definition der Arglist zwischen einem auf den Fehler und einem auf die Unkenntnis gerichteten Vorsatz unterscheidet.
2. Arglisthaftung frei von moralischen Vorwürfen
Die Arglisthaftung des § 463 S. 2 ist als reine Vorsatzhaftung frei von moralischen Vorwürfen. Mit dem Arglistvorwurf ist ein moralisches Unwerturteil nicht verbunden. 281 Um den Tatbestand des § 463 S. 2 zu erfüllen, ist nicht erforderlich, daß der Verkäufer in besonderem Maße subjektiv verwerflich gehandelt hat. 282 Insbesondere fordert § 463 S. 2 weder eine Betrugs- noch eine SChädigungsabsicht. 283 Damit bleibt § 463S. 2 hinter den subjektiven Voraussetzungen anderer Rechtsbehelfe, namentlich hinter den Ansprüchen aus §§ 823 11 i.V.m. § 263 StGB, § 826 zurück. Ausreichend für eine Haftung aus § 463 S. 2 ist das Schweigen des VerkäuSoergel-Huber § 476 Rdn.4. Staudinger-Honsell § 463 Rdn. 25; BGHZ 117, 363, 368; BGHZ 109, 327, 333; BGH NJW 91, 2901; BGH NJW 95, 1549, 1550. 282 Flurne, Rechtsgeschäft S. 543; Enneccerus-Nipperdey § 174 I 2; MUko-Westermann § 463 Rdn.8; Soergel-Huber § 463 Rdn.24 i.V.m. § 476 Rdn.6. 283 Palandt-Putzo § 463 Rdn.l1; Soergel-Huber § 463 Rdn.24 i.V.m. § 476 Rdn.6; ErmanGrunewald § 463 Rdn.7; Staudinger-Honsell § 463 Rdn.27; Walter, Kaufrecht S. 174; BGHZ 117, 363, 368. 280 281
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fers in Kenntnis des Mangels. Ein darüber hinausgehendes qualifiziert illoyales, sittenwidriges oder strafbares Verhalten ist für eine Haftung aus § 463 S. 2 nicht erforderlich. Dies läßt sich ebenfalls aus der Entstehungsgeschichte des § 463 S. 2 ablesen. Wie bereits ausgeführt wurde, sollte die Einführung des Begriffs der "Arglist" von vornherein keine sachliche Änderung gegenüber der "Kenntnis" bedeuten. Die Gesetzesverfasser wollten mit der Änderung des Wortlauts nicht die Voraussetzungen § 463 S. 2 verschärfen. insbesondere wollten sie die Haftung nicht von einem besonders verwerflichen Verhalten des Verkäufers abhängig machen. Es ist also festzuhalten, daß die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 eine von jedem moralischen Einschlag freie Vorsatzhaftung ist.
3. Verschweigen eines Mangels trotz greifbarer Anhaltspunkte Rechtsprechung und Literatur bejahen den Vorsatz des Verkäufers auch dann, wenn der Verkäufer meint, der Käufer könne anhand von Indizien den Mangel der Kaufsache erkennen. 284 Der BGH hatte über einen Fall zu entscheiden, bei dem der Verkäufer verschwiegen hatte, daß der Keller des verkauften Hauses etwa alle drei Jahre bei außergewöhnlich starkem Hochwasser durch eindringendes Grundwasser überflutet wird. Das Berufungsgericht hatte noch die Auffassung vertreten, daß dem Verkäufer wegen mehrerer auf die Grundwassergefährdung hinweisender Indizien - das Haus lag in unmittelbarer Nähe des Rheins und in der Mitte des Kellerraums befand sich ein in die Sohle gestemmtes Loch, in dem sich das Wasser sammeln und aus dem es dann über einen Schlauch abgepumpt werden konnte - Arglist nicht vorgeworfen werden könne. Der BGH vertrat dagegen die Auffassung, daß die Arglisthaftung des Verkäufers durch Indizien, die auch für den Käufer mehr oder weniger offen zutage liegen, nicht ausgeschlossen wird. 285 ,,Nimmt der Verkäufer an, der Käufer sei aufgrund von Indizien imstande, den Mangel zu erkennen, so handelt er, der Verkäufer, gleichwohl arglistig, wenn er sich bewußt hierum nicht kümmert und in Kauf nimmt, daß der Käufer, weil er die Prüfung unterläßt, den Vertrag abschließt, den er bei Kenntnis des Mangels nicht abgeschlossen hätte.,,286 Den Verkäufer trifft also im Rahmen des § 463 S. 2 eine umfassende Redepflicht. Der Verkäufer muß dem Käufer alle Fehler der Kaufsache ausdrücklich benennen. Er darf den Käufer selbst dann nicht sich selbst überlassen, wenn die Anhaltspunkte rur einen Sachmangel mehr oder minder offensichtlich sind. Wenn der
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BGH NJW 90, 42, 43; Ennan-Grunewa1d § 463 Rdn. 6. BGH NJW 90, 42. 43; vgl. auch zu § 123: BGH NJW 71, 1795, 1800. BGH NJW 90, 42, 43; vgl. auch zu § 123: BGH NJW 71,1795,1800.
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Verkäufer bemerkt, daß der Käufer die auf einen Mangel hindeutenden Anzeichen nicht beachtet, muß der Verkäufer dem Käufer durch einen ausdrücklichen Hinweis den Fehler der Kaufsache bewußt machen.
4. Verschweigen eines Mangelverdachts Der Verkäufer handelt bereits dann arglistig i. S. d. § 463 S. 2, wenn er dem Käufer einen bloßen Mangelverdacht verschweigt. Nach ganz herrschender Meinung handelt der Verkäufer mit bedingtem Vorsatz hinsichtlich eines Fehlers, wenn er einen Fehler der Kaufsache bloß vermutet oder wenn er an der Mangelfreiheit der Kaufsache zweifelt. 287 Der Verkäufer muß also nicht nur sein gesamtes Wissen, sondern auch alle seine Vermutungen und Zweifel an den Käufer weitergeben. ,,Nach ständiger und einleuchtender Rechtsprechung", so heißt es repräsentativ in einem Urteil des OLG Köln, "ist der Verkäufer einer Sache gegenüber Kaufinteressenten nicht nur zur Offenbarung eines ihm bekannten, die Tauglichkeit der Sache beeinträchtigenden Mangel verpflichtet, sondern er muß dem Käufer auch schon die Vermutung eines erheblichen Mangels mitteilen".288 Es genügt also der bloße Verdacht eines Fehlers, um die Arglisthaftung des Verkäufers zu begründen. a) Unbestimmter und globaler Verdacht
Dieser bloße Verdacht muß aber nicht konkret auf einen ganz bestimmten Fehler gerichtet sein. Für die Arglisthaftung nach § 463 S. 2 reicht es aus, wenn der Verkäufer einen unbestimmten oder globalen Verdacht hat und dies dem Käufer verschweigt. 289 So ist nach der Rechtsprechung des BGH für die Arglisthaftung eines Verkäufers, der ein als Deponie genutztes Grundstück verkauft hat, unerheblich, "ob der offenbarungspflichtige Verkäufer den genauen Inhalt der Deponie hinsichtlich der dort eingelagerten Müllsorten bis in die letzten Einzelheiten gekannt hat".290 ,,Auf eine Kenntnis der auf die Deponie gelangten Materialien und Schadstoffe" kommt es nach der Rechtsprechung des BGH nicht an. 291 Anknüpfungspunkt für die Arglisthaftung ist nach der Rechtsprechung allein der Verdacht, daß das Grundstück früher eventuell als Deponie genutzt wurde: Bei "einer Deponie 287 Soergel Huber § 463 Rdn. 21 i.V.m. § 476 Rdn. 26; Müko-Westermann § 463 Rdn.6; Staudinger- Honsell § 463 Rdn. 31; RG JW 1903 Beilage S. 99 Nr. 223; RG Recht 1914 Nr. 2422; RG IW 1938, 320; BGH NJW 91, 2900, 2901; OLG Schleswig VersR 75, 189; OLG Köln NJW 65,109,110; OLG Celle NJW-RR 87, 744. 288 OLG Köln NIW 65,109,110 m. w. N. 289 BGH NIW 91, 2900, 2901; BGHZ 117, 363, 388 f.; BGH NIW 95,1549,1550. 290 BGHZ 117, 363,388 f.; vgl. auch BGH NJW 95, 1549, 1550. 291 BGH NJW 95, 1549, 1550; vgl. aber auch BGH NJW 94, 253, 254.
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muß immer die Möglichkeit in Rechnung gestellt werden, daß auf ihr auch Abfälle gelagert wurden, die wegen ihrer chemischen Zusammensetzung eine besondere Gefahr darstellen".292 Der Verkäufer muß nach Ansicht des BGH immer damit rechnen, "daß neben ungefährlichen Abfallstoffen auch Schadstoffe abgelagert worden sind, mag der Betrieb auch noch so sorgfältig geführt worden sein".293 Die Rechtsprechung verlangt damit vom Verkäufer die uneingeschränkte Mitteilung seines gesamten Wissens einschließlich jeden Verdachts, mag dieser auch noch so unbestimmt sein. Ob sich die Vermutungen des Verkäufers später bestätigen, ist ohne Belang. Entscheidend für die Offenbarungspflicht ist allein das Bewußtsein des Verkäufers, daß mit der Kaufsache etwas nicht in Ordnung sein könnte. Die ,,Zielrichtung" dieser Aufklärungspflicht besteht nach Ansicht des BGH darin, dem Käufer "die Möglichkeit zur Untersuchung [ ... ] und zur Abschätzung etwaiger Mehrkosten" zu geben.294 Nur wenn der Käufer über alle dem Verkäufer bekannten Umstände informiert ist, kann er das mit dem Kauf verbundene Risiko überblicken. Die Ausdehnung der Informationspflicht des Verkäufers auf Verdachtsmomente dient dazu, dem Käufer die Chance zur Selbstaufklärung zu geben. Der Käufer soll in die Lage versetzt werden, sich ein eigenes Urteil über mögliche Fehler zu bilden.
b) Bestätigung durch die ratio des § 463 S. 2
Die Ausdehnung der Redepflicht auf bloße Zweifel und Vermutungen entspricht der ratio des § 463 S. 2. Nach der Vorstellung der Gesetzesverfasser beruht die Vorschrift des § 463 S. 2 auf dem Bedürfnis, "den unredlichen Veräußerer in dem in Frage stehenden Falle wegen dessen hervorragender Wichtigkeit im Interesse thunlichster Sicherung des Verkehrs mit empfindlichen Nachtheilen zu bedrohen".295 Die in § 463 S. 2 statuierte Redepflicht dient nach dem Willen der Gesetzesverfasser dem Verkehrsschutz. Ein ausreichender Verkehrsschutz ist aber nur dann gewährleistet, wenn der Verkäufer und der Käufer hinsichtlich der Kaufsache annähernd die gleichen Kenntnisse haben. Solange der Verkäufer nicht alle ihm bekannten Mängel und Indizien gegenüber dem Käufer offenbart hat, verfügt der Verkäufer gegenüber dem Käufer über einen Wissensvorsprung, der ihm eine stärkere Verhandlungsposition verschafft. Dieses Ungleichgewicht zwischen den Kaufvertragsparteien soll durch die Redepflicht des Verkäufers ausgeglichen werden. Ein Wissensvorsprung des Verkäufers kann aber nur dann effektiv abgebaut werden, wenn die Redepflicht des Verkäufers auf alle Verdachtsmomente ausgeweitet wird. 292 293
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