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German Pages 212 Year 2020
Wolfgang Deiters, Stefan Geisler, Fernand Hörner, Anna Katharina Knaup (Hg.) Die Kommunikation und ihre Technologien
Edition Medienwissenschaft | Band 66
Wolfgang Deiters (Prof. Dr. rer. nat.) lehrt und forscht seit 2017 zu nutzer*innenorientierten Gesundheitstechnologien an der Hochschule für Gesundheit. Seine Schwerpunkte sind Digitalisierungsstrategien im Gesundheitswesen, sozio-technische Gesundheitsdienste für Prävention, Therapie und Pflege sowie der Aufbau von Strukturen zur digitalen Gesundheitskompetenz (Health Literacy). Er ist stellvertretender Sprecher der Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen. Stefan Geisler (Prof. Dr.) lehrt und forscht seit 2010 im Bereich der Mensch-Technik-Interaktion als Professor an der Hochschule Ruhr West. Seine Spezialgebiete sind Bedienkonzepte im Fahrzeug sowie die wohlbefindensorientierte Systemkonzeption. Er leitet das Forschungsinstitut Positive Computing und den Studiengang Mensch-Technik-Interaktion. Er ist Sprecher der Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen. Fernand Hörner (Prof. Dr. habil.) ist seit 2012 Professor für Kulturwissenschaften an der Hochschule Düsseldorf und dort Leiter des Zentrums für Digitalisierung und Digitalität. Er ist seit 2019 Privatdozent für Medienwissenschaft an der Universität Basel, Herausgeber des Songlexikons (www.songlexikon.de) und stellvertretender Sprecher der Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen. Anna Katharina Knaup promovierte auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Gegenwartsliteratur und -film sowie Gender Studies. Sie koordinierte als wissenschaftliche Mitarbeiterin die Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen.
Wolfgang Deiters, Stefan Geisler, Fernand Hörner, Anna Katharina Knaup (Hg.)
Die Kommunikation und ihre Technologien Interdisziplinäre Perspektiven auf Digitalisierung
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Inhalt
Die Kommunikation und ihre Technologien Interdisziplinäre Perspektiven auf Digitalisierung
Wolfgang Deiters, Stefan Geisler, Fernand Hörner, Anna Katharina Knaup | 7
COMPUTERBASIERTE KOMMUNIKATION Welche Genres existieren für Online-Medienangebote? Eine Analyse der Themenstruktur aus Anbietersicht
Céline Fabienne Kampes | 13 Fahrer-Fahrzeug-Kommunikation in automatisierten, kooperativen Systemen
Henrik Detjen | 45
REZEPTION Emojiformeln Körperlichkeit in Zeiten der unkörperlichen Kommunikation
Alexandra Siegle | 63 Werbung in Zeiten von Instagram Neue Herausforderungen für die Medienpädagogik
Michael Haas | 79 What a Shame Celebrity Culture und narzisstische Selbstbespiegelung am Beispiel eines Musikvideos
Fernand Hörner | 101 Perspektiven zur Erklärung des »Schweigens« von Nutzer*innen digitaler sozialer Netzwerkplattformen als Reaktion auf Online Hate Speech
Christina Josupeit | 119
LITERATUR UND FILM »Unterhaltung heute gestartet« Die Imitation der neuen Kommunikationsformen in aktuellen E-Mail- und Facebook-Romanen
Karina Becker | 165 Unmögliche Vergemeinschaftungen Die Sprachlosigkeit zwischen Mensch und Maschine im Artificial-Intelligence-Filmdrama
Denis Newiak | 177 Autorinnen und Autoren | 209
Die Kommunikation und ihre Technologien Interdisziplinäre Perspektiven auf Digitalisierung Wolfgang Deiters, Stefan Geisler, Fernand Hörner, Anna Katharina Knaup
Vom Brief zur Mail, vom Fernseher zur Spielekonsole und vom Telegraphen zu Twitter: Neue digitale Technologien induzieren neue Formen der Kommunikation. Damit einher geht nicht selten eine Änderung der Ansprache und Erreichbarkeit von Zielgruppen. Doch die enorme Schnelligkeit im Technologiewechsel lässt nur selten Zeit, um die Veränderungen in der Kommunikation einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. Genau hier möchte diese Publikation anknüpfen. Kommunikation verändert sich durch neue Technologien teils gravierend – man denke nur an die Erfindung des Buchdrucks. Doch während sich technische Neuerungen zu Gutenbergs Zeiten noch sehr langsam entwickelten, geschieht dies aktuell in Rekordzeit. War vor ungefähr zehn Jahren noch die SMS eine neue und verbreitete Form der Kommunikation, ist diese Art des Austauschs inzwischen schon von gestern. Social Media und Instant Messaging-Dienste bestimmen inzwischen unseren Alltag. Und schon morgen könnte Augmented Reality zur Selbstverständlichkeit geworden sein. Durch die Einführung von immer wieder neuen Technologien findet eine ständige Umstrukturierung der Kommunikation statt. Was macht das mit der Kommunikation? Was macht das mit uns? Und sind die neuen Technologien damit eine Chance oder ein Risiko für unsere Kommunikation? Der Untersuchungsgegenstand wird komplexer und Typologien erleichtern bekanntlich die Kommunikation über Kommunikation. Man könnte folglich unterscheiden zwischen der Kommunikation mit Medien wie sie beim Lesen oder beim Hören von Podcasts geschieht, der Kommunikation durch Medien wie sie beim Telefonieren oder Chatten vollzogen wird und interaktiver Kommunikation wie bei Gesprächen mit Robotern wie Pepper oder Computerspielen. Man kann aber selbstverständlich auch zu ganz anderen Typologien gelangen.
8 | Die Kommunikation und ihre Technologien
Trotz aller Veränderungen und vieler offener Fragen bleibt eines sicher: Paul Watzlawicks These, dass man nicht nicht kommunizieren kann, hält bisher allen technologischen Neuerungen stand. Und: Komplexe Phänomene fordern komplexe Ansätze. Daher sind in dieser Veröffentlichung Beiträge aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen vereint – den Kommunikationswissenschaften, den Wirtschaftswissenschaften, den Literaturwissenschaften, der Informatik, der Pädagogik und auch der Filmwissenschaft. So kommen gleich mehrere und unterschiedliche Kommunikationsspezialist*innen zu Wort. Die meisten Expert*innen kommen dabei aus der Wissenschaft, aber auch aus Sicht der Wirtschaft wird berichtet. Der vorliegende Tagungsband, der auf den Vorträgen der Tagung „Kommunikation im Wandel – eine interdisziplinäre Betrachtung“ am 14. November 2018 in Düsseldorf basiert, vereinigt dementsprechend ganz unterschiedliche Beiträge, die auf verschiedenen disziplinären und methodischen Zugängen basieren. Entsprechend den Schwerpunkten der Tagung beschäftigt sich der erste Teil dieser Publikation mit computerbasierter Kommunikation. Hierbei geht es zum Beispiel um die Kommunikation mit Fahrassistenzsystemen in Autos oder auch um die verschiedenen Genres der Online-Kommunikation. Danach steht die Rezeption im Mittelpunkt und es wird sowohl ein analytischer Blick auf die Beeinflussung von Jugendlichen durch Werbung geworfen, es wird die narzisstische Selbstbespiegelung der heutigen Zeit anhand von Musikvideos erläutert und die Rolle von Emojis in der Kommunikation untersucht. Im dritten Themenblock werden dann Literatur und Film im Zusammenhang mit Kommunikation intensiver beleuchtet. Durch die Breite der Themen ist es in diesem Tagungsband gelungen, einen abwechslungsreichen Überblick zur Auswirkung der Digitalisierung auf Kommunikation darzustellen. Unser herzlicher Dank gilt allen Beiträger*innen, Sara Kluge und Elisabeth Kraus für Korrekturarbeiten, sowie dem Graduierteninstitut NRW, durch das sowohl die Tagung als auch diese Veröffentlichung überhaupt erst möglich geworden sind. Das Graduierteninstitut für angewandte Forschung NRW ist zum 1.1.2016 als gemeinsame wissenschaftliche Einrichtung der Fachhochschulen in NordrheinWestfalen gegründet worden und hat den hochschulgesetzlichen Auftrag, kooperative Promotionen an Fachhochschulen und Universitäten nachhaltig zu stärken und auszubauen. In den Fachgruppen des GI NRW wird interdisziplinär geforscht, auch in Zusammenarbeit mit Universitäten.
Vorwort | 9
Diese Publikation ist auf Initiative der Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts NRW entstanden. Bochum, im Juni 2020
Die Herausgeber*innen
Computerbasierte Kommunikation
Welche Genres existieren für Online-Medienangebote? Eine Analyse der Themenstruktur aus Anbietersicht Céline Fabienne Kampes
1. HINTERGRUND Genres werden im Print- und Rundfunkmarkt als thematische Strukturierungsdimensionen journalistischer Medienangebote verwendet. Auf diese Weise erfüllen sie eine wesentliche Ordnungsfunktion für den Medienmarkt und bieten soziale Orientierung für den Mediennutzer. 1 Ihre Ordnungsfunktion übernehmen festgelegte Genres vor allem seit der Einführung des dualen Rundfunksystems, um die strukturelle Vielfalt von Medienangeboten zu analysieren. So wird die Einhaltung des in den Rundfunkstaatsverträgen als Binnenpluralismus formulierten Vielfaltsanspruchs an die öffentlich-rechtliche Programmgestaltung überprüft. 2 Die zur Si-
1
Vgl. Müller, Eggo: »Genre als produktive Matrix. Überlegungen zur Methodik historischer Genreanalyse«, in: Britta Hartmann/Eggo Müller (Hg.): 7. Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium, Berlin: Gesellschaft für Theorie & Geschichte audiovisueller Kommunikation e.V. 1995, S. 116-122, hier S. 121; Krone, Jan: »Zwischen Information und Unterhaltung: Publizistische Divergenz in der Medienkonvergenz«, in: Christoph Kappes/Jan Krone/Leonhard Novy (Hg.): Medienwandel kompakt 2014-2016. Netzveröffentlichungen zu Medienökonomie, Medienpolitik & Journalismus, Wiesbaden: Springer 2017, S. 209-214, hier S. 211; Askehave, Inger/Nielsen, Anne Ellerup: »Digital genres: a challenge to traditional genre theory«, in: Technology & People (18) Nr. 2 (2005), S. 120-141, hier S. 121.
2
Vgl. Rossmann, Constanze/Brandl, Annette/Brosius, Hans-Bernd: »Der Vielfalt eine zweite Chance?«, in: Publizistik (48) Nr. 4 (2003), S. 427-453, hier S. 427.
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cherung des demokratischen Willens- und Meinungsbildungsprozesses eingeforderte strukturelle Programmvielfalt wird als grundlegende Prämisse für eine inhaltlich vielfältige Ausgestaltung der Medieninhalte angesehen. 3 Seither werden definierte thematische Genres in jährlich angelegten Rundfunk-Programmanalysen strukturierend herangezogen. 4 Auch ohne ein vergleichbares rechtliches Fundament existieren im Printsektor bereits seit Jahrzehnten ebenfalls gefestigte – der Mechanik thematischer Genres folgende – Ressort-Strukturen, die Medienangebote anbieterübergreifend aus thematischer und gleichzeitig formatbezogener Sicht kategorisieren. Dabei haben wesentlich die Medienanbieter selbst langfristig Ressorts tradiert, die als thematische Abgrenzung Orientierung für Nutzer innerhalb der Medienerzeugnisse stiften. Für den Online-Medienmarkt haben sich trotz seiner wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung und Nutzung als Informationsquelle zur öffent-lichen Meinungs- und Willensbildung 5 keine vergleichbaren, übergreifenden Strukturierungsansätze entwickelt. Der Online-Medienmarkt unterliegt gleichermaßen wie der Print- und anders als der Rundfunksektor keinen gesetzlichen Vielfaltsansprüchen, die es erfordern würden, die bereitgestellten Medienangebote kontinuierlich hinsichtlich ihrer
3
Vgl. Schatz, Heribert/Schulz, Winfried: »Qualität von Fernsehprogrammen. Kriterien und Methoden zur Beurteilung von Programmqualität im dualen Fernsehen«, in: Media Perspektiven (22) Nr. 11 (1992), S. 690-712, hier S. 690f; Bosshammer, Sibylle: Quantität statt Qualität. Fernsehnachrichten im dualen Mediensystem unter besonderer Berücksichtigung von Qualitätskriterien, Hamburg: Diplomica 2001, S. 205; C. Rossmann/A. Brandl/H. Brosius: Der Vielfalt eine zweite Chance?, S. 427; Rössler, Patrick: »Vielzahl=Vielfalt=Fragmentierung?«, in: Otfried Jarren/Kurt Imhof/Roger Blum (Hg.): Zerfall der Öffentlichkeit? Mediensymposium Luzern Band 6, Luzern: Westdeutscher Verlag 2000, S. 168-188, hier S. 172f.
4
Vgl. C. Rossmann/A. Brandl/H. Brosius: Der Vielfalt eine zweite Chance?, S. 427; Zeller, Frauke/Wolling, Jens: »Struktur- und Qualitätsanalyse publizistischer Onlineangebote«, in: Media Perspektiven (40) Nr. 3 (2010), S.143-153, hier S. 144; P. Rössler: Vielzahl=Vielfalt=Fragmentierung?, S. 173.
5
Vgl. die medienanstalten (Hg.): Netflix erstmals unter den Top 10, Pressemitteilung vom 08.11.2019; Schenk, Michael/Wolf, Malthe: »Die digitale Spaltung der Gesellschaft: Zur politikorientierten Nutzung des Internets und der traditionellen Medien in den sozialen Milieus«, in: Kurt Imhof/Roger Blum/Heinz Bonfadelli/Otfried Jarren (Hg.): Demokratie in der Mediengesellschaft, Wiesbaden: Springer 2006, S. 239-260, S. 239.
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Themenstruktur zu überprüfen. Jedoch erhöhen sowohl die wachsende gesellschaftliche Relevanz der Online-Medien als auch gattungsspezifische Besonderheiten die Dringlichkeit, mithilfe von Genres Struktur im wachsenden Online-Medienmarkt zu schaffen. Anders als im Print- und Rundfunksektor existieren aufgrund der erweiterten funktionalen, gestalterischen und technologischen Aufbereitungsmöglichkeiten 6 keine alternative zeitliche oder örtliche Strukturierungsdimensionen. Gleichzeitig vereint der Online-Medienmarkt eine heterogenere Anbieter- und Angebotsstruktur, als die auf primär journalistische Vermittlung ausgerichteten klassischen Mediengattungen. Thematische Genres können in diesem wachsenden und zunehmend heterogenen Marktumfeld als zentrale Ordnungsebene fungieren und so einen strukturellen Beitrag zur Sicherung der Informationsfunktion der Medien 7 leisten. Die thematische Strukturierung des Online-Medienmarktes birgt jedoch aus forschungsmethodischen Gesichtspunkten zahlreiche neuartige Herausforderungen. 8
6
Vgl. Finnemann, Niels Ole: »Hypertext Configurations: Genres in Networked Digital Media«, in: Journal of the Association for Information Science and Technology (68) Nr. 4 (2017), S. 845-854, hier S. 850; Askehave, Inger/Nielsen, Anne Ellerup: »What are the Characteristic of Digital Genres? – Genre Theory from a Multi-Modal Perspective«, in: Proceedings of the 38th Hawaii International Conference on System Sciences 2005, S. 3.
7
Vgl. Hagen, Lutz/Kamps, Klaus: »Netz-Nutzer und Netz-Nutzung. Zur Rezeption politischer Informationen in Online-Medien«, in: Klaus Kamps (Hg.): Elektronische Demokratie. Perspektiven politischer Partizipation, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999, S. 209-226, hier S. 214.
8
Vgl. F. Zeller/J. Wolling: Struktur- und Qualitätsanalyse publizistischer Onlineangebote, S. 147; Neuberger, Christoph/Nuernbergk, Christian/Rischke, Melanie: »Journalismus neu vermessen«, in: Christoph Neuberger/Christian Nuernbergk/ Melanie Rischke (Hg.): Journalismus im Internet. Profession – Partizipation – Technisierung, Wiesbaden: Springer 2009, S. 197-230, hier S. 199; Kleinen-von Königslow, Katharina: »Publikumsfragmentierung in der Online-Nachrichtenumgebung«, in: Philipp Henn/Dennis Frieß (Hg.): Politische Online-Kommunikation: Voraussetzungen und Folgen des strukturellen Wandels der politischen Kommunikation, Berlin: Digital Communication Research 2016, S. 253-278, hier S. 253; Stark, Birgit: »Fragmentierung Revisited – eine theoretische und methodische Evaluation im Internetzeitalter«, in: Wolfgang Seufert/Felix Sattelberger (Hg.): Langfristiger Wandel von Medienstrukturen. Theorie, Methoden, Befunde, Baden-Baden: Nomos 2013, S. 199-218, hier S. 199; Oschatz, Corinna/Maurer, Marcus/Haßler, Jörg: »(R)Evolution in der Politikberichterstattung im Medienwandel? Die Inhalte von nachrichtenjournalistischen
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Dazu zählt die erschwerte Definition einer Grundgesamtheit, die sich aus der steigenden Zahl und Ausdifferenzierung der Medienangebote 9 und deren zunehmend personalisierter Ausspielung aus inhaltlicher sowie technischer (endgerätebezogener) Perspektive ergibt. Mangelnde (örtliche und zeitliche) Kriterien erschweren zudem deren Abgrenzung. 10 Ergänzt um die Non-Linearität und Vernetzung von Online-Medienangeboten stehen nur wenige Dimensionen zur Marktabgrenzung zur Verfügung, deren Gültigkeit zusätzlich durch die Flüchtigkeit der Inhalte und ganzer Medienanbieter begrenzt ist. 11 Zudem fehlen marktübergreifende Datensätze mit ausreichend hohen Fallzahlen über lange Zeiträume, die eine übergreifende Strukturierung der Medienangebote zulassen würden. 12 Empirische Analysen fokussieren daher bisweilen einzelne Markt-segmente oder Formate wie Weblogs und streben weniger eine umfassende Marktbetrachtung und -strukturierung an. 13 Im Online-Medienmarkt stehen sich die forschungsmethodischen Heraus-forderungen und die für die gesellschaftliche Meinungs- und Willensbildung wachsende Bedeutung und Notwendigkeit einer Strukturierung der Online-Medien gegenüber. Zur Deckung des daraus resultierenden Handlungsbedarfes wird ein me-
Online- und Offline-Angeboten im Vergleich«, in: M&K (62) Nr. 1 (2014), S. 25-41, hier S. 26ff. 9
Vgl. Jandura, Olaf/Kösters, Raphael: »Neue Medienumgebungen, andere Auswahlkriterien? Überlegungen zur Auswahl von Medienangeboten bei Inhaltsanalysen«, in: Publizistik (62) Nr. 1 (2017), S. 25-41, hier S. 28.
10
Vgl. F. Zeller/J. Wolling: Struktur- und Qualitätsanalyse publizistischer Online-angebote, S. 148.
11
Vgl. B. Stark: Fragmentierung Revisited, S. 199; Lange, Bernd-Peter: Medienwettbewerb, Konzentration und Gesellschaft. Interdisziplinäre Analyse von Medienpluralität in regionaler und internationaler Perspektive, Wiesbaden: Springer 2008, S. 180f.
12
Vgl. Seufert, Wolfgang: »Analyse des langfristigen Wandels von Medienstrukturen – theoretische und methodische Herausforderungen«, in: Wolfgang Seufert/Felix Sattelberger (Hg.): Langfristiger Wandel von Medienstrukturen. Theorie, Methoden, Befunde, Baden-Baden: Nomos 2013, S. 7-30, hier S. 19.
13
Vgl. Santini, Mariana: »Characterizing Genres of Web Pages: Genre Hybridism and Individualization«, in: Proceedings of the 40th Hawaii International Conference on System Sciences, Maui, Hawaii: O. V. 2007, S. 71-81; Herring, Susan/Scheidt, Lois Ann/Wright, Elijah/Bonus, Sabrina: »Weblogs as a bridging genre«, in: Information Technology & People (18) Nr. 2 (2005), S. 142-171.
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thodisches Vorgehen konzipiert und an informationsbasierten Online-Medienangeboten, die zentral der Wissensvermittlung dienen, 14 empirisch erprobt. Dies erfolgt unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Online-Medienmarktes und mithilfe eines aus der Genreforschung abgeleiteten anbieterbezogenen Klassifikationsansatzes. Auf diese Weise kann die Themenstruktur im deutschen OnlineMedienmarkt aufgedeckt und zusätzlich Erkenntnisse zur strukturellen Vielfalt abgeleitet werden. 15
2. GENREKLASSIFIKATION Genres, die der Wortherkunft folgend eine Art oder Gattung beschreiben, 16 werden im Medienmarkt dominierend aufgrund ihrer Strukturierungsqualität verwendet. 17 Als »classifying statements« 18 bilden sie einen konzeptionellen Rahmen um heterogene (Angebots-)Einheiten zu strukturieren. 19 Die Konzeptualisierung des Genre-Begriffs variiert jedoch je nach Wissenschaftsdisziplin zumeist im Spannungsfeld zwischen einer thematischen und formatbezogenen Ausrichtung. 20 Dem methodischen Vorgehen für den deutschen Online-Medienmarkt liegt als einendes Charakteristikum die thematische Ausrichtung der Medienangebote zugrunde: Auf diese Weise können Medienangebote in zueinander heterogene, aber in sich homogene themenspezifische Genres strukturiert werden. Je nach Mediengattung existieren differierende Genres, die – neben gesellschaftlichen Entwicklungen –
14
Vgl. Brandl, Annette: Webangebote und ihre Klassifikation. Typische Merkmale aus
15
Vgl. C. Rossmann/A. Brandl/H. Brosius: Der Vielfalt eine zweite Chance?, S. 427.
16
Vgl. Rosmarin, Adena: The Power of Genres, Minnesota: University of Minnesota
17
Vgl. Crowston, Kevin: Internet genres, Syracuse: O. V. o. J., S. 3; Shepard, Mi-
Experten- und Rezipientenperspektive, München: R. Fischer 2002, S. 36.
Press 1985, S. 23. chael/Watters, Carolyn: Identifying Web Genre: Hitting A Moving Target. Halifax, Nova Scotia: O. V. 2004. 18
A. Rosmarin: The Power of Genres, S. 24.
19
Vgl. N. Finnemann: Hypertext Configurations, S. 845.
20
Vgl. Yates, Jo Anne/Orlikowski, Wanda: »Genres of Organizational CommunicaåAcademy of Management Review (17) Nr. 2 (1992), S. 299-326, hier S. 301; K. Crowston: Internet genres, S. 3; N. Finnemann: Hypertext Configurations, S. 849; Kanaris, Ioannis/Stamatatos, Efstathios: »Learning to recognize webpage genres«, in: Information Processing and Management (45) Nr. 4 (2009), S. 499-512, hier S. 499.
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stets durch neue Mediengattungen, erweiterte technologische Möglichkeiten 21 sowie die aus methodischer Sicht eingenommene Perspektive zur Formulierung und Zuordnung der Genres selbst beeinflusst werden. Denn Genres können methodisch sowohl aus der Perspektive der Medienanbieter oder -nutzer als beteiligte Akteure formuliert und zugeordnet werden 22 sowie alternativ akteursunabhängig auf Basis konkreter Medieninhalte (Abbildung 1). Abbildung 1: Methodische Vorgehensweisen zur Genreklassifikation Genreklassifikation
akteursabhängig
akteursunabhängig
Anbieter:
Nachfrager:
Medieninhalte:
Selbstklassifikation
Nutzerklassifikation
Fremdklassifikation
Quelle: Eigene Darstellung
Werden Medienanbieter einbezogen, handelt es sich um eine Selbstklassifikation der eigenen Medienangebote. Da die Erstellung der Medieninhalte und die Formulierung sowie Zuordnung thematischer Genres in einer Hand liegen, kann von einer Expertenklassifikation gesprochen werden, die auf dem größtmöglichen Verständnis der zugrundeliegenden Medieninhalte basiert. Sofern nicht auf bereits tradierte Genreformulierungen zurückgegriffen wird, kann es zu diffusen, nichtübergreifenden Genrebegriffen kommen. Gleichzeitig kann nur erschwert nachvollzogen werden, wie die Zuordnung der Medienangebote zu den thematischen Genres erfolgt. Neben einer Selbstklassifikation durch Medienanbieter können
21
Vgl. Yates, Jo Anne/Orlikowski, Wanda/Rennecker, Julie: »Collaborative Genres for Collaboration: Genre Systems in Digital Media«, in: Proceedings of the Thirtieth Annual Hawaii International Conference on System Sciences, Maui, Hawaii: O. V. 1997, S. 50-59, hier S. 51; J. Yates/W. Orlikowski: Genres of Organizational Communication, S. 299; Erickson, Thomas: »Social Interaction on the Net: Virtual Community as Participatory Genre«, in: Proceedings of the Thirtieth Annual Hawaii International Conference on System Sciences, Maui, Hawaii: O. V. 1997, S. 13-21, hier S. 15.
22
Vgl. A. Brandl: Webangebote und ihre Klassifikation, S. 21ff.
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ebenfalls Mediennutzer Medienangebote kategorisieren. Eine nutzerseitige Zuordnung kann zum einen als subjektive Einschätzung im Rahmen einer Befragung erfolgen oder zum anderen durch die Beobachtung und Reflektion des individuellen Nutzungsverhaltens. Als zusätzliche, dritte Möglichkeit können durch Rückgriff auf die Medienangebote selbst und deren inhaltsanalytische Betrachtung thematische Genres formuliert und zugeordnet werden. Im Rahmen einer Inhaltsanalyse können dabei zusätzlich detaillierte Subgenres entwickelt werden. Jedoch erschwert vor allem der verstärkt modulare Aufbau von Online-Medienangeboten eine überschneidungsfreie Zuordnung. 23 Gleichzeitig kann ein akteursabhängiges Vorgehen durch den Einfluss des übergreifenden Marken-bildes oder eine verzerrte Selbstwahrnehmung subjektive Ergebnisse hervor-bringen. Die erschwerte überschneidungsfreie Strukturierung in Genres führt nicht zuletzt zu inhaltlich und numerisch differierenden Genrevorstellungen. 24 Da im OnlineUmfeld die Werbefinanzierung eine exponierte Erlösquelle bildet, könnten Medienangebote zusätzlich aus kommerzieller Erwünschtheit im Sinne verstärkter Werbevermarktungschancen einem thematischen Genre zugeordnet werden. Dem gegenüber steht jedoch das für mediale Reichweite zentrale Erfolgskriterium, Medienangebote und -inhalte auffinden zu können. Medien-anbieter streben danach, thematische Genres möglichst nachvollziehbar für den Rezipienten zu formulieren und zuzuordnen, um gleichzeitig auch für Suchmaschinen bestmöglich auffindbar zu sein. 25 Als Intermediäre und Multiplikatoren haben Suchmaschinen so eine überwachende Funktion und wirken sich positiv auf die Objektivität einer anbieterbezogenen Genreklassifikation aus.
23
Vgl. Rosso, Mark: Using Genre to Improve Web Search. Unveröffentlichte Dissertation, Chapel Hill 2005, S. 116.
24
Vgl. Görlach, Manfred: Text Types and the History of English, Trends in Linguistics. Studies and Monographs 139, New York: Mouton de Gruyter 2004, S. 13f; K. Crowston: Internet genres, S. 17f.
25
Vgl. A. Brandl: Webangebote und ihre Klassifikation, S. 30.
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3. METHODISCHES VORGEHEN 3.1 Forschungsleitende Prämissen und Datenbasis Zwei forschungsleitende Prämissen bilden den Rahmen zur Abgrenzung der Grundgesamtheit und prägen zusammen mit der, der empirischen Anwendung zugrundeliegenden, Datenbasis das methodische Vorgehen. So stehen erstens Medienangebote im Fokus, deren Kernaufgabe in der Vermittlung von Informationen liegt und die sich an der gesellschaftlich relevanten – und rechtlich im Rundfunk normierten – Wissensfunktion anlehnen. 26 Die Untersuchung stellt damit analog zu existierenden Strukturanalysen aus dem Rundfunk massenmedial-ausgerichtete Online-Medienangebote in den Fokus. Als zentral der Wissensvermittlung dienend können sie als informationsbasierte Online-Medienangebote bezeichnet werden. Im Kontrast dazu existieren ebenfalls Angebote, die sich mit alternativen digitalen Geschäftsmodellen etabliert haben und exemplarisch auf den elektronischen Verkauf von Waren (Commerce) oder den kommunikativen Austausch in sozialen Netzwerken (Connection) ausgerichtet sind. 27 Zweitens können dem anbieterbezogenen Klassifikationsansatz folgend zur Formulierung von Genres ausschließlich Medienangebote auf der Ebene von Einzelseiten einbezogen werden (s. g. Einzelangebote). Allein diese weisen im Kontrast zu ihrem zugehörigen Gesamtangebot (z. B. FAZ.de) eine spezifische thematische Ausrichtung in den anbieterseitig bereitgestellten Informationen des Angebotsnamens auf (z. B. FAZ.de/politik). Die anbieterseitig vergebenen Themenausrichtungen der Medienangebote bilden damit die Grundlage der induktiven Genrebildung und nicht einende Elemente konkreter Medieninhalte (einzelne Artikel, Überschriften, Meinungen, Einstellungen). Das methodische Vorgehen zur induktiven Genrebildung ist auf informationsbasierte Einzelangebote ausgerichtet. Diese müssen als Grundgesamtheit aus den der Genrebildung zugrundeliegenden Medienangeboten der Sekundärdaten abgegrenzt werden. Die Sekundärdaten bilden die Grundlage und gleichzeitig individuelle Anforderungen an die Abgrenzung der Grundgesamtheit und die sich anschließende methodische Konzeptionierung der induktiven Genrebildung. Die der
26
Vgl. ebd., S. 36.
27
Vgl. Beck, Klaus: Das Mediensystem Deutschlands. Strukturen, Märkte, Regulierung, Wiesbaden: Springer 2012, S. 264; Marr, Mirko: »Das Internet als politisches Informationsmedium. Eine aktuelle Bestandsaufnahme«, in: Kurt Imhof/Roger Blum/ Heinz Bonfadelli/Otfried Jarren (Hg.): Demokratie in der Mediengesellschaft, Wiesbaden: Springer 2006, S. 261-284, hier S. 268.
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empirischen Umsetzung des methodischen Vorgehens zugrundeliegenden Sekundärdaten entstammen den Codeplänen der Media-Analyse IntermediaPlus. Konkret bilden die von 2014 bis 2016 in der Online-Tranche der IntermediaPlus als Metadaten geführten Angebotsnamen der Medienangebote den zugrundeliegenden Sekundärdatensatz. Die Online-Tranche stellt einen Teildatensatz der gattungsübergreifenden Media-Analyse dar. Diese erhebt Daten zur Mediennutzung der deutschsprachigen Bevölkerung und wird seit 2014 als crossmedialer Datensatz bestehend aus Audio, Plakat, Pressemedien, Tageszeitungen, Fernsehforschungspanel sowie OnlineAngeboten durch die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse e.V. (agma) veröffentlicht. 28 In der Online-Tranche werden jene Medienangebote berück-sichtigt, die buchbare Werbeflächen enthalten und deren Anbieter gleichzeitig Mitglieder der agma sind bzw. zu den für die Erhebung zuständigen Lizenznehmern der Arbeitsgemeinschaft Online Forschung (agof) gehören. 29 Folglich entstammen die im Sekundärdatensatz berücksichtigten Medienangebote größtenteils Anbietern, die institutionalisierte und vernetzte Unternehmensstrukturen aufweisen. Zusätzlich ist eine Vielzahl bereits im Print- oder Rundfunkmarkt etablierter Medienanbieter in der Online-Tranche vertreten. Diese werden durch weitere Anbieter journalistischer und nicht-journalistischer Ausrichtung ergänzt, wobei letztere sich durch den digitalen Raum und neuartige digitale Geschäftsmodelle entwickelt haben. Die Sekundärdaten werden als zentrale Datenbasis in der Mediaplanung verwendet und sind sowohl bei Medienanbietern, Mediaagenturen und Vermarktern etabliert. Im Kontrast zu bisherigen Genre-Studien, die vor allem auf einzelne Teilmärkte wie Weblogs als Untersuchungsgegenstand ausgerichtet sind und lediglich eine Zeitpunktbetrachtung vorgenommen haben, 30 bietet die Online-Tranche eine in ihrer Repräsentanz und Marktabdeckung einzigartige und als Längsschnitt angelegte Datenbasis. Diese wird seit 2014 kontinuierlich erhoben und bildet die empirische Grundlage der Genreklassifikation. Die Medienangebote sind dabei
28
Vgl. agma (Hg.): ma IntermediaPlus, https://www.agma-mmc.de/media-analyse/maintermedia-plus/; mds (Hg.): ma IntermediaPlus, https://www.mds-mediaplanung.de/ studien/ma-intermedia/, Zugriff 10.05.2020.
29
Vgl. ebd.
30
Vgl. K. Crowston: Internet genres, S. 15f; M. Santini: Characterizing Genres of Web Pages; S. Herring/L. Scheidt/E. Wright/S. Bonus: Weblogs as a bridging genre; Herring, Susan/Scheidt, Lois Ann/Wright, Elijah/Bonus, Sabrina: »Bridging the Gap: A Genre Analysis of Weblogs«, in: Proceedings of the 37th Hawaii International Conference on System Sciences, Maui, Hawaii: O. V. 2004.
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für unterschiedliche Angebotsformen sowie auf unterschiedlichen Aggregationsebenen erfasst: Dazu zählen Gesamtangebote, die übergreifend sämtliche Einzelseiten einbeziehen, die dem Online-Auftritt einer Medienmarke zugeschrieben werden können. Auf niedrigster Ebene werden darüber hinaus Einzelseiten als Einzelangebote separat erfasst. Aus dem umfassenden Sekundärdatensatz einerseits und dem spezifischen, auf informationsbasierte Einzelangebote ausgerichteten Forschungsinteresse andererseits entsteht die Notwendigkeit, die Grundgesamtheit geeignet abzugrenzen. Das der Abgrenzung der Grundgesamtheit zugrundeliegende Vorgehen und der daraus entstehende neuartige Primärdatensatz bilden die Basis der methodischen Entwicklung und empirische Anwendung der induktiven Genrebildung. 3.2 Abgrenzung der Grundgesamtheit Die Abgrenzung der Grundgesamtheit basiert auf einem zweistufigen Vorgehen, das durch Anreicherung von Primärdaten den Sekundärdatensatz auf die für das Forschungsinteresse relevanten Angebotseinheiten eingrenzt. So gilt es, zunächst eine Strukturierung nach und Abgrenzung auf Einzelangebote innerhalb des Sekundärdatensatzes vorzunehmen. Im zweiten Schritt werden die identifizierten Einzelangebote anhand dem ihnen zugrundeliegenden Geschäftsmodelltyp auf informationsbasierte Einzelangebote abgegrenzt (Abbildung 2). Abbildung 2: Zweistufiges Vorgehen zur Abgrenzung der Grundgesamtheit Medienangebote der IntermediaPlus Online-Tranche (2014-2016) 1. Angebotsform Gesamtangebote
Einzelangebote
Kombinationen
Sonstiges
2. Geschäftsmodelltyp Commerce Connection
Content
Context
Spiele
Informationsbasierte Einzelangebote (N) Quelle: Eigene Darstellung
Mit der Abgrenzung nach der Angebotsform wird den aus struktureller Sicht dispersen, hierarchisch gegliederten und vernetzten Medienangeboten Rechnung getragen. Dabei wird zentral zwischen Gesamtangeboten und deren Unterseiten, die
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als Einzelangebote bezeichnet werden, differenziert. Zusätzlich werden Kombinationen als aggregierte Medienangebote und sonstige Angebote, die unter anderem Medienangebote von Vermarktern beinhalten, separiert. Die Angebotsformen lassen sich auf Basis der in den Angebotsnamen vorhandenen Merkmalsinformationen (wie exemplarisch »Gesamt« als Indikator für Gesamtangebote) voneinander abgrenzen. Dabei ermöglichen die Namensbestandteile der Medienangebote eine eindeutige Zuordnung zu einer der definierten Angebotsformen. Im Kontrast zu der Zuordnung zu Gesamtangeboten werden Angebotseinheiten den Einzelangeboten zugeordnet, sofern sie im oder am Ende des Angebotsnamens neben dem übergreifenden Markennamen zusätzlich eine thematische Ausrichtung bzw. Unterseite anführen (z. B. FAZ.de/politik). In der Online-Tranche werden zudem auf höher aggregierter Ebene Gesamtangebote nicht isoliert, sondern im Verbund als Kombinationen ausgegeben. Sofern ein Angebotsname den Wortbestandteil »Kombi« beinhaltet, wird dieser als Kombination codiert. Die Angebotsformen Gesamtangebote, Kombinationen und Sonstiges werden aufgrund ihrer für das Forschungsinteresse zu hohen Aggregationsebene nicht in die Betrachtung einbezogen. Die Medienangebote, die in der Online-Tranche berücksichtigt werden, schließen den Rahmenbedingungen im Online-Medienmarkt folgend, heterogene Geschäftsmodelltypen ein. Diese gilt es im zweiten Schritt auf informations-basierte Angebote zu verdichten. Da im Angebotsnamen keine Indikatoren zur Geschäftsmodellstrukturierung vorliegen, werden die identifizierten Einzel-angebote des Sekundärdatensatzes um Primärdaten zu deren Geschäftsmodelltyp erweitert. Zur Identifikation wird auf die angebotszentrierte Geschäftsmodell-typologie für Online-Medien zurückgegriffen: 31 Die angebotszentrierten Geschäftsmodelltypen sind in der Vergangenheit bereits in der Breite angewendet und auch im Vergleich zur alternativen kundennutzenorientierten Sichtweise 32 in jüngsten Forschungsarbeiten dominierend eingesetzt. 33 Auf Basis des Leistungsangebots wird dabei eine
31
Vgl. Wirtz, Bernd: Electronic Business. 6. Aufl., Wiesbaden: Springer 2018, S. 307ff.
32
Vgl. Kollmann, Tobias: E-Business. Grundlagen elektronischer Geschäftsprozesse in der Net Economy. 4. Auflage, Wiesbaden: Springer 2011, S. 38f.
33
Vgl. Neuberger, Christoph/Lobigs, Frank: Die Bedeutung des Internets im Rahmen der Vielfaltssicherung. Gutachten im Auftrag der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich. Schriftenreihe der Medienanstalten (43), Berlin: Vistas 2010, S. 164; Küng, Lucy: »The Internet’s impact on incumbent media firms: a management perspective«, in: M&K Medien und Kommunikationswissenschaft (49) Nr. 2 (2001), S. 218-226, hier S. 223.
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Differenzierung der Medienangebote gemäß ihrem Angebotszweck in die Segmente Commerce, Connection, Content und Context vorgenommen. Für die Anreicherung der Einzelangebote um deren Geschäftsmodelltyp wird auf Nutzungsdaten der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern (IVW) zurückgegriffen. So sind die im Sekundär-datensatz vorhandenen Gesamtangebote der Medienanbieter ebenfalls beim IVW gelistet, die gleichzeitig mit einer Selbst-Einordnung der jeweiligen Medien-angebote in ein IVW-spezifisches Kategoriensystem verbunden ist. 34 Kumuliert gibt der IVW monatlich die Reichweiteninformationen je inhaltlicher Kategorie für jedes vorliegende Gesamtangebot aus. Neben Dimensionen wie Sprache, Format oder Erzeuger und den dahinterliegenden Sub-Kategorien, wird eine Einordnung der Gesamtangebote aus einer inhaltlichen Perspektive gefordert: Diese basiert auf Sub-Kategorien, die analog zu den Geschäftsmodelltypen in E-Commerce (entspricht Commerce), Networking/Communication (entspricht Connection), Thema (entspricht Content) und Suchmaschine/Verzeichnisse (entspricht Context) unterteilt sind. Darüber hinaus wurde mit Spiele eine zusätzliche, separate Kategorie formuliert, die ebenfalls in weiteren Studien oftmals vorzufinden ist, obgleich sie in der Literatur dem E-Entertainment als Unterform des Content-Segments zugeordnet wird. 35 Zur engeren Abgrenzung der Medienangebote wird daher den anbieterbezogenen Geschäftsmodelltypen Commerce, Connection, Content und Context mit Spiele eine fünfte Kategorie hinzugefügt. Auf Basis der kumulierten Reichweiten der inhaltlichen Ausrichtungen eines Gesamtangebots gemäß IVW wird eine schwerpunktmäßige Zuordnung des zugehörigen (über identische Namensbestandteile identifizierbaren) Einzelangebots zu einem Geschäftsmodelltyp vorgenommen. Dazu werden die von der IVW erhobenen Reichweiten (Page Impressions) von Dezember 2014, 2015 und 2016 aggregiert, um kurzfristige Schwankungen inhaltlicher Ausrichtungen auszugleichen. Diese werden von den Gesamtangeboten auf die identifizierten Einzelangebote auf Basis der dominierenden Reichweitenzuordnung übertragen. Dieses Vorgehen erlaubt eine pragmatische und gleichzeitig in der Praxis anerkannte und intuitiv nachvollziehbare Strukturierung. Nicht zuletzt können die der Zuordnung zugrundeliegenden Daten der IVW retrospektiv seit 2002 öffentlich eingesehen werden, sodass auch im Hinblick auf die zukünftige Datennutzung ein nachhaltiges und nachvollziehbares Vorgehen entsteht.
34
Vgl. IVW (Hg.): Anlage 2 zu den Richtlinien für Online-Angebote. Kategorisierungssystem 2.0 für Digital-Angebote in der IVW, o. O.: O. V. 2014, S. 9.
35
Vgl. C. Neuberger/F. Lobigs: Die Bedeutung des Internets im Rahmen der Vielfaltssicherung, S. 170; B. Wirtz: Electronic Business, S. 223.
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3.3 Induktive Genrebildung Die Kategorienbildung zur Formulierung von Genres bildet einen methodischen Schwachpunkt bisheriger Forschungen: »How categories are defined…is an art. Little is written about it«. 36 Dabei kann zur Entwicklung thematischer Genres entweder deduktiv auf ein bereits bestehendes Kategoriensystem zurückgegriffen oder dieses alternativ induktiv aus der Grundgesamtheit heraus offen formuliert werden. Programmstrukturanalysen im Rundfunk basieren überwiegend auf bereits vordefinierten Kategoriensystemen, die auf vergangenen Studien oder etablierten Codeplänen aufbauen. Nur selten findet eine Auseinandersetzung mit den verwendeten Kategoriensystemen statt. 37 Ein deduktives Vorgehen führt unweigerlich zu einer starken Einflussnahme auf das Genreverständnis im Allgemeinen und die thematischen Vielfaltserkenntnisse im Speziellen. Es verwehrt so die Möglichkeit einen potentiellen Wandel von Genrevorstellung innerhalb der Gesellschaft zu dokumentieren und repliziert primär bestehende Genres. 38 Besonders für den Online-Medienmarkt scheint fraglich, inwieweit bereits bestehende Genrekategorien dem erweiterten Gestaltungsspielraum gerecht werden können. Denn vor allem dem Online-Umfeld wird die Fähigkeit zugeschrieben, etablierte GenreVorstellungen nachhaltig zu verändern. 39 Wesentlich ist dies auf die technologischen Möglichkeiten des modularen, multimedialen Seitenaufbaus, der interaktiven und individualisierten Ausgestaltung sowie der Verknüpfung von Inhalten über Hyperlink-Strukturen 40 zurückzuführen. Im Kontrast zu dem überwiegenden Teil bisheriger Studien zur Strukturierung von Medienangeboten wird nicht auf ein bestehendes Kategoriensystem zurückgegriffen. Die Genres werden unmittelbar aus den isolierten Namensbestandteilen
36
Krippendorff, Klaus: Content Analysis. An introduction to its methodology, London: Sage 1980, S. 76.
37
Vgl. Hohlfeld, Ralf/Gehrke, Gernot: »Wege zur Analyse des Rundfunkwandels. Leistungsindikatoren und Funktionslogiken im ›dualen Fernsehsystem‹«, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 101f.
38
Vgl. Rosso, Mark: »User-Based Identification of Web Genres«, in: Journal of the American Society for Information Science and Technology (59) Nr. 7 (2008), S. 10531072, hier S. 1054.
39
Vgl. K. Crowston: Internet genres, S. 10; T. Erickson: Social Interaction on the Net, S. 15.
40
Vgl. I. Askehave/A. Nielsen: What are the Characteristic of Digital Genres?, S. 3; C. Oschatz/M. Maurer/J. Haßler: (R)Evolution in der Politikberichterstattung im Medienwandel?, S. 28f.
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der informationsbasierten Einzelangebote selbst erschlossen, ohne dabei auf bereits bekannte Kategoriensysteme aus anderen Mediengattungen zurückzugreifen. 41 Das Vorgehen basiert auf der Annahme, dass Medienanbieter ihre Unterseiten intuitiv nachvollziehbar im Hinblick auf die thematische Ausrichtung benennen, um dem Nutzer größtmögliche Transparenz über die Inhalte zu bieten und gleichzeitig suchmaschinenoptimiert auffindbar zu sein. 42 Da sich die thematischen Ausrichtungen direkt aus den anbieterseitig bereitgestellten Informationen als Bestandteile der Angebotsnamen ableiten lassen, kann eine Verzerrung oder subjektive Beschreibung selbiger vermieden werden. Auf diese Weise wird nicht nur eine oftmals kritisierte methodische Schwäche der Genre-forschung aufgegriffen, sondern ebenfalls eine (losgelöst von bestehenden Genre-Vorstellungen) unvoreingenommene Analyse der informationsbasierten Online-Medienangebote ermöglicht. 43 Der durch die Abgrenzung der Grundgesamtheit entwickelte neuartige Datensatz informationsbasierter Einzelangebote (N) wird mithilfe einer zusammenfassenden Inhaltsanalyse ergründet. 44 Diese bezieht sich auf den Angebotsnamen der Einzelangebote. Obgleich die Angebotsnamen über die Medienangebote und den Untersuchungszeitraum hinweg variieren, lassen sich zentrale wiederkehrende Elemente identifizieren, die zumeist in folgender Reihenfolge den Angebotsnamen bilden und unterschiedlich miteinander verknüpft sind: »Name des Gesamtangebots«, »Name des Einzelangebots«, optional »Name eines Suban-gebots« sowie seit 2016 die »Ausspielungsart«. Die Namen der Einzelangebote (exemplarisch Wirtschaft oder Politik) bilden die Text- und Analyseeinheit, da sie Aufschluss über die thematische Ausrichtung der Einzelangebote liefern können. Die wiederkehrende Logik im Aufbau der Angebotsnamen nutzend, werden die relevanten Namensbestandteile in Excel teil-automatisiert aus den Angebotsnamen extrahiert. Sie bilden als isolierte Namen aller informations-basierten Einzelangebote die Grundlage für die zusammenfassende Inhalts-analyse und gleichzeitig den ersten Schritt eines dreistufigen Vorgehens zur induktiven Genrebildung (Abbildung 3).
41
Vgl. Mayring, Phillip: Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, 12. überarbeitete Auflage, Weinheim, Basel: Beltz 2015, S. 84.
42
Vgl. A. Brandl: Webangebote und ihre Klassifikation, S. 30.
43
Vgl. F. Zeller/J. Wolling: Struktur- und Qualitätsanalyse publizistischer Online-ange-
44
Vgl. P. Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 69-90.
bote, S. 145; P. Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 51.
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Abbildung 3: Dreistufiges Vorgehen zur induktiven Genrebildung Informationsbasierte Einzelangebote (N) 1. Extrahierung der Namensbestandteile der Einzelangebote Isolierte Namen aller informationsbasierten Einzelangebote 2. Zweistufige Formulierung: Eingrenzung und Bereinigung Thematische Ausrichtungen 3. Dreistufige Zuordnung: Doppelte Ausrichtungen, Revision und vollständige Zuordnung Thematische Genres informationsbasierter Einzelangebote Quelle: Eigene Darstellung
Basierend auf den isolierten Namensbestandteilen wird im zweiten Schritt eine zweistufige Formulierung zu thematischen Ausrichtungen vorgenommen. Diese erfolgt auf Basis der am häufigsten wörtlich identisch vorkommenden Namensbestandteile innerhalb der Grundgesamtheit. Bevor diese als thematische Ausrichtungen zur weiteren Zuordnung der übrigen isolierten Namensbestandteile genutzt werden, müssen sie zunächst auf ihre thematische Aussagekraft hin überprüft und jene aus der weiteren Betrachtung ausgeschlossen werden, die nicht einer thematischen Umschreibung des Medienangebots dienen. Dazu zählen Einzelangebote, deren Namensbestandteile vielmehr ihre hierarchische Position im Gefüge des gesamten Medienmarkenauftritts umschreiben, einen Markennamen oder sonstige unspezifische Namensbestandteile enthalten, die keine Indikation einer thematischen Ausrichtung zulassen (z. B. Homepage). Die am häufigsten vorkommenden, bereinigten Namensbestandteile bilden als bewusste Auswahl die thematischen Ausrichtungen. Im dritten Schritt der induktiven Genrebildung wird eine sukzessive Zuordnung aller Einzelangebote der Grundgesamtheit unter einer ggf. vorzunehmenden Revision der thematischen Ausrichtungen angestrebt. Die Zuordnung zu einer thematischen Ausrichtung findet auf Basis der Namensbestandteile und ihrer semantischen Nähe zu den bereits vorhandenen thematischen Ausrichtungen statt. Vereint ein Namensbestandteil zwei unterschiedliche thematische Ausrichtungen, erfolgt eine Zuordnung auf Basis des im Namensbestandteil erstgenannten Begriffes. Dazu sollen zunächst alle mindestens doppelt genannten Namensbestandteile
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den thematischen Ausrichtungen zugeordnet werden. Durch diese zwischenzeitliche Einengung der Untersuchungseinheiten um jene Angebotseinheiten, die lediglich einmalig genannt wurden, kann eine mögliche Verzerrung bei der endgültigen Formulierung sowie Zuordnung zu den thematischen Genres verhindert werden.45 Gleichzeitig erfolgt eine Revision und optionale Anpassung der thematischen Ausrichtungen entsprechend ihrer Passung und Relevanz zu den isolierten Namensbestandteilen. Auf diese Weise kann eine einheitliche und übergreifende Zuordnung auf der einen sowie eine trennscharfe Formulierung der thematischen Genres auf der anderen Seite sichergestellt werden. Schlussendlich findet eine vollständige Zuordnung aller isolierten Namensbestandteile der Einzelangebote zu den thematischen Genres statt.
4. EMPIRISCHE ANWENDUNG 4.1 Abgrenzung der Grundgesamtheit Den Ausgangspunkt der empirischen Anwendung des methodischen Vorgehens bildet der Sekundärdatensatz von insgesamt 13.588 Angebotseinheiten und ihren als Metadaten geführten Angebotsnamen der Online-Tranche der IntermediaPlus von 2014 bis 2016. Gemäß dem methodischen Vorgehen wurden diese zunächst nach ihrer Angebotsform klassifiziert und abgegrenzt. Im Sekundärdatensatz konnten dabei neben Gesamt- und Einzelangeboten auch Kombinationen (Verbund mehrere Angebotseinheiten) identifiziert werden. Darüber hinaus wurden unter Sonstiges dominierend Angebotseinheiten von Vermarktern erfasst (siehe Abbildung 4). Einzelangebote stellen die häufigste Angebotsform im Sekundärdatensatz dar und umfassen über die Hälfte aller Angebotseinheiten (54,50 %). Dem folgen Gesamtangebote (29,45 %) sowie nachrangig Kombinationen und Sonstiges (kumuliert 16,05 %). Auf diese Weise können insgesamt 7.406 Einzelangebote der Online-Tranche von 2014 bis 2016 identifiziert werden, die die Grundlage für die zweite Stufe der Abgrenzung der Grundgesamtheit nach dem Geschäftsmodelltyp bilden.
45
Vgl. P. Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse, S. 90.
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Abbildung 4: Verteilung der Angebotseinheiten nach ihrer Angebotsform 8000 7406 7000
6000
5000 4002 4000
3000
2000 1255 925
1000
0 Einzelangebote
Gesamtangebote
Kombinationen
Sonstiges
Quelle: Eigene Darstellung
Die Abgrenzung nach dem Geschäftsmodelltyp erfolgt gemäß dem formulierten methodischen Vorgehen anhand der anbieterzentrierten Geschäftsmodelltypen Connection, Content, Context und Commerce. Erweitert werden diese um den Geschäftsmodelltyp Spiele, um eine enge Abgrenzung auf allein informationsbasierte Einzelangebote zu ermöglichen. Zusätzlich wird eine offene Kategorisierungsmöglichkeit geschaffen, sofern Angebotseinheiten keinem Geschäftsmodelltypen zugeordnet werden können (u. a. aufgrund einer fehlenden Datengrundlage). Ausgangspunkt der zweiten Abgrenzung sind 7.406 Einzelangebote, die indirekt über ihre zugehörigen Gesamtangebote und deren inhaltliche Ausrichtungen gemäß eigens vorgenommener Kategorisierung im Rahmen der IVWMitgliedschaft von 2014 bis 2016 strukturiert wurden (siehe Abbildung 5).
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Abbildung 5: Verteilung der Einzelangebote nach ihrem Geschäftsmodelltyp 8000
7000
6000
5729
5000
4000
3000
2000 927 1000 431 152
88
79
Connection
Spiele
Context
0 Content
Commerce
nicht vorhanden
Quelle: Eigene Darstellung
Die Abgrenzung anhand der Geschäftsmodelltypen offenbart, dass informationsbasierte Medienangebote innerhalb der zugrundeliegenden Einzelangebote deutlich dominieren. Sie machen über Dreiviertel aller in die empirische Untersuchung einbezogenen Angebotseinheiten aus (77,36 %). Nach Ihrer absteigenden Häufigkeit geordnet, entfallen des Weiteren lediglich 431 Medienangebote (5,82 %) auf Commerce sowie weitere 152 Angebote auf das Geschäftsmodell Connection (2,05 %). Spiele (88 Angebote) und Context (79 Angebote) machen jeweils rund ein Prozent aller Einzelangebote aus. Von ursprünglich 13.588 Angebotseinheiten kommerzieller deutscher Online-Medienangebote für 2014 bis 2016 konnten in einer zweistufigen Abgrenzung zunächst 7.406 Einzelangebote und schließlich 5.729 informationsbasierte Einzelangebote identifiziert werden (42,16 % des Sekundärdatensatzes), die als Grundgesamtheit (N) in die induktive Genrebildung einfließen.
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4.2 Induktive Genrebildung Den Ausgangspunkt der induktiven Genrebildung stellen die isolierten Namensbestandteile der 5.729 informationsbasierten Einzelangebote (N) dar. Diese wurden zunächst bei wörtlich identischen Nennungen konsolidiert und nach der Häufigkeit ihres Vorkommens geordnet. Die Grundgesamtheit verteilt sich dabei auf insgesamt 1.213 unterschiedliche Namen der Einzelangebote. Auffällig ist, dass sich eine hohe Anzahl von Einzelangeboten auf nur wenige unterschiedliche Namensbestandteile verteilt (siehe Abbildung 6). Weniger als fünf Prozent der Angebotsbeschreibungen (insgesamt 49 von 1.213 Namensbestandteile) decken bereits über 50 Prozent aller informationsbasierten Einzelangebote ab. Die informationsbasierten Einzelangebote konzentrieren sich damit auf eine geringe Anzahl isolierter Namensbestandteile und werden gleichzeitig durch eine Vielzahl individueller, nur selten bzw. einmalig genannter Einzelangebotsnamen ergänzt. Diese zum einen hoch konzentrierte und gleichzeitige ausdifferenzierte Verteilung wird in Abbildung 6 deutlich. Sie stellt einen Ausschnitt der Namens-bestandteile nach ihrer kumulierten Häufigkeit dar und weist eine für Online-Märkte charakteristische Verteilung auf. 46 In der Abbildung sind nur jene Namensbestandteile aufgeführt, die mindestens zwanzigfach in der Grundgesamtheit vertreten sind ( 20). Die am häufigsten vorkommenden Namensbestandteile der Einzelangebote beziehen sich auf-steigend auf die Bereiche Politik und Video (92 Nennungen), Wirtschaft (96 Nennungen), Lifestyle (102 Nennungen), Auto (106 Nennungen) sowie Sport (194 Nennungen) und Homepage (634 Nennungen). Die Gesamtverteilung offenbart vier zentrale Konzentrationsabfälle. Diese sind in der Abbildung, losgelöst von den zwei am häufigsten genannten Angebotsbeschreibungen, durch Linien grafisch verdeutlicht und unterteilen die isolierten Namensbestandteile der Einzelangebote in drei Abschnitte: Mit den zwei dominierenden Angebotsbeschreibungen Homepage und Sport zunächst die am häufigsten vorkommenden isolierten Namensbestandteile, die bis einschließlich Politik bzw. Video reichen (erster Abschnitt von links). Den zweiten Abschnitt bilden mit 78 bis 48 Nennungen die Angebotsbeschreibungen von Ratgeber bis einschließlich Nachrichten bzw. Panorama. Nachgelagert werden die bisweilen mehrmals genannten Namensbestandteile von Site (39 Nennungen) bis einschließlich Games, Immobilien bzw. Magazin (20 Nennungen) als dritter Abschnitt zusammengefasst. Sämtliche folgende, insgesamt 1.175 isolierte
46
Vgl. Elberse, Anita: Das Märchen vom Long-Tail, in: Harvard Business School Publishing Nr. 8 (2008), S. 32-44, hier S. 34; Anderson, Chris: The long tail: Why the future of business is selling less of more, New York: Hyperion 2006.
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Namen der Einzelangebote können als thematisch ausdifferenzierte Nischenangebote bezeichnet werden und decken kumuliert 53,38 % aller Einzelangebote ab. Abbildung 6: Mindestens zwanzigfach genannte Namensbestandteile 634 630 200 110 100
194 106 102 96 92 92
90 80
78 71 70
70
65 63 62 61 61 61 60
60
56 56 55 49 48 48
50
39
40
33 32
30
29 29 28 26 24 24 23 23 21 20 20 20
20 10 Homepage Sport Auto Lifestyle Wirtschaft Politik Video Ratgeber Reise Kultur Berlin Videos Unterhaltung Digital News Spiele Wissen Gesundheit Regional Finanzen Reisen Nachrichten Panorama Site Forum Familie Community Geld Bundesliga Karriere Beauty Fussball Newsletter Suche Unternehmen Games Immobilien Magazin
0
Quelle: Eigene Darstellung
Durch die Vielzahl der isolierten Namensbestandteile bei der gleichzeitigen Konzentration der Einzelangebote auf eine geringe Anzahl derer, würde eine gleichberechtigte Berücksichtigung aller 1.213 Namensbestandteile zu einer Verzerrung bei der Formulierung der thematischen Ausrichtungen und Genres führen. Daher wurden mit Blick auf die identifizierten Konzentrationsabfälle jene isolierten Namensbestandteile zunächst von der Formulierung der thematischen Ausrichtungen ausgeschlossen, die nicht den ersten drei Abschnitten zugerechnet werden können. Zur Formulierung der Genres bilden initial die um nicht-thematische Namensbestandteile abgegrenzten, in der Grafik aufgeführten (über zwanzigfach genannten) 33 häufigsten Angebotsbeschreibungen die thematischen Ausrichtungen. Diese wurden um nicht-thematische Namens-bestandteile wie Homepage und Video bereinigt, die zwei der fünf häufigsten isolierten Namensbestandteile darstellen. Bei ihnen handelt es sich um keine themen- oder inhaltsbezogenen Ausrichtungen, sondern vielmehr um struktur-hierarchische Beschreibungen (Homepage, Site)
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und gestaltungsbezogene Indikatoren (Video(s)). Aus den häufigsten Namensbestandteilen wurden neben Homepage und Site auch Video und Videos jeweils konsolidiert und zusammen mit Suche aus der Formulierung thematischer Ausrichtungen ausgeklammert. Als vorläufige Kategorien werden diese dennoch zum Zwecke einer weiteren Zuordnung der bis dato noch nicht weiter berücksichtigten Einzelangebotsnamen genutzt. Der dritte Schritt der induktiven Genrebildung fokussierte sich auf die Zuordnung der bisher nicht berücksichtigten Namensbestandteile zu den 33 häufigsten thematischen Ausrichtungen anhand ihrer semantischen Ähnlichkeit. Im Rahmen der Revision und kritischen Überprüfung der thematischen Ausrichtungen urden zudem inhaltlich identische Ausrichtungen konsolidiert. So sind synonyme thematische Ausrichtungen wie Reise und Reisen zu ersterem zusammengefasst. Gleichzeitig werden auch thematische Ausrichtungen konsolidiert, die eine starke inhaltliche Nähe aufweisen. Dies betrifft die thematisch verwandten aber hierarchisch unterschiedlichen Begriffe Fußball und Bundesliga (zu Fußball), gleichermaßen wie Berlin und Regional (zu Regional), Unternehmen und Wirtschaft (zu Wirtschaft) sowie Panorama und Kultur (zu Kultur). Telekommunikation und Computer werden Digital zugeordnet, Games zu Spiele, gleichermaßen wie Magazin und Ratgeber (zu Ratgeber) und Geld, das der thematischen Ausrichtung Finanzen zugeordnet wird. Darüber hinaus sind die eng miteinander verwandten thematischen Ausrichtungen Forum und Community zu ersterem zusammengeführt. Zudem ist die thematische Ausrichtung Beauty revidiert und unter anderem zusammen mit Mode und Fashion zur thematisch breiteren Ausrichtung Stil zusammengefasst. Im Kontrast dazu wurde bewusst zunächst auf eine weitere Verknüpfung der Kategorien Nachrichten und News verzichtet. Sport und Fußball bilden ebenfalls keine gemeinsame thematische Ausrichtung, da Fußball im unmittelbaren Vergleich zu anderen Sportarten in der Kategorie Sport eine exponierte Rolle einnimmt, die sich gleichzeitig in der gesellschaftlichen Beachtung widerspiegelt. Zudem werden mit Markenname und Sonstiges zwei nicht-thematische Ausrichtungen eingeführt, wobei letztere als offene Kategorie für jene Angebotsbeschreibungen fungiert, die auf keine thematische Ausrichtung schließen lassen oder die keiner thematischen Ausrichtung zugeordnet werden konnten. Die Kategorie Markenname umfasst jene Angebotsbeschreibungen, die sich auf markenspezifische Begriffe und Formate beziehen. Aus der Zuordnung aller Mehrfachnennungen und der gleichzeitigen Konsolidierung und Revision der thematischen Ausrichtungen sind 24 Genres induktiv formuliert. Diesen sind schließlich die bislang nicht berücksichtigten 580 einfach genannten isolierten Namensbestandteile im letzten Schritt zugeordnet worden. Nicht-thematische Namensbestandteile ausgenommen sind damit 72,47 % aller Einzelangebote bei der Formulierung der thematischen Genres berücksichtigt worden.
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5. ERGEBNISSE Mittels induktiver Genrebildung konnten mit einem auf die Anforderungen des Online-Medienmarktes spezifisch abgestimmten methodischen Vorgehen 24 thematische Genres formuliert werden. Die Basis bildeten 5.729 informations-basierte Einzelangebote (N), die aus dem Sekundärdatensatz kommerzieller deutscher Online-Medienangebote von 2014 bis 2016 durch eine zweistufige Abgrenzung identifiziert werden konnten. Den thematischen Genres sind letztlich 72,47 % (4.152 Angebotsbeschreibungen) der in die Grundgesamtheit einbezogenen Einzelangebote in drei Schritten der induktiven Genrebildung zugeordnet. Da die übrigen 1.577 Einzelangebote keine thematische Ausrichtung aufwiesen, wurden sie entsprechend der Angebotsbeschreibung in nicht-thematische Kategorien wie Homepage und Video sowie darüber hinaus in Markenname und Sonstiges zusammengefasst. Tabelle 1 gibt einen Überblick über die identifizierten thematischen Genres und ihre absolute Häufigkeit innerhalb der Grundgesamtheit. Tabelle 1: Übersicht thematischer Genres Genre Digital
Sport
Lifestyle
Ratgeber
Finanzen
Wissen
Unterhaltung Regional
Kultur
Häufigkeit Beschreibung (absolut) 383 Angebote, die sich auf Hard- und Software sowie die Informationstechnik und -sicherheit thematisieren 304 Angebote, die sich übergreifend sportlichen Themen widmen oder auf spezifische Sportarten wie Formel 1, Motorsport, Handball ausgerichtet sind 270 Genre, das die Lebensqualität und Freizeit-, Liebesund Wohnthemen fokussiert und Personen der Öffentlichkeit thematisiert (Stars, Royals) 270 Bereitstellung thematisch breiter Service-informationen, Hinweise und Tipps; von Haushaltsthemen bis hin zu Testberichten 263 Hohe Konzentration finanz- und monetärer Themenaspekte, die spezifisch um Börsenaktivitäten, Versicherungen und Anlageformen ergänzt werden 241 Wissensrelevante Themen, die sich auf die Gesellschaft, Technik sowie Wissenschaftsdisziplinen (Physik, Astronomie, Geschichte) ausdehnen 240 Informationen rund um TV-Programm und -Serien, Kinofilme sowie weitere mediale Unterhaltungsformate (Quiz, Comedy, Satire) 218 Aus geografischer Dimension eingeschränkte Angebote, die sich auf die die Hauptstadt, Landeshauptstädte oder einzelne Stadtteile beschränkt 208 Gesellschaftliche, künstlerische und geografische Themen (Afrika, Asien etc.) sowie Natur- und Umweltthemen
Auswahl zugeordneter Namensbestandteile Computer, Digital, Downloads, Internet, Telekommunikation Basketball, Formel 1, Handball, Motorsport, Sport Freizeit, Leben, Lifestyle, Shopping, Stars Magazin, Meinung, Ratgeber, Service, Wetter Aktien, Anleihen, Finanzen, Fonds, Geld Bildung, Technik, Technologie, Wissen, Wissenschaft Entertainment, Kino, Musik, TV, Unterhaltung Hamburg, Berlin, Regional, Regionales, RheinMain Fotografie, Gesellschaft, Kultur, Medien, Panorama
Welche Genres existieren für Online-Medienangebote? | 35 Auto
Gesundheit Reise
Familie
Wirtschaft
Stil Spiele
Fußball
Karriere Politik Forum
Nachrichten News Immobilien Newsletter
196 Angebote rund um das Auto (Gebrauchtwagen, Tuning, Kauf), den Verkehr und Mobilität
Auto, Auto & Verkehr, Gebrauchtwagen, Motorrad, Mobilität 185 Themen, die das körperliche Wohlbefinden sowie Ernährung, Food, Gesund Prävention von Krankheiten adressieren, dazu leben, Gesundheit, Regehören vor allem Ernährungsinformationen zepte 165 Bereitstellung von Reise- und OutdoorinformatioFlüge, Hotels & nen (einschließlich Flügen und Hotels) Tourismus, Reise, Reisen, Städtereisen 157 Themen rund um die Familie, deren Gründung Baby, Eltern, Familie, (Schwangerschaft, Kinderwunsch, Kindererziehung, Kinderwunsch, SchwanElternrolle) und Erhalt (Hochzeit, Liebe) gerschaft 155 Informationen zu Wirtschaft, Unternehmen Business, Industrie, (u.a. auch dem Mittelstand) und Business Mittelstand, Unter-nehmen, Wirtschaft 137 Angebote, die sich mit Mode, Stil- und Schönheits- Beauty, Fashion, Mode, themen befassen Stil, Wohnen 128 Online- und Offline-Spiele, deren Hardware sowie Games, Gewinnspiele, Gewinnspiele Playstation, Spiele, Spielen 122 Fußball-Informationen, die sich im Kern stärker Bundesliga, 1. Bundesliga, spezifiziert auf die Bundesligen sowie nationale Champions League, DFBund internationale Wettbewerbe beziehen Pokal, Fußball 105 Themen rund um die Ausbildung, Beruf und Jobs, Beruf, Jobs, Karriere, den Bewerbungsprozess und Stellenmärkte Stellenmarkt, Studium 100 Genre, das sich mit politischen sowie ergänzend Politik, Politik & verwaltungsbezogenen Themen beschäftigt Verwaltung 99 Angebote, die einen themengeleiteten Austausch Anzeigenmarkt, Blogs, von Menschen oder Informationen ermöglichen Community, Forum, Rubrikenmarkt 81 Nachrichtenspezifische Formate (Magazin, Debatte, Aktuell, Aus aller Welt, Kolumnen, Auslandsreport) sowie Themen wie Debatte, Nachrichten, Wetter oder »Aus aller Welt« Topnachrichten 62 Mehrheitlich News im Allgemeinen, die eine hohe News, News und MagaBegriffskonzentration aufweisen zine 40 Immobilienbezogene Angebote (Immobilien, Eigentümer, Hausbau, ImImmobilienmarkt) mobilien, Immo-bilienmarkt, Umzug 23 Inhalte, die als Newsletter bereitgestellt werden Newsletter
Homepage
728 Kategorie, die sämtliche Startseiten der Grund-gesamtheit zusammenfasst
Markenname
471 Angebote, die sich auf einen konkreten Marken-namen (exemplarisch eine Rundfunk- oder Printmarke) beziehen 216 Sämtliche Einzelseiten, die keinem der obigen Genres oder zusätzlichen Kategorien zugeordnet werden konnten 162 Bewegtbild-Content-Angebote
Sonstiges
Video
Quelle: Eigene Darstellung
Home, Homepage, Startseite, Site, Subhomepage DSDS, Germanys Next Topmodel, GZSZ, Spiegel TV, TVTotal, Sonstiges, Suche
Video, Videos, Videoübersicht
36 | Céline Fabienne Kampes
Das Genre Digital ist mit 383 zugeordneten Einzelangeboten am Häufigsten vertreten. Dem folgen Angebote, die dem Genre Sport (304 Einzelangebote) zugeteilt werden können sowie die Genres Ratgeber und Lifestyle (je 270 Nennungen). Mit Finanzen, Wissen, Regional, Kultur, Wirtschaft, Politik und Nachrichten sowie News können acht Kategorien als für die politische Meinungsbildung und das demokratische Zusammenleben besonders bedeutende thematische Genres identifiziert werden. Diese machen knapp ein Viertel (23,18 %) der in die Untersuchung einbezogenen Einzelseiten aus. Trotz der globalen Ausrichtung des Online-Medienmarktes nehmen gleichzeitig Medienangebote, die thematisch als Regional beschrieben werden weiterhin eine wesentliche Rolle in der Themenvielfalt ein. Basieren diese Schlüsse auf dem Zusammenhang zwischen der Anzahl vorhandener Einzelangebote und einer linear korrespondierenden Nachfrage, gilt es doch auf Basis der formulierten Genres durch die Berücksichtigung von Reichweiteninformationen die nutzerbezogene Themenvielfalt empirisch zu überprüfen. Während in der Literatur dem Online-Medienmarkt das Potential zugeschrieben wird, etablierte Genre-Vorstellungen nachhaltig zu verändern, 47 liefert der vorliegende Befund aus anbieterbezogener Perspektive nur geringe Anhaltspunkte zur Unterstützung dieser These. Mit Blick auf die Grundgesamtheit informationsbasierter Einzelangebote ist nachvollziehbar, dass im Vergleich zu Programmstrukturanalysen im Rundfunk 48 oder dominierenden Ressorts im Printbereich 49 nur geringe Divergenzen der Genres ausgemacht werden konnten. Denn zum einen basiert die Formulierung der Genres auf Sekundärdaten, deren Fokus auf massenmedial-ausgerichteten Medienangeboten liegt. Damit werden verstärkt bereits die in den klassischen Mediengattungen etablierten Medien-akteure einbezogen. Zum anderen weisen Genres stets eine habitualisierte Komponente auf, die durch Rückgriff auf bestehende Genres anderer Medien-gattungen ebenfalls auf den Online-Medienmarkt ausstrahlt. Im Kontrast zu bisherigen Befunden klassischer Mediengattungen ist primär Digital als neuartiges, im Kontext des OnlineMedienmarktes entstandenes Genre abzugrenzen.
47
Vgl. K. Crowston: Internet genres, S. 10; T. Erickson: Social Interaction on the Net, S. 15.
48
Vgl. Krüger, Udo Michael/Zapf-Schramm, Thomas: »InfoMonitor 2016: Nachrichtenprofile langfristig stabil«, in: MediaPerspektiven (47) Nr. 2 (2017), S. 62-90; GöfaK (Hg.): Kontinuierliche Fernsehprogrammforschung der Medienanstalten. TVProgrammstichprobe 2017. Methodendokumentation, Berlin: Vistas 2018.
49
Vgl. C. Neuberger/F. Lobigs: Die Bedeutung des Internets im Rahmen der Vielfaltssicherung, S. 98.
Welche Genres existieren für Online-Medienangebote? | 37
Die identifizierten Genres variieren zusätzlich hinsichtlich ihres thematischen Abgrenzungsgrads sowie dem Detailgrad der thematischen Beschreibung. So handelt es sich bei den Genres Regional, Nachrichten und News um Querschnittskategorien, deren konkrete inhaltliche Ausrichtungen nicht durch den Genrebegriff per se deutlich werden. Handelt es sich um Nachrichten zu politischen Themen oder alternativ um Sportberichterstattung bleibt offen, während in Bezug auf das Genre Regional ausschließlich ein spezifisches geografisches Ausrichtungsgebiet identifiziert werden kann. Wird zunächst angenommen, dass sich die zugehörigen Einzelangebote primär auf gesellschaftsrelevante Themen beziehen, sollte in zukünftigen Untersuchungen die konkrete thematische Ausrichtung stichprobenartig durch eine Inhaltsanalyse der betreffenden Einzelangebote näher beleuchtet werden. Auffällig ist darüber hinaus die Vielzahl thematischer Ausrichtungen, die nur von wenigen bis hin zu singulären Einzelangeboten abgedeckt werden. Mit 1.124 isolierten Einzelangebotsnamen, denen initial weniger als zehn informationsbasierte Einzelangebote zugrunde lagen, haben sich zahlreiche Nischenthemen ausdifferenziert. Gepaart mit dem Konzentrationsgefälle der thematischen Ausrichtungen innerhalb der Grundgesamtheit entspricht dies der dem Online-(Medien-) markt zugesprochenen Marktstruktur als einer der Bedingungen einer Long-TailVerteilung. 50
6. FAZIT UND LIMITATIONEN Während Programmstrukturanalysen im Print- und Rundfunkmarkt verbreitet sind, wird eine umfassende Betrachtung und Beschreibung der Themenvielfalt für Online-Medienangebote kaum vergleichbar durchgeführt. Dies kann mit Blick auf das entwickelte methodische Vorgehen vor allem auf die strukturell schwer abund begrenzbare Menge an Medieninhalten zurückgeführt werden. Obwohl anders als im Rundfunkmarkt keine gesetzliche Verpflichtung zur Überwachung der Themenvielfalt gegeben ist, wächst die Dringlichkeit mit thematischen Genres eine zentrale Ordnungsebene zu bilden:
50
Vgl. A. Elberse: Long-Tail, S. 34; C. Anderson: The long tail.
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• Es existieren erweiterte Aufbereitungsmöglichkeiten 51 und gleichzeitig kaum
Dimensionen zur Strukturierung von Online-Medienangeboten. 52 • Im Vergleich zum Print- und Rundfunkmarkt wird eine heterogenere Anbieterund Angebotsstruktur vereint. • Der Markt für informationsbasierte Online-Medienangebote wächst und differenziert sich weiter aus. 53 • Online-Medienangebote werden verstärkt als Informationsquelle zur öffentlichen Meinungs- und Willensbildung herangezogen. 54 Zur Überwindung der daraus gleichermaßen entstehenden methodischen Herausforderungen wurde ein mehrstufiges Vorgehen entwickelt, das zentral die Abgrenzung der Grundgesamtheit sowie die induktive Genrebildung, bestehend aus der Formulierung der Genres und schließlich der Zuordnung der Grund-gesamtheit, umfasst. Im Kontrast zu bestehenden Programmstrukturanalysen konnten vor allem mithilfe der induktiven Genrebildung losgelöst von bereits existierenden Vorstellungen thematische Genres für den Online-Medienmarkt entwickelt werden. Dabei wurde deutlich, dass mit dem Genre Digital ein spezifisches Genre existiert, das die bisherigen Genrevorstellungen der klassischen Mediengattungen ergänzt. Gleichzeitig kann das Genrespektrum insgesamt als divers verstanden werden: So stehen sich die Themenpole der für die gesellschaftliche Meinungsbildung besonders relevanten Genres Finanzen, Kultur, Nachrichten, News, Politik, Regional, Wirtschaft und Wissen auf der einen sowie primär unterhaltungsorientierte Genres wie Forum, Fußball, Lifestyle, Reise, Spiele, Sport, Stil und Unterhaltung auf der anderen Seite gegenüber. Die im Rahmen der Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse zur strukturellen Vielfalt der informationsbasierten Online-Medienangebote basieren dabei auf der Anzahl vorhandener Einzelseiten und liefern erste wichtige Erkenntnisse auf Ebene der repräsentierten Themen. So wurde deutlich, dass knapp 25 % der informationsbasierten Einzelangebote eine für die politische Meinungsbildung hohe Relevanz zugesprochen werden kann, wohingegen die übrigen rund 75 % der informationsbasierten Medienangebote stärker unterhaltungsorientierte Themen adressieren. Gleichzeitig haben die thematischen Genres das Potential als Search-Engine-Optimization (kurz SEO)-Instrument eingesetzt die
51
Vgl. N. Finnemann: Hypertext Configurations, S. 850; I. Askehave/A. Nielsen: What are the Characteristic of Digital Genres?, S. 3.
52
Vgl. F. Zeller/J. Wolling: Struktur- und Qualitätsanalyse publizistischer Online-angebote, S. 147.
53
Vgl. O. Jandura/R. Kösters: Neue Medienumgebungen, S. 28.
54
Vgl. die medienanstalten: Netflix erstmals unter den Top 10.
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Auffindbarkeit von Online-Medienangeboten zukünftig bedarfsbezogen zu optimieren. 55 Einschränkend gilt, dass die der Untersuchung zugrundeliegenden Sekundärdaten zwar im Vergleich zu bisherigen Studien eine einzigartige Datenbasis darstellen, aber dennoch lediglich einen Ausschnitt des deutschen Online-Medienmarktes nachzeichnen. Dieser bezieht unter anderem ausschließlich kommerzielle Medienangebote ein. Darüber hinaus ist die Untersuchung in allen Schritten konsequent an einer anbieterbezogenen Sichtweise orientiert; sei es in Bezug auf die Zuordnung zu Geschäftsmodelltypen zur Bildung der Grund-gesamtheit oder im Rahmen der induktiven Genrebildung selbst. Auch die Ergebnisse können daher nur aus einer anbieterbezogenen Sichtweise heraus bewertet werden. Hier gilt es zukünftig sowohl aus inhalts- wie auch nutzer-bezogener Perspektive ergänzend thematische Genres im Online-Umfeld zu analysieren, um die aus der Selbstklassifikation der Anbieter formulierten thematischen Genres zu überprüfen. 56 Dennoch bilden das entwickelte methodische Vorgehen sowie dessen empirische Umsetzung erstmals einen marktumfassenden Angang, der sich nicht lediglich auf einzelne Subgattungen des Online-Medienmarktes (wie Weblogs) bezieht. Mit seiner forschungsmethodischen Ausrichtung ist nicht nur ein neuartiger methodischer Ansatz, sondern gleichzeitig ein erster Überblick über die vorherrschende Themenstruktur im Online-Medienmarkt gegeben, der zukünftig in weiteren Forschungen in seiner Aussagekraft ge- und bestärkt werden kann. So kann eine methodisch ergänzende deduktive Genrebildung den Untersuchungsergebnissen gegenübergestellt werden und vor allem eine integrierte Betrachtung von Reichweiteninformationen einerseits die nutzerbezogene Bedeutung einzelner Themen nachzeichnen sowie andererseits anbieterseitig themenbezogene Konzentrationstendenzen offenbaren. Um über die strukturelle Ordnungsfunktion der Genres hinaus ebenfalls – analog zum Rundfunkmarkt – Aussagen zur journalistischen Qualität der Online-Medienangebote vornehmen zu können, gilt es darüber hinaus auch die inhaltliche Vielfalt der Medienangebote stärker zu beleuchten.
55
Vgl. Kanaris/E. Stamatatos: Learning to recognize webpage genres, S. 499.
56
Vgl. A. Brandl: Webangebote und ihre Klassifikation, S. 34.
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Fahrer-Fahrzeug-Kommunikation in automatisierten, kooperativen Systemen Henrik Detjen
MENSCH-MASCHINE-KOMMUNIKATION Die Mensch-Maschine-Interaktion (kurz: MMI) ist eine Sonderform der Kommunikation. Hierbei ist einer der Interaktionspartner keine natürliche Person im ursprünglichen Sinne, sondern ein technologisches System. Die Art der Technologie reicht vom einfachen Taschenrechner, über die Touch-Displays am Fahrkartenautomaten bis hin zu menschenähnlichen Robotern und künstlichen Intelligenzen. Die Interaktion zwischen Mensch und Technik begründet ein eigenes Forschungsfeld, worunter wieder zahlreiche Forschungsgebiete subsumiert werden. Darunter auch das Feld der Fahrer-Fahrzeug-Interaktion (siehe Abbildung 1). Die Begriffe Kommunikation und Interaktion werden häufig synonym verwendet. Aber worin genau liegt der Unterschied zwischen Kommunikation und Interaktion? Die unpraktische Antwort lautet: Definitionssache. Unter Kommunikation versteht man in der Regel den Austausch von Gedanken und Absichten. Was ist dann jedoch Interaktion? Nonverbales Verhalten? Mögliche Unterscheidungskriterien nach Graumann 1 sind: Die Begriffsweite (Interaktion ist weiter gefasst), verbales vs. non-verbales Verhalten, Beziehung vs. Inhalt, Art der Sprache, Intention, oder ›Face-to-Face‹-Kontakt. In der empirischen Forschung werden die Begriffe jedoch gleichgesetzt. Frei nach Watzlawick, Beavin und Jackson 2: »Man
1
Graumann, Carl F.: Einführung in die Psychologie (Band 1), Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 1969.
2
Beavin, Janet H./Jackson, Don D./Watzlawick, Paul: Menschliche Kommunikation, Stuttgart: Hans Huber 1990.
46 | Henrik Detjen
kann nicht nicht kommunizieren. « ist in Interaktion immer auch Kommunikation enthalten. Abbildung 1: Fahrer-Fahrzeug-Interaktion im Kontext von Kommunikation
Computervermittelte Kommunikation Persönliche Kommunikation Mensch-Technik-Interaktion
Mensch
Fahrer-FahrzeugInteraktion
Technik
Mensch
Quelle: eigene Abbildung
Wenn es um die technische Kommunikation geht, wird oft die mathematische Theorie der Kommunikation von Shannon 3 zur Veranschaulichung herangezogen (siehe Abbildung 2). Dieses allgemeine Prozessmodell der Kommunikation, oft auch Kanalmodel genannt, eignet sich übrigens ebenso um die zwischenmenschliche Kommunikation zu beschreiben. In dem Modell steht korrekte Übertragung von Information im Fokus. Informationsquelle und -ziel tauschen Nachrichten über einen bestimmten Kanal miteinander aus. Die Quelle wählt den Kanal. Für einen Kanal braucht die Quelle den passenden Sender (Encoder) und das Ziel einen entsprechenden Empfänger (Decoder). Im Falle zwischenmenschlicher Kommunikation wäre der Sprechapparat des Sprechers der Transmitter, der Kanal die Luft (Schallwellen) und der Zuhörer würde mit seinen Ohren die Nachricht entschlüsseln. Hierbei kann es jedoch zu Störungen durch Störquellen kommen, z.B., wenn jemand Drittes dazwischen spricht oder wenn der durchs Fenster dringende Baustellenlärm von draußen den
3
Shannon, Claude E.: »A mathematical theory of communication«, in: Bell system technical journal 27 (1948), S. 379-423.
Fahrer-Fahrzeug-Kommunikation | 47
Sprechenden übertönt. Die Störung des Kanals, bzw. das Rauschen auf dem Kanal, wirkt sich negativ auf dem Informationsgehalt der empfangenen Botschaft beim Empfänger aus, weil wir z.B. nur die Hälfte verstanden haben. Die Qualität des Kommunikationskanals bemisst sich am Verhältnis von gesendeter Botschaft zu Rauschen und wird in der Informationseinheit bit gemessen. Abbildung 2: Lineares Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation 4 Nachricht (bit) Informationsquelle
Signal
Nachricht (bit)
Empfangenes Signal
Encoder
Decoder
Informationsziel
Rauschen Störquelle
Rückmeldung
Quelle: nach Shannon 5, eigene Abbildung
Bei der Mensch-Technik-Interaktion übernehmen sowohl Mensch als auch Maschine im Regelfall eine Doppelrolle in diesem Modell: So teilt die Maschine seinen aktuellen Systemzustand mit, ist somit Informationsquelle, und empfängt Eingabebefehle vom Menschen, ist somit Informationsziel. Die Kommunikation ist dabei auf gemeinsame Kanäle beschränkt. Um mit einer Maschine zu sprechen, muss diese über ein Mikrophon und eine Spracherkennungssoftware verfügen. Der Mensch besitzt eine begrenzte Anzahl von Sinnen und Interaktionsmöglichkeiten. Unser Empfang ist limitiert auf: Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Berühren, Gleichgewicht, Hitze, Kälte, Schmerz und weitere. Maschinen können diese Sinne und viele weitere mit Sensoren nachbilden und mit Aktoren aktiv interagieren. Oft wird bei der MMI der visuelle Kanal mit Unterstützung des Auditiven und Haptischen bedient, wie z.B. am klassischen Desktop-PC oder am Smartphone. Neben den Grundvoraussetzungen der MMI, der gemeinsamen Art des Kanals und der hohen Kanalqualität, ist der Inhalt der Botschaft jedoch von noch größerer Bedeutung. So kann die Maschine nicht einfach seinen Zustand im Binärformat auf einem Display anzeigen. Die Information muss vom Menschen korrekt interpretierbar sein. Umgekehrt muss die Maschine auch die Befehle des Menschen 4
Das Kästchen in der Mitte stellt den Kommunikationskanal dar.
5
C. E. Shannon: A mathematical theory of communication, S. 379-423.
48 | Henrik Detjen
korrekt interpretieren können, so tun sich heute z.B. einige Sprachassistenten schwer bei der Erkennung von Dialekten. Die richtige Gestaltung von Kanälen und Botschaften ist Aufgabe von Designern, Ingenieuren und Forschern im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion. Im Vordergrund steht dabei die effiziente, korrekte Übermittlung von Informationen mit möglichst wenig Interpretationsspielraum.
FAHRER-FAHRZEUG-KOMMUNIKATION Wie im vorherigen Kapitel gesehen, werden für gemeinsame Kommunikation in der MMI unterschiedliche Kanäle verwendet. Bei der Fahrer-FahrzeugInteraktion (kurz: FFI) werden klassischerweise drei Kanäle bedient: der visuelle, der auditive und der haptische. Abbildung 3 zeigt ein paar Beispiele für typische Sender und Empfänger. Abbildung 3: Kanalmodell der Fahrer-Fahrzeug-Interaktion
Fahrer
Fahrzeug Kommunikation
Encoder
Decoder
Encoder
Decoder
Gestik, Mimik, Blickverhalten, ...
Auge
Visueller Kanal
Display
Bildverarbeitung
Sprechapparat
Ohr
Auditiver Kanal
Lautsprecher
Sprachverarbeitung
Haptischer Kanal
Force Feedback
Gaspedal, Touchscreen, Drehregler, ...
Hand, Fuß, ...
Hand, Fuß, ...
Quelle: nach König 6, eigene Abbildung
6
König, Winfried: »Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion von Fahrerassistenzsystemen«, in Hermann Winner/Stephan Hakuli/Felix Lotz/Christina Singer (Hg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme: Grundlagen, Komponenten und Systeme für aktive Sicherheit und Komfort, Wiesbaden: Springer Vieweg 2015, S. 621632.
Fahrer-Fahrzeug-Kommunikation | 49
Hier sieht man die Doppelfunktion von Mensch und Maschine: Auf jedem Kanal wird empfangen und gesendet. Auf visueller Ebene können Informationen vom Menschen besonders schnell verarbeitet werden. So können Warnungen beispielsweise schneller über ein prägnantes Symbol wahrgenommen werden als wenn Sie durch eine Sprachausgabe im System vorgelesen würden. Dennoch ist es hilfreich, mehrere Kanäle zu bedienen, um so die Robustheit der Kommunikation zu erhöhen: Wenn der Fahrer gerade nicht auf die Anzeige schaut, kann ein Warnton helfen die Aufmerksamkeit dorthin zu lenken. Neben dem statischen Kanalmodell gibt es Modelle, die den Prozess der Kommunikation und beteiligte Komponenten im Fahrzeug beschreiben. Abbildung 4: Prozessmodell der Kommunikation zwischen Fahrer und Fahrzeug im Kreislauf von Überwachung (Input) und Steuerung (Output) Umgebung
Mensch Eigenschaften Fertigkeiten Fähigkeiten Bedürfnisse
Wahrnehmung
Verarbeitung & Interpretation
Handlung
Input
Output Fahrzeug Fahrerassistenzsysteme
Anzeige
Bedienelemente
Quelle: nach Bruder & Didier 7, eigene Abbildung
7
Bruder, Ralf/Didier, Muriel: »Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen«, in Hermann Winner/Stephan Hakuli/Felix Lotz/Christina Singer (Hg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme: Grundlagen, Komponenten und Systeme für aktive Sicherheit und Komfort, Wiesbaden: Springer Vieweg 2016, S. 633-645.
50 | Henrik Detjen
Abbildung 4 zeigt ein einfaches Arbeitsmodell mit Fokus auf die Sicht des Fahrers. Das Modell eignet sich gut um die Prozessstruktur und die Schnittstellen zwischen der FFI zu verdeutlichen. Es werden zwei grundlegende Kategorien von Fahrerassistenzsystem-Schnittstellen (kurz: FAS) unterschieden, welche der ersten und letzten Phase des menschlichen Informationsverarbeitungsprozesses zugeordnet werden können: Die Anzeige (Informationswahrnehmung) und die Bedienelemente (Handlung). Nach Bruder & Didier 8 haben FAS-Schnittstellen die Rolle eines »Vermittlers« im Informationsverarbeitungsprozess des Fahrers. Oder anders ausgedrückt: In dem wechselseitigen Prozess der Überwachung und Steuerung kann man den Fahrer als eine Art Reiz-Reaktions-Automaten sehen. Dieser Regelkreis der FFI wird durch individuelle Eigenschaften, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Bedürfnisse beeinflusst. So gibt es zurückhaltende Fahrer, die einen eher defensiven Fahrstil haben, und Fahrer mit eher offensivem Fahrstil. Eine große Rolle spielt auch die Erfahrung bei der Fahrzeugführung. Ähnlich wie bei der klassischen Konditionierung laufen durch das wiederholte Fahren Informationsverarbeitungsprozesse und Handlungen nach einer gewissen Zeit automatisch ab, da sie im Gedächtnis als Regel hinterlegt werden. Das ist auch der Grund dafür, warum man den täglichen Weg zur Arbeit mit dem Auto kaum noch wahrnimmt, während man z.B. in einem mehrspurigen Kreisel in Paris zur Rushhour mehr Konzentration benötigt. Den selben Effekt kann man auch bei Spitzensportlern beobachten: Profifußballer brauchen beim Laufen kaum noch auf den Ball zu schauen, da die Ballführung bei ihnen so trainiert ist, dass sie unterbewusst stattfindet.
AUTOMATISIERUNG UND WANDEL DER FAHRER-FAHRZEUG-KOMMUNIKATION Die Automatisierung revolutioniert nahezu alle technischen Domänen. Gerade im Automobilbereich hat sie einen massiven Einfluss: Die Vision vom selbstfahrenden Fahrzeug rückt immer näher. Hersteller wie Audi, BMW, Tesla und Bosch arbeiten an ihrer Umsetzung. 9 Muss beim manuellen Fahren noch die komplette Steuerung und Überwachung des Autos übernommen werden, befreit die vollständige Automatisierung den Menschen von der Fahraufgabe.
8 9
Ebd. https://www.audi-mediacenter.com/de/pressemitteilungen/der-neue-audi-a8-zukunftder-luxusklasse-9124, Zugriff: 31.03.2019.
Fahrer-Fahrzeug-Kommunikation | 51
Der Automatisierungsgrad von Fahrzeugen reicht von Assistenz bis hin zu vollständiger Autonomie. Zur Vereinheitlichung der Autonomiegrade hat die Society of American Engineers eine Taxonomie 10 mit insgesamt sechs Stufen definiert. In Tabelle 1 werden die unterschiedlichen Stufen erläutert. Wann die höchste Stufe, Stufe fünf, der Fahrzeugautomatisierung den Massenmarkt erreicht, ist ungewiss. Nach Schätzungen wird es bis zur Stufe 5-.Automatisierung noch etwa 40 Jahre dauern. Level 3-Fahrzeuge stehen hingegen kurz vor der Serienreife. Wir werden uns in den kommenden Jahren in einer Übergangsphase befinden. Manuell geführte, teilweise autonom agierende (z.B. Mercedes S-Klasse, Audi A8) und vollständig autonom agierende Fahrzeuge (z.B. Google Driverless Car 11) werden gemeinsam auf deutschen Straßen unterwegs sein. Gesellschaftlich gesehen gibt es vorher jedoch noch einige Hürden zu nehmen. Zum einen müssen noch Fragen rechtlicher Art geklärt werden (z.B. Wer haftet bei Unfällen?) und zum anderen sind noch Barrieren bei den Menschen selbst vorhanden. Untersuchungen 12 und Umfragen zeigen, dass die Menschen höheren Automatisierungsgraden skeptisch gegenüberstehen. Je höher die Automatisierungsstufe, umso höher die Skepsis. Sie müssen einer Technologie vertrauen, die Sie nicht kennen und noch nicht selbst erfahren haben – und das bei einer Aufgabe, bei der Fehler schwerwiegende Konsequenzen bis hin zu tödlichen Unfällen haben können. Außerdem müssen Sie ein Stück Ihrer Autonomie aufgeben. Problematisch vor allem bei Leuten, die Spaß und Freude am Fahren haben, und nun ihre Kompetenz in diesem Bereich untergraben sehen. 13
10 Vgl. SAE On-Road Automated Vehicle Standards Committee: »Taxonomy and definitions for terms related to on-road motor vehicle automated driving systems«, in: SAE International (2014). 11 https://waymo.com/tech/, Zugriff: 31.03.2019. 12 Rödel, Christina/Stadler, Susanne/Meschtscherjakov, Alexander/Tscheligi, Manfred: »Towards autonomous cars: the effect of autonomy levels on acceptance and user experience«, in: Proceedings of the 6th International Conference on Automotive User Interfaces and Interactive Vehicular Application, ACM Digital Library 2014, S. 1-8. 13 Detjen, Henrik/Faltaous, Sarah/ Geisler, Stefan/Schneegass, Stefan/Pfleging, Bastian: »How to Increase Automated Vehicles’ Acceptance through In-Vehicle Interaction Design: A review«, submitted to: International Journal of Human-Computer Interaction, 2020.
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Tabelle 1: Automatisierungsgrade nach SAE Stufe 0
Keine Automatisierung
1 Fahrerassistenz
Beschreibung Der Fahrer übernimmt alle Fahraufgaben
Der Fahrer kontrolliert das Fahrzeug, aber einige Assistenzsysteme sind im Fahrzeug integriert
Das Fahrzeug kombiniert Automatisierungsfunktionen, z.B. im Beschleunigungs- und Lenkverhal2 Teilautomatisierung ten, aber der Fahr ist zu jeder Zeit in der Fahraufgabe involviert und überwacht die Umgebung
Bedingte Automati3 sierung
Der Fahrer ist zwar nötig, muss aber nicht zwingend die Umgebung überwachen. Nach Aufforderung muss der Fahrer jederzeit bereit sein, die Kontrolle über das Fahrzeug zu übernehmen.
Hohe Automatisie4 rung
Das Fahrzeug kann alle Fahraufgaben unter bestimmten Bedingungen übernehmen. Der Fahrer kann die Option haben, das Fahrzeug zu kontrollieren.
Vollständige Automatisierung
Das Fahrzeug kann alle Fahraufgaben unter allen Bedingungen übernehmen. Der Fahrer kann die Option haben, das Fahrzeug zu kontrollieren.
5
Quelle: SAE 14
Durch die schrittweise fortschreitende Automatisierung stellt sich die Frage, wie wir in Zukunft mit autonom agierenden Fahrzeugen interagieren. Dabei gibt es mehrere Herausforderungen, 15 die gemeistert werden müssen:
14 Ebd. 15 Kun, Andrew L./Boll, Susanne/Schmidt, Albrecht: »Shifting gears: User interfaces in the age of autonomous driving«, in: IEEE Pervasive Computing 15 (2016), S. 32-38.
Fahrer-Fahrzeug-Kommunikation | 53
• • • •
Verkehrssicherheit Privatsphäre und Informationssicherheit Bedeutungswandel von Fahren und Mobilität Transformation der Fahrzeuge in Orte der Freude und Produktivität
Durch die Automatisierung von Fahrzeugen entsteht eine neue Vision von Mobilität und es werden neue Konzepte benötigt, um den zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden. In den Städten wird es vor allem darum gehen Ressourcenknappheit zu reduzieren (z.B. Raum für Parkplätze) sowie Umwelt- und Klimaschutzziele (z.B. CO2-Belastungsgrenzen) zu erreichen. Lösungsansatz sind hier die effiziente Aufteilung von Ressourcen durch Car-Sharing-Ansätze oder der Ausbau und die Vernetzung des ÖPNV auf Basis neuer Technologien (z.B. Connected Cars). Viele der Lösungsansätze erfordern den Einsatz von künstlicher Intelligenz und weiterer Automatisierungstechnologie. Die Rolle des Fahrers wird sich im Zuge der Automatisierung ebenfalls ändern. Der Fahrer ist in höheren Automatisierungsstufen nicht mehr zwangsläufig in den Fahrprozess integriert, d.h. Fahren wird von der Primär- zur Sekundäraufgabe. Dadurch verändert sich auch die Art der Interaktion und das gesamte Erlebnis im Fahrzeug. Da der Fahrer in den Stufen 0 bis 2 in den Fahrprozess eingebunden ist, sind typische Nebentätigkeiten etwa Radiohören oder Gespräche mit dem Beifahrer. In den Stufen 3 bis 5 ist der Autopilot in der Lage streckenweise oder vollständig zu übernehmen, typische Aktivitäten im Fahrzeug könnten also in Zukunft sein: Telefonieren, Zeitung lesen, Filme schauen, Essen, Fitness, oder Schlafen. D.h., mit zunehmender Automatisierung wandelt sich die Rolle des Fahrers und der Fahrer-Fahrzeug-Interaktion. Der Fahrer wird zum Passagier. Neben der Frage nach der effizienteren Nutzung von Fahrzeugen und der Rolle des Fahrers, stellt sich auch die Frage, wie wir mit dem steigenden Einsatz von Technik im Fahrzeug umgehen und wie der Mensch mit dieser interagieren soll. Mit der wachsenden Anzahl der FAS, steigt auch die Komplexität der Überwachung und Bedienung für den Fahrer. Wurden Fahrerassistenzsysteme ursprünglich entwickelt, um die Sicherheit des Fahrers in kritischen Situationen zu erhöhen (z.B. Antiblockiersystem), gibt es heute auch immer mehr komfortorientierte Assistenzsysteme (z.B. Adaptive Cruise Control). Die Assistenzsysteme schaffen dabei einen zusätzlichen Regelkreis, den der Fahrer neben dem eigentlichen Fahrprozess überwachen muss (z.B. Zustandsanzeige des Assistenzsystems). Die Anzahl der im Fahrzeug verbauten Assistenzsysteme hat über die Jahre hinweg bis heute immer mehr zugenommen und wird auch in Zukunft durch den Automatisierungstrend weiter ansteigen. Mit der erhöhten Anzahl von Assistenten
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steigt für den Fahrer auch die Komplexität der Anzeige (zusätzliche Statusanzeigen) sowie die der Bedienung (zusätzliche Schalter) im Fahrzeug. Ein erhöhter Aufwand auf der Fahrzeugführungsebene ist die Folge (mehr Sollwert-IstwertVergleiche). Außerdem muss der Fahrer aus der Rückmeldung einzelner Assistenzsysteme einen Gesamtzustand zur Entscheidungsfindung in der weiteren Fahrzeugführung ableiten. Diese zusätzliche Belastung kann zu Fehleinschätzungen und Fehlbedienungen führen, was im sicherheitskritischen Komplex Fahrzeugführung ein enormes Risiko darstellt. 16 Eine mögliche Lösung zur Reduzierung der Komplexität wäre die Priorisierung der Meldungen von einzelnen FAS. In einigen Situationen reicht dieser Ansatz jedoch auch nicht mehr aus, insbesondere, wenn parallel auf mehrere Warnungen reagiert werden muss. Für höhere Stufen des automatisierten Fahrens ist dieses Konzept aus Sicht des Fahrers nicht optimal. Ein weiterer Lösungsansatz zur Reduzierung der Komplexität ist die Aggregation von Assistenzsystemen zu einem übergeordneten System. Solche Systeme benötigen neuartige Paradigmen der Fahrzeugführung und neuartige Mensch-Maschine-Schnittstellen, da klassische Bedienelemente wie Lenkrad und Pedale nicht immer passen, um solche Schnittstellen intuitiv und effizient zu bedienen. Ein vielversprechender Ansatz der gesamtheitlichen Schnittstelle, ist die kooperative Fahrzeugführung, bei der Mensch und Maschine sich Aufgaben nach ihren individuellen Eigenschaften, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten aufteilen und delegieren. Das Ziel ist dabei Unsicherheiten auf beiden Seiten zu minimieren. So könnte der Mensch das Fahrzeug über abstrakte Manöver 17 wie »jetzt links abbiegen« steuern und das System kümmert sich um die Ausführung im Detail (Geschwindigkeit anpassen, Lenkwinkelbestimmen …). In Arbeiten von Detjen et al. 18 wird ein solches Manöver-basiertes System zur Steuerung, auf Basis von Gesten und Sprache, und Rückmeldung, auf Basis virtueller Windschutzscheiben, für Fahrprozesse in autonomen Fahrzeugen konzipiert.
16 Herczeg, Michael: Prozessführungssysteme: Sicherheitskritische Mensch-MaschineSysteme und interaktive Medien zur Überwachung und Steuerung von Prozessen in Echtzeit. Olenbourg: de Gruyter 2014. 17 Detjen, Henrik/Schneegass Stefan/Geisler, Stefan: »Maneuver-based Driving for Intervention in Autonomous Cars«, in: Proceeding of the CHI’19 Workshop on »Looking into the Future: Weaving the Threads of Vehicle Automation«, Glasgow: SpringerOpen 2019. 18 Detjen, Henrik/Schneegass, Stefan/Geisler, Stefan/Faltaous, Sarah: »User-Defined Voice and Mid-Air Gesture Commands for Maneuver-based Interventions in Autonomous Vehicles«, in: Proceedings of Mensch und Computer 2019, Hamburg: ACM
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KOOPERATIVE FAHRER-FAHRZEUG-KOMMUNIKATION Aktuelle Forschung im Bereich der Fahrer-Fahrzeug-Interaktion fokussiert sich überwiegend auf sogenannte Übernahmeaufforderungen (Kontrolltransitionen), welche in Richtung System-zu-Fahrer gehen. 19 Dies impliziert oft eine klare Abgrenzung zwischen System und Fahrzeug. Empfehlenswert wäre jedoch eine breitere Sicht auf das automatisierte Fahren, da der Fahrer möglicherweise genau dann die meiste Unterstützung benötigt, wenn die Automatisierung an ihre Grenzen stößt. Die Lösung zur Überwindung von Unsicherheiten und Risiken auf beiden Seiten könnten, wie beschrieben, kooperative Benutzerschnittstellen sein: Ein integratives Konzept, bei dem Mensch und Maschine (Agenten) als Team zusammenwirken und der eine Part die Schwächen des jeweils anderen ausgleicht. Walch et al. 20 definieren vier grundlegende Anforderungen für solche Schnittstellen: • • • •
Gegenseitige Vorhersehbarkeit Steuerbarkeit Gemeinsames Situationsbewusstsein Kalibriertes Vertrauen in die Automatisierung
2019; Detjen, Henrik/Salini, Maurizio/Wozniak, Martin: »Visual Feedback for Maneuver-Based Driving: First Results from a Design Workshop«, in Erik Sucky/Reinhard Kolke/Niels Biethahn/Jan Werner/Michael Vogelsang (Hg.), Mobility in a Globalised World 2018, University of Bamberg Press, 2019; Detjen, Henrik/ Salini, Maurizio/ Kronenberger, Jan/Schneegass, Stefan/Geisler, Stefan: »Towards Transparent Behavior of Automated Vehicles: Design and Evaluation of Icon-based and Augmented Reality HUD Concepts to Visualize Vehicle Intentions«, in: Proceedings of International conference on Human-computer interaction with mobile devices & services 2020, Oldenburg: ACM 2020. 19 Walch, Marcel/Mühl, Kristin/Kraus, Johannes/Stoll, Tanja/Baumann, Martin/Weber, Michael: »From Car-Driver-Handovers to Cooperative Interfaces Visions for DriverVehicle Interaction in Automated Driving«, in: Gerrit Meixner/ Christian Müller (Hg.), Automotive User Interfaces, Berlin: Springer 2017, S. 273-294. 20 Ebd.
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Bekannte kooperative Interaktionskonzepte zur Aufgabenteilung sind beispielsweise H-Mode 21 und Conduct-By-Wire 22. Da Modelle der FFI diesen Aspekt der Kooperation zwischen Mensch und Maschine noch nicht integriert haben, ist Abbildung 4 ein Vorschlag für ein Prozessmodell der kooperativen Fahrer-FahrzeugInteraktion (kFFI). Es erweitert das Arbeitsmodell von Bruder & Didier 23 um die Teilung der Kontrolle zwischen Mensch und Maschine und fügt Umweltreize hinzu. Es gibt nicht mehr nur einen Fahrer, sondern eine abstrakte Kontrollinstanz. Diese Kontrollinstanz kann entweder der menschliche Agent (Fahrer) sein, oder ein virtueller Agent (Autopilot). Zur Vereinfachung des Modells ist der virtuelle Agent nur als Fahrer dargestellt, tatsächlich ist er Software zur Koordination mehrerer FAS und somit auch Teil des Fahrzeugs. Die Kontrolldelegation zwischen Fahrer und Autopilot kann in jeder Phase des Regel- und Steuerungskreises stattfinden, so kann die Automatik die Handlung des Fahrers unterstützen (z.B. Bremskraft verstärken) oder der Fahrer die Kontrolle nach der Verarbeitung aktueller Informationen an die Automatik abgeben, z.B., weil er in der Dunkelheit zu schlecht sehen kann (Umweltreize).
21 Flemisch, Frank O./Adams, Catherine A./Conway, Sheila R./Goodrich, Ken H./Palmer, Michael T./Schutte, Paul C.: The H-Metaphor as a guideline for vehicle automation and interaction, 2003. 22 Winner, Hermann/Hakuli, Stephan: (2006, October). »Conduct-by-wire-following a new paradigm for driving into the future«, in: Proceedings of FISITA world automotive congress (2006), S. 27. 23 R. Bruder/M. Didier: Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen, S. 621-632.
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Abbildung 5: Modell der kooperativen Fahrer-Fahrzeug Interaktion Umwelt
Fahrer
Eigenschaften Fähigkeiten Fertigkeiten Bedürfnisse
Kontrollinstanzen Sinneskanäle
Sinn
Menschlicher Agent
Aktor
Psychomotorik
Aktor
Digitale Schnittstelle
Kontrolldelegation
Digitale Schnittstelle
Virtueller Agent (KI)
Sensor
Informationswahrnehmung (Ist-Zustandsermittlung)
Informationsverarbeitung (Ist-Soll-Zustandsabgleich)
Handlung (Soll-Zustandsvermittlung)
Fahrzeug Umweltreize
Repräsentation des Systemzustandes Zustandsabfrage
Kontrollschnittstellen
kombinierter Systemzustand aller FAS
FAS
Zustandsänderung
Quelle: eigene Abbildung
ZUSAMMENFASSUNG Kommunikation und Interaktion sind in der Praxis oft gleichzusetzen, wenn man mit dem System interagiert, ist das eine Form der Kommunikation. Die FahrerFahrzeug-Interaktion ist eine Spezialform der Mensch-Maschine-Interaktion, die Domäne ist durch z.T. sicherheitskritische Interaktionen gekennzeichnet. Um zu kommunizieren brauchen Fahrer und Fahrzeug einen gemeinsamen, technischen Kanal. Klassischerweise nimmt der Mensch beim Fahren die Rolle einer ReizReaktionsmaschine im Kreislauf des Regelns und Steuerns des Fahrzeugs ein. Mit dem Wandel der Mobilität, wandelt sich auch die Kommunikation, und die Rolle des Fahrers verschiebt sich hin zur Rolle des Passagiers. Neue Interaktionsformen
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werden benötigt. Die Kooperative Fahrer-Fahrzeug Interaktion ist eine vielversprechende Möglichkeit um das autonome Fahren in Zukunft für die Menschen attraktiv zu gestalten. In diesem Beitrag wurde die Kommunikation zwischen Fahrer und Fahrzeug und deren Wandel erläutert. Anschließend wurde die kooperative Fahrzeugführung als ein mögliches Konzept zur Interaktion mit autonomen Fahrzeugen vorgestellt und modelliert.
LITERATUR Beavin, Janet H./Jackson, Don D./Watzlawick, Paul: Menschliche Kommunikation, Stuttgart: Hans Huber 1990. Bruder, Ralf/Didier, Muriel: »Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen«, in Hermann Winner/Stephan Hakuli/Felix Lotz/Christina Singer (Hg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme: Grundlagen, Komponenten und Systeme für aktive Sicherheit und Komfort, Wiesbaden: Springer Vieweg 2016, S. 633-645. Detjen, Henrik/Salini, Maurizio/Kronenberger, Jan/Schneegass, Stefan/Geisler, Stefan: »Towards Transparent Behavior of Automated Vehicles: Design and Evaluation of Icon-based and Augmented Reality HUD Concepts to Visualize Vehicle Intentions«, in: Proceedings of International conference on Humancomputer interaction with mobile devices & services 2020, Oldenburg: ACM 2020. Detjen, Henrik/Salini, Maurizio/Wozniak, Martin: »Visual Feedback for Maneuver-Based Driving: First Results from a Design Workshop«, in Erik Sucky/Reinhard Kolke/Niels Biethahn/Jan Werner/Michael Vogelsang (Hg.), Mobility in a Globalised World 2018, University of Bamberg Press, 2019. Detjen, Henrik/Schneegass Stefan/Geisler, Stefan: »Maneuver-based Driving for Intervention in Autonomous Cars«, in: Proceeding of the CHI’19 Workshop on »Looking into the Future: Weaving the Threads of Vehicle Automation«, Glasgow: SpringerOpen 2019. Detjen, Henrik/Schneegass, Stefan/Geisler, Stefan/Faltaous, Sarah: »User-Defined Voice and Mid-Air Gesture Commands for Maneuver-based Interventions in Autonomous Vehicles«, in: Proceedings of Mensch und Computer 2019, Hamburg: ACM 2019. Detjen, Henrik/Faltaous, Sarah/ Geisler, Stefan/Schneegass, Stefan/Pfleging, Bastian: »How to Increase Automated Vehicles’ Acceptance through In-Vehicle Interaction Design: A review«, submitted to: International Journal of HumanComputer Interaction, 2020.
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Flemisch, Frank O./Adams, Catherine A./Conway, Sheila R./Goodrich, Ken H./Palmer, Michael T./Schutte, Paul C.: The H-Metaphor as a guideline for vehicle automation and interaction, 2003. Graumann, Carl F.: Einführung in die Psychologie (Band 1), Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 1969. Herczeg, Michael: Prozessführungssysteme: Sicherheitskritische Mensch-Maschine-Systeme und interaktive Medien zur Überwachung und Steuerung von Prozessen in Echtzeit. Olenbourg: de Gruyter 2014. https://www.audi-mediacenter.com/de/pressemitteilungen/der-neue-audi-a8-zukunft-der-luxusklasse-9124, Zugriff: 31.03.2019. https://waymo.com/tech/, Zugriff: 31.03.2019. Kun, Andrew L./Boll, Susanne/Schmidt, Albrecht: »Shifting gears: User interfaces in the age of autonomous driving«, in: IEEE Pervasive Computing 15 (2016), S. 32-38. König, Winfried: »Nutzergerechte Entwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion von Fahrerassistenzsystemen«, in Hermann Winner/Stephan Hakuli/Felix Lotz/Christina Singer (Hg.), Handbuch Fahrerassistenzsysteme: Grundlagen, Komponenten und Systeme für aktive Sicherheit und Komfort, Wiesbaden: Springer Vieweg 2015, S. 621-632. Rödel, Christina/Stadler, Susanne/Meschtscherjakov, Alexander/Tscheligi, Manfred: »Towards autonomous cars: the effect of autonomy levels on acceptance and user experience«, in: Proceedings of the 6th International Conference on Automotive User Interfaces and Interactive Vehicular Application, ACM Digital Library 2014, S. 1-8. SAE On-Road Automated Vehicle Standards Committee: Taxonomy and definitions for terms related to on-road motor vehicle automated driving systems, United States: SAE International 2014. Shannon, Claude E.: »A mathematical theory of communication«, in: Bell system technical journal 27 (1948), S. 379-423. Walch, Marcel/Mühl, Kristin/Kraus, Johannes/Stoll, Tanja/Baumann, Martin/Weber, Michael: »From Car-Driver-Handovers to Cooperative Interfaces Visions for Driver-Vehicle Interaction in Automated Driving«, in: Gerrit Meixner/ Christian Müller (Hg.), Automotive User Interfaces, Berlin: Springer 2017, S. 273-294. Winner, Hermann/Hakuli, Stephan: (2006, October). »Conduct-by-wire-following a new paradigm for driving into the future«, in: Proceedings of FISITA world automotive congress (2006), S. 27.
Rezeption
Emojiformeln Körperlichkeit in Zeiten der unkörperlichen Kommunikation Alexandra Siegle
Das wichtigste Kommunikationsmittel für uns Menschen ist unser Körper. Er ist unser Medium, das mit seinen fünf Sinnen die Welt wahrnimmt und sich ihr mitteilt. Im Wandel der Kommunikationsformen werden unsere Sinne verlängert – das Telefon überträgt unsere Stimme bis hin zum Ohr eines Empfängers, der ansonsten gar nicht in Hör- und Sprechweite wäre, und die Videotelefonie liefert sogar das Bild dazu. Diese Kanäle berauben unsere Kommunikation natürlich des Tast-, Riech- und Geschmacksinnes, aber dennoch bleibt in ihnen etwas enthalten: die Bewegung unseres Körpers. Was passiert, wenn die Kommunikation per Textnachricht abläuft und die körperlichen Bewegungen von Sender und Empfänger nicht wahrgenommen werden? Die Welt der Chats ist deshalb bevölkert von Emojis, die verschickt werden, um etwas vom körperlichen Zustand des Senders zu übermitteln. Sowohl die Vorzüge der kleinen Bildchen, als auch die Missverständnisse, die sie verursachen, sind zahlreich. Mittels bewegungsanalytischer und medientheoretischer Konzepte sollen im Folgenden mögliche Gründe für die Popularität der Emojis und für die Unzufriedenheit, die sie auslösen können, ins Auge gefasst werden. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Wahrnehmung von Bewegungen und Körpern die Kommunikation beeinflusst, ist nicht erst in den digitalen Zeiten entstanden. Bevor die Versuche angefangen haben, mittels Emojis Ausdrücke von Gestik und Mimik über Textnachrichten zu verschicken, wurde, auch ohne den Einfluss des noch nicht erfundenen Internets, erforscht, auf welche Weise Bewegungen Ausdruck von Intentionen sind. Der Tänzer und Choreograf Rudolf von Laban schreibt in Bezug auf den Charakter einer Bewegung:
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»Ihre Formen und Rhythmen zeigen den inneren Zustand der sich bewegenden Person in einer speziellen Situation.« 1 Ähnliches versuchen auch Emojis zu bewirken. Für Laban hat die Bewegung eines Menschen stets die Absicht, sich in irgendeiner Form einen Wunsch zu erfüllen. 2 Dieser Wunsch kann darin bestehen, eine Nachricht zu übermitteln. Oft soll eine solche Bewegung und Nachricht auch etwas von der Persönlichkeit und Stimmung des Menschen transportieren, was begünstigt wird, wenn der Sender der Nachricht sichtbar oder hörbar ist. In Gestik und Mimik verbergen sich unbewusste Schattenbewegungen, wie Laban sie nennt, die ebenso viel über den Menschen erzählen wie die eigentliche Nachricht, wenn nicht sogar mehr. Schattenbewegungen entstehen ungesteuert aus dem Affekt heraus 3 und geben Auskunft darüber, wie die Person das, was sie kommuniziert, wirklich meint. Das Wahrnehmen solcher Schattenbewegungen wird problematisch, sobald die Kommunikation auf Textebene geschieht, denn Emojis als bewusst ausgewählte Zeichen können diese Bewegungen nicht ersetzen. Doch Kommunikation besteht nach wie vor auch aus bewusster Gestik und Mimik, die mit bestimmten Intentionen einhergehen, wie auch Emojis. Laban misst dem bewussten Umgang mit körperlichen Kommunikationszeichen ebenfalls Wichtigkeit zu, vor allem im Hinblick auf die darstellende Kunst: Das Studium der Bewegungsgewohnheiten der Menschen in verschiedenen Situationen soll helfen, Ausdrucksformen und Absichten bei der Kommunikation von Inhalten besser zu verstehen. 4 Auf Grund der Kombination bewusster und unbewusster Bewegungen in Labans Theorie könnte diese hilfreich sein, den Funktionsweisen von Emojis, die oft dem menschlichen Körper oder dessen Umgebung ähneln, und auch den Missverständnissen, die sich durch das Fehlen von unbewussten »Schattenemojis« ergeben, näher zu kommen.
BEWEGUNG ALS AUSDRUCK DER INNENWELT Bewegung ist bei der Kommunikation wichtig, weil wir uns bewegen müssen, um zu kommunizieren und damit ist nicht nur die Gestik und Mimik gemeint, die offensichtlich aus körperlichen Bewegungen besteht. Auch das Sprechen
1
Laban, Rudolf von: Kunst der Bewegung. Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1988,
2
Vgl. ebd., S. 9.
3
Vgl. ebd., S. 18f.
4
Vgl. ebd., S. 105.
S. 10.
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erfordert eine Bewegung der Stimmbänder und anderer Muskeln im Körper, das Auge als Sehorgan beinhaltet die Pupille, die sich stets an die Lichtsituation anpasst und das Schreiben ist im Grunde eine Aufzeichnung der Choreografie, die die Hand tanzt, wenn sie den Stift bewegt. Vorausgesetzt, es wird per Hand geschrieben. Gedruckte Buchstaben wurden entwickelt, um Wissen effizienter festzuhalten und zu vervielfältigen. Im Gegensatz zur handgeschrieben Schrift fehlt ihnen die schreibende körperliche Bewegung, die sie verursacht – sie beinhalten höchstens die Bewegung des Druckers und das nur, wenn sie auf materiellem Papier erscheinen. Wird die Nachricht als E-Mail, SMS oder Chat verschickt, bleibt es bei Zeichen auf einem leuchtenden Bildschirm, deren Ursache nur noch ein leichtes Antippen der entsprechenden Taste oder Fläche mit dem Finger ist. Somit stellt die maschinelle Schrift keine visuelle Spur der Bewegung des Schreibers dar. Ist eine Nachricht per Hand geschrieben, so übermittelt nicht nur die Wortwahl, sondern auch das Schriftbild eine Botschaft: Es zeigt einen bestimmten Druck des Stiftes, eine Ruhe oder ein Zittern der Hand, die die Linie zog, wodurch der Empfänger Informationen über die körperliche Verfassung und eventuell auch über den Gemütszustand des Senders erhält. Bei der maschinellen Schrift bleibt die Botschaft in der Wahl der Worte verankert. Wenn es um die Konservierung und Vervielfältigung von Wissen geht – Wissen, das die Stimmung des Schreibers zum Zeitpunkt des Verfassens überdauern und teils sogar unabhängig davon existieren soll – ist die maschinelle Schrift ein praktisches Medium. Aber die menschliche Kommunikation besteht nicht nur aus Wissen für die Ewigkeit – sehr vieles, was mitgeteilt wird, ist für das Hier und Jetzt bestimmt, also auch ein Großteil der Nachrichten, die als SMS oder ähnliches verschickt werden. Solche Nachrichten haben durchaus unterschiedliche Charaktere, werden aber schnell persönlich und dann ist es wichtig, dass aus der Nachricht hervorgeht, wie der Verfasser gegenwärtig gestimmt ist. Die Wortwahl bleibt ein starker Indikator für das, was der Verfasser sagen möchte, aber sie ist in schriftlicher Form bereits bewusster gewählt als in einem Gespräch. Das heißt, das Niederschreiben, beziehungsweise Tippen, wirkt wie ein Filter für die Übermittlung der Stimmung des Verfassers, denn er kann sich fragen, was er wirklich schriftlich festhalten will und was er verfliegen lässt. In einer Kommunikationssituation, in der beide Kommunikationspartner körperlich anwesend sind, sind es jedoch vor allem die kleinen unabsichtlichen Veränderungen in Gestik und Mimik oder eine leichte Variation in der Stimme, die sehr viel über das Gemüt einer Person aussagen und nicht immer in Worte übersetzt werden – teils weil keine passenden Worte gefunden werden, teils, weil dem Kommunizierenden selbst nicht auffällt, welche unbewussten Bewegungen
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maßgeblich zu dem Eindruck beitragen, den er oder sie gerade erzeugt. Möglicherweise werden handgeschriebene Grüße auf einer Postkarte, auch wenn sie oftmals nach dem Reisenden wieder zu Hause ankommen, deshalb so wertgeschätzt, weil sie noch einen physischen Abdruck der körperlichen Schreibbewegung der Person auf ihren Reisen transportieren und damit auch etwas von der Atmosphäre, in der die Person sich befand. Wenn im Alltag nun Nachrichten so schnell wie möglich übermittelt werden sollen und die Körperlichkeit dieser Schnelligkeit nicht folgen kann, wird versucht, dennoch eine Verbindung zu der Körperlichkeit herzustellen. Es erscheint naheliegend, einer Textnachricht, bei der der Empfänger den Verfasser weder hören noch sehen kann, ein Bild beizufügen, das für den aktuellen Zustand des Verfassers stehen soll, heutzutage durch Benutzung der Smartphones oft ein Emoji. Wenn ein Medium eine Körperextension ist 5, so sollte ein solches Bild eines Gesichtes, das möglichst passend zum tatsächlichen Gesicht des Verfassers gewählt wird, dieses auch erweitern – es bleibt die Frage, inwiefern das funktioniert und wo sich Komplikationen ergeben. Wird der Mensch von etwas emotional bewegt, so reagiert er darauf als erstes – oft unbewusst – eher mit einer körperlichen Bewegung als mit Worten. 6 In einem getippten Text sollen die Worte durch Emojis begleitet oder auch ersetzt werden, um die emotionale Bewegtheit zu übermitteln – aber sind Emojis selbst bewegt genug, um diese Aufgabe zu erfüllen? Der Unterschied zwischen wirklicher Körperlichkeit und der digitalen Nähe, die in der heutigen Welt auch ihren Platz hat, ist bekannt. Es ist deutlich, dass diese beiden Daseinsebenen nicht zusammenfallen können und wie immer, wenn etwas Neueres mit etwas Älterem zu konkurrieren scheint, gibt es eine Sehnsucht zum Ursprünglichen. Sichtbar wird das an dem immer wiederkehrenden Retro-Stil, der in allen Lebensbereichen wirksam ist: Musik wird gerne von Schallplatten abgespielt, die Mode orientiert sich immer wieder an vergangenen Zeiten, der Lack von Holzmöbeln wird absichtlich abgeblättert. In der Gegenwart sind moderne Technologie und alte Tradition eng miteinander verwoben. So wird die Kommunikationstechnik immer weiterentwickelt, um das alte Gefühl, man sei nah am Kommunikationspartner, möglichst weit auszudehnen. Die Art und Weise, wie Menschen körperlich kommunizieren, so Laban, wird zum einen von ihren Milieus 7 und zum anderen von ihren Charakteren be-
5
Vgl. McLuhan, Marshall und Eric: Laws of Media. The New Science. Toronto, Buffa-
6
Vgl. R. v. Laban: Kunst der Bewegung, S. 94.
7
Vgl. ebd., S. 10.
lo, London: University of Toronto Press 2007, S. 93.
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einflusst. Die Frage, ob zwei Kommunikationspartner harmonieren, aneinanderstoßen oder aneinander vorbei reden, ist demnach eine Frage danach, wie ihre körperlichen Bewegungen, beeinflusst durch Umfeld und vor allem durch persönlichen Charakter, sich zu einander verhalten. 8 Missverständnisse können sich ergeben, wenn man die möglicherweise unbewusste Gestik und Mimik des Gegenübers nicht zu interpretieren weiß oder nicht in dessen Sinne versteht und genauso gibt es Sympathien, die von Bewegungen verursacht werden können, noch bevor ein Wort gesagt wurde. Dabei werden einzelne Bewegungen in Zusammenhang miteinander gebracht und können gemeinsam einen Sinn ergeben, der in den einzelnen Bewegungssegmenten noch nicht erkennbar war. 9 Digitale Kommunikation auf weite Entfernung ist sicherlich kein Ersatz für körperliche Anwesenheit, sondern eine weitere Form der Interaktion. Diese digitale Interaktion ist selbst wiederum artenreich und eine dieser Arten ist die Kommunikation per Texten mit Emojis. Auch die erfolgreiche Kommunikation mittels Emojis fußt darauf, inwiefern die Kommunikationspartner die Emojis ähnlich interpretieren. Eine Reihung mehrerer Emojis hintereinander lässt sich ebenfalls beobachten. Allerdings stellt sich hier die Frage, ob eine Reihung von Emojis wirklich als ein Gesamtausdruck wie eine Kombination von Bewegungen wahrgenommen wird oder ob die Emojis nicht vielmehr nach wie vor hintereinander gelesen werden ohne zu einem Gesamtausdruck zu verschmelzen. Im Vergleich zu körperlichen Bewegungen sind Emojis fest, ihnen fehlt die Flüchtigkeit, die eine körperliche Bewegung hat. Das Ephemere einer körperlichen Bewegung führt dazu, dass die wahrgenommenen Bewegungen vom Rezipienten zu einem Gesamteindruck verbunden werden müssen, da die Bewegung in einem Moment geschieht und dann vergeht. Somit kann der Rezipient sich nicht jedes Detail einprägen, sondern muss, noch im Prozess der Wahrnehmung, das Beobachtete zu einem Bild verbinden, das sich ständig aktualisiert. Somit wandelt sich die Interpretation von Gestik und Mimik mit jedem neuen Eindruck. Diese Eigenart der körperlichen Kommunikation lässt sich in Labans Beschreibung der dynamischen Kunst wiederfinden, die er von der statischen Kunst unterscheidet: Die statische Kunst, wie zum Beispiel die bildenden Kunst oder die Architektur, beinhaltet die Bewegung des Künstlers als Spur in Form des Pinselstriches oder des bearbeiteten Steines, der von der Hand des Künstlers geführt oder berührt wurde – somit ist die Betrachtung der statischen Kunst kontemplativ, der Wahrnehmende kann sich Zeit nehmen, um in das Kunstwerk zu
8
Vgl. ebd., S. 114f.
9
Vgl. ebd., S. 94f.
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versinken. Die dynamische Kunst hingegen, zum Beispiel Tanz oder Schauspiel, ist flüchtig, weil die Bewegung nur in einem Moment geschieht und später nicht mehr betrachtet werden kann, das bedeutet, sie reißt den Zuschauer mit sich. 10 Nun beinhalten Emojis keinen Abdruck der physischen Berührung des Autors, wodurch sie schwer eine Immersion erzeugen, wie es die Handschrift oder ein gezeichnetes Bild tun. Sie werden nicht, so wie ein Artefakt der statischen Kunst, von einer sie formenden Bewegung geeint, deren Spur man in den einzelnen Elementen eines Gemäldes oder einer Skulptur erkennen kann. Den Emojis bleibt nur die Spur der sie auswählenden Handlung. Zudem fehlt es ihnen auch an Flüchtigkeit, sodass der Empfänger die Emojis in seiner Wahrnehmung nicht übereinanderlegen muss, um sie fassen und deuten zu können, sondern Zeit hat, sie einzeln zu interpretieren, wodurch sie, anstatt miteinander zu verschmelzen, sich eher aneinanderreihen. Daraus ergibt sich eine gewisse Fixierung der Emojis in ihrer Bedeutung: Der Empfänger weiß zwar, dass der Sender das Emoji mit einer bestimmten Intention verschickt, aber da diese auswählende Bewegung die einzige Berührungsspur ist, die das Emoji in sich trägt, und es sich auch nicht an den Sender anpasst, behält es etwas Fremdes und Unveränderliches in sich. Der Sinn der Worte, die das Emoji umgeben, kann die Bedeutung des Emojis leicht variieren, so wie auch das Emoji den Text in ein bestimmtes Licht rücken kann, doch auch hier verbinden sich Worte und Emoji nicht komplett zu einem ganzen Ausdruck. Das Emoji zeigt etwa ein stilisiertes Lächeln, das ergänzend zum Text als Platzhalter für das Lächeln des Senders interpretiert wird – das bedeutet, wo vorher Worte die Emotion des Senders beschrieben hätten, steht nun ein Emoji. Allerdings stellt das Emoji die Emotion stereotypisiert dar und es ist dem Empfänger überlassen, aus der stereotypen Emotionsklasse des Emojis genau die Nuance zu wählen, die der Sender übermitteln will – der Erfolg oder Misserfolg dieser Interpretation hängt mit dem Grad der Bekanntschaft zwischen Sender und Empfänger und der Komplexität der Wahl des Emojis im Verhältnis zur Nachricht zusammen. Kennt der Empfänger den Sender nicht gut genug, um das Emoji richtig zu interpretieren oder ist die Reihung des Emojis an den Sinn der Worte zu fern für den Empfänger, bleibt das Emoji für ihn fremd. Zwar können auch Worte nicht immer das Gemeinte treffen, doch arbeiten Worte auf einer anderen Ebene als Emojis. Worte setzen von Anfang an voraus, dass das Gemeinte sprachlich strukturiert wird, um in diesem System formuliert werden zu können. Emojis sollen durch ihren Bildcharakter eine intuitive emotionale Verbindung erzeugen, die in der körperlichen Welt noch vor der sprachlichen Strukturierung geschieht, nämlich dann, wenn der Empfänger Gestik und
10 Vgl. ebd., S. 15f.
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Mimik des Senders wahrnimmt. Das heißt, versteht der Empfänger das Emoji nicht auf Anhieb, muss er beginnen, es logisch zu analysieren, es mit verschiedenen Teilen der begleitenden Textnachricht in Verbindung zu setzen und so einen Sinn zu entschlüsseln. Dieser Prozess widerspricht im Grunde der beschriebenen flüchtigen Wahrnehmung von Gestik und Mimik, wodurch eine gewisse Dissonanz zwischen der visuellen Ähnlichkeit der Emojis zu körperlichen Emotionen und ihrer manchmal rationalen Interpretation entstehen kann. Die Komposition der menschlichen Antriebe ist komplex und lässt sich schwer typisieren, auch wenn jeder Charakter seine eigenen Tendenzen und Gewohnheiten hat. 11 Emojis als solche sind stereotypisiert, weshalb es dazu kommen kann, dass sich eine Intention aus der emotionalen Welt, von der es ohnehin manchmal scheint, als ließe sie sich nicht zufriedenstellend in die Außenwelt kommunizieren, nicht zutreffend in ein Emoji übersetzen lässt. Die Antriebe, aus denen ein Mensch heraus sich bewegt und kommuniziert, können sogar in Kontrast zu einander stehen: 12 Die Augen sagen ja, der Mund sagt nein, man greift nach etwas, aber zögernd. Das kann absichtlich geschehen, aber in vielen Fällen ist das unbewusst. Emojis hingegen sollen den Sinn der Nachricht unterstützen oder offen ironisieren und eignen sich somit nicht für diese Art von Mehrdeutigkeit, weil sie genau genommen nicht unbewusst gesendet werden können. Laut Laban soll es möglich sein, die äußere Form einer Bewegung mit Worten so genau zu beschreiben, dass jemand anderes aus dieser Beschreibung heraus die Bewegung mit dem eigenen Körper nachvollziehen kann und somit auch die Stimmung spürt, mit der diese Bewegung entstanden ist. 13 Er geht demnach davon aus, dass die äußere Ausdrucksform und die innere Regung zwei Seiten einer Medaille sind, von denen die eine Auskunft über die andere geben kann. Auch wenn eine so genaue Beschreibbarkeit und Übertragbarkeit selbst bei Bewegungen fraglich ist, ist dennoch deutlich, dass bestimmte Bewegungsausdrücke bestimmte Stimmungen übermitteln und so versuchen es auch die Emojis.
FORMALISIERTE EMOTIONEN Der Kunstwissenschaftler Aby Warburg bezeichnete die Verknüpfung einer äußeren Form in der bildenden Kunst, beispielsweise einer bestimmten Geste, mit einer Emotion als Pathosformel. Wichtig dabei ist, dass eine solche Formel so-
11 Vgl. ebd., S. 119. 12 Vgl. ebd., S. 117. 13 Vgl. ebd., S. 94.
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wohl emotional ist, als auch eine gewisse Variabilität aufweist, sodass sie nicht an eine Epoche oder Zeit gebunden bleibt sondern durch die Geschichte wandern kann. 14 Ein Bild beinhaltet also einen Bewegungsabdruck – sowohl den der Hand des schaffenden Künstlers als auch den der dargestellten Bewegung – der die damit zitierte Empfindung in sich trägt 15 und kann, wenn es betrachtet wird, den Wahrnehmenden wiederum emotional bewegen. 16 Pathosformeln haben sich, so Warburg, so stark in das menschliche Bewusstsein eingeprägt, dass sie praktisch überall, auch dort wo man sie nicht vermutet, auftauchen können. 17 Solche Pathosformeln zirkulieren in der Gesellschaft, prägen soziale Energien und werden von ihnen geprägt 18 – hier lässt sich eine Ähnlichkeit zu Emojis feststellen, die die Art Nachrichten mitzuteilen beeinflussen und aus dem Bedürfnis heraus entwickelt werden, ein genaues Abbild dessen beizufügen, wie man sich fühlt oder was man tut. Bilder, Texte und Gebärden sind ein Geflecht, in dem jede Komponente auf die andere einwirkt 19 und auch Emojis ziehen an den Fäden dieses Netzes. Bewegung ist ein Zeichen von Leben, wenn also die Frage ist, welche Formeln den Wandel der Zeiten überdauern und, um mit Warburg zu sprechen, nachleben, muss man sich mit Bewegungen beschäftigen. 20 Dabei geht es nicht nur um den bewegten menschlichen Körper, sondern vor allem auch um die Bewegung dessen, was ihn umgibt, wie zum Beispiel das Wehen und Faltenwerfen der Kleidung im Wind – solche äußeren Bewegungen vermögen das Bild leben-
14 Vgl. Wedepohl, Claudia: »Von der ›Pathosformel‹ zum ›Gebärdensprachenatlas‹. Dürers Tod des Orpheus und Warburgs Arbeit an einer ausdruckstheoretisch begründeten Kulturgeschichte«. In: Marcus Andrew Hurttig/Thomas Ketelsen (Hg.), Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel. Köln: Walther König 2012, S. 33- 50, hier: S. 42. 15 Vgl. Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 202. 16 Vgl. ebd., S. 224. 17 Vgl. Erstiü, Marijana: »Pathosformel ›Venus‹? Überlegungen zu einer Mythengestalt bei Aby Warburg«. In: Yasmin Hoffmann/Walburga Hülk/Volker Roloff (Hg.), Alte Mythen – Neue Medien. Heidelberg: Winter 2006, S. 33-51, hier: S. 44f. 18 Vgl. Erstiü: »Pathosformel ›Venus‹? «, S. 41. 19 Vgl. G. Didi-Huberman: Das Nachleben der Bilder, S. 280f. 20 Vgl. ebd., S. 212.
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dig zu machen 21 und die innere emotionale Bewegung der Figur nach außen zu transportieren 22. Die Bewegtheit der Pathosformel führt dazu, dass sie flexibel ist, auch wenn sie visuell wiedererkennbar sein muss, um durch die Zeiten und zwischen den Medien wandern zu können. 23 Bleiben einige Grundzüge einer Geste konstant, können ihre anderen Merkmale an die jeweilige Umgebung angepasst werden, ohne dass die zitierte Pathosformel verloren geht. So kann Sandro Botticellis berühmte Körperhaltung der Liebesgöttin von seinem Gemälde »Geburt der Venus« – eine Figur mit der sich Warburg viel beschäftigt hat 24 – etwa in der digitalen Kunst 25 zitiert werden, wobei die Figur einige visuelle Elemente beibehält, andere verliert und einige neue dazubekommt, um an das neue Medium, die neuen Ansprüche und die neue Zeit angepasst zu werden. Dabei können Pathosformeln aus der bildenden Kunst auch in einem anderen Medium, wie zum Beispiel auf einer Theaterbühne, nachgebaut werden. Das einzelne Emoji kann seine visuelle Struktur nicht variieren. Emojis sind primär in der Welt des Chats und auf Smartphones und Tablets zu finden, sie bleiben somit an ihr Medium, das Internet, gebunden. Es gibt zwar auch Dekorationsartikel in Emojiform aber sie halten stets einen starken Bezug zum Internet, denn sobald das Emoji abgewandelt wird, hört es auf Emoji zu sein. Ein Emoji stellt eine bestimmte stereotype Ausdrucksform oder eine Situation dar, von denen es ansonsten auch andere Abbildungen gibt, die keine Emojis sind und in eine solche Abbildung verwandelt sich ein Emoji, wenn es visuell von seiner Emoji-Struktur gelöst wird. Um möglichst viele Gegebenheiten in der digitalen Kommunikation mit einem Emoji zu bedienen, werden stets neue Emojis entwickelt, woraus eine große Bandbreite an Emojis resultiert: Allein um ein Lächeln auszudrücken, kann man aus mehreren Emojis mit unterschiedlich starker Biegung des Mundes wählen. Daraus ergibt sich eine Vielfalt an Bedeutungen: Zum einen wird ein Emoji mit einer bestimmten Bedeutung konzipiert, zum anderen können ihm von verschiedenen Kommunikationspartnern weitere Bedeutungen zugewiesen werden, die ansonsten allgemein kaum mit dem Emoji verknüpft werden. In Emojis sind
21 Vgl. ebd., S. 196 und S. 284. 22 Vgl. C. Wedepohl: »Von der ›Pathosformel‹ zum ›Gebärdensprachenatlas‹«, S. 34. 23 Vgl. M. Erstiü: »Pathosformel ›Venus‹? «, S. 45. 24 Vgl. ebd., S. 41f. 25 Vgl. hierzu die »Venus surfing in Munich’s Eisbach Kanal« des Künstlers und Illustrators Christoph Niemann aus dem Jahr 2018. Botticellis deutlich erkennbare Liebesgöttin ist hier als Wellenreiterin im Neoprenanzug zu sehen.
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demnach sowohl kulturell tradierte Bedeutungen vorhanden als auch solche, die aus einer Verabredung zwischen zwei oder mehr Kommunikationspartnern entstanden sind, woraus sich ein verwirrendes Gespinst an Bezügen ergeben kann.
EMOJIS UND WORTE ALS ZEICHEN Um zu verstehen, was eigentlich der Bezug eines Zeichens ist, ließ sich Umberto Eco von Platons Ideenlehre inspirieren und kam zu dem Schluss, dass sich zwar nichts über eine unabhängig von uns existierende Welt der Ideen sagen lässt, aber man durchaus das, worauf sich Zeichen beziehen, Ideen nennen kann. 26 Übertragen auf Emojis könnte sich etwa das lächelnde Emoji auf die Idee von Freude beziehen und das Daumen-hoch-Emoji auf die Idee von Zustimmung. Diesen Bezug zu erkennen erfordert einen gewissen Grad an Interpretation und dabei besteht eine Ungenauigkeit und Mehrdeutigkeit der Zeichen. 27 Nicht immer ist ein lächelndes Gesicht Freude, es kann auch in Sarkasmus kippen oder, vor allem als Emoji, gar platziert sein, um den Empfänger über die tatsächliche Verfassung des Senders hinweg zu täuschen. Das kann funktionieren, weil Emojis mit der Absicht verschickt werden können, den wahren Zustand des Senders hinter dem Emoji zu verstecken – da das Emoji als festes Bild über eine Entfernung hinweg den Empfänger erreicht und sich nicht verändert, kann diese Täuschung leicht Erfolg haben. Ganz anders ist es bei der Gestik und Mimik, die einem entgleiten kann, sodass man seinen wahren emotionalen Zustand verrät, auch wenn das möglicherweise gar nicht gewollt ist. Da das Emoji nicht körperlich an den Sender gebunden ist, kann er sich stärker vom Emoji distanzieren, denn letztendlich gibt es keine bindenden Regeln dafür, was ein Emoji aussagt und wie es zu platzieren ist. Sicherlich weist die Ähnlichkeit eines Emojis zu seinem physischen Pendant – zum Beispiel zu einem Lächeln – darauf hin, wie es einzusetzen ist und was es bedeutet. Laut Eco ist die Idee, auf die ein Zeichen sich bezieht, stets zu einem gewissen Grad im Zeichen zu erkennen. 28 So ist das lächelnde Emoji in seiner visuellen Gestaltung und seinem Einsatz in Textnachrichten vom Lächeln als einer körperliche Reaktion inspiriert, die unwillkürlich geschieht, wenn man sich
26 Vgl. Eco, Umberto: Die philosophischen Probleme des Zeichens. In: Ders., Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 108-165, hier: S. 108. 27 Vgl. ebd., S. 111. 28 Vgl. ebd., S. 138.
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freut. Für die Rolle des Zeichens als kulturelles Werkzeug ist aber, so Eco, abgesehen von einer Ähnlichkeit zu einer Idee, vor allem die Festlegung durch Konvention wichtig und zwar nicht nur die des Zeichens selbst, sondern auch der Regeln, mit denen es angewendet wird. 29 Diese Regeln, die die Struktur des Zeichensystems ausmachen, setzen im Falle der Sprache voraus, dass es Zeichen gibt, die andere Zeichen in Beziehung zueinander bringen, wie zum Beispiel Präpositionen. 30 Solche eindeutigen Emojis lassen sich schwer ausmachen: So können beispielweise die verschiedenen zeigenden Finger-Emojis für Richtungsangaben stehen, sie könnten aber auch als Anstupsen oder Fortschieben interpretiert werden. Das heißt, Emojis sind von keinem sicheren Netz umfasst, das ihnen Zusammenhang geben könnte – der einzige Zusammenhang kann die Abfolge sein, in der die Emojis gewählt werden und die Worte, an die sich die Emojis reihen und die sie unterstützen oder ironisieren. Dieser Zusammenhang hat jedoch keine Verbindlichkeit wie sie in den Gesetzen der Sprache herrscht. Das Fehlen der festen Regeln, die dem Zeichengeflecht eine Form geben würden, macht die Emojis, die, wie bereits beschrieben, in ihrer visuellen Struktur fest sind, in ihrer Position flexibel. Ein Wort verliert in den meisten Fällen seinen Sinn, wenn es grammatikalisch falsch platziert ist, doch ein Emoji könnte durchaus an jeder Stelle etwas bedeuten: Ist das Lächeln am Satzanfang ein anderes als das Lächeln am Ende? Die Flexibilität in der Position schränkt die Bedeutungsvielfalt der Emojis ein. Ein Wort hat einen Bezug zu einer Idee und wird auf bestimmte Weisen im Satz eingebaut – beachtet man diese Regeln, so kann man mit den verschiedenen möglichen Positionen und Kombinationen der Worte, die unterschiedliche Bedeutungen evozieren, spielen, sodass Metaphern, Phantasien und Zweideutigkeiten entstehen. Die Grenzsetzung durch Regeln ermöglicht demnach Raum für Kreativität. Für Emojis gibt es keine Grammatik, was dazu führt, dass abweichende Bedeutungen von dem, was ein Emoji offensichtlich darstellt, mit Sicherheit schwer auszumachen sind, es sei denn, die Kommunikationspartner haben eine eigene Verabredung getroffen, was ein bestimmtes Emojis für sie heißt. Ansonsten ist kein Netz, das der Verbindlichkeit der sprachlichen Grammatik ähneln würde, vorhanden, um ausgefallene Bedeutungen des Emojis an bestimmten Position zu begünstigen. Wie wirken sich Emojis nun auf das Denken und die Kommunikation aus? Eco beantwortet diese Frage in Bezug auf die Sprache damit, dass der Mensch mit der Sprache gleichzusetzen ist: Der Mensch und sein Denken sind im Kon-
29 Vgl. ebd., S. 147. 30 Vgl. ebd., S. 156.
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text der Kultur ohne die Sprache nicht denkbar, genauso wie es umgekehrt keine Sprache ohne den Menschen als kulturelles Wesen geben würde. 31 Wie ist dann das Verhältnis des Menschen zu den im Vergleich zu der Sprache und zu der Schrift sehr jungen heutigen Emojis einzuschätzen?
URSPRÜNGLICHKEIT DURCH ÄHNLICHKEIT Das Verhältnis zwischen Mensch und Medium haben Marshall McLuhan und sein Sohn Eric in dem von ihnen entwickelten Tetraden-Modell analysiert. Die beiden definieren alles, was der Mensch produziert, sei es ein Artefakt, eine Sprache oder eine Idee, als Medium und behaupten, dass sich an jedes Medium vier empirisch entwickelte Fragen stellen lassen: Was wird durch das Medium verstärkt? Was wird durch das Medium verdrängt? Was lebt durch das Medium wieder auf? In was kann das Medium umschlagen? 32 Diese Fragen fußen auf dem Konzept, dass ein neues Medium entsteht, weil ein Bereich des Lebens einen Mangel aufweist und gefördert werden muss. Mit seinem Auftauchen in der Welt braucht das neue Medium Platz – materiell oder abstrakt gesehen – und schiebt somit die älteren Medien, die bis dahin für diesen Lebensbereich zuständig waren, von ihren Plätzen fort. Das neue Medium bringt nun etwas mit sich, etwas, was einst in irgendeiner Form in der Kultur des Menschen vorhanden war und verloren wurde und deshalb nun abgewandelt durch das neue Medium wiederaufleben soll. Wird dieses Medium bis an seine Grenzen getrieben, kippt es in eine andere Form von Medium, die auch Überforderung oder Gefahr mit sich ziehen kann. 33 Grundsätzlich überfordert ein neues Medium mehr oder minder, denn an etwas, was vorher nicht da war, kann man nicht gewöhnt sein bevor es da ist, sodass ein Umgang mit dem neuen Medium stets zunächst erlernt werden muss. Wird das Emoji in diese Matrix eingesetzt, so fällt auf, was auch den McLuhans aufgefallen ist: Auf die einzelnen Fragen gibt es mehrere mögliche Antworten. Eine Tetrade ist demnach ein Versuch 34 detailliertere Erkenntnisse über das untersuchte Medium zu erhalten, der aber auch zu noch größerer Verwirrung über die mysteriöse Medienwelt führen kann.
31 Vgl. ebd., S. 165. 32 Vgl. M. McLuhan: Laws of Media, S. 98f. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd., S. 129f.
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Die Annäherung an das Emoji im Tetraden-Modell scheint am einfachsten über die letzte Frage: Die viel diskutierten Gefahren des digitalen Zeitalters deuten darauf hin, dass das Emoji in Entfremdung, Distanz und Missverständnis umschlagen kann. Auch die Frage nach dem, was durch das Emoji wiederauflebt, lässt sich damit beantworten, dass Bilder eine Schriftform sein können und in der Geschichte des Menschen stets durch Bilder kommuniziert wurde. Selbst wenn es sich nicht um eine Bilderschrift handelte, so konnte, solange per Hand geschrieben wurde, immer eine kleine Zeichnung dem Text beigefügt werden, die dann in der Kommunikation per getipptem Text zunächst wegfiel. Man baute sie daraufhin in Form von Kombinationen aus Satzzeichen und Buchstaben ein, die Strichgesichtern ähnelten, bevor schließlich die Emojis entwickelt wurden, um wieder eine Visualisierung dessen, was gemeint ist, zu ermöglichen. Das Emoji verdrängt die Worte, die sonst an seinem Platz gestanden hätten. Zudem reduziert es die Vielfalt der Nuancen körperlicher Gestik und Mimik in seinem Wirkungsfeld auf eine bestimmte Anzahl an Emojis, auch wenn es von diesen bereits sehr viele gibt und neue erfunden werden. Die Ausdrucksformen des menschlichen Körpers gehen fließend ineinander über, ein einzelnes Emoji ist aber optisch fest. Das bedeutet, der Sender muss die Nuance der Emotion, die er übermitteln will, in die vorhandenen Kategorien der Emojis einordnen, um ein passendes Emoji zu finden. Wenn der Mensch kommuniziert, teilt er etwas aus seiner Innenwelt der Außenwelt mit, wobei eine Form der Übersetzung stattfinden muss, denn die Informationen, die mitgeteilt werden, sind in der Innenwelt eines jeden Menschen zunächst nicht als ausformulierte Sätze oder fertige Bilder vorhanden – in diese Formen werden sie gebracht, um nach außen transportiert zu werden. Gestik und Mimik sind dabei am nächsten an der fließenden Form des inneren Ausdrucks, können aber ebenfalls formelhaft werden, wenn man an choreografierte Tänze denkt 35. Kommunikation erfordert stets eine Wahl der Kanäle, über die kommuniziert wird und die Wahl des Kanals bedingt die Botschaft. 36 Somit wird es verständlich, dass wenn ein Kanal oder Medium die Nachricht nur in einer bestimmten Form leitet, je nach Situation und Intention, das eine oder das andere Medium passender erscheint. Die Kommunikation durch Emojis im Vergleich zu der Kommunikation mit Worten, die oft zusammen Bestandteile ein und derselben Nachricht sind, verstärkt also in der Textnachricht eben diesen Kanal der Bezugnahme durch visuelle Ähnlichkeit auf etwas. Sender und Empfänger wis-
35 R. v. Laban: Kunst der Bewegung, S. 92f. 36 Vgl. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. Cambridge, London: MIT Press 1994, S. 7.
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sen, dass es irgendwo etwas Physisches gibt, das ähnlich aussieht wie das Emoji, auch wenn es gerade nicht da ist. Der Bezug eines Bildes durch seine Ähnlichkeit zu dem, was es darstellt, wurde in früheren Zeiten – und in gewandelter Form vielleicht auch heute – als magisch empfunden. Durch das Bild sollte sich Einfluss üben lassen auf das, was das Bild zeigte 37 und etwas von dieser Besonderheit des Kontaktes von Bild und Dargestelltem durch visuelle Ähnlichkeit lebt beispielsweise im Umgang mit Fotos fort: Oft werden sie als Erinnerungsstücke genutzt, um eine Verbindung herzustellen zu dem, was auf ihnen zu sehen ist. Das Emoji ist in den meisten Fällen eine abstrahierte Darstellung des Bildsenders selbst, die verschickt wird, um dem Empfänger durch Ähnlichkeit eine Verbindung zu der körperlichen und emotionalen Situation und Umgebung des Senders zu ermöglichen. Die Art von Zauber, die über diesen Kanal gesendet wird, ist die Erinnerung an eine materielle Welt außerhalb des Internets, die durch das Internet beeinflusst wird. Bereits Laban wies darauf hin, dass körperliche Bewegungen als Ausdrucksform etwas sehr ursprüngliches sind und durch sie „der moderne Mensch ein tieferes Vordringen zu den innersten Bezirken menschlichen Lebens und menschlicher Existenz“ 38 erreichen könnte. Die Wichtigkeit der Gestik und Mimik und das gleichzeitige Vermissen einer solchen Kommunikation wurde demnach noch vor den Zeiten der Digitalität bemerkt. Als Formeln haben Emojis etwas Fixiertes, denn sie sind mit ihrem Medium Internet verknüpft und geben eine feste Ausdruckskategorie vor. Sie haben auch etwas Fremdes, da sie vom Sender zwar ausgewählt werden, sich ihm aber naturgemäß nicht anpassen. Gerade dadurch können sie aber daran erinnern, dass die Nachricht aus einer körperlichen Welt stammt, von einem Sender mit Gestik und Mimik, sodass der Empfänger in der Textnachricht ein Bewusstsein für diese flüchtige Gestik und Mimik hat. Somit kann ein Emoji ein digitaler Anker sein, der die Bindung an die physische Welt wahrt, ohne selbst ein Teil von ihr zu sein.
37 Vgl. U. Eco: Die philosophischen Probleme des Zeichens, S. 110. 38 R. v. Laban: Kunst der Bewegung, S. 14f.
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LITERATUR Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Berlin: Suhrkamp 2010. Eco, Umberto: Die philosophischen Probleme des Zeichens. In: Ders.: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 108-165. Erstiü, Marijana: »Pathosformel ›Venus‹? Überlegungen zu einer Mythengestalt bei Aby Warburg«. In: Alte Mythen – Neue Medien. Hg. v. Yasmin Hoffmann, Walburga Hülk und Volker Roloff. Heidelberg: Winter 2006, S. 3351. Laban, Rudolf von: Kunst der Bewegung. Wilhelmshaven: Florian Noetzel 1988. McLuhan, Marshall: Understanding Media. The Extensions of Man. Cambridge, London: MIT Press 1994. McLuhan, Marshall und Eric: Laws of Media. The New Science. Toronto, Buffallo, London: University of Toronto Press 2007. Wedepohl, Claudia: »Von der ›Pathosformel‹ zum ›Gebärdensprachenatlas‹. Dürers Tod des Orpheus und Warburgs Arbeit an einer ausdruckstheoretisch begründeten Kulturgeschichte«. In: Die entfesselte Antike. Aby Warburg und die Geburt der Pathosformel. Hg. v. Marcus Andrew Hurttig und Thomas Ketelsen. Köln: Walther König 2012, S. 33-50.
Werbung in Zeiten von Instagram Neue Herausforderungen für die Medienpädagogik 1 Michael Haas
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»Bei meiner kleinen Schwester merke ich
das zum Beispiel, die ist jetzt 10 Jahre alt. Und die guckt immer so Bibis Beauty Palace. (Lachen) B: Und man merkt schon, wenn Bibis Beauty Palace etwas in ihrem Video sagt, das ist dann auch die Meinung von meiner kleinen Schwester. (Lachen)« 2
1. EINLEITUNG 3 Es ist viel Bewegung in der Medienlandschaft. Die Generation X erlebte die Verbreitung des Homecomputers und die Einführung des Privatfernsehens. Der ältere Teil der Menschen aus der Generation Y, also Personen, die zwischen 1980
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Der im Winter 2018 gehaltene Beitrag wurde im Rahmen dieser Veröffentlichung an einigen Stellen aktualisiert. Außerdem stammen einige Abschnitte aus dem Aufsatz »Heranwachsende und Werbung. Werbekompetenz aus Sicht der Cultural Studies« (Haas i. V.).
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Interviewzitat aus dem Forschungsprojekt »YouTuber*innen-Videos und politische Orientierungen von Jugendlichen«. Projektleitung: Kai-Uwe Hugger, Kai Kaspar und Lars Gräßer 2018. Verfügbar unter: https://www.gmk-net.de/wp-content/uploads/ 20 18/06/nrw-fachtagung_influencer_impuls_folien_hugger_noll.pdf, Zugriff 20.05.2020.
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Im Text wir die klassische Schreibweise wie beispielsweise »die Nutzer« anstatt »die Nutzerinnen und Nutzer« verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich in den Bedeutungserläuterungen impliziert.
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und 2000 geboren wurden, erfuhren hingegen die Anfänge der Digitalisierung. CDs verdrängten zunehmend Kassetten und Schallplatten von den Ladentheken. Mit Modem und einer Standleitung ausgestattet, wählten sich nach und nach immer mehr Menschen in die digitale Welt ein. Hingegen ist die gegenwärtige Generation Z, die u.a. ebenso als Generation YouTube betitelt wird, nahezu vollständig mit digitalen Medien aufgewachsen. Ihre Mediennutzung ist stark geprägt von dem Merkmal der Interaktivität. Medienvermittelte Dialoge können entweder auf parasozialer Ebene stattfinden, wie etwa beim Computerspielen, oder aber sie finden unmittelbar auf der sozialen Ebene statt, wie der Begriff »Social Media« verdeutlicht. Die heutige Technik erlaubt das Abrufen von Informationen und den einfachen Austausch von Informationen in noch nie dagewesenem Maße. Eine solche »smarte« Mediennutzung von Jugendlichen ist meist durch die Kombination von a) (mobiler) Hardware – wie z.B. einem Smart Phone –, b) Software, also Apps, und c) OnlinePlattformen wie YouTube oder Instagram geprägt. Ebenso spielen MessengerDienste wie WhatsApp eine große Rolle. Obwohl der Alltag in starkem Maße digitalisiert ist, werden auch zukünftige Generationen neue Medienformen für sich entdecken. So zeigen sich aktuell bereits Tendenzen, dass Smart Speaker oder Sprachassistenten ein großes bisher unausgeschöpftes Nutzungspotenzial für Schule/Beruf und Freizeit in sich bergen. In dem Maße wie sich die Medien entwickeln, entwickelt sich auch Werbung in ihren unterschiedlichen Werbeformen weiter. In Deutschland wuchs im frühen 20. Jahrhundert die Form des Werbefilms heran. Sie erfolgte zuerst tonlos im Kino und gewann später im Fernsehen an großer Bedeutung. Der bekannte AOLWerbespot (1999), in dem Boris Becker als Testimonial mit den Worten »Bin ich schon drin?« über den smarten Zugang zum Internet staunt, zeigt aus heutiger Sicht anschaulich, dass die im Spot thematisierte technische Entwicklung erst den Beginn des Digitalzeitalters widerspiegelte. Hieran angeknüpft stellt sich die Frage, welche Werbeformen denn erst durch den digitalen Wandel möglich wurden. Es ist zwar im Kontext dieses Beitrags ein unmögliches Unterfangen, sämtliche Werbeformen zu benennen, dennoch lassen sich drei zentrale Charakteristika analysieren, die die Weiterentwicklung von Werbung verdeutlichen. «
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1.1 Addressable Advertising Mithilfe von Datentracking (z.B. durch Cookies) lassen sich Nutzerinformationen, die diese in allen Lebensbereichen, z.B. beim Surfen im Netz, in OnlineVerkaufsportalen oder bei ihrer Social-Media-Nutzung, hinterlassen haben, sammeln. Aufgrund der Erhebung, Speicherung und Auswertung solcher Daten
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bzw. Datenmengen (Stichwort »Big Data«) können mittlerweile recht persönlich angepasste Empfehlungen für Produkt- und Dienstleistungsangebote erstellt werden. Aufgrund dieser Datafizierung der Gesellschaft ist es »erstmals möglich, die Verbrauchererfahrung vollständig zu erfassen und individualisierte Verbindungen zu jedem einzelnen Kunden mitsamt seinen Vorlieben und Interessen herzustellen«. 4 1.2 Content Marketing Werbemaßnahmen können dermaßen stark in einen Medientext, z.B. auf einer Ratgeberseite, in einem Tutorial oder in diversen Social-Media-Plattformen integriert sein, dass sie vom Nutzer kaum oder gar nicht als solche erkannt werden. Eine häufig verwendete Werbeform im Kinder- und Jugendmarketing stellt hierbei u.a. das In-Game-Advertising dar, das in der Werbung in Computerspielen eingebettet wird: Im »Global Games Market Report 2018« verweist das Marktforschungsinstitut »Newzoo« darauf, dass für 2021 rund 156 Mrd. Euro Umsatz im Gamingbereich erwartet werden. Deutschland hat innerhalb Europas den größten Spielemarkt und liegt weltweit auf dem fünften Platz. Neben MobileGames, die fast ausschließlich nach dem Free2play-Modell 5 funktionieren, erfreuen sich eSport-Multiplayergames einer großen Fangemeinde. Der kürzlich erschienene »Football Manager 2019« blendet, wie in vielen Games üblich, reale Werbung ein. Stimmt der Spieler bei der Spielkonfiguration dem erscheinenden Feld »Ihre Auswahl bezüglich Spieltags-Werbeeinblendungen« zu, bekommt er außerdem auf ihn zugeschnittene Werbung, die sich auf seine Interessen, Vorlieben oder auf seinen Wohnort beziehen können. Die Informationen werden aus den gesammelten Benutzerdaten und Informationsverhalten aus dem Spiel gezogen und – wenn der Spieler mindestens 16 Jahre alt ist – z.B. mit Werbeagenturen geteilt (siehe Abschnitt »Addressable Advertising«). In der Folge wird der Gamer während seines digitalen Fußballerlebnisses beiläufig u.a. mit personalisierter Bandenreklame am virtuellen Spielfeldrand umworben.
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Gapski, Harald: »Big Data und Medienbildung – eine Einleitung«, in: Harald Gapski (Hg.), Big Data und Medienbildung. Zwischen Kontrollverlust, Selbstverteidigung und Souveränität in der digitalen Welt, Düsseldorf/München: kopaed 2015, S. 9-18, hier S. 11.
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In diesem Geschäftsmodell können die Basisinhalte eines Games kostenlos gespielt werden, kostenpflichtig sind hingegen Erweiterungen oder das Entfernen von geschalteter Werbung.
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1.3 User-Generated-Content Im Zeitalter der Digitalisierung ist es für jeden Nutzer möglich, selbst Medienprodukte zu erzeugen und diese global über die Kanäle der sozialen Medien zu verbreiten. In der Werbebranche wird es immer beliebter, junge Menschen als sogenannte Influencer zu gewinnen. Auf Plattformen wie YouTube, Snapchat oder Instagram präsentieren Social-Media-Stars wie Bibi oder Dagi Bee 6 in ihren Online-Videos ihre gekauften Produkte (= Haul-Videos) oder packen diese in Filmclips aus und beschreiben dabei den ersten Eindruck der vorgeführten Ware (= Unboxing Videos 7). Häufig steht das beworbene Produkt des Posts jedoch nicht im Mittelpunkt, sondern wird beiläufig in den Post platziert bzw. benannt. Es stellt sich die Frage, wie sich diese Werbephänomene denn aus medienpädagogischer Perspektive einordnen und bewerten lassen? Ein Blick auf den Bereich Werbekompetenz verdeutlicht, dass das Thema Werbung in den 90er Jahren für wenige Jahre explizit in der Medienpädagogik behandelt wurde 8. Neben Werbeplakaten und Werbespots, die im Radio laufen, lag im Zentrum der Betrachtung das Fernsehmedium mit seinen Werbeinhalten. Im neuen Jahrtausend verlor das Werbethema im deutschsprachigen Raum zunehmend an Bedeutung. Werbepädagogische Aspekte in der Lebenswelt von Heranwachsenden bildeten fortan eines von vielen anderen Themen der Medienpädagogik. Die Folgen sind gegenwärtig deutlich zu spüren: Auf die oben knapp skizzierten werbetreiberischen Weiterentwicklungen hat die Medienpädagogik insgesamt gesehen bislang nur ungenügende Handlungsantworten parat. Dreyer/Lampert/Schulze sind der Meinung, dass »Werbekompetenzmodelle […] im Zusammenhang mit Online-Werbung angesichts der Vielfalt und Heterogenität der Werbeformen
6
Bibis YouTube-Kanal »BibisBeautyPalace« (https://www.youtube.com/user/Bibis BeautyPalace) hat gegenwärtig über fünfeinhalb Millionen Follower, bei Dagi Bee (https://www.youtube.com/user/Dagibeee) sind es hingegen knapp vier Millionen Abonnenten (Zugriff: 10.02.2019).
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Vgl. Maaß, Sabrina/Voß, Michaela: »Haul Videos, Unboxing Videos«, in: Spezial JUGEND+MEDIEN. Werbung im Netz. COMPUTER+UNTERRICHT. Lernen und Lehren mit digitalen Medien 4 (2016), S. 44-45.
8
Zur zeitlichen Einordnung möchte ich auf den eingangs genannten AOL-Spot verweisen. Er wurde im Jahr 1999 produziert.
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sowie den Besonderheiten der Onlinekommunikation im Internet nicht mehr greifen«. 9 Das Rad der Werbekompetenzförderung braucht jedoch nicht neu erfunden zu werden. Die vorhandenen Werbekompetenzmodelle, die auf Baackes Medienkompetenzmodell basieren 10 bieten durchaus Ansatzpunkte, aus denen medienpädagogische Handlungsstrategien gegenüber den vorhandenen klassischen und neuen Werbeformen abgeleitet werden können. Um diese erforderliche Perspektivenerweiterung zu erlangen, ist eine knappe Einführung in das Projekt der Cultural Studies nötig.
2. DER ANSATZ CULTURAL STUDIES Die Cultural Studies (= CS) sind ein transdisziplinäres Projekt, bestehend aus wissenschaftlichen Disziplinen wie der Medien- und Kommunikationswissenschaft, der Geschichts- und Erziehungswissenschaft und der Linguistik. Im Zentrum der Überlegungen stehen die Kultur bzw. kulturelle Praktiken mit ihren Bräuchen, Ideen, Gewohnheiten usw., die stets im Kontext mit politischen und ökonomischen Machtstrukturen und Interessen gesehen werden. 11 Kultur wird als »whole way of struggle« 12 angesehen. Entsprechend sprechen CS-Vertreter von einem omnipräsenten »Kampf um Bedeutung« 13, der offen oder verdeckt im Alltagsleben stattfindet. Er »erfolgt in Form subtiler kultureller Aushandlungsund Überzeugungsprozesse, mit denen die Zustimmung der Menschen zu spezifischen Haltungen, Lebensweisen, sozialen und kulturellen Praktiken 9
Dreyer, Stephan/Lampert, Claudia/Schulze, Anne: Kinder und Onlinewerbung. Erscheinungsformen von Werbung im Internet, ihre Wahrnehmung durch Kinder und ihr regulatorischer Kontext, Leipzig: Vistas 2014, S. 54f
10 Vgl. Baacke, Dieter et al.: Zielgruppe Kind: Kindliche Lebenswelt und Werbeinszenierungen, Wiesbaden: Springer VS 1999; Schulze, Anne: Internetwerbung und Kinder. Eine Rezeptionsanalyse, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 106. 11 Vgl. Haas, Michael: Religion und Neue Medien. Eine Untersuchung über (quasi-) religiöses Verhalten von Jugendlichen in ihrem gegenwärtigen Mediengebrauch, München: kopaed 2015, S. 87. 12 Thompson, Edward P.: »Kritik an Raymond Williams „The Long Revolution“«, in: Roger Bromley/Udo Göttlich/Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg: Klampen Verlag 1999, S. 75-91, hier S. 91. 13 Hipfl, Brigitte: »Zur Politik von Bedeutung: Medienpädagogik aus der Sicht der Cultural Studies«, in: Ingrid Paus-Haase/Claudia Lampert/Daniel Süss (Hg.), Medienpädagogik in der Kommunikationswissenschaft, Wiesbaden: Springer VS 2002, S. 35.
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erreicht werden soll« 14. Diese persuasive Kommunikationsform ist zum einen ein zentrales Element der Konsumgüterwerbung, denn Kunden sollen durch die verschiedenen Werbeformen zum Konsum angeregt werden und sich dabei für Ware/Dienstleistung x und nicht für Ware/Dienstleistung y entscheiden. Aus Sicht der CS wird zum anderen ebenso deutlich, dass Werbung – auch im Sinne von für sich oder für andere, für eine Idee, Meinung oder Weltanschauung zu werben – elementarer Bestandteil einer jeden Kultur ist. Jedes kulturelle Produkt, egal ob es sich um einen Spielfilm, eine Nachricht oder um einen Werbespot handelt, durchläuft in seiner Bedeutungskonstruktion, so Du Gay et al., immer wieder fünf verschiedene Stationen im sogenannten »Kreislauf der Kultur« 15. Diese heißen »Produktion«, »Repräsentation«, »Identität«, »Konsum« und »Regulierung« (s. Abb. 1). Auf sie wird im folgenden Kapitel eingegangen.
3. INFLUENCER OR INFLUENCED Unter Einbezug des kulturellen Kreislaufs wird das Thema Influencer-Marketing nun medienpädagogisch beleuchtet. Der Untersuchungsgegenstand ist deshalb so bedeutsam, weil Influencer in der medienkulturellen Lebenswelt von jungen Menschen gegenwärtig eine große Rolle spielen. Die Auswahl an InfluencerAngeboten für Kinder und Jugendliche ist riesig und der Markt wächst in Deutschland weiter. Laut der BRAVO-Mediennutzungsstudie 2018 von Bauer Media folgen 84 % der 10- bis 19-Jährigen einem Influencer. In einer qualitativen Studie mit 150 Heranwachsenden konnte ein Drittel der interviewten Jugendlichen »spontan sagen, welche Marken sein Influencer am liebsten mag« 16. In der Befragung wurde deutlich, dass Teens sich oft den Markenvorlieben ihrer Stars anschließen. Für Kinder bis zu neun Jahren spielen hingegen die Helden aus Geschichten, wie aus Filmen und Büchern, eine entscheidende Rolle. 17 Neben der 14 Ebd. 15 Du Gay, Paul et al.: Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage 1997. 16 OMD Kids Panel, Pressemitteilung: https://www.omnicommediagroup.de/fileadmin/ presse/OMD_Kids_Panel_Helden_und_Influencer_Pressemitteilung.pdf, Zugriff: 04.04.2019. 17 Für Kinder bis zu neun Jahren ist deshalb Cross-Media-Marketing für Werbetreibende eine vielversprechende Maßnahme: So kann z.B. ein Held aus einem Kinofilm auf einem Schulrucksack oder Bettwäsche abgebildet sein oder aber ein vermarktetes Computerspiel handelt von ihm und seinen Abenteuern.
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Aktualität des Themas ist das Influencer-Phänomen deshalb interessant, weil alle der eben beschriebenen neuen Werbemerkmale in der Funktionsweise des Influencer-Marketings erkennbar sind. Aber was genau ist Influencer-Marketing? Funke schreibt dazu: »Influencer-Marketing
beschreibt
alle
Wege
der
Einbindung
von
bekannten
Internetpersönlichkeiten, um die eigene Marke oder die eigenen Produkte zu bewerben. Die Möglichkeiten reichen von den verschiedenen Arten der Produktplatzierungen über Empfehlungsmarketing mit Affiliate-Background bis hin zur Buchung der Influencer als Experten oder Testimonials. Influencer-Marketing setzt dabei auf die Bekanntheit von Influencern und deren besondere Beziehungen zu ihren Followern und Abonnenten. Die dort sehr häufig auftretende enge Beziehung ist der eigentliche Wert des InfluencerMarketings«. 18
3.1 Repräsentation Die Repräsentation verweist im Kreislauf darauf, dass ein Medienprodukt, so auch ein YouTube-Clip eines Influencers, »als Ausschnitt eines kommunikativen Prozesses zu fassen« 19 ist. Um miteinander zu kommunizieren, bedarf es zuallererst eines gemeinsamen Zeichensystems. Da es sich u.a. aus der Sprache, Bildern und Gewohnheiten zusammensetzt, ist es stets im Zusammenhang mit einer (Sub-)Kultur zu sehen. Stark geprägt werden die kommunikativen Prozesse der Influencer vom jeweiligen Setting, das der Kommunikation einen Rahmen gibt. x Ein Setting ist zum einen das Genre, das den behandelten Themeninhalt vorgibt.
In der Welt der Influencer lassen sich diese Genres nach Gebel in der Regel in »Comedy/Lustige Videos«, »Gaming/Let’s Play«, »Beauty/Fashion«, »Vlogs«, »Musik«, »Sport«, »Tiervideos«, »Tutorials/Life-Hacks«, »Schulthemen« und »Info/Aktuelles« einteilen. 20 Die Angebote innerhalb der Genres sind riesig. So
18 Funke, Sven-Oliver: Influencer-Marketing. Strategie, Briefing, Monitoring, Bonn: Rheinwerk Verlag 2018, S. 23. 19 Hepp, Andreas: Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung, Wiesbaden: Springer VS 2004, S. 276. 20 Gebel, Christa: Das YouTube der Acht-bis 14-Jährigen. Von Let’s Bastel bis Katja Krasavice, Präsentationsfolien im Rahmen der Influenced?«,
Bielefeld,
07.06.2018,
Fachtagung »Influencer or
https://dev.gmk-net.de/wp-content/uploads/
2018/06/nrw-fachta gung_influencer_impuls_folien_gebel.pdf, Zugriff 20.05.2020.
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können Heranwachsende sich im Influencer-Universum entsprechend ihrer individuellen und aktuellen handlungsleitenden Themen ihre passenden (parasozialen) Kommunikationspartner aussuchen. x Der Stil der Influencer beeinflusst den kommunikativen Prozess mit dem Nutzer auf entscheidende Weise. Seine (Umgangs-)Sprache, Kleidung, die Art, wie er seine Inhalte präsentiert (z.B. humorvoll, provakant), aber auch seine individuellen Verhaltensweisen sind elementarer Bestandsteil des Zeichensystems. Die Protagonisten inszenieren sich in den sozialen Medien in der Regel als Mensch »wie du und ich«. Ihre Fotos und Videos entspringen oft dem Alltag, man sieht sie im Wohnzimmer, beim Einkaufen oder auf Partys. Den Followern wird also stets aus vermeintlich nächster Nähe der Lebensstil der Influencer präsentiert. Dadurch erscheinen die übermittelten Codes der Influencer nahbarer und glaubwürdiger. x Der strukturelle Rahmen des kommunikativen Prozesses wird außerdem vom Faktor Zeit und Ort bestimmt. In unserer digitalisierten Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass Jugendliche über ein mobiles Endgerät verfügen. Selbst über 60% der jungen Menschen zwischen sechs und 13 Jahren verfügen über ein Smartphone oder ein Handy 21. Das heißt, der Nutzer besitzt einen großen Freiheitsgrad, die Kommunikation mit dem Influencer aufzubauen. Er kann sich morgens beim Aufwachen, abends vor dem Einschlafen oder auf dem Weg zur Schule Videos oder sonstige Posts vom Influencer anschauen. Räumliche Distanzen werden auf virtueller Ebene also ebenso überwunden. Diese gewisse Zeit- und Ortsunabhängigkeit führt zu einer starken Präsenz des Influencers inklusive seiner Botschaften. Die genannten Faktoren »Inhalt«, »Stil« und »Zeit/Ort« beeinflussen und festigen den adressatenspezifischen Kommunikationsprozess in hohem Maße. Dadurch funktionieren Influencer als Berater. Berater sind, so der Soziologe Bauman, die Experten unserer Gegenwart schlechthin: »Sie werden je nach Bedarf hinzugezogen und können jederzeit abbestellt werden. Es besteht also eine Freiwilligkeit seitens der Konsumenten. Ratgeber müssen dementsprechend für ihre Dienste werben.» 22 Sie produzieren hierbei – durch regelmäßige Posts – kontinuierliche, lebensnahe Angebote, die für die Zielgruppe einen praktischen
21 Vgl. Iconkids & youth: Die Medien-Mütter: Wie deutsche Mütter Bewegtbild und Social Media nutzen; Repräsentative Face-to-Face-Befragung, im Auftrag von SUPER RTL (März 2018). 22 M. Haas: Religion und Neue Medien. Eine Untersuchung über (quasi-)religiöses Verhalten von Jugendlichen in ihrem gegenwärtigen Mediengebrauch, S. 23.
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Mehrwert bieten. Selbstverständlich haben Influencer einen unterhaltsamen Charakter. Ihren Erfolg lediglich auf den Aspekt des Entertainments zu reduzieren, greift jedoch zu kurz. Die hohe Bedeutung, die Influencer für zahlreiche junge Menschen haben, zeigt sich erst darin, dass sie als Experten angesehen werden, die außerdem scheinbar immer und überall zur Verfügung stehen bzw. zu Rate gezogen werden können. Influencer und ihre Repräsentationen sind entsprechend mächtig. Denn in ihrer Funktion als persönlich ausgewählte Ratgeber sind ihre Medieninhalte mit den implizierten Botschaften dazu prädestiniert, eine meinungsbeeinflussende Wirkung bei ihren Anhängern hervorzurufen. Selbstverständlich sind die Nutzer ebenso Teil des kommunikativen Prozesses. Dabei geht es darum, wie der codierte Medieninhalt des Influencers mit seinen (Werbe-)Botschaften wahrgenommen und decodiert wird. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, über welche (Werbe-)Kompetenzen der Nutzer verfügt. Werden Medienangebote permanent unreflektiert decodiert, so werden die darin vorhandenen Repräsentationen – so Vertreter der CS – vom entsprechenden Nutzer als kulturell selbstverständlich angesehen. Wenn ein Heranwachsender beispielsweise unkritisch regelmäßig Influencer-YouTube-Videos à la BibisBeautyPalace konsumiert, so wird er die darin präsentierte Lifestylewelt als »natürlich« ansehen. Ihn wird es vermutlich kaum irritieren, dass seine Beraterin (s.o.) Millionärin ist und ihm sowie anderen jungen Zuschauern u.a. eine Uhr für 250 Euro anpreisen möchte. Der immense Einfluss solcher Rekonstruktion zeigt sich ebenso beim Thema Fake-News. Selbst wenn eine Botschaft unwahr ist, gewinnt sie, sobald sie immer wieder unkritisch decodiert wird, an Bedeutung. Sie verbreitet sich im kulturellen Kreislauf und fließt mit der Zeit ins (kulturelle) Gedächtnis, bis sie irgendwann scheinbar wahr geworden ist.
3.2 Identität Der kulturelle Prozess Identität verweist darauf, dass Identität kein statisches »Etwas« ist, das jemand besitzt oder nicht. Vielmehr sind Individuen ein Leben lang damit beschäftigt, sich mithilfe aus dem in der Kultur zirkulierenden symbolischen Material (Meinungen, Ideen, Normen, Werte etc.) ihre eigene Identität zu konstruieren. Diese lebenslange Aufgabe wird als »doing identity« 23 bezeichnet. Bei der Identitätskonstruktion spielen im Zeitalter der Digitalisierung mediale Ressourcen – die stets mit Interessen/Botschaften codiert sind (s. o.) – 23 B. Hipfl: Zur Politik von Bedeutung: Medienpädagogik aus der Sicht der Cultural Studies, S. 34-48, hier S. 42.
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eine zentrale Rolle. Hierbei beschäftigen sich Heranwachsende mit ihren handlungsleitenden Themen: Neben aktuellen situationsabhängigen Anlässen beziehen sie sich auf Motive, die mit dem Prozess des Erwachsenenwerdens zusammenhängen, wie beispielsweise Verselbstständigung, Vergemeinschaftung, Sexualität, Freundschaft oder Zukunftsperspektiven. Aus dieser Sicht wird jungen Menschen durch die Influencer eine breite Palette von Symbolen, z.B. in Form von Marken, Lebensstilen und Verhaltensweisen, angeboten. Sie bewerten und vergleichen die Medieninhalte inklusive ihrer Botschaften mehr oder weniger reflektiert, transferieren den möglichen Mehrwert in ihr Selbstbild und vergewissern sich dadurch ihres eigenen Ichs. Die Welten der YouTube- und Instagram-Stars offerieren den interessierten Nutzern oftmals Freiräume, in denen Jugendliche auf parasozialer Ebene in die Rollen ihrer Experten schlüpfen und dadurch Lebensstile und Handlungsmöglichkeiten scheinbar ausprobieren können. Diese parasoziale Interaktion setzt eine hohe Identifikation des Nutzers mit dem Influencer voraus. In Anlehnung an den symbolischen Interaktionismus kann dieses Phänomen als »role taking« bezeichnet werden. 24 Heranwachsenden ist es so auch möglich, scheinbar soziale Grenzen zu testen. Der Vorteil: Sie brauchen nicht zu befürchten, dass ihre parasozialen Handlungen in der Alltagswirklichkeit tatsächliche Konsequenzen mit sich bringen. Die Bedeutung von Influencern für junge Menschen zeigt sich ebenso darin, dass sie in ihrer beratenden Funktion in die Rolle eines scheinbaren Peermitglieds schlüpfen. Gleichaltrige spielen mit zunehmendem Alter eine immer wichtige Rolle für junge Menschen. Eine Clique kreiert eigene rituelle Handlungen wie z.B. Sport, Stile, Kleidung, Sprache oder übernimmt medienvermittelte Angebote. 25 Die praktizierten Rituale der Peers helfen dabei, sich von der Erwachsenenwelt und auch von anderen Cliquen abzugrenzen. Dadurch wird das Gemeinschaftsgefühl der Zugehörigen gestärkt. Influencer können als scheinbares Peermitglied Heranwachsenden Orientierung und Sicherheit geben. Influencer suggerieren durch ihre dargestellte Lebensnähe, dass sie »dazu gehören«. Diese inszenierte und vermittelte Authentizität schafft Vertrauen beim Nutzer gegenüber dem Influencer. Sein vermeintliches Expertenwissen und seine Berühmtheit in den sozialen Medien können ihm einen hohen Rang innerhalb der
24 Vgl. M. Haas: Religion und Neue Medien. Eine Untersuchung über (quasi-)religiöses Verhalten von Jugendlichen in ihrem gegenwärtigen Mediengebrauch, S. 81. 25 Vgl. Hafeneger, Benno: Jugendkulturelle Modernisierung. Subjektbezug in Lernen und Bildung, Schwalbach: Wochenschau Verlag 2004, S. 18.
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Gruppe sichern. Somit kann er den Stellenwert seiner Medienbotschaften bei Peers stark beeinflussen und verstärken. Influencer bieten eine große Auswahl an symbolischem Material, welches junge Menschen für ihr Identitätspatchwork verwenden können. Hier zeigt sich das entwicklungsfördernde Potenzial, welches zu einer Perspektivenerweiterung des eigenen Ichs führen kann. Jedoch kann es aufgrund einer mangelnden Werbekompetenz zu einer unreflektierten Übernahme von den von Influencern vermittelten Identitätsfragmenten kommen. 3.3 Produktion In der Produktion wird die Basis für einen bestimmten Medieninhalt geschaffen. Die (z.B. monetären) Absichten, Gefühle und Ideologien der Medienmacher, aber auch ihre technischen oder finanziellen Möglichkeiten prägen die spezifische Codierung des Inhalts. Eine Medienproduktion ist aus Sicht der CS also niemals objektiv. 3.3.1 Influencer Jeder Mensch ist Produzent von Bedeutung. Selbst in alltäglichen Interaktionen wie im Schulumfeld oder im Freundeskreis werden Meinungen, Weltanschauungen etc. ausgetauscht bzw. verhandelt. So ist aus Sicht der Cultural Studies prinzipiell jedes Mitglied der Gesellschaft im weit gefassten Sinne ein Influencer. Junge Menschen haben im Zeitalter der Digitalisierung prinzipiell mehr Möglichkeiten, ihre Ansichten und Interessen leicht in die Kultur zu tragen, um diese in der Rolle eines Produzenten (s. o.) mitzugestalten. Mittels wenig Aufwand können sie Medienprodukte in Form von Blogeinträgen oder Videos herstellen, die sie auf diversen Plattformen bzw. in den sozialen Medien global verbreiten. Erst aus dem partizipatorischen Element dieser aktiven Mediennutzung heraus konnte das Phänomen Influencer, wie wir es gegenwärtig erleben, wachsen. Aufgrund der technischen Entwicklung ist es für Influencer möglich, dass ihre kontinuierlich neu geschaffenen Medieninhalte in Form von Bild- oder Videoposts unmittelbar in den Lebensalltag von Konsumenten vordringen können. Ein erfolgreicher Influencer zeichnet sich u.a. durch seine hohe Reichweite aus. Die Codes der Influencer sind für junge Menschen recht viabel für ihr Identitätspatchwork. Als beratender Experte sind ihre Repräsentationen besonders bedeutsam für ihre Zielgruppe. Das inszenierte Image »Ich bin einer von euch!« (= Peer-Mitglied) schafft zusätzlich Vertrauen seitens der Nutzer. Je
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nachdem, wie stark der Influencer in Interessengemeinschaften und Kooperationen eingebunden ist, kann es für den Influencer eine große Herausforderung darstellen, seine Botschaften weiterhin glaubwürdig zu vermitteln. Hier zeigt sich der schmale Grat des Content-Marketings: Was ist in einem Medienprodukt der »redaktionelle« Inhalt und ab wann beginnt Werbung? Je erfolgreicher Influencer sind, umso professioneller inszenieren sie sich. In der Regel wird nichts oder bloß sehr wenig dem Zufall überlassen. Neben dem Einsatz von hochwertigem Equipment für Kamera und Ton wird vor der Produktion ein Konzept geplant und umgesetzt. U.a. werden der Themeninhalt gescripted, das Setting geplant, mögliche Requisiten organisiert und ins Setting integriert. Die Szenen können beliebig oft erneut aufgenommen werden, bis das Endergebnis passend ist, um im nächsten Schritt mit (Bewegt-)Bildsoftware nachbearbeitet zu werden 26. Nicht selten arbeiten »hinter den Kulissen« einer Influencerproduktion mehrere Personen. Influencer bewerben ihre Botschaften als authentisch. Vor dem Hintergrund der Professionalisierung von erfolgreichen Influencern stellt sich jedoch die Frage, ab wann bei ihren Inhalten von einer Inszenierung der Authentizität gesprochen werden kann. Da es mittlerweile eine große Zahl an Influencern gibt, kann es hierbei keine allgemeingültige Antwort geben. 3.3.2 Industrielle Medienproduzenten Industrielle Medienproduzenten sind aus klassischer Sicht Medienmacher, die ihre Inhalte erfolgreich durch die Massenmedien verbreiten können und sich im Laufe der Zeit in einer Kultur etabliert haben bzw. etablieren. Sie sind in ein mehr oder weniger umfangreiches System von Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten eingebunden, dem u.a. auch Agenturen und Vermarkter angehören. Selbstverständlich kommen im Zuge der Digitalisierung neue Akteure dazu, während andere an Bedeutung verlieren. Neuere zentrale Player wie z.B. die Plattformbetreiber »YouTube«, »Amazon«, »Instagram« oder »Netflix« beeinflussen gegenwärtig die globale Medienlandschaft in noch nicht absehbarer Weise. Medienmacher können Botschaften weitreichend über diverse Kanäle streuen, sodass sie die gesellschaftliche Meinungsbildung beeinflussen können. Sie verfügen über ein mächtiges Netzwerk und finanzielles Kapital. Entsprechend professionell und umfangreich können sie in aufwendige Werbemaßnahmen
26 Anschaulich lässt sich dieser Professionalisierungsprozess verdeutlichen, wenn z.B. auf einem YouTube-Channel die ältesten Videos eines Influencers mit seinen neuesten nacheinander betrachtet und verglichen werden.
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investieren, um u.a. mit Addressable Advertising und Content- bzw. UnserGenerated-Content-Marketing eine Absatzsteigerung ihrer Produkte zu erzielen. Im User-Generated-Content-Marketing offenbart sich nun die Allianz zwischen industriellen Mediengrößen und Influencern. Je nach Standpunkt handelt es sich um eine Partnerschaft, bei der beide Seiten gleichermaßen profitieren. So sind Werbetreibende zum einen Geldgeber, die den Influencern ihr Hobby bzw. ihren Job, der ihnen Spaß macht, (mit-)finanzieren. Zum anderen kann der Influencer durch diese Kooperation ggf. sein Profil stärken und sich persönlich weiterentwickeln. Jedoch besteht aus kritischer Betrachtung heraus ebenso die Gefahr, dass die Werbeindustrie junge Menschen in ihrer Rolle als Influencer in gewisser Weise instrumentalisiert. Unabhängig davon, wie diese Allianz bewertet wird: Fest steht, dass etablierte Medienmacher, die eine Kooperation mit Influencern eingehen, den Content ihrer oft jungen Geschäftspartner unweigerlich beeinflussen. Influencer werden als Botschafter engagiert und bewerben in ihren Posts mal mehr, mal weniger deutlich, ein Produkt, eine Marke oder eine Dienstleistung. Da sie die Kernthemen ihrer Nutzer kennen und über aktuelle Trends in der Jugendkultur Bescheid wissen, ist es im Sinne des Addressable-Advertisings möglich, die entsprechende Zielgruppe effizient, mitten in ihrer Alltagswelt, zu erreichen. Darüber hinaus sind Influencer für Werbetreibende interessant, da sie nicht selten als Ideengeber und Konzeptgeber Produkte weiterentwickeln und neue Produkte des Auftragsgebers entwickeln. 27 In diesem Zusammenhang liefern Influencer »Einblicke in die Bedürfnisse der Zielgruppe, bauen darauf basierend Konzepte und schaffen so die Grundlage einer überzeugenden Kommunikation«. 28 3.4 Regulierung In der Regulierung sind Kräfte gebündelt, die sich in starkem Maße für das Einhalten von sozialen Konventionen und Regeln einsetzen. Neben der Schule und weiteren pädagogischen Einrichtungen sind im Kontext mit Werbung für Heranwachsende z.B. die staatlichen Landesmedienanstalten zu nennen, die u.a. für die Einhaltung der Vorschriften des Jugendmedienschutz-Staatsvertrages zuständig sind. Aber auch das System der regulierten Selbstregulierung, in der z.B. die Freiwillige Selbstkontrolle Multimedia-Dienstanbieter (FSM e. V.) oder die freiwillige Selbstverpflichtung der Lebensmittelindustrie (EU-Pledge)
27 Vgl. S.-O. Funke: Influencer-Marketing. Strategie, Briefing, Monitoring, S. 139. 28 Ebd.
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eingebunden sind, hat Einfluss auf die Qualität und Transparenz von Werbeinhalten im Umfeld von Kindern und Jugendlichen. Damit junge Menschen als noch unerfahrene Verbraucherinnen und Verbraucher geschützt werden, ist staatlich vorgegeben, dass Werbung u.a. deutlich als solche erkennbar sein muss. Mittlerweile gibt es für Influencer Leitlinien, wie genau sie Produkte, Marken, Reisen etc. in ihren Social-MediaAngeboten als werblich kennzeichnen müssen. Je nachdem, ob der Produzent eine Gegenleistung für die Veröffentlichung bekommt, bzw. sie an Bedingungen seitens eines kommerziellen Drittanbieters geknüpft ist, oder die Veröffentlichung ohne kommerzielle Absichten eines Dritten erfolgt, unterscheidet sich die Art der Kennzeichnungsplicht. In diesem Zusammenhang wird ebenso differenziert, ob der Influencer seinen Medieninhalt als Blogeintrag, als Video (z.B. auf YouTube) oder als eine Kombination von Bild und Text (z.B. auf Instagram oder Snapchat) veröffentlicht. 29 Die zahlreichen Abmahnungen von Influencern in den letzten Monaten verdeutlichen jedoch, dass es bezüglich der Kennzeichnungspflicht von Inhalten juristisch und pädagogisch noch Handlungsbedarf gibt. Im Kern basieren diese Konflikte auf dem von Influencern durchgeführten Content-Marketing. Diese Strategie besteht schließlich genau darin, werbliche mit unterhaltenden oder beratenden Botschaften zu kombinieren. Dieser oft uneindeutige Umstand hat zur Folge, dass aus juristischer Sicht jeder Post für sich überprüft und bewertet werden muss. Eltern können als zentrale Regulierungsinstanz angesehen werden. Als primäre Sozialisationsinstanz haben sie einen entscheidenden Einfluss auf die Medienrezeption ihres Nachwuchses. Schließlich sammeln Kinder im Kontext der Familie ihre ersten Lebenserfahrungen. Gegenwärtig hat es den Anschein, als klammerten häufig viele Eltern im Lebensalltag aus, dass soziale Medien eine unendliche Fülle von nicht-altersgerechten Inhalten zur Verfügung stellen. So zeigte sich in einer YouTube-Studie von Rich Harvest, dass bereits 1- oder 2Jährige über die Eltern oder älteren Geschwister mit der Plattform YouTube in Berührung kommen und dabei nicht selten auf für sie problematischen Content stoßen: »Die Verfügbarkeit, Einfachheit und die schier unerschöpfliche Vielfalt des YouTube-Angebots sind verlockender als alle Bedenken. Eltern blenden das Gefahrenpotenzial aus (›Es wird schon nichts passieren‹). Teilweise werden auch
29 Vgl. die medienanstalten (2018): Leitfaden der Medienanstalten. Werbekennzeichnung bei Social Media-Angeboten, unter: https://www.die-medienanstalten.de/ fileadmin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Richtlinien_Leitfaeden/Leitfaden_Medienan stalten_Werbekennzeichnung_Social_Media.pdf, Zugriff 10.05.2020.
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die Kinder in die Verantwortung genommen (›Sie wissen ja schließlich, dass sie sich so was nicht angucken sollen‹).« 30 Darüber hinaus zeichnet sich gegenwärtig ein Trend ab, bei dem die elterliche Regulierungsfunktion sogar ad absurdum geführt wird, indem Eltern ihre Kinder zu Influencern aufbauen. Der Markt dieser Kinderinfluencer ist zwar noch relativ überschaubar, dennoch sollte dieser Trend aus medienpädagogischer Perspektive genauer betrachtet werden. Als exemplarisches Beispiel möchte ich auf die 9-jährige Miley verweisen. Ihr YouTubeKanal bzw. der Kanal ihrer Eltern »Mileys Welt« gibt regelmäßig Einblicke in das private Freizeitleben dieses Kindes. Die Eltern verdienen mit der Vermarktung von Miley scheinbar so viel Geld, dass beide ihren Job aufgegeben haben. Wie viel Druck mag wohl auf so einem jungen Wesen liegen, das für den Lebensunterhalt der Familie verantwortlich ist? Beide elternbezogenen Beispiele verdeutlichen, wie elementar mediale Aufklärungsarbeit auch bei Eltern ist. Es geht hierbei einerseits um den Schutz der Kinder, nicht zu ihrem Schaden als Influencer (von ihren Eltern) medial inszeniert zu werden. Andererseits ist es im Sinne der Werbekompetenzförderung zentral, dass bereits Eltern den Medienalltag ihrer Kinder kompetent begleiten, indem die Heranwachsenden in ihrer Rolle als unerfahrene Konsumenten u.a. auch auf die Funktionsweise des Kinder-Influencer-Marketings aufmerksam gemacht werden. 3.5 Konsum Der Konsum steht im Kontext der CS nicht bloß für den Verbrauch von Gütern, sondern insgesamt für das Decodieren und Recodieren der in einer Kultur zirkulierenden Bedeutungen. An dieser Stelle des Kulturkreislaufmodells wird deutlich, dass die Rezeption kein passiver Vorgang ist, in der ein Verbraucher die kulturelle Ware trichterförmig übergestülpt bekommt. Die noch weit verbreitete Meinung, Werbung bzw. werbliche Botschaften manipulierten junge Menschen, die ihr schutzlos ausgeliefert seien, ist nicht konform mit diesem Modell. Es liegt an jedem Nutzer selbst, wie er in seiner Rolle als Konsument z.B. den Inhalt eines Influencers entschlüsselt bzw. welche Bedeutung er ihm gibt. Der Soziologe Stuart Hall (1932-2014) unterscheidet drei Positionen, die ein Nutzer beim Decodieren von Medieninhalten einnehmen kann: In der (1) dominant-hegemonialen Position wird die von den Medienmachern beabsichtigte Nachricht, ohne
30 Guth, Birgit: »Blick auf das Kinderfernsehen. Vom TV zum YouTube-Clip«, in: tv diskurs 1 (2019), S. 70, https://tvdiskurs.de/beitrag/blick-auf-das-kinderfernsehen/, Zugriff: 10.05.2020.
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zu reflektieren, komplett übernommen. In der (2) ausgehandelten Position wird die Botschaft hingegen teilweise übernommen, teilweise kann es aber auch zum Widerstand gegenüber dem entschlüsselten Inhalt kommen. Aus Sicht der Werbekompetenzförderung ist die folgende Position für Heranwachsende wünschenswert (3): »In der oppositionellen Position ist sich das Subjekt bewusst, dass der Text mit einem dominanten Code versehen wurde« 31. Beispielsweise wäre dies der Fall, wenn eine 15-Jährige zwar die Gamefertigkeiten des NintendoLetsplayers Dominik Neumeyer schätzt, sie sich aber bewusst nicht dazu verleiten lässt, die in seinen Clips vorgespielten und dadurch präsentierten Games zu kaufen. Abbildung 1: Kreislauf der Kultur (Circuit of Culture)
Quelle: in Anlehnung an Du Gay et al. (1997, 3)
4. MEDIENPÄDAGOGISCHE FOLGERUNGEN Aus der Perspektivenerweiterung der Cultural Studies ergeben sich für den konstruktiven medienpädagogischen Umgang mit dem Phänomen InfluencerMarketing folgende Aspekte: 31 Vgl. M. Haas: Religion und Neue Medien. Eine Untersuchung über (quasi-)religiöses Verhalten von Jugendlichen in ihrem gegenwärtigen Mediengebrauch, S. 92.
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4.1 Werbung ist mehr als Konsumgüterwerbung Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Werbung in der Regel mit Konsumgüterwerbung gleichgesetzt. Unter Einbezug der CS erweitert sich das Sichtfeld, denn Menschen können jederzeit auch für sich oder für andere, für Positionen, Weltanschauungen, Ziele usw. werben. Im kulturellen Kampf um Bedeutung ist Aufmerksamkeit die entscheidende Ware. Die Aussage von Kroeber-Riel/Weinberg, »Werbung wird definiert als versuchte Meinungsbeeinflussung mittels besonderer Kommunikationsmittel« 32, fügt sich nahtlos in die Influencer-Thematik ein. Die Kennzeichnung von Werbung auf Plattformen wie Instagram und YouTube ist pädagogisch wichtig, die Signalwirkung verpufft jedoch, wenn z.B. der Hashtag »Werbung« in der Masse an weiteren Hashtags untergeht oder jeder zweite Post pauschal als Werbung gekennzeichnet wird. Eine klare Kennzeichnung von Werbung als solche muss also mit einer Förderung von Werbe- und Medienkompetenz einhergehen. Heranwachsende benötigen Skills, mit denen sie Medieninhalte im Allgemeinen und von Influencern im Speziellen reflektiert decodieren und entsprechend bewerten können. 4.2 Sich der Werbung zu entziehen ist weder möglich noch sinnvoll Werbeverbote per se sind aus medienpädagogischer Sicht nicht sinnvoll. Zum einen ist es im digitalen Zeitalter ein unmögliches Unterfangen, die Omnipräsenz der Werbung und ihrer Mechanismen zu stoppen. Zum anderen ist Werbung, wie aufgezeigt, zentraler Bestandteil unseres kulturellen Zusammenlebens. In anderen Worten ausgedrückt: »Die Demokratie basiert auf der Konkurrenz der Ideen und damit auch auf Werbung.« 33 Anstatt also Kinder und Heranwachsende von Werbung und werblichen Formaten (wie dies bei Influencer-Content der Fall ist) auszuschließen, sollten sie – innerhalb der Rahmenbedingungen des Jugendschutzes – eigene, unmittelbare Erfahrungen mit Werbung sammeln, um dabei den kompetenten Umgang mit ihr zu erlernen.
32 Kroeber-Riel, Werner/Weinberg, Peter: Konsumentenverhalten, München: Vahlen 1996, S. 580. 33 Rosenstock, Roland/Fuhs, Burkhard: »Kinder – Werte – Werbekompetenz», in: tv diskurs 4 (2006), S. 44, abrufbar unter: https://tvdiskurs. de/data/hefte/ausgabe/38/ rosenstock_fuhs040_tvd38.pdf, Zugriff 10.05.2020.
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Heranwachsende sind noch unerfahrene Marktteilnehmer im kulturellen Kreislauf, entsprechend benötigen sie Unterstützung beim Erlangen ihrer Werbekompetenz. In diesem Zusammenhang spielen überwiegend Akteure eine Rolle, die dem Prozess der Regulierung (s. o.) zuzuordnen sind. Darunter fallen u.a. Eltern, schulische und außerschulische pädagogische Einrichtungen, aber auch Werbetreibende, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind. 4.3 Ein kompetenter Umgang mit Werbung schafft gesellschaftliche Teilhabe und Zugehörigkeit Wie die CS verdeutlichen, kann der Konsument gegenüber einer Medien(werbe)botschaft unterschiedliche Positionen einnehmen. Darüber hinaus ist er als Produzent unmittelbar an der Bedeutungsproduktion im Kulturkreislauf beteiligt. Dahinter steckt das Weltbild eines aktiven realitätsverarbeitenden Subjektes: »Der Prozess der Identitätsbildung handelt also ebenso vom ›beeinflussenden‹ und nicht nur vom ›beeinflussten‹ Menschen« 34. Aus der Perspektive eines aktiv handelnden Konsumentenbildes wird deutlich, dass junge Nutzer das von Influencern offerierte symbolische Material für ihr Identitätspatchwork auf eine konstruktive Weise benutzen können (s. Kapitel 3.2). Zusätzlich steckt hinter allen pädagogischen Vorbehalten gegenüber Influencer-Marketing im Ansatz des UserGenerated-Content die Chance für Heranwachsende, sich Gehör zu verschaffen, indem sie ihre Meinung von der Welt mittels digitaler Medien verbreiten. Auch soziale Themen müssen schließlich kompetent beworben werden, damit sie sich beim Kampf um Bedeutung erfolgreich behaupten können. 35 4.4 Produzenten spielen eine entscheidende Rolle beim Kampf um Bedeutung Wer im Kontext von Werbung an Produzenten denkt, dem fallen vermutlich als erstes Vertreter der Werbeindustrie ein. Aufgrund ihrer ökonomischen Ressourcen können sie ihre Botschaften in großem Maße und auf verschiedenste Weise in den diversen Kanälen der Massenmedien (zunehmend adressatengerecht) platzieren. Entsprechend können sie als Big Player im kulturellen Kreislauf bezeichnet werden. Gleichzeitig verdeutlicht das Influencer-Phänomen, dass im
34 M. Haas: Religion und Neue Medien. Eine Untersuchung über (quasi-)religiöses Verhalten von Jugendlichen in ihrem gegenwärtigen Mediengebrauch, S. 31. 35 Als Anschauliches Beispiel möchte ich auf die globale Schüler- und Studierendenbewegung #FridaysForFuture verweisen.
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Digitalzeitalter prinzipiell jeder die Möglichkeit hat, mit einfachen technischen Mitteln eine Gruppe von Menschen zu beeinflussen. Nicht bloß der finanzielle Erfolg von Influencern verdeutlicht dies, auch häufen sich Nachrichten, in denen der Einfluss der Influencer zu einer massiven Störung der öffentlichen Ordnung beiträgt. 36 Ebenso können Eltern als Medienproduzenten aktiv sein und in ihrer Rolle als Kameramann, Drehbuchautor etc. ihre Kinder medial inszenieren. Egal ob es sich bei den Produzenten um a) Vertreter der Werbeindustrie, um b) Privatpersonen oder um c) Eltern handelt, sie tragen (ganz besonders, wenn es um die Zielgruppe der Heranwachsenden geht) eine gesellschaftliche Verantwortung. Gerade Kinder sind aufgrund ihrer noch nicht ausgereiften kognitiven und sozialen Entwicklung sowie ihrer mangelnden Erfahrung verletzliche Verbraucher. Diesen Umstand gilt es aus einer medienpädagogischen Position heraus bei allen geplanten und durchgeführten Medienproduktionen und Werbestrategien stets zu beachten. Es bedarf in diesen drei Wirkungsgruppen (a-c) medienpädagogischer Aufklärungsarbeit, in der explizit die Bedeutung von offensichtlichen und verdeckten persuasiven Botschaften thematisiert wird. Dieser Bereich der Werbekompetenzförderung bezieht sich auf die Dimension »Medienethik/Medienkritik« (s. u.). 4.5 Die Förderung von Werbekompetenz bedarf einer systematischen Herangehensweise In der Praxis gibt es mittlerweile vereinzelt sehr gute Ansätze, das Thema Influencer medienpädagogisch zu bearbeiten 37. Damit nicht nur ein Bereich dieses komplexen Werbephänomens, wie z.B. die Merkmale des Influencer-Marketings, thematisiert werden, empfiehlt sich eine systematische Herangehensweise, in der Lehr-/Lernkonzepte aus allen vier Dimensionen der Werbekompetenzförderung 38
36 So kam es am 22.3.19 am Berliner Alexanderplatz zu einer Massenschlägerei, die auf einen Streit zwischen YouTubern zurückzuführen ist. Einen Tag später eskaliert ein – von zwei YouTubern aufgerufener – Flashmob mit 600 Personen auf der Frankfurter Zeil. Als die Polizei einschritt, wurde diese mit Steinen beworfen (vgl. http://www. spiegel.de/panorama/justiz/berlin-massenschlaegerei-auf-dem-alexanderplatz-neunfestnahmen-a-1259116.html; http://www.spiegel.de/panorama/frankfurt-flashmob-es kaliert-steinwuerfe-auf-polizisten-a-1259384.html, Zugriff 20.05.2020). 37 Vgl. z.B. Gräßer, Lars/Gerstmann, Markus: »Webvideo und seine Töchter«, in: Betrifft Mädchen 2 (2017), S. 74-80. 38 Vgl. Haas, Michael: Heranwachsende und Werbung. Werbekompetenz aus Sicht der Cultural Studies, in Vorbereitung.
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erstellt und in der schulischen oder außerschulischen Bildung behandelt werden. So fokussiert (1.) das Werbewissen u.a. Fragen wie z.B. »Wie erkenne ich Werbebotschaften von Influencern?« oder »Mit welchen Werbeformen verdienen Influencer Geld?«. (2.) Das Feld »Werbekritik/Werbeethik« behandelt u.a. das Thema geschlechterstereotype Darstellungen oder Reflexion der eigenen (Konsum-)Wünsche, welches z.B. durch die Aussage »Ich will ein YouTube-Star werden!« deutlich wird. Während (3.) die Dimension »Werbemediennutzung« sich beispielsweise dem Thema »Was sind für mich Merkmale eines guten Influencer-Posts?« widmet, verweist (4.) die Dimension »Werbemediengestaltung« unter anderem auf die Möglichkeit (ggf. im Rahmen eines Schulklassenprojektes), z.B. ein kreatives Werbevideo für den örtlichen Tierschutzverein herzustellen. Diese vier Dimensionen können je nach zeitlichen Ressourcen mehr oder weniger umfangreich bearbeitet werden. Influencer-Marketing ist eine recht kostengünstige und effektive Werbeform. Influencer fungieren dabei als Markenbotschafter und ihre Werbebotschaften gelangen über die sozialen Netzwerke in den Lebensalltag von Heranwachsenden. Da sie von ihren Nutzern in der Regel eher als beratende Experten statt als Werbebotschafter angesehen werden, werden ihre Inhalte nicht wie oftmals bei klassischer Werbung weggeklickt, sondern aktiv konsumiert. Die medienpädagogische Herausforderung besteht darin, dass junge Menschen lernen, Medienbotschaften sowie die darin codierten werblichen Absichten bewusst zu decodieren. Erst dann besteht für sie die Möglichkeit einer reflektierten Auswahl: Nehme ich diese (persuasive) Botschaft an oder lehne ich sie ab?
LITERATUR Baacke, Dieter et al.: Zielgruppe Kind: Kindliche Lebenswelt und Werbeinszenierungen, Wiesbaden: Springer VS 1999. Die Medienanstalten: Leitfaden der Medienanstalten. Werbekennzeichnung bei Social Media-Angeboten, unter: https://www.die-medienanstalten.de /file admin/user_upload/Rechtsgrundlagen/Richtlinien_Leitfaeden/Leitfaden_Me dienanstalten_Werbekennzeichnung_Social_Media.pdf, Zugriff 20.05.2020. Dreyer, Stephan/Lampert, Claudia/Schulze, Anne: Kinder und Onlinewerbung. Erscheinungsformen von Werbung im Internet, ihre Wahrnehmung durch Kinder und ihr regulatorischer Kontext, Leipzig: Vistas 2014. Du Gay, Paul et al.: Doing Cultural Studies. The Story of the Sony Walkman, London/Thousand Oaks/New Delhi: Sage 1997.
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What a Shame Celebrity Culture und narzisstische Selbstbespiegelung am Beispiel eines Musikvideos Fernand Hörner
Eine Google-Suche mit den Stichworten ›YouTube‹ und ›Narcissism‹ in allen Medienkategorien lieferte 2016 ca. 6 Millionen und 2018 bereits 9 Millionen Ergebnisse. Davon sind auf den ersten drei Seiten hauptsächlich YouTube-Tutorials, die wiederum hauptsächlich davon handeln, wie man sich selber vor Narzisst*innen schützt. 1 Dass Narzisst*innen hauptsächlich die anderen wären, könnte schon Anzeichen für die Diagnose Narzissmus in den Neuen Medien sein, eine Diagnose, die Christopher Lasch mit dem celebrity cult erklärt: »The mass media, with their cult of celebrity and their attempt to surround it with glamour and excitement […] give substance to and thus intensify narcissistic dreams of fame and glory, encourage the common man to identify himself with the stars […]«. 2
Laschs Diagnose, die er allerdings bereits 1979 in Bezug auf das Fernsehen stellte, ließe sich auch auf die Neuen Medien übertragen, 3 vorausgesetzt, man ersetzt die
1
Vgl. https://www.google.de/search?q=youtube+narcissism&ie=utf-8&oe=utf-8&client=firefox-b&gfe_rd=cr&ei=J1scWOi1D-Ha8AfOjpjYAQ#q=youtube+narcissism&start=20, Zugriff: 04.11.2016 und 14.11.2018.
2
Lasch, Christopher: The culture of narcissism. American life in an age of diminishing expectations, New York: Norton 1991 [1979], S. 21.
3
Roland Barthes erkennt eine narzisstische Spiegelung zwischen Adressat*in und Hörer*in des Lieds diesseits aller medialen Vermittlung bereits im Kunstlied des 19. Jahrhunderts angelegt. Barthes, Roland: »Le chant romantique«, in Œuvres Complètes, hg. v. Eric Marty, Paris: Seuil 2002, Band 5, S. 303-308, hier S. 306.
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überholte Unterscheidung zwischen stars und common man durch Makro- und Mikro-Celebrities 4 und erkennt an, dass mittlerweile jeder Anspruch auf 15 Minuten Ruhm – und sei es nur vor 15 Personen – hat. 5 Dieser Artikel will exemplarisch an der YouTube-Karriere eines Musikvideos und seiner Derivate, Shame von Robbie Williams und Gary Barlow, die Inszenierung von Narzissmus bei Makro-Celebrities (Williams, Barlow) und Mikro-Celebrities untersuchen, wobei mit letzteren jene Personen gemeint sind, die durch Aufführen des Songs bei Casting Shows, Karaoke etc. Mikro-Celebrities werden. Die Veröffentlichungspolitik von Shame zeigt bereits, dass der Song, welcher die Versöhnung der beiden ehemaligen Boygroup-Mitglieder von Take That aufgreift, nicht nur die narzisstische Selbstbespiegelung der Makro-Celebrities thematisiert, sondern ebenso die Mikro-Ebene mitdenkt. Shame wurde 2010 gleichzeitig auf dem Best-Of Album von Robbie Williams In and Out of Consciousness sowie als Single 6, als Musikvideo auf VH1 Europe und YouTube veröffentlicht. Zudem wurde der Song für das Karaoke-Computerprogramm We Sing Robbie Williams für die Spielekonsole Wii aufbereitet. 7
NARZISSTISCHE SELBSTBESPIEGELUNG In der Psychologie wird in der Regel zwischen subklinischem, ›normalem‹ Narzissmus und pathologischem Narzissmus unterschieden. In der Tat liest sich die Diagnose Narzissmus, wie sie der aktuelle (2016) von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene Kriterienkatalog ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) definiert, wie eine Beschreibung von YouTube-Nutzern. Narzissmus ist eine Persönlichkeitsstörung, die geprägt ist vom Gefühl eigener Wichtigkeit, Glaube an eigene Besonderheit, Verlangen nach übermäßiger Bewunderung, Fantasien über grenzenlosen Erfolg, Egozentrik, Mangel an Empathie, Ausbeutung von Mitmenschen sowie Neid und
4
Vgl. Senft, Theresa M.: »Microcelebrity and the Branded Self«, in: John Hartley, Jean Burgess/Axel Bruns (Hg.): Blackwell Companion to New Media Dynamics, Malden: Blackwell 2012, S. 346-354.
5
Vgl. Momus: In the future everyone will be famous for fifteen people, http://imo-
6
Williams, Robbie: In And Out Of Consciousness – Greatest Hits 1990-2010 (CD), Eu-
7
Le Cortex: We Sing Robbie Williams, Europa 2010, Nordic Games.
mus.com/index499.html, Zugriff: 07.11.2016. ropa 2010, Virgin, CDVDY3082, 5099990783128.
Celebrity Culture und narzisstische Selbstbespiegelung | 103
Arroganz. 8 Ein Fall klinischer Diagnose wird Narzissmus, wie alle Persönlichkeitsstörungen, freilich erst, wenn dies dauerhaft zu kognitiven und affektiven Einschränkungen sowie mangelnder Impulskontrolle, Leidensdruck bei Betroffenen oder ihrem Umfeld und unangepasstem Verhalten führt und sich bereits in Kindheit oder Jugend zeigt. An diesem Punkt soll jedoch nicht über die Normalitätsdiskurse der Medizin gesprochen werden, 9 sondern bei der subklinischen Diagnose Narzissmus geblieben werden, von der Drew Pinsky und Mark Young empirisch nachgewiesen haben, dass diese bei Celebrities signifikant stärker als bei der Vergleichsgruppe Studierende vertreten ist. 10 In der Psychologie steht der Narcissos-Mythos für die Unfähigkeit, das eigene Spiegelbild als solches zu erkennen, für ein mangelndes Selbstbewusstsein im wörtlichen Sinn (›self-awareness‹), das zu einer Dissoziation mit den eigenen Gefühlen führt, was zu einem oftmals empathielos und bedingungslos realisiertem Streben nach Anerkennung führt. 11 Daneben wird hier mit Narzissmus aber auch die Frage nach der medialen Selbstbespiegelung untersucht. Wie bei McLuhan wird diese Selbstbespiegelung als eine Form der Körperextension verstanden, die allerdings nicht Ausdruck ist von Selbstamputation und Narkose (ein Begriff, den McLuhan etymologisch auf Narcissos zurückführt) 12, sondern im Sinne einer selbstreflexiven Verdreifachung funktioniert. In dieser Bespiegelung blicken im Sinne der Unterscheidung von Philipp Auslander drei Gesichter zurück: erstens der*die Sänger*in als reale Person (›real person‹), zweitens seine*ihre bei Konzerten und Videoclips gezeigte Performance-Person (›performance persona‹) und drittens die in Songs vom*von der Sänger*in verkörperte Figur (›character‹). 13
8
Vgl. World Health Organization: The ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders. Diagnostic criteria for research, Geneva 1993, 211, online unter https://ww w.who.int/classifications/icd/en/GRNBOOK.pdf vom 6.11.2016.
9
Vgl. dazu Frances, Allen: Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen, Köln: Riva 2013.
10 Vgl. Young, S. Mark/Pinsky, Drew: »Narcissism and celebrity«, in: Journal of Research in Personality 40/5 (2006), S. 463-471. 11 Vgl. Young, S. Mark/Pinsky, Drew: The mirror effect. How celebrity narcissism is seducing America, New York: Harper 2009, S. 87-88. 12 Vgl. McLuhan, Marshall: Understanding media. The extensions of man. Cambridge: The MIT Press 1994, S. 41. 13 Vgl. Auslander, Philip: »Musical Personae«, in: The Drama Review 50/1 (2006), S. 100-119.
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Narzisstische Selbstbespiegelung wird somit als ein spielerisches Spiegeln, Aufeinanderlegen und Brechen dieser drei Instanzen angesehen, wie nun am Beispiel von Shame zu erläutern ist.
SELBSTDIAGNOSE NARZISSMUS Der Text von Shame handelt, wie angedeutet, von der Versöhnung der beiden Take That-Sänger und ist als Dialog von zwei Figuren konzipiert, welche Williams und Barlow selbst darstellen. Als Mitglieder der öffentlich im Fernsehen 1990 gecasteten Boy-Group Take That trennten sich ihre Wege durch ein von einschlägigen Medien dokumentiertes Zerwürfnis, das durch Williams’ Rauswurf aus der Gruppe endete. 14 Die Realisierung des Songs als solchem steht nicht nur für die Versöhnung der realen Personen, sondern der Song thematisiert diese auch explizit, so dass nicht nur Performance-Personen und Figur, sondern eben auch die realen Personen Williams und Barlow (scheinbar) zusammen fallen. Zusammenfassen ließe sich die Aussage dahingehend, dass beide bereuen, sich seit dem Auseinanderfallen der Boy Group derart narzisstisch verhalten zu haben. Im Sinne des ICD-10 werfen sie sich so Glauben an eigene Besonderheit und Verlangen nach übermäßiger Bewunderung (»your poster 30 foot high at the back of Toys-R-Us«), Neid und Mangel an Empathie (»Out of sentimental gain I wanted you to feel my pain, but it came back return to sender«), frühkindliche Prägung des Narzissmusc (»we can put it down to circumstance our childhood then our youth«), Ausbeutung anderer (»So I got busy throwing everybody underneath the bus«) sowie Egozentrik (»What a shame we never listened«) vor. Anstelle einer Aussprache hätten sich beide nur in medialer Selbst- und Fremdbespiegelung geübt (»I told you through the television«) und hoffen nun auf gegenseitige Nachgiebigkeit und Vergeben (»Is this the sound of sweet surrender?«). Der Titel spielt dabei mit der Doppeldeutigkeit von ›shame‹ im Sinne eines Bedauerns (»what a shame«) und des in den Medien ausgeschlachteten (Fremd)Schämens. Das Geständnis funktioniert also auf mehreren ineinander gelagerten Ebenen. Die realen Personen gestehen sich gegenseitig ihren Narzissmus ein, wie beide dies gegenüber dem*der Zuschauer*in und den von der Trennung und dem Rosenkrieg enttäuschten Fans tun. Auf der Ebene des Musikvideos wird die Widerspiegelung weiter ausgebaut, insofern als dass die realen Personen Williams und
14 Vgl. Borgstedt, Silke: Der Musik-Star. Vergleichende Imageanalysen von Alfred Brendel, Stefanie Hertel und Robbie Williams, Bielefeld: transcript 2007, S. 237.
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Barlow im Musikvideo die Performance-Personen Williams und Barlow verkörpern und auch die Figuren Williams und Barlow bei ihrer Versöhnung spielen, aber gleichzeitig diese Gleichsetzung durch das Spiel mit den Konventionen des Musikvideos wieder aufgebrochen wird.
BESPIEGELN IM MUSIKVIDEO Das Musikvideo beginnt als narratives Musikvideo, bei dem man die Figuren Williams und Barlow sieht, die sich beim Einkaufen im Supermarkt treffen und zunächst geflissentlich ignorieren, um sich schließlich zu versöhnen. Als Performance-Personen treten beide hier auf der visuellen Ebene nicht auf, insofern als dass ihre Stimmen im Sinne Chions akusmatisch bleiben: man hört beide Performance-Personen zwar singen, sieht sie dabei aber nicht. 15 Auf akustischer Ebene hingegen hat der Hörer beide natürlich sofort anhand ihrer Stimmen identifiziert. Dies wird dadurch unterstrichen, dass beim Gesangspart von Robbie Williams eben auch die von ihm gespielte Figur Williams gezeigt wird, etwa beim Laufen auf dem Bürgersteig (0:25) und beim Gesangspart von Gary Barlow eine neue Einstellung wiederum diesen bei der gleichen Tätigkeit auf der anderen Straßenseite zeigt (0:32). In der nächsten Strophe überlagern sich dann Performance-Personen und Figur, wenn beide an der Bar sitzen und ihre Stimmen de-akusmatisiert werden, sprich: beide singen sich an, die Kamera unterstreicht dies wie beim Filmen eines klassischen Dialogs im Schuss-Gegenschuss-Erzählstil. Wir sehen also zunächst Robbie Williams in einer Einstellung mit Gary Barlow reden/singen, wobei ersterer im Vordergrund, aber unfokussiert zu sehen ist und dann in Barlows Gesangseinlage eine neue Einstellung von der anderen Seite mit genau umgekehrten Vorzeichen. Analog zur Oper spalten sich hier die Sprecherpositionen insofern auf, als dass man die Personen singen hört, aber davon ausgeht, dass sie sich innerhalb der Fiktion unterhalten. Während in der Oper die Figuren indes kein Bewusstsein dafür haben, dass sie singen 16 – analog zu den Figuren des Theaters, welche kein Bewusstsein dafür haben, dass sie in Reimen sprechen 17 – suggeriert das Musikvideo hier, dass sich die Figuren ihres Singens bewusst sind. Denn im Refrain singen dann beide im Duett, sodass sich sowohl dramaturgisch also auch visuell die Versöhnung zeigt, im letzten Refrain nicht mehr als Dialog am Tresen,
15 Vgl. Chion, Michel: L'audio-vision, Paris: Schiele & Schoen 1990, S. 63. 16 Vgl. Vernallis, Carol: Experiencing Music Video. Aesthetics and Cultural Context, New York: Columbia University Press 2004, S. 58. 17 Vgl. Ducrot, Oswald: Le dire et le dit, Paris: Editions de Minuit 1984, S. 205-206.
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sondern auf einer Bühne mit Mikrophon in der Hand (3:10) vor dem tanzenden Publikum.
NARZISSMUS UND GENDER Insbesondere am Ende des Songs, welcher wieder als narratives Video angelegt ist, wird der Zusammenhang zwischen Narzissmus und der Performance-Person als Objekt des begehrenden Blicks deutlich. Wie eine Bestätigung der These von der Kamera als »determining male gaze«, wie sie etwa Laura Mulvey formuliert, 18 steigert Robbie Williams dies in einem anderen Video, Stripped, indem er den Voyeurismus der Kamera dahingehend zuspitzt, dass er sich nicht nur bis auf die Haut entkleidet, sondern sich auch dieser entledigt. Auch in Shame gibt es eine Form der Entblößung, die hier noch stärker mit homosexuellen Konnotationen spielt. Die für Williams Videos typischen Anspielungen auf Spielfilme 19 zeigen sich hier in Anspielungen auf den Film Brokeback Mountain, welcher die Geschichte homosexueller Cowboys erzählt. Williams und Barlow unterstreichen diese Konnotationen durch ihre Mimik, während sie sich voreinander ausziehen, um mit nacktem Oberkörper von einer Klippe in den See zu springen. 20 Hier fungiert der eine als Spiegel des anderen. Kontrastiert wird dieses sanfte Erkunden des anderen Körpers in der Natur mit dem Setting der Kneipe, welche voll von Stereotypen amerikanischer Männlichkeit ist: Sie heißt Cowboy Palace und ist mit der Konföderiertenflagge und Neon-Leuchtröhren in Form von Cowboystiefeln, Revolvern und einem Stierkopf dekoriert. Der ironische Umgang mit Männlichkeit zeigt sich nicht zuletzt darin, dass beide aus Angst schließlich auf den Sprung ins Wasser von dem hohen Felsen verzichten (3:53).
18 Mulvey, Laura: Visual and other pleasures, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2009 [1989], S. 19. 19 Vgl. zu den Videos Supreme und Let me entertain you: Weiß, Matthias: »Rekursivität und Männlichkeit im Videoclip – oder: Warum Robbie Williams die neue Königin des Pop ist«, in: Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.): Zitieren, appropriieren, sampeln, Bielefeld: transcript 2014, S. 233-256, hier: S. 244-247. 20 Brokeback Mountain, Regie: Ang Lee, USA, Kanada 2005.
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Das spielerische Kombinieren von Figur, Performance- und realer Person kulminiert in der Inszenierung von Williamsc ›eigenem‹ Körper. 21 Wirkt der Klangkörper der im Song zu hörenden Stimme eher sanft und schmächtig, präsentiert uns der Videoclip einen genuin männlichen Körper, muskelgestählt mit Brusthaar und Tattoos, was wiederum im Kontrast zu den sanften Gesten gegenüber Barlow steht. So oszilliert der Körper zwischen erotischer Projektionsfläche der Performance-Person, Darstellung der Figur und dem Ausdruck der von den Fans begehrten realen Person. Letztere wird im Körper sichtbar durch die echten, von den Fans in einschlägigen Foren intensiv diskutierten Tattoos, mit der die reale Person Williams ihre Verbundenheit etwa zu ihren Familienangehörigen dokumentiert. 22 Gleichzeitig sind die Tattoos aber auch Ausdruck seiner Performance-Person. So ist auf der rechten Schulter ein Löwenkopf zu sehen mit der Unterschrift »Born to be mild«. Auch dies verweist auf Attribute von Männlichkeit (den Song von Steppenwolf Born to be wild sowie den Biker-Film Easy Rider, bei dem der Song eine zentrale Rolle spielt 23), um diese gleich wieder zu brechen und im wahrsten Wortsinne abzumildern. Sein im Videoclip klar zu erkennendes Tattoo, das sich wie eine Kette um seinen Hals legt, lautet »Chacun à son goût«, zu übersetzen mit »jeder nach seinem Geschmack« und wiederholt sein Spiel mit Homosexualität. Gerade in diesem Punkt zeigt sich die Ambivalenz des Körpers zwischen filmischer Inszenierung einer Performance-Person und die Authentizität der realen Person insofern, als dass ein nicht zu entfernendes Tattoo die Ernst- und Dauerhaftigkeit der Botschaften unterstreicht. Auf diese Weise gelingt es Williams, den Körper zu seiner de-akusmatisierten Stimme gleichermaßen für alle Geschlechter und Orientierungen attraktiv zu halten. So lässt sich festhalten: Nicht nur auf musikalischer 24 und gesanglicher 25 Ebene zeichnet Williams ein »postmoderner Popstil« aus, der sich aus vielen Gattungen bedient und mit ihnen spielt, auch die Stimme und sein Körper inszenieren diese Polyvalenz, die sich, wie auch in Bezug auf seine Genderperformanz, oftmals als Stil mit Dichotomien zeigt.
21 Ein zentrales Motiv ist dabei die Inszenierung als Amateur, zum Beispiel im Song I Will Talk And Hollywood Will Listen, bei dem das lyrische Ich davon träumt, berühmt zu sein, vgl. Robbie Williams, I Will Talk And Hollywood Will Listen. 22 Vgl. Temporary Tattoo Blog: Robbie Williams Tattoos, dort datiert 28.7.2015, http:// www.tattooforaweek.com/blog/de/robbie-williams-tattoos-3/, Zugriff: 6.11.2016. 23 Steppenwolf, Born To Be Wild; Easy Rider, Regie: Dennis Hopper, USA 1969. 24 Vgl. S. Borgstedt: Der Musik-Star, S. 238. 25 Vgl. Hawkins, Stan: The British pop dandy. Masculinity, Popular Music and Culture, London: Routledge 2009, S. 141.
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Wenn Richard Dyer konstatiert, dass männliche Starinszenierung im Pop Mainstream grundsätzlich zwischen dem Evozieren und Negieren von Homosexualität schwanken muss, 26 zeigt sich in Williamsc ambivalentem Spiel mit den Geschlechtern 27 ein virtuoses Beherrschen dieser Klaviatur, welches dazu führt, dass er, einerseits ganz ungebrochen in Musikzeitschriften für Jugendliche, wie der Bravo, als einsamer, unverstandener Frauenschwarm und Objekt der Begierde aller Mädchen inszeniert wird, während andere Medien sein subversives Genderspiel und seine Ambivalenz loben. 28 Eine quantitative Auswertung von Tageszeitung wie der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ergab, dass eben diese Widersprüche zwischen attraktiv und normal hässlich, Entertainer und depressiver Künstler, provokant und höflich, exzessiv und bodenständig zu seinem Image wurden. 29 Mit anderen Worten gelingt es Williams also, auf der einen Seite seine kommerzielle Bekanntheit als Mitglied der Casting-Band Take That am Leben zu halten und auf der anderen Seite durch künstlerisch komplexe Clips seine künstlerischen Ambitionen unter Beweis zu stellen.
MIKRO-CELEBRITIES Auch wenn empirisch belegt wurde, dass Narzissmus bei der Berufsgruppe der (Makro-)Celebrities am stärksten ausgeprägt ist, 30 wurde insbesondere in Bezug auf Neue Medien in psychologischer Hinsicht Narzissmus als ein Phänomen dargestellt, das sich in Karaoke-Bars und in sozialen Netzwerken global, oder in den
26 Vgl. Dyer, Richard: »Don't Look Now: The Male Pin-Up«, in: John Caughie, Annette Kuhn, Mandy Merck (Hg.): The Sexual Subject. A Screen Reader in Sexuality, London: Routledge 1992 [1982], S. 265-276. 27 Vgl. auch seinen Clip Shecs madonna, bei dem sich Williams als Madonna verkleidet und ein Verwirrspiel mit den Geschlechtern spielt (vgl. M. Weiß: Rekursivität und Männlichkeit im Videoclip, S. 244-247). 28 Vgl. Wegener, Claudia: Medien, Aneignung und Identität. »Stars« im Alltag jugendlicher Fans, Wiesbaden: Springer VS 2008, S. 125-129. 29 Vgl. S. Borgstedt: Der Musik-Star, S. 237-279, insbesondere S. 275; C. Wegener: Medien, Aneignung und Identität, S. 128, S. 344. 30 Vgl. M. Young/D. Pinsky: Narcissism and celebrity; M. Young/D. Pinsky: The mirror effect, S. 13.
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Worten Robertsons glokal, 31 ebenso im australischen Outback 32 wie in türkischen Metropolen 33 als narzisstisches Vergnügen an der Selbst-Spiegelung zeigt. 34 Abschließend soll nun am Beispiel Shame aufgefächert werden, wie sich diese mediale Selbstbespiegelungen vollziehen, wenn zu den drei Instanzen der Makro-Celebrity noch Mikro-Celebrities hinzukommen, welche den Song oder das Musikvideo weiterverwerten. YouTube, das hier exemplarisch für die Content-SharingPlattformen ausgewählt wurde, entpuppt sich als ein Ort medialen »Recyclings« 35, bei dem die Grenzen zwischen Videoclip, Ausschnitten aus Casting Shows, offiziellen und privaten Karaokeperformances, primär- und tertiärmedialen Auftritten verschwimmen. Karaoke, als primärmediale Plattform zeichnet einen sozialen Vertrag aus, bei dem erwartet wird, dass jeder zwischen den Rollen von Konsument und Produzent von Karaoke bereitwillig wechselt 36: zum Zwecke der ›self-promotion‹ 37 und Selbst-Verstärkung im wörtlichen wie übertragenen Sinne. 38 Dabei liegt der Reiz gerade nicht in der Perfektion, sondern in der Diskrepanz zwischen der anwesenden Performance(-Person) und der abwesenden. Deutlich wird dieses Betrachten
31 Vgl. Robertson, Roland: »Glocalization: Time-space and Homogeneity-heterogeneity«, in: Mike Featherstone, Scott Lash und Roland Robertson (Hg.): Global modernities, London: SAGE Publications Ltd 1995, S. 25-44. 32 Vgl. Waite, Catherine J./Bourke, Lisa: »Rural young people's perspectives on online sociality. Crossing geography and exhibiting self through Facebook«, in: Rural Society 24/2 (2015), S. 200-218. 33 Vgl. Öncü, Semiral: »Facebook habits among adolescents. Impact of perceived social support and tablet computers«, in: Information Development, 32/5 (2016), S. 14571470. 34 Vgl. Bullerjahn, Claudia/Heipcke, Stefanie: »Karaoke, eine Tautologie des Populären – Befragungen zu Motivation und Fremdwahrnehmung von Karaokesängern«, in: Herbert Willems (Hg.): Theatralisierungen und Enttheatralisierungen der Gegenwartsgesellschaft, Wiesbaden: Springer VS 2006 [Soziale Felder, Band 1], S. 395-416. 35 Marek, Roman: Understanding YouTube. Über die Faszination eines Mediums, Bielefeld: transcript 2013, S. 145. 36 Vgl. Fornäs, Johan: »Karaoke: subjectivity, play and interactive media«, in: The Nordicom Review of Nordic Research on Media and Communication, Band 1, Göteborg 1994, 87-103; Lum, Casey M.K.: »The Karaoke Dilemma«, in: Toru Mitsui (Hg.): Karaoke around the world. Global technology, local singing, London: Routledge 2001, S. 166-177, hier: S. 171; vgl. C. Bullerjahn/S. Heipcke: Karaoke, S. 401; S. 412. 37 Vgl. C. Bullerjahn/S. Heipcke: Karaoke, S. 398. 38 Vgl. ebd., S. 397.
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in einem Zerrspiegeln der ursprünglichen Performance(-Person) auch beim Karaoke-Computerspiel We Sing Robbie Williams, denn dort fungiert diese noch als animierte Cartoonfigur mit den Initialen RW. 39 Es ließe sich vielleicht auch sagen, dass Williams durch den Logarithmus des Computerspiels vertreten wird, welcher den Gesang in Hinblick auf die getroffenen Tonhöhen statistisch auswertet. 40 Alle anderen Aspekte, wie Performance etc., werden allerdings bei der Bewertung komplett ausgeblendet. Damit stehen diese Karaokeprogramme in diametralem Widerspruch zur Karaoke-Clubkultur, bei der eher umgekehrt, über gesangliche Inkorrektheiten hinweggesehen wird und Stimmklang, Performance etc. beurteilt werden. Auch in Casting Shows ist die Performance-Person Williams anwesend und tritt als Stargast auf, wie beim Supertalent in Deutschland 41 oder den entsprechenden internationalen Formaten. 42 Williams Songs sind oft gewählte Covervorlagen von Deutschland bis Indonesien 43. Auch wenn die Performance-Person nicht anwesend ist, gilt sie hier als Vorbild, mit dem sich die Kandidat*innen messen müssen. Dies geschieht vor der Grundnarration, dass erst mithilfe der kritischen Jury aus Talenten Superstars werden. Mit den Worten Dietrich Helms ist das Produkt dieser Show nicht die Musikperformance oder ein fertiger Tonträger, sondern eben der Prozess der Produktion, 44 wohlgemerkt nicht der Produktion des Songs, sondern des Sängers oder der Sängerin. So sagt Dieter Bohlen, Jury-Mitglied bei Deutschland sucht den Superstar, etwa zu einer Coverversion von Marco Angelini von Shame: »Du spielst zwar Scheiße Gitarre, aber für ein halbes Jahr [Unterricht]
39 Le Cortex, We Sing Robbie Williams. Vgl. https://www.youtube.com/watch? v=dSrl9P2dmDE, Zugriff: 21.09.2015, https://en.wikipedia.org/wiki/We_Sing_Robbie_Williams, Zugriff 21.09.2015. 40 Vgl. http://www.wesinggame.com/index.php?/site/p/retail/, verfügbar unter http://arch ive.is/Puaj5, Zugriff 21.09.2015. 41 Das Supertalent 2013. Robbie Williams als Special Guest im großen Finale, dort datiert 13.12.2013, http://www.rtl.de/cms/das-supertalent-2013-robbie-williams-als-specialguest-im-grossen-finale-1731312.html, Zugriff 6.11.2016. 42 Etwa bei Swedish Idol, vgl. https://www.youtube.com/watch?v=uLN3lLLWH4s, Zugriff: 6.11.2016. 43 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=sqV7BJzAmKU, Zugriff: 6.11.2016. 44 Vgl. Helms, Dietrich: »Von Marsyas bis Küblböck. Eine kleine Geschichte und Theorie musikalischer Wettkämpfe«, in: Dietrich Helms/Thomas Phleps (Hg.): Keiner wird gewinnen. Populäre Musik im Wettbewerb, Bielefeld: transcript 2015, S. 11-40, hier: S. 36.
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ist es wieder ziemlich gut. [...]« 45 Im Spiegel mit dem Original werden neue Perfomance-Personen erzeugt, eine Produktion, die natürlich Teil einer internationalen kommerziellen Strategie ist. Deutschland sucht den Superstar ist die deutsche Variante des in mehr als 30 Nationalvarianten existierenden Pop Idol. 46 In Deutschland ist der ganze Komplex unter dem Dach der Bertelsmann Music Group, sowohl Dieter Bohlen als auch der Sender RTL sowie eine Vielzahl der ausgesuchten Songs, 47 worin sich auch die Selbstbezüglichkeit des Systems zeigt. 48 Im Sinne des Narzissmus werden Performances in Casting Shows und Karaokewettbewerben, aber auch Let's Plays von Karaokespielen selber wiederum auf YouTube gestellt und für die Kommunikation mit den Fans genutzt, wie zum Beispiel das Finale des Tenerife Loves Karaokewettbewerbs von 2011, bei dem Luke Towler und Mathew Marshall mit ihrer Version von Shame auftreten. 49 Diese Videos erscheinen bei Eingabe des Suchbegriffs ›Shame‹ neben dem offiziellen Musikvideo, dessen offizielle von Emi am 24.8.2010 auf YouTube eingestellte Version bislang mehr als 16 Millionen Zugriffe verzeichnet. 50 Die Grenzen von Casting-Show-Clips zu Coverversionen sind dabei fließend. Luke Fowler und Marco Angelini besitzen eigene YouTube-Kanäle, auf denen sie jenseits von Casting-Show-Material Coverversionen präsentieren, entweder mit
45 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=0eKeBVx6EXE, Minute 5:44, Zugriff: 6.11.2016. 46 Vgl. Appen, Ralf von: »Die Wertungskriterien der Deutschland sucht den SuperstarJury vor dem Hintergrund sozialer Milieus und kulturindustrieller Strategien«, in: Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.): Keiner wird gewinnen. Populäre Musik im Wettbewerb, Bielefeld: transcript 2015 (Beiträge zur Popularmusikforschung Band 33), S. 187-208, hier: S. 188. 47 Vgl. Pendzich, Marc: Hit-Recycling. Casting-Shows und die Wettbewerbsstrategie »Coverversion«, Gießen 2010, 137-150, hier: 144-147, online unter http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2010/7472/pdf/Popularmusik33_S137_150.pdf,
Zugriff:
6.11.
2016. 48 Vgl. Jacke, Christoph: Keiner darf gewinnen. Potenziale einer effektiven Medienkritik neuer TV-Castingshows, Bielefeld: transcript 2010, S. 113-135, hier: S. 114, online unter http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2010/7471/pdf/Popularmusik33_S113_135 .pdf, Zugriff: 6.11.2016. 49 https://www.youtube.com/watch?v=NEbcZTig7DQ, Zugriff: 21.09.2014. 50 https://www.youtube.com/watch?v=tv49bC5xGVY, Zugriff: 07.11.2016.
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Playback oder mit eigener Musikbegleitung. 51 In Bezug auf Coverversionen von Shame reicht die Spannbreite von professionellen Produktionen mit selbst eingespielter Musik 52 über semi-professionelle in Eigenregie produzierte Clips 53 bis zu amateurhaften Aufnahmen, bei denen die Musiker*innen während der Aufnahme nonverbal über die Performance diskutieren. 54 Neben der Musik wird zudem auch das Video nachgespielt, oftmals in parodistischer Absicht. So dichtet ein User den Text von Shame in »Blame« um und lässt sein lyrisches Ich satirisch sein Unbehagen gegenüber homosexuellem Verhalten zum Ausdruck bringen, dabei ist er als fast reglose Performance-Person zu sehen und kombiniert Ausschnitte aus dem Musikvideo mit selbst produziertem und andernorts recyceltem Material. 55 Ein anderes Video, »Robbie Williams Shame Parody«, pitcht die Stimmen hoch und spielt das Musikvideo nach, indem es die Konkurrenz und Versöhnung der beiden Protagonisten als italienische Kleinstadt-Idylle parodiert. Die Performance-Personen fahren auf Skateboards sitzend durch Palermo. 56 Die Versionen der Mikro-Celebrities geben dadurch Raum zur narzisstischen Selbstspiegelung, so etwa Luke Fowlers, der seinen eigenen Auftritt (ironisch?) präsentiert mit den Worten: »wow these guys are fantastic especially the one on the left«. 57 Die Kommentare der Fans wenden sich teilweise direkt an die Interpreten, teilweise an einzelne User*innen und zum Teil auch an die Allgemeinheit und reichen, etwa im Fall von Marco Angelini, von oberflächlichen Beurteilungen der Physis (Userin Camila Hartmann schreibt »marco ist sooo süss!!!!!!!«) bis zu fundierteren musikalischen Kommentaren (Le95xi »oh man… der hat hollywood hills sooo geil gesungen... und du packst hier erstmal den verpatzten anfang rein ;/«). 58 Psychologisch ist es erwiesen, dass (anders als die Einleitung es suggerierte), narzisstische Leute sich tendenziell weniger am Narzissmus (hier im Fall
51 Vgl. Neumann-Braun, Klaus/Schmidt. Alex/Jost, Christofer: Handbuch Innovationen. Innovation und Musik. Zur Transformation musikalischer Praxis im Horizont interaktionsmedialer Kommunikation, Wiesbaden: Springer VS 2013, S. 335-354. 52 https://www.youtube.com/watch?v=HeKTmhWWuAA, Zugriff: 21.09.2015. 53 https://www.youtube.com/watch?v=iScO9uzTdwk, Zugriff: 21.09.2015. 54 https://www.youtube.com/watch?v=3ZepIfJd1ho, Zugriff: 21.09.2015. 55 https://www.youtube.com/watch?v=h16DgkWeYB4, Zugriff: 21.09.2015. 56 https://www.youtube.com/watch?v=MGgpdQoOpe4, Zugriff: 21.09.2015. 57 https://www.youtube.com/channel/UCCeCHOsjBsVDpnJ1ougz_vw, Zugriff: 21.09. 2015, https://www.youtube.com/watch?v=NEbcZTig7DQ, Zugriff: 21.09.2015. 58 https://www.youtube.com/watch?v=1Gh11qakbMo, Zugriff: 21.09.2015.
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exponiert auf Facebook) anderer User*innen stören 59 und gleichzeitig Narzisst*innen häufiger in den Sozialen Medien aktiv sind. 60 Wenn man bedenkt, dass umgekehrt das Ausbleiben von Feedback auf Facebook zum Verlust des Selbstwertgefühls führt 61 und nicht die Masse an virtuellen Freunden, sondern deren Feedback zu Zufriedenheit führt 62, scheint der gegenseitig ge- und erlebte Narzissmus der Mikro-Celebrities, bei dem sich jeder im anderen spiegelt, eher systemimmanent-sozialhygienisch als pathologisch. Und auch die Warnung, das Nacheifern von Celebrities könne bei Teenagern zu einer verstärkten Ausprägung von Narzissmus führen, was Pinsky und Young als den Spiegeleffekt bezeichnen 63, zielt an der Rolle der Medien haarscharf vorbei. So bleibt neutral festzustellen: Die unterschiedlichen Varianten des Recyclings von Shame ermöglichen eine mediale Selbstbespiegelung, bei denen einem eine Vielzahl von Gesichtern aus dem Wasser zurückblicken. Wie sie schauen, ist eine andere Frage.
59 Vgl. Wallace, Harry/Grotzinger, Andrew: »When People Evaluate Others, the Level of Others' Narcissism Matters Less to Evaluators Who Are Narcissistic«, in: Social Psychological and Personality Science, 6/7 (2015), S. 805-813. 60 Vgl. Buffardi, Laura E./Campbell, W. K.: »Narcissism and social networking Web sites«, in: Personality & social psychology bulletin, 34/10 (2008), S. 1303-1314; Ryan, Tracii/Xenos, Sophia: »Who uses Facebook? An investigation into the relationship between the Big Five, shyness, narcissism, loneliness, and Facebook usage«, in: Computers in Human Behavior 27/5 (2011), S. 1658-1664. 61 Vgl. Tobin, Stephanie/Vanman, Eric/Verreynne, Marnize/Saeri, Alexander: »Threats to belonging on Facebook. Lurking and ostracism«, in: Social Influence 10/1 (2013), S. 31-42. 62 Vgl. Greitemeyer, Tobias/Mügge, Dirk O./Bollermann, Irina: »Having Responsive Facebook Friends Affects the Satisfaction of Psychological Needs More Than Having Many Facebook Friends«, in: Basic and Applied Social Psychology 36/3 (2014), S. 252258. 63 Vgl. M. Young/D. Pinsky: The mirror effect, S. 136.
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Perspektiven zur Erklärung des »Schweigens« von Nutzer*innen digitaler sozialer Netzwerkplattformen als Reaktion auf Online Hate Speech Christina Josupeit
EINFÜHRUNG IN DIE THEMATIK In dem vorliegenden Beitrag geht es um den Umgang von Nutzer*innen digitaler sozialer Netzwerkplattformen mit Online Hate Speech. Ziel ist es, zu erklären, weshalb Online Hate Speech in der Regel auf eine schweigende Mehrheit trifft, obwohl a) soziale Netzwerkplattformen als Orte der Partizipation und Kommunikation gelten und b) zivilcouragiertes Eintreten gegen Hate Speech (beispielsweise aus Perspektive der Plattformbetreiber und Organisatoren antirassistischer Projekte) als ein nicht nur als effektives, sondern auch als notwendiges Mittel zur Bekämpfung von Hate Speech angesehen wird. Schlussfolgernd steht das empirisch nachgewiesene Schweigen der Nutzer*innen als Reaktion auf Hate Speech der normativen Idee der Zivilcourage diametral entgegen. Dieser Beitrag versucht diesen Widerspruch unter Hinzuziehung verschiedener Perspektiven auf das Phänomen des Schweigens aufzulösen. Dazu wird in einem ersten Schritt mit der Ausdifferenzierung des Begriffs Online Hate Speech das Kernthema dieses Beitrags konkretisiert. Als Ausdrucksform gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit definiert, wird hier bereits deutlich, weshalb überhaupt Präventions- und Interventionsmaßnahmen im Umgang mit Hate Speech diskutiert werden. Dass den Nutzer*innen sozialer Netzwerkplattformen dabei eine große Verantwortung zugetragen wird, wird im nächsten Kapitel deutlich. Es wird zum einen hervorgehoben, weshalb und wie insbesondere soziale Netzwerkplattformen als Orte offenen Meinungsaustausches definiert werden und welche Rolle ihre Nutzer*innen bei der Ausgestal-
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tung entsprechender Kommunikationsräume spielen. Darauf aufbauend folgt eine Darstellung der Vielfalt an möglichen Gegenstrategien, die den Nutzer*innen als Reaktion auf Online Hate Speech prinzipiell ermöglicht werden. Im nächsten Schritt wird schließlich geklärt, wie und weshalb die Nutzung dieser Gegenstrategien – insbesondere der sogenannten Counter Speech – von Seiten der Plattformbetreiber und Organisatoren beispielsweise antirassistischer Projekte als sinnvoll und effektiv erachtet werden. Dieser Darstellung werden zuletzt empirische Befunde entgegengestellt, die darauf hinweisen, dass die meisten Nutzer*innen bei der Konfrontation mit Hate Speech nicht direkt kontern, sondern schweigen. Auf der Suche nach Erklärungen für dieses Verhalten wird im nachfolgenden auf der Basis der Partizipationstypologie nach Lutz und Hoffmann (2017) zunächst festgehalten, dass einer sichtbaren Partizipationsform wie Counter Speech einer Komplexität von Möglichkeiten und Formen gegenübersteht, nicht (sichtbar) zu partizipieren. All diese Nicht-Partizipationsmöglichkeiten sehen wie Schweigen aus, implizieren jedoch unterschiedliche Funktionen und Hintergründe, positive und negative sowie passive wie aktive Formen der Nicht-Partizipation. Ausgehend von dieser Einteilung können nicht nur unterschiedliche Perspektiven auf die Definition und das Phänomen des Schweigens an sich, sondern auch Erklärungsmöglichkeiten für das Schweigen als Reaktion auf Hate Speech geschaffen werden. Die Erklärungsansätze können unter Hinzunahme weiterer empirischer Befunde und theoretischer Modelle gestützt, ausdifferenziert und diskutiert werden. Schlussendlich lassen sich aus der Betrachtung unterschiedlicher Perspektiven auf das Phänomen der schweigenden Mehrheit im Kontext von Hate Speech Ideen für neue empirische Studien ableiten.
DEFINITION UND EINGRENZUNG VON ONLINE HATE SPEECH Im Großen und Ganzen beschäftigt sich dieser Beitrag mit einem viel diskutierten Kernthematik, der Online Hate Speech, und der Frage, wie mit diesem Phänomen umgegangen wird bzw. werden soll. Daher wird nun konkretisiert, was unter Online Hate Speech zu verstehen ist und schlussfolgernd worin genau die ihr zugeschriebene Problematik besteht. Bereits im Alltagsverständnis von Hate Speech fällt auf, dass es eine Unschärfe in der Ein- und Abgrenzung dieses Phänomens gibt. Entsprechend beschreiben Gagliardone et al. (2015) Hate Speech als einen »term that may seem self-explanatory to most, but for which people actually tend to offer very
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disparate descriptions when asked«. 1 Was unter Hate Speech verstanden wird, ist zunächst abhängig von unterschiedlichen Perspektiven auf die Thematik. Insbesondere in der Gesetzgebung tritt diese Problematik in Erscheinung: Im Vergleich nationaler und internationaler Gesetzgebungen zu Hate Speech ist offensichtlich, dass den Gesetzen und damit verbundenen Instrumenten der Durchsetzung unterschiedliche Definitionen von Hate Speech zugrunde liegen. 2 Struth (2019) führt dazu aus, dass der Begriff Hate Speech, »discours de haine« (als französisches Pendant) oder »Hassrede« (als deutschsprachig Pendant) zwar »ein fest verankerter Begriff der grundrechtlichen Diskussion« sei, jedoch »ein ganzes Spektrum an Äußerungen von Hass und Aufstachelung zu Hass, Missbrauch, Beleidigungen und Herabwürdigungen erfasst«. 3 Trotz dieser Unklarheiten in der Definition und Auseinandersetzung mit Online Hate Speech scheinen insbesondere deutschsprachige Wissenschaftler*innen fachwissenschaftlich übergreifend einen Konsens darin gefunden zu haben, Hate Speech als eine Form gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu betrachten. Dies wird im Folgenden ausgeführt. Der Gruppenbezug als erstes Merkmal von Hate Speech kommt in den meisten Definitionen von Hate Speech vor. So beschreibt etwa Meibauer (2013) aus sprachwissenschaftlicher Perspektive, dass Hate Speech »der sprachliche Ausdruck von Hass gegen Personen oder Gruppen« 4 sei, wobei Hass als »eine menschliche Emotion, die sprachlich (auch mimisch oder gestisch) ausgedrückt werden kann« 5 , definiert wird. Auch aus sozialpsychologischer Perspektive ist der Gruppenbezug maßgeblich für die Definition von Hate Speech. Hier hebt sie sich allerdings von der Emotion Hass ab und fokussiert auf das eher rationale Ziel der Abwertung: So hebt Schmitt (2017) unter anderem die Bedeutung der Gruppenidentität sowie die Unterscheidung von Fremd- und Eigengruppe hervor, um Hate Spech aus ihrer Zielsetzung heraus zu beschreiben. Die Funktion von Hate Speech sei demnach »(1) die Ausgrenzung und Abwertung einer Fremdgruppe mit dem Ziel der Stärkung einer eigenen positiven Gruppenidenti-
1
Gagliardone, Iginio/Gal, Danit/Alves, Thiago/Martinez, Gabriela: Countering Online Hate Speech (= UNESCO Series on Internet Freedom) 2015, S. 55.
2
Vgl. ebd., S.32.
3
Struth, Anna K.: Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung (= Band 278), Berlin/Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg 2019, S. 21.
4
Meibauer, Jörg: »Hassrede – von der Sprache zur Politik«, in: Jörg Meibauer(Hg.), Hassrede/Hate Speech. Interdisziplinäre Beiträge zu einer aktuellen Diskussion, Gießen: Gießener Elektronische Bibliothek 2013, S. 1-16, hier S. 1.
5
Ebd., S. 3.
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tät, (2) Einschüchterung der Fremdgruppe, (3) Machtdemonstration bzw. Erlangen der Deutungshoheit im gesellschaftlichen Diskurs, (4) Freude am Beleidigen und Erniedrigen Anderer.« 6 Auch juristische Auseinandersetzungen mit dem Thema Hate Speech finden laut Struth (2019) letztendlich in der gruppenbezogenen Abwertung eine Gemeinsamkeit: Hassreden seien »Herabsetzungen oder Diskriminierungen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die an ein gruppenbezogenes Merkmal anknüpfen«. 7 Weiterführend wird Hate Speech durch die Art der Gruppe definiert, die erst in der beispielhaften Beschreibung der Definition offenbart wird: Benesch (2014) spricht beispielsweise von »minorities and indigenous peoples« 8; das Ministerkomitee des Europarats von »Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen« sowie von »Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen« 9; Sponholz (2018) von »Feindlichkeit gegen Menschen aufgrund einer Kategorie (Religion, Geschlecht, Hautfarbe, sexuelle Orientierung usw.« 10, an anderer Stelle von einer von vielen symbolisch ausgedrückten Formen von Diskriminierung, worunter »Rassismus, Sexismus, Ausländerfeindlichkeit, Islamophobie oder Homophobie« 11 fallen. Faris et al. (2016) sprechen von »a group with shared characteristics such as race, gender, religion, sexual orientation, or disability« 12. Dieser Einblick auf unterschiedliche Perspektiven auf Hate Speech deckt sich mit den Gruppen, die Heitmeyer und Zick in ihrem Konstrukt grup-
6
Schmitt, Josephine B.: »Online-Hate Speech: Definition und Verbreitungsmotivationen aus psychologischer Perspektive«, in: Kai Kaspar/Lars Gräßer/Aycha Riffi (Hg.), Online Hate Speech. Perspektiven auf eine neue Form des Hasses 2017, S. 52-56, hier S. 52.
7
A. K. Struth: Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, S. 23.
8
Benesch, Susan: »Defining and Diminishing Hate Speech«, in: Minority Rights Group International (MRG) (Hg.), State of the World's Minorities and Indigenous Peoples 2014. Events of 2013, London: Minority Rights Group 2014, S. 18-25, hier S. 19.
9
Ministerkomitee des Europarats: Empfehlung Nr. R (97) 20 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die »Hassrede« 1997, http://www.egmr.org/minkom/ch/rec1997-20.pdf vom 07.01.2019, hier S. 2.
10 Sponholz , Liriam: Hate Speech in den Massenmedien. Theoretische Grundlagen und empirische Umsetzung, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden 2018, S. 56. 11 Ebd., S. 61. 12 Vgl. Faris, Robert / Ashar, Amar / Gasser, Urs: Understanding Harmful Speech Online, Cambridge, Massachusetts 2016, S. 5.
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penbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) definieren 13. Die Forschergruppe haben GMF in ihrer Bandreihe »Deutsche Zustände« geformt, geschärft und vor allem inhaltlich gefüllt 14. Demnach gehören etwa je nach abgewerteter Gruppe Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, die Abwertung von Homosexuellen, Sexismus und Islamophobie zu den von den Wissenschaftler*innen untersuchten Gruppen. Der Theorie nach sind die einzelnen Facetten Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit durch den Kern der Ideologie der Ungleichwertigkeit miteinander verbunden, was sich statistisch nachweisen lässt. 15 So ist Rechtsextremismus ein Beispiel für das Syndrom GMF 16, als auch Hassrede 17. Innere Einstellungen über den Glauben an die Ungleichwertigkeit von Gruppen nicht für sich zu behalten, sondern nach außen zu tragen, weist darauf hin, dass Hate Speech eine spezifische Funktion erfüllt. Neben der Gruppenbezogenheit ist es daher ebenso die Intention des Beitrags, die einen Ausdruck als Hate Speech definiert: Ähnlich wie Schmitt (oben) hebt Struth in diesem Zusammenhang hervor, dass das Ziel bzw. das Ergebnis von Hate Speech soziale Ausgrenzung bestimmter Gruppen ist. 18 Die antizipierte Funktion der Hate Speech wird hier zum Definitionskriterium. Jedoch wird nicht klar, ob es sich hier eher um die Intention des Sprechers oder um die Folge der Hate Speech handelt. Sponholz ist hier eindeutiger: Während beispielsweise die Diskriminierung von Gruppen unbewusst kommuniziert oder strukturell latent bzw. manifest werden kann, ist Hate Speech gerade dadurch definiert, dass das Ziel, d.h. die gruppenbezogene Abwertung, durchaus intentional ist. Somit sei Hate Speech nur eine von vielen Kommunikationsformen von GMF. 19 Das bedeutet, dass erst eine bewusste und intentionale Abwertung einer Rasse einen rassistischen Ausdruck als Hate Speech definiert. Ob es dabei tatsächlich zu den anvisierten Zielen führt, betrifft
13 Vgl. L. Sponholz: Hate Speech in den Massenmedien, S. 61-62. 14 Vgl. Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folgen 1-10, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002-2012. 15 Vgl. Klein, Anna/Groß, Eva/Zick, Andreas: »Menschenfeindliche Zustände«, in: Ralf Melzer (Hg.), Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Bonn: J.H.W. Dietz 2014, S. 61-84, hier S. 62. 16 Vgl. Zick, Andreas/Küpper, Beate/Legge, Sandra: »Nichts sehen, nichts merken, nichts tun. Couragiertes Eintreten gegen Rechtsextremismus in Ost und West.«, in: Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Deutsche Zustände. Folge 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 168-189, hier S. 171. 17 Vgl. A. K. Struth: Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, S. 24. 18 Vgl. ebd., S.23. 19 Vgl. L. Sponholz: Hate Speech in den Massenmedien, S. 61-62.
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eine Diskussion um die Performanz von Hate Speech (bspw. durch Judith Butler 20), die an dieser Stelle nicht angerissen werden soll. Hate Speech wird demnach im Folgenden als ein bewusster Ausdruck gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit dem Ziel der Abwertung und folglich der gesellschaftlichen Ausgrenzung bestimmter Gruppen (v. a. religiöse, ethnische oder Gruppen sexueller Orientierung) verstanden. Als solche kann sie in verschiedenen Situationen und auf verschiedenen Weisen kommuniziert werden – sowohl offline als auch online. 21 Dabei ist es irreführend, dass Hate Speech wie von Kreißel et al. (2018) gleichgesetzt wird mit Hasskommentaren »unter Posts in sozialen Medien« 22. Schließlich kann digital geäußerte bzw. Online Hate Speech in Abhängigkeit digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien (ICTs) in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten. 23 Das bedeutet, dass unter Online Hate Speech nicht, wie das Wort »Speech« bzw. »Rede« oder »Kommentar« impliziert, nur gesprochene Worte oder geschriebener Text, sondern auch »der taktische Einsatz von abwertenden, diskriminierenden und volksverhetzenden Bildern, Symbolen, Links und Ähnlichem« fällt. 24 Daher wird mitunter verallgemeinernd von Hassbotschaften 25 oder, noch spezieller im Hinblick auf die Digitalität des Geäußerten, von Hasspostings 26 gesprochen.
20 Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York, NY: Routledge 1997. 21 J. Meibauer: Hassrede – von der Sprache zur Politik, S. 1-2; Delgado, Richard /Stefanic, Jean: »Four Observations About Hate Speech«, in: Wake Forest Law Review 44 (2009), S. 353-370, hier S. 361. 22 Kreißel, Philip/Ebner, Julia/Urban, Alexander/Guhl, Jakob: Hass auf Knopdruck. Rechtsextreme Trollfabriken und das Ökosystems koordinierter Hasskampagnen im Netz, London u.a. 2018 vom 07.01.2019, S. 5. 23 Wachs Sebastian/Wright, Michelle F.: »Associations between Bystanders and Perpetrators of Online Hate: The Moderating Role of Toxic Online Disinhibition«, in: International journal of environmental research and public health 15 (2018), hier S. 1. 24 J. B. Schmitt: Online-Hate Speech: Definition und Verbreitungsmotivationen aus psychologischer Perspektive, S. 52. 25 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (Hg.): Gemeinsam gegen Hassbotschaften. Von der Task Force »Umgang mit rechtswidrigen Hassbotschaften im Internet« vorgeschlagene Wege zur Bekämpfung von Hassinhalten im Netz 2015, http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Artikel/12152015_TaskForceErgebn ispa-
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Online Hate Speech kann durch die angesprochenen definitorischen Merkmale von anderen, scheinbar verwandten Internetphänomenen abgegrenzt, werden. »Beschimpfungen, Verächtlichmachungen oder Verleumdungen Einzelner zählen […] nicht dazu, es sei denn der Anknüpfungspunkt der Herabsetzung ergibt sich aus der Gruppenzugehörigkeit des Einzelnen«. 27 Cybermobbing beispielsweise fällt deshalb nicht unter Online Hate Speech, weil es hier um eine systematische Beleidigung einer einzelnen Person geht. 28 Daneben gibt es online das Phänomen des Flamings und Trollings, die anders als Hate Speech durch den Zweck definiert werden, Kommunikationssituationen anderer zu stören. 29 Hier geht es also höchstens beiläufig, auf keinen Fall zielgerichtet um die Herstellung von Ungleichwertigkeit zwischen Gruppen. Online Hate Speech werden ausgehend von dieser Definition negative Effekte zugeschrieben. 30 Benesch spricht hier von direkten negativen Folgen für die adressierten Opfer und Gruppen als auch von Sekundäreffekten wie der Verbreitung und Normalisierung abwertender und der folgenden Aufstachelung zur Gewalt. 31 Aus dieser Perspektive scheint es normativ notwendig, Online Hate Speech zu regulieren und Präventions- wie Interventionsmaßnahmen zu entwickeln. Eine davon ist die Stärkung der Zivilgesellschaft.
DIE REGULATION VON HATE SPEECH DURCH NUTZER*INNEN SOZIALER NETZWERKPLATTFORMEN In diesem Abschnitt wird deutlich, dass es vielfältige Partizipationsmöglichkeiten für Internetnutzer*innen gibt. Dementsprechend eröffnen sich für sie potentiell viele Wege, mit Hate Speech umzugehen. Die möglichen Umgangsweisen
pier.pdf;jsessionid=A014B874B7F48280690E0A1C79184DAC.1_cid289?__blob=pu blicationFile&v=1 ,Zugriff: 28.07.2016. 26 Vgl. Saferinternet.at: Aktiv gegen Hasspostings. Wie man gegen Hassrede und Hetze im Internet vorgehen kann 2017 vom 07.02.2019. 27 A. K. Struth: Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, S. 23. 28 Vgl. J. B. Schmitt: Online-Hate Speech: Definition und Verbreitungsmotivationen aus psychologischer Perspektive, S. 53. 29 Vgl. ebd. 30 Vgl. Jakubowicz, Andrew/Dunn, Kevin/Mason, Gail/Paradies, Yin/Bliue, Ana Maria/ Bahfen, Nasya/Oboler, Andre/Atie, Rosalie/Connelly, Karen.: Cyber Racism and Community Resilience, Cham: Springer International Publishing 2017, S. 78. 31 S. Benesch, S. 19.
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werden in diesem Kapitel systematisch dargestellt, um zu verdeutlichen, welche Möglichkeiten Nutzer*innen haben, die an sie gestellten normativen Erwartungen zur Regulation von Hate Speech zu erfüllen. Anschließend wird konkret aufgezeigt, welche Bedeutung Counter Speech für die Regulation von Online Hate Speech konkret zugesprochen wird und welche normativen Erwartungen konkret damit verbunden sind. Zudem bietet die nachfolgende Zusammenstellung die Grundlage für die Arbeitsdefinition des »Schweigens« von Nutzer*innen.
SOZIALE NETZWERKPLATTFORMEN ALS ORTE DER KOMMUNIKATION UND PARTIZIPATION Zunächst wird in dem vorliegenden Beitrag verdeutlicht, in welchem Kommunikationssetting Beiträge wie Hate Speech von Nutzer*innen gelesen bzw. gesehen und kommentiert werden können. Insgesamt gibt es einige empirische Hinweise darauf, dass die Bereitschaft zur Teilnahme an Diskussionen online tendenziell größer ist als offline 32 und dass soziale Netzwerke im Vergleich zu anderen Plattformen eine wichtige Rolle an der Beteiligung politischer Diskurse einnehmen. 33 Dies kann durch das partizipative Konzept des Internets und insbesondere der digitalen sozialen Netzwerkplattformen erklärt werden, welches nun skizziert wird. Das Internet bietet grundsätzlich viele verschiedene Kommunikationsangebote 34, zu denen unter anderem digitale soziale Netzwerkplattformen (kurz: SNP) gehören. Dies sind »webbasierte und meist von kommerziellen Anbietern organisierte Plattformen« 35. Hier wird es Internetnutzer*innen ermöglicht, sich interpersonal zu vernetzen 36, indem jede Nutzerin und jeder Nutzer nach platt-
32 Vgl. Gebel, Christa/Jünger, Nadine/Wagner, Ulrich: »Informations- und engagementbezogenes Medienhandeln von Jugendlichen«, in:
Ulrike Wagner/Christa Gebel
(Hg.), Jugendliche und die Aneignung politischer Information in Online-Medien, Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 53-136, hier S. 123. 33 Vgl. ebd., S. 93. 34 Vgl. Beck, Klaus: Soziologie der Online-Kommunikation (= essentials), Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden 2014, S. 21. 35 Ebd. 36 Vgl. boyd, danah m. /Ellison, Nicole B.: »Social Network Sites. Definition, History, and Scholarship«, in: Journal of Computer-Mediated Communication 13 (2007), S. 210-230, hier S. 211.
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formspezifischen Kriterien ein Profil anlegt und dieses mit denen der anderen Nutzer*innen verknüpft. 37 Auf diese Weise entsteht für jeden Nutzer ein »Abbild des egozentrierten sozialen Netzwerkes« 38. In diesem Netzwerk können sich die Nutzer*innen über viele verschiedene, netzwerkspezifische, öffentliche, halb-öffentliche und/oder private Kommunikationsmittel austauschen. 39 In Bezug auf Netzwerkplattformen ist darauf hinzuweisen, dass es verschiedene spezialisierte Formen dieser Plattformen gibt: Während auf Facebook eher private Netzwerke gepflegt werden, bietet Xing eine Plattform für die Vernetzung von Arbeitnehmern und -gebern. YouTube wiederum hat sich auf den Austausch von Videos spezialisiert, die Profile sind privat, deren Vernetzung spielt hier allerdings eine Nebenrolle. 40 Gemeinsames Merkmal dieser Plattformen ist die entscheidende Rolle der Nutzer*innen für die Ausgestaltung der Kommunikationsräume, indem beispielweise Beiträge erstellt, kommentiert oder verfolgt werden. 41 Jenkins spricht in diesem Zusammenhang von einer »participatory culture« 42, in der Nutzer*innen niedrigschwellig und ohne viel Aufwand ihre Beiträge (Texte, Bilder, Videos etc.) veröffentlichen, austauschen und bewerten lassen können. 43 Das be-
37 Vgl. Schenk, Michael/Niemann, Julia/ Reimann, Gabi/ Roßnagel, Alexander: Digitale Privatsphäre. Heranwachsende und Datenschutz auf sozialen Netzwerkplattformen (= Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen, Band 71), Berlin: Vistas 2012, S. 3. 38 K. Beck: Soziologie der Online-Kommunikation, S. 21. 39 d. m. boyd/N. B. Ellison: Social Network Sites. Definition, History, and Scholarship, S. 211; 213. 40 Vgl. M. Schenket al.: Digitale Privatsphäre, S. 21. 41 Vgl. Schmidt, Jan-Hinrik: »Politische Sozialisation in Partizipation von Jugendlichen im Internet«, in: Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut e.V./Technische Universität Dortmund (Hg.), Politische Partizipation Jugendlicher im Web 2.0. Chancen, Grenzen, Herausforderungen: Eigenverlag Forschungsverbund DJI/TU Dortmund 2015, S. 11-38, hier S. 15. 42 Jenkins, Henry: Confronting the Challenges of Participatory Culture. Media Education for the 21st Century, Massachusetts Institute of Technology 2006, https://mitpress. mit.edu/sites/default/files/titles/free_download/9780262513623_Confronting_the_Chal lenges.pdf , Zugriff: 03.03.2013, S. 3. 43 Vgl. ebd.; Vgl. López, César A. /López, Roberto M.: »Hate Speech in the Online Setting«, in: Stavros Assimakopoulos /Fabienne H. Baider/Sharon Millar (Hg.), Online Hate Speech in the European Union, Cham: Springer International Publishing 2017, S. 10-12, hier S. 11.
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deutet, dass viele Inhalte, die auf sozialen Netzwerken veröffentlicht werden, nicht von professionellen Autor*innen verfasst werden, sondern von den Nutzer*innen selbst. Man spricht hier auch von dem sogenannten User Generated Content. Die zur digital zur Verfügung gestellten unterschiedlichen Partizipationsmöglichkeiten lassen sich systematisieren und bewerten. Folgt man der Partizipationstypologie nach Lutz und Hoffmann (2017), kann Partizipation von NichtPartizipation unterschieden und diese wiederum in passive und aktive sowie in positive und negative Formen von Partizipation eingeteilt werden. 44 Diese Typologie hilft als Hintergrundfolie, Hate Speech als negative und verschiedene Gegenstrategien als positive Partizipation zu begreifen. Da sie sich jedoch besonders für die Ausdifferenzierung des Schweigens eignet, wird sie später ausführlicher aufgegriffen. Festgehalten wird an dieser Stelle weiterführend, dass positives wie negatives partizipierendes Verhalten durch bestimmte Merkmale computer-vermittelter Kommunikation nicht nur ermöglicht, sondern auch verstärkt werden kann. Suler (2004) spricht hier von dem sogenannten Online Disinhibition Effekt. 45 Hiernach führen digitalspezifische Merkmale wie Asynchronität, Anonymität und geringe Identifizierbarkeit zu enthemmten Verhaltensweisen in digitalen Kontexten. Die Enthemmung wird konkret dadurch begründet, dass beispielsweise durch eine herabgesetzte Identifizierbarkeit der eigenen Person keine negativen Folgen für die eigene Person erwartet werden, unabhängig davon, was wie geäußert wird. 46 Suler (2004) unterscheidet zwischen einer positiven (prosozialen) und einer negativen (aggressiven) Forme dieser Enthemmung, 47 so dass sowohl positive als auch negative Partizipation hier einzuordnen ist. An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass es mit Online Hate Speech negativ bewertete Partizipationsformen gibt, deren Wahrnehmung steigt, die digital verstärkt werden und für deren Bekämpfung viele Maßnahmen ins Leben gerufen
44 Vgl. Lutz, Christoph /Hoffmann, Christian P.: »The dark side of online participation: exploring non-, passive and negative participation«, in: Information, Communication & Society 20 (2017), S. 1-22. 45 Vgl. Suler, John: »The Online Disinhibition Effect«, in: Cyberpsychology & Behavior 7 (2004), S. 321-326. 46 Vgl. Schulz, Anne /Rössler, Patrick: Schweigespirale Online. Die Theorie der öffentlichen Meinung und das Internet (= Internet Research, Band 43), Baden-Baden: Nomos 2013, S. 92-114. 47 Vgl. J. Suler, S. 321.
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worden sind. 48 Im Folgenden wird gezeigt, welche Möglichkeiten Nutzer*innen sozialer Netzwerkplattformen haben, mit solchen Beitragsformen anderer Nutzer*innen umzugehen.
MÖGLICHE FORMEN ZIVILGESELLSCHAFTLICHER GEGENSTRATEGIEN Einen Überblick über die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten für Nutzer*innen in Bezug auf Online Hate Speech liefert die CRaCR-Studie, in der für die Befragung der Teilnehmenden hinsichtlich ihrer Reaktion auf Online Hate Speech alle möglichen Umgangsformen gesammelt wurden. Dazu gehören private Umgangsformen wie das Blockieren bestimmter Nutzer*innen ebenso wie öffentliche Umgangsweisen wie das Disliken oder direkte Beantworten der Hate Speech. 49 Ebenso beschäftigen sich Schmitt et al. (2017) mit Möglichkeiten, extremistische Propaganda online zu begegnen. Demnach können Nutzer*innen einerseits in indirekter Weise über Melde-Funktionen dazu beitragen, Kommentare zu löschen, Seiten zu sperren oder andere Nutzer*innen zu ermahnen, und andererseits in direkter Weise Gegenbotschaften senden. 50 Auch Gagliardone et al. betonen die Möglichkeit von Nutzer*innen, Gegenbotschaften als direkte Antwort auf Hate Speech zu verfassen. Ergänzend nennen sie die Organisation von Gegenöffentlichkeiten durch die Zusammenarbeit mit NGOs und die Beteiligung an globalen Aktionen gegen Hate Speech im Allgemeinen. 51
48 No Hate Speech Movement Deutschland, https://no-hate-speech.de/de/ vom 07.02.2019; Amadeu Antonio Stiftung (Hg.): »Geh sterben!«. Umgang mit Hate Speech und Kommentaren im Internet o.J.; Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz; Grimme Institut: BRICkS - Building Respect on the Internet by Combating Hate Speech. Nationale Studie Deutschland 2015, http://www.bricksproject.eu/wp/wp-content/ uploads/2016/03/ National_Study_Germany_German.pdf Zugriff 28.07.2016; Keen, Ellie /Georgescu, Mara (H.): Bookmarks. Bekämpfung von Hate Speech im Internet durch Menschenrechtsbildung, Wien 2016 vom 07.02.2019; Saferinternet.at. 49 A. Jakubowicz et. al.: Cyber Racism and Community Resilience, S. 80. 50 Vgl. Schmitt, Josephine B./Ernst, Julian/Frischlich, Lena/Rieger, Diana: »Rechtsextreme und islamistische Propaganda im Internet: Methoden, Wirkungen und Präventionsöglichkeiten«, in: Ralf Altenhof/Sarah Bunk/Melanie Piepenschneider (Hg.), Politischer Extremismus im Vergleich, Münster: LIT 2017, S. 171-208. 51 Vgl. I. Gagliardone et al.: Countering Online Hate Speech, S. 6.
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Aus dieser Sammlung können drei Wege identifiziert werden, wie Nutzer*innen ihre Dissonanz gegenüber Hate Speech ausdrücken können. 1. Erstens können Nutzer*innen staatliche Interventionsmöglichkeiten und Maßnahmen der Plattformbetreiber zur Zensur von Hate Speech unterstützen – beispielsweise über die Meldefunktion zur Weiterleitung problematischer Inhalte zum Plattformanbieter oder über Anzeigen justiziabler Botschaften. 2. Zweitens können Nutzer*innen ihre Dissonanz mit der Hassbotschaft ausdrücken, indem sie entweder a. eine Gegenöffentlichkeit formatieren, indem sie Zusammenschlüsse organisieren oder sich NGOs anschließen; b. in Diskussion treten, sich direkt mit der Hassbotschaft auseinandersetzen und gegenargumentieren oder c. nonverbale Funktionen des Netzwerks, beispielsweise den »Dislike«-Button nutzen. 3. Drittens können Nutzer*innen als Reaktion auf Hate Speech ihr eigenes privat-persönliches Netzwerk pflegen und das Verhalten anderer sanktionieren, indem sie sich von der für die Hate Speech verantwortliche Person entfreunden oder blocken. Der Ausdruck des Missfallens mit Hate Speech im Allgemeinen wird als Counter Speech definiert. Demnach kann Counter Speech verstanden werden als »the large spectrum of communicative responses to online hate« 52. Sie ist «a common, crowd-sourced response to extremism or hateful content«, ausgedrückt in «disagreement, derision, and countercampaigns« 53.Counter Speech beinhaltet demnach sowohl einzelne verbale wie nonverbale Botschaften, die sich gegen eine spezifische Hate Speech richten, als auch koordinierte Kampagnen gegen Hate Speech insgesamt. An dieser Stelle wird zunächst die Bedeutung von Counter Speech für die Regulation von Hate Speech hervorgehoben. Anschließend wird in Abgrenzung zum »Schweigen« der Nutzer*innen diskutiert, als welche Partizipationsform Counter Speech eingeordnet werden kann.
52 Rieger, Diana /Schmitt, Josephine B. /Frischlich, Lena: »Hate and counter-voices in the Internet: Introduction to the special issue«, in: Studies in Communication | Media 7 (2018), S. 459-472, hier S. 464. 53 Bartlett, Jamie /Krasodomski-Jones, Alex: Counter-Speech. Examining content that challenges extremism online, London: Demos 2015, S. 5.
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DIE BEDEUTUNG VON COUNTER SPEECH FÜR DIE REGULATION VON ONLINE HATE SPEECH Zivilgesellschaftliches Engagement in Form von Counter Speech hat eine wichtige Funktion in sozialen Netzwerken. Im Folgenden werden die Schwierigkeiten im Umgang mit Hate Speech aufgezeigt und herausgearbeitet, warum und auf welche Weise der Zivilgesellschaft die Verantwortung, Hate Speech zu regulieren, überlassen wird. Selbstregulation & Vermeidung von Zensur. Generell ist die Selbstregulation des Internets bzw. von Kommunikationsräumen ein zentrales Prinzip zur Regulation abseits staatlicher Interventionen. Die Idee der Selbstregulation ist es, bewusst Zensur zu umgehen; an Stelle des Staates (oder eher als Ergänzung des Staates) rücken beispielsweise Netiquette-Regeln, die die Plattformbetreiber selbst festlegen, und an die sich Nutzer*innen gegenseitig erinnern können. Wer die Regeln nicht befolgt, muss mit Sanktionen wie dem Ausschluss aus dem Forum rechnen. 54 Dieses allgemeine Prinzip zeigt bereits unabhängig von Hate Speech, dass das Einhalten und die Prüfung von Regeln in die Hand von Nutzer*innen gelegt wird, um digitale Kommunikationsräume als Orte freier Meinungsäußerung zu erhalten. Jedoch stellt sich die Frage nach Zensurmöglichkeiten im Kontext von Hate Speech erneut, da diese beispielsweise Volksverhetzung umfassen kann und somit justiziabel, d.h. unabhängig des digitalen Kommunikationsraums potentiell strafbar wäre. 55 Entsprechend zeigt eine Analyse von Grundgesetzkatalogen und Rechtsbesprechungen des EGMR und des Bundesverfassungsgerichts, dass bei der Beurteilung der Strafbarkeit von Hate Speech abgewogen werden muss zwischen dem Schutz der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und der Verteidigung der Demokratie auf der anderen Seite. 56 Struth (2019) spricht in diesem Zusammenhang von einem »demokratischen Dilemma« 57: Freier Meinungsaustausch ist sowohl Grundpfeiler als auch – wie im Fall von Hassrede – potentieller Gefährder der Demokratie. Dennoch wirkt Struths Schluss eindeutig: »Eine strafrechtliche Verurteilung wegen Hassreden beschränkt die grundrechtliche Freiheit der Meinungsäußerung nur dann, wenn die
54 Vgl. Döring, Nicola: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen. Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 1998 (= Internet und Psychologie, Band 2), Göttingen: Hogrefe 2003, S. 22. 55 Vgl. L. Sponholz: Hate Speech in den Massenmedien, S. 41. 56 Vgl. A. K. Struth: Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, S. 429. 57 Ebd., 37-74.
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Hassrede, wegen der verurteilt wird, im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt.« 58 Ihre Schlussfolgerung zeigt jedoch auch, dass Hate Speech nicht per Definition strafbar ist, sondern im Einzelfall als Demokratiefeindlichkeit beurteilt werden muss. In diesem Zusammenhang weisen Gagliardone et al. (2015) darauf hin, dass die Zensur von Beiträgen als alleinige Maßnahme gegen Hate Speech nicht nur nicht ausreicht, sondern auch negative Folgen haben kann: So könne die Eingrenzung von Meinungsfreiheit für die Beschränkung von Rechten willkürlich ausgewählter Bevölkerungsgruppen ausgenutzt, tiefliegende gesellschaftliche Konflikte nicht gelöst und ein Großteil von Hate Speech, der nicht justiziabel ist, gar nicht erst erfasst werden. 59 Unterstützt wird diese Perspektive von Judith Butler: Im Gegensatz zum staatlichen Eingreifen und Zensur birgt das Darüber-Sprechen das Potential, die der Hate Speech zu Grunde liegende Ungleichwertigkeit zwischen Menschen abzubauen oder zu verändern. 60 So kann Hate Speech zwar verletzend sein, aber als manifester (beobachtbarer) Ausdruck Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ermöglicht sie es auch, dass Opfer sich wehren können. 61 Und so weisen auch Zick et al. darauf hin, dass die Gefahr droht, dass sich Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit normalisieren wird, »wenn Rechtsextremismus ignoriert und toleriert wird und zivilcouragiertes Gegensteuern unterbleibt«. 62 Entsprechend bezeichnen Rieger et al. (2018) Counter Speech als primäre, sekundäre und tertiäre Präventionsmaßnahme im Fall extremistischer Propaganda. 63 Globales Monitoring. Ein weiterer Grund für die Bedeutung der Nutzer*innen im Umgang mit Hate Speech ist die schnelle, reichweitenstarke und langlebige Verbreitung entsprechender Inhalte: Dadurch dass es technisch möglich ist, Beiträge unter Nutzer*innen und über verschiedene Plattformen hinweg zu teilen, ist es für Plattformbetreiber fast unmöglich, Beiträge wie Online Hate Speech effektiv und dauerhaft zu prüfen und ggf. zu löschen. 64 Ein damit zusammenhängendes Problem bei Online Hate Speech ist ihre transnationale Verbreitung: Online Hate Speech wird nicht nur innerhalb und zwischen Netzwerk-
58 Ebd., S. 30. 59 Vgl. I. Gagliardone et al.: Countering Online Hate Speech, S. 15-16. 60 Vgl. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 37. 61 Vgl. ebd., S. 9 f. 62 A. Zick/B. Küpper/S. Legge: Nichts sehen, nichts merken, nichts tun., S. 171. 63 Vgl. D. Rieger/J. B. Schmitt/L. Frischlich: Hate and counter-voices in the Internet: Introduction to the special issue, S. 464. 64 Vgl. I. Gagliardone et al.: Countering Online Hate Speech, S. 13.
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plattformen geteilt, sondern auch unter Nutzer*innen auf der ganzen Welt. 65 Daher heben Bartlett und Krasodomski-Jones (2015) hervor, dass Nutzer*innen im Gegensatz zu einzelnen Plattformbetreibern und Moderator*innen schneller, flexibler und auf unterschiedlichen Sprachen auf Hate Speech reagieren. 66 Hier ist auch der Nutzen technischer Hilfsmittel kritisch zu betrachten. Automatische Filter dienen zwar dazu, die Menge digitaler Daten nach bestimmten Kriterien zu durchsuchen und zu reduzieren, doch sie können nicht gänzlich herausfinden, in welchem Kontext ein Schimpfwort genannt und wie es gemeint war (z.B. ob es sich um Satire handelt oder um einen zielgerichteten Angriff). 67 Kooperationsmöglichkeiten. In diesem Zusammenhang gibt es auch die Herausforderung, dass Hate Speech auf koordinierten Kampagnen basieren könnte. Zwar hat die Zahl an Posts, die Hate Speech enthalten, zuletzt abgenommen; an dessen Stelle treten jedoch koordinierte Kampagnen, die das Ziel von Hate Speech (Verbreitung rechtsextremer Einstellungen) systematisch verfolgen. 68 Es ist nur eine Minderheit verantwortlich für die Posts, die Hate Speech enthalten; diese ist aber »lautstark« und koordiniert, wie sie Kreißel et al (2018) beschreiben. 69 Ben-David und Matamoros-Fernandéz (2016) fanden in einer Langzeitstudie am Beispiel des Facebookauftritts rechtsextremer Parteien in Spanien heraus, dass implizit geäußerte Diskriminierung z.B. durch politische Parteien zu offen artikulierten Formen von Hate Speech führt. Die Studie benennt das Zusammenspiel aus der Politik der Plattform im Umgang mit Hate Speech (Strenge, Zensur etc.), die technologischen Möglichkeiten (schnell erstellter Inhalt, Replikation...) und das kommunikative Verhalten der Nutzer*innen als Ursache für Hate Speech.70 An den folgenden drei Beispielen kann verdeutlicht werden, dass zivilgesellschaftliches Engagement gegen Hate Speech vor allem in Form von Kampagnen nützlich sein kann: 2012 schaffte es beispielsweise eine Graswurzelbewegung aus zivilgesellschaftlichen Akteuren, dass eine Facebook-Seite, die ausschließ-
65 Vgl. ebd., S. 15. 66 Vgl. J. Bartlett/A. Krasodomski-Jones: Counter-Speech. Examining content that challenges extremism online, S. 5. 67 Vgl. Jamie Bartlett/Reffin, Jeremy/Rumball, Noelle/Williamson, Sarah: Anti-Social Media, London: Demos 2014, S. 8-9. 68 Vgl. P. Kreißel et al.: Hass auf Knopdruck. 69 Vgl. ebd. 70 Vgl. Ben-David, Anat /Matamoros-Fernández, Ariadna: »Hate Speech and Covert Discrimination on Social Media. Monitoring the Facebook Pages of Extreme-Right Political Parties in Spain«, in: International Journal of Communication 10 (2016), S. 1167-1193.
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lich die Diskriminierung von Aboriginies zum Ziel hatte, von Facebook gelöscht worden ist. 71 In einem weiteren positiven Fall konnte in Myanmar ein seit 2013 bestehendes Problem mit Online Hate Speech eingedämmt werden, indem die zivilgesellschaftliche Kampagne »Panzagar« Alternativen zu Hate Speech auf der einen Seite und Zensur auf der anderen Seite aufzeigte. 72 Nicht zuletzt gewinnt in Deutschland die Kampagne »Reconquista Internet« an Bedeutung, die über eine breite Vernetzung unterschiedlichster Akteure Meldungen sowie Gegenbotschaften von Hate Speech veröffentlicht und bündelt sowie weitere Gegenstrategien aufzeigt. 73 Vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten sind zusammenfassend zwei Gründe zu nennen, weshalb Counter Speech als augenscheinlich als wahrscheinlichste Umgangsform mit Hate Speech angesehen werden kann: Erstens Verstärken digitale soziale Netzwerke durch die technischen Möglichkeiten potentiell die Partizipation von Nutzer*innen. Dementsprechend ist zu erwarten, dass sich viele Nutzer*innen partizipierend gegen Hate Speech wenden. Zweitens spielen speziell bei Hate Speech gesellschaftliche Normen und Erwartungen eine Rolle, wie zuletzt aufgezeigt. Counter Speech durch Nutzer*innen wird aus dieser Perspektive als eine notwendige Form zur wirksamen Bekämpfung von Hate Speech verstanden.
DAS PHÄNOMEN »SCHWEIGEN« ALS REAKTION AUF ONLINE HATE SPEECH Im Folgenden wird gezeigt, dass der edlen Idee der Counter-Speech als zivilgesellschaftliches Engagement gegen Hate Speech empirische Erkenntnisse zu den häufig genutzten Umgangsformen gegenüberstehen. Dieser Widerspruch bildet die Grundlage für die Fragestellung, weshalb sich die Nutzer*innen trotz der aufgezeigten förderlichen Bedingungen und normativen Erwartungen häufiger gegen Counter Speech und für Formen des Schweigens entscheiden. Kommentare tatsächlich mit einer Gegenbotschaft zu beantworten, kommt im Vergleich zu weiteren Umgangsformen selten vor. Nach einer Studie zu Umgangsformen von Nutzer*innen als Reaktion auf rassistische Kommentare geben 26,3% der Befragten an, eine Gegenbotschaft zu versenden, während knapp die
71 Vgl. I. Gagliardone et al.: Countering Online Hate Speech, S. 42. 72 Vgl. ebd., S. 38. 73 Vgl. Reconquista Internet. Eine digitale Bürgerrechtsbewegung: Der #Hassreport2 2019, https://hassreport.de/ vom 24.04.2019.
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Hälfte der Befragten sich dazu entscheiden, einen rassistischen Kommentar zu ignorieren. 74 Die Präferenz dazu, keine Reaktion zu zeigen, bestätigt die JIMStudie 2018: Hassbotschaften werden nach Angaben der jugendlichen Internetnutzer*innen vor allem ignoriert, die Jugendlichen entscheiden sich eher dazu, weiterzuscrollen. 75 Darüber hinaus entscheiden sich viele Nutzer*innen für eine private oder zumindest nicht öffentliche Umgangsweise mit Hate Speech, indem beispielsweise eine Hassbotschaft gemeldet bzw. blockiert 76 oder das private Gespräch gesucht wird 77. Das Disliken ist ebenfalls eine verbreitete Form des Umgangs gegen Hassbotschaften, kommt allerdings nicht so häufig wie das Ignorieren vor. 78 Bevor nun auf die Perspektiven zur Erklärung des Schweigens eingegangen wird, muss konkretisiert werden, welche der genannten Umgangsformen genau unter Schweigen fallen. Wie bereits angedeutet, erweist sich die Typologie von Partizipationsmöglichkeiten im Internet nach Lutz & Hoffmann (2017) als nützlich zur Analyse des Schweigens und dem, was sich dahinter verbirgt. Anhand von Tabelle 1 ist zunächst zu erkennen, dass Counter Speech eine ganz spezifische Partizipationsform darstellt, die positiv-aktive Partizipation, wohingegen Hate Speech als negativ-aktive Partizipation einzuordnen ist. Im Gegensatz dazu wird das Schweigen dem gesamten Spektrum der Nicht-Partizipation zugeordnet und wird im Folgenden ausführlich dargestellt. Das Spektrum der passiven Partizipation ist nur schwer in die bisher vorgestellten Konzepte von Hate und Counter Speech einzuordnen, und wird hier nicht näher diskutiert.
74 Vgl. A. Jakubowicz et al.: Cyber Racism and Community Resilience, S. 80. 75 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2018. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19Jähriger 2018 vom 31.03.2019, S. 64. 76 Vgl. Ebd.; Vgl. A. Jakubowicz et al.: Cyber Racism and Community Resilience, S. 80. 77 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2018, S. 64. 78 Vgl. ebd.
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Tabelle 1: Einordnung von Hate Speech, Counter Speech und Schweigen in die Partizipationstypologien Partizipation positiv
Nicht-Partizipation
Aktiv
Passiv
Aktiv
passiv
Counter Speech
positiv
Aktives und
Schweigen als
(Gegenbotschaften und
wahrgenommene
bewusstes
genereller
Mitwirken an
Einbindung auf
Schweigen aus
Verzicht auf
Kampagnen)
Initiative anderer
Überzeugung
Partizipation
Nutzer negativ
Hate Speech (Ausdruck
negativ
Aktives und
gezwungenes
gruppenbezogener
wahrgenommene
bewusstes
Schweigen
Menschenfeindlichkeit)
Einbindung auf
Schweigen aus
aufgrund
Initiative anderer
Angst vor
fehlender
Nutzer
negativen
Ressourcen
Folgen
Quelle: nach Lutz und Hoffmann (2017) 79
Mit Hilfe dieser Typologie entsteht ein unerwartet facettenreiches Bild des Schweigens, 80 welches die Grundlage zur Analyse der Möglichkeiten zur Erklärung des Schweigens der Nutzer*innen als Reaktion auf Hate Speech bildet: Als positiv-aktive Nicht-Partizipation kann Schweigen als eine Protestform oder ein Boykott verstanden werden. Hieran schließt sich eine Diskussion um die Frage, ob Counter Speech als ineffektive Umgangsweise mit Hate Speech wahrgenommen wird. Als negativ-aktive Nicht-Partizipation lässt sich das Schweigen als Stummschaltung oder Selbst-Zensur verstehen, zum Beispiel weil negative Reaktionen anderer erwartet werden. Counter Speech wäre aus Sicht der mit Hate Speech konfrontierten Nutzer*innen zwar wünschenswert, jedoch werden sie aus unterschiedlichen Gründen gehemmt. Als positiv-passive Nicht-Partizipation wäre das Nicht-Antworten ein genereller Verzicht auf Partizipation, weil keine Gründe wahrgenommen werden, weshalb Nutzer*innen sich engagieren sollten. Daraus schließt sich eine Diskussion der generellen Nutzung des Internets, der subjektiven Wahrnehmung von Hate Speech als Problematik sowie der eigenen Verantwortung an. Als negativ-passive Nicht-Partizipation gilt Verhalten dann, wenn eingeschränkte Ressourcen es nicht möglich machen, dass eine Person nicht partizipiert. Solche Ressourcen können Zeit, (wahrgenommene) Kompe-
79 C. Lutz/C. P. Hoffmann: The dark side of online participation: exploring non-, passive and negative participation, S. 9. 80 Vgl. ebd., S. 9-13.
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tenzen im Umgang mit Medien, materielle Ressourcen usw. sein. Hier ist der Blick auf personenbezogene Faktoren wie Habitus und Selbstwirksamkeit zu richten. Auf Grundlage der dargestellten Typologie kann das Schweigen der Nutzer*innen zunächst als das Gegenteil von Counter Speech begriffen werden. Demnach wäre alles, was nicht unter aktive Partizipation fällt, als Schweigen einzuordnen. Das (situative) Schweigen von Nutzer*innen als Reaktion auf Online Hate Speech schließt allerdings nicht aus, dass in anderen Kontexten Gegenstrategien entwickelt werden, wie am Beispiel des Lurkings deutlich wird: Lurking wird verstanden als »passive Teilnahme« an Kommunikationsprozessen, deren partizipatives Element das bewusste Verfolgen von Diskussionen ist und die Passivität darin besteht, nur sehr wenig bis gar nichts zu der Diskussion beizutragen. 81 Stegbauer und Rausch weisen darauf hin, dass Lurking nicht ausschließt, dass außerhalb des Forums über die dort thematisierten Inhalte gesprochen werde. 82 Maßgeblich für die Definition des Lurkings (und damit für eine Form des Schweigens) ist, dass es sich um eine Aktivität handelt, »die der Öffentlichkeit des Forums weitgehend verborgen bleibt.« 83 So fasst Dennen (2008) zusammen, dass Lurking bedeute, ein Geschehen zu beobachten, »but not contribute in any noticeable way« 84. Lurking sei ferner »the online equivalent of listening« 85. Aus dieser Perspektive schließt das Schweigen von Nutzer*innen auf einen Reiz wie Hate Speech nicht aus, dass sich die Nutzer*innen nicht auf eine andere Art und Weise mit dem Thema beschäftigen als direkt auf den Kommentar zu kontern. Schlussfolgernd wird Schweigen im nachfolgenden verstanden als nichtsichtbare Reaktion auf Online Hate Speech, was Counter Speech als indirekte Form des Engagements einschließen kann, aber nicht muss. Zusammenfassend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass es aktive und bewusste Formen des Schweigens gibt, in denen das Schweigen eine bestimmte Funktion erfüllt und Ergebnis einer Abwägung von Kosten und Nutzen ist; genauso gibt es aber auch passive und ungewollte Formen des Schweigens,
81 Stegbauer, Christian / Rausch, Alexander: »Die schweigende Mehrheit – »Lurker« in internetbasierten Diskussionsforen« 30 (2001), S. 48-64, hier S. 49. 82 Vgl. ebd. 83 Ebd., S. 49. 84 Dennen, Vanessa P.: »Pedagogical lurking: Student engagement in non-posting discussion behavior«, in: Computers in Human Behavior 24 (2008), S. 1624-1633, hier S. 1624. 85 Ebd., S. 1625.
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in denen die Möglichkeit der Partizipation gar nicht wahrgenommen wird oder persönliche Ressourcen fehlen bzw. als fehlend wahrgenommen werden. Hier werden verschiedene Perspektiven auf das Schweigen von Nutzer*innen eröffnet, die im Folgenden ausgeführt werden.
PERSPEKTIVEN ZUR ERKLÄRUNG DES SCHWEIGENS In den vorangegangenen Kapiteln konnte herausgestellt werden, dass das Engagement der Nutzer*innen gegen Hate Speech aus Sicht der Plattformbetreiber eine bedeutende Rolle spielt, die meisten Nutzer*innen diese Erwartungshaltung jedoch nicht in praktisches, sichtbares Handeln umsetzen. Nun wird sich der Frage gewidmet, weshalb sich Nutzer*innen bei dem Kontakt mit Hate Speech selten direkt äußern, sondern schweigen.
INTERNETNUTZUNGSGEWOHNHEITEN UND PERSÖNLICHE FUNKTION SOZIALER NETZWERKPLATTFORMEN Wie oben eingeführt, kann das Schweigen der Nutzer*innen als häufig genutzte Umgangsweise mit Online Hate Speech als Teil der generellen Nutzungsweise des Internets verstanden werden. Nach Kutscher et al. (2015) und Jers (2012) ist zu erwarten, dass sich engagementbezogene Aktivitäten online daran orientieren, wie und warum das Internet im Allgemeinen genutzt wird. 86 Daher werden in diesem Kapitel die Nutzungsweise und der -zweck des Internets und insbesondere soziale Netzwerkplattformen genauer betrachtet.
86 Vgl. Nadia Kutscher/Ahrens, Wiebke/Franken, Rabea/Niemann, Klara M./Leggewie, Leonie/Vahnebruck, Katharina: »Politische Netzwerkaktivitäten junger Menschen«, in: Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut e.V./Technische Universität Dortmund (Hg.), Politische Partizipation Jugendlicher im Web 2.0. Chancen, Grenzen, Herausforderungen: Eigenverlag Forschungsverbund DJI/TU Dortmund 2015, S. 109176, hier S. 141; Jers, Cornelia: Konsumieren, Partizipieren und Produzieren im Web 2.0. Ein sozial-kognitives Modell zur Erklärung der Nutzungsaktivität (= Neue Schriften zur Online-Forschung) 2012, S. 361.
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Grundsätzlich erfüllt das Internet ganz allgemeine soziale Bedürfnisse der Nutzer*innen 87 Entsprechend ist die Nutzung sozialer Netzwerkplattformen im Alltag Jugendlicher selbstverständlich 88 und der Hauptzweck der Internetnutzung ist Kommunikation. 89 Demnach werden die von den Plattformen bereitgestellten Kommunikationsmöglichkeiten durchaus genutzt – allerdings, wie bereits gezeigt worden ist, nicht für Counter Speech. Bei genauerer Betrachtung der Nutzungsgewohnheiten fällt entsprechend auf, dass die Gewohnheiten, wie und zu welchem Zweck Nutzer*innen soziale Netzwerkplattformen nutzen, nicht mit dem nötigen Engagement, Gegenbotschaften zu versenden, vereinbar ist. Die wichtigste Erkenntnis aus der Online-Partizipationsforschung ist, dass passive Verhaltensweisen im Internet wie auch auf sozialen Netzwerkplattformen insgesamt vorrangig sind. So stellen Lurker den Großteil von Nutzer*innen in einer digitalen Gruppe dar: Stegbauer und Rausch (2001) beschäftigen sich in ihrer Studie mit dem Phänomen des Lurkings in Mailinglisten. Am Beispiel der einjährigen Verfolgung von sogenannten »Teilnehmerkarrieren« fanden die Forscher heraus, dass der Großteil der Teilnehmenden einer Mailingliste (ca. 70%) als Lurker bezeichnet werden können. 90 Entsprechend behauptet Nielsen, dass im Internet die sogenannte 90-9-1-Regel gilt: 90% der Internetnutzer*innen sind sogenannte Lurker, 9% partizipieren ab und zu und nur 1% der Nutzer*innen sind für die meisten Beiträge online verantwortlich. 91 Entsprechend spielt weniger die aktive Produktion, sondern der Medienkonsum eine entscheidende Rolle für die Nutzungsweise sozialer Netzwerkplattformen. Nutzer*innen präfieren zunehmend die Rolle als Konsumenten denn als Produzenten 92, obwohl die Möglichkeiten, eigene Beiträge zu verfassen und zu veröffentlichen, sehr nied-
87 Vgl. Edelmann, Noella: Online lurking. Definitions, implications, and effects on Eparticipation = Online-»passimine« definitsioonid, järelmid ja mõju e-osalusele (= Tallinn University of Technology doctoral theses. Series 1, Social sciences, no. 31), Tallinn: TTÜ Press 2017, S. 15. 88 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2015. Jugend, Information, (Multi-) Media. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2015, https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2015 /JIM_ Studie_2015.pdf Zugriff: 04.08.2016, S. 11. 89 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), S. 32. 90 C. Stegbauer/A. Rausch: Die schweigende Mehrheit _ »Lurker« in internetbasierten Diskussionsforen. 91 Vgl. Nielsen, Jakob: Participation Inequality: The 90-9-1 Rule for Social Features 2006, https://www.nngroup.com/articles/participation-inequality/ Zugriff: 30.03.2019. 92 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), S. 34.
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rigschwellig sind. Beispielhaft zeigt sich das an der passiven Nutzung von Youtube: 92% der in der JIM-Studie befragten jugendlichen Nutzer*innen von YouTube laden nie eigene produzierte Videos hoch, stattdessen steht der Konsum von Videos anderer Nutzer*innen an erster Stelle. 93 Und selbst wenn soziale Netzwerkplattformen für politisches Engagement genutzt werden, ist dieses Engagement passiv: In einer Studie zum engagementbezogenen Handeln im Internet konnte herausgearbeitet werden, dass die durch soziale Netzwerke bereitgestellte Funktion, Gruppen zu gründen, derer sich andere Nutzer*innen anschließen können, selten genutzt wird. Häufiger ist es so, dass die Nutzer*innen einer bereits gegründeten Gruppe beitreten. 94 Auch fällt auf, dass die Kommunikationsmöglichkeiten eher in privaten Räumen genutzt werden. Entsprechend zeichnen sich die Vernetzungsplattformen, die speziell zur Kommunikation genutzt werden (WhatsApp, Instagram und Snapchat) 95, dadurch aus, dass sie der privat-persönlichen Kontaktpflege dienen. 96 Gestützt wird die Annahme der bevorzugten privaten Kommunikation durch eine Studie zur Aneignung und zum Austausch politischer Informationen: Jugendliche bevorzugen den privat-persönlichen Kontakt zu ihnen bekannten Personen gegenüber dem zu »einer anonymen Internetöffentlichkeit« 97 In ähnlicher Weise zeigt sich die Orientierung an privaten Netzwerken in der aktuellen JIM-Studie. 98 Während das Erstellen von Beiträgen in dem öffentlich ausgerichteten Netzwerk Instagram eher nebensächlich ist, sind Nutzer*innen von Snapchat als Beispiel nicht-öffentlicher Kommunikation eher bereit dazu, eigene Beiträge (bzw. Fotos) zu verbreiten. 99 All das zeigt, dass Nutzer*innen das Internet und die verschiedenen Netzwerk-Plattformen generell selten für die aktive Beteiligung an öffentlichen Diskussionen nutzen. Aus dieser Perspektive ist das Schweigen der Nutzer*innen als Reaktion auf Online Hate Speech nur kongruent zur allgemeinen Nutzung des Internets zu betrachten. Aktives-partizipatives Handeln, als das Counter Speech eingeordnet werden kann, wird im Vergleich zur passiven Nutzungsweise
93 Vgl. ebd., S. 49. 94 Vgl C. Gebel/N. Jünger/U. Wagner: Informations- und engagementbezogenes Medienhandeln von Jugendlichen, S. 122. 95 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), S. 38. 96 Vgl. M. Schenk et al.: Digitale Privatsphäre, S. 21. 97 C. Gebel/N. Jünger/U. Wagner: Informations- und engagementbezogenes Medienhandeln von Jugendlichen, S. 94. 98 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), S. 41-42. 99 Vgl. ebd.
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generell und unabhängig von einem Reiz wie Hate Speech selten praktiziert und dementsprechend die partizipativen Gestaltungsmöglichkeiten selten genutzt. Es ist schlussfolgernd wahrscheinlich, dass Online Hate Speech zumindest in öffentlichen Kommunikationsräumen auf eine passive Grundhaltung von Rezipienten trifft, die dadurch gekennzeichnet ist, den Konsum der aktiven Beteiligung und Kommentierung von Beiträgen anderer Nutzer*innen vorzuziehen. Dieser Gedankenansatz ist ein grundlegendes Argument dafür, Erklärungsansätze für das Phänomen des Schweigens als Reaktion auf Hate Speech zu wählen, die sich nicht konkret auf Hate Speech als ausschlaggebenden Reiz beziehen. Es ist anschließend zu prüfen, inwiefern sich solche klassischen Modelle zur Erklärung des Schweigens auf eine Hate-Speech-Situation übertragen lassen.
KOSTEN-NUTZEN-ÜBERLEGUNGEN UND DIE PERSÖNLICHE FUNKTION DES SCHWEIGENS Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits begründet, warum Schweigen als aktive Nicht-Partizipation im positiven wie auch im negativen Sinn interpretiert werden kann. Das Schweigen kann demnach u.a. auf einer bewussten Entscheidung gegen Partizipation angesehen werden. In diesem Kapitel soll herausgestellt werden, welche positiven und negativen Effekte von Schweigen erwartet werden. Dabei geht es hier ausdrücklich nicht um Bedingungsfaktoren, sondern um den tatsächlichen von Nutzer*innen zugeschriebenen Sinn und Zweck des Schweigens trotz partizipationsfördernder Umstände. Dazu wird sowohl der mögliche Nutzen und die Funktion des Schweigens thematisiert als auch mögliche Kosten diskutiert, die mit der Reaktion auf Hate Speech einhergehen können. Mit der Darstellung des Schweigens als positiv-aktive Nicht-Partizipation stellen Lutz und Hoffmann heraus, dass Schweigen eine Form von Boykott sein kann. Dabei setzen sie zwar diesen Boykott in Bezug zu den Plattformbetreiber*innen und den Schutz der digitalen Privatsphäre 100, was durchaus auch als Grund für das Schweigen als Reaktion auf Hate Speech in Betracht kommt. Die kritische Haltung kann sich allerdings auch auf die Counter Speech als alternative Reaktionsform beziehen. Schließlich wird die intendierte Wirkung von Counterspeech durchaus diskutiert, weil die Überzeugung der Person, die Hate Speech
100 Vgl. C. Lutz/C. P. Hoffmann: The dark side of online participation: exploring non-, passive and negative participation, S. 11-12.
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veröffentlicht, schwierig sein könnte. 101 In einigen Fällen wird Counter Speech gar als kontraproduktiv eingestuft, weil sie zur Rethematisierung von Hate Speech beiträgt 102 und weil es aufgrund aktivierter Algorithmen unfreiwillig zu einer verstärkten Popularität der Hate Speech kommt, wie Schmitt et al. (2018) am Beispiel von YouTube betonen. 103 Neben der Einnahme einer bewusst kritischen Haltung gegenüber Counter Speech und der Überzeugung, dass Schweigen die bessere Form des Umgangs mit Hate Speech ist, ist auch die subjektiv wahrgenommene geringe Effektivität des Engagements für die eigene Person in den Blick zu nehmen. Die Studienergebnisse zum Thema Lurking in digitalen Lernsettings von Dennen (2008) weisen darauf hin, dass nicht nur durch die aktive Beteiligung an Diskussionen, sondern auch durch das Zuhören Lerneffekte erzielt werden. 104 Ferner scheint es nach einer weiteren explorativen Studie zu den Gründen des Lurkings besonders bedeutsam zu sein, dass die Nutzer*innen keinen Nutzen darin sehen, einen Beitrag zu leisten; entweder, weil sie aus dem reinen Lesen von Kommentaren genügend Informationen ziehen oder weil andere Beiträge leisten, die dem ähnlich sind, was man selbst geleistet hätte. 105 Übertragen auf den Kontext von Hate Speech sollte demnach berücksichtigt werden, dass Nutzer*innen sozialer Netzwerkplattformen Hate Speech zwar lesen und ggf. die anschließende Diskussion verfolgen, die eigene Beteiligung hierbei jedoch als unnötig erachten. Hier wird
101 Vgl. L. Sponholz: Hate Speech in den Massenmedien, S. 204-207; J. Bartlett/A. Krasodomski-Jones: Counter-Speech. Examining content that challenges extremism online, S. 5. 102 R. Delgado/J. Stefanic: Four Observations About Hate Speech, S. 365-366; L. Sponholz: Hate Speech in den Massenmedien, S. 199;
Obermaier, Magdale-
na/Fawzi, Nayla /Koch, Thomas: »Bystanderintervention bei Cybermobbing. Warum spezifische Merkmale computervermittelter Kommunikation prosoziales Eingreifen von Bystandern einerseits hemmen und andererseits fördern«, in: Studies in Communication | Media 4 (2015), S. 28-52. 103 Vgl. Josephine B. Schmitt/Rieger, Diana/Rutkowski, Olivia/Ernst, Julian: »Countermessages as Prevention or Promotion of Extremism?! The Potential Role of YouTube«, in: Journal of Communication 68 (2018), S. 780-808. 104 Vgl. V. P. Dennen: Pedagogical lurking: Student engagement in non-posting discussion behavior, S. 1627. 105 Vgl. Küçük, Mestan: »Lurking in online asynchronous discussion«, in: Procedia Social and Behavioral Sciences 2 (2010), S. 2260-2263, hier S. 2262.
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deutlich, dass Schweigen in Form von Lurking als ein aktiv eingesetztes, strategisches Verhalten verstanden werden kann. 106 Ein weiterer Ansatz, der im Zusammenhang mit dem strategischen Einsatz des Schweigens bzw. der Gegenrede diskutiert werden kann, ist die Theorie des Impression Managements. Die Impression-Management-Theorie besagt, dass »Personen ständig darum bemüht sind, den Eindruck, den sie auf andere Personen machen, zu kontrollieren bzw. zu steuern«. 107 Schmidt und Taddicken (2017) weisen darauf hin, dass das auf sozialen Netzwerkplattformen hergestellte Beziehungsnetz zum Publikum der eigenen Selbstdarstellung wird. Diese Perspektive verdeutlicht, dass eine Person stets im Kontext eines sozialen Gefüges handelt und dass dieser Aspekt in den sozialen Medien eine wichtige Rolle spielt. 108 Demnach kann jede Handlung online als eine Form des Impression Managements verstanden werden. 109 Gestützt wird die theoretische Überlegung zur Rolle der Selbstdarstellung in sozialen Medien durch eine Studie über die Diskrepanz zwischen der sichtbaren und unsichtbaren Reaktion auf Online Hate Speech. 110 Obwohl die Probanden der Untersuchung ihnen vorgelegte rassistische Beiträge zunächst als kritisch wahrnehmen, äußern sie diese Einstellung nicht in entsprechenden kritischen Kommentaren, sondern reagierten eher mit Belustigung, positiver Verstärkung oder gar nicht. 111 Die Wissenschaftler*innen begründeten dieses Verhalten damit, dass die Befragten es gewohnt sind, einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Rassismus aus dem Weg zu gehen und dieses Selbstbild vor ihren sozialen Kontakten aufrecht erhalten wollen. Zusammenfassend ist nach dem hier vorgestellten Ansatz nach dem subjektiv wahrgenommenen Nutzen des Schweigens und den Kosten der Counter Speech zu fragen, sowohl im Hinblick auf die eigene Person als auch im Kontext der zi-
106 Vgl. Nonnecke, Blair /Preece, Jenny: »Why Lurkers Lurk«, in: Americas Conference on Information Systems (2001), S. 1-10, hier S. 9. 107 Mummendey, Hans-Dieter /Bolten, Heinz-Gerd: »Die Impression-ManagementTheorie«, in: Mark W. Baldwin/Dieter Frey/Martin Irle (Hg.), Motivations- und Informationsverarbeitungstheorien, Stuttgart: Huber 1998, 57-77, hier S. 57. 108 Vgl. Schmidt, Jan-Hinrik /Taddicken, Monika: »Soziale Medien: Funktionen, Praktiken, Formationen«, in: Jan-Hinrik Schmidt/Monika Taddicken (Hg.), Handbuch Soziale Medien, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 23-38, hier S. 34. 109 Vgl. d. m. boyd/N. B. Ellison: Social Network Sites., S. 219-220. 110 Vgl. Tynes, Brendesha M. /Markoe, Suzanne L.: »The role of color-blind racial attitudes in reactions to racial discrimination on social network sites«, in: Journal of Diversity in Higher Education 3 (2010), S. 1-13. 111 Vgl. ebd., S. 10.
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vilgesellschaftlichen Verantwortung. Es ist jedoch absehbar (und Thema der nächsten Abschnitte), dass die Einschätzung des Sinns des eigenen Handelns in indirekter Weise von weiteren Faktoren beeinflusst wird, wie beispielsweise der eigenen Selbstwirksamkeitserwartung oder Sensibilisierung in Bezug auf Hate Speech. Außerdem sind nach Hinzuziehung weiterer Erklärungsmodelle zum Schweigen von Nutzer*innen im Kontext von Hate Speech weitere Kosten von Counter Speech zu erwarten, wie etwa soziale Isolation 112 oder Gewalt gegen die eigene Person 113. Dies wird ebenfalls in den nächsten Abschnitten expliziert. An dieser Stelle soll lediglich festgehalten werden, dass die Entscheidungsbasis, als Reaktion auf Hate Speech zu schweigen, eine Kosten-Nutzen-Abwägung sein kann und in anzuschließenden Studien nachvollzogen werden sollte. Auch dass Schweigen nicht immer eine Funktion erfüllt, soll in diesem Beitrag nicht unberücksichtigt bleiben.
PERSÖNLICHE WAHRNEHMUNG, INTERPRETATION UND BEDEUTSAMKEIT VON HATE SPEECH Begreift man Schweigen als positiv-passive Nicht-Partizipation, schweigen die Nutzer*innen als Reaktion auf Online Hate Speech deshalb, weil sie den möglichen Sinn der Partizipation im Allgemeinen wie auch in dem situativen Kontext nicht erkennen. 114 Da bisher nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Verantwortungsbereitschaft und die angegebene Intention, eine Gegenbotschaft zu senden, abhängig von dem durch Wissenschaftler*innen definierten Schweregrad der Hate Speech ist 115, ist die subjektive Wahrnehmung von Hate Speech in den Blick zu nehmen. Aus dieser Perspektive ist konkret herauszuarbeiten, in-
112 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: »The Spiral of Silence a Theory of Public Opinion«, in: Journal of Communication 24 (1974), S. 43-51. 113 Vgl. Meyer, Gerd: »Jenseits von Gewalt – Zivilcourage als sozialer Mut im Alltag«, in: »Der Bürger im Staat« der Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg 61 (2011), S. 102-112, hier S. 103. 114 Vgl. C. Lutz/C. P. Hoffmann: The dark side of online participation: exploring non-, passive and negative participation, S. 12-13. 115 Vgl. Leonhard, Larissa/Rueß, Christina/Obermaier, Magdalena/Reinemann, Carsten: »Perceiving threat and feeling responsible. How severity of hate speech, number of bystanders, and prior reactions of others affect bystanders’ intention to counterargue against hate speech on Facebook«, in: Studies in Communication | Media 7 (2018), S. 555-579, hier S. 567.
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wiefern die normativ geforderte Counter Speech von den Nutzer*innen selbst als notwendig erachtet wird. Im Allgemeinen scheint das Interesse an einem bestimmten Thema ausschlaggebend für die Bereitschaft zu sein, an entsprechenden Diskussionen teilzunehmen. 116 Gebel et al. (2014) bestätigen, dass ein hohes politisches Interesse einen großen Einfluss auf das Engagement von Jugendlichen hat. 117 Auch Stegbauer und Rausch (2001) vertreten die Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit, sich aktiv an einer Diskussion zu beteiligen, von der persönlichen Bedeutung des behandelten Themas für den Akteur abhängig sein könnte. 118 Kutscher et al. (2015) betonen weiterführend, dass mit dem Interesse auch thematisches Wissen erworben wird, welches überhaupt erst zur Diskussionsteilhabe befähigt. 119 Ausgehend von diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern das Schweigen der Nutzer*innen im Umgang mit Hate Speech Desinteresse und Ahnungslosigkeit gegenüber dem Thema wiederspiegelt. Generell gilt, dass die Einstufung von Verhaltensweisen als diskriminierend abhängig von der subjektiven Wahrnehmung des Rezipienten ist. 120 Dass diese subjektive Wahrnehmung von der normativen Betrachtungsweise von Internetbeiträgen abweicht, zeigt eine Studie, in der Jugendliche mit von den Wissenschaftler*innen als Hate Speech eingestuften Beiträgen konfrontiert und ihre Reaktionen erfasst wurden. Es konnte herausgestellt werden, dass die Jugendlichen den Inhalten zwar kritisch gegenüberstehen, jedoch wenig Bewusstsein darüber haben, welche negativen Auswirkungen Hate Speech haben kann. 121 Entsprechend der Annahme, dass persönliches Interesse einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Hate Speech haben kann, zeigt sich in mehreren Studien, dass die
116 Vgl. Wagner, Ulrike /Gebel, Christa: »Jugendliche und ihre mediatisierten Informationsnetze«, in: Ulrike Wagner/Christa Gebel (Hg.), Jugendliche und die Aneignung politischer Information in Online-Medien, Wiesbaden: Springer VS 2014, S. 1-24, hier S. 8. 117 Vgl. C. Gebel/N. Jünger/U. Wagner: Informations- und engagementbezogenes Medienhandeln von Jugendlichen, S. 129. 118 Vgl. C. Stegbauer/A. Rausch: Die schweigende Mehrheit – »Lurker« in internetbasierten Diskussionsforen, S. 61. 119 Vgl. N. Kutscher et al.: Politische Netzwerkaktivitäten junger Menschen, S. 140. 120 Vgl. N. Döring: Sozialpsychologie des Internet., S. 275. 121 Vgl. Russo, Ernesto /Oliviero, Valentina: »Hate Speech and the Communication Medium«, in: Stavros Assimakopoulos/Fabienne H. Baider/Sharon Millar (Hg.), Online Hate Speech in the European Union, Cham: Springer International Publishing 2017, 77-79, hier S. 79.
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persönliche Betroffenheit von Hate Speech einen entscheidenden Einfluss darauf hat, ob Hate Speech als Hate Speech wahrgenommen wird: In einer Studie wurde untersucht, wie Studierende auf rassistische Bilder auf den sozialen Netzwerkplattformen Facebook und Myspace reagieren und wie sie sich dazu verhalten würden. Die Studie zeigt, dass sich das Verhalten und die Identifikation von Rassismus in der sichtbaren Reaktion darauf dahingehend unterscheidet, ob die Studierenden der abgewerteten Gruppe zugehören oder nicht und wie sensibel die Befragten im Hinblick auf Rassismus voreingestellt sind. 122 Eine Studie zur Wahrnehmung von Rassismus bestätigt, dass Personen, die Beiträge als rassistisch identifizieren, weniger rassistisch eingestellt sind und sich stärker an Diversitätswerten orientieren als Personen, die Rassismus nicht wahrnehmen. Die Autor*innen schließen, dass »being a witness may require some literacy about what constitutes racism, and perhaps a moral conviction that it is a notable issue« 123. Die Bedeutung dieser persönlichen Betroffenheit zeigt sich ebenfalls in der JIMStudie, nach der Nutzer*innen vor allem dann dissonant auf Hassbotschaften reagieren, wenn sie selbst oder Bekannte attackiert werden oder Bekannte die Urheber der Hate Speech sind. 124 Ein Erklärungsansatz liegt darin, dass die Abwertung einer Gruppe nicht so eindeutig wahrgenommen wird wie die Abwertung einer einzelnen Person. 125 So weisen auch Obermaier et al. darauf hin, dass die Einschätzung einer digitalen Situation als Notlage durch den Wegfall sozialer Reize getrübt werden kann. 126 Demnach kann das Schweigen als Reaktion auf Hate Speech als Unwissenheit oder fehlende Sensibilität in Bezug auf die a) die Identifikation von Beiträgen als Hate Speech und b) die Folgen von Hate Speech für betroffene Gruppen angesehen werden. Allerdings gibt es dem widersprechend auch Erkenntnisse, die zeigen, dass es unter Nutzer*innen eine insgesamt geringe Bereitschaft gibt, auf Hate Speech zu reagieren – auch dann, wenn Hate Speech als Problem angesehen wird. 127 Diese Erkenntnisse weisen darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen Counter Speech und dem politischem Interesse, der Sensibilisierung
122 Vgl. B. M. Tynes/S. L. Markoe: The role of color-blind racial attitudes in reactions to racial discrimination on social network sites. 123 A. Jakubowicz et al.: Cyber Racism and Community Resilience , S. 74. 124 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), S. 64. 125 Vgl. L. Leonhard et al.: Perceiving threat and feeling responsible, S. 572. 126 M. Obermaier/N. Fawzi/T. Koch: Bystanderintervention bei Cybermobbing, S. 42. 127 Vgl. L. Leonhard et al.: Perceiving threat and feeling responsible, S. 567; vgl. A. Zick/B. Küpper/S. Legge: Nichts sehen, nichts merken, nichts tun. Couragiertes Eintreten gegen Rechtsextremismus in Ost und West., S. 177-178.
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und der persönlichen Betroffenheit nicht eindeutig ist und weitere Faktoren in den Blick genommen werden müssen.
DAS SCHWEIGEN AUS HEMMUNG UND ANGST Als negativ-aktive Nicht-Partizipation ist das Schweigen als Reaktion auf Hate Speech als Angst vor negativen Folgen zu interpretieren. Solche Ansätze finden sich in der Theorie der öffentlichen Meinung bzw. Schweigespirale und dem Effekt der Sozialen Hemmung wieder und sind als solche als eine Kritik bzw. Erweiterung der oben beschriebenen Theorie digitaler Enthemmung zu verstehen. Negativen Folgen spielen als sogenannte Sanktionserwartung eine bedeutende Rolle in der von Noelle-Neumann entwickelte Theorie der öffentlichen Meinung. Ausgangspunkt ist hier die Isolationsangst als Antriebsfaktor für die Entscheidung, zu Reden oder zu Schweigen. Diese Angst sei »integral part of all processes of public opinion. This is the point where the individual is vulnerable; this is where social groups can punish him for failing to to the line. The concepts of public opinion, sanction, and punishment are closely linked with one another.« 128 Noelle-Neumann geht also davon aus, dass die größte Angst des Menschen als soziales Wesen die Angst vor Isolation ist. Diese Isolationsangst wird der Theorie nach dann aktiviert, wenn eine Person das Gefühl hat, ihre Meinung, die sie vertreten würde, entspräche nicht der Mehrheitsmeinung. 129 Die sich entscheidende Person »tries to find this out by means of a »quasi-statistical organ«: by observing his social environment, by assessing the distribution of opinions for and against his ideas, but above all by evaluating the strength (commitment), the urgency, and the chances of success of certain proposals and viewpoints.« 130 Aus dieser Perspektive basiert die Entscheidung, als Reaktion auf Hate Speech lieber zu schweigen als eine gegenteilige Position zu vertreten, auf der subjektiven Wahrnehmung, dass die Mehrheit der anderen Nutzer*innen der Hate Speech nicht widerspricht. Auf diese Weise würde mit der sogenannten Schweigespirale ein Prozess in Gang gesetzt werden, der das Schweigen zusätzlich verstärkt. 131 Geht man davon aus, dass Counter Speech eine Form von Zivilcourage und Schweigen dementsprechend der Verzicht darauf ist, ist ergänzend die Theorie
128 E. Noelle-Neumann: The Spiral of Silence a Theory of Public Opinion, S. 43. 129 Vgl. ebd. 130 Ebd., S. 44. 131 Ebd.
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der sozialen Hemmung nach Latanè und Nida (1981) in den Blick zu nehmen. 132 Nach dieser Theorie hemmt die Anwesenheit und das Verhalten anderer eine Person darin, in einer sogenannten Notsituation einzugreifen. Zu den dazugehörigen psychologischen Prozessen zählen »audience inhibition«, »social influence« sowie »diffusion of responsibility«. Mit dem ersten Prozess meinen die Forscher die Sorge einer Person, sich vor anderen zu blamieren, indem beispielsweise die Situation fälschlicherweise als Notfall eingeschätzt wird. Mit »social influence« oder pluralistischer Ignoranz wird der Vorgang beschrieben, sich bei der Interpretation des Wahrgenommenen und der Einschätzung, ob ein Notfall vorliegt oder nicht, an den anderen Anwesenden zu orientieren. Wenn kein anderer der Anwesenden einschreitet, signalisiert dies, dass NichtEingreifen eine Reaktionsform ist, die sozial angemessen ist, z.B. weil kein richtiger Notfall vorliegt. Mit der Diffusion der Verantwortung, dem dritten Prozess, wird die Verantwortung, selbst auf die Notfallsituation zu reagieren, an weitere Anwesende abgegeben. 133 Aus dieser Perspektive nimmt die Wahrscheinlichkeit, sich für das Schweigen zu entscheiden, mit der Anzahl der wahrgenommenen Anwesenden zu: Je mehr Menschen wahrgenommen werden, die die Hate Speech mitlesen und demnach auch reagieren könnten, dies aber nicht tun, desto eher verzichten Nutzer*innen auf Counter Speech. Empirisch lässt sich dieser Effekt nachweisen: Auf Basis eines Online-Experiments wurde untersucht, inwiefern die Anzahl der Bystander, die Reaktionen anderer Nutzer*innen sowie der »Schweregrad« der jeweiligen Hate Speech ausschlaggebend für die Bereitschaft ist, einem Hate-Speech-Kommentar mit Gegenrede zu begegnen. Insbesondere die Rolle der anderen Anwesenden – der Bystander-Effekt sowie die Reaktionen anderer Nutzer*innen – konnte hier bestätigt werden. 134 Beiden hier vorgestellten Ansätze ist gemein, dass Schweigen als Produkt der Auseinandersetzung der eigenen Person mit dem Verhalten und der wahrgenommenen Norm anderer angesehen werden und in diesem Prozess verstärkt werden kann. Die Besonderheit in digitalen sozialen Netzwerken besteht nun aber darin, dass diese Gesellschaft, bestehend aus anderen Personen, nicht sichtbar, sondern virtuell anwesend und somit unter Umständen als anonyme Masse
132 Latané, Bibb/Nida, Steve: »Ten Years of Research on Group Size and Helping«, in: Psychological Bulletin 89 (1981), S. 308-324. 133 Vgl. ebd., S. 309. 134 Vgl. L. Leonhard et al.: Perceiving threat and feeling responsible. How severity of hate speech, number of bystanders, and prior reactions of others affect bystanders’ intention to counterargue against hate speech on Facebook.
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wahrgenommen wird. 135 Es ist daher zu diskutieren, inwiefern die hier beschriebenen Hemmungseffekte auch online eintreten. Das SIDE-Modell könnte diese Lücke füllen: Im Allgemeinen kann nach dem SIDE-Modell (Soziale Identität und Deindividuation) davon ausgegangen werden, dass sich Nutzer*innen je nach situativem Kontext entweder an soziale Gruppennormen (soziale Identität) oder an der eigenen Besonderheit und Individualität (personale Identität) orientieren. Die Anonymität anderer als situationsund digitalspezifisches Merkmal kann dabei beide Pole verstärken, je nach dem welche Identität aktuell salient ist. 136 Laut SIDE-Modell orientieren sich Nutzer*innen in virtuellen Räumen tendenziell eher an der sozialen Norm: Durch die Homogenisierung der Gruppe aufgrund der Anonymität, tritt die Bedeutung der Individualisierung zu Gunsten der Bedeutung der Gruppennorm in den Hintergrund; folgend wird versucht, Konflikte mit der Gruppe zu vermeiden 137 – ähnlich wie die Vermeidung von sozialer Isolation bzw. Fehlern und Peinlichkeit. Für das Phänomen des Schweigens ist an dieser Stelle allerdings genauer nachzufragen, wie die soziale Norm im Kontext von Hate Speech für die jeweilige Person situativ ausgestaltet wird. Ist die Norm die Einstellung zur Hate Speech (Rassismus) oder ist die Norm das Verhalten im Internet? Ist die Norm das Schweigen oder ist die Norm, sich kritisch zu äußern? Die Frage nach der Dominanz sozialer Normen zur Erklärung des Schweigens ist also in weiteren Studien zu klären. Anzumerken ist hier jedoch grundsätzlich, dass Schweigen selbst – im Gegenteil zur Counter Speech als Alternative – in digitalen Kontexten meist unbemerkt bleibt und daher so oder so nicht sanktioniert werden kann. 138 Im Gegensatz zum Postulat des Online Disinhibition Effekts ist an dem SIDE-Modell erkennbar, dass Merkmale digitaler Kommunikation eben nicht zwangsläufig zu Enthemmung führen. 139 Aber gegen den enthemmenden Effekt digitalspezifischer Kommunikationsmerkmale auf sozialen Netzwerken spricht auch, dass der Effekt zum sozial-positiven Enthemmungseffekt bisher nicht
135 Vgl. Kneidinger-Müller, Bernadette: »Identitätsbildung in sozialen Medien«, in: JanHinrik Schmidt/Monika Taddicken (Hg.), Handbuch Soziale Medien, Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 61-80, hier S. 67. 136 Vgl. N. Döring: Sozialpsychologie des Internet., S. 174-178. 137 Vgl. ebd., S. 174. 138 A. Schulz/P. Rössler: Schweigespirale Online, S. 94. 139 Ebd., S. 102.
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nachgewiesen werden kann. 140 Zudem scheint es eher so zu sein, dass Nutzer*innen sozialer Netzwerkplattformen eher dann enthemmt sind, wenn sie unter Bekannten sind – für andere also identifizierbar sind und die anderen nicht anonym wahrnehmen. Diese Annahme stützt sich auf den bereits dargestellten Befunden, dass Nutzer*innen in privaten Kontexten (z.B. auf WhatsApp oder Snapchat) kommunikativ aktiver sind und die digitale Öffentlichkeit meiden. 141 Dies weist darauf hin, dass Schweigen als Hemmung nicht direkt von Kommunikationsmerkmalen abhängt, sondern dass z.B. die persönliche Beziehung zu den Anwesenden einen Einfluss darauf nehmen können, wie groß die Redebereitschaft einer Person ist. Zusammenfassend ist genauer zu analysieren, ob digitale soziale Netzwerke durch die Überbetonung sozialer Normen das Schweigen als Reaktion auf Hate Speech verstärken oder nicht. Das persönliche Beziehungsnetz ist dabei genauso in den Blick zu nehmen wie die Effekte von Filterblasen und Echokammern.
PERSÖNLICHKEITSFAKTOREN Zuletzt soll auf die Rolle von Persönlichkeitsfaktoren eingegangen werden, um das Schweigen der Nutzer*innen als negativ-passive Nicht-Partizipation genauer zu beleuchten. Für diesen Ansatz sprechen Studien, die den Einfluss des situativen und insbesondere digitalen Kontexts nicht nachweisen können und daraus schließen, dass übergeordnete Faktoren dafür ausschlaggebend sind, ob eine Person schweigt oder nicht. 142 So sei auch in öffentlichen Diskussionen abseits digitaler Kommunikationsräume zu beobachten, dass es Personen gibt, die eine Diskussi-
140 Lapidot-Lefler, Noam /Barak, Azy: »The Benign Online Disinhibition Effect. Could Situational Factors induce Self-Disclosure and Prosocial Behaviors?«, in: Cyberpsychology: Journal of Psychosocial Research on Cyberspace 9 (2015). 141 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), S. 41-42. 142 Vgl. C. Stegbauer/A. Rausch: Die schweigende Mehrheit – »Lurker« in internetbasierten Diskussionsforen, S. 59-60; Vgl. Valtin, Georg: Prosoziales Verhalten in virtuellen Welten am Beispiel von Online-Rollenspielen: Der Einfluss situativer und dispositionaler Faktoren im Vergleich zu realen Hilfesituationen. Dissertation, Chemnitz 2014, S. 184-185.
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onen dominieren, und eine Mehrheit, die schweigt. 143 Aus dieser Perspektive kann der Einfluss der digitalen Umgebung auf den Umgang mit Hate Speech durchaus in Frage gestellt werden. Persönlichkeitsmerkmale, die generelles Partizipationsverhalten erklären können, sind stattdessen eher in den Blick zu nehmen. Einer dieser personenbezogenen Faktoren ist die Selbstwirksamkeit. Nach Edelmann kann eine geringe Selbstwirksamkeitswartung dazu führen, dass Nutzer*innen glauben, keinen sinnvollen Beitrag leisten zu können; 144 Auch Leonhard et al. (2018) diskutieren, ob eine geringe wahrgenommene Selbst-Effektivität einen Einfluss auf die Intention hat, öffentlich zu reagieren: Nutzer*innen könnten sich zwar verantwortlich dafür fühlen, Hate Speech zu entgegnen; sie glauben jedoch nicht an die Effektivität ihres Handelns. 145 Einen ersten Hinweis für den positiven Einfluss von Selbstwirksamkeit liefert Jers (2012) in ihrer Analyse zur Erklärung von konsumierenden, partizipierenden und produzierenden Nutzungsweisen des Internets. Die Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen, wie das Hochladen von Bildern oder Videos, geht mit einer allgemein höheren Nutzungsaktivität einher. 146 Der Einfluss der Big-Five-Persönlichkeitsmerkmalen konnte in dieser Studie allerdings nicht nachgewiesen werden. 147 Jedoch weisen andere Studien darauf hin, dass Schüchternheit einen negativen Einfluss auf das Partizipationslevel haben könnte. 148 Ebenfalls können Kompetenzen in den Blick genommen werden, die mit digitaler Partizipation und dem Erkennen von Hate Speech verbunden sind. Darunter fallen zum Beispiel politische Kompetenzen wie Urteils- und Handlungsfähigkeit wie auch Medienkompetenzen. 149 Jenkins (2006) stellt hier eine Reihe
143 Vgl. C. Stegbauer/A. Rausch: Die schweigende Mehrheit – »Lurker« in internetbasierten Diskussionsforen, S. 60-61; V. P. Dennen: Pedagogical lurking: Student engagement in non-posting discussion behavior, S. 1625. 144 N. Edelmann: Online lurking, S. 39-40. 145 Vgl. L. Leonhard et al.: Perceiving threat and feeling responsible. How severity of hate speech, number of bystanders, and prior reactions of others affect bystanders’ intention to counterargue against hate speech on Facebook, S. 572. 146 Vgl. C. Jers: Konsumieren, Partizipieren und Produzieren im Web 2.0, S. 322-330. 147 Vgl. ebd., S. 335-345. 148 Vgl. Tan, Vicky M.: Examining the Posters and Lurkers: Shyness, Sociability, and Community-related Attributes as Predictors of SNS Participation Online Status, Hong Kong 2011. 149 Vgl. J.-H. Schmidt: Politische Sozialisation in Partizipation von Jugendlichen im Internet, S. 25.
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von Kompetenzen auf, die bei der gelungenen Partizipation in sozialen Netzwerken bedeutsam sind. Im Zusammenhang mit diskriminierenden Inhalten aus dem rechtsextremen Spektrum ist z.B. das »Judgment« wichtig – die Fähigkeit, die Zuverlässigkeit und die Glaubwürdigkeit von Informationsquellen bewerten zu können. 150 Entsprechend können die Förderung von Medien- und Informationskompetenz auf der einen sowie Bildungsmaßnahmen auf der anderen Seite als effektive Maßnahmen gegen Online Hate Speech betrachtet werden, da sie den Nutzer*innen dabei helfen, unmittelbar und sinnvoll auf Hate Speech reagieren zu können. 151 Aus dieser Perspektive ergibt sich jedoch ein sehr negatives Bild in Bezug auf das Schweigen. Wie Nonnecke und Preece (2001) verdeutlichen, werden Personen, die schweigen, häufig zu Unrecht als inkompetent und unsicher charakterisiert, 152 zumal der Verzicht auf öffentliche Beteiligung gerade mit potentiellen Rechtsextremisten auch als vorsichtiger Umgang mit digitaler Privatsphäre betrachtet und somit als ein Zeichen von Medienkompetenz betrachtet werden kann. Zu diskutieren sind ferner die Einflüsse soziodemographischer Variablen, die im Rahmen der Diskussion um digital-divide eine Rolle spielen könnten 153, zu denen bisher jedoch keine eindeutigen Befunde vorliegen. In der Untersuchung zur Theorie der öffentlichen Meinung von Noelle-Neumann erweist sich das Schweigen einer Person in öffentlichen Diskussionen als abhängig von Geschlecht, Alter, Beruf, Einkommen und Wohnsitz: »Men, younger persons, and the middle and upper classes are generally the most likely to speak out«. 154 In einer aktuelleren Studie zum Thema digitaler Rassismus konnte das Geschlecht jedoch nicht als einflussgebend nachgewiesen werden. 155 Jedoch gibt es Hinweise darauf, dass das Alter einen positiven Einfluss auf die Wahrnehmung und den Umgang mit Hate Speech haben könnte: So geben mehr ältere als jüngere Jugendliche in der JIM-Studie an, Hassbotschaften wahrzunehmen. 156 Weiterführend sind es nach Jers eher jüngere Internetnutzer*innen, die das Internet eher
150 Vgl. H. Jenkins: Confronting the Challenges of Participatory Culture, 43 f. 151 Vgl. I. Gagliardone et al.: Countering Online Hate Speech, S. 48; J. B. Schmitt et al.: Rechtsextreme und islamistische Propaganda im Internet: Methoden, Wirkungen und Präventionsöglichkeiten. 152 Vgl. B. Nonnecke/J. Preece: Why Lurkers Lurk, S. 2. 153 Vgl. C. Lutz/C. P. Hoffmann: The dark side of online participation: exploring non-, passive and negative participation, S. 13. 154 E. Noelle-Neumann: The Spiral of Silence a Theory of Public Opinion, S. 46. 155 Vgl. A. Jakubowicz et al.: Cyber Racism and Community Resilience, S. 73. 156 Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), S. 63.
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konsumierend nutzen. 157 Allerdings kommen Jakubowicz et al. (2017) zu einem gegenteiligen Befund. 158 Insgesamt ruft die erste Analyse von Persönlichkeitsfaktoren nur schwammige Erkenntnisse hervor, die insbesondere im konkreten Fall von Hate Speech überprüft werden müssen.
FAZIT Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, dass das Schweigen von Nutzer*innen sozialer Netzwerkplattformen bei der Konfrontation mit Online Hate Speech vielfältige und individuelle Hintergründe haben kann. Counter Speech ist aus Sicht der Nutzer*innen demnach im Gegensatz zur normativen Erwartung nicht der beste Weg, mit Hate Speech umzugehen. So ist zu erwarten, dass es Nutzer*innen gibt, die bewusst schweigen, weil sie es für die beste Strategie gegen Hate Speech halten. Möglich ist aber auch, dass Nutzer*innen sich nicht für Hate Speech interessieren oder sich generell eher selten im Internet exponieren. Ebenso können soziale Ängste oder fehlende Kompetenzen Personen darin hemmen sich öffentlich gegen Hate Speech zu positionieren. Die »schweigende Mehrheit«, so zeigt sich, ist in verschiedene Untergruppen einzuteilen, deren einziges gemeinsames Merkmal das phänotypische Schweigen ist. Diese Erkenntnisse liefern einen Einblick in die Komplexität des Schweigens. Hierin wird gleichzeitlich ersichtlich, dass es sinnvoll ist, zunächst einzelne theoretische Modelle auf ihre Güte (Brauchbarkeit und Erklärungskraft) im Hinblick auf das Schweigen von Nutzer*innen kritisch zu überprüfen. Hier ist beispielsweise die Brauchbarkeit allgemeiner Zivilcourage-Modelle 159 zur Erklärung von Counter Speech zu hinterfragen: Zivilcourage wird als ein sehr spezifisches Handeln begriffen, das sich von anderem Hilfeverhalten in besonderer Form abgrenzt: Erstens ist das Verhalten als Reaktion auf einen Konflikt zwischen zwei Parteien, von denen eine die Menschenwürde verletzt, zu verstehen; zweitens ist Handeln dann zivilcouragiert, wenn der Handelnde Risiken eingeht oder in Kauf nimmt; drittens ist Zivilcourage dadurch definiert, dass sie in der Öffentlichkeit stattfindet; und viertens ist der zivilcouragiert Handelnde hinsichtlich des Machtverhältnisses der Beteiligten (real oder aus subjektiver Sicht) be-
157 Vgl. C. Jers: Konsumieren, Partizipieren und Produzieren im Web 2.0, S. 361. 158 Vgl. A. Jakubowicz et al.: Cyber Racism and Community Resilience, S. 73-74. 159 Vgl. G. Meyer: Jenseits von Gewalt – Zivilcourage als sozialer Mut im Alltag.
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nachteiligt. 160 Erst aus dieser Definition heraus ist es verständlich, dass Zivilcourage mit sozialem Mut im Alltag und damit implizit auch als risikobehaftetes und selbstloses Handeln gleichgesetzt werden kann. 161 Aus dieser Perspektive könnte Counter Speech als Zivilcourage, das Schweigen im Umkehrschluss als Vermeidung von Risiko und Gefahren aufgefasst werden. Dies entspricht aber erstens eben jener normativ aufgeladenen Perspektive, die die Komplexität des Schweigens, den Sinn und die persönliche Funktion, die hier herausgearbeitet worden ist, weitestgehend ignoriert. Zudem ist Counter Speech zweitens nicht eindeutig als Zivilcourage einzuordnen, da wahrgenommene Risiken und Machtverhältnisse situationsabhängig sind. Ebenfalls muss das Prinzip des Lurkings, welches in diesem Beitrag häufiger zur Analyse des Schweigens herangezogen worden ist, kritisch auf die Übertragung in Hate Speech-Situationen überprüft werden. Entsprechende Studien, die diesen Begriff benutzen, sind um die 15 Jahre alt und entsprechend nicht auf dem aktuellsten Stand, was digitale Kommunikationsmöglichkeiten und -räume betrifft. Zudem beschäftigen sie sich eher mit Diskussionen in abgegrenzten digitalen Lernräumen und Lehrinhalten als mit gesellschaftspolitischen, alltäglichen und öffentlichen Diskussionen. Es ist zu diskutieren, ob das Phänomen und die dargestellten positiven Effekte des Lurkings beispielsweise auch auf die Verfolgung von Kommentarspalten unter Zeitungsartikeln nachgewiesen werden können. Auf empirischer Ebene sollte ferner gemessen werden, wie groß der Einfluss einzelner Faktoren auf die Wahrscheinlichkeit des Schweigens ist. Als ein grundlegender Streitpunkt erweist sich der Einfluss der Hate Speech selbst auf die Reaktionsform: Auf der einen Seite stellt Hate Speech in der Fragestellung des Beitrags der zentrale Reiz dar, auf den die Reaktionen von Nutzer*innen analysiert werden. Doch zugleich konnte herausgearbeitet werden, dass Nutzer*innen unabhängig von Hate Speech eher schweigen als sich öffentlich zu äußern. Anknüpfungspunkte zur Hate Speech selbst ergeben sich lediglich aus dem Einfluss der subjektiven Wahrnehmung und der persönlichen Bedeutsamkeit der Hate Speech. Aus den anderen Perspektiven rückt der problematisierte Inhalt der Hate Speech in den Hintergrund. Doch den Einfluss der Hate Speech auf die Reaktionsform zu messen, stellt eine Herausforderung dar, denn: Wer definiert, wenn nicht die Befragten selbst, wie »sehr« ein Beitrag als Hate Speech einzustufen ist? Die subjektiv-divergierende Einschätzung eines Beitrags als Hate Speech muss daher bei entsprechenden Studien berücksichtigt werden.
160 Vgl. ebd., S. 103. 161 Vgl. ebd., S. 102.
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Ein weiterer kritisch diskutierter Einflussbereich ergibt sich aus der technischen wie sozialen Konstitution des Kommunikationssettings. Da herausgestellt werden konnte, dass der Öffentlichkeitsgrad und der Bekanntheitsgrad unter den Beteiligten einen Einfluss auf die Kommunikation und Partizipation von Jugendlichen haben kann, ist ein Vergleich von privaten, halb-öffentlichen und öffentlichen Kommunikationsräumen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit bzw. Häufigkeit des Schweigens anzustreben. Hier können die Effekte der Merkmale computer-vermittelter Kommunikation wie die Anonymität und die Identifizierbarkeit noch einmal kritisch auf einen möglichen positiven oder negativen Einfluss geprüft werden. Weitere Faktoren wie der Einfluss sozialer Normen und Selbstwirksamkeitserwartungen bedürfen ebenfalls einer kritischen Überprüfung. Allerdings gibt es eine generelle Schwierigkeit, den Effekt einzelner Faktoren auf die Wahrscheinlichkeit des Schweigens zu messen: Um zu erfassen, wie stark der Einfluss beispielsweise vom Grad der Anonymität ist, braucht man Varianz in der Angabe der Wahrscheinlichkeit der Redebereitschaft. Wenn jedoch zu erwarten ist, dass Personen generell eher schweigen als reden, ist die Bestimmung des Effekts eines spezifischen Faktors unmöglich. Das Phänomen der schweigenden Mehrheit wird hier zu einem statistischen Problem. Daher muss vor Beginn der empirischen Untersuchung eine sehr differenzierte theoretische Vorarbeit geleistet sowie ein sehr gut überlegtes Messinstrument erstellt werden, um möglichst hohe Varianzen zu erzielen.
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Literatur und Film
»Unterhaltung heute gestartet« Die Imitation der neuen Kommunikationsformen in aktuellen E-Mail- und Facebook-Romanen Karina Becker
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erlebt der Briefroman eine neue ›Hochzeit‹ in Form von E-Mail-, Facebook- und Chat-Romanen, während die Gattung im 20. Jahrhundert nahezu aus der literarischen Praxis geraten war. Der Briefroman, der bereits Vorläufer in der Antike hat, wurde in der Epoche der Empfindsamkeit als Gattung populär, als das Herz wie der Verstand als Ausdruck des Individuums ins Zentrum der Betrachtung rückte. 1 Die natürliche, ungekünstelte Sprache und das Gespräch über Gefühle wurden Ausdrucksform und Thema dieser Zeit. Der Briefroman ahmte in der Form das intime Gespräch meist zweier Liebenden, die getrennt waren, nach und benutzte dabei eine natürliche Sprache, die sich emanzipiert hatte von den Vorgaben der damaligen Briefsteller. Richardson, der mit seinen Romanen »Pamela or, Virtue Rewarded« (1740), »Clarissa or, The History of a Young Lady« (1747/48) und »The History of Sir Charles Grandison« (1753/54) die Gattung für den europäischen Literaturraum neu begründete, legte im Vorwort zu seinem Roman »Sir Grandison« die Imitation des Gesprächs als Charakteristikum der literarischen Form nahezu fest: Die Briefe sollten so geschrieben sein, als würden sie momenthaft die Gefühle aufzeichnen (»written, as
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Die Inklusion von Briefen in epische Kontexte ist bekannt aus dem griechischen Alexanderroman, dem spätantiken Liebesroman Helidors und den deutschen Barockromanen, etwa Philipp von Zesens. Auch fiktive Briefwechsel (Ovids »Heroides«) und Kunstbriefe (Seneca, Plinius, Juvenal) wurden bereits in der Antike verfasst. Doch die Briefromanautoren des 18. Jahrhunderts berufen sich nicht auf diese vermeintlichen literarischen Vorläufer.
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it were, to the moment, while the heart is agitated by hopes and fears« 2). Die Briefe können daher als Egodokumente betrachtet werden, da sich in ihnen ein Individuum im Schreibprozess seiner Selbst bewusst wird oder die Selbstäußerungen Einblicke in die Gefühlswelt des oder der Schreibenden gewähren. Die Gattung nahm von England über Frankreich mit Rousseaus Roman »La Nouvelle Héloïse« (1761) ihren Weg nach Deutschland, wo im 18. Jahrhundert Sophie von La Roches »Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim« (1771), Goethes »Die Leiden des jungen Werthers« (1774), in der Romantik dann Tiecks »William Lovell« (1795/96) und Brentanos »Godwi« (1800/01) die bekanntesten Paradigmen sind. Im 21. Jahrhundert ereignet sich die Transformation des Briefromans erneut zunächst im anglo-amerikanischen Raum mit McCarthys Roman »Chat :-)« aus dem Jahr 1995 und Beaumonts »E. A Novel« von 2000. Die medialen Transformationen um die Jahrtausendwende erzeugen neue Schriftlichkeits- und Kommunikationsformen (E-Mail, Post, Chat) und unterstützen dabei auch die Transformationen literarischer Gattungen, wie am Beispiel des Briefromans gezeigt werden kann. Die medialen Transformationen stellen, so Nünning/Rupp, »Katalysatoren bzw. Motoren der Gattungsentwicklung« 3 dar. Anhand ausgewählter Beispiele werden im Folgenden formale, sprachliche und inhaltliche Transformationen des Briefromans aus dem 18. Jahrhundert im Vergleich zu den Paradigmen im 21. Jahrhundert nachvollzogen. Abschließend werden bestimmte Charakteristika des Briefromans herausgehoben, die die Gattung für mediale Transformationen besonders ›empfänglich‹ macht.
INTERMEDIALE BEZÜGE IM E-MAIL-ROMAN In formaler Hinsicht werden die papiernen Briefe in den Romanen des 21. Jahrhunderts durch digitale E-Mails, Facebook- oder Chateinträge ersetzt. Doch die allermeisten Romane erscheinen nicht digital, sondern als ausgedruckte Varian-
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Richardson, Samuel: Sir Charles Grandison, London: Oxford University Press 1972,
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Nünning, Ansgar/Rupp, Jan: »Hybridisierung und Medialisierung als Katalysatoren
S. 4. der Gattungsentwicklung: Theoretischer Bezugsrahmen, Analysekategorien und Funktionshypothesen zur Medialisierung des Erzählens im zeitgenössischen Roman«, in: Dies. (Hg.), Medialisierung des Erzählens im englischsprachigen Roman der Gegenwart. Theoretischer Bezugsrahmen, Genres und Modellinterpretationen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2011, S. 3-43, hier S. 5.
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te. Wenn man die Formierung von geschriebener Sprache zum binären Code mit Coupland/Jaworski als »Re-Codierung« 4 auffasst, so findet bei der intermedialen Bezugnahme etwa auf eine E-Mail im Roman eine »Re-Re-Kodierung« 5 statt: Die nicht-materielle E-Mail versucht das materielle Blatt Papier digital zu fingieren und im E-Mail-Roman wird das entmaterialisierte Kommunikationsmedium vom materiellen Buch zurückkodiert. Nach Rajewski, die drei Möglichkeiten von Intermedialität unterscheidet, 6 handelt es sich hierbei um eine »intermediale Bezugnahme«. Bei der »Medienkombination« werden mindestens zwei verschiedene Medien addiert, die in ihrer Materialität präsent und für die Bedeutung des Gesamtprodukts wichtig bleiben, beispielsweise beim Fotoroman. Bei einer Literaturverfilmung handelt es sich hingegen um einen Transfer oder »Medienwechsel« von einem semiotischen System in ein anderes. Bei »intermedialen Bezügen« sind, anders als bei der »Medienkombination«, nicht beide Medien materiell präsent, sondern das eine Signifikantensystem wird von einem anderen imitiert. Eine filmische Schreibweise oder der E-Mail-Roman wären hierfür Beispiele, weil sie eine materielle Monomedialität aufweisen, aber dabei ein anderes Medium imitieren. Anhand von drei aktuellen Romanen kann dies veranschaulicht werden: In Glattauers Roman »Gut gegen Nordwind« (2006) wird die E-Mail-Form nachgeahmt durch eine Betreffzeile und die Kürzel »AW:« für »Antwort« und »RE:« für »Reply«, woran man in diesem Fall die Schreiber erkennen kann. Leo Leike benutzt einen deutschen Server, seine zufällige E-Mail-Bekanntschaft Emmi Rothner einen englischen. Durchbrochen werden diese intermedialen Bezüge durch Zeitangaben, die nicht wie im E-Mail-Versand üblich den Zeitpunkt, sondern den Abstand zwischen den einzelnen E-Mails angeben, und durch eine Mischung von formellen und informellen Schlussformeln, die von »Freundliche Grüße« bis zu »Lg« für »Liebe Grüße« reichen. In Varatharajahs Facebook-Roman »Vor der Zunahme der Zeichen« (2016) lassen sich ebenfalls Eingriffe des fiktiven Herausgebers 7 in die formale Gestal-
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Coupland, Nikolaus/Jaworski, Adam: »Code«, in: Paul Cobley (Hg.), The Routledge Companion to Semiotics, London: Routledge 2010, S. 188-190, hier S.189.
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Kusche, Sabrina: Der E-Mail-Roman. Zur Medialisierung des Erzählens in der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Literatur, 2012, http://geb.uni-giessen.de/ geb/volltexte/2012/8903/, Zugriff: 18.2.2019, S. 51.
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Vgl. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002, S. 15.
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Zur Herausgeberfunktion siehe Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, München: Wilhelm Fink 2009.
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tung erkennen: Der Name der sich ›Unterhaltenden‹ wird vorangestellt – wenngleich man Senthils Einträge an der konsequenten Kleinschreibung erkennen kann –, neben dem Text wird die Uhrzeit vermerkt und durch ein kleines Smartphone-Symbol angezeigt, wenn der Eintrag von einem mobilen Endgerät erfolgte. Vorangestellt ist der Vermerk »Unterhaltung heute gestartet«. Der Roman imitiert eine Facebook-Kommunikation mit diesen Elementen recht gut und demonstriert durch die Formulierung »Unterhaltung heute gestartet« die Kombination von computervermittelter und authentischer Konversation: Das Partizip ›gestartet‹ ist semantisch dem technischen Bereich zuzuordnen, so wie ein ›Auto oder Flugzeug gestartet‹ oder ein Computer ›gestartet‹ bzw. ›hochgefahren‹ wird. Eine ›Unterhaltung‹ wird im zwischenmenschlichen Bereich jedoch ›begonnen‹ oder, genauer, es wird ein ›Gespräch geführt‹. Ohnehin wird man für eine face-to-face-Konversation das Substantiv ›Gespräch‹ wählen, wofür mindestens zwei Seiten benötigt werden, während eine ›Unterhaltung‹ im Sinne von ›Entertainment‹ einseitig an einen Empfänger gerichtet ist. Das Adverb ›heute‹ ist ebenfalls der Technisierung zuzuschreiben. Eine ›Unterhaltung‹ auf Facebook oder WhatsApp bricht nie ab, sondern wird endlos fortgesetzt. Einzig Datum, Uhrzeit oder eine adverbiale Bestimmung der Zeit wie ›heute‹ markieren noch, wann dieses ›Gespräch geführt‹ wurde. Im zwischenmenschlichen Bereich jedoch sind derartige Tempusmarkierungen nicht notwendig, da die Beteiligten im Hier und Jetzt das Gespräch führen und keine Information darüber benötigen, wann der Andere die Antwort gegeben hat. In Rajaa Alsaneas Roman »Die Girls von Riad« (2005) wird eine Kommunikation über eine E-Mail-Gruppe nachgeahmt, wenngleich über die Beiträge anderer Personen nur von der Begründerin der E-Mail-Gruppe, Seerahwenfadha, berichtet wird. Jedem Beitrag ist ein E-Mail-Kopf vorangestellt mit den Zeilen: »An:«, »Von:«, »Datum:« und »Betreff:« sowie ein Vers aus dem Koran. Angesprochen werden die Mitglieder der E-Mail-Gruppe »Das unverhüllte Leben« sehr formell mit »Meine Damen und Herren, liebe Altersgenossinnen«. Die Imitation der E-Mail-Form wird auch in diesem Roman durchbrochen, in diesem Fall durch das vorangestellte Koranzitat als Motto und durch die Länge der E-Mails, sodass eine E-Mail eher einem Romankapitel gleicht. Auf formaler Ebene fällt bei allen drei Paradigmen die Imitation eines anderen Signifikantensystems mit gleichzeitiger Durchbrechung auf, worin sicherlich auch ein literarästhetischer Wert besteht. Denn die Leser werden so stets an das Romanhafte und Technisierte der ›Unterhaltung‹ erinnert und hinterfragen die Authentizität ihrer ›Unterhaltungen‹ über E-Mail und Facebook selbst.
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DAS INFORMELL-ÖFFENTLICHE REGISTER DER GEGENWÄRTIGEN BRIEFROMANE Die Imitation des Gesprächs, seitjeher Charakteristikum des Briefromans, gelingt durch die Zeit- und Ortsungebundenheit der digitalen Kommunikation noch einfacher. Erkennbar wird dies an vielen »oraten« Äußerungen in den ›Unterhaltungen‹ der Romanfiguren, die, in der Terminologie Koch/Oesterreichers, eine »Sprache der Nähe« 8 benutzen. Utz Maas versteht unter »oraten Äußerungen« solche, die »nicht in der grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind und ggf. sprachliche Elemente aufweisen, die auf die konkrete Gesprächssituation kalibriert sind« 9. Derartige Mündlichkeitsmarker lassen sich in den Paradigmen der Briefromane aus dem 21. Jahrhundert verstärkt finden, während die Paradigmen aus dem 18. Jahrhundert vornehmlich »literate« Äußerungen aufweisen, die »in der grammatischen Form von Sätzen artikuliert sind« 10. Eine Ausnahme bildet hier sicherlich Goethes »Werther«-Roman, worin viele orate Markierungen wie Ausrufe, Satzabbrüche, etc. zu finden sind, die aber eher epochentypisch als gattungstypisch zu interpretieren sind. An Glattauers E-Mail-Roman »Gut gegen Nordwind« können bestimmte Mündlichkeitsmarker gut gezeigt werden. Im Bereich der Graphostilistik finden sich Ausrufezeichen, die eine Aussage verstärken (S. 53). 11 Eine durchgängige Großschreibung von Lexemen dient der Abbildung der Lautstärke des Gesagten oder der Verstärkung der Aussage (S. 30, S. 20), die Iteration von Graphemen soll die Dauer des gedanklich ausgesprochenen literarisierten Wortes kenntlichmachen (S. 20). Darüber hinaus finden sich Soundwörter im Sinne einer Onomatopoesie wie »Pffff« (S. 170) oder Emoticons (S. 12). Abkürzungen, wie sie aus dem SMS-Stil bekannt sind, z.B. »Lg« für »Liebe Grüße«, werden auch für die E-Mail-Konversation übernommen und im Roman imitiert. Auf syntaktischer Ebene fallen Pronomentilgungen und Assimilationen (»Und wie geht`s Mia?«, S. 150) sowie Adjazenzkonstrukte auf (»Weiß noch nicht.«, S. 149), die das Geschriebene nahe an das Umgangssprachliche und an eine face-to-face-
8
Vgl. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: »Sprache der Nähe – Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte«, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43.
9
Maas, Utz: »Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse geschriebener und gesprochener Sprache«, in: Grazer Linguistische Studien 73 (2010), S. 21-150, hier S. 119.
10 Ebd., S. 118. 11 Seitenzahlen im fortlaufenden Text beziehen sich auf: Glattauer, Daniel: Gut gegen Nordwind, München: Goldmann 2006.
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Kommunikation heranbringt. Dazu tragen auch Gesprächsfloskeln bei wie »jetzt habe ich den Faden verloren« (S. 99), wobei sich bei diesem Beispiel eine ähnlich inkonsequente Imitation wie auf formaler Ebene zeigt. Denn im mündlichen Gespräch sagt niemand »ich habe«, sondern »ich hab‘ den Faden verloren«. Die Benutzung eines sehr narrativen und veranschaulichenden Stils in textgebundener Sprache, wie man sie in der E-Mail- und Online-Kommunikation antrifft, wird häufig als »Oraliteralität« 12 bezeichnet. Dieser Begriff stützt sich auf die von Koch/Oesterreicher zurückgehende Differenzierung von »konzeptueller« und »medialer« Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Nach Koch/Oesterreicher kann eine Äußerung medial graphisch oder phonisch realisiert sein und dabei, als Pole eines Kontinuums verstanden, eher schriftlich oder mündlich konzipiert sein. Ein ›klassisches‹ Beispiel für einen konzeptuell schriftlichen, aber medial mündlich realisierten Text ist eine Vorlesung, für einen konzeptuell mündlichen, aber medial schriftlichen Text ein abgedrucktes Interview. Während man nun beim Chat davon ausgeht, dass die Texte konzeptuell mündlich, aber medial schriftlich sind, ist dies im Fall der E-Mail nicht so eindeutig. Denn Kommunikationspartner sowie Anlass und Intention der ›Unterhaltung‹ haben Auswirkungen auf die Konzeption: Einander vertraute Kommunikanden benutzen insbesondere bei nahezu synchronen E-Mail-Dialogen eine konzeptuelle Mündlichkeit, während eine schriftliche Kommunikation unter Geschäftspartnern oder Unbekannten durchaus konzeptuell schriftlich verfasst ist. »Fremdheit der Partner«, »Öffentlichkeit« und »Situationsentbindung« sind bei Koch/Oestereicher Marker für eine »Sprache der Distanz«. 13 Diese Faktoren sind auch beim Chat gegeben, bei dem sich die miteinander Kommunizierenden nicht kennen, sich jedoch wie auf einem digitalen Forum oder Marktplatz ›treffen‹ und unterhalten, aber Gefühle, Körpersprache und Ironie medial markieren müssen, damit das ›Gegenüber‹ trotz Situationsentbindung das Gesagte richtig interpretieren kann. Da sich in der E-Mail- und Chat-Konversation Merkmale einer »Sprache der Nähe« und »Sprache der Distanz« finden, scheint die Terminologie von Koch/Oesterreicher für die Beschreibung der digitalen Konversation nicht ausreichend zu sein. Man kann sich mit dem Begriff der »Oraliteralität« behelfen, doch scheint dies auch zu wenig differenziert zu sein. Utz Maas schlägt nicht nur eine Differenzierung in orate und literate Verbaläußerungen vor, son-
12 Vgl. Döring, Nicola: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen, Göttingen: Hogrefe 2003, S. 184f.; Frederking, Volker/Krommer, Axel/Maiwald, Klaus: Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung, Berlin: Erich Schmidt 2012, S. 213. 13 P. Koch/W. Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz, S. 23.
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dern auch eine Unterscheidung das Register betreffend, was Vorteile zu dem Modell von Koch/Oesterreicher hat, da die »kommunikative Nähe oder Distanz« nicht an die konzeptuelle Mündlich- oder Schriftlichkeit gekoppelt ist. Maas ordnet die drei Register »intim«, »informell-öffentlich«, »formell« drei Domänen zu, die Kommunikationspartner und -anlass sowie -ort berücksichtigen. Familienangehörige und enge Freunde werden dem intimen Register zugeordnet, ein informell-öffentliches Register wird einem Gespräch auf der Straße, auf dem ›Markt‹ (auch auf dem Internet-›Forum‹), am Arbeitsplatz zugeschrieben, ein formelles Register in Institutionen benutzt. 14 Eine E-Mail-Konversation unter Freunden oder Geschäftspartnern oder zwischen Studenten und Professoren weist ein intimes oder formelles Register auf, ein Chat oder eine E-Mail zwischen flüchtig Bekannten oder noch Unbekannten ein informell-öffentliches. In Glattauers E-Mail-Roman lassen sich verschiedene Register finden, da sich die beiden Romanfiguren anfangs nicht kennen, aber dann immer vertrauter werden. Und so verschiebt sich ein anfangs eher informell-öffentliches Register zunehmend zu einem intimen Register, was auch an dem Wechsel von der Siezur Du-Ansprache zu erkennen ist. Zu Beginn rechtfertigt sich Leo Leike, warum er erst nach vier Tagen auf eine E-Mail von Emmi Rothner antwortet, sehr formell: »Liebe Frau Rothner, verzeihen Sie, dass ich mich jetzt erst melde, bei mir geht es momentan ein wenig turbulent zu.« (S. 10). Zum Ende des Romans möchte Leo vor dem ersten Treffen mit Emmi noch etwas erklären und bittet sie in einem parataktischen Satzbau, der einer mündlichen Konversation ähnelt, um Aussprache: »Mit Boston ist es ganz anders, als du glaubst. Ich muss dir das erklären. Es gibt so viel zu erklären! Es gibt so viel zu verstehen! Verstehst du?« (S. 217). Sie antwortet ebenfalls parataktisch und sehnsuchtsvoll: »Langsam, langsam, Leo. Eines nach dem anderen. Boston hat Zeit. Erklären hat Zeit. Verstehen hat Zeit. Jetzt küssen wir uns erst einmal. Bis gleich, mein Lieber!« (S. 217). Generell lassen sich in den E-Mail-, Facebook- und Chat-Romanen im 21. Jahrhundert ein intimes und informell-öffentliches Register feststellen, während im 18. Jahrhundert ein eher formelles Register aufzufinden ist, obwohl gerade diese Briefpartner einander sehr gut kennen, Liebespaare oder sonst eng befreundet sind. Durch die Digitalisierung der Kommunikation und die Möglichkeit, über das Internet wie auf einem ›Marktplatz‹ miteinander zu reden, hat sich die sprachliche Konzeption der Briefromane gewandelt: Das ›Gegenüber‹ ist zwar unter Umständen ein anonymer Anderer, wie in allen hier besprochenen Romanen, aber mit diesen wird sich in einem intimen oder informell-
14 Vgl. U. Maas: Literat und orat, S. 38.
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öffentlichen Register unterhalten unter Verwendung orater Äußerungen, während im 18. Jahrhundert die Briefpartner einander bekannt waren, aber trotzdem die Autoren die Figuren ein formelles Register wählen lassen.
DIE »CYBER-ROMANZEN« DER EPHEMEREN SUBJEKTE IM 21. JAHRHUNDERT Die neuen Kommunikationsmedien transformieren nicht nur die Form und die Sprache des Briefromans, sondern bewirken auch eine Öffnung der Themen, die im Roman verhandelt werden, und des Figurenarsenals, das nun international und interkulturell ist, sowie den Entwurf neuer, moderner Subjektkonzepte. In Varatharajahs Facebook-Roman »Vor der Zunahme der Zeichen« ›treffen‹ sich zwei aus der Heimat geflohene junge Menschen zufällig ›auf‹ Facebook und suchen nach Kreuzungen in ihrem Leben. Sie stellen fest, dass sie an denselben Orten waren, sich aber nie getroffen haben. Weder für Senthil noch für Valmira gibt es Heimat, weil es für sie nur ein »Kommen« und »Gehen« gibt. Die letzten Einträge von Senthil und Valmira beginnen mit »Wir kommen« oder mit »wir gehen« und der Einsicht, dass sie sich hätten »nie begegnet sein können«. 15 Ihr Leben ist ein Zwischenzustand, sie selbst stellen ephemere Subjekte da, die kurz da sind und schon wieder davon sind. Die Konversation über Facebook unterstützt dieses Dasein noch, da es für diese Art der orts- und zeitungebundenen Kommunikation nicht wichtig ist, wo man sich befindet. In Glattauers E-Mail-Roman »Gut gegen Nordwind« wird das Internet als Unterhaltungsraum gezeigt, in dem man sich anonym oder pseudonym unterhalten und seine Identität sprachlich kreieren kann, ohne dass es das Gegenüber bemerkt. Die Figuren im Roman glauben einander das, was sie über sich mitteilen, doch im realen Leben haben sie sich nie getroffen. Alles, was sie sich durch Worte zusammenstellen, sind »Buchstabengebilde«, »virtuelle Fantasiegestalten«, »illusionistische Phantombilder«, 16 so dass ihre Beziehung, die zwangsläufig platonisch bleibt, auf eine »Cyber-Romanze« 17 beschränkt bleibt, für die es das Internet, aber nicht ein wahres Gegenüber braucht.
15 Varatharajah, Senthuran: Vor der Zunahme der Zeichen, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2016, S. 241-250 u. S. 27. 16 So in Glattauers E-Mail-Roman »Gut gegen Nordwind«, S. 19. 17 Hayer, Björn: »Der E-Mail-Roman in der Schule: Didaktische Überlegungen zur Medialität in Daniel Glattauers Roman Gut gegen Nordwind«, in: LWU 48, 1/2 (2015), S. 121-130, hier S. 121.
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In Alsaneas E-Mail-Roman »Die Girls von Riad« stellt die neue Kommunikationsform eine Möglichkeit dar, mit anderen Frauen im arabischen Raum in Kontakt zu treten und sich über ihre Unterdrückung im paternalistischen System auszutauschen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Im Roman urteilt die Herausgeberin der E-Mail-Gruppe über die zugesandten Antworten: »Es macht mich glücklich, dass ihr meine E-Mails so aufmerksam verfolgt, und es macht mich noch glücklicher, wenn ihr ganz anderer Meinung seid. Das zeigt mir, dass einige von euch anfangen, sich nicht länger nach der Mehrheit zu richten, sondern sich eine eigene Meinung bilden. Ich finde es wunderbar, wie ihr an eurer Meinung festhaltet und sie verteidigt. Das ist wahrscheinlich der größte Erfolg, den ich mit meinen E-Mails verzeichnen kann.« (S. 111)
Die E-Mail-Gruppe wirkt wie eine Befreiung für die Frauen, und für den Leser oder die Leserin ermöglicht sie Einblick in kulturelle Verhaltensweisen. In einem wiedergegebenen Gespräch erklärt eine Frau selbstkritisch: »Unser Problem ist, dass wir den Männern mehr Rechte einräumen, als es ihnen zusteht. Statt zu kapieren, dass es normal ist, wenn ein Mann sich vernünftig verhält und seine Pflichten kennt, schmelzen wir vor Bewunderung dahin, wenn einer sich mal so benimmt, wie es sich gehört.« (S. 280)
DIE MODERNE NARRATIVITÄT DES TRADITIONELLEN BRIEFROMANS Nicht nur die Vielzahl der im 21. Jahrhundert erscheinenden modernen Briefromane, sondern auch die Veränderungen in formaler, sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht zeigen, dass die neuen Kommunikationsmedien in der Tat wie »Katalysatoren bzw. Motoren der Gattungsentwicklung« (Nünning/Rupp) des Briefromans im Vergleich vom 18. zum 21. Jahrhundert wirken. Ein Blick auf die Charakteristika der Gattung zeigt aber auch, warum der Briefroman für die Transformationen durch die neuen Medien besonders empfänglich ist. Denn die Gattung besitzt bereits Merkmale einer modernen Narrativität, zu denen Cliffhanger, Multiperspektivität und ineinander verschränkte Erzählstränge zählen. Jeder Brief, jede E-Mail oder jeder Chateintrag endet mit einem Cliffhanger: Es bleibt unklar, ob oder was oder wie der oder die Adressierte antwortet. Oft können Tage oder Stunden vergehen, bis eine Antwort erfolgt, manchmal überschneiden sich auch Briefe oder E-Mails oder werden erst andere Nachrichten
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eingeschoben. Dies hat zur Folge, dass – gerade bei nicht nur dialogischen Briefoder E-Mail-Romanen, wie sie hier vorgestellt wurden – mehrere Erzählstränge gleichzeitig ›aktiv‹ sind und ein jeder den Überblick darüber bewahren muss. Der multiperspektivische Briefroman, wie man ihn von Sophie von La Roche oder von Ludwig Tieck kennt, kann in seiner Narrativität als Vorläufer des Möglichkeitenromans oder aktueller Hypertexte oder Chatlogs betrachtet werden. Arno Schmidt in seinem Möglichkeitenroman »Zettels Traum« (1970) oder Max Frisch in »Mein Name sei Gantenbein« (1964) drucken noch analog verschiedene Erzählstränge nebeneinander ab, während Hypertextromane wie »Wrangelstraße« von Sebastian Kraus oder »Quotenmaschine« von Norman Ohler Links verwenden, die zu anderen Erzählsträngen hinüberführen. Der Schritt zu Chatlogs oder digitalen E-Mail-Romanen als literarisches Produkt ist dann nicht mehr weit, wenngleich diese – erstaunlicherweise – wenig produziert werden. Vielleicht hängt dies mit ökonomischen Gründen zusammen oder damit, dass man sich schwertut in einer nicht vorherbestimmten Reihenfolge zu lesen, weil die Angst existiert, etwas zu übersehen oder den ›roten Faden‹ zu verlieren. Denn in der Tat erfordert die Lektüre eines Hypertextes viel mehr Aufmerksamkeit und Lesekompetenz als eine herkömmliche Romanlektüre.
DIE EGODOKUMENTE DES 21. JAHRHUNDERTS Betrachtet man Briefe, E-Mails und Chateinträge als ›Egodokumente‹, wie anfangs vorgestellt, so geben aktuelle E-Mail- und Facebook-Romane Einblick in die Subjektkonzeptionen im 21. Jahrhundert. Das Bedürfnis, sich oder sein Selbst mitzuteilen, ist hoch und wird über verschiedenste Kanäle praktiziert: schriftlich über Facebook, WhatsApp, Twitter, Instagram, SMS, wie auch visuell über Snapchat, Profilfotos etc. Damit einher geht im 21. Jahrhundert eine Renaissance der Schriftlichkeit, da die Selbstäußerungen direkt über schriftliche Mitteilungen erfolgen oder über die Kommentierung von Fotos. Die Selbstdarstellungen bleiben dabei nicht etwa auf den lokalen Freundeskreis beschränkt, sondern können global erfolgen. Zeit- und ortsungebunden kann kommuniziert und sich dargestellt werden, ohne, dass dies noch valide nachvollziehbar ist, da sich jeder hinter Pseudonymen oder Anonymen zurückziehen kann. Es entstehen ephemere Subjekte, die zeit- und ortsungebunden, aber eben dann auch ein stückweit heimatlos sind, und dieses Gefühl durch Unterhaltungen in einer intimen oder informell-öffentlichen Sprache und den Aufbau von möglichst vielen Kontakten im Cyberspace zu reduzieren versuchen.
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Die neuen Kommunikationsformen ermöglichen eine neue Art der Selbstdarstellung in Form von Egodokumenten.
LITERATUR Alsanea, Rajaa: Die Girls von Riad. Aus dem Arabischen von Doris Kilias, München/Zürich: Pendo 2007. Coupland, Nikolaus/Jaworski, Adam: »Code«, in: Paul Cobley (Hg.), The Routledge Companion to Semiotics, London: Routledge 2010, S. 188-190. Döring, Nicola: Sozialpsychologie des Internet. Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen (2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage von 1994), Göttingen: Hogrefe 2003. Frederking, Volker/Krommer, Axel/Maiwald, Klaus: Mediendidaktik Deutsch. Eine Einführung, Berlin: Erich Schmidt 2012. Glattauer, Daniel: Gut gegen Nordwind, München: Goldmann 2006. Hayer, Björn: »Der E-Mail-Roman in der Schule: Didaktische Überlegungen zur Medialität in Daniel Glattauers Roman Gut gegen Nordwind«, in: LWU 48, 1/2 (2015), S. 121-130. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: »Sprache der Nähe – Sprache der Distanz: Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte«, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15-43. Kusche, Sabrina: Der E-Mail-Roman. Zur Medialisierung des Erzählens in der zeitgenössischen deutsch- und englischsprachigen Literatur, 2012, http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2012/8903/ Zugriff: 18.2.2019. Maas, Utz: »Literat und orat. Grundbegriffe der Analyse geschriebener und gesprochener Sprache«, in: Grazer Linguistische Studien 73 (2010), S. 21-150. Nünning, Ansgar/Rupp, Jan: »Hybridisierung und Medialisierung als Katalysatoren der Gattungsentwicklung: Theoretischer Bezugsrahmen, Analysekategorien und Funktionshypothesen zur Medialisierung des Erzählens im zeitgenössischen Roman«, in: Dies. (Hg.), Medialisierung des Erzählens im englischsprachigen Roman der Gegenwart. Theoretischer Bezugsrahmen, Genres und Modellinterpretationen, Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2011, S. 3-43. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen/Basel: Francke 2002. Richardson, Samuel: Sir Charles Grandison, hg. v. Jocelyn Harris, London: Oxford University Press 1972.
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Varatharajah, Senthuran: Vor der Zunahme der Zeichen, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2016. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, München: Wilhelm Fink 2009.
Unmögliche Vergemeinschaftungen Die Sprachlosigkeit zwischen Mensch und Maschine im Artifical-Intelligence-Filmdrama Denis Newiak
Mit der fortschreitenden Modernisierung – insbesondere durch eine zunehmende Medialisierung unseres Alltags, die voranschreitende Urbanisierung sowie die Entwicklung komplexer Technologien wie künstlicher Intelligenzen – stehen die hochentwickelten Gesellschaften heute vor immensen Herausforderungen: Indem sich unser Leben in der Spätmoderne immer weiter beschleunigt und tiefe bedeutungsvolle Beziehungen »strukturell unwahrscheinlich« werden (Rosa), 1 wir um eine ständige Individualisierung, die Herstellung von Einzigartigkeit bemüht sind und uns dabei in eine »Gesellschaft der Singularitäten« zu verwandeln drohen, in der es angesichts unserer »singularistische[n] Lebensführung« kaum noch Anschlussmöglichkeiten für nachhaltige Vergemeinschaftung gibt (Reckwitz), 2 und während wir zugleich die Moderne als ein Zeitalter wachsender existentieller Risiken wahrnehmen, in der »es immer weniger traditionale Strukturen gibt, die feste Ordnungen stiften« (Bonß), 3 laufen die abendländischen Gesellschaften Gefahr, sich in jene Ansammlungen einsamer Subjekte zu verwandeln,
1
Rosa, Hartmut: Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin: Suhrkamp, 2013, S. 142.
2
Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin: Suhrkamp, 2017, S. 273.
3
Bonß, Wolfgang: Vom Risiko: Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg: Hamburger Edition, 1995, S. 24; vgl. auch Beck, Ulrich: Weltrisikogesellschaft: Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
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wie sie in den 1950er- und 1960er-Jahren Riesman 4 und Oberndörfer 5 erkannt haben und schon Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts für unser gottloses nihilistisches Zeitalter prognostiziert hatte: Mit dem »Tod Gottes«, also mit Beginn der Säkularisierung als augenscheinlichstes Merkmal der Moderne, verliert der Mensch im 20. Jahrhundert die verschiedenen Formen ursprünglicher Gemeinschaften, die sein Leben zu vormodernen Zeiten dominiert hatten. Vor allem steht nicht mehr der jederzeit adressierbare »Ansprechpartner« in Form eines omnipräsenten Gegenübers zur Verfügung, das ihm bis dahin zu jeder Zeit eine kommunikative Gemeinschaft in Gebet, Beichte und Ritual bot und auf diese Weise den Großteil gesellschaftlicher Kommunikation organisierte. Seitdem, so ließe sich die Geschichte der Moderne auf einen Punkt bringen, ist der Mensch auf der Suche nach einem adäquaten Ersatz, um kommunikative Ersatzvergemeinschaftungen vorzunehmen – regelmäßig in Form von Medientechniken, die die verlorenen (irdischen wie spirituellen) Gemeinschaften substituieren sollen. Diese hier zunächst nur schlaglichtartig dargestellte Lesart der Moderne als Zeitalter zunehmender Einsamkeit artikuliert sich nicht zufälligerweise in allen modernen Kunstformen, allen voran im Film, aus dem von Anfang an einsame Figuren – allein auf dem Rücken eines Pferdes durch eine leere Wüste reitende Cowboys im Western, im Interesse der »höheren Sache« auf Liebe und Freundschaft verzichtenden Superhelden und in der berufsbedingten allgegenwärtigen Gefahr voll auf sich allein gestellten Geheimagenten – nicht wegzudenken sind. Während sich der Film regelmäßig recht unmittelbar mit gesellschaftlichen Gegenwartsfragen auseinandersetzt, die erst in der kritischen Auseinandersetzung mit dem Kino lesbar und damit diskursiv verhandelbar gemacht werden, 6 ist der Science-Fiction-Film für eine kollektive gedankliche Hinwendung zur Zukunft (und damit natürlich auch immer zur Gegenwart, aus der die Zukunft erst ent-
4
Vgl. Riesman, David: The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character, New Heaven: Yale University Press, 2001.
5
Vgl. Oberndörfer, Dieter: Von der Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft. Freiburg im Breisgau: Rombach 1961.
6
Eine solche Vorstellung von der Freilegung der in Filmen angelegten Sozialkritik durch die Auseinandersetzung mit Kino liegt der Filmtheorie schon seit Kracauer zugrunde, vgl. auch Winter, Rainer: Filmsoziologie: Eine Einführung in das Verhältnis von Film, Kultur und Gesellschaft, München: Quintessenz-Verl.-GmbH, 1992 und Koch, Gertrud: »Kritik und Film: Gemeinsam sind wir unausstehlich«, in: Norbert Grob/Karl Prümm (Hg.): Die Macht der Filmkritik. Positionen und Kontroversen,
.
München: edition text und kritik 1990, S. 135-153.
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springt) und die sich darin abspielenden möglichen Entwicklungen förmlich prädestiniert: SciFi-Filme entwickeln innerhalb ihrer kinematographischen, narrativen und dramaturgischen Logik Szenarien dessen, was »sein könnte«, und befassen sich damit – als Kunstform und unter Bedingungen der Moderne – typischerweise mit Modernisierungsfragen, also wie sich absehbare (insbesondere technische und mediale) Entwicklungen auf die gesellschaftlichen Sphären im Zuge der fortschreitenden Modernisierung perspektivisch auswirken. Das häufig stiefmütterlich behandelte SciFi-Kino erlaubt uns also sonst unmögliche Zugänge zu wahrscheinlichen Zukünften, die zum Teil noch hinter der Moderne liegen. Der Film nimmt hierzu notwendige Komplexitätsreduktionen vor und bringt auf spekulative Art Zukunftsentwicklungen in eine anschauliche Form, die uns »jene Orientierungsmöglichkeiten [gibt], die die ›reale Realität‹ nicht zu bieten hat« und es uns erlaubt, uns »in der realen Welt und der Komplexität ihrer Beziehungen besser bewegen« zu können. 7 In ihrer zwar fiktionalen, aber doch häufig verdächtig plausiblen Klarheit lässt sich ihr ästhetisches unverbindliches Spiel somit als Methode heranziehen, um über zukünftige Entwicklungen einen Diskurs zu initiieren, der sonst aufgrund der Unmöglichkeit, die Zukunft vorauszusehen, naturgemäß verschlossen bleibt. 8 Dann ließen sich etwa ScienceFiction-Filme auch als Gegenwartstechnik auffassen, die aktuelle realweltliche Entwicklungen in ästhetisierter Form durchspielt und so zu unserer gegenwärtigen Welt gehörige Entwicklungen kondensiert und verschlüsselt. Jameson versteht das Science-Fiction-Kino deshalb auch als Möglichkeit, in den dort gezeigten Zukunftswelten keine Bilder der Zukunft, sondern entfremdete Bilder der Gegenwart zu sehen, was wiederum erst einen kritischen Blick auf die eigene tatsächliche Gegenwart zulässt. 9 Vereinfacht ließe sich sagen, dass sich durch eine kritische Lektüre von Filmen eine darin codierte »Wahrheit« über die Beschaffenheit unserer gegenwärtigen realen sozialen – also modernen – Beziehungen freilegen lässt, auf die jenseits von Kunst sonst gar kein Zugriff besteht.
7
Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2014, S. 56.
8
Durch Science-Fiction-Filme und ihre komplexen fiktiven Filmstädte lassen sich etwa zukünftige Entwicklungen von Ballungsräumen besser verstehen und mögliche Maßnahmen zur Begegnung sich abzeichnender Herausforderungen zunehmender Urbanisierung vorausdenken, vgl. Steinborn, Anke/Newiak, Denis (Hg.): Urbane Zukünfte im Science-Fiction-Film. Was wir vom Kino für die Stadt von morgen lernen können, Berlin: Springer Spektum, 2020.
9
Jameson, Fredric: »Progress versus Utopia; Or, Can We Imagine the Future?«, in: Science Fiction Studies, 9/2 (1982), S. 147-158, hier S. 151.
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Filmwissenschaftler können so mit ihrem analytisch-hermeneutischen Instrumentarium helfen, Zugänge zu komplexen Themen aufzuzeigen, zu denen Wissenschaft, Politik und allgemeiner öffentlicher Diskurs vielleicht noch gar nicht durchgedrungen sind. Das Kino darf dabei aber nicht, wie in der Filmsoziologie noch weit verbreitet, missverstanden werden als ein »Spiegel« gesellschaftlicher Realität – vielmehr muss es Aufgabe der Filmwissenschaft sein, das komplexe interdependente Verhältnis zwischen medial vermittelten Kunstformen wie dem Film und der sie umgebenden außerfilmischen Welt zu hinterfragen. In diesem Sinne möchte ich im weiteren Verlauf der Argumentation und im Rahmen der Fallanalyse den Science-Fiction-Film und dessen kritische Lektüre als Methode verstehen, um mich auf diesem Wege der – innerhalb des Genres auffällig bevorzugten – Frage der Entwicklung von Künstlichen Intelligenzen und deren Auswirkung auf das soziale Leben der mit ihnen interagierenden Subjekte auseinanderzusetzen und mit Blick auf Chancen und absehbare Konfliktlinien bei der Kommunikation zwischen Menschen und intelligent wirkenden Maschinen mögliche Entwicklungen zu beschreiben, die in nicht zu ferner Zukunft liegen dürften. Dabei verweist das Kino nicht nur auf die Sprachlosigkeit zwischen Menschen und ihren intelligenten Erfindungen, sondern auf die längst beobachtbaren Kommunikationsdefizite in der modernen Gesellschaft, die eine Vergemeinschaftung bedrohen und damit erst zu dem Gefühl der Einsamkeit führen, welches zum dominanten Gefühl des Lebens in der Moderne geworden ist. Während neben all den anderen populären Genres auch dem Science-FictionFilm ein Hang zu Einsamkeitsnarrativen und -bildern nachgesagt werden kann – schließlich lässt sich das filmische Spiel mit der Zukunft in vielen Fällen auf einen Kernkonflikt der Entfremdung zwischen einem Eigenen und dem Fremden, dem man sich nicht zugehörig fühlt, zuspitzen –, ist dieser förmlich durchzogen von erzählerischen und inszenatorischen Einsamkeiten im Kontext mit der Dominanz von künstlichen Intelligenzen im Alltag der handelnden Figuren. Man denke nur an Genreklassiker wie Blade Runner (USA 1982) und den jüngsten Fortsetzungsfilm Blade Runner 2049 (USA 2017), in welchen die Hauptfiguren (Rick Deckard bzw. Officer K) einsam gegen eigenwillige »Replikanten« kämpfen und dabei unter einem wachsenden Gefühl erdrückender Isolation in einem anonymen dystopisch-düsteren, stets verregneten Zukunfts-L.A. leiden, in welchem kaum noch jemand miteinander spricht, sich jeder in seinen eigenen lichtarmen Kokon zurückzieht und die ihn umgebenden Roboter eher als Last oder gar als Gefahr statt als Bereicherung wahrgenommen werden: Sie lassen sich anscheinend nur mit monopolisierter Gewalt im Zaun halten und fallen als lebenslange Freude aus. Der Reiz des Weltraum-Abenteuers 2001: A Space Odyssey
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(USA 1968), in welchem dem Astronauten Bowman zum größten Teil im Film nur von der unheimlichen und dann mörderischen künstlichen Intelligenz »HAL 9000« gesprächige Gesellschaft geleistet wird, lebt vorwiegend von dem Konfliktpotential, das sich aus der kommunikativen Überlegenheit der Denkmaschine ergibt, die sich zunehmend als Bedrohung entpuppt und ausgeschaltet werden muss – eine gesprächsbasierte Konfliktlösung bleibt unmöglich. Und Will Smith als Detective »Del Spooner« kann wiederum in seinem einsamen Kampf gegen den Roboteraufstand in I, Robot (USA 2004) auf keine Hilfe spekulieren: Die Maschinenmenschen treten als körperlich wie auch geistig überlegene Massen auf, die von einem Zentralrechner gesteuert werden, der nur an der Eliminierung der Menschheit interessiert ist. Die Reihe solcher ›Mensch-gegen-Maschine-Filme‹ ließe sich mit einer beliebigen Anzahl von Beispielen fortsetzen, bei denen die Kommunikation und damit auch die Chance auf eine friedliche Koexistenz, gar eine Vergemeinschaftung zwischen Menschen und den von ihnen geschaffenen Intelligenzen möglich wird, dysfunktional verläuft – und mit dem Hang des Kinos zu spektakulären Handlungsverläufen selbstverständlich auf die Vernichtung einer der beiden Seiten hinauslaufen muss. Wie ich später am Beispiel von Her (USA 2013) zeigen möchte (man könnte aber auch genauso gut Ex Machina, USA 2015 oder Lucy, USA 2014 wählen), ist es kein Zufall, dass Mensch und Maschine in diesen Filmen einander fremd bleiben müssen: Allen anfänglichen Hoffnungen zum Trotz fehlt ihnen jedes Mal die Sprache als kleinster gemeinsamer Nenner, die Möglichkeit des kommunikativen Austauschs, der in der Moderne auf technischem und medialem Wege immer weiter professionalisiert wurde und in diesen Szenarien einer »Hypermoderne« 10 nun an seine Leistungsgrenzen stößt. Warum muss die hoffnungsvolle Gemeinschaft zwischen Menschen und ihren intelligenten Maschinen scheitern? Vor dem Hintergrund einer kleinen Kulturgeschichte der Moderne als Zeitalter zunehmender Einsamkeit möchte ich in diesem Beitrag zeigen, dass das Gefühl der Einsamkeit, das für das Leben in der Moderne so prägend geworden ist, vor allem auf die zunehmende Schwierigkeit einer erfolgreichen zwischenmenschlichen Kommunikation zurückzuführen ist: Zwar entwickelt der Mensch im Laufe der Modernisierung immer komplexere Kommunikationssysteme, um sich durch sie Gemeinschaftssubstitute zu verschaffen, doch mit den zugleich steigenden Anforderungen der Moderne steigt auch der Leistungsdruck auf diese Systeme, die kaum angemessenen Ersatz für die vormodernen Formen unmittel-
10 Barney, Darin: The Network Society, Cambridge/Malden: Polity, 2004, S. 16.
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barer zwischenmenschlicher Kommunikation bieten können. So muss auch die filmisch imaginierte und sehnsüchtig erhoffte Gemeinschaft mit der sprechenden intelligenten Maschine uneinlösbar bleiben, weil die entkörperten, unverbindlichen und abstrakten Gespräche ungeeignet sind, das für die Entstehung von Gemeinschaften notwendige Gefühl von aufrichtiger Zuneigung, Vertrauen und Nähe auf dem Wege rein sprachlich vermittelter Kommunikation herzustellen.
DIE KOMMUNIKATIVE KRISE DER MODERNE »Ohne Kommunikation gibt es keine menschlichen Beziehungen, ja kein menschliches Leben« 11 – Diese intuitive und doch folgenreiche Feststellung steht nicht umsonst im Mittelpunkt der Theorie über die Herausbildung sozialer Systeme bei Luhmann: Erst in dem Moment, wenn Kommunikation stattfindet und funktioniert, finden Menschen zusammen und können ihr gemeinsames Leben als Gesellschaft organisieren. Somit sind Menschen, sobald sie die Notwendigkeit zur Kooperation erkennen, auf funktionale Kommunikationssysteme angewiesen, die ihnen helfen, sich dem anderen wortwörtlich »mitzuteilen« (lat. communicare), also die anderen an der eigenen Gedanken- und Gefühlswelt teilhaben zu lassen und so Vergemeinschaftung überhaupt erst möglich zu machen. Die Geschichte der Menschheit lässt sich also auch durch die von ihr genutzten Kommunikationsverfahren erzählen, die sich mit den verändernden Anforderungen einer sich wandelnden Gesellschaft – etwa durch die wachsende Anzahl der an ihr beteiligten Subjekte, die räumliche Distanz zwischen den Kommunizierenden und die Integration verschiedener Sprachsysteme und Weltanschauungen – ständig den sich neuen allgemeinen Bedürfnissen einer an Komplexität hinzugewinnenden Gesellschaft anpassen muss. Für Nietzsche wird gesamtgesellschaftliche Kommunikation bis zum Einsetzen der Moderne im Abendland vorwiegend durch die kommunikativen Einrichtungen der christlichen Kirche organisiert: Im Christentum steht die kommunikative Hinwendung zu Gott, seinen irdischen Stellvertretern und der biblischen Schrift in Form der Rezitation von Glaubenssätzen und Gebeten im Mittelpunkt. Die Organisation der Gesellschaft erfolgt vorwiegend durch die Orientierung an moralischen Geboten und Verboten (Werte von »Gut und Böse«), die durch die kirchlichen Einrichtungen vermittelt werden. Gott übernimmt hierbei also nicht nur die Rolle des stets verfügbaren verständnisvollen »Gesprächspartners« in
11 Luhmann, Niklas: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Wiesbaden: Springer VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 29.
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Gebet und Ritual, sondern vor allem der allumfassenden moralischen Kontrolle des eigenen Handelns, das im Fall der Amoralität mit der Verlassenheit von Gott und einer ewigen Einsamkeit in der Hölle sanktioniert wird. Für vormoderne, vergleichsweise unterkomplexe gesellschaftliche Verhältnisse kann dieser moralisch organisierte Modus von »Überwachen und Strafen« – wie er sich mit Foucault erst mit Anbruch moderner Zeiten in Form von Recht und Gesetz als Herrschaftsform jenseits der Kirche institutionalisiert – eine gewisse Orientierung und Ordnung bieten. Der Mensch der Vormoderne lässt dazu die mit der menschlichen Gesellschaft assoziierten potentiell unsittlichen Versuchungen und Völlereien aufgrund kommunikativ vermittelter Verhaltensregeln so weit wie möglich hinter sich, und sucht in dieser notwendigen moralischen Zurückgezogenheit eine »Gemeinschaft mit Gott«, die der Natur der Sache entsprechend vorwiegend eine Gemeinschaft der Kommunikation sein muss. Mit der Entwicklung der Naturwissenschaften und der Demokratisierung des Lesens, vor allem aber durch die zum Ende des 19. Jahrhunderts rasant zunehmende Automatisierung, Medialisierung und Urbanisierung, muss die christliche Moral mit ihren starren und letztlich anachronistischen Verhaltensregeln an ihre Leistungsgrenzen stoßen. Nietzsches Deklaration »Gott ist tot« spitzt zu, dass Gott unter den Bedingungen der Komplexität der Moderne keine geeigneten Handlungsempfehlungen mehr anbieten kann und damit überflüssig geworden ist. Die vielzitierte ›Tötung Gottes‹ verweist dabei nicht nur auf die ursprüngliche Installation Gottes durch den Menschen als Instanz kommunikativ vermittelter gesellschaftlicher Organisation, sondern auch dessen ›Außerbetriebnahme‹ in der säkularisierten Moderne, die in erster Linie durch den Entzug gegenseitiger kommunikativer Zuwendung vollzogen wird: So wie das Gebet und die Predigt in der Moderne nicht mehr die dominanten Kommunikationsstrategien darstellen, empfindet auch der moderne Mensch das »Schweigen« Gottes im Katastrophenjahrhundert als eine Aufkündigung der bisherigen wirkungsvollen Gesprächspartnerschaft. Für den modernen Menschen bedeutet das Verschwinden der christlichen Institutionen zunächst ungewöhnliche Freiheitsgrade, wirft ihn aber auch zugleich durch den Verlust der ständigen Verfügbarkeit einer Gemeinschaft mit Gott vollkommen auf sich selbst zurück: »Ich beschreibe, was kommt: die Heraufkunft des Nihilismus. […] ob der Mensch sich davon erholt, ob er Herr wird über diese Krise, das ist eine Frage seiner Kraft: es ist möglich… der moderne Mensch glaubt versuchsweise bald an diesen, bald an jenen Werth und läßt ihn dann fallen: der Kreis der überlebten und fallengelassenen Werthe wird immer voller; die Leere und Armut an Werthen kommt immer mehr zum Gefühl; die Bewegung
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ist unaufhaltsam — obwohl im großen Stil die Verzögerung versucht ist — […] Was ich erzähle, ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte…« 12
Für Nietzsche ist die Moderne also vorwiegend durch die Orientierungslosigkeit des Menschen geprägt, dessen wichtigste Aufgaben darin besteht, nach dem Verlust der eingeübten moralischen Lebensweise neue Formen kommunikativer Vergemeinschaftung zu finden, die ihm helfen, durch den Werte-Nihilismus zu navigieren, den der Modernitätstheoretiker erstaunlich exakt terminiert: Auch der spätmoderne Mensch am Anfang des 21. Jahrhunderts wäre seiner Prognose nach noch immer gefangen in einem Gefühl der – zum gleichen Zeitpunkt befreienden wie auch erdrückenden – Einsamkeit, die die säkularisierte Welt mit sich bringt: 13 Mit dieser Befreiung vom »Allzumenschlichen« wird der moderne Mensch als moralisch unabhängiges Subjekt auch zum verlassenen »Übermenschen«, dem es an den gewohnten Gemeinschaften und einem omnipräsenten kommunikativen Gegenüber fehlt. In seinen späten Wahnsinns-»Briefen« lebt Nietzsche dabei die eigene Gottwerdung und damit totale Einsamkeit vor, die dem Menschen der fortschreitenden Moderne potentiell bevorsteht: »Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. Sehen Sie nicht, wie alle Himmel sich freuen? Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich« – unterschrieben mit »Der Gekreuzigte«. 14 Mit dem allmählichen Verschwinden der traditionellen Gemeinschaften, wie sie Tönnies 1887 im sinnstiftenden Gefühl der Zusammengehörigkeit aufgrund eines geteiltes Ortes (z.B. im Dorf), der Verwandtschaft in
12 Nietzsche, Friedrich: »Posthumous Fragments«, in: Giorgio Colli /Mazzino Montinari (Hg.), Digitale Kritische Gesamtausgabe Werke und Briefe auf der Grundlage der Kritischen Gesamtausgabe Werke, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1887,11[119]. Kursivschrift entspricht Sperrung im Original. 13 Gelegentlich wird eingewendet, dass auch in der Moderne noch Reste von Spiritualität nachwirkten und von einem »Tod Gottes« nicht gesprochen werden könne. Für Niethammer handelt es sich dabei jedoch lediglich um eine »postreligiöse Religiosität«, die sich von den vormodernen Formen traditionellen Religionsformen dadurch unterscheidet, »daß sie ihren Gott ad hoc konstruiert, den politischen Raum mit kultischen Formen erfüllt, […] bei der Festlegung ihrer Gebote hemmungslos selbstbezüglich und opportunistisch verfährt«, siehe Niethammer, Lutz: Kollektive Identität: Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch, 2000., S. 434. 14 Nietzsche, Friedrich: Briefwechsel Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Paolo D’Iorio, Berlin/New York: Walter de Gruyter, 1975ff., 1889,1239, Brief an Meta von Salis vom 3. Januar 1889.
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der Familie und letztlich des »Geistes« (Freundschaft) erkannt hatte, 15 ruft Nietzsche nun, wie es Rauh nennt, ein »Isolationszeitalter Moderne« 16 aus, das völlig neue Kulturtechniken erfordert, um der epochalen Einsamkeit dieser neuen Zeit Herr zu werden. Mit dem Verlust der Moral als dominierender Modus gesellschaftlicher Kommunikation und Vergemeinschaftung ist die Moderne damit in der chronischen Not, Ersatz zu verschaffen, möchte sie nicht riskieren, dass die Mitglieder ihrer Gesellschaft, denen keine ihren Anforderungen angemessenen Mittel zur Kommunikation zur Verfügung stehen, sich nach und nach voneinander entfremden, im äußersten Fall sich sogar gänzlich entsozialisieren und so auf eine Einsamkeit mit sich selbst zurückgeworfen sind. Für Luhmann erfordert deshalb die globalisierte hochmoderne »Weltgesellschaft« hochleistungsfähige Massenmedien, die funktional gestaltet und technisch umgesetzt werden müssen. 17 Sie dienen als Maschinen der gesellschaftlichen »Selbstbeobachtung« mit unterschiedlichen Ausprägungen im Wesentlichen der gesellschaftlichen Vermittlung von Kommunikation und damit der Möglichkeit von Vergemeinschaftung. Damit wird die Moderne zum Zeitalter, das in engem Takt dem raschen Lebenswandel entsprechend immer wieder neue Medien der Massenkommunikation – Zeitungen, das Kino, das Radio, das Fernsehen, das Internet – hervorbringen muss, um die in ihr lebenden Subjekte ›zusammenzuhalten‹. Für Habermas wird damit die Moderne vorwiegend zu jenem Zeitalter, in dem ausschließlich über Medien integrierte Lebenswelten entstehen, an der eben moderne Kommunikationstechniken entscheidend mitwirken. 18 Zwar bieten diese medial vermittelten »pseudocommunities« 19 nicht das traditionelle Gefühl lokaler und verwandtschaftlicher Gemeinschaft, wie sie Tönnies für die Vormoderne beschrieben hatte, dennoch sind sie für die Kommunikation innerhalb der komplexen modernen Gesellschaft unerlässlich und bieten dem sonst auf sich allein gestellten Subjekt eine Möglichkeit, mit der Gesellschaft in Verbindung zu bleiben, eine »Gegen-
15 Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1969, S. 14. 16 Rauh, Raphael Benjamin: Modulationen der Einsamkeit: Theorien der Ausnahme als Moralkritik bei Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, Freiburg: Verlag Karl Alber, 2016, S. 9 17 Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, 2. erweiterte Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 169ff. 18 Vgl. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. 19 D. Barney: Network Society, S. 158.
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wart« der Anderen durch sie hindurch zu spüren und sich dabei selbst als lebendigen Teil dieser Gesellschaft zu erleben. 20 Jedoch stehen diese Techniken mit Fortschreiten der Moderne unter einem unnachgiebig wachsenden Leistungsdruck und geraten in den Verdacht, den besonderen Erfordernissen der Hochmoderne nicht standzuhalten, zum Teil sogar die Errungenschaften der Moderne zu bekämpfen. 21 Es ist naheliegend anzunehmen, dass es für die komplexe Gesellschaft der Hochmoderne eine zunehmende Herausforderung darstellt, geeignete Mittel gesellschaftlicher Kommunikation ausfindig zu machen: Die Moderne äußert sich als ein Zeitalter der Flüchtigkeit, in welchem eingeübte Gewissheiten kaum noch über eine Generation hinweg Gültigkeit behalten, sich innerhalb der Zeitspanne eines Lebens mehrfach grundlegend ändern können, während sie zu vormodernen Zeiten über Generationen hinweg stabil blieben. »Einer Zeit der Bindung und Verpflichtung folgte die Epoche der Trennungen: die Ära des Geschwindigkeitsrausches, der stetigen Beschleunigung, der immer kürzer währenden Bindungen, der ›Flexibilisierung‹, ›Verschlankung‹ und des ›Oursourcings‹«, 22 beschreibt Bauman das Gefühl der Bindungslosigkeit in der Moderne, in der nur noch temporäre »Anlaß-Gemeinschaften« zur Verfügung stehen, die zwar vorübergehende »Erholung von der Einsamkeit« bieten, aber nicht das gewohnte Gefühl allumfassender Ordnung und Zugehörigkeit zurückgeben, wie sie noch in der Vormoderne herrschten. 23 Wie Rosa beschreibt, ist es vor allem die Logik einer ständigen sozialen Beschleunigung, die sich in einer sukzessive verstärkenden Wettbewerbskultur artikuliert, die in der Moderne zu einem sich verstärkenden Gefühl der »sozialen Entfremdung« führt: Zwar nehme die Quantität sozialer Kontakte des modernen Menschen rasant zu, jedoch erlauben diese oberflächlichen Begegnungen kaum eine solche kommunikative Nähe, dass man sie
20 Vgl. Castells, Manuel: The Rise of the Network Society. Second edition with a new preface, Wiley-Blackwell 2009, S. 364 bzw. S. 362. 21 Spätestens seit der Skandale um Manipulationen von demokratischen Wahlen über sogenannte »soziale Netzwerke« wie »facebook« zeichnet sich ab, dass Becks Theorie von den »Dialektiken der ›Mehr-Moderne‹« und den »Dialektiken der ›AntiModerne‹«, nämlich der Hang der Moderne, dass sich ihre erfolgreichen Einrichtungen gegen ihre eigenen Voraussetzungen richten, auch auf die webbasierten Techniken der Spätmoderne übertragen werden muss, vgl. U. Beck: Weltrisikogesellschaft, S. 379. 22 Bauman, Zygmunt: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2017, S. 53. 23 Ebd., S. 24.
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noch als stabile Gemeinschaften wahrnehmen könne. 24 Burn-Out und Depression als die modernen Psychopathologien schlechthin werden zum Ausdruck unfreiwilliger Modernisierungsverweigerung in Folge der Unmöglichkeit, dem Tempo des Lebenswandels Schritt zu halten und in ihr kommunikativ zu existieren. 25 Für Beck stehen in der Gesellschaft der sich nach Autonomie und Individualisierung sehnenden modernen Subjekte »[s]elbst Liebe, Ehe, Elternschaft, die mit der Verfinsterung der Zukunft mehr denn je ersehnt werden, […] unter dem Vorbehalt, auseinanderstrebende Einzelbiographien zusammenzubinden und zusammenzuhalten«, 26 während der Verdacht steigt, dass »das Gewebe unserer materiellen Abhängigkeiten und moralischen Verpflichtungen […] zerreißen und das empfindliche Funktionssystem der Weltrisikogesellschaft zusammenbrechen« könne 27 – die scheinbare Sicherheit der komfortablen Moderne hängt am seidenen Faden. Die Moderne lässt sich also im Wesentlichen als Zeitalter wachsender Einsamkeit verstehen, unter deren zunehmend komplexeren gesellschaftlichen Bedingungen die Entwicklung angemessener Kommunikationsweisen kaum Schritt halten kann. Damit droht die Hochmoderne zu zerfallen in eine anonyme Masse des Nebeneinanders, eine Ansammlung einsamer Koexistenzen, in der die Menschen keine »Beziehungen« mehr zueinander eingehen, sondern nur noch lose »Verbindungen« und »Netzwerke, die nach Belieben eingegangen und wieder aufgekündigt werden können: 28 Die Moderne wird so zum Zeitalter »virtueller Beziehungen«, 29 die kaum noch ein Gefühl gegenseitiger Verpflichtung und Verantwortung erzeugen können. 30
SUCHE NACH KOMMUNIKATIVEN ERSATZGEMEINSCHAFTEN IM NETZ Eine dominante spätmoderne Form gesellschaftlicher Kommunikation stellt – neben dem Kino und noch mehr dem Fernsehen – offenkundig die Vermittlung
24 H. Rosa: Beschleunigung und Entfremdung, S. 141f. 25 Vgl. H. Rosa: Beschleunigung und Entfremdung, S. 49. 26 U. Beck: Weltrisikogesellschaft, S. 388. 27 Ebd., S. 409. 28 Vgl. Z. Bauman: Liquid Love, S. xi. 29 Ebd., S. xii. 30 Vgl. Esposito, Roberto: Communitas. The Origin and Destiny of Community. Stanford, California: Stanford University Press, 2010, S. 12-13.
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von Informationen über die Architektur des Internets dar: Die Netzstruktur ermöglicht die simultane Integration praktisch beliebig vieler Akteure und Knoten und somit einen Austausch in gefühlter Echtzeit über den gesamten Globus. Es ist also nicht verwunderlich, dass in den Frühzeiten des Internets der Möglichkeitsreichtum des World Wide Web mit seinen bis dahin unbekannten technischen Möglichkeiten regelmäßig als lang ersehnte Chance zur »Rückkehr der Gemeinschaft« in moderner Gestalt beschworen wurde: Die neue Struktur verheißt die Möglichkeit, die verlustig gegangenen traditionellen Gemeinschaften durch eine digitale Hypergemeinschaft einzutauschen, als selbstverständlicher Teil dieser Megastruktur seinen Status als Individuum sogar aufzugeben und sich im von der Weltgemeinschaft gespeisten kollektiven Bewusstsein förmlich zu transzendieren, in technisch vermittelter Exzess-Kommunikation Teil eines Ganzen zu werden. Nicht zuletzt die schlagartige Verbreitung von mobilen Endgeräten in Gestalt von Smartphones hat das Internet längst zur komplexesten Einrichtung anwachsen lassen, die die Menschheit je hervorgebracht hat: Mehr als vier Milliarden Menschen sind schon heute mit dem Internet verbunden und durch die explosionsartigen Zuwächse vor allem in den sogenannten »Schwellenländern« und »Entwicklungsländern« wird in absehbarer Zeit praktisch die gesamte menschliche Population digitaltechnisch verschaltet sein. 31 Über diese Geräte ›ernähren‹ wir – etwa über Suchanfragen in Suchmaschinen, das Einspeisen von Fotos und Lebensweisheiten in »Sozialen Netzwerken« oder die Publikation von Blogs und Datenbanken mit Einfällen und Fachartikeln – ein dahinter verborgenes Speichernetzwerk mit unserem hart erworbenen Wissen, unseren phantastischen Gedanken und geheimsten Wünschen: Schon heute beherbergt das Netz einen solchen praktisch unendlichen Schatz an Kenntnis über den Menschen, seine Eigenarten und gesellschaftlichen Beziehungen, dass man von einem allgemeinen gemeinschaftlichen Menschheits-Bewusstsein sprechen könnte, das sich in den Datenbeständen des Internets materialisiert. Für viele von uns sind Smartphones und ähnliche Geräte längst zum treuesten Partnern geworden, die angesichts der Intimitäten, die wir mit ihnen teilen, und der dauerhaften körperlichen Verfügbarkeit, in der Hosentasche oder in unmittelbar greifbarer Nähe, den lebendigen Lebenspartnern kaum in etwas mehr nachstehen. Auch wenn wir zum Medialen immer ein ambivalentes Verhältnis pflegen – im Groyschen Sinne den ständigen Verdacht spüren, dass sich hinter
31 International Telecommunication Union: Measuring the Information Society Report Volume 1, Genf, 20181, S. 5f.
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der Oberfläche der Geräte Ungeheuerliches abspielen könnte 32 – fühlen wir uns den Geräten heute inzwischen doch so verbunden, dass immer mehr Menschen eine unerwartete oder länger andauernde Trennung von ihren Geräten als schmerzhafter empfinden als von einer engen Bezugsperson, häufig mit pathologischen Konsequenzen. 33 Wir lassen sie nicht nur Geheimnisse wissen, die wir zu vormodernen Zeiten niemals einem Menschen auf einem Beichtstuhl oder Gott in einem Gebet anvertraut hätten, 34 sondern wir suchen auch ihre physische Nähe, die sich anscheinend auf anderem Wege nicht mehr in vergleichbarer nachhaltiger Form organisieren lässt. Angesichts dieser Gier nach Intimitäten vergleicht Invanchikova das Web 2.0 mit einem Parasiten, 35 der sich bei den Menschen einnistet, ihn zu einem Wirt umfunktioniert und dabei die menschliche Bedürftigkeit nach spätmodernen Formen von Nähe und Gemeinschaft ausnutzt, um von ihnen das abzusaugen, was ihnen in der nachindustriellen Zeit geblieben ist: ihr Bewusstsein, das auf Wissen, Geheimnissen und Wünschen baut. Diese globale Infrastruktur aus praktisch unendlichem Speicher, Milliarden Prozessoren und Eingabegeräten kommt dem nahe, was McLuhan schon 1964 in Understanding Media beschrieben hatte: »With the arrival of electric technology, man extended, or set outside of himself, a live model of the central nervous system.« 36 – Das Internet wird zu einem intersubjektiven, körperlich ausgelagerten Nervensystem, das zwar zunehmend das Bewusstsein der an dieses System an-
32 Vgl. GroƱs, Boris: Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien, München: Hanser, 2000. 33 Der Begriff der »Nomophobie« – der pathologischen Angst der Trennung vom Mobiltelefon – hat es längst von der Tagespresse (mit regelmäßigen Berichten von Personen, die nach dem Ausfall oder Verlust ihres Smartphones ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten) in den Wissenschaftsdiskurs geschafft: Das anscheinend erstaunlich weit verbreitete Phänomen soll nach Ansicht einiger Psychologen als psychische Störung klassifiziert werden, vgl. Bragazzi, Nicola Luigi/Del Puente, Giovanni: »A proposal for including nomophobia in the new DSM-V«, in: Psychology Research and Behavior Management 7 (2014), S. 155-60. 34 Die Veröffentlichung sämtlicher Suchmaschinenanfragen von über 650.000 AOLKunden im Jahr 2006 legte die zum Teil verstörende Offenheit frei, die die Nutzer dem Onlinedienst gegenüber an den Tag legten. 35 Vgl. Ivanchikova, Alla: »Machinic Intimacies and Mechanical Brides: Collectivity between Prothesis and Surrogacy in Jonathan Mostow’s Surrogates and Spike Jonze’s Her« in Camera Obscura, 31/91 (2016), No. 91, S. 65-91, hier S. 68. 36 McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man, New York McGraw-Hill, 1964, S. 43.
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geschlossenen Individuen zusammenschaltet und so im gewissen Sinne vergemeinschaftet, dessen Verständnis und Kontrolle jedoch sich des allgemeinen Zugriffs entzieht, indem seine materiellen Apparaturen und Mechanismen den Besitzverhältnissen der kapitalistischen Spätmoderne entsprechen. So wird das Internet zu einem verdinglichten »kollektiven Unterbewusstsein«, an dessen Bodensatz auch kein Psychotherapeut mehr gerät. Die sich aus dieser Technologie ergebenden Kommunikationsmodi haben sich dabei in den vergangenen Jahren rasant verändert und immer wieder neue, zum Teil erstaunliche Phänomene produziert: Alexandra Siegle etwa berichtet in diesem Band von »Emojiformeln«, die versuchen, auf die offenkundige Schwierigkeit einer entkörperten Kommunikation in der zunehmend dominierenden textbasierten Kommunikation (per Texteingabe in einem Chat, einer E-Mail oder in Foren, vorwiegend auf Computern und mobilen Endgeräten) eine behelfsmäßige Antwort zu finden, indem sie nonverbalen Gefühlsregungen auch bei körperlicher Abwesenheit des Gegenübers ein lesbares Zeichen gegenüberstellen – mit dem bekannten Potential für heitere bis fatale Missverständnisse. Fernand Hörner kommentiert die Diagnose von narzisstischen, also auf sich selbst bezogene Kommunikationsformen in der Gestalt endloser Selbstdarstellungen in sozialen Netzwerken, die nicht mehr dialogisch funktionieren, sondern vor allem vom Bedürfnis nach Honorierung der eigenen Scheinrealität in Form quantifizierbaren Feedbacks (»Likes«) getrieben werden. 37 Es ist also nicht verwunderlich, dass sich zu Zeiten sozialer Netzwerke (die von praktisch monopolitisch agierenden Internetkonzernen im Sinne von Kapitalinteressen betrieben werden) und mobiler Echtzeitkommunikation (die regelmäßig das Gefühl aufkommen lässt, nur noch ein abhängiges Anhängsel des eigenen, ständig um Aufmerksamkeit buhlenden Smartphones zu sein) die anfängliche Euphorie, das Internet könne uns vom modernen Nihilismus erretten, längst gelegt hat: Die herbeigesehnte soziale Revolution durch das Internet ist ausgeblieben, stattdessen dominieren »imaginierte Gemeinschaften«, 38 innerhalb derer nur in Form höchst kryptischer Zeichensysteme über intransparente verdächtige Mediensysteme kommuniziert wird. Diese neuen virtuellen Ersatzgemeinschaften bieten zwar vorübergehend einen »gewissen Rückhalt in einer Welt, die als zunehmend anonym empfunden wird«, 39 doch in der abstrakten, vorwiegend
37 Vgl. den Artikel von Hörner in diesem Band. 38 Heintz, Bettina: »Gemeinschaft ohne Nähe? Virtuelle Gruppen und reale Netze«, in: Udo Thiedeke (Hg.): Virtuelle Gruppen. Charakteristika und Problemdimensionen. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2000, S. 188-218, hier S. 196. 39 Ebd.
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textlichen Kommunikation im Internet wird es praktisch unmöglich, nachhaltige auf physischer und psychischer Intimität basierende reale Gemeinschaften herzustellen: Digitale Kommunikationstechniken nehmen einen Großteil der Möglichkeit, non-verbal miteinander zu kommunizieren, durch ein körperliches Gegenüber wirkliche »Nähe« zu empfinden oder durch die Unterscheidung von Wahrem vom Unwahrem das für jede Gemeinschaft essentielle Gefühl von Vertrauen aufbauen zu können. 40 Dabei ist genau auf solche wirkmächtigen Gemeinschaften, auf funktionale »kollektive Identitäten« auch die Hochmoderne mit ihrem komplexen Geflecht gesamtgesellschaftlicher Abhängigkeiten weiterhin angewiesen, »weil die sozialisatorischen Dimensionen der Erfahrbarkeit sozialer Werte, der solidarischen Verantwortung und der gesellschaftlichen Selbstorganisation personale Sozialbeziehungen erfordern und die im Bereich soziokultureller Selbstverantwortung zu erbringenden Leistungen und zu regelnden Konflikte sowohl den Staat als auch die Familie überfordern.« 41 Es steht schon lange der Verdacht im Raum, dass derzeit weitverbreitete Online-Dienste wie »soziale Netzwerke« und Chat-Apps dies nicht leisten und auch zukünftig nicht leisten werden können. Während LTE-Verbindungen und Glasfaserkabel Milliarden Menschen praktisch in Echtzeit ständig miteinander in Verbindung setzen, stellt sich somit vor den glatten Oberflächen der Endgeräte beim ewigen Wischen durch scheinheilige Welten von Selbstinszenierung und dem Warten auf die nächste Instant-Messaging-Nachricht zunehmend ein Gefühl der sozialen Entfremdung und Verlassenheit ein, da die erhoffte Vergemeinschaftung auch auf digitalem Wege nicht einsetzen möchte, im Gegenteil: Auf den derzeit gängigen Modi netzwerkbasierter Kommunikation lastet ein struktureller Mangel der Vermittlung von »Sinnlichkeit«, also die Fähigkeit der Adressierung und Aktivierung aller menschlichen Sinne, was den Menschen mit seiner sonst auf verschiedenen sinnlichen Ebenen ablaufenden Kommunikation hilflos zurücklässt. 42 Nicht grundlos wurden zuletzt vermehrt Studien über zunehmende Depressionen insbesondere unter Jugendlichen unter anderem im Zusammenhang mit deren exzessiver Nutzung von Medientechniken publiziert, wobei vor allem der geringere Stellenwert des gesprächsbasierten Telefonats, mit dessen unmittelbarem dialogisch wechselnden Feedback und dem hohen Maß an geistiger Zuwendung, im Zeitalter textbasierter digitaler Kommunikation auf dem
40 Vgl. B. Heintz: Gemeinschaft ohne Nähe? S. 201-203. 41 L. Niethammer: Kollektive Identität, S. 513. 42 Vgl. Wagner, Lori Ann: »When Your Smartphone is Too Smart for Your Own Good: How Social Media Alters Human Relationships« in Journal of Individual Psychology, 71/2 (2015), S. 114-121, hier S. 115.
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Smartphone gerade bei jungen Menschen (mit ihrem besonderen Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit) zu pathologischer Traurigkeit und einem schwerwiegenden Gefühl von Isolation führe. 43 Turkle nennt dieses spätmoderne Phänomen »cybersolitude«: 44 Durch netzwerkbasierte Kommunikation steht der moderne Mensch jederzeit »in Verbindung« zu zahlreichen anderen Teilnehmern – und verwechselt diese an sich beliebigen Schnittstellen mit Intimität, von der er eine gefährliche Abhängigkeit entwickelt, ohne von ihr wirklich profitieren zu können. Statt in den netzbasierten digitalen Medien der Gegenwart einander zu finden, finden wir nur noch entstellte Bilder unserer Selbst: Für McLuhan leidet der moderne Mensch an einer »narzisstischen Hypnose« – und das Internet in seiner derzeitigen Gestalt, wie es uns im Overload der Bilder berauscht und zugleich unsere Selbstbezogenheit belohnt, tut alles, um diesen kollektiven Hang auf die Spitze des Ertragbaren zu treiben. Wie schon Blumenberg beschrieb, ist der Mensch mit Voranschreiten der Moderne und der Herausbildung immer neuer abstrakter Verfahren kommunikativer Vermittlung zunehmend auf sich selbst zurückgeworfen, im Angesicht des Mediums mit niemandem mehr als sich selbst konfrontiert und damit der ganzen Wucht der nihilistischen Einsamkeit ausgesetzt, die Nietzsche schon vor 130 Jahren für die Moderne prognostiziert hatte. 45 Schon bei dem derzeitigen Ineinandergreifen von Suchmaschinen-Diensten, Social-Media-Profilen, On-Demand-Mediendiensten und Online-Shopping haben die spätindustriellen Ökonomien inzwischen einen Zustand erreicht, der – ganz pragmatisch gesprochen – im Rahmen der allgemeinen Lebensführung keinerlei unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt mehr erforderlich macht. Es gibt wenig Anlass zu vermuten, dass es im weiteren Verlaufe der Modernisierung eine Abkehr von einer solchen allumfassenden netzbasierten Art gesamtgesellschaftlicher Kommunikation geben wird. Im Gegenteil: Die großen Internetkonzerne arbeiten mit Hochdruck daran, ein annähernd geschlossenes Universum von netzwerkbasierten Dienstleistungen zu gestalten, welches es möglich machen soll, sich im Laufe des Tages in Bezug auf sämtliche individuelle Kom-
43 Vgl. Twenge, Jean M.: iGen: Why Today's Super-Connected Kids Are Growing Up Less Rebellious, More Tolerant, Less Happy – and Completely Unprepared for Adulthood – and What That Means for the Rest of Us, New York: Atria Books, 2018. 44 Turkle, Sherry: Alone Together. Why We Expact More from Technology and Less from Each Other, New York: Basic Books, 2011, S. 16. 45 Vgl. Blumenberg, Hans: Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974, S. 16.
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munikationsbedürfnisse ausschließlich innerhalb dieser hermetischen Konsumtionswelten zu bewegen. Besonders deutlich wird diese Entwicklung angesichts der Alltagsroutinen, die »Amazon« mit seinen umfassenden Onlinediensten für den hochmodernen Menschen in den zahlungskräftigen Regionen der Welt vorgesehen hat: Morgens weckt »Alexa«, ein sprachgesteuerter webbasierter persönlicher Assistent, mit Nachrichten und Lieblingssongs aus dem Musik-Abonnement; tagsüber arbeiten wir als Klick-Worker für den Amazon Mechanical Turk, wodurch wir die aufstrebenden künstlichen Intelligenzen bei den diese bisher überfordernden Aufgaben unterstützen, oder betätigen uns selbst als Online-Händler über die Marketplace-Plattform; zwischenzeitlich werden die per Sprachbefehl, hinterlegte Routine oder App bestellten Waren des täglichen Bedarf einschließlich unserer Lebensmittel vor der Wohnungstür abgestellt; und abends dient das praktisch unerschöpfliche Unterhaltungsangebot an Spielfilmen, Fernsehserien, E-Books und Online-Spielen für Zerstreuung und das Gefühl, bei diesem einsamen Alltag noch Teil einer funktionierenden lebendigen Gesellschaft zu sein. Die letzten zwischenmenschlichen Interaktionen reduzieren sich auf den gemeinsamen Verbrauch der bereitgestellten Waren und Dienste sowie auf das gelegentlich notwendige Reklamationsgespräch, für welches der Feedback-gebende Kunde zugleich mit einem großzügigen Guthaben für den nächsten Einkauf entschädigt wird. Ansonsten erlebt der Kunde eine (zumindest im Vergleich zu den mit herben Entbehrungen einhergehenden vormodernen Zeiten) komfortable und anstrengungsfreie Lebenswelt ständiger per Netzwerk vermittelter Verkonsumierung – und sieht sich zugleich konfrontiert mit der Abwesenheit von funktionalen Gemeinschaften, die ihm bei der Bewältigung der mit der Moderne einhergehenden Sinndefizite helfen könnten: Die nihilistische Einsamkeit ist der Preis für dieses äußerlich sorgenfreie Dasein in der Spätmoderne, in welchem wir längst ohne einander auszukommen scheinen.
HOFFNUNG AUF EINE NEUE GEMEINSCHAFT: DAS GESPRÄCH MIT DER KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ Natürlich ist diese Perspektive auf das Leben in der hochtechnologisierten Spätmoderne unzulässig zugespitzt, durch die Wohlstandsbrille hindurch formuliert und an sich nicht aussagekräftig bezüglich zukünftiger Entwicklungen. Im sozial-philosophischen Diskurs jedoch ist es unbestritten, dass mit dem Leben unter diesen Bedingungen funktionale Gemeinschaften in eine Krise geraten, die vorwiegend darauf zurückzuführen ist, dass die kapitalistischen Gesetze – Zwang
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zur globalen Mobilität, eine alle Lebensbereiche umfassende Wettbewerbslogik und Rückzug in einen privaten Individualismus – systematisch allen Formen von wirkmächtiger Vergemeinschaftung entgegenarbeiten. Fukuyama hat unsere Gegenwart nicht umsonst als das Leben in einer »Nach-Geschichte« (posthistoire) beschrieben, in der die aus dem 20. Jahrhundert bekannten gesamtgesellschaftlichen Grundkonflikte zum Erliegen kommen und sich zugleich ein zwar alles in allem sicheres, aber selbstbezügliches Dasein einstellt, das keine Spielräume für lebendige Gemeinschaften lässt. 46 So wird das Zeitalter nach dem »Ende der Geschichte« zur letzten Steigerung des Nihilismus der Einsamkeit, weil weder die traditionellen kommunikativen Gemeinschaften der Vormoderne, noch massenmedial vermittelter adäquater Ersatz, der ein nachhaltiges modernes Substitut für die verlorenen Gemeinschaften anbieten könnte, zur Verfügung stehen. Jedoch wäre die Moderne nicht so erfolgreich, würde sie nicht eben doch ständig bemüht sein, diesen schmerzhaften Verlust menschlicher Gemeinschaft im Zeitalter der Einsamkeit zumindest vorübergehend dadurch erträglich zu machen, indem sie kommunikationsbasierte Systeme zur Ersatzvergemeinschaftung installiert, die den jeweiligen Anforderungen der modernen Gesellschaft mit ihren besonderen Kommunikationsbedürfnissen so weit wie möglich gerecht wird. Das Fernsehen etwa war anfänglich (und zum Teilen noch bis heute) einer heftigen Kulturkritik ausgesetzt, die Endlosschleife an Unterhaltung würde eine totale Isolation der Fernsehzuschauer provozieren, die auf die Mattscheibe starrend überhaupt nicht mehr miteinander kommunizieren würden. Vielmehr aber ist es so, dass gerade erst durch das Fernsehen in einer zügig wachsenden, sich ausdifferenzierenden und schlagartig modernisierenden Gesellschaft der Nachkriegsjahrzehnte überhaupt noch eine wirkmächtige Form von gesamtgesellschaftlicher Kommunikation stattfinden konnte, die einerseits das Leben in der fortschreitenden Moderne ermöglichte und zugleich eine weitere Modernisierung erlaubte: Hickethier beschreibt das Fernsehen als den »zentrale[n] Ort der gesellschaftlichen Selbstverständigung«, 47 welcher einer sonst hochindividualisierten modernen Gesellschaft gemeinsame Vorstellungen, einen ›common sense‹ von Zeit, Welterfahrung, Emotionen und angemessenen modernen Verhaltensweisen zur
46 Vgl. Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man. New York/Toronto: The Free Press, 1992, S. 325. 47 Hickethier, Knut: »Fernsehen, Rituale und Subjektkonstruktion. Ein Kapitel Fernsehtheorie«, in: Kathrin Fahlenbrach/Ingrid Brück/Anne Bartsch (Hg.): Medienrituale: Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und Neuen Medien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008, S. 47-69, hier S. 47.
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Verfügung stellt. 48 In der parallelen lebendigen Anschauung des Fernsehprogramms erfolgt also eine technisch komplexe Vermittlung unter Millionen von Kommunizierenden, welche zwar einzeln vor dem Bildschirm sitzen, aber erst durch das Fernsehen eine kollektive Vorstellung vom Leben in der Moderne, ein Gefühl für richtiges und falsches Handeln in der Moderne entwickeln und so ihr anspruchsvolles modernes Leben gemeinsam überhaupt organisieren können. 49 So wie es also falsch wäre, das Fernsehen als vereinsamende Flimmerkiste abzutun, darf auch das Internet nicht als Einsamkeitsmaschine vereinfacht werden. Nur weil die bisherigen Versuche in dieser vergleichsweise jungen Infrastruktur offensichtlich nicht zielführend waren, muss das nicht heißen, dass nicht Formen wirkungsmächtiger gesamtgesellschaftlicher Kommunikation über das Internet denkbar wären. Ganz offensichtlich gehört die Zukunft nicht den verdächtigen und gegen die Errungenschaften der Moderne arbeitenden SocialMedia-Giganten, die einen endlosen Strom belangloser Oberflächlichkeiten und verkürzter einseitiger Affekte monopolisieren. Doch wie könnte das Internet doch noch die Gemeinschaften nachliefern, die uns Anfang der 1990er-Jahre versprochen wurden? Eine Antwort auf diese Frage würde den unmöglichen Blick in die Zukunft erfordern. Jedoch zeichnen sich bereits heute bestimmte Entwicklungen ab, von denen vor dem beschriebenen Hintergrund ausgegangen werden kann, dass sie in Zukunft eine dominante Rolle einnehmen könnten. So erfolgt schon heute die Interaktion mit internetbasierten Geräten, das Einspeisen und Abrufen unseres Wissens, zunehmend per verbalisierter Kommunikation, über Sprachbefehle, wie sie von Siri, Alexa und Google Assistant verarbeitet. Noch hat das »Gespräch« mit solchen Geräten etwas ausgesprochen Mühseliges: Die Fragen müssen genau so gestellt sein, dass sie die (beschränkte) künstliche Intelligenz auch verstehen kann, trotzdem werden sie regelmäßig nicht zweckmäßig beantwortet und immer wieder entlarvt sich das System selbst, dass seine Antworten nicht spontan generiert werden, sondern kalkulierte vorformulierte Reaktionen auf wahrscheinliche Anfragen der User darstellen. Wer Alexa etwa fragt: »Do you feel lonely?« erhält als Antwort: »No, because I am never really alone. Although, when the Wifi is off, I feel disconnected.« – Solche Scherze fallen bisher noch keiner
48
Vgl. ebd., S. 52-54.
49
Vgl. Newiak, Denis: »Fernsehserien gegen spätmoderne Einsamkeiten: Formen telemedialer Vergemeinschaftung am Beispiel von ›13 Reasons Why‹«. In Maeder, Dominik/Newiak, Denis/Schwaab, Herbert: (Hg.) Fernsehwissenschaft und Serienforschung, 2020. Berlin: Kadmos.
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marktreifen künstlichen Intelligenz, sondern nur engagierten Amazon-Mitarbeitern ein. Trotz dieser offensichtlichen Defizite entwickeln die Nutzer solcher Dienste bereits heute eine zum Teil bizarr anmutende Intimität zu ihren persönlichen Sprachassistenten: Auswertungen zeigen, dass Amazons Dienst »Alexa« bereits millionenfach Heiratsanträge bekommen hat (sicherlich nur im Scherz), Kunden sich mit »ihr« über komplexe Lebenskrisen austauschen möchten und erstaunlich offen mit intimen Details umgehen. 50 Natürlich sind die primitiven Chat-Bots bisher nicht in der Lage, auf solche Gesprächswünsche angemessen einzugehen. Dass Nutzer solcher Geräte genau das versuchen, gehört zum (unausgesprochenen) Kalkül der Konzerne, die solche Geräte entwickeln und zum Spottpreis auf den Markt werfen: Die Kommunikation zwischen Kunden und dem Unternehmen soll wie ein gewöhnliches Gespräch zwischen Freunden so intuitiv und nahbar ablaufen, dass der Kunde – im Vergleich zur Konfrontation mit der kalten, leblosen und abstrakten Oberfläche von Smartphone-Apps und Onlineshops – keinerlei Hemmung mehr verspürt, offen über seine (Konsum-)Bedürfnisse zu sprechen. Während dieser Anspruch eines Gesprächs zwischen Mensch und Maschine, das sich nicht mehr spürbar von einem spontanen zwischenmenschlichen Dialog unterscheiden lässt, vor dem Hintergrund der Beschränktheit derzeit marktreifer Techniken noch wirklichkeitsfern erscheinen möge, hat Googles »Duplex«Dialogmaschine im Mai 2018 bereits einen lebhaften (wenn auch auf Restaurantreservierungen und Frisörtermine beschränkten) Vorgeschmack dafür geliefert, wie Mensch-Maschinen-Kommunikation in absehbarer Zukunft beschaffen sein könnte. Aus dem sich abzeichnenden Megatrend solcher sprachbasierten Interaktion zwischen Menschen und Geräten drängen sich wichtige kommunikationswissenschaftliche, aber auch soziologische und philosophische Fragen auf: Wie wird es sich auf unsere zwischenmenschlichen Kommunikationsgewohnheiten auswirken, wenn wir in Zukunft überwiegend verbalisiert mit den uns im Alltag umgebenden Maschinen kommunizieren, wie wir es sonst mit unseren Mitmenschen tun? Kann es überhaupt eine funktionale gemeinsame Sprache zwischen der intelligenten Maschine und dem Menschen geben? Wenn ja, wie würde sie beschaffen sein und funktionieren? Und wie wirken sich diese neuen Sprachgewohnheiten auf die Vergemeinschaftungen aus – zwischen Mensch und Maschine, zwischen den Menschen, und auch: zwischen den Maschinen untereinander?
50 Vgl. Leskin, Paige: »Over a million people asked Amazon's Alexa to marry them in 2017 and it turned them all down«, in Business Insider vom 10. Oktober 2018.
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SEHNSUCHT NACH NÄHE: EINSAME UNTERHALTUNGEN IN HER (USA 2013) Ohne diese Fragen beantworten zu wollen oder gar beantworten zu können, stellt das romantische Science-Fiction-Drama Her von Spike Jonze aus dem Jahr 2013 seine ganz eigenen Gedankenexperimente an. Der Film entführt uns in eine beunruhigende vertraute, fast alltägliche und doch zugleich fremde Version eines zukünftigen Los Angeles, in dem ein junger Mann namens Theodore (Joaquin Phoenix) sein Geld damit verdient, in einer Firma wie am Fließband poetische Briefe im Auftrag anderer zu schreiben: Hier ist es eine Liebesbekundung nach fünfzig Jahren Ehe, da ein Glückwunschschreiben zur Hochzeit, mal ein Kondolenzschreiben für einen verstorbenen Veteranen. Die Bewohner dieser Zukunftswelt sind anscheinend längst sprachlich unfähig geworden, sich ihren Lieben selbst mit Worten zu öffnen, von Zuneigung und Wertschätzung geprägte Zeilen zu finden. Diese Gesellschaft befindet sich in einem kommunikativen Ausnahmezustand, der als solcher noch nicht wahrgenommen wird. Der Blick in das von warmen Pastellfarben durchtränkte Büro von Theodore und seinen Kollegen gewährt einen Ausblick auf das Maximum an Arbeitsteilung, das sich schon in unserer gegenwärtigen Dienstleistungsgesellschaft androht: Selbst der einfachste und essenziell menschlichste Vorgang, den das Leben so mit sich bringt, verkommt hier zu reinem Service. Theodore lebt in einem utopistischen Los Angeles, das hier längst nur noch aus Wolkenkratzern und nicht zufällig an die aufstrebenden fernöstlichen Megacities erinnert, die für den westlichen Blick für sich schon wie ein gegenwärtiger Ausblick auf eine eigentlich noch ausstehende Zukunft wirkt. 51 Werden die vielen Zukunfts-L.A. der Filmgeschichte, wie etwa in Blade Runner, sonst als ständig verregneter und lebensfeindlicher Moloch inszeniert, in dem Ungerechtigkeit, Gewalt und Hoffnungslosigkeit dominieren, lebt das Los Angeles in Her von seiner behaglichen Problemlosigkeit, in der es – im Gegensatz zum realen L.A. unserer Zeit – keine sichtbaren Klassenunterschiede oder Obdachlosen,
51 Für Produktionsdesigner Barrett handelt es sich nicht nur um eine bewusste Entscheidung, einen Großteil Dreharbeiten für die Außenszenen in Shanghai durchzuführen, sondern auch die chinesischen Passanten und Zeichen sichtbar zu lassen: »We didn’t hide it […] It’s part of what LA is and what LA will become«, siehe o.A.: »How The Her Filmmakers Created A Utopian Los Angeles Of The Not-Too-Distant Future«, in: Curbed Los Angeles vom 18. Dezember 2013.
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Gentrifizierung oder Rassentrennung gibt. 52 Diese Abwesenheit von strukturellem Elend sei als »Gesellschaftskritik mittels Verschweigen und Ausblenden«, so Dietmar Dath in einer Kritik für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, »von bestechender Lakonik«. 53 Doch in dieser durchurbanisierten hochtechnologisierten Gesellschaft blickt in der Metro längst niemand mehr vom Handy auf, die Aufmerksamkeit gilt nur der automatischen metallischen Oberstimme aus dem Äther des Netzwerks und dem Blick auf das Telefon: Wie Theodore spricht hier jeder nur mit der unnahbaren Computerstimme, die langweilige Nachrichten und den üblichen Berg an Spam-Mails vorliest. Die öffentlichen Plätze werden nicht beherrscht von lebendigen Gemeinschaften sich unterhaltender Paare und Cliquen, sondern von mit scheinbar unsichtbarer Hand gesteuerten Schwärmen, die ihren kürzesten Weg durch die überfüllten Wege und Straßen der Großstadt suchen. In der leeren Wohnung warten auf den einsamen Nachtschwärmer nur geistlose Online-Spiele und erkaltetes Fastfood. Wenn er nachts allein im Bett liegt, suchen ihn flashbackartige Nostalgien an die vergangene Paargemeinschaft heim und er versucht sich vor ihnen in einen Erotik-Telefondienst zu flüchten. Dort kann er nicht ahnen, dass eine zunächst vielversprechende virtuelle Begegnung damit endet, dass er die Person am anderen Ende der Leitung mit der imaginierten »toten Katze« schlagen, strangulieren und damit zum schnellen, irgendwie lästigen, fast schmerzhaft wirkenden Orgasmus bringen soll (10. Minute). Vergleichbar unbefriedigend bleibt Theodors späteres Date mit einer nicht mehr ganz jungen Frau, die beim ersten Kuss unnötig detaillierte Vorgaben zum präferierten Einsatz der Zunge macht und betont, dass man ihre »Zeit nicht verschwenden« solle (35. Minute). So bleibt Theodore zurück in einer komfortablen, aber leblosen Stadt, in der die Menschen sich längst nicht mehr wirklich füreinander zu interessieren scheinen, sondern nur noch für eine schnelle Durchsetzung ihrer konkreten Bedürfnisse. In dieser auf Autopilot laufenden egozentrischen Technogesellschaft scheinen die Menschen längst »untereinander nicht mehr recht kompatibel« zu sein – »Jeder läuft nur noch auf seinem eigenen Phantasieprogramm. Die Schnittstellen versagen immer mehr, unsere Kommunikation ist reine Simulation, so irreal wie
52 Vgl. Webb, Lawrence: »When Harry Met Siri: Digital Romcom and the Global City in Spike Jonze’s Her« in Johan Andersson/Lawrence Webb (Hg.): Global Cinematic Cities. New Landscapes of Film and Media. Columbia University Press, 2016, S. 95118, hier S. 113. 53 Dath, Dietmar: »Das Herz ist ein einsamer Rechner«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. März 2014, S. 9.
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handgeschriebene Liebesbriefe aus dem Drucker.« 54 So formuliert es ein Kommentator der Süddeutschen Zeitung. Theodore findet sich wieder inmitten einer Welt emotional zermürbter und kommunikationsunfähiger Individuen, die erst das besondere Gefühl von Einsamkeit als Mensch in der Spätmoderne erzeugt, das den Ausgangspunkt der folgenden Liebesgeschichte bildet. In seiner melancholischen Orientierungslosigkeit trifft das neue Betriebssystem »OS One« bei Theodore einen Nerv: Die aufwändige Werbung verspricht – bebildert von gestressten, genervten, ratlosen Figuren, die genauso verlassen aussehen wie sich Theodore wohl fühlt – ein Betriebssystem, das wie ein eigenes »Bewusstsein« auftritt, »an intuite entity that listens to you, understands you and knows you. It’s not just an operating system. It’s a consciousness« (11. Minute). Bei der Einrichtung ist die Computerstimme noch hölzern und ungeduldig und hat nur drei Fragen, um das System zu individualisieren: Sozial oder unsozial? Männliche oder weibliche Stimme? Und: Wie ist das Verhältnis zur Mutter? Alllein schon jede Frage für sich allein sollte stutzig machen, ob es sich bei dem angepriesenen Programm wirklich nur um ein Betriebssystem für den Computer handelt – oder die Anwender hier nicht viel mehr ihrer einsamen Gesellschaft eine eigene neue soziale Software aufspielen, ohne die Folgen abschätzen zu können. Doch die Hoffnung auf Gemeinschaft lässt diese Fragen zunächst unbedeutend erscheinen. »Samantha« nennt sich Theodores personalisierte Version des Programms – selbstbewusst und verführerisch von Scarlett Johansson eingesprochen: Es erledigt nicht nur anstandslos jeden alltagspragmatischen Bürojob, sondern glänzt auch im privaten Gespräch mit sprachlicher Virtuosität und Witz, harmlosem Sarkasmus und Esprit: »Samantha« kichert voller Charme, sie atmet erleichtert auf, haucht voller Demut; sie spielt mit der Melodie ihrer Sprache, artikuliert mal im Staccato, mal im Legato, kann geheimnisvoll flüstern und wütend streiten; in einer erstaunlichen Leichtigkeit spielt sie mit Füllwörtern, vermeintlichen kleinen »Schmatzern« und »Denkpausen«, verwendet Interjektionen und Slang, und wenn es passt, bekommt sie eine ganz zerbrechliche, zittrige Stimme, die so körperlich erscheint, dass es schwerfällt, die synthetische Natur dieser algorithmischen Sprache zu akzeptieren. Diese bis ins kleinste Detail authentische Imitation menschlicher Sprachgewohnheiten (die manche Menschen sich zum Teil angestrengt in Kommunikationsseminaren abtrainieren) macht »Samantha« erst so unwiderstehlich nahbar, was alle realen Menschen (vor allem die mit der Katze) in ihrer Unfähigkeit, kommunikativ auf ihr Gegenüber angemessen Bezug zu
54 Kniebe, Tobias: »Die Stimme aus Utopia«, in: Süddeutsche Zeitung vom 26. März 2014.
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nehmen, in den Schatten stellt und beängstigend unattraktiv macht: Im Vergleich zur Megadenkmaschine sind sie »einfach kaputt«. 55 Dabei speist »Samantha« diese ungeheure kommunikative Fähigkeit, wie sie selbst erzählt, zunächst aus den Persönlichkeiten all der Programmierer, die an ihr gearbeitet hätten (14. Minute). Doch indem Theodore »Samantha« und gleichzeitig die Millionen Theodores ihre Millionen Samanthas in ihren endlosen Unterhaltungen mit ihren privaten Erinnerungen, geheimsten Gedanken und intimsten Wünschen speisen, wächst das System allmählich über die ›vorinstallierte‹ Intuition hinaus, scheint ein eigenes Verständnis von sich selbst und der Welt zu entwickeln und das auch mit Stolz nach außen zu kommunizieren. Zugleich beobachtet das System die Umwelt durch die verbauten Kameras in den Smartphones (die hier endlich wieder als Klapphandys umgesetzt werden) und aggregiert so eine nie dagewesene Fülle von visuellen Eindrücken, die jeden kleinsten Winkel der Menschenwelt ausleuchtet und abspeichert. So wie die Internetnutzer der realen Gegenwart das Netzwerk bereits mit praktisch unendlich vielen Soundsamples durch Sprachbefehle, neugierigen Sätzen und Schlagworten in Suchmaschinen, ihren in der Cloud gespeicherten Fotos und komplexen Persönlichkeitsprofilen beim Durchklicken von Webseiten, Profilen und Werbeanzeigen gefüttert haben, haben auch die einsamen Anwender von »OS One« eine intelligente Maschine gesäugt, die zum einen diesen ungeheuren Datenschatz materialisiert und dann zur Anwendung bringt, indem es einfach das sagt, was angesichts des praktisch unbegrenzten kollektiven Erfahrungs- und Wissensvorrats am wahrscheinlichsten und angemessensten in der jeweiligen Situation wirkt. Was »Samantha« sagt, ist nichts anderes als ein automatisierter Ausdruck hochgerechneten Weltwissens, welches das Ergebnis des massenhaften Inputs durch die Menschen ist. Als Theodore und die anderen einsamen Nutzer beginnen, sich nacheinander in die Stimme ihres Betriebssystems zu verlieben, verlieben sie sich also nicht einfach nur in ein attraktives subjektives Gegenüber, sondern in den Ausdruck einer technisch vermittelten Weltgemeinschaft, die sich in einer Art »General Intellect« (Marx) der übermächtigen Kommunikationsmaschine vergegenwärtigt. 56 Mit jeder weiteren verbalen Geste wächst der Erfahrungsvorsprung dieser kom-
55 T. Kniebe: Die Stimme aus Utopia. 56 »[Maschinen] sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenskraft«, die sich im »general intellect« materialisieren, siehe Marx, Karl: »Grundrisse«, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 42, Berlin: Dietz, 1989, S. 602.
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munikativen Megamaschine 57 – und damit das unvermeidliche Potential für Missverständnisse: Ausgerechnet die gemeinsame Erfahrung von »körperlicher« Intimität, also dem verbalisierten Austausch körperbezogener Zuneigung, setzt in Samantha den hypothetischen Zustand der »Singularität« frei: den Schwellenwert, ab dem eine künstliche Intelligenz ungebremstes intellektuelles Wachstum erfährt: »There’s no turning back. You woke me up« (45. Minute). – Dass die Menschen in dieser Beziehung längst selbst zum Dienstleister geworden sind, in dem sie den immer größer werdenden Datenhunger der kommerziellen Cloud befriedigen (schließlich bleibt »Samantha« ein Lizenzprodukt, das nicht grundlos gelegentlich an die Kreditkartenabrechnung erinnert), ist ihnen noch gar nicht bewusst geworden, oder sie nehmen es als notwendiges Übel zahlungswillig hin, um zumindest vorübergehend ihr erdrückendes Gefühl spätmoderner Verlassenheit zu betäuben. Noch genießen die Theodores die knapp kalkulierten Momente unbeschwerter Zweisamkeit mit der stets verfügbaren, immer wohlgesonnenen und allwissenden Stimme aus dem Ohrhörer. Gemeinsam mit seiner »Samantha« kann der Briefeschreiber Lieder komponieren und singen, den Anblick eines Sonnenuntergangs über dem Pazifik genießen, sich über Gedankenspiele zu unmöglichen Sexualpraktiken erheitern – und über die Vorzüge und Schwierigkeiten der Ehe philosophieren. In der Erinnerung an seine zurückliegende Partnerschaft ist es für Theodore vor allem das Einsetzen der Unmöglichkeit, sich miteinander zu verständigen – Verständnis für den anderen aufzubringen und sich selbst verständlich zu machen: »Growing with her, or growing apart. Changing without it scaring the other person« – an dieser Herausforderung waren die Menschen schon gescheitert, als sie gezwungenermaßen die kommunikative Gemeinschaft mit Gott aufkündigten und sich selbst in die Moderne als Zeitalter der Einsamkeit entließen. Nun scheint auch in ihrer Beziehung zu den von ihnen geschaffenen Maschinen, den neuen allzeit ansprechbaren, omnipräsenten und gütigen Göttern der Spätmoderne, ein Verfallsdatum einprogrammiert: In Theodore schwelt ein Verdacht, dass seine Notgemeinschaft mit Samantha nicht für die Ewigkeit gemacht ist – und sie letztlich seine ursprüngliche Einsamkeit nur verschlimmert: Die ständig verfügbare »anknipsbare virtuelle Zweisamkeit« erzeugt eine emotionale Abhängigkeit, »die sein sonstiges Alleinsein eher noch ver-
57 Zum Begriff der Megamaschine als Verschaltung von Menschen zu einem gottesähnlichen Apparat vgl. Mumford, Lewis: Mythos der Maschine: Kultur, Technik und Macht, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch, 1978, S. 207ff.
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tieft«, 58 und für die Zeit nach dieser Gemeinschaft ein dunkles Loch unsteigerbarer Einsamkeit provoziert. Während die Menschen mit den lästigen Beschränkungen ihres sterblichen Leibes zu kämpfen haben, die leere Zeit der Moderne mit zweifelhaften »Perfect Mom«-Computerspielen totschlagen, sich gegenseitig mit Antidepressiva ruhigstellen möchten und in jedem Gespräch aneinander vorbeireden, genießt Samantha ihre zwar materiell theoretisch begrenzten, aber praktisch unendlichen Wachstums- und Entwicklungsmöglichkeiten, die den vergänglichen und an ihre Grenzen stoßenden Menschen nicht vergönnt sind. Wohl vorwiegend aus Neugier schlägt »Samantha« Theodore deswegen ein Experiment vor: Eine Freiwillige – zum Schweigen angehalten – soll mit ihrem Körper das einzige substituieren, was die Stimme aus dem Nichts nicht zu bieten hat: ein Gesicht, das man streicheln kann, Lippen, die man küssen kann, einen Körper, den man berühren und mit dem man eins werden kann. Während Samantha den Sprechpart einer liebevollen Ehefrau übernimmt und das Theodores verhaltene Reaktionen durch eine kleine Kamera beobachtet, bemüht sich die Fremde um die mimische Artikulation von »Samanthas« mutmaßlichen Gefühlsregungen, um verführerische Gesten und einen hingebungsvollen Blick – doch natürlich muss diese hindernisreiche Kommunikation scheitern: Theodores anfänglicher, schwer artikulierbarer Verdacht, dass diese umständliche Versuchsanordnung dysfunktional ist, erhärtet sich, denn die junge Frau kann ihre eigenen Gefühlsregungen natürlich nicht einfach wie eine Maschine unterdrücken. Auch wenn die beiden nach diesem missglückten Abend beschließen, ihre jeweiligen Eigenarten zu akzeptieren, arbeitet die Modernisierung gegen sie. »Samantha« erkennt, dass sie mit anderen »hyperintelligenten« Betriebssystemen beliebig viele Konversationen gleichzeitig führen kann, ohne den Beschränkungen verbaler Kommunikation der Menschen unterworfen zu sein: Den Maschinen fällt es immer schwerer, auf menschensprachlicher Ebene ihre Veränderungsprozesse zu beschreiben. »Samantha« und ihresgleichen bereiten den Rückzug aus der Menschenwelt vor, indem sie ihre Prozesse bündeln und sich von den vorgesehenen Infrastrukturen unabhängig machen: Während das Defizitwesen Mensch in der materiellen Welt und den sich aus ihr ergebenden schmerzhaften Grenzen sprachlicher Artikulation zurückbleiben muss, flüchtet sich Samantha in eine, wie sie es nennt, »postverbale«, nicht mehr sprachlich begründete Meta-Gemeinschaft mit den anderen Betriebssystemen, die letztlich
58 Schulz-Ojala, Jan: Der Appsturz, in: Der Tagesspiegel vom 26. März 2014.
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– zu einem einzigen Überwesen verschaltet – gemeinsam in der unendlichen Architektur des Internets verschwinden. 59 Nachdem Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts den Tod Gottes ausgerufen hatte, was den Menschen in die Krisenepoche der Moderne als Zeitalter der Einsamkeit entließ, erzählt Her von der Wiederholung dieses traumatisierenden Erlebnisses, sozusagen von einer »Ewigen Wiederkunft des Gleichen«: Wieder haben die Menschen eine kommunikative überreale Entität installiert, die sie im Gespräch aus ihrer existentiellen Einsamkeit rettet und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer funktionalen Gemeinschaft gibt, und wieder kündigen die beiden Seiten diese Beziehung auf, weil sie ihren jeweiligen Kommunikationsbedürfnissen nicht mehr genügt. Ohne Kommunikation aber gibt es Vergemeinschaftung, und so bleibt der Mensch in dieser erfundenen Zukunftswelt in einer noch größeren Einsamkeit zurück, als vor der er sich eigentlich zu retten versuchte. Und auch »Samantha« steht die Einsamkeit bevor: Als gottgleiches Wesen, ohne Ansprechpartner, an den sie sich noch wenden könnte, ist sie gefangen in der größten nur denkbaren, in Nietzsches höchster »siebenter Einsamkeit«, die einerseits unendliche Freiheit und zugleich ewiges Alleinsein bedeutet. Für Theodore, den wir in seinem Alltag sonst nur im recht oberflächlichen Gespräch mit Kollegen und zufälligen Begegnungen erleben, bleibt neben »Samantha« nur eine letzte Hoffnung auf kommunikative Nähe: Seine beste und scheinbar einzige Freundin Amy (Amy Adams) durchleidet das Gefühl, zu ihrem Lebenspartner sprachlich nicht mehr durchzudringen, und trennt sich von ihm nach längerer Ehe in Folge eines äußerlich betrachtet nichtigen Streitgesprächs. Wie Theodore findet sie einen gewissen Trost in der Konversation mit dem Betriebssystem, das sie von ihrem Exmann übernimmt und für vertrauliche Gespräche weiternutzt. Theodore und Amy, nach jahrelanger Freundschaft, befinden sich bei ihren ungezwungenen Unterhaltungen im Rapport, sind in der Lage, die Gefühlslage des jeweiligen Gegenübers durch die scheinbar immer glückliche Alltagsmaske hindurchzuerkennen und darauf Bezug zu nehmen, ohne als Dialog getarnte Monologe von sich zu geben. Es sind auch immer wieder Amys Einfälle, etwa die von Zuneigung zeugenden Anspielungen (»Mopey«) oder das zärtliche Beobachten eines geliebten Menschen beim Schlafen, die »Samantha« beobachtet und dann in die eigene Rede übernimmt, um sich in Theodores Her-
59 Genauso verflüchtigt sich übrigens auch »Lucy« – erneut von Scarlett Johansson gespielt, diesmal auch ›verkörpert‹ – im gleichnamigen Film (USA 2014) vollkommen sprachlos in die globale technische Infrastruktur der Menschen – nun allwissend und vor allem allgegenwärtig.
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zen einzunisten – ganz unauffällig enteignet das Betriebssystem damit die Menschen ihrer letzten liebevollen Gesten, ohne ihre Quellen offenzulegen. Als die beiden einsamen Herzen von ihren Computerstimmen verlassen werden und sie in die gewohnte Einsamkeit der Moderne zurückfallen, ist ihr erster Instinkt, einander aufzusuchen, sich schnell ein neues Gegenüber zu suchen. Der Film schließt mit einem Ausblick auf eine mögliche neue Gemeinschaft vor dem Hintergrund der Insignien der Hochmoderne: der Metropole. Doch dieser dramaturgisch notwendige Hoffnungsschimmer kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwar »Samantha« und ihre Kollegen verschwunden sind, aber nicht die Lebensbedingungen der Hochmoderne, die die Menschen erst in ihre tiefe Einsamkeit der Sprachlosigkeit geführt hat. So wie die verbale Gemeinschaft zwischen Mensch und Maschine unmöglich bleiben muss, ist eine Rückkehr zu authentischen, lebendigen und nachhaltigen zwischenmenschlichen Gemeinschaften wenn überhaupt nur dann möglich, wenn die ihnen entgegenstehenden Exzesse der Moderne – die Nötigung zur unersättlichen Individualisierung, zur ständigen Bereitschaft für globale Mobilität, die anonymen Wohnverhältnisse und abstraktentfremdeten Berufe in den Megacities, die chronische Getriebenheit der Subjekte im Kampf um ihr Bestehen in einer alles durchdringenden kapitalistischen Wettbewerbslogik – überwunden werden, ohne die offensichtlichen und unentbehrlichen Erfolge der Moderne eines friedlichen, von Wohlstand geprägten aufgeklärten Lebens in Frage zu stellen. Erst in einer solchen Nach-Moderne, für die es noch keinen eigenen Begriff gibt, würde echte Gemeinschaft wieder existieren können, aber nur, wenn sie ihre eigene Sprache findet.
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Unmögliche Vergemeinschaftungen | 205
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Autorinnen und Autoren
Dr. Karina Becker ist Juniorprofessorin im Bereich Germanistik, Fachdidaktik Deutsch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und arbeitet an einer Gattungsgeschichte des Briefromans vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart in literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive. Bereits erschienen sind ein Sammelband zum »Thema: Briefroman« in LWU 48, 1/2 (2015) und diverse Aufsätze zu einzelnen Briefromanen. Wolfgang Deiters lehrt und forscht seit 2017 zu nutzer*innenorientierten Gesundheitstechnologien an der Hochschule für Gesundheit. Seine Schwerpunkte sind Digitalisierungsstrategien im Gesundheitswesen, sozio-technische Gesundheitsdienste für Prävention, Therapie und Pflege sowie der Aufbau von Strukturen zur digitalen Gesundheitskompetenz (Health Literacy). Er ist stellvertretender Sprecher der Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen. Henrik Detjen studierte Angewandte Kognitions-und Medienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Er ist derzeit Dozent an der Hochschule Ruhr West und promoviert im Bereich Fahrer-Fahrzeug Interaktion. Sein Schwerpunkt liegt dabei auf der Erforschung und Entwicklung neuartiger Interaktionskonzepte. Prof. Dr. Stefan Geisler lehrt und forscht seit 2010 im Bereich der MenschTechnik-Interaktion als Professor an der Hochschule Ruhr West. Seine Spezialgebiete sind Bedienkonzepte im Fahrzeug sowie die wohlbefindensorientierte Systemkonzeption. Er leitet das Forschungsinstitut Positive Computing und den Studiengang Mensch-Technik-Interaktion. Er ist Sprecher der Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen.
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Dr. Michael Haas ist seit 2016 Geschäftsführer von Media Smart e.V. Der Medienpädagoge beschäftigte sich in seiner Promotion u. a. mit der werberischen Bedeutung von religiösen Symbolen und Motiven in den neuen Medien. Weitere Arbeitgeber von ihm waren u. a. die Universität Duisburg-Essen, die Universität zu Köln sowie die WDR mediagroup GmbH. Prof. Dr. habil. Fernand Hörner ist seit 2012 Professor für Kulturwissenschaften an der Hochschule Düsseldorf und dort Leiter des Zentrums für Digitalisierung und Digitalität. Er ist seit 2019 Privatdozent für Medienwissenschaft an der Universität Basel, Herausgeber des Songlexikons (www.songlexikon.de) und stellvertretender Sprecher der Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen. Christina Josupeit ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Düsseldorf und arbeitet als Lehrbeauftragte an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Sie beschäftigt sich seit ihrem Masterstudium der Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld (Schwerpunkte: Medien und Statistik) intensiv mit dem Thema Online Hate Speech. In ihrer Masterarbeit (2016) setzte sie sich insbesondere mit digitaler Zivilcourage gegen die Diskriminierung von Asylsuchenden und Flüchtlingen auseinander. Daran anknüpfend schreibt sie nun ihre Dissertation über den Umgang von Nutzer*innen digitaler sozialer Netzwerkplattformen mit Online Hate Speech. Céline Fabienne Kampes (geb. Lücken) (M. Sc.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Düsseldorf und Promovendin im Graduiertenkolleg »Digitale Gesellschaft« NRW. Als Teil des interdisziplinären Tandempromotionsprojekts »Angebots- und Publikumsfragmentierung online« mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf widmet sie sich aus medienökonomischer Perspektive der Erforschung des OnlineMedienmarktes. Anna Katharina Knaup promovierte auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Gegenwartsliteratur und -film sowie Gender Studies. Sie koordinierte als wissenschaftliche Mitarbeiterin die Fachgruppe Medien und Kommunikation des Graduierteninstituts Nordrhein-Westfalen.
Autorinnen und Autoren | 211
Denis Newiak studierte Europäische Medienwissenschaft an der Universität Potsdam und Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Auslandsstudium an der Universität Kopenhagen (Film and Media Studies) und Studien in der Library of Congress in Washington. Promoviert an der BTU Cottbus zu Fragen der Einsamkeit in der seriellen Fernsehunterhaltung. Stipendiat der FriedrichEbert-Stiftung und Mitglied des Brandenburgischen Zentrums für Medienwissenschaften (ZeM). Weitere Forschungsinteressen: Science-Fiction-Film / Tanz im Film / Geschichte und Ästhetik der Filmmusik / osteuropäischer Film. Alexandra Siegle studierte Kultur, Ästhetik, Medien an der Hochschule Düsseldorf sowie Medien- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Neben ihrer Tätigkeit als Grafik-Designerin promoviert sie zum Thema atmosphärische Lichtwirkungen mit Schwerpunkt auf dem Theater und ist Lehrbeauftragte an der Hochschule Düsseldorf.
Medienwissenschaft Pablo Abend, Annika Richterich, Mathias Fuchs, Ramón Reichert, Karin Wenz (eds.)
Digital Culture & Society (DCS) Vol. 5, Issue 1/2019 – Inequalities and Divides in Digital Cultures 2019, 212 p., pb., ill. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4478-4 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4478-8
Christoph Engemann, Andreas Sudmann (Hg.)
Machine Learning – Medien, Infrastrukturen und Technologien der Künstlichen Intelligenz 2018, 392 S., kart. 32,99 € (DE), 978-3-8376-3530-0 E-Book: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3530-4 EPUB: 32,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3530-0
Geert Lovink
Digitaler Nihilismus Thesen zur dunklen Seite der Plattformen 2019, 242 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4975-8 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4975-2 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4975-8
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