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German Pages 239 [240] Year 1984
KARL BRATZLER
Die Evolution des sittlichen Verhaltens
ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderung der Beziehungen zwismen Philosophie und Einzelwissensmaften
Band 66
Die Evolution des sittlichen Verhaltens
Von
Dr. Karl Bratzier
DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bratzier, Karl: Die Evolution des sittlichen Verhaltens / von Karl BratzIer. - Berlin: Duncker und Humblot, 1984. (Erfahrung und Denken; Bd.66) ISBN 3-428-05611-6 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten & Humblot. Berlin 41 Gedruckt 1984 bei Werner Hildebrand. Berlin 65 Printed in Germany
© 1984 Duncker
ISBN 3-428-05611-6
Meinen Freunden in unserem langjährigen philosophischen Arheitskreis gewidmet
Wollen wir die ganze Wirklichkeit, die Erscheinungen des Lebens insgesamt umfassen, so bleibt uns nur übrig, auf dem Wege der Integration zahlreicher Einzelergebnisse vorzugehen, die mit den verschiedensten Methoden der Natur- und Geisteswissenschaft erzielt werden können. Jede wissenschaftliche Disziplin gibt das ihre zum Bilde vom Leben, keine ist entbehrlich, und alle miteinander sind immer auf dem Wege. Adolf Butenandt
Vorwort Der in unserem Zeitalter oft beklagte Verlust eines einheitlichen Weltbildes, welches das unter der geistigen Lenkung der Kirche stehende Mittelalter besessen hat, ist dem Verfasser als einem seit Jahren an einem philosophischen Arbeitskreis teilnehmenden Naturwissenschaftler in persönlicher Erfahrung besonders bewußt geworden; dies vor allem in der Frage des Sittlichen, das zu allen Zeiten hervorragende Geister der Menschheit beschäftigt hat. Zahllose Anläufe sind in der Zeit nach der Reformation von philosophischer Seite unternommen worden, das Sittliche deduktiv zwingend zu begründen. Ihr Ergebnis glich dem der vielen Versuche, das perpetuum mobile zu erfinden. Es ist das Anliegen des Buches, dem Problem der Entstehung des Sittlichen, das bis in die jüngste Gegenwart fast ausschließlich von den Geisteswissenschaften behandelt wurde, durch Einbeziehung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte näher zu kommen, es gewissermaßen vom Anfang der biologischen evolution her aufzurollen. An eine Begründung des Sittlichen ist dabei nicht gedacht. Beim philosophisch wie naturwissenschaftlich in gleichem Maße interessierten Leser mag vielleicht der Eindruck entstehen, daß der Schwerpunkt der Darstellung allzu sehr naturwissenschaftlich sei. Obgleich diese von dem Vorsatz: "soviel Naturwissenschaft wie nötig und so wenig wie möglich" geleitet wurde, ist das Verständnis der angestrebten Gesamtschau ohne ein gewisses Eindringen in modernes naturwissenschaftliches Erfahrungs- und Gedankengut schwerlich möglich, andererseits für die Gewinnung eines einheitlichen Weltbildes notwendig, insbesondere wo die Aufspaltung unseres Geisteslebens in immer mehr Spezialdisziplinen diesem Ziel entgegensteht. Der Verfasser ist sich bewußt, daß er nur die Skizze einer notwendigerweise größeren zusammenfassenden Darstellung gezeichnet hat, und würde es begrüßen, wenn von dieser ausgehend durch weitere Beiträge aller für die Behandlung des Themas in Betracht kommenden wissenschaftlichen Disziplinen eine allgemein anerkannte Auffassung über den Ursprung des Sittlichen und seine zeitbedingt jeweils mögliche Reichweite entstehen würde.
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Vorwort
Seinen besonderen Dank möchte der Verfasser an dieser Stelle Herrn D. H. Kuchta vom Verlag Duncker & Humblot für seine anregenden Vorschläge während der Drucklegung des Buches zum Ausdruck bringen. Bad Homburg, im Mai 1984
Kar! Bratzier
Inhalt Einleitung ........................................................
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Eine Bestandsaufnahme ...................................... .
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I.
I. Versuche zur Begründung des Sittlichen (ein geschichtlicher Überblick) .............................. 2. Beginn einer Erfahrungsphilosophie des Ethischen (A. Schopenhauer; F. Nietzsche; L. Nelson) ............................. 3. Die Wertphilosophie (M. Scheler; N. Hartmann) .............. 4. Die Schichtenlehre (N. Hartmann) ..........................
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ll.
Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Sittlichen und seine begriffliche Präzisierung ............................. .
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lll.
Die Evolution des Verhaltens
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I. Verhalten als Leitbegriff ................................... 2. Die Hauptpfeiler der Evolutionslehre ........................ 3. Der evolutionäre Aufbau des Organischen ................... a) Reaktivität in der präbiotischen Seinsschicht ............... b) Die Entstehung von Information ......................... aa) Die Theorie von M. Eigen .......... . . . . . . . . . . . . . .. . bb) Autokatalyse und Hyperzyklusbildung ............ ,... c) Weitere Prinzipien der Selbstorganisation der Materie aa) Steuerung und Rückkopplung ....................... bb) Synergetik ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Biochemische Symbiose ............................. dd) Die Freiheitsgrade der verschiedenen Oragnisationsstufen d) Zusammenfassung (III a - c) ........_................... 4. Reaktivität oder Verhalten der Polynukleinsäuren ............. a) Gen-Egoismus ......................................... b) Das Werkzeug des Genausbreitungsstrebens ............... 5. Die vergleichende Verhaltensforschung und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung ........................................... 6. Das moralanaloge Verhalten in der Tierwelt .................. 7. Altruismus und Selektion .................................. 8. Die Soziobiologie der Gene ................................ a) Kampf aller gegen alle ..................................
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40 40 51 51 61 66 66 68 70 71 72 75 75 80 82 84 86 87 87
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Inhalt Das Kosten-Nutzen-Prinzip in der Natur .................. Verwandtschaftsgrad und Sozialverhalten ................. Der biologische Generationenkonflikt .................... Gen-Egoismus in der Erweiterung der Lebensgemeinschaften Biologische Symbiose ................................... Zusammenfassung (III d - h) ...........................
96 98 106 108 112 114
Afifiressivität und Afifiressionen .................................
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b) c) d) e) f) g)
IV.
I. Das Aggressionsproblem
v.
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a) Formen von Aggression im Tierreich ..................... b) Menschliches Aggressionsverhalten .......................
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2. Der Schichtenaufbau der Aggressivität ...................... 3. Das Problem des menschlichen Antriebsüberschusses ..........
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Die Ursprunfisschichten des Verhaltens ......................... .
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Die Schichtenstruktur ..................................... Die präbiotische Schicht ................................... Die biologische Schicht .................................... Mensch und Instinkt ...................................... Die Psyche ...................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vernunft .............................................
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I. 2. 3. 4. 5. 6.
VI.
Willensstruktur und Verhalten
.................................
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VII.
Versuch und Irrtum in der Evolution ............................
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..
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I. Krieg als kollektive Aggressivität .......................... . 2. Populationsdichte und Kollektivaggressivität in der Tierwelt ... . 3. Populationsdichte und kollektive Aggressivität im menschlichen Bereich ................................................. . 4. Entwicklung und Ausbruch der Kollektivaggressivität
186 189 195 203
IX.
Das Gleichfiewichtsprinzip
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x.
Sinndeutunfi und Ausblick
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VIII. Ein noch unfielöstes Problem der sittlichen Evolution des Menschen
Literatur .........................................................
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Einleitung Der heutige Mensch, der die täglichen Ereignisse in der Welt nachdenklich erlebt, erhält den Eindruck einer großen fortwährenden Unruhe schon innerhalb des engeren Kreises, in dem er lebt und dem er angehört, und noch mehr unter den Völkern. Er neigt zum Glauben, daß diese Unruhe, die ihren Ausdruck in kriegerischen Verwicklungen, rassischen Verfolgungen, sozialen und ideologischen Kämpfen und sonstigen Auseinandersetzungen, der Sorge um die eigene Existenz und der Angst vor der Zukunft ihren Ausdruck findet, stärker sei als in früheren Zeiten. Teilweise scheint es so, weil die geschichtliche überlieferung aus früheren Zeiten oft fehlt oder zumindest lückenhaft und unvollständig ist. Viele Streitigkeiten, die ehedem schon zwischen kleineren und daher auch weit zahlreicheren Volksgruppen, Stämmen und sonstigen Lebensgemeinschaften stattgefunden haben, sind einfach unbekannt geblieben, abgesehen davon, daß sie mit heutigen Maßstäben verglichen relativ unbedeutend waren. Heute sorgen Informationen aus aller Welt, verbreitet durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, für eine schnelle und ausführliche Verbreitung und Dokumentation des Geschehenen, auch der unbedeutendsten Ereignisse. Ihre Bedeutung wird oft noch überdimensioniert und ins Sensationelle aufgebauscht, so daß die Unruhe noch vergrößert und latent gehalten wird. Der seiner Natur nach konservative Mensch wird von dieser Unruhe angesteckt. Während er im praktischen Tagesleben sich durch einen sogenannten Fortschritt von ihr treiben läßt, fürchtet er sie im sozialen und geistigen Bereich. Er sieht die Gefahr des Verlustes überlieferter Werte, einen Wertumsturz mit bedenklichen Folgen. Er stellt sich die Frage nach der Ursache dieser Unruhe und nach der Wirklichkeit der durch sie möglichen Gefahren; welche Rolle können die Werte, nach denen sich das menschliche Verhalten ausrichtet, in ihr noch spielen; sind sie noch als naturgegebene Konstanten zu betrachten, wie dies nach der geschichtlichen überlieferung immer schien; sind sie apriorisch gegeben oder durch das menschliche Verhalten zustandegekommen, also Lebensgewohnheiten? Seit dem Auftreten Darwins, der in der Mitte des letzten Jahrhunderts die Lehre von der Evolution der Arten begründete, hat sich die Vorstellung der fortlaufenden Veränderung der Welt und unseres Lebens - anfänglich schwer bekämpft, von der Wissenschaft aber mehr und mehr akzeptiert - durchgesetzt. Seine Theorie wurde als "kopernikanische Wendung" in unserem Denken über die Natur angesehen. So haben sich nach und nach philosophische, aber "Ich
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Einleitung
theologische Kreise, soweit sie sich mit den Ergebnissen der Naturwissenschaften vertraut gemacht haben, zur Anerkennung der Evolutionslehre durchgerungen. Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache geworden, daß eine ständige Änderung oder, positiver ausgedrückt, Entwicklung unsere Welt beherrscht. Nach den Vorstellungen der Menschen früherer Zeit war die Welt, in die sie hineingeboren waren und in der sie lebten, von den Göttern oder Gott geschaffen und ewig gleich und stabil. Die Lehre Darwins erzwang, nachdem ihre inhaltliche Tragweite erkannt war, nicht nur die Erkenntnis der fortlaufenden Veränderung der Welt des Lebenden, sondern, was in nicht naturwissenschaftlichen Kreisen gern übersehen wird, auch die der Herkunft alles Lebenden aus einem gemeinsamen Ursprung. Dies bedeutet, daß die Entwicklung von gemeinsamen Prinzipien beherrscht gewesen sein muß, auch wenn sie sich verzweigt und in den Verzweigungen verschieden hohe Organisationsstufen erreicht hat. Die Erscheinungsformen dieser Stufen mögen verschieden sein, doch die Prinzipien, die zu ihnen geführt haben, müßten sich erkennen lassen. An den Erscheinungsformen interessiert für unser Thema nicht die Gestalt, das Morphologische, obwohl dieses auch heute ein zentrales Problem der Forschung ist, sondern ihre Reaktionen und Verhaltensweisen. Während man bei einfachen, z. B. chemischen Molekülen kleineren oder größeren Molekulargewichts und niedrigen Organismen, wie Einzellern, Mehrzellern oder Pflanzen, von Reaktionen gegenüber ihrer Umwelt spricht, erweitert sich die Reaktionskapazität bei den höher organisierten Lebewesen zum Verhalten. Dieses umfaßt eine ganze Skala von Verhaltensweisen, die vom Physischen über das Psychische bis hin zum Geistigen und Sozialen reicht. Zu den letzteren zählen auch diejenigen, die als sittlich bezeichnet werden. Unser Thema spitzt sich daher auf die Frage zu, wie sich dieser Bereich von Verhaltensweisen im Verlauf der menschlichen Ontogenese entwickelt hat. Die geschichtliche Überlieferung gibt zwar Stoff für eine Sittengeschichte der Völker, aber keine, insbesondere naturwissenschaftliche Erklärung für diese. Was die Geschichte über Sittlichkeit überliefert, ist eine imperative Ethik mit einem Kodex von Strafen, aufgestellt von Weisen und Religionsstiftern. Dieses System hat den Menschen auf der einen Seite von einer gewissen Existenzangst, der wie bei den meisten Lebewesen zunächst eine primitive Angst vor unbekannten und vermutlichen Gefahren war, befreit, dafür ihm aber eine Furcht vor göttlicher oder menschlicher Autorität bereitet. Es wäre indessen sicherlich verfehlt, wenn das Entstehen von Sittlichkeit auf eine einzige Ursache, wie z. B. Angst oder nach Schopenhauer auf Mitleid zurückgeführt würde. Eine so komplexe Erscheinung wie Sittlichkeit,die zu allen Zeiten und unter den verschiedenen Völkern in den unterschiedlichsten Formen geübt und kultiviert wurde, kann nicht monokausal
Einleitung
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erklärt werden - entsprechend einem menschlichen Hang, Ursachen von komplexen Erscheinungen auf einen einfachen Nenner zu bringen. Die Tatsache, daß es unter den Völkern des frühesten Altertums "Sittlichkeiten" oft oder meist konträrer, sich gegenseitig ausschließender Formen gegeben hat, verlangt einen viel größeren analytischen Aufwand zur Erklärung des Fragenkomplexes "Sittlichkeit". Dies ist umso dringlicher, als das Suchen nach stabilen sittlichen Anschauungen und das Ringen um solche nie aufgehört hat. Einleitend zum Thema kann an dieser Stelle festgehalten werden, daß die Angst und Sorge um das Eingebundensein in ein das Zusammenleben der Menschen sicherndes System mit die wichtigste Grundlage einer gewissen Sittlichkeit, die mit der jeweiligen sozialen Situation komplementär war, gebildet haben. Andererseits zeigt die Geschichte, daß der Aktionismus auf diesem Gebiet die Unruhe und Nervosität bisweilen noch gesteigert hat. Immer wieder traten Gestalten und Persönlichkeiten auf, die sowohl mit Überzeugung als auch Demagogie und Anmaßung, mit Güte und Gewalt Hoffnungen, Ideale, Ideologien und Utopien wie Propheten vortrugen und lehrten. Sie wurden von den Menschen, die sich um sie scharten, begierig aufgenommen und für sie oft größte Opfer gebracht. Die hierdurch vorübergehend eingetretene Beruhigung war in der Regel von begrenzter zeitlicher Dauer. All dies kann als ein Beweis dafür angesehen werden, daß die Kenntnisse des Menschen über die Welt, über die Natur und vor allem über sich selbst ungenügend geblieben sind, um ihm eine sichere Vorstellung darüber zu geben, welchen Sinn sein Dasein hat und was er letztlich erwarten kann und tun muß. Ein Teil der Menschheit verhält sich optimistisch oder gleichgültig, und ein anderer ist von Sorge erfüllt und pessimistisch gestimmt. Im Buch "Die Grenzen des Wachstums" des Clubs von Rom wird dargelegt, wie die Sorgen um den Alltag und die Zukunft der einzelnen Menschen je nach ihrer physischen, seelischen und geistigen Belastbarkeit einen verschiedenen Stellenwert besitzen. Während die einen von ihnen gerade noch die Kraft haben oder aufbringen können, mit den eigenen Problemen des Tages oder der vor ihnen liegenden Woche fertig zu werden, ist es den von der Natur mit größeren Kräften ausgestatteten vergönnt, nicht nur die eigenen Probleme zu bewältigen und ihr Leben planend zu gestalten, sondern sich auch um die in der Gegenwart und Zukunft liegenden Aufgaben der Allgemeinheit zu kümmern und diese einer Lösung zuzuführen. Dem denkenden Betrachter der überlieferten Menschheitsgeschichte drängt sich unwillkürlich die Frage auf, ob ein Aufstieg auf den von vielen Gutwilligen zu allen Zeiten angepeilten Gipfel höchsten Menschseins grundsätzlich möglich ist oder ob es sich hier um ein nie erreichbares Ideal, eine Utopie, handelt. Eine eingehende kritische Prüfung mit dem Ziel, die naturgegebenen Möglichkeiten sittlichen Verhaltens, von denen die Spezies Mensch abhän-
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Einleitung
gig ist, offenzulegen, erscheint heute mehr denn je als eine dringende Notwendigkeit - und dies unter Ausschaltung jeglicher metaphysischer Spekulation.
I. Eine Bestandsaufnahme I. Versuche zur Begründung des Sittlichen: ein geschichtlicher Überblick
Die Bibel als die wesentliche Grundlage der abendländischen christlichen Kultur beschreibt anhand geschichtlicher Ereignisse über das Verhalten des Menschen: "Denn das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf'. Dieser biblischen Feststellung sind zeitlich der Brudermord Kains und die Sintflut vorausgegangen. Aber schließlich wird von der Bibel ebenso berichtet, daß in der Folgezeit sich eine Konvention des sozialen und rechtlichen Zusammenlebens herausgebildet hat, welche die Geschichte des jüdischen Volkes bis zu seinem Auszug aus Ägypten bestimmt hat. Das sitten- und rechtsgeschichtlich bedeutsamste Ereignis war die übergabe der Gesetzestafeln an das Volk Israel am Berg Sinai durch Moses. Moses überreicht sie seinem Volk als eine Offenbarung durch Jahwe, den einzigen Gott. Als eine Offenbarung Gottes haben sie seither in der gesamten jüdischchristlichen Welt gegolten. Sie haben seit ihrem Erscheinen - etwa im 13. Jahrhundert vor der Zeitwende - die Grundlage des sittlichen Zusammenlebens der Israeliten und in den darauf folgenden Jahrhunderten bis in unsere Zeit des gesamten Abendlandes gedient, nachdem zu den mosaischen Vorschriften die Lehren der Bergpredigt hinzugekommen sind. Wie ein ungeborstener Felsen haben sie sich trotz aller Naturkatastrophen und der von der Menschheit fortwährend verursachten Geschichtskatastrophen bis in die Gegenwart erhalten und die sittliche Entwicklung und Haltung des abendländischen Menschen wohl am stärksten beeinflußt. Vom größten Teil der christlichen Menschheit wurde am Offenbarungscharakter der jüdischen und christlichen Gebote bis heute festgehalten. Das Aufkommen des Humanismus zu Beginn der Neuzeit führt zur Beschäftigung mit dem Geistesgut des klassischen Altertums, was zur Aufklärung überleitet. Nach der geistigen Stagnation im Mittelalter beginnt sich das wissenschaftliche Leben mächtig zu regen. Man kommt mehr zur Kenntnis, was das Altertum und die vor ihm liegende Zeit schon auf religiösem und philosophischem Gebiet geleistet haben. In der ganzen Folgezeit wird entdeckt, daß außerhalb der bis dahin bekannt gewesenenjüdisch christlichen Religiosität, die von Moses begründet, von großen vorchristlichen Propheten fortgesetzt und von Christus auf einen Höhepunkt geführt worden ist, in den
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I. Eine Bestandsaufnahme
verschiedenen Kulturkreisen Asiens ähnliche Entwicklungen unabhängig voneinander vor sich gegangen sind. Dieser Zeitabschnitt, welchen Karl Jaspers ("Vom Ursprung und Ziel der Geschichte") die Achsenzeit nennt, umfaßt zwar einige Jahrhunderte und dünkt uns nach der Kürze eines durchschnittlichen Menschenlebens beurteilt zwar lang, stellt aber nach evolutionsgeschichtlicher Betrachtungsweise eine sehr kurze Zeitspanl!e dar. In diese Zeit fällt das Auftreten der Religionsstifter und der ersten Philosophen. "Es drängt sich - wie Jaspers sagt - Außerordentliches zusammen. In China leben Konfuzius (556-479 v. Ch.) und Laotse (335-288). In Indien entstanden die Upanischaden (heilige Bücher der Religionslehre) und trat Buddha (536-483) auf, wobei alle philosophischen Richtungen durchdacht wurden. Im Iran lehrte Zaratustra (nach einer unsicheren Überlieferung etwa im 7. Jahrhundert v. Ch.) sein dualistisches Weltbild vom Kampf zwischen Gut und Böse. In Palästina traten die großen Propheten auf, in Griechenland die großen Philosophen Parmenides (540-450 v. Ch.), Heraklit (540-480), Sokrates (470-399), Plato (427-337) und Aristoteles (380-322). " Die geistigen Strömungen und Umwälzungen vollzogen sich mit geringen Zeitunterschieden und unabhängig voneinander und ohne daß man voneinander wußte. Diese Tatsache erscheint als ein Zufall, sollte jedoch als das Aufbrechen einer neuen, zum Licht drängenden Knospe am Baum der Evolution - um dieses Bild zu gebrauchen - gesehen werden, worauf noch einmal später zurückzukommen sein wird. Allen diesen Denkern, die das sittliche Verhalten des Menschen durch Normen und Gesetze festzulegen bestrebt waren, war das Bewußtsein des Sittlichen in irgendeiner Form gemeinsam. Ein Bewußtsein von dessen Naturgesetzlichkeit oder Zwangsläufigkeit dürften sie indessen wohl nicht gehabt haben. Aus ihnen heraus ragt Sokrates durch eine ihm gelingende Entdeckung, die von der professionellen Philosophie als wissenschaftlich angesehen und anerkannt wird. Sokrates entdeckt in sich eine Stimme, den "Deimonion", die ihm sagt, was recht und unrecht sei. Es ist das Gewissen. Er gelangt mit dem Begriff des Gewissens zur Rückführung seines persönlichen Falles auf das Allgemeine. Es ist die Methode der Abstraktion, die in der heutigen Wissenschaft allgemein angewendet wird, mit der er zeigt, wie man aus den zugestandenen Sätzen des Alltages allgemeine Prinzipien entdeckt, die in unserer Vernunft stecken und die wir verwenden. Die philosophische Wissenschaft hat noch bis in den Anfang dieses Jahrhunderts von dieser sokratischen Entdeckung gesagt, daß der Philosophie mit ihr ein unschätzbarer Dienst erwiesen worden sei, weil Sokrates damit die fundamentalen Voraussetzungen für die Möglichkeiten einer Philosophie des moralischen Sollens geschaffen habe. Denn er habe seine Schüler und die Menschen auf die Selbstbestimmung verwiesen, um zum Prinzip des "Guten" zu gelangen,
I. Versuche zur Begründung des Sittlichen
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und habe damit den Grund zu einer selbständigen Ethik als Wissenschaft gelegt. Weiterhin wurde aus der sokratischen Erkenntnis gefolgert, daß, wenn die Prinzipien des "Guten" durch Rückführung auf den menschlichen Geist, d. h. auf die Vernunft gewonnen werden, damit zum Ausdruck komme, daß das Gesetz des sittlichen HandeIns nicht durch Beobachtung der Natur zu erkennen sei. Denn das, was als die Voraussetzung aller unserer Urteile anerkannt werde und anerkannt werden müsse, bestehe schon unabhängig von allen Tatsachenbeobachtungen, habe also apriorischen Charakter. Aus dieser Ansicht klingt der Optimismus heraus, daß damit der Weg für eine deduktive Begründung der Gesetze des So liens eröffnet sei. Diesem Optimismus hat H. Reichenbach (1891-1953) widersprochen, indem er gesagt hat, daß sich aus den Gesetzen des Seins die Gesetze des So liens nicht ableiten lassen, wobei er aber im Unklaren ließ, welche Seinsgesetze er im Auge gehabt hat, solche des transzendentalen Bereiches - sofern es solche gibt - oder Naturgesetze. Verglichen mit der Entdeckung des Sokrates sind die Beiträge seines Schülers Plato und dessen Schülers Aristoteles keine Erkenntnisse ähnlicher Tragweite, sondern höchstens Beschreibungen des Wesens des Ethischen, Ausbau ethischer Begriffe und der ethischen Forderungen an den Menschen und haben deshalb auch keine ähnlich große erkenntnis-theoretische Bedeutung. Auf das Verhalten der Menschheit - und dies muß im Zusammenhang mit den nachfolgenden Betrachtungen besonders betont werden - sind sie ohnedies nur von der gleichen bescheidenen Wirkung geblieben wie alle Morallehren früherer oder späterer Denker und sonstiger Vorbilder des moralischen Verhaltens .
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Sokrates hat zwar durch seine Entdeckung ans Licht gebracht, wie der Mensch zu einem Wissen über das, was "gut" und "böse" ist, gelangt, aber er begnügte sich nur mit dem Wissen um die "Tugend", um das Rechte, und war der Auffassung, daß allein das Wissen schon tugendhaft mache. Er ließ völlig außer acht, daß dies nicht mehr zutrifft, wenn der Wille zur Tugend fehlt. Die brennende Frage der Ethik, nämlich die nach übernatürlichen Sanktionen ethischer Grundsätze, hat in der Folgezeit die Geister immer wieder beschäftigt und veranlaßt, danach zu forschen. Baruch Spinoza (1632-1677) bemühte sich um eine Ethica more geometrico demonstrata - eine Ethik, die so schlüssig zu beweisen wäre wie ein Satz geometrischer Theoreme. Spencer (1820-1909), ein Zeitgenosse Darwins, hatte an einer Theorie der evolutionistischen Ethik zu arbeiten begonnen. Aber seine Darstellung, die viele seiner Zeitgenossen beeindruckt hat, scheint das Problem auf den Kopf zu stellen durch seine Auffassung, daß eine ethische Lebensführung eine solche ist, die das Leben und damit den Evolutionsfortschritt fördert. Bekanntlich haben Spencers Anschauungen den keineswegs moralischen Sozialdarwinismus hervorgebracht.
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I. Eine Bestandsaufnahme
Noch vor dem Aufkommen der Darwinschen Evolutionslehre hat sich Kant in seiner Morallehre sehr eingehend mit dem Problem befaßt, wie das Gesetz des sittlichen HandeIns auszusehen habe, worauf Sokrates eine Antwort schuldig geblieben war. Die Moralphilosophie Kants startet von einem Niveau von Voraussetzungen, das die spätere Forschung über die Herkunft des sittlichen Bewußtseins und des auf ihm basierenden sittlichen HandeIns nicht mehr befriedigt hat. Nach Kant ist ja das Sittengesetz dem Menschen durch Geburt mitgegeben, hat also apriorischen Charakter. Aber was ist das Apriorische, das seit Kant in einer Weise hingenommen wurde, wie etwa das dem Mythischen verhaftete Altertum in geographischer Hinsicht die Säulen des Herkules betrachtet hat, hinter denen sich Unergründbares verbarg. Lange Zeit hat man seit Kant in der Philosophie zum Apriorischen als einer ewig bestehenden axiomatischen Ausgangsbasis Zuflucht genommen, um einen Startpunkt für die Behandlung philosophischer Probleme zu haben. Bekanntlich hat Konrad Lorenz in seiner 1941 erschienenen Schrift "Kants Lehre vom Apriorischen im Licht gegenwärtiger Biologie" (Blätter f. deutsche Philosophie, 15, 1941. S. 44-125) als einer der ersten eine Bresche in diese Denkweise geschlagen, in welcher der menschliche Geist allrnähIch zu einem Teil des "absoluten" Geistes hochstilisiert und außer acht gelassen worden war, daß dieser Geist Natur ist und auf natürlichen Funktionen beruht. Kant geht vom guten Willen aus und sagt: "Es ist überall nichts in der Welt, ja außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille." So wenig bestreitbar und so objektiv diese Aussage ist, beantwortet Kant die Frage nicht, woher der gute Wille kommt, ob er ohne weiteres gegeben ist und ob er, wenn er vorhanden ist, sich auch zu sittlichen Handlungen durchsetzen kann. Weiterhin sagt er: "Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.h. nach Prinzipien zu handeln, oder hat einen Willen. Wenn zur Ableitung der Handlungen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische Vernunft." Da diese Aussage nur den Menschen betrifft, von dem Kant konstatiert hat, daß er ausschließlich im Besitz des Ethischen sei, daß er allein kognitive und normative Eigenschaften habe und daher einzig zu unterscheiden vermöge, was er tun und nicht tun solle, kann ihr auch nicht widersprochen werden. Kant setzt außer dem Sittengesetz auch die Vernunft voraus (letzteres impliziert an sich das erstere). Auch hier bleibt die Frage unbeantwortet, woher der Mensch, wenn er sich wie ein vernünftiges Wesen verhält, die Vernunft hat. Warum verhält sich der eine vernünftig und der andere nicht? Wieso können sich Menschen zu den höchsten Höhen moralischen Bewußtseins hinaufentwickeln und zu entsprechendem Handeln entschließen und
2. Beginn einer Erfahrungsphilosophie des Ethischen
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andere, die der gleichen Zeitepoche angehören, in moralische Untiefen abgleiten, was wir tagtäglich durch alle möglichen Informationen gewahr werden? Das krasse Gefälle zwischen höchster geistiger und ethischer Höhe einerseits und der bisweilen Grauen erregenden, abgrundgleichen Tiefe primitivster menschlicher, vonjeglicher Sittlichkeit freier Regungen andrerseits ist das Problem des menschlichen Zusammenlebens bis auf den heutigen Tag geblieben, das weder von Religion noch Moralphilosophie bisher geklärt oder gelöst werden konnte. So hat auch in der Wirklichkeit des Lebens der von Kant geschaffene Begriff des kategorischen Imperativs höchstens formale Gültigkeit und Bedeutung. Der kategorische Imperativ versagt angesichts der Beschaffenheit der menschlichen Natur täglich, obgleich er Kants Zeitgenossen und spätere Generationen mächtig beeindruckt hat. Der Wirklichkeit kommt vielleicht der ebenfalls von Kant geschaffene hypothetische Imperativ'näher; denn er läßt offen, ob der Mensch immer die Vernunft für sittliches Verhalten besitzt, und besagt lediglich, daß er zum sittlichen Handeln unter der Voraussetzung fähig ist, daß er dazu willens ist. Die Herkunft des sittlichen Bewußtseins und ob es zwangsläufig, d. h. von Natur aus im Menschen vorhanden ist, bleibt auch durch Kant unbeantwortet, ebenso die Frage nach den Ursachen des so häufigen sittlichen Versagens des Menschen.
2. Beginn einer Erfahrungsphilosophie des Ethischen (A. Schopenhauer; F. Nietzsche; L. Nelson) Die Schwierigkeit des Fragenkomplexes drängt sich den Philosophen des 19. Jahrhunderts immer mehr auf. Zu den zentralen Figuren der Behandlung des Problemes werden Schopenhauer (1788-1860) und Niet1.sche (18441900). Schopenhauer hat mit großer Intuition die Schwächen der überlieferten Moralphilosophie in seiner Schrift" Ober die Grundlage der Moral" und im Besonderen in "Kritik des von Kant der Ethik gegebenen Fundaments" letzteren, dem er sonst höchste Achtung zollte, schonungslos kritisiert. Er nennt den kategorischen Imperativ "ein bequemes Ruhekissen, auf dem die Ethik seit Kant sich ausruht". Er sagt: "In unseren Tagen jedoch wird dieser meistens unter dem weniger prunkenden, aber glatteren und kurrenteren Titel des Sittengesetzes eingeführt, unter welchem er nach einer leichten Verbeugung von Vernunft und Erfahrung unbesehen durchschlüpft". Das Ruhepolster sei immer breiter getreten worden, so daß sich auf ihm jetzt Esel wälzten. Schopenhauer kündigt als Programm seiner genannten Schrift das Vorhaben an, "den kategorischen Imperativ als völlig unberechtigte, grundlose und erdichtete Annahme nachzuweisen und darzutun, daß
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I. Eine Bestandsaufnahme
auch Kants Ethik eines soliden Fundaments ermangelt"'. Schon Schopenhauer räumt mit den verschwommenen Begriffen wie "Idee des Guten" und "Idee des Bösen" auf und zeigt, daß diese Ideen nicht apriorisch gegeben sind, sondern aus der täglichen Erfahrung des Menschen im Umgang miteinander stammen: "Alles, was den Belangen irgendeines individuellen Willens (eines Menschen) gemäß ist, heißt in Beziehung auf diesen "gut" : gutes Essen, gute Wege, gute Vorbedeutung; das Gegenteil schlecht, bei belebten Wesen böse". In Ergänzung Schopenhauers läßt sich diese Kritik auch auf andere in die Moral eingeführte Begriffe, wie gerecht und ungerecht, sozial und unsozial u. a. ausdehnen. Was ist z. B. Gerechtigkeit im soziaen Leben, wenn schon die Natur "ungerecht" ist und ihre Gaben an den Menschen ungleich verteilt und - um nur ein Beispiel zu nennen - den einen gesund oder begabt zur Welt kommen läßt, den anderen als Behinderten oder wenig begabt? Die im sozialen Leben bestehende Sucht, eine absolute Gerechtigkeit zu schaffen, die eine metaphysische Idee ist, und alle Menschen in den Genuß gleicher Rechte und Güter zu bringen, läßt sich in der harten Wirklichkeit so wenig realisieren wie der Ausgleich der naturgegebenen Anlagen der Menschen. Schopenhauer bezeichnet die bis zu seinem Auftreten unternommenen Versuche, eine Ethik zu begründen, als künstliche Begriffskombinationen, geeignet in Hörsälen den Scharfsinn zu üben, und erteilt den Ethikern den Rat, sich ein wenig im Menschenleben umzusehen. Hier würden sie erkennen, daß Strafgesetze und öffentliche Meinung den Menschen in Schranken halten und zu einem ethischen Verhalten zwingen. Denn der Mensch ist von Natur aus egoistisch. Der Egoismus ist die Triebfeder alles seines Denkens und HandeIns. Er bewirkt einen stillen Krieg aller gegen alle. Schopenhauer gründet seine ethischen Anschauungen rein auf Erfahrung, d. h. auf die Beobachtung des menschlichen Verhaltens, nach welchem die Grundtriebfeder des HandeIns der Egoismus ist. Schopenhauer könnte somit als einer der ersten Verhaltensforscher gelten - mit dem Unterschied von den heutigen Verhaltensforschern, daß er sich nur auf das menschliche Verhalten beschränkt hat, während die heutige Verhaltensforschung alle Lebewesen in ihre Untersuchungen einbezieht. Als weitere Triebfedern außer dem Egoismus, der nur das eigene Wohl will und grenzenlos ist, nennt er die Bosheit, die das fremde Wehe will und bis zur Grausamkeit gehen kann, und - als ethisch positiv zu werten - das Mitleid, welches das fremde Wohl will und bis zum Edelmut und zur Großmut reichen kann. Egoismus läßt sich gewiß noch aus dem durch die Natur dem Menschen gegebenen Selbsterhaltungstrieb erklären, der zur Aufrechterhaltung seines 1 Offenbar hat Schopenhauer hier Kant mißverstanden. der die Ethik als eine Notwendigkeit zu begründen versuchte. die zwangsläufig aus der Vernunft folgt. während Schopenhauer die Genese des dürftigen moralischen Verhaltens des Menschen kausal zu erklären unternahm.
2. Beginn einer Erfahrungsphilosophie des Ethischen
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Lebens - wenn auch nur bis zu gewissen Grenzen - geradezu unabdingbar ist. Die Aufklärung der Herkunft der beiden anderen Triebfedern bereitet dagegen Schwierigkeiten. Sie scheinen nicht nur im biologischen Bereich zu liegen. Es ist ja auch auffallend, daß sie von der Verhaltensforschung bislang kaum behandelt wurden und werden. Zwar beschäftigt man sich dort ("Liebe und Haß"; Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Ser. Piper, München 1976) mit dem Haß. Haß allein ist aber noch keine Bosheit, sondern letztere entsteht dadurch, daß ersterer sich mit Hilfe des Geistes in Bosheit verwandelt. Aus Haß kann der menschliche Geist bis an Sadismus grenzende Untaten erfinden, mit denen er anderen Artgenossen Leid zufügt und sich am fremden, von ihm erzeugten Leid bis zur Unersättlichkeit ergötzt. Aus der Welt der - soweit wir es bis heute wissenschaftlich vertreten können - mit wenig Geist ausgestatteten Tiere ist etwas Derartiges nicht bekannt. Bosheit muß demnach durch ein Zusammenwirken von Emotion und Geist entstehen. Auf die Herkunft des Mitleids als Triebfeder ethischen Verhaltens soll erst später eingegangen werden. Schopenhauer hat sich bei seinem Versuch, die Ethik ausführlich zu begründen, nur auf Erfahrung gestützt und jegliche metaphysischen Ausschweifungen vermieden. Entsprechend dem damaligen Stand seiner Wissenschaft konnte er nicht tiefer in die Grundlagen des Ethischen eindringen, wenn auch seine starke Intuition ihn schon auf einen weiter verfolgbaren Weg gelenkt hat. Vielleicht fragt sich der Leser, ob es nach den vorangegangenen Ausführungen noch angebracht ist, Friedrich Nietzsche überhaupt zu erwähnen. Nietzsche stellt aber gewissermaßen den Höhepunkt einer Entwicklung dar, in weIcher die Vorstellung von einem metaphysischen Urgrund des Sittlichen schon stark in Zweifel geraten ist. In seiner Schrift "Jenseits von Gut und Böse" unterzieht er die beiden herkömmlichen Begriffe einer starken Kritik und gibt der Philosophie einen neuen großen Anstoß, indem er als erster die seit dem "Sündenfall von Adam und Eva" bestandenen Begriffe von "Gut" und "Böse" als verschwommen bloßstellt. Die Erkenntnis, nichts über diese Begriffe zu wissen, eröffnet den Weg zu einem Wissen über sie. In seiner weiteren Schrift "Zur Genealogie der Moral" befaßt er sich mit der Entwicklungsgeschichte der letzteren. Er verurteilt die zu seiner Zeit besonders unter den englischen Psychologen in Gange gekommene Moralgenealogie als Stümperei, weil sie im wesentlichen unhistorisch sei. Nach der heute gültigen Auffassung von der Evolution des Lebens und der Kultur und besonders nach den Ergebnissen einer der jüngsten Wissenschaften, der Verhaltensforschung, auf die noch später zu kommen sein wird, muß anerkannt werden, daß die Kritik Nietzsches berechtigt war, wenn er auch noch keinen positiven Beitrag zur Erweiterung unserer Erkenntnis zu leisten vermochte. Er sprach von der "Sittlichkeit der Sitten" als einem System von Normen,
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I. Eine Bestandsaufnahme
welches die Herrschenden der Welt eingeführt und zur Konvention gemacht hätten. Dadurch sei - wir gebrauchen sein Wortspiel - die "Sitte der Sittlichkeit" entstanden, ein Gedanke, der einen gewaltigen Einbruch in das Denken seiner Zeit bewirkte, diese aber zunächst verunsichert hat. Nietzsches Lehre von der Umwertung aller Werte, die sehr anspruchsvoll klingt, enthält die These des Wertrelativismus und wurde Anlaß zur Entstehung einer Wertphilosophie, d. h. zur Untersuchung des Fragenkomplexes, weIche Wert es gibt, die als sittlich erachtet werden und als erstrebenswert gelten können. In den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts wird noch einmal von dem Göttinger Philosophen Leonard Nelson der Versuch unternommen, ein Sittengesetz deduktiv zu begründen. Er ist sich dabei der Schwierigkeit seines Unternehmens bewußt, bei dem er - sich an Kant anlehnend und anknüpfend - mit größter wissenschaftlicher Vorsicht zu Werk geht. Nelson spricht schon vor Reichenbach den Satz aus: "die Unmöglichkeit, den Begriff des Sollens auf das Sein zurückzuführen, hat nicht nur die Unmöglichkeit einer deduktiven Begründung der Ethik zur Folge, sondern die Unzurückführbarkeit ethischer Urteile auf Seinsurteile überhaupt, mögen diese empirischen oder rationalen Ursprungs sein. Hieraus folgt, daß ein Beweis ethischer Prinzipien überhaupt unmöglich ist"; und weiter: "die ethischen Prinzipien lassen überhaupt keinen Beweis, d. h. Zurückführung auf logisch höhere Prinzipien zu. Ein Grund sittlicher Verbindlichkeit läßt sich nicht angeben." Nelson ist der Auffassung, daß wir uns der ethischen Erkenntnis nicht unmittelbar bewußt sind, sondern zum Bewußtsein ethischer Wahrheiten nur durch Nachdenken gelangen. Die unmittelbare ethische Erkenntnis sei jedenfalls keine Anschauung, sondern, wenn sie überhaupt existiere, eine ursprünglich dunkle Erkenntnis. Die "dunkle Erkenntnis" ist nach Nelson gekoppelt mit einem Gefühl, das den Menschen beim ethischen Urteilen leite. Dieses Gefühl kann Pflichtgefühl, Rechtsgefühl, Gewissen, Takt oder sonst ein Gefühl sein. Aber einen unmittelbaren Bezug haben solche Gefühle auf das Sittengesetz nicht. Es besteht kein Anlaß, und hier ist auch nicht der Platz, auf die von Nelson weiter entwickelten Gedanken einzugehen, weil er zu keinem Ergebnis kommt, das uns über die Herkunft eines Sittengesetzes allzu viel mehr Aufklärung gebracht hat als die Behandlung des Problems durch seine philosophischen Vorgänger. Bemerkenswert ist aber, daß er den Schluß zieht, daß es einer auf Erfahrung gegründeten Theorie bedarf, um den Beweis einer reinen praktischen Vernunfterkenntnis zu führen, und zwar durch eine wissenschaftliche Methode, die sich nicht mit äußerer, sondern mit innerer Erfahrung befaßt. Die Wissenschaft von innerer Erfahrung ist aber die Psychologie. Wenn Schopenhauer als erster sich vom Versuch einer metaphysischen oder logischen Begründung der Moral losgesagt hat und mit seiner Mitleids-
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theorie in den psychischen Bereich vorgestoßen ist, so schlägt Nelson die gleiche Richtung ein. Der psychische Bereich ist schon Natur, zählt doch die Psychologie aus Gründen der Methodik einer beobachtenden Wissenschaft bekanntlich zur Naturwissenschaft. Beide Philosophen kommen wohl als erste zwangsläufig zur Erkenntnis, daß sich Moral mit rationaler Methodik allein nicht begründen läßt und es hierzu der Mithilfe der Wissenschaften von der gesamten Natur des Menschen bedarf - in Bestätigung eines Anspruchs von Paul Thiry d'Holbach (.. System der Natur" Aufbau-Verlag Berlin & Weimar) .. man wird sich stets irren, wenn man der Moral eine andere Basis als die Natur des Menschen geben will; eine festere und gewissere Basis kann es nicht geben".
3. Die Wertphilosophie (M. Scheler; Nicolai Hartmann) Die Ethik und alle mit ihr zusammenhängenden Fragen sind in der Folgezeit Gegenstand umfangreicher philosophischer Überlegungen bis heute geblieben - insbesondere schon deshalb, weil die zwiespältige Natur des Menschen mit ihrem oft unvorhersehbaren Hin- und Herschwanken zwischen den beiden konträren Verhaltenspolen, die aus Gewohnheit als .. gut" und .. böse" bezeichnet wurden, das philosophische Denken stets neu angefacht hat. Zu einem befriedigenden Erkenntnisstand ist man indessen bis in die jüngste Vergangenheit nie gelangt, wenn auch neue Gedanken weiterführende Denkanstöße gegeben haben. Ein solcher Denkanstoß war das Rütteln an den Begriffen ..gut" und .. böse", das im Lauf des 19. Jahrhunderts begonnen hatte. Er hat die Philosophie auf ein neues Betätigungsfeld, die Wertethik, geführt, deren markanteste Vertreter Max Scheler (1874-1928) und Nicolai Hartmann (1882-1950) sind.
Max Sehe/er. Sein erstes Werk, eine Sammlung von Vorlesungen und Aufsätzen, trägt den Titel .. Vom Umsturz der Werte" - wahrscheinlich angeregt durch Nietzsches .. Umwertung aller Werte" - der jedoch bei Scheler radikaler klingt als bei Nietzsche. Aber irgendwie muß bei Scheler trotz seiner stark konservative Züge tragenden christlichen Religiosität der Zweifel am Absolutheitscharakter der Begriffe ..gut" und .. böse" aufgekommen sein, wie er auch andrerseits an der vornehmlich von Kant entwickelten sogenannten formalen Ethik wegen ihres theoretischen Charakters und ihrer Lebenspraxisferne kein Genügen findet. Sein Hauptwerk .. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik" stellt einen philosophiewissenschaftlichen Fortschritt dar, indem er die Vorstellung des absolut Guten oder Bösen auch als reiner Geisteswissenschaftler verläßt, ..gut oder böse nie in der begrifflich angebbaren Eigenschaft eines Menschen bestehe, wie dies alle jene anzunehmen schienen, welche die Guten und Bösen wie Schafe und Böcke nach angebbaren wirklichen, der Vorstellungswelt angehörigen
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I. Eine Bestandsaufnahme
Merkmalen sondern wollten, was gewissermaßen die ewig kategoriale Form des Phariäismus ausmacht". Die Ethik sei vielmehr mit dem Reich der Werte verbunden. Menschliches Streben hat nach Scheler ein nicht notwendig klar erkanntes Ziel. In jedem Ziel liegt ein Wert. Der Mensch strebt immer nach Werten. Die Werte hält Scheler für absolute, für sich bestehende unabänderliche Wesenheiten. Veränderlich sind nur unsere Erkenntnis von ihnen und unser Verhältnis zu ihnen. Es gibt "positive" und "negative" Werte, die alle miteinander ein unveränderliches Reich von Wesenszusammenhängen bilden, aber in ihrem Rang doch wesentlich differenziert sind, wie schon aus den Begriffen Personenund Sachwerte deutlich wird. Die Schelersche Wertethik soll von den philosophischen Zeitgenossen begrüßt worden sein - einmal als Neuorientierung der Wissenschaft in ihren Bemühungen um die Fundierung der Ethik, zum andern weil man sich allmählich der Unergiebigkeit der im Anschluß an Kant im 19. Jahrhundert betriebenen Erkenntnistheorie bewußt und dieser überdrüssig geworden war. Zudem war einem wachsenden Kreis von Philosophen die Unhaltbarkeit der Begriffe des Guten und Bösen in ihrer bis dahin unpräzisen Wesensbestimmtheit offenkundig geworden. Aber im Hinblick auf die Klärung des Problems der Herkunft des sittlichen Bewußtseins stellt sie keinen Fortschritt dar. Scheler ist mit seinem Denken in eine Richtung ausgewichen, die wohl von den alten unhaltbar gewordenen Begriffen hinwegführte, aber an deren Stelle sich zu einer neuen dogmatischen Aussage verstieg, daß die Werte absolute, für sich bestehende unabhänderliche Wesenheiten darstellen sollen. Werte sind doch mit dem menschlichen Handeln verbunden,ja - wie Scheler selbst sagt - Ziele menschlichen Strebens. Ohne dieses sind sie bedeutungslos. Menschen können beim Anpeilen des gleichen Wertziels durchaus verschieden handeln. Die Verschiedenheit des HandeIns bestimmt aber die Größe des sittlichen Gehalts der Handlungsweise, wie aus vielen Beispielen des alltäglichen Lebens und der Geschichte nachweisbar ist. Wohl lassen sich verschiedene Werte in ihrer Bedeutung für eine sittliche Lebensführung in eine Wertskala einordnen, z. B. materieller Besitz, berufliche Stellung, Einsatz für karitative und soziale Aufgaben, Opfer für eine "gute Sache", Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens durch künstlerische und sonstige kulturelle Beiträge und dgl. mehr. Aber beim Einsatz des Menschen für diese Werte können Wille, dessen Beschaffenheit als guter Wille nach Kant allein für sittliches Handeln charakteristisch sein soll, Motive und Handlungsweisen durchaus verschieden sein. Nach dem Wahlspruch "der Zweck heiligt die Mittel" kann der Weg, der zu einem Wert führen soll, bisweilen bedenklich, möglicherweise sogar unsittlich sein. Es besteht z. B. ein Unterschied, ob materieller Besitz, der an sich nicht verwerflich ist und in eine Wertskala eingeordnet werden kann, durch fleißige Arbeit und Spar-
3. Die Wertphilosophie
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samkeit oder durch Betrug, Raub oder Diebstahl erworben wird; ober ob die Mitarbeit an einer sozialen Aufgabe, das Spenden von Geld für eine solche um der Sache willen oder zur Gewinnung gesellschaftlichen Ansehens geschieht. Wie viele Menschen sind schon oft nach Erreichung eines Wertzieles mittels Anwendung fragwürdiger Mittel angesehene Mitglieder der menschlichen Gesellschaft geworden, weil sie von dieser nach dem erreichten sozialen Stand und nicht nach der Art der Methoden, die sie für diesen angewendet haben und die ihnen auch nicht bekannt waren, beurteilt wurden. Die Wertethik trägt einmal in keiner Weise zur Aufklärung der Herkunft des sittlichen Bewußtseins bei, liefert kein Gesetz des sittlichen Handeins, noch charakterisiert sie zuverlässig den sittlichen Zustand des Menschen, der nach Werten strebt. Die Natur des Menschen ist in ihr unberücksichtigt. Scheler scheint sich auch dieser Unvollkommenheit seiner Philosophie in seinen späteren Lebensjahren bewußt geworden zu sein, in denen er begonnen hat, sich mit dem unbekannten Wesen Mensch mehr und mehr zu befassen und dadurch - wie auch in seinem Fachkreis später anerkannt wurde - zum Begründer der philosophischen Anthropologie geworden ist. Seine Anthropologie befaßt sich jedoch - man denke an sein umfangreiches Werk "Vom Ewigen im Menschen" in gleicher Weise, wie seine Wertethik sich auf den positiven Ast der Wertskala erstreckt (was schließlich gerechtfertigt ist, da sittliche Werte schon ihrem Wesen nach nicht wiemathematische Größen negativ quantifizierbar sein können) vornehmlich mit demjenigen Teil der menschlichen Natur, die frei von dem ist, was landläufig als böse bezeichnet wird. Warum es "böse" menschliche Handlungen gibt, wird kaum untersucht und auch keine Erklärung dafür gegeben. Einen erkenntnistheoretischen Beitrag bringt seine materiale Wertethik allein schon deswegen nicht, weil sie die Doppelnatur des Menschen außer acht läßt.
Nicolai Hartmann. Im Vorwort zu seinem großen Werk "Ethik" schreibt Nicolai Hartmann: "Die Philosophie des 19. Jahrhunderts erschöpft sich in der Analyse des sittlichen Bewußtseins und seiner Akte. Um den objektiven Gehalt sittlicher Forderungen, Gebote und Werte sich zu bekümmern, lag ihr fern" und weiter in bezug auf die Wertehtik Schelers: "Indem die materiale Wertethik dem Blick die Tore des Wertreiches öffnete, vollzog sie mit der Tat die Synthese zweier auf sehr verschiedenem Boden geschichtlich gewachsener und im Gegensatz zueinander zugespitzter Grundgedanken: die Kantsche Apriorität des Sittengesetzes mit der nur eben von Ferne erschauten Wertmannigfaltigkeit Nietzsches. Denn Nietzsche sah als erster wieder die reiche Fülle des ethischen Kosmos, aber sie zerfloß ihm im ethischen Relativismus; Kant dagegen hatte in der Apriorität des Sittengesetzes das Wohlerwogene und gereinigte Wissen um die Absolutheit ethischer Maß-
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I. Eine Bestandsaufnahme
stäbe, es fehlte ihm nur die inhaltliche Schau und die Weite des Herzens, die diesem Wissen erst seinen vollen Wert gegeben hätten. Die materiale Wertethik ist die geschichtliche Wiedervereinigung des der Sache nach von Anbeginn Zusammengehörigen. Sie gibt dem ethischen Apriorismus seinen ureigenen reichen Gehalt wieder, dem Wert bewußtsein aber die Gewißheit invariablen Gehalts inmitten der Relativität menschlicher Wertung". Mit diesen Sätzen Hartmanns sind die Grenzen des erkenntnistheoretischen Bereichs seiner philosophischen Ethik bereits abgesteckt. Auf der einen Seite ist er durch die Anerkennung der Apriorität des Sittengesetzes begrenzt, auf der anderen Seite ist er offen zum weiteren Ausbau der von Scheler schon begonnenen Philosophie der materialen Wertethik. Nach Kant ist das .,Sittengesetz ein Faktum der Vernunft", nach Hartmann das sittliche Bewußtsein eine unbestreitbare Tatsache im Menschenleben. Damit ist für beide die Basis ihrer Moralphilosophie gegeben. Die Jahrtausende alte Erfahrung in der Menschheitsgeschichte und die alltägliche im Leben eines jeden Menschen, nach welcher der Mensch in bestialische und in Chaos erzeugende Verhaltensweisen sinken kann und immer wieder sinkt, wird dabei - so scheint es - völlig außer acht gelassen. Demgegenüber ragt das christliche Fundament der Sittlichkeit wie ein allein stehender schmaler Felsen aus dem Meer der gegen ihn anstürmenden Wogen der Untaten von einzelnen und ganzen Völkern,die zu allen Zeiten begangen wurden und noch weiter begangen werden. Warum? Darüber geben alle Ethikphilosophen bis heute keine Antwort. Ihnen genügt offenbar, daß es immer wieder Regungen zum .,Guten" gegeben und die menschliche Geschichte eigentlich im großen und ganzen einigermaßen funktioniert hat. Beides, sowohl die Behauptung des Faktums eines sittlichen Bewußtseins als auch die geschichtlich überlieferte Erfahrung, daß die Menschheit trotz das sittliche Empfinden verletzender Vorgänge und Katastrophen bis heute überlebt hat, wird belegt durch die Normen, die das Zusammenleben der Menschen in sozialen Verbänden geregelt haben - ungeachtet der Tatsache, daß die Normen von Verband zu Verband und von Volk zu Volk, ebenso wie die Moralsysteme, verschieden waren und sich im Lauf der Geschichte mehr oder weniger geändert haben. Die Anerkennung der erkenntnistheoretisch nicht überschreitbaren Grenze der Apriorität des Sittengesetzes durch die geisteswissenschaftliche Ethik-Philosophie hat der letzteren keine andere Expansionsmöglichkeit ihres Forschens und Denkens übrig gelassen als nur den Ausbau der Wertphilosophie. Denn aus weIcher Erfahrungswissenschaft hätten zur Zeit Schelers und Hartmanns Erkenntnisse und Anregungen zur erkenntnistheoretischen Behandlung ethischer Probleme gewonnen werden können? Der Bestand an Gegebenheiten, weIche vor allem die menschliche Natur mit ihren so mannigfaltigen Eigenschaften hätten einbeziehen müssen, war noch
3. Die Wertphilosophie
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gering. Von dieser Seite konnte höchstens die zu ihrer Zeit noch nicht sehr alte wissenschaftliche Psychologie einiges beitragen. Hiervon abgesehen hat bei der zunehmenden Spezialisierung auf allen Wissensgebieten die Bereitschaft und Fähigkeit - selbst in der Philosophie, die in früheren Zeiten einmal das schirmende und alle Wissensgebiete überdeckende Dach der Wissenschaft gebildet hatte - abgenommen, die Ergebnisse möglichst vieler Nachbardisziplinen zu einem einheitlichen Weltbild zu verarbeiten. Manches Problem konnte so nicht gelöst werden und wurde als Scheinproblem weiter geschleppt und blieb als solches bestehen. Ein derartiges Pro blem ist bekanntlich die Frage der Willensfreiheit, an dem sich immer wieder Denker versucht haben wie die nie abreißende Zahl der Erfinder eines Perpetuum Mobile. Besonders der Riß zwischen Geistes- und Naturwissen~ schaften, der sich mehr und mehr vertieft hat, hat hierzu beigetragen (vgl. "Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz"; Dialog über die "zwei Kulturen", hrsg. von H. Kreuzer, Stuttgart 1969). Aber selbst schon füt ein abgegrenztes Gebiet wie die professionelle Philosophie der sittlichen Werte bedauert N. Hartmann "die Enge des Gesichtskreises als Krebsschaden der Philosophie. Der Fehler aller "Ismen", - ob Rationalismus, Empirismus, Sensualismus, Materialismus, Psychologismus oder Logizismus - ist die Enge der Problemstellung. Überall wird die Mannigfaltigkeit des Problems verkannt und fälschlich über einen Leisten geschlagen. In der Ethik ist es nicht anders. Eudämonismus, Utilitarismus, Individualismus und ethischer Sozialismus sind genau ebensolche Einseitigkeiten, Fehler der zu engen Problemstellung auf Grund willkürlich beschränkender Auslese ethischer Phänomene". Hierzu könnte noch ergänzend bemerkt werden, daß ein durch Überlieferung zur Gewohnheit gewordener Fehler, der sich mit steigender Komplexität der durch die moderne Wissenschaft zu behandelnden Probeme besonders hemmend bemerkbar macht, das Bestreben ist, diese allzu gern monokausal zu erklären und zu lösen und die Welt nach einem einzigen Erklärungsprinzip zu verstehen. Abschließend kann gesagt werden: Die von Kant erklärte Apriorität des Sittengesetzes bleibt bei Scheler und Hartmann weiter etabliert. Die sittlichen Werte werden als Gegebenheiten, als "absolute Wesenheiten" deklariert und in eine Rangskala eingeordnet. Die Geschichtlichkeit der Wert bildung wird gar nicht in Betracht gezogen. Nachdem der seit zwei Jahrtausenden durch die christliche Religion gegebene feste, als absolut betrachtete Grund der Sittlichkeit ins Wanken geraten ist, wird ein neuer absoluter, d. h. apriorischer Grund als Ersatz gesucht, der als Ausgangsbasis für weiteres Denken dienen kann. Zu dem Apriorischen von Kant ist schon der absolute Geist bei Hegel getreten, zu denen nun noch die absoluten Wesenheiten der Werte bei Scheler und Hartmann kommen. Dieses Denken ist aber statisch, und die Werte sind invariant, weil dieser Philosophie der Gesichtspunkt der ständigen Entwicklung, d. h. - um es mehr philosophisch auszudrücken -
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I. Eine Bestandsaufnahme
des ständigen Umbruchs des Seins fehlt. Das Fehlen dieses Gesichtspunktes hat bekanntlich auch zu dem Entstehen der Krise beigetragen, in der befindlich die Philosophie heute angesehen wird (vgl. "Mythos Philosophie" v. Willy Hochkeppel, Verlag Hoffmann und Campe 1976). Verwunderlich ist dieser Zustand nicht, weil mit dem rein rationalen Denkrüstzeug, dessen sich die Philosophie allein immer bedient hat, eine weitere Aufbellung der Problematik nicht möglich sein konnte. Jede Wissenschaft - und im besonderen Maße gilt dies natürlich für die Erfahrungswissenschaften - greift für ihren Fortschritt zu neuen sich ihr bietenden Hilfsmitteln, seien es nur Anregungen, die oftmals aus Nachbargebieten stammen oder konkretere Neuerungen. So konnte die Atomphysik nach einer gewissen Stagnationsphase vor einigen Jahrzehnten erst durch die mathematischen Methoden der Quanten- und Wellenmechanik wieder einen entscheidenden Antrieb erhalten. Die experimentelle Chemie nahm nach Auffindung einer für die aromatischen Verbindungen geeigneten Strukturformel des Benzols durch A. Kekule einen gewaltigen Aufschwung. Die Medizin machte einen vorher ungeahnten Fortschritt durch die Einführung der Röntgenphysik in die Diagnostik. Merkwürdigerweise hat die Philosophie sich wenig mit den neuen Entdeckungen der Naturwissenschaften vertraut gemacht und die Entwicklung des Zweiges der Naturphilosophie den Spezialwissenschaften der betreffenden Disziplinen überlassen. Daß es zu dieser Abstinenz der Philosophie, die in den Jahrhunderten zuvor - allerdings bei dem in dieser Zeit geringeren Wissensumfang - eine das ganze Wissensgebiet umfassende Wissenschaft gewesen war, gekommen ist, liegt vielleicht daran, daß man diese zu Beginn ihres Aufkommens zuerst nicht als wissenschaftlich ebenbürtig erachtet· und, als diese sich weit entwickelt hatten, nicht mehr den Anschluß gefunden hat. So hat noch Kant der Chemie einen wissenschaftlichen Charakter abgesprochen, weil sie sich nicht der Mathematik, einer Wissenschaft des reinen Verstandes, bediene. Er würde seine Auffassung heute beträchtlich revidieren müssen. 4. Die Schichtenlehre (N. Hartmann)
Sieht man von Schopenhauer als einer der wenigen Ausnahmen unter den Philosophen ab, die sich nicht der Abstinenz von den Naturwissenschaften hingaben, so kann die Schichtenlehre von N. Hartmann als einer der ersten Fortschritte in Richtung des Zustandekommens eines Konsensus zwischen geisteswissenschaftlicher und Naturphilosophie aufgefaßt werden. Die Schichtenlehre befaßt sich mit dem Aufbau der realen Welt und bildet gewissermaßen das komplementäre philosophische Stück zur naturwissenschaftlich anerkannten Evolutionstheorie. Für Hartmann als Protagonisten des sog. kritischen Realismus ist die reale Welt weder total unerkennbar
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noch total erkennbar. Sie ist vielmehr bis zu einer bestimmten Grenze, die es festzustellen gilt, begrifflich erkennbar. Damit befindet er sich auf dem gleichen Boden wie die derzeitige Naturwissenschaft. Sein Bild vom Aufbau der realen Welt besteht aus vier Hauptschichten. Die beiden untersten Schichten, die der Dinge und physischen Prozesse einerseits, die des Lebendigen andrerseits, bilden zusammen den Bereich der räumlichen Außenwelt. Darüber liegt ein Reich der Unräumlichkeit. Es ist wiederum geteilt in zwei Schichten, die der seelischen Erscheinungen und die des Geistes. Zur ontologischen Bestimmung dieser Schichten entwickelt er eine Kategorienlehre. Die einzelnen Schichten sind durch die ihnen eigentümlichen Kategorien charakterisiert. Ihr Verhältnis zueinander ist zu bestimmen. Es gibt Kategorien, die allen vier Schichten gemeinsam sind, die sogenannten Fundamentalkategorien. Kritische Vorsicht hat zu walten, wenn versucht wird, die einer Schicht eigentümliche Kategorie auf eine andere Schicht zu übertragen. Hartmann vertritt die Ansicht, für die er einen Beweis nicht erbringen kann, daß man nicht wie der Materialismus es tut, Kategorien aus der untersten Schicht auf die geistige Schicht übertragen oder umgekehrt Kategorien aus der geistigen Schicht, entsprechend dem Vorgehen von Hegel, auf die unteren Schichten übertragen könne. Auch aus den mittleren Schichten lassen sich Kategorien und damit Erklärungen nicht auf die Nachbarschichten oberhalb und unterhalb übertragen. Mit solcher Willkür ließe sich die Welt vielleicht aus einem Prinzip erklären. Es würde aber kein Bild von der wirklichen Welt ergeben. An dieser Stelle muß schon die Frage eingeschaltet werden, auf die später noch zurückzukommen sein wird: Wer ist der "man", der die Kategorien überträgt oder nicht überträgt? Ist es der Denker, der Philosoph, der das Sein denkend überschaut und mit Kategorien ausstattet und diese aus Gründen der Klarheit fein säuberlich auseinanderzuhalten bestrebt ist? Oder ist der "man" die Evolution, die infolge der kategorialen Eigenschaft der Materie, sich selbst zu organisieren fortschreitet? Die Fundamentalkategorien gehen durch alle Schichten hindurch. Sie wandeln sich aber von Schicht zu Schicht. So sieht Hartmann die Determination in der untersten Schicht als Kausalverhältnis, im Bereich des Organischen sei sie von anderer Art. In der Naturwissenschaft, speziell in der Biologie, würde man bei dieser Schicht von Rückkopplungskausalität sprechen (s. u.). Im seelischen Bereich seien die Determinationsformen noch schwer oder vielleicht nie überschau bar. Hierzu schreibt auch Max Planck in "Wege zur physikalischen Erkenntnis": "In der Tat, es gibt einen Punkt, einen einzigen Punkt in der weiten unermeßlichen Natur- und Geisteswelt, welcher jeder Wissenschaft und daher jeder kausalen Betrachtung nicht nur praktisch, sondern auch logisch genommen unzugänglich ist und für immer unzugänglich bleiben wird: dieser Punkt ist das eigene Ich." Im geistigen
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I. Eine Bestandsaufnahme
Bereich erfolgen nach Hartmann Determinationen, welche das gesamte Tun einschließlich des sittlichen Wo liens und Handeins umfassen, vom Zweck her, sind also final. Die Schichtenlehre enthält durch die Vorstellung von einem zeitlichen Ablauf der Schichtenbildung, die Hartmann allerdings nicht so prägnant zum Ausdruck bringt, bereits ein Element des Evolutionsgedankens. Die Vorstellung der Schichten könnte der Geologie entnommen sein, in der der schottische Arzt James Hutton (1726-97) und der englische Vermessungsingenieur William Smith (1769-1839), die Pioniere dieser Wissenschaft durch den Gedanken wurden, daß sich die verschiedenen Gesteinsschichten unserer Erdoberfläche im Laufe langer Zeiten abgelagert haben. Für die Behandlung unseres Themas dürfte es überflüssig sein, auf die gesamte Kategorienlehre Hartmanns weiter einzugehen, insbesondere auf die fünf "Schichtungsgesetze", welche das übergreifen der einzelnen Kategorien, die für bestimmte Schichten typisch sind, in die Nachbarschichten und das Auftreten in dieser betreffen. Ebenso kann hier auf die Darstellung der Abhängigkeitsgesetze zwischen den einzelnen Schichten verzichtet werden, zumal sie eine schon weit getriebene Begriffsschematisierung im Stile scholastischer Denkweise beinhalten. Der Wert der Schichtenlehre mit ihrer Kategorialanalyse besteht darin, daß Hartmann mit ihr den Einheitscharakter der Welt demonstriert. Die Welt hat diesen Charakter nicht nach einem einheitlichen Prinzip, sondern durch ein geordnetes Gefüge, das dem Menschen innerhalb der Grenzen, in denen sich seine Erkenntnisfähigkeit bewegen kann, erkennbar ist. Auch hält Hartmann es für abwegig, hinter diesem Ordnungsgefüge noch einen letzten Weltgrund, ein allerletztes Prinzip oder einen persönlichen Gott zu suchen. Diese geisteswissenschaftliche Schau des Schichtenaufbaus des Seins deckt sich formal mit dem naturwissenschaftlichen Bild unserer durch die Evolution zustandegekommenen derzeitigen Welt. Ein bedeutender Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß die Schichtenlehre das Sein deutlich statisch sieht, was in Anbetracht der Kürze eines Menschenlebens oder der Zeitdauer der uns geschichtlich überlieferten Kultur zusammen mit den Denkgewohnheiten des Menschen verständlich sein mag. Die Evolutionslehre, welcher die Vorstellung des Schichtenaufbaus nicht entgegensteht, kennt dagegen keine Statik. Ihre Wesensgrundlage ist dynamisch. Aus der kurzen Darstellung des geschichtlichen Bestandes der im Laufe der Jahrhunderte zur Frage des Sittengesetzes geleisteten Denkarbeit dürfte offenbar geworden sein, daß die Suche nach einem Urgrund des sittlichen Bewußtseins noch zu keinem Erfolg geführt hat und auch nicht führen wird, so lange die Philosophie im statischen Denken verharrt.
11. Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Sittlichen und seine begriffliche Präzisierung
Das weitere philosophische Bemühen um die Frage der Herkunft des sittlichen Bewußtseins hat von der unumstößlichen Tatsache auszugehen, und ist auch von dieser bereits ausgegangen, daß das Sittliche an das menschliche Sein gebunden ist und der Mensch ein Lebewesen mit allen typischen Eigenschaften des Lebendigen ist. Dieses Lebewesen hat sich aus dem Urelement des organischen Lebens, der Zelle, entwickelt. Wenn der Mensch ein Ergebnis der Evolution ist, so ist die ihn im Leben begleitende Sittlichkeit es nicht minder. Die wissenschaftliche Aufklärung des Evolutionsgeschehens ist in den letzten Jahrzehnten ein gutes Stück vorangekommen, vornehmlich durch die großen Entdeckungen im biologischen Bereich. Erfolgreiche und weitere Erfolg versprechende Ansätze, auch hinter das Evolutionsgeschehen zu kommen, das zum Aufbau der psychischen und geistigen Strukturen und mit diesen zum Bewußtsein des Sittlichen geführt hat, sind gemacht worden. Noch klaffen zwischen den zahlreichen hierbei festgestellten Fakten große, unüberbrückbar erscheinende Lücken, an deren Schließung durch Theorie und Experiment allenthalben intensiv gearbeitet wird. Z. Zt. müssen diese noch durch Hypthesen, vor allem Arbeitshypothesen, für weitere Forschungen überbrückt werden, die bisweilen den Eindruck kühner Wagnisse hinterlassen. Das Ethische scheint sich einer wissenschaftlichen Aufklärung zu widersetzen, würde man sich nur mit einigen mehr oder weniger zusammenhängenden Feststellungen begnügen wollen, wie sie z. B. in den verschiedenen Veröffentlichungen aus dem Bereich der Verhaltensforschung zu finden sind und die vielfach über moralanaloges Verhalten im Tierreich berichten. Die Fülle der im deutschen und angelsächsischen Sprach bereich über dieses Gebiet veröffentlichten wissenschaftlichen Literatur ist hier schon so groß, daß auf die im Anhang zusammengestellte Übersicht über die Verfasser und die Titel ihrer Veröffentlichungen verwiesen werden muß. Aussagen, wie die von Kar! Popper, daß es wissenschaftlich keine Ethik geben könne, oder von C. Reichenbach, daß die Gesetze des Sollens nicht aus den Gesetzen des Seins ableitbar seien, klingen so apodiktisch, daß sich die Frage zwangsläufig stellt: Von welchen Gesetzen des Seins? Sind denn die für das Problem der Ethik in Frage kommenden Seinsgesetze in ihrer Gesamtheit überhaupt schon bekannt und ist man sich ihrer bewußt? Liegen hier nicht Aussagen
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11. Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Sittlichen
vor, die aus dem Blickwinkel des Spezialwissenschaftlers gemacht werden, der an solche Gesetze denkt, die entweder nur mit den Mitteln der Logik aus unumstößlichen Grundtatsachen, den Axiomen ableitbar sind, oder an elementare Naturgesetze, die durch die Erfahrungswissenschaften - vor allem Physik und Chemie oder auch Psychologie - gewonnen wurden? Denn Reichenbach konnte doch seine These nur in der Gewißheit gewagt haben, daß er die Seinsgesetze in ihrer Gesamtheit kennt. In der Vorstellung dieser Gewißheit ist bereits Leonard Nelson auf "die evolutionistische Ethik" eingegangen. Schon früher hatte man begierig den Gedanken der Begründung einer evolutionistischen Ethik aufgegriffen, z. B. Herbert Spencer (1820-1903) oder A. Keith. Daß schon lange vor Darwin der Ursprung der Ethik ein beliebtes Tummelgebiet für alle möglichen Sepkulationen war, ist zwar nicht ausdrücklich in der geschichtlichen Bestandsaufnahme erwähnt worden, sei aber hier nochmals vermerkt. In seiner Kritik einer evolutionistischen Ethik schreibt Nelson: "Parallel zum Aufsteigen der niederen Lebewesen zu den höheren bei der Entwicklung der organischen Natur stellte sich die evolutionistische Ethik ein Entwicklungsgesetz vor, aus dem sich eine Richtschnur für unser eigenes Verhalten finden lasse. Wenn wir nur treulich dem allgemeinen Gesetz der Natur folgen, so werden wir uns dadurch von Irrwegen und Fehltritten schützen. Diese Auffassung, so bestechend sie zunächst klingt, hält einer Kritik nicht stand. Was heißt Entwicklung? In der Natur bedeutet sie die Aufeinanderfolge verschiedener Zustände eines Gegenstandes in einer bestimmten Richtung, bei den Lebewesen in der Richtung einer zunehmenden Differenzierung ihrer Organe oder einer fortschreitenden Anpassung an ihre Umwelt. Dieser Entwicklung, d. h. der Einheit der Richtung des organischen Geschehens kommt keine naturgesetzliche Notwendigkeit zu. Es gibt ja auch organische Rückbildungen. Und weiterhin sind Entwicklung und Vervollkommnung nicht einander äquivalent. Vervollkommnung bedeutet eine Richtung zunehmenden - wohl verstanden - biologischen Wertes. Damit braucht nicht Entwicklung im ethischen Sinn gekoppelt zu sein". Und Nelson weiter: "Die Unvollendbarkeit der Geschichte in der Natur macht es also unmöglich, ein Ziel der Entwicklung zu bestimmen, und schon hiermit scheitert jeder Versuch, aus naturwissenschaftlichen Tatsachen ethische Gesetze zu erschließen". Wie bei vielen komplexen Problemen kann man auch hier sagen: So einfach geht es nun auch wieder nicht. Nelson hat wohl allzu sehr nur die physikalischen Gesetze mit einfachen, monokausalen Zusammenhängen oder allenfalls noch chemische Gesetze im Auge gehabt, von denen man damals schon überzeugt war, daß sie sich auf physikalische Gesetze reduzieren lassen. Ob er dabei an die viel verwickelteren biologischen oder sozial biologischen Gesetze schon gedacht hat, auf die man erst in den letzten Jahrzehnten gestoßen ist, mag dahingestellt bleiben. Sittlichkeit ist aber an die Natur des Menschen, an das Leben gebunden, über das man damals noch
11. Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Sittlichen
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weniger wußte als heute und trotz großer Fortschritte der Human- und biologischen Wissenschaft noch immer nicht genügend weiß. Die von Nelson gezogene Folgerung entspricht viel zu sehr einem statischen Denken und verkennt, daß die Evolution der Sittlichkeit einen ebenso langen Weg durchlaufen haben muß wie das Leben selbst. Wenn wir den Versuch unternehmen, das Phänomen Sittlichkeit zu ergründen und aus dem Dunkel des ihm zugeschriebenen apriorischen Charakters herauszuführen, so ist es notwendig, sich von jeglicher metaphysischer Betrachtungsweise frei zu machen und die zwischen den beobachteten Fakten bestehenden Lücken nicht durch metaphysische Konstruktionen überbrücken zu wollen. Die Problematik der Sittlichkeit war bislang ein Reservatgebiet der Geisteswissenschaften Theologie und Philosophie. Es herrscht heute überhaupt die Auffassung, daß es das einzige der Philosophie noch verbliebene Arbeitsgebiet sei, nachdem die früheren erkenntnistheoretischen Bemühungen praktisch zum Stillstand gekommen sind. Zudem hat sich die Philosophie noch eine Beschränkung dadurch auferlegt, daß sie ihre Denkarbeit mit der Feststellung drosselte, Sittlichkeit lasse sich nicht aus den Naturgesetzen ableiten: Philosophia locuta. causa finita. Andererseits war von den Erfahrungswissenschaften, wenn man von den zahlreichen Arbeiten der Verhaltensforschung in den letzten Jahrzehnten absieht, die Frage des Sittlichen und seiner Herkunft noch nicht in Angriff genommen worden. Das ist auch verständlich, hat doch immer die Meinung geherrscht, daß Sittlichkeit ein Attribut des Geistigen und Seelischen sei und mit dem Physischen in keiner Weise etwas zu tun habe. In dem Maße, wie die Evolutionslehre sich durchzusetzen begann, wurde die Trennung von Physischem, Psychischem und Geistigem fallen gelassen. Es setzte sich die Erkenntnis durch - wie es auch in der Schichtenlehre von Hartmann zum Ausdruck kommt - daß sich die Schicht des Geistigen auf der Schicht des Psychischen und diese Schichten sich wieder auf der des Physischen aufgebaut haben. Es besteht aber noch eine nicht zu unterschätzende Schwierigkeit begrifflicher Natur. In den Erfahrungswissenschaften ist man gewohnt, mit exakt definierten Begriffen zu arbeiten, weil sich nur mit solchen klare Ergebnisse und eindeutige Aussagen erreichen lassen. Für das Sittliche existiert ein präziser Begriff nicht, mit dem sich in analoger Weise eindeutig arbeiten läßt wie mit den auf Objekte oder Operationen bezogenen Begriffen der Naturwissenschaften. Man faßt unter dem Begriff sittlich gewohnheitsmäßig ein ganzes Konglomerat von Verhaltensweisen zusammen, zu welchem im Laufe der Kulturgeschichte des Menschen immer weitere Verhaltensweisen hinzu gekommen sind. Man denke nur an die Wertethik, durch welche eine ganze Sammlung von Werten entstanden ist, die alle dem Bereich der Ethik zugeordnet werden. Zwar hat es, um sich von den diffusen, wissenschaftlich nicht handhabbaren Begriffen "Gut" und "Böse" unabhängig zu machen, nicht an Versuchen gefehlt, den Begriff des Sittlichen schärfer zu fassen. Ein solcher
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11. Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Sittlichen
Versuch ist das von Kant aufgestellte Gesetz der praktischen Vernunft: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten". Demnach wäre Sittlichkeit ein durch derartige Verhaltensweisen gekennzeichnetes Verhalten. Die Philosophie des Utilitarismus hat es auf eine andere Weise versucht, worauf wegen der ihr anhaftenden Widersprüche hier nicht eingegangen werden soll (vgl. B. Williams; Kritik des Utilitarismus; Vittorio Klostermann GmbH. Frankfurt (M) 1979). Als Begriffsdefinition des sittlichen HandeIns dürfte sich auch der Leitsatz der nach dem 2. Weltkrieg in verschiedenen Ländern aufgekommenen Bewegungen einer moralischen Aufrüstung eignen: "Jedermann nützen, niemandem schaden". Wenn den nachfolgenden Ausführungen schon vorgegriffen wird, nach denen die Evolution im Aufbau des organischen Lebens immer wieder das Prinzip des Egoismus erkennen läßt, und man den letzteren dem Bösen gleichsetzt, so könnte der humoristische Ausspruch von Wilhelm Busch: "Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man läßt", geradezu sich zu einer Definition des Sittlichen eignen, indem er nämlich besagt, daß ein Verhalten dann sittlich ist, wenn es frei von Egoismus ist. Es ist für das Thema der Untersuchung notwendig, eine Reihe von Kriterien zu beachten, die den Begriff des Sittlichen so abgrenzen, daß man damit eine für unsere Betrachtung brauchbare Größe hat. I. Sittlichkeit ist keine Sache des isoliert lebenden Individuums (ein Eremit weicht dem Problem der Sittlichkeit aus), sondern hat nur Bedeutung in den Wechselbeziehungen des Individuums zu anderen Individuen oder zu Gruppen. 2. Sittlichkeit nach unserem Verständnis wird im gegenseitigen Verhalten von Gruppen relevant. 3. Die Forschung kann sich nicht mit der Beobachtung und Deutung individueller Verhaltensweisen begnügen, sondern muß sich ganze Gruppen oder Kollektive, auch Völker, zur Aufhellung des Komplexes Sittlichkeit vornehmen, um aus deren Verhalten Rückschlüsse auf die Wurzeln des Sittlichen zu ziehen. 4. Aus 3. folgt, daß Sittlichkeit als ein Komplex verschiedener Verhaltensweisen zu einer statistischen über möglichst viele Individualverhaltensweisen gemittelten Größe quantifiziert werden müßte, wenn wissenschaftlich mit ihr operiert werden soll. Eine statistische Größe wird durch die gleichen Eigenschaften charakterisiert wie die sie bildenden EinzeIgrößen. In unserem Fall eignet sich hierzu, wie noch herauszustellen sein wird, der Begriff des Egoismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und sein Gegenteil Altruismus, die als Fundamentalverhaltensweisen sämtlicher Lebewesen einschließlich des Menschen durch die Erfahrung anerkannt sind.
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5. Die mehrdimensionale Struktur des Sittlichen ist zu beachten. Diese ist unterteil bar nach: a) sittlichem Vermögen, das schon innerhalb kleiner menschlicher Gruppen verschieden ist: b) Entwicklungsstand der Population - sowohl geschichtlich als auch regional und c) Wertegrad des Sittlichen. Die Quantifizierung des Sittlichen zu einer Größe, mit der sich logisch operieren läßt wie etwa mit dem von der Informationstheorie entwickelten Begriff des Informationsgehaltes, um damit Ergebnisse von zwingender Überzeugungskraft zu gewinnen, wird wahrscheinlich ein Wunschtraum bleiben müssen. Hierzu ist seine Komplexität zu groß. Was erreichbar zu sein scheint, ist vielleicht eine einfache Abgrenzung des Sittlichen oder sittlichen Verhaltens von seinem Gegenteil wie etwa nach dem von Kant aufgestellten Grundgesetz der praktischen Vernunft: "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit auch als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne", nach welchem das sittliche Verhalten dadurch gekennzeichnet ist, daß es zu einer allgemein akzeptablen und gültigen Norm erhoben werden kann oder etwa nach der Regel: "Was du nicht willst, das man dir tu', das füg' auch keinem andern zu" (s. S. 156). Sowohl die menschliche Geschichte als auch die persönliche Erfahrung zeigen, daß das Zusammenleben der Menschen immer nach einem statistisch anmutenden Mittelwert an sittlicher Qualität vonstatten gegangen ist und dadurch funktioniert hat. Durch Aushaltenmüssen vieler Naturkatastrophen und großer, durch die Menschheit selbst verschuldeter Nöte ist dieses Durchschnittsverhalten oft auf harte Proben gestellt worden, in denen es sich durchaus bewährt hat. Dabei hat sich die Menschheit dennoch entwickelt, sich vermehrt, die Erde erobert und dabei noch einen ansehnlichen Grad an Zivilisation - man darf sogar sagen, an Kultur, erreicht. Wie bei allen statistischen Mittelwerten gibt es, wie der Statistiker sich ausdrückt, Ausreißer nach beiden Seiten des Mittelwertes. Da sind einmal die Fälle, wo Einzelmenschen oder Gruppen durch ihr von hohem Ernst und von großem Verantwortungs bewußtsein getragenes Handeln den Mittelwert des sittlichen Verhaltens weit übersteigen und der übrigen Menschheit als leuchtendes Vorbild Ansporn zur Hebung des sittlichen Verhaltens geben. Hierfür hat auch unsere heutige Zeit Beispiele in Gestalten wie Albert Schweitzer, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Mutter Theresa u.a. aufzuweisen, zu denen auch die vielen internationalen Hilfsorganisationen zu zählen sind. Auf der anderen Seite des statistischen Mittelwertes an Sittlichkeit liegen die Ausreißer nach unten, das Verhalten jener, die ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen egoistisch, brutal und grausam handeln und nicht davor
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11. Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Sittlichen
zurückschrecken, Mitmenschen umzubringen, oder von ganzen Gruppen, die sich bis aufs Messer bekämpfen und einander in tiefste materielle Not und große physische und seelische Leiden stürzen, wofür auch unsere Zeit tagtäglich genügend Beispiele liefert. Allein diese mittlere, reale Sittlichkeit oder, wertfreier ausgedrückt, dieses mittlere Sozialverhalten, das sich im Ablauf der Menschheitsgeschichte jeweils eingestellt hat, kann sich für die wissenschaftliche Untersuchung ihrer evolutionären Entstehung eignen. Mit dem Problem der Ethik haben sich schon alle Wissenschaften, ob Theologie, Philosophie, Medizin, Rechts- oder Naturwissenschaften in irgendeiner Weise beschäftigt (man denke z. B. an die Frage der Willensfreiheit). Daß dabei vielfach kein befriedigender Consensus über ein Problem zustandegekommen ist, dürfte zu einem großen Teil durch die Beschränkung der einzelnen Disziplinen auf ihr fachspezifisches und damit leicht einseitiges Begriffsrüstzeug verursacht worden sein, was bisweilen einer babylonischen Sprachverwirrung ähnelt. Bei dem vorliegenden Thema wird sich die gleiche Schwierigkeit zeigen. Denn die längsten Phasen der Evolution haben sich im physischen Bereich oder - um mit N. Hartmann zu sprechen - in den unteren Seinsschichten abgespielt, die durch naturwissenschaftliche Vorgänge zu beschreiben sind. Auch wenn der Vorsatz eingehalten wird: soviel Naturwissenschaft wie nötig und so wenig wie möglich, bestehen doch noch einige psychologische Schwierigkeiten. Die eine, die heute weitgehend beseitigt zu sein scheint, aber unter der Decke dieses Scheins doch noch weiterlebt, ist der Glaube an einen Schöpfergott, verbunden mit dem Zweifel an der Evolution, obgleich letztere Gedankengut und überzeugung weitester Kreise von Philosophie und Theologie geworden ist. Wissenschaftlich wird heute die kategoriale Eigenschaft der Materie, sich selbst zu organisieren, zweifelsfrei anerkannt, was den bedeutenden französischen katholischen Theologen Pierre Teilhard de Chardin (1881-1955) bewogen hat, von der göttlichen Materie zu sprechen. Die zweite noch sehr bedeutsame Schwierigkeit ist das Problem, wie die Kategorien der obersten Schichten des psychischen und geistigen Seins aus der sich selbst organisierenden Materie entstanden sein sollen, wo diesen fast nach Jahrtausenden währender Denkweise über die dualistische Struktur des Seins doch ein völlig verschiedener Charakter zuzusprechen sei. Es wird noch vielen wagemutigen Denkens und intensiven Forschens bedürfen, hier in verkrustete Vorstellungsstrukturen einzubrechen und zu zeigen, wie die Kategorien der höheren Schichten sich als komplexere aus den einfacheren niederen aufbauen und sich aus diesen gebildet haben. In dieser Hinsicht hat der im Jahr 1980 verstorbene schweizerische Psychologe Jean Piaget bahnbrechende Gedanken geäußert. Evolutionsgeschichtlich betrachtet haftet einer Einteilung des Seins in diskrete Schichten ohnedies bis zu einem
11. Voraussetzungen einer naturwissenschaftlichen Betrachtung des Sittlichen
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gewissen Grad Willkür an. Wenn man eine solche gelten läßt, ist die Zuordnung von Kategorien, die - wenigstens in den unteren Seinsschichten vornehmlich durch einfache oder auch komplexere Naturgesetze dargestellt werden können, zumindest problematisch.
III. Die Evolution des Verhaltens 1. Verhalten als Leitbegriff Die sittlichen Verhaltensweisen sind nur ein Teil al\er vorkommenden und möglichen Verhaltensweisen, also auch der neutralen, die jemandem weder nützen noch ihn schädigen, und schließlich der gemeinschaftsschädlichen und verwerflichen. Teilt man sie ein in solche, die durch äußere und solche, die durch innere Anläße (Motive) hervorgerufen werden, so können die ersteren ohne Bedenken auch als Reaktionen auf ihre Anläße aufgefaßt werden. Schließlich sind auch die durch innere Anlässe hervorgerufenen Verhaltensweisen Reaktionen auf ihre Veranlasser. Damit kann Verhalten als Reaktionsvermögen oder Reaktivität aufgefaßt werden, womit ein Prinzip gefunden ist, das al\e Änderungen im Bereich der unbelebten und belebten WeIt durchzieht. Die Reaktivität ist die Fähigkeit zu Reaktionen zwischen mindestens zwei oder mehreren Reaktionspartnern aufgrund stofflicher oder geistiger funktionaler Zusammenhänge, wie dies auch durch das Kausalgesetz ausgedrückt wird. Reaktivität besitzt unter gegebenen Voraussetzungen bereits jedes einfache chemische Molekül. Es ist fähig, mit stofflich anders beschaffenen Molekülen zu reagieren, wenn dies die chemische Affinität und die zur Reaktion notwendigen physikalischen Bedingungen (Temperatur, Druck) es zulassen. Während die Zahl der Reaktionsmöglichkeiten der einfachen stofflichen Systeme noch sehr beschränkt ist, wächst diese mit zunehmender Organisationshöhe der Systeme und wird schließlich bei den am höchsten organisierten Lebewesen immer größer, weil zu den stofflichen Reaktionsmöglichkeiten nun noch die psychischen (schon bei den Tieren) und die geistigen beim Menschen hinzukommen. Da Leben ohne Verhalten nicht vorstel\bar ist und das Leben sich aus den kleinsten materiellen Bausteinen entwickelt hat, muß es gleichzeitig vom Aufbau des Verhaltens begleitet gewesen sein, der hierbei die Skala der einfachsten Reaktivitäten bis zu den kompliziertesten, beim Menschen oft nicht mehr durchschau baren Verhaltensweisen durchlaufen hat. Auf diesem Weg muß auch der Einsatz derjenigen Naturprinzipien aufirgendeiner Stufe erfolgt sein. die sich in der menschlichen Verhaltensnatur festgesetzt haben und in ihr verblieben sind. Um daher die Wurzeln des sittlichen Verhaltens aufzufinden oder festzustellen. daß solche in dem von uns gedachten Sinn
2. Die Hauptpfeiler der Evolutionslehre
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gar nicht auffind bar sind, ist es notwendig, den evolutionären Aufbau, soweit er sich uns heute aus naturwissenschaftlicher Sicht darbietet, zu verfolgen, womit auch die Ausführungen der Abschnitte III und IV begründet sein sollen.
2. Die Hauptpfeiler der Evolutionslehre Der Evolutionsgedanke (vgl. hierzu den sehr lesenswerten Abschnitt "Die Kulturgeschichte des Entwicklungsgedankens" von G.H.R. vom Koenigswald; 2. Abschnitt in "Adam zeugte Adam" v. Th. Dolezol, Meyster Verlag, Wien, München, 1979), wie er von Darwin entwickelt wurde, hat bekanntlich die Beobachtungen an lebenden Organismen, hauptsächlich an den Wirbeltieren, seinen Ausgang genommen. Er beschränkte sich auch lange Zeit nur auf diese Welt des Lebens. Die Beweise der menschlichen Evolution sind heute eine Angelegenheit der elementaren Biologie. Wegen der ungeheuer großen Zeiträume, in denen sie sich abgespielt hat, können die Vorgänge der Evolution in unserem kurzen Menschenleben schon rein zeitlich nicht nachvollzogen werden, abgesehen davon, daß wir auch schwerlich exakt die Umwelt bedingungen reproduzieren könnten, die in den einzelnen Evolutionsphasen die Entwicklung beeinflußt und bedingt haben. Denn diese waren ebenfalls der Evolution unterworfen. Es besteht hier eine Analogie zu den Vorgängen in der Geologie und Astronomie. Die Beweise für die Evolution des Menschen sind, wie Th. Dobzhansky, "der Darwin des 20. Jahrhunderts" schreibt, so zahlreich, daß den Biologen das Herbeischaffen weiteren Beweismaterials als sinnlose Arbeit erscheint. Bereits vor mehr als 100 Jahren wurden von T. H. Huxley (1825-1895) Belege erbracht, welche die Menschen zusammen mit Menschenaffen, Affen und Halbaffen in die Ordnung der Herrentiere (Primaten) einreihten. Diese Zeugnisse haben bis heute ihre Gültigkeit bewahrt. Die Verhaltensforschung erbrachte Ähnlichkeiten zwischen menschlichen und allgemeinen Primaten- und Säugetierverhalten (s.u.), z. B. in den sexuellen Beziehungen, im Mutter-Kind-Verhalten, in Dominanz- und Unterordnungsbeziehungen, im Minenspiel, wo der Schimpanse die gleiche Muskulatur wie der Mensch beim Lachen, Weinen, Furcht, Wut, Aufregung und Aufmerksamkeit verwendet. Der menschliche Körper ist nach einem Bauplan konstruiert, der mit zunehmender Ähnlichkeit dem der Wirbeltiere, Säuger, Primaten und Menschenaffen entspricht. Der Fußmuskel Peroneus tertius fehlt abwechselnd beim Menschen wie auch bei Gorillas und Menschenaffen. Die Brocasc he Windung, das Zentrum der Sprache, das nur beim Menschen vorkommen soll, wurde im Gehirn des Affen Hapalt nachgewiesen.
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111. Die Evolution des Verhaltens
Mit dem Menschenaffen teilt der Mensch weitere Merkmale: Stereoskopisches und Farbsehen, Verlust der Beweglichkeit des äußeren Ohres, Ersatz der Schnauze durch das Gesicht, Reduktion des Geruchsinns, Verlust der Tasthaare, Menstruationszyklus, Abwesenheit von Brunstzeiten, Geburt von gewöhnlich einem Jungen, intensive und langwierige mütterliche Pflege, Vorherrschaft des Männchens über das Weibchen und die Jungen. Auf die weniger sinnfälligen, vornehmlich den Biologen interessierenden gleichen Merkmale biochemischer, serologischer und embryologischer Natur sei hier nicht weiter eingegangen. Die Evolution des Lebendigen hat ihre Spitzenleistung mit der Hervorbringung des homo sapiens vollbracht. Dieser Ausnahmestellung war sich der Mensch immer bewußt, und dies hat seine anthropozentrische Einstellung zu der ganzen nicht menschlichen Umwelt verursacht. Daher fällt es ihm auch heute noch schwer, zu akzeptieren, daß er keinen von der Entwicklung des Tieres allzu verschiedenen Entwicklungsweg durchlaufen haben soll. Weiterhin macht ihm die so außergewöhnlich zeitgeraffte Beschreibung der Evolutionsvorgänge bei seiner kurzen Lebensspanne immer wieder Mühe, sich den langwierigen Evolutionsprozeß vorzustellen. Er vergißt allzu leicht, daß die Evolution nicht so glatt verlaufen ist, sondern viele Versuchswege eingeschlagen hat, auf denen sie immer wieder "angeeckt" ist. Im Angelsächsischen wird von der Methode des "trial and error" gesprochen, d. h. die Natur hat Versuche gemacht, die schief gegangen sind, was der experimentierende Naturwissenschaftler ständig erlebt. Unter ihnen hat z. B. der Chemiker noch den Vorteil, daß er aus langer Erfahrung die für die Synthese eines neuen Stoffes notwendigen Reaktionsbedingungen einstellen kann, während sich für den Fortgang der Evolution immer erst zufallsartig günstige Entwicklungsbedingungen einstellen mußten.
3. Der evolutionäre Aufbau des Organischen
a) Reaktivität in der präbiotischen Seinsschicht Die Entwicklung der untersten oder prä biotischen Schicht ist eingebettet in den Zeitraum, in dem sich unser Sonnensystem entwickelte, als auf unserem Planeten noch kein Leben existiert haben kann. Der Zustand der Erde glich einem langsam erkaltenden Himmelskörper, der bei sehr hoher Temperatur von der Gesamtmasse unseres Sonnensystems abgespalten worden war und sich selbst überlassen unter Abgabe von Wärme an den Weltraum seinen Temperaturzustand in langsamem Tempo, d. h. in Zeiträumen von Milliarden Jahren, dem unserer heutigen Erde näherte. In dieser planetarischen Materie fanden nur physikalische und chemische Reaktionen statt, die mit absinkender Temperatur ihren Charakter ständig änderten. Ein
3. Der evolutionäre Aufbau des Organischen
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stabiler materieller Zustand von langer Dauer war unter diesen Bedingungen noch nicht möglich, da die sich fortwährend ändernde Temperatur das physikalische und chemische Gleichgewicht ständig störte und verschob. Eine gewisse Stabilisierung trat erst ein, als ein Temperaturniveau erreicht war, bei dem das Ausmaß physikalischer Reaktionen, zu denen z. B. Vulkanausbrüche, Erdbeben, Gewitter u. dgl. gehören, sich stark vermindert hatte, und chemische Reaktionen nach unserem heutigen Zeitempfinden schon langsam oder unmeßbar langsam verlaufen konnten. Es ist in dieser Schrift, die sich mit dem Problem der Herkunft des sittlichen Bewußtseins befaßt, nicht der Platz und auch nicht beabsichtigt, auf die gesamte Evolution näher einzugehen, wie sie sich in der naturwissenschaftlichen Fachwelt heute darstellt, d. h. von den Anfängen der Entwicklung unseres Kosmos, ausgehend von den kosmologischen Aspekten über die Evolution der Elemente, der Sterne und Planeten bis zum heutigen Zustand unserer Erde. Hierüber existiert schon eine umfangreiche Fach- und Populärliteratur. Es sollen aus dem Gesamtbild der Evolution lediglich fundamentale Erscheinungen und Prinzipien herausgestellt werden, die nach den bisherigen wissenschaftlichen Ergebnissen kategorialen Charakter haben und durch alle Seinsschichten hindurch bis in deren oberste, der des Geistigen und Sozialen, Gültigkeit haben - denen, wenn sie auch nicht unmittelbar etwas mit diesen obersten Schichten zu tun zu haben scheinen, etwas anhaftet, ohne daß die Vorgänge in den obersten Schichten unerklärlich und undenkbar wären. Denn schon der materielle Bereich ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihm eine ständige Unruhe herrscht, eine ständige Bereitschaft zu Veränderungen, eine Reaktivität. Sie hat schon seit Urzeiten bestanden und wird weiter bestehen, so lange unser Sonnensystem mit seiner Erde den Einflüssen aus dem Weltall ausgesetzt ist. Ohne diese Reaktivität hätte die Evolution bis zum heutigen Zustand des Lebens gar nicht vor sich gehen können. Seit Jahrzehnten hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß die Evolution nicht nur eine Eigenschaft des Lebendigen ist, sondern daß das Leben selbst seine Existenz einer chemischen, aus dem unorganischen Bereich der chemischen Elemente hervorgehenden Evolution verdankt. Die Geschichte der chemischen Evolution ist ein Gebiet, an dessen Aufklärung sich praktisch alle Naturwissenschaften beteiligt haben und beteiligen. Das liegt einmal an ihrer ungeheuren zeitlichen Ausdehnung und zum andern an ihrer noch umstrittenen eindeutigen kosmischen Lokalisierung. Sie hat Milliarden Jahre gedauert, vielleicht sogar so lange, wie unser Sonnensystem existiert, weil ihre Anfänge, wie heute unter dem Druck neuer astrophysikalischer (F. Hoyle u. N. C. Wickramasinghe; G. Winnewisser) und geologischer (H. D. Pflug) Erkenntnisse angenommen werden muß, im, Kosmos liegen, in dem durch spektroskopische Messungen an Stäuben
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111. Die Evolution des Verhaltens
Moleküle festgestel1t werden konnten, die al1e die chemischen Elemente enthalten, die am Aufbau lebender Strukturen beteiligt sind. Es sind darunter schon sub- oder prävitale Verbindungen, wie z. B. Pyranringe (Zucker) und ringförmige Stickstoffverbindungen. Die Urbausteine des Lebens scheinen in von Kometen transportierten Stäuben auf die Erde gelangt zu sein, so daß die Annahme, daß sie erst auf der Erde hätten entstehen müssen, sich erübrigen dürfte und die bisher für das Leben noch gültig gewesene geozentrische Betrachtungsweise einen Stoß erleiden würde. Die chemische Evolution hat sich auf der Erde weiter fortgesetzt. Ihre anfängliche irdische Geschichte läßt sich nur zu einem geringen Teil aus den geologischen Formationen und den in ihnen gefundenen Fossilien ablesen, über deren zeitliche Folge sich bisher Genaueres mit Hilfe der "Isotopenuhren" (Anwendung der in den verschiedenen Gesteinsschichten aufgefundenen radioaktiven Elemente zur Altersbestimmung der Gesteine) hat aussagen lassen. Werden die astrophysikalischen Feststel1ungen der jüngsten Vergangenheit sich durch weitere Beobachtungen sichern und unsere Erkenntnisse vertiefen lassen, so würde der schon von dem griechischen Philosophen Anaxagoras (500-428 v. ehr.) ausgesprochene Gedanke der Panspermie, der Infizierung oder Befruchtung der Erde aus dem Weltraum, in gewissem Sinn bestätigt werden. Die chemische oder prä biotische Evolution gleicht einem großen chemischen Prozeß, der wie viele chemische Prozesse der Technik über mehrere Stufen, in diesem Fal1 über unzählige, verlaufen ist. Sie ging extraterrestrisch wahrscheinlich nur in der Gasphase und auf der Erde anfänglich nur in dieser Phase vor sich, wobei die notwendige Energie von kosmischer und Sonnenstrahlung I und elektrischen Entladungen geliefert wurde. Ihre Fortsetzung fand sie sicherlich in flüssiger Phase, d. h. in Wasser, dessen Vorhandensein überhaupt eine Grundvoraussetzungjeglichen Lebens und offenbar ein Vorzug unseres Planeten Erde ist, den die anderen Planeten unseres Sonnensystems nicht aufweisen können. Unter Einbeziehung des Wassers in das Milieu, in dem die Entwicklung des Lebens auf der Erde vor sich gegangen ist, wird dieses eine Art brodelnde chemische Küche darstel1ende Milieu heute als" Ursuppe"2 bezeichnet, womit zum Ausdruck gebracht werden soll, daß in dieser nicht nur die stofflichen, sondern auch die physikalischen Bedingungen für den möglichen Aufbau lebender Organisationsformen geherrscht haben. Welche Stoffe sich hierbei gebildet haben und unter welchen 1 Diese beträgt im heutigen Zeitalter 8.06 x 10 17 K Wh oder 8.93 x 10 20 Kcal pro Jahr. worauf bezogen sich der Energieverbrauch der heutigen Erd bevölkerung auf 0,007 c;r beläuft (H. Schaefer u. K. Philippi). 2 .. Ursuppe" ist ein Behelfsbegriff für den Urzustand der Erde. in gewisser Hinsicht vergleichbar mit dem in den altgriechischen Kosmogonien mit Chaos bezeichneten Urstoff oder -zustand des f(an::en Kosmos. aus dem sich die Welt von selbst oder durch die Tätigkeit eines Schöpfers gebildet hat.
3. Der evolutionäre Aufbau des Organischen
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Bedingungen sie wahrscheinlich entstanden sind, läßt sich heute aus den umfangreichen Erfahrungen der chemischen Wissenschaft und aus im Laboratorium durchgeführten Modellversuchen (St. Miller) schließen, so daß sich hieraus ein Bild des Geschehens ableiten läßt, dem große Wahrscheinlichkeit zukommt und das wissenschaftlich akzeptiert ist. Da ein näheres Eingehen auf die chemische Evolution keinen Beitrag zur Behandlung des Themas bringen würde, sei auf eine Beschreibung ihres heute als wahrscheinlich erachteten Verlaufs in seinen Einzelheiten verzichtet und auf die Spezialliteratur (K. Dose und H. Rauchfuß; I. D. Bernal) verwiesen. Desgleichen möge von einer Beschreibung der eigentlichen biologischen Evolution, wie sie von der ersten primitiven lebenden Zelle bis zu ihren höchsten Organisationsstufen, den Primaten, verlaufen ist, Abstand genommen werden. Das von ihr durch die Wissenschaft vermittelte Bild ist durch die paläontologische und biologische Forschung schon beträchtlich verdeutlicht worden. Dabei hat die Molekularbiologie in den "genetischen Uhren" Methoden entwickelt, die nicht nur den relativen, sondern schon den absoluten zeitlichen Ablauf der einzelnen Entwicklungsstufen beurteilen oder messen lassen. Aus den Ergebnissen läßt sich z. B. folgern, daß die Teilung des Zweiges, den die Primaten am Baum der Evolution (Abb. 7) darstellen, in die Zweige der Menschenaffen und der Hominiden vor etwa 7 Millionen Jahre erfolgt ist. Die genetischen Uhren werden durch Eiweißmoleküle (Proteine), wie z. B. Serumalbumin, Cytochrom-c oder Hämoglobin, u. a. gebildet, die bei allen Säugetierarten vorkommen. Es handelt sich bei ihnen um große aus vielen Grundeiweißsäuren (Aminosäuren Abb. I) bestehende Moleküle, deren Zusammensetzung an Aminosäuren ursprünglich, als die Arten sich noch nicht geteilt hatten, gleich war. Im Lauf der Evolution hat sich die Beschaffenheit einzelner Aminosäuren in den Eiweißgroßmolekülen geändert und damit zur Teilung eines ursprünglich einheitlichen Artenzweiges in zwei Arten beigetragen. Der vorläufige Mangel dieser verschiedenen biologischen Uhren besteht darin, daß sie nicht gleich schnell gegangen sind und damit noch nicht synchronisiert werden konnten. Vielleicht ist aber die Vorstellung der Synchronisierbarkeit auch utopisch. Denn nicht alle Eigenschaften einer Art, zu denen jeweils verschiedene Eiweißverbindungen beigetragen haben mögen, werden sich gleichzeitig geändert haben. über die biologische Evolution gibt es - angefangen von C. Darwin bis in die Neuzeit - viele ausführliche Darstellungen (s. auch A. Oparin; G. Heberer u. a.). Was im Zusammenhang mit unserem Thema an der Evolution des Lebens besonders interessiert, ist die KontaktsteIle zwischen chemischer und biologischer Evolution. In Wirklichkeit handelt es sich hier um einen allmählichen übergang, den zu ergründen die Wissenschaft sich bisher am intensivsten bemüht hat. In diesem übergangs bereich befinden sich die sog. Nukleinsäuren, chemische Makromoleküle, die vor etwa 100 Jahren von dem Schweizer Chemiker Friedrich Miescher erstmals im Kern (Nukleus) der Zelle gefun-
"I.
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Die Evolution des Verhaltens
den wurden, woher sie auch ihren Namen haben. Ober ihre Eigenschaften konnte man zunächst kaum Informationen gewinnen, geschweige über ihre Funktion im Organismus. Heute weiß man, daß sie vom Anbeginn des Lebens eine fundamentale Bedeutung gehabt haben müssen und eine ebenso große für die Weitergabe des Lebens an die Nachkommenschaft, d. h. Vererbung haben. Sie bilden die Gene und damit die Komponenten der Erbanlagen. ~H2 HOOCC- -CH 3
Alanin
Leucin
H
~H2
~H3
HOOC y- -CH 2-CH-CH 3 H
NH
-CH2-CH2-CHrNH-C~
Lys I n
NH 2 ASparagIn
Asparaginsaure
-CH 2-C,=O NH 2 OH -CH 2-C=O
MethionIn
Phenylalanin
CH-CH -CH 2 -c', 'CH / CH-CH
Cystein
Glutaminsaure
GlutamIn
GI YCIn
-CH 2-CH 2-C,=o NH 2 -H
rhreonin NH
Tryptophan
-S - ~ ,/ CH
HistldIIl
-CH 2 HC
IsoleuCIn
-~H-CHrCH3
CH 'CH
CA 'c/
-CH2-~ -
C\
,tH
CH
l'yros i n
NH
Valin
CH 3
Abb. 1: Die chembche Struktur der in der Natur vorkommenden Aminosäuren, der Grundbausteine der Eiweißverbindungen der Organismen. Die bei den beiden Aminosäuren Alanin und Leucin links der gestrichelten Senkrechten gezeichnete
1':.J"H 2
Gruppe HOOen, daß die Natur mit einem Minimum an Ordnungsparametern arbeitet und sich entwickelt. Aus Untersystemen mit
70
111. Die Evolution des Verhaltens
einer größeren Zahl von Parametern organisieren sich durch Zusammenschluß Gesamtsysteme mit einer geringeren Zahl von Ordnungsparametern. An die Stelle der Untersysteme mit einer enormen Zahl von Freiheitsgraden treten Gesamtsysteme mit einer scheinbar stark reduzierten Zahl äußerer Freiheitsgrade 6 • Die bei der qualitativen Veränderung makroskopischer Strukturen, die aus vielen Untersystemen bestehen, gefundenen Ergebnisse der Einstellung höherer Ordnungsgrade sind erstaunlich. Denn trotz völliger Verschiedenartigkeit der Untersysteme sind die Mechanismen, durch weIche eine alte Struktur durch eine neue ersetzt wird, gleich. Es tritt die überraschende Erscheinung auf, die bei der Untersuchung eines Darwinschen Systems sich als Konkurrenz verschiedener, wachsender Polynukleinsäuresequenzen schon gezeigt hat, daß "bestimmte kollektive Variable", Ordnungsparameter genannt, instabil werden, wachsen und durch Konkurrenz untereinander oder durch Kooperation miteinander zu einer neuen Struktur führen" (H. Haken). Die Untersysteme müssen denjenigen Konfigurationen der Ordnungsparameter gehorchen, die den Wettstreit überlebt haben. Es findet sich auch hier offensichtlich ein "Sog" oder ein Zwang zur Konfunktion oder ein Kollaboriationsdruck, durch den allein das höhere Ordnungsgefüge funktionieren kann und auch will. Von der jungen Wissenschaft wird erwartet, daß sie auch Einblick in die Morphogenese lebender Systeme, d. h. der Entwicklung von Formen und Gestalten gewinnen lassen wird. Für unser Thema seien vorläufig nur die Grundprinzipien der Synergetik, die in der Selbstorganisation der Ordnungszustände, der Minimierung der Ordnungsparameter und Freiheitsgrade und dem Konkurrenzstreben der Ordnungsparameter bestehen, festgehalten, weil auf diese später in einem anderen Zusammenhang nochmals zurückzukommen sein wird. Eine philosophische Frage, die sich Haken stellt, sei zum vorläufigen Abschluß noch beigefügt: "Wie weit wird das menschliche Gehirn in der Lage sein, die richtigen "Ordnungsparameter" zu finden?". cc) Biochemische Symbiose Unter Symbiose 7 versteht die Biologie das Zusammenleben oder die Vergesellschaftung von Organismen zum gegenseitigen Nutzen oder gegenseitiger Hilfe im Existenzkampf, daher auch Mutualismus genannt. Früher wurde angenommen, daß sie nur zwischen verschiedenen Pflanzen- oder Tierarten oder auch zwischen einer Pflanzen- und Tierart bestehe. Unter strenger Auslegung dieses Symbiosebegriffes müßte er auf die niedrigsten Organisationsstufen des Lebens, d. h. zur chemischen Symbiose erweitert werden, z. B. auf die großmolekularen Gebilde der Polynukleinsäuren und ~
S. S. 71
7
Vgl. .. biologische Symbiose" S. 112 ff.
3. Der evolutionäre Aufbau des Organischen
71
Proteine. Schon diese haben sich zu Funktions- und Lebensgemeinschaften, den niedrigsten Stufen des Lebens als Hyperzyklen zusammengeschlossen. Symbiosen entstehen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht aus einer zufälligen Begegnung gewisser molekularer Partner und deren Bereitschaft zum Zusammenleben, sondern durch einen Druck der Umwelt zur Kollaboriation oder Kofunktion. Schon vor bald hundert Jahren tauchte der Gedanke auf, daß zwischen Zelle und den in ihr lebenden Chloroplasten oder Chlorophyllkörpern, welche die Photosynthese des Zuckers aus Kohlendioxyd und Wasser besorgen, eine Art Symbiose besteht. Diese muß zwischen allen ZellinhaItskörpern bestehen, welche in den Zellen als sogenannte Organellen ebenso Spezialaufgaben erfüllen wie die Organe im tierischen Körper. Zu solchen Zellorganellen zählen u. a. die Mitochondrien, die als Kraftwerke der Zelle bezeichnet werden, weil in ihnen der Stoffwechsel stattfindet, der den Zellen die für die Synthese von Eiweißkörpern notwendige Energie in ) liefert. Nach heutiger AnschauGestalt von Adenosintriphosphat (s. S. ung (Endobiontenhypothese) haben die Zellen sich die Mitochondrien sozusagen eingefangen und in ihre Dienste gestellt. Die Organellen sind wegen ihrer Fortpflanzungs- und Vermehrungsweise Lebewesen für sich, also echte Symbionten, können aber dadurch, daß sie sich in den Zellen auf bestimmte Aufgaben spezialisiert haben, nicht mehr isoliert leben. Das Forschungsmaterial der Zell biologie ist so umfangreich geworden, daß man heute in der Lage ist, das Zustandekommen solcher Verbundsysteme, die noch zu den weiter entwickelten Hypzerzyklen zu rechnen sind, ungefähr zu rekonstruieren (L. Margulis). dd) Die Freiheitsgrade der verschiedenen Organisationsstufen Die niedriger organisierten Systeme verlieren ihre spezifischen Freiheitsgrade, wenn sie sich zu höher organisierten Stufen zusammenschließen. Sie bringen aber ihre Freiheitsgrade in das übergeordnete System ein, wo sie auf eine vom Gesamtsystem abhängige Weise und verändert wirken. Ein einfacher Vergleich mit einem physikalischen Tatbestand läßt dies verstehen: Ein einfaches Atom besitzt für seine Bewegung im Raum die drei Fortbewegungsarten in Richtung der Achsen eines räumlichen Koordinatensystems. Neben dem ihm inhärenten Reaktionspotential bestimmen sie sein Reaktionsverhalten, das auch von den Fortbewegungsmöglichkeiten abhängig ist. Beim Eintritt in einen großen Atomverband (Molekül) verliert es seine individuelle Bewegungsmöglichkeit, an dessen Stelle die Beweglichkeit des Moleküls tritt. Schließen sich N Atome zu einem Molekül zusammen, so entfallen von den 3N eingebrachten Bewegungsfreiheitsgraden 3 auf die Fortbewegungsmöglichkeit des Moleküls im Raum, 3 auf die Rotationsbeweglichkeit um die 3 senkrecht aufeinander stehenden Rotationsachsen,
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III. Die Evolution des Verhaltens
deren Schnittpunkt mit dem Molekülschwerpunkt zusammenfällt. Die gegenseitig miteinander verbundenen Atome können sich im Molekülverband nur noch durch Schwingungen bewegen. Die Zahl der Schwingungsmöglichkeiten ist dann gleich dem Rest der gesamten Freiheitsgrade, also 3N - 6. Die Schwingungen sind nicht einander gleich, sondern besitzen unterschiedliche Frequenzen, die durch die verschiedensten physikalischen Methoden festgestellt und gemessen werden können. Dabei sind unter gewöhnlichen Bedingungen oft manche Schwingungen latent und können erst durch besondere Maßnahmen, u. a. z. B. Temperaturerhöhung, feststellbar gemacht werden. Man kann sich vorstellen, welch ungeheure Zahl derartiger Möglichkeiten in einem Großmolekül, etwa einem Organismus, steckt, von denen nur ein Bruchteil reaktiv wird, während die anderen latent bleiben oder nur unter bestimmten Bedingungen in Funktion treten. Durch den Zusammentritt der Atome zu Molekülen hat sich die Zahl und Qualität von deren Reaktionsmöglichkeiten erhöht oder zumindest verändert, weil sich Kraftfelder von hohem Differenzierungsgrad gebildet haben, die durch die Quantenmechanik bewiesen und verständlich gemacht worden sind. Letztere hat auch für die Beständigkeit höherer metastabiler Strukturen, wie sie im Bereich der Lebenden vorkommen, das wissenschaftliche Verständnis geliefert. Durch ihre erhöhte Gesamtreaktivität sind die höher organisierten Strukturen gegen äußere Einflüsse, z. B. Temperatur, Druck sowie Konzentrationsverhältnisse empfindlicher als die einfacheren. Sie gehen Reaktionen ein, an denen die in ihnen gebundenen Atome im isolierten Zustand sich nicht beteiligen könnten. Die Variations breite ihrer Gesamtreaktivität oder ihres Verhaltens ist so gewachsen, daß sie schon bei milderen Umweltbedingungen reagieren, insbesondere wenn die Reaktionen dabei durch reaktionsbeschleunigende Katalysatoren begünstigt werden. Die höheren Strukturen haben neue Funktionen. In Wechselwirkung mit der Umwelt werden Strukturen mit einem Funktionsvorteil selektiert. Es entsteht neue Information. Es scheint, als ob der gesamte Evolutionsprozeß durch eine ständige Sensibilisierung der Reaktivität des mit jedem Evolutionsschritt jeweils erreichten Zustandes der neuen materiellen Struktur angetrieben wurde.
d) Zusammenfassung (1IIa-c) Die sehr gedrängte bisherige Beschreibung der präbiotischen Phase der Evolution war von dem Gedanken beherrscht, diejenigen Naturprinzipien möglichst vollständig zu finden, die den evolutionären Aufbau des organischen Lebens und damit auch die Entwicklung des Verhaltens in allen seinen Erscheinungsformen bestimmt haben, um damit ein Bild der Genese desjenigen Verhaltenskomplexes zu erhalten, den wir als sittlich anerkennen. Dabei
3. Der evolutionäre Aufbau des Organischen
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sollten nur beobachtete Tatsachen berücksichtigt werden und vorhandene Lücken höchstenfalls mit sachlich begründeten, metaphysikfreien Hypothesen. die durch weitere Forschung erhärtbar sind, geschlossen werden. Sicherlich widerstrebt dem einen oder anderen Leser, je nachdem ob er mehr geisteswissenschaftlich-reflektierend oder naturwissenschaftlichempirisch ausgerichtet ist, Denkbrücken zu akzeptieren, die zwischen Naturgesetzen und -vorgängen einerseits und psychologischen und ethischen Begriffsbildungen und Ideen andererseits hergestellt werden. Aber da die durch die philosophische Reflexion errichtete Grenze des Apriorischen, die oft der Ausdruck des resignierenden "ignorabimus" ist, in tiefere Seinsschichten verschoben werden soll und auch kann, muß schon in den untersten Schichten mit Begriffen operiert werden, die ursprünglich für die oberste gebildet wurden und gewohnheitsmäßig dort zu Hause sind. Das trifft besonders für den Bereich des Ethischen zu. Dabei besteht die Gefahr des Verdachtes, daß durch die Anwendung der vornehmlich in geisteswissenschaftlicher Betrachtungsweise gewonnenen Begriffe auf die unterste Seinsschicht der letzteren der gleiche Charakter des Ethischen verliehen werden solle. Beispielsweise könnte leicht die Versuchung bestehen, unter dem Begriff des Egoismus, der in der obersten Seinsschicht den Charakter des Nichtethischen hat, im molekularen Bereich das gleiche zu verstehen. Wertbegriffe der Ethik müssen jedoch vorerst außer Betracht bleiben. Es ist eine Geschmacksfrage und dürfte kein Anlaß zu Kontroversen oder zu einer Forderung größerer begrifflicher Präzision bilden, wenn der Begriff der Seinskategorie bedeutungsgleich mit Gesetz verwendet wird. Wenn von der Selbstorganisation der Materie gesprochen wird, so drückt der Begriff Gesetz dies klarer aus als der allgemeinere der Kategorie. Denn hier liegt in der Tat ein Naturgesetz vor, wenn es auch nicht im Sinn einer physikalischen oder chemischen Gesetzmäßigkeit gehandhabt, d. h. messend verfolgt oder gar technisch angewendet werden kann. ,Ein Seinsgesetz ist der Vorgang jedoch zumindest. Schon in der prävitalen Phase laufen Vorgänge ab, denen der Charakter von Seinsgesetzen zugeschrieben werden muß. Das die zahlreichen einzelnen Unter-Seinsgesetze überdachende Prinzip ist die Selbstorganisation der Materie. Es enthält die in der prävitalen Phase geschlechtslose Vermehrung der Grundbausteine des Lebens, der Genketten oder Informationsträger, die im späteren Evolutionsverlauf in die geschlechtliche Vermehrung der Organismen übergeht und dem Menschen nach Entwicklung seines Bewußtseins als Naturtrieb bewußt wird. Ohne diese Selbstvermehrung wäre die Entstehung des Lebens unmöglich gewesen,und heute nicht denkbar. Die Vermehrung ist unbeschränkt und kann, solange das System, in dem sie sich vollzieht, sich nicht in einem nach außen abgeschlossenen Zustand befindet, also sein "Lebensraum" nicht begrenzt ist, sich beliebig weit ausbreiten, was
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es auch fortlaufend tut. Der Lebensraum liefert ihm ja die für die Vermehrung notwendige Energie in Gestalt des Stoffwechsels. Dieser ist ein weiterer bedeutender kategorialer Vorgang, der in die obersten Seinsschichten hineinragt und alle Organismen einschließlich des Menschen als Hunger- und Dursttrieb beherrscht. Als weitere Grundkategorie ist der Vorgang der Selektion zu werten. Ohne sie hätte sich das Leben nicht von seinen primitiven Stufen, den Bakterien und Einzellern bis zu den komplexen Organisationsformen der Säugetiere entwickeln können. Ohne Selektion wäre ein Stillstand und ein Auf-derStelle-Treten des Lebens eingetreten. Sie ist eine entscheidende Teilkategorie in der Kategorie der Materie, sich selbst zu organisieren. Ihre Wirkung ist die Bildung einer "Elite" unter den Organisationsformen, die sich nie "auf den Lorbeeren ihres erreichten Standes ausruhen kann", weil sie ständig von der Umwelt gefordert wird. Diese "Elite" hat keinen konservativen Charakter, sondern ist auf jeder ihrer Entwicklungsstufen gesteigerten Wechselbeziehungen zur Umwelt ausgesetzt und mit erhöhter Fähigkeit, an ihr teilzunehmen, ausgestattet. Die "Privilegierung" schreitet in der Weise fort, daß die auf jeder Entwicklungsstufe in vermehrter Anzahl vorhandenen, anfänglich gleich beschaffenen und reaktiv gleich berechtigten Organisationsformen sich im Wettbewerb miteinander weiterentwickeln, wobei wie in jedem auch fairen - Wettbewerb ein Sieger das Ziel der Stufe erreicht, in der er überleben kann, und die übrigen zurückbleiben oder gar ausscheiden, wenn sie nicht vorher den Ausweg in eine andere Entwicklungsrichtung finden. Der diese Selektion anstoßende und in Gang haltende Vorgang ist die Mutation. Sie gleicht gewissermaßen der "Inspiration", die den technischen Erfinder entweder in die Richtung eines echten Fortschritts oder in eine Sackgasse führt, in der er den Erfindungsgegenstand zum Schrott werfen kann. Wie von vielen Erfinderideen nur ein ganz geringer Anteil realisierbar ist und die meisten der Bedeutungslosigkeit anheimfallen, so sind die meisten Mutationen letal, und nur wenige erlauben die Weiter- oder Höherentwicklung. Die Erscheinung des Wettbewerbs. ja des Wettbewerbs bis zum überleben oder Aussterben, kommt somit schon in der untersten Seinsschicht vor, wobei der Wettbewerb um das An-sieh-Reißen der molekularen Aufbaustoffe, um die Ausbreitung durch Vermehrung und die Bildung komplexerer oder - vorsichtiger gesprochen - leistungsfähigerer Organisationsstufen geht. Mutation und Selektion sind nicht zu trennen. Sie sind Aspekte eines und desselben Prozesses und bilden eine einzige Kategorie. Hierzu darf bemerkt werden, daß der Unterteilung eines an sich kontinuierlich fließenden Prozesses wie desjenigen der Evolution in Kategorien etwas Formales oder Gezwungenes anhaftet und vielleicht nur deswegen sinnvoll ist, weil sie dem
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Bemühen dient, zwischen philosophischer und naturwissenschaftlicher Denkweise eine gemeinsame Sprache zu schaffen. Bleibt man bei der Einteilung prinzipiell für die Evolution bedeutender Vorgänge in Kategorien, so ist auch die Bildung hyperzyklischer Organisationsformen ein kategorialer Vorgang, der seinem Charakter nach in die Gruppe der synergetischen Prozesse gehört. Diese spielen, wie noch nachzuweisen sein wird, bis in die soziale Seinsschicht eine nicht wegzudenkende Rolle. Bei der Weiterentwicklung, der lebenden Organisationsformen und ihrer Morphogenese finden sich Strukturen unter ihrer Konservierung als Unterstruktur zu einer Oberstruktur zusammen, weil sie aufgrund ihrer energetischen und morphologischen Beschaffenheit zur .. Kollaboration", zu einem Zusammenfunktionieren in einer höheren Struktur nicht nur geeignet, sondern offenbar auch gezwungen sind und wo wahrscheinlich Teilfunktionen, die für das Zusammenfunktionieren in der höher entwickelten Struktur unbedeutend oder hemmend sind, stillgelegt werden und Teile der einen oder anderen Unterstruktur verkümmern. Die Teilstrukturen und Funktionen, die sich in einer höheren Struktur zusammengefunden haben, scheinen unter einem Kofunktionszwang oder Kollaborationsdruck zu stehen, der durch die höhere Ordnungsstruktur verstärkt und durch Abstoßen parasitärer Zweigstrukturen wirksamer gemacht wird. Aus dem Bereich der präbiotischen oder chemischen Evolution ist noch eine weitere wichtige Kategorie zu entnehmen, weil sie bis zum heutigen Entwicklungsniveau der Evolution und bis in die höchste Seinsschicht hineinreicht, nämlich das Gleichgewicht. Der Begriff des Gleichgewichts trat schon bei der chemischen Bildung der Polynukleinsäuren auf, die sich wie jede chemische Reaktion nur nach dem Massenwirkungsgesetz vollziehen konnte. Beim Massenwirkungsgesetz, das lediglich ein chemischer Fachausdruck für das chemische Gleichgewicht ist, handelt es sich um ein echtes Naturgesetz, das in der Chemie durch seine naturgesetzliche Exaktheit und theoretisch-rechnerische Anwendbarkeit höchst bedeutsam ist. Wegen seiner allgemeinen großen Bedeutung, die es in allen Schichten der Selbstorganisation der Materie hat, wäre es gerechtfertigt und notwendig, auf seinen Charakter als Kategorie schon an dieser Stelle etwas ausführlicher einzugehen. Näheres hierüber in Abschnitt IX.
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a) Gen-Egoismus Die Polynukleinsäuren sind einerseits Gebilde der präbiotischen, chemischen Evolution, andrerseits bereits Grundbausteine des Lebens. Biologisch
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betrachtet bilden sie den kontinuierlichen übergang der Evolution vom Unbelebten zum Belebten. Im ersteren finden nur stoffliche, d.h. rein chemische Reaktionen statt. Die Fähigkeit der Stoffe zu solchen Umsetzungen wird pauschal als Reaktivität bezeichnet. Diese ist von einer Reihe von Faktoren abhängig: von solchen, die den Stoffen innewohnen, und äußeren, die im chemischen Reaktionsmilieu oder, wie wir auch sagen können, in der Umwelt vorliegen. Letztere werden von den Konzentrationen der an der Reaktion beteiligten Stoffe und von der Temperatur und dem Druck, unter denen die Reaktion abläuft, dargestellt. Die inneren Faktoren sind je nach Bau und Größe der Moleküle im einzelnen schwerer zu kennzeichnen und zu erfassen. Man kann sie aber immerhin summarisch als definierte Größen angeben, deren Wert unter bestimmten durch wissenschaftliche Konvention festgelegten Bedingungen, d. h. einem Grundzustand messend gewonnen und als chemische Affinität bezeichnet wird. Letztere ist nicht der wissenschaftlich verwendete Begriff, sondern die in ihr steckende Reaktionsenthalpie und die Entropie. Außerdem ist sie eine in Bezug auf den oder die Reaktionspartner relative Größe, die für unsere weiteren überlegungen genügt und deswegen vereinfachend als chemische Reaktivität verwendet werden soll. Mit der Polynukleinsäure- und Hyperzyklenbildung hat die Selbstorganisation der Materie eine Schwelle erreicht, an der man sich fragen muß, ob es noch gerechtfertigt ist, bloß von Reaktivität zu sprechen. Denn die Eigenschaften der Nukleinsäuren als Informationsträger gehen schon weit über die normalerweise bei chemischen Verbindungen anzutreffenden hinaus. Bei ihrer Entstehung hat sich etwas nach unserem speziellen chemischen Verständnis Auffallendes ereignet: Es ist eine Stoffklasse entstanden, die tätig sein kann, sich selbständig identisch vermehrt und deren Vermehrung unter dafür geeigneten Bedingungen nie zum Stillstand kommt. Der übergangszustand, den sie in der Evolution einnehmen, wird auch durch ihre chemische Verwandtschaft zu den Viren charakterisiert. Letztere gleichen einerseits gewöhnlichen chemischen Molekülen und besitzen wie diese keinen eigenen Stoffwechsel; andrerseits befallen sie wie Räuber, also Lebewesen, wieder lebende Organismen, um sich diese als Stoffwechsellieferanten dienstbar zu machen. Sie zeigen damit im strengen Sinn keine Reaktion mehr, sondern ein Verhalten, was soeben von den Genen gesagt wurde. Dabei soll die Bezeichnung Verhalten einen gewissen Spielraum von Reaktionsmöglichkeiten zum Ausdruck bringen, in welchem diese Moleküle reagieren können - zum Unterschied von einfacheren chemischen Verbindungen, bei denen die Zahl der verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten gering oder so beschränkt ist, daß sie nur der Chemiker, der sie handhabt, durch zusätzliche Hilfsmittel vergrößern kann. Außerdem verhalten sich die Polynukleotide autonom. Sie bedürfen, wenn sie sich in einer entsprechenden Umgebung befinden, keines besonderen Anstoßes mehr, um ständig zu reagieren. Nun
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aber das Unfaßbare: Diese Umgebung haben sich die Gene im Lauf der Evolution - ausgehend von einem bestimmten, noch primitiven Milieu nach und nach selbst geschaffen und ständig für ihre Zwecke verbessert und vervollkommnet. Welches ist die allmählich gewordene und vervollkommnete Umgebung der Gene? Es sind die heute lebenden Organismen jeglicher Art: Pflanzen, Tiere und Menschen. Sie sind, um es mit den Worten des Verfassers des aufregenden Buches "Das egoistische Gen" R. Dawkins auszudrücken, die "Maschinen", welche die Gene sich geschaffen haben, von ihm kurz Genmaschinen genannt 8 • Die Entwicklung des Verhaltens in der Phase der Evolution, in der die Gene sich ihr Milieu geschaffen haben, können wir zwar nicht mehr erforschen oder experimentell nachvollziehen. Dies ist auch gar nicht notwendig. Denn sie haben sich in den Genmaschinen niedergelassen, deren Eigenschaften, also auch Verhalten, sie bestimmen. An diesen wird die Entwicklung des Verhaltens sichtbar. Dawkins basiert mit seinem Buch auf den Anschauungen der noch jungen, hauptsächlich in Amerika aufgekommenen Wissenschaft der Soziobiologie, deren namhaftete Vertreter J.B.S. Haldane, W. D. Hamilton, J. Maynard Smith, R. L. Trivers, E. D. Wilson und andere sind. Die Soziobiologie entstand als Antwort auf eine hundert Jahre alte Lücke in Darwins Theorie der Evolution durch natürliche Auslese, worauf noch später eingegangen wird. "Die These dieses Buches - so Dawkins - ist, daß wir alle und alle anderen Tiere Maschinen sind, die durch Gene geschaffen wurden. Wie erfolgreiche "Chicago-Gangster" haben unsere Gene in einer Welt intensiven Existenzkampfes überlebt - in einigen Fällen mehr als Jahrmillionen lang. Dies berechtigt zu der Erwartung, daß unsere Gene bestimmte Eigenschaften besitzen. Ich möchte argumentieren, daß eine hervorragende Eigenschaft, die wir bei einem erfolgreichen Gen erwarten müssen, ein skrupelloser Egoismus ist. Dieser Egoismus des Gens wird gewöhnlich egoistisches Verhalten des Individuums hervorrufen". Zum besseren Verständnis der von Dawkins so stark hervorgehobenen Eigenschaften muß erläuternd auf seine im Widerspruch zu vielen seiner Fachkollegen aufgestellten Definition des Gens eingegangen werden: "Ein 8 Die Leser aus theologischen und anderen geisteswissenschaftlichen Kreisen mögen vielleicht in der vergleichsweisen Benützung des Ausdrucks Maschinen sofort argwöhnisch eine Degradierung des Lebens auf die rein mit dem Schlagwort Materialismus apostrophierte biologische Ebene oder eine dem technischen Zeitalter angepaßte Einstufung des Menschen als Maschine sehen. Wo die Bezeichnung Maschine lediglich symbolisch benützt wird, sollten sie vielmehr den Gedankengängen von Dawkins wohl kritisch, jedoch zunächst ohne Vorbehalt folgen, wo es vornehmlich um das bloße biologische Phänomen geht.
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Gen ist definiert als jedes beliebige Chromosomenstück, d. h. Erbmaterial, welches potentiell so viele Generationen überdauert, daß es als Einheit der natürlichen Auslese dienen kann". Begrifflich ist es somit eine ideelle Einheit. Je kürzer die Molekülkette dieser Einheit ist, desto länger - in Anzahl Generationen ausgedrückt - wird sie leben; umso geringer vor allem ist die Wahrscheinlichkeit, daß sie bei irgend einem "crossing over" aufgespalten wird. Unter "crossing over" oder einer Oberkreuzung wird der Austausch von Chromosomenabschnitten, z. B. bei der Bildung einer väterlichen Samenzelle oder einer mütterlichen Eizelle, die dem Zeugungsakt vorausgehen, verstanden. Die Oberkreuzung bewirkt, daß der väterliche oder mütterliche Geschlechtspartner nicht ausschließlich die Chromosomen nur eines der beiden Großelternteile weitergibt, sondern daß diese aus Abschnitten der Chromosomen von beiden bestehen. Nur auf diese Weise kommt die ungeheure Vielfalt der Phänotypen der verschiedenen lebenden Arten zustande. Schon der Vorgang des Oberkreuzens zeigt, daß die Chromosomen keine absolut stabile Gebilde sind. Sie werden noch durch andere Vorgänge verändert, von denen wir die Mutation schon kennengelernt haben. Es wird von Punktmutation gesprochen, wenn in der Chromosomenkette nur ein Buchstabe des "genetischen Schriftsatzes", d. h. eine Stickstoffbase geändert, z. B. gegen eine andere ausgetauscht wird. Bei einer weiteren Chromosomenänderung, der Inversion, lösen sich Chromosomenstücke an den bei den Enden der Polynukleinsäurekette ab, drehen sich um 1800 und hängen sich in umgekehrter Stellung wieder an das Hauptstück an. Nun bleiben offenbar über viele Generationen hinweg gewisse Chromosomenstücke oder Gen-Einheiten von diesen Vorgängen unberührt und stabil, sei es durch Zufall oder weil sie tatsächlich eine besonders ausgezeichnete Stabilität besitzen. Daher kommt es, daß nach vielen Generationen bei einem Menschen immer wieder ein Merkmal in seiner Konstitution oder seinem Aussehen auftretenkann, das schon ein Vorfahre Jahrhunderte vorher besaß. Ein geschichtlich bekanntes Beispiel ist die Lippe der Habsburger gewesen. Viele andere Beispiele ließen sich hierzu noch erbringen. Die große Leistung, die der Augustinerpater Gregor Mendel (1822-1884) bei seiner Erforschung der Gesetzmäßigkeiten der Vererbung erbracht hat, war der Beweis, daß sich die einzelnen Erbanlagen bei der Vererbung nicht wie eine Flüssigkeit miteinander vermischen und in der Folge der Generationen sozusagen verdünnen, wie z. B. ein Tropfen Blut in Wasser, dessen Farbe bei weiterer Verdünnung mehr und mehr verschwindet, sondern daß sie wie bei einem Misch- und Verdünnungsvorgang fester Stoffe, etwa von Pulvern, nach zahllosen Misch- und Verdünnungsoperationen immer wieder unverändert auftauchen und sich, wenn das Mischgut in verschiedene Chargen aufgeteilt würde, in irgend einer Charge wiederfinden ließe. In dieser Tatsache sieht Dawkins die Berechtigung seiner These von der FastunsterbIichkeit
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gewisser Gene, die Jahrhunderte bis Jahrtausende angedauert haben kann. Das egoistische Gen ist ein Stück Chromosom, das so kurz ist, daß es potentiell lang genug leben kann, um als erfolgreiche Einheit der natürlichen Auslese durch seine Langlebigkeit, Vermehrungsfähigkeit und Kopiergenauigkeit zu wirken. Ein solches Gen ist ein Replikator, der in Gestalt zahlreicher Kopien besteht. Es altert nicht, und die Wahrscheinlichkeit, daß es stirbt, ist nach einer Million Jahre nicht größer als nach 100 Jahren. Es springt von Körper zu Körper, von Generation zu Generation. Es manipuliert Körper um Körper für seine Zwecke und verläßt mit jedem Zeugungsakt den zeugenden Körper, bevor dieser an Altersschwäche stirbt, um mit dem gezeugten Körper das gleiche zu tun. Es wird wohl den wenigsten Menschen bewußt, daß von dem Jahrmillionen zurückliegenden Erwachen des ersten Lebens in den niedrigsten Organismen bis zu ihrer heutigen körperlichen Existenz eine von "zählebigen" Genen gebildete, ununterbrochene Lebenslinie, die Keimbahn von A. Weismann (1834-1914) oder das "ewige Leben" zieht, das sich nur dann nicht mehr fortsetzt, sobald sie ohne Nachkommen sterben. Das Ausbleiben der Nachkommenschaft ist erst der Abbruch des ewigen Lebens, der eigentliche Tod. Die Funktion des Gens bzw. des ganzen Genotyps oder zumindest eine seiner Funktionen besteht darin, sich selbst zu vermehren und damit das überleben und Weiterleben zu sichern. Die Gene können dies nur in einem von ihnen selbst geschaffenen Milieu erreichen, in einem Organismus. In einer statischen Organismenumwelt wäre dies nicht möglich, dagegen in einer Umwelt, die sich selbst wieder an ihre größere Umwelt anzupassen in der Lage ist. Die Organismen sind somit die Mittler zwischen den Genen und der natürlichen Umwelt. Die Fortpflanzung der Gene besteht nicht nur in einer Fortsetzung der Lebenslinie, sondern auch in deren Verstärkung und Verbreiterung durch Verzweigung über die Organismen der verschiedenen Arten von Pflanzen, Tieren und den Menschen unter Inanspruchnahme des gesamten Lebensraumes, jeder Lücke und Nische, die sich in diesem findet, und unter Bildung von Lebensgemeinschaften verschiedenster Art. Diese bilden miteinander ein ökologisches Gleichgewicht, das auf die wirksamste Ausnützung von Hilfsquellen energetischer und stofflicher Natur optimiert ist. Dieses wiederum ändert sich in Abhängigkeit von Zeit und den Parametern Energie und Stoff ständig und stellt sich neu ein. Wenn daher die wissenschaftliche Evolutionslehre sagt, daß sich die Organismen in Anpassung an die Umwelt entwickelt haben, aber andrerseits sie sich ihre Umwelt geschaffen haben, so sind für das letztere die Gene ein treffendes Beispiel; denn sie haben sich in den Organismen ihre Umwelt geschaffen. Die gewaltige "Kraft" der Gene, sich in Gestalt von überlebensmaschinen (nach der .Ausdrucksweise von Dawkins) fortzusetzen und sich vermehrend
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auszubreiten, ist die erstaunlichste Eigenschaft, die an einem chemischen "Molekül" je entdeckt worden ist und vorher unbekannt gewesen war. Sie berechtigt auch, anstelle des Begriffs Reaktivität den des Verhaltens einzuführen, schon deswegen, weil es nicht am reinen Gen, sondern an seinen isolierten Trägern festgestellt wird. Sie ist folgeträchtig für den Aufbau des Lebens bis zu seinen komplexesten Organisationsformen, d. h. bis hinauf in die soziale Ebene. Diese Kraft der "starken Ellenbogen", die sich überall durchsetzt und keine Grenzen der Ausbreitung kennt, hat Dawkins dazu veranlaßt, den Begriff des egoistischen Gens zu prägen, ihm ein Verhalten zuzuschreiben, das für die Seinsebene des Gens absurd klingt, weil es eigentlich eine moralische Qualität ausdrückt, die nach unseren Vorstellungen nur auf höherer Seinsebene auftritt, aus welcher der Begriff, ob berechtigt oder unberechtigt, entnommen ist. Nach Dawkins ist die Verkehrsmünze des Lebens - schon auf der niedrigsten Stufe - der Eigennutz, und die Grundeinheit des Eigennutzes ist das Gen. Dieses muß, um sich überhaupt in den Oberlebensmaschinen fortpflanzen zu können, sich eigennützig verhalten, einen" Willen" zur Selbsterhaltung zeigen. Tatsächlich klingt uns das letztere gar nicht mehr so fremd, sprechen wir doch öfters von einem Selbsterhaltungstrieb, der bisweilen sogar als gesund bezeichnet wird, den jedes Lebewesen und auch der Mensch in einem gewissen Umfang benötigt, um überhaupt existieren zu können. An zahlreichen Beispielen von animalischem Verhalten legt Dawkins mit beträchtlichem Aufwand an Oberzeugungskraft dar, daß dieses Verhalten immer auf Eigennutz beruht, auch wenn es nach außen gar nicht eigennützig, sondern sogar altruistisch erscheint. Ein im biologischen Sinn "gutes Gen" hat als eines der wichtigsten Attribute den "Eigennutz". Mit aller Entschiedenheit wird von Dawkins die Frage verneint, ob es irgendwelche Beweise für die genetische Erblichkeit altruistischen Verhaltens gäbe. Das ist für ihn, auch nicht verwunderlich, da die Genetik des altruistischen Verhaltens bisher kaum erforscht ist.
h) Das Werkzeug des Genausbreitungsstrebens Der Weg, den die weitere Untersuchung einschlagen soll, ist bereits in Abschnitt lIla vorgezeichnet worden. Dabei werden aus der Vielfalt der im Bereich des Lebenden anzutreffenden Reaktions- und Verhaltensweisen, welche die Soziobiologie als prinzipiell abstrahiert und durch tiefschürfende theoretische Untersuchungen ergänzt und verständlich gemacht hat, diejenigen Elemente ermittelt, die zur Entwicklung eines Verhaltens beim Menschen, das man als ethisch ansehen darf, beigetragen haben.
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Das biologische Werkzeug, dessen sich die Gene bei ihrem Ausbreitungsdrang bedienen, ist - von einigen Ausnahmen abgesehen - die sexuelle Fortpflanzung. Die Soziobiologie bezeichnet sie als den Dreh- und Angelpunkt des Lebens, also auch des biologiscchen menschlichen Lebens. Als Sigmund Freud um die Jahrhundertwende als einer der ersten zu dieser Ansicht, nämlich, daß der Mensch getrieben werde, kam, rief er in weiten Kreisen einen Sturm der Entrüstung hervor. Man sah die Würde des Menschen in die Niederungen der Triebwelt gezogen. Nach unseren heutigen Kenntnissen und inzwischen berichtigten Auffassung dürfte er indessen gründlich mißverstanden worden sein. Denn die Sexualität ist nun einmal Trägerin des Lebens, indem sie dessen Keimbahn fortsetzt. Jedes Lebewesen. das sich nach dem Sexualprinzip fortpflanzt, besitzt Sexualorgane, durch welche der Genausbreitungsdruck als Fortpflanzungstrieb sich geradezu vegetativ entlastet. Ein drastisches Beispiel für diesen Ausbreitungsdruck sind u.a. die nächtlichen Pollutionen des zeugungsfähig gewordenen männlichen Organismus. Auch die Menstruation des weiblichen Organismus ist dem menschlichen Willen völlig entzogen und geht vegetativ vor sich. Jeder junge geschlechtsreif gewordene Mensch strebt im Gedanken, "eine Familie zu gründen", zum anderen Geschlecht. Dazu sagt Freud: "Wenn der Hans sich zur Grete hingezogen fühlt, so ist es das Kind, was durch sie in die Welt will". Die Sexualität als Ausbreitungsprinzip des Lebens mußte nach der Entwicklung einfachster Organisationsformen des Lebens in der Evolution erst erfunden werden. Sie bestand nicht von Anbeginn des Lebensaufbaus. Dabei haben sich mehrere Sexualsysteme entwickel, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Die Erfindung der Sexualität, wie sie bei den Säugetieren herrscht, hatte die Mischung und Rekombination der Erbanlagen, Gene oder Informationen zum Zweck. Hierdurch konnte die Entwicklung der Arten viel schneller voranschreiten. Die Folge war - und dies muß für unser Thema besonders hervorgehoben werden - die Entstehung eines sozialen Verhältnisses zwischen zwei Individuen, zunächst zwischen zwei Geschlechtspartnern. Solange die Entwicklung bei den niedrigen Organismen und den primitiven Lebewesen noch nicht bis zur Stufe des Ich- und DuBewußtseins fortgeschritten war und sich auf der Basis vegetativer Reaktionen und solcher des Instinkts aufhielt, war damit, wenn wir noch nicht von Geschlechtsliebe sprechen wollen, doch ein Kofunktionszwang oder Kollaborationsdruck verbunden, dessen soziale Konsequenz erst später besprochen werden soll.
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5. Die vergleichende Verhaltensforschung und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung9 Die Erforschung der Entwicklung des menschlichen ethischen Verhaltens ist zunächst auf die vergleichende Erforschung des tierischen Verhaltens angewiesen, was nach Auffassung der Evolution von der gemeinsamen Herkunft aller Lebewesen sinnvoll ist und zulässig sein muß. Gegen die Verhaltensforschung und die Verbindlichkeit ihrer Beobachtungen wurden von verschiedenen Wissenschaften Einwände erhoben. Wenn schon die Bedeutung der Erforschung des Tierverhaltens der Skepsis und teilweisen Ablehnung durch die Psychologie, einer zwischen Geistes- und Naturwissenschaften angesiedelten Disziplin begegnet, wieviel mehr derjenigen der reinen Geisteswissenschaften, deren dualistischem Denken das Reich des nach ihrer Auffassung rein Stofflichen keine philosophisch verbindlichen Erkenntnisse bieten kann. Nach der in den letzten Jahren entstandenen, hauptsächlich aus der Zoologie hervorgegangenen Tierverhaltensforschung war ein Vergleich des Verhaltens der Tierarten unter sich und mit dem Menschen durch die erbrachten Fakten geradezu zwingend, denn die dabei entdeckten Ähnlichkeiten waren frappierend. Bisweilen wird die Frage gestellt, was die Verhaltensforschung berechtige, Vergleiche, obgleich vorsichtig und kritisch vorgenommen, zwischen tierischem und menschlichem Verhalten zu ziehen. Gibt es doch selbst unter Menschen, die sich als wissend und gebildet betrachten, Spötter, die der Meinung sind, die Verhaltensforschung wolle aus dem Verhalten beispielsweise von Eichhörnchen oder Ameisen menschliche Verhaltensweisen erklären. Doch auch von sachlich Denkenden wird immer wieder die Ansicht vertreten, Parallelen zwischen menschlichem und tierischem Verhalten seien reine Analogien, die der Mensch mit überraschung und auch einem gewissen Ergötzen wie der Besucher eines Zoos vor dem Affenkäfig häufig zwischen dessen Insassen und sich selbst erlebt. Eine auf gemeinsame Abstammung beruhende Gleichwertigkeit der tragenden Grundvorgänge könne daraus nicht gefolgert werden. Nun handelt es sich bei diesen Vorgängen nicht um wenige Einzelerscheinungen, sondern es gibt kaum einen menschlichen Lebensbereich, in dem es nicht von solchen Analogien geradezu wimmelt. Der forschende Naturwissenschaftler kann sie nicht als rein zufällig und als nicht auf gemeinsame Urformen rückführbar ansehen. Es kann an dieser Stelle nicht auf die vielen Äußerungen des Zweifels am wissenschaftlichen Charakter der Verhaltensforschung eingegangen werden, der anscheinend dem untilgbaren menschlichen Hang zum Metaphysischen entspringt und 9 Der Begriff "erkenntnistheoretisch" ist hier zulässig, nachdem durch die evolutionäre Erkenntnistheorie offenkundig geworden ist, welche Bedeutung der biologischen Erkenntnis als evolutionsgeschichtlicher Vorstufe der kognitiven Erkenntnis zukommt.
5. Die vergleichende Verhaltensforschung und ihre Bedeutung
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der Denktradition des Abendlandes entspricht, einen scharfen Trennungsstrich zwischen Natur und Kultur, der Geistigkeit des Menschen und allen sog. materiellen Erscheinungen zu ziehen. Zwar hat es schon immer Denker gegeben, weIche die Einheit von Natur und Geist zu beweisen bemüht waren, aber erst die Verhaltensforschung hat Mittel und Wege gefunden, die es ermöglichen, diese Frage aus dem Bereich metaphysischer Spekulationen in den der naturwissenschaftlichen Forschung zu verlegen. Andrerseits besteht auch ein gewisses Unverständnis für die subtile und oft mühsame Kleinarbeit der sich abmühenden Forscher. Beschreibung und Begründungen der Arbeitsmethoden der vergleichenden Verhaltensforschung finden sich in zahlreichen Veröffentlichungen, in deutscher Sprache hauptsächlich das der Schule von Konrad Lorenz und seiner Nachfolger. Die Amerikanerin Hannah Arendt, bekannt geworden durch ihr Buch "Der stumme Frühling", hat der Verhaltensforschung den wissenschaftlichen Charakter abgesprochen und sie geradezu als eine spekulative Theorie bezeichnet. Aus ihren überlegungen gewinnt man den Eindruck, daß weniger sachliche Argumente als vielmehr Angst und Sorge sie zu der Ansicht treiben, daß die naturwissenschaftliche Feststellung von Tatsachen egoistische Verhaltensweisen, Gewalttätigkeit u. dgl. rechtfertigen sollen, um deren Eliminierung eigentlich die nach Kultur strebende Menschheit sich bemühen sollte. Sie befindet sich damit in der Gesellschaft aller jener Nichtnaturwissenschaftler, die das Entstehen der Naturwissenschaften überhaupt als Verhängnis ansehen. Selbst der Physiker und Positivist Max Born hat nach den Schrecken des 2. Weltkrieges Zweifel bekommen, ob die Naturwissenschaften nicht eine Fehlentwicklung der Evolution seien. Sicher ist die Geschichte des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters für die endgültige Beurteilung der Wirkung der Naturwissenschaften und ihres Wertes für das menschliche Dasein und Verhalten noch zu kurz. Gerade durch das bei vielen bisweilen erzeugte Unbehagen kann ihre nicht mehr wegzudenkende Existenz jenen seelischen und geistigen Zustand der Menschheit erzeugen, der wie Notzustände immer einmal ein vorantreibendes Element der Evolution gewesen ist, zum andern aber ein Aufraffen in eine die Kultur und das Moralbewußtsein steigernde Richtung bewirkt hat, Die Verhaltensforschung ist eine Wissenschaft sowohl in ihrer Methodik als auch mit ihren Erkenntnissen, Indem sie wie Botanik und Zoologie beobachtet und sammelt, wie Physik und Chemie mißt oder zu messen versucht und experimentell erforsch bare Zustände herstellt und wie Psychologie und Soziologie vergleicht, hat sie beachtliche Ergebnisse erzielt. Objektivität und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse sind ihre Zielsetzungen wie die aller Naturwissenschaften, Im übrigen gehört auch die praktische Auswertung und Anwendung ihrer Ergebnisse für das menschliche Leben in den Bereich" Verantwortung der Wissenschaft",
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Der Verhaltensforschung kommt zumindest das Verdienst zu, durch die Einbeziehung des tierischen Verhaltens in die vielfältigen Erscheinungsweisen der Verhaltensweisen den Anthropozentrismus auf ein bescheideneres Podest zurückzuverweisen und den Weg zu einem besseren Verständnis des Wesens des Sittlichen freigemacht zu haben. 6. Das moralanaloge Verhalten in der Tierwelt Verhaltensweisen von Tieren, die von Konrad Lorenz aufgrund systematischer Beobachtungen als moralanalog charakterisiert wurden, sind von manchen aufmerksamen Beobachtern, weIche die Gelegenheit, Tiere beobachten zu können, wahrnahmen, schon in früherer Zeit festgestellt worden. Man hat sich darüber gewundert, sie aber lediglich registriert. Über zahlreiche weitere derartige Verhaltensweisen, die seither bei zahlreichen Tierarten beobachtet wurden, berichten u.a.im deutschen Sprachraum besonders I. Eibl-Eibesfeldt und W. Wickler. Letzterer beschreibt eindrucksvoll; wie sehr verbreitet unter vielen Tierarten moralanaloges Verhalten vorkommt, so daß durch die Gesamtheit ihrer Verhaltensweisen die zehn Gebote der christlichen Religion irgendwie sinngemäß erfüllt werden. Hieraus ergab sich:
I. Die Fähigkeit zu moralischem Verhalten oder die Anlage dazu scheint nicht ein Monopol des Menschen zu sein, in deren Besitz er in seinem Anthropozentrismus bisher sich allein gewähnt hat. 2. Wenn Tiere sich schon moralisch verhalten, ja unter gegebenen Umständen bisweilen sogar deutliche Merkmale eines schlechten Gewissens erkennen lassen, wieviel Anlaß - so die Folgerung - besteht dann für den Menschen, den Abstand der bisher von sich geglaubten Überlegenheit über das Tier durch moralische Anstrengungen nicht nur zu erhalten, sondern zu vergrößern. Die Verhaltensforschung ist mit der Mentalität des Menschen in die Welt der Tiere vorgestoßen. Sie beschränkt sich, indem sie vergleicht und Parallelen zieht, auf den Bereich Tier-Mensch. Wie sähenjedoch ihre Folgerungen aus, wenn sie die Evolutionslinie weiter zurückverfolgt hätte oder hätte verfolgen können? Diese Frage erscheint nur beantwortbar, wenn der sich vor der Forschung erhebende Berg des Unbekannten wie beim Bau eines langen Tunnels von zwei Seiten durchstoßen werden kann, d. h. wenn gleichzeitig die von der präbiotischen Phase evolutionär aufsteigende Reaktivität oder das sich entfaltende Verhalten darauf untersucht werden, ob an ihnen Züge - und wenn, weIcher Art - eines sich entwickelnden moralischen Verhaltens erkennbar werden. Die Verhaltensforschung hat ihre Beobachtungsergebnisse unter dem geistigen Einfluß von K. Lorenz hauptsächlich im Zusammenhang mit der
6. Das moralanaloge Verhalten in der Tierwelt
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biologischen Erhaltung der Tierarten gedeutet. Dagegen wurde von der empirischen Forschung bisher kaum erörtert, in welcher Schicht die Ursachen der verschiedenen Verhaltensweisen, ob z. B. in der vegetativen, instinktiven oder sogar in einer Bewußtseinsschicht angesiedelt sind. Erst die theoretische Soziobiologie hat sich dieser Frage zuzuwenden begonnen. Sie ist umso bedeutsamer, weil durch die Aufstellung und Anerkennung der These des Gen-Egoismus als tragendem Grundelement des Lebens und durch seine Gleichsetzung mit dem Verhaltensegoismus Zweifel aufgekommen sind, ob das tierische moralanaloge Verhalten wirklich mit solchen Verhaltensweisen vergleichbar ist, wie sie sich der Mensch als moralisch vorstellt. Mit dem Begriff Egoismus wird normalerweise die Auffassung eines vom Moralischen abweichenden Verhaltens verbunden. Der Zweifel erklärt sich z. T. daraus, daß der Mensch vom Egoismus eine begrifflich klare Vorstellung besitzt. Eine egoistische Verhaltensweise ist im allgemeinen immer leicht erkennbar. Vom moralischen Verhalten kann dies weniger behauptet werden, einmal weil hierunter immer eine große Zahl von Verhaltensweisen subsumiert wird, die im menschlichen Bereich vom Religiösen über die große Reihe der kulturellen Werte bis ins Soziale reicht. Dabei entspricht die genannte Reihenfolge der Betrachtungsweise des Kulturmenschen, bei dem bis in die Gegenwart aufgrund der historischen Entwicklung das religiöse Leben die erste Stelle im Moralkodex einnahm. Entwicklungsgeschichtlich müßte die Rangfolge anders lauten; denn es ist unzweifelhaft, daß das soziale Verhalten am Anfang des evolutionären Aufbaus steht und wahrscheinlich einer tieferen Seinsschicht als das Religiöse zuzurechnen ist. Schließlich haftet dem Moralischen stets etwas Relatives an, so daß man von ihm höchstens in komperativer Weise sprechen kann: In einem bestimmten Fall war das Verhalten des Menschen A moralischer als das des Menschen B. Eine solche Aussage ist zudem auch noch von der Bezugsbasis abhängig, ob sie sich z. B. auf einen religiösen oder sozialen Wert bezieht, der ja nach Rasse, Volk, Religion oder Konfession unterschiedliche Bedeutung hat. Schließlich besteht auch noch ein psychologischer Grund, indem der Mensch von seiner sozialen Umwelt immer gern ein Mehr an moralischem Verhalten hinnimmt oder erwartet. Mit dieser Feststellung wird jedoch die Schwierigkeit, die mit diesem Begriff zusammenhängt und immer bestanden hat, erst offenkundig. Denn entweder ist man gezwungen, die Moral in eine menschliche und tierische zu trennen, was dem überlieferten Denken wohl am sympathischsten wäre. Uder man muß, wenn man zu einem gemeinsamen Ursprung des Moralischen gelangen will - und die Anerkennung der Evolutionslehre zwingt dazu - aus dem vielschichtigen Gebilde dessen, was unter Moralischem gesehen wird den Kern herausschälen, aus dem seine Wurzeln hervorgegangen sind.
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7. Altruismus und Selektion Die Frage, ob die Natur nur Individuen einer Art oder die ganze Art selektiert und ausmerzt, hängt u. a. stark mit deren altruistischem Verhalten zusammen. Nach Darwins Theorie vermehren sich jeweils die besser an ihre Umwelt angepaßten Lebewesen. In einer von Selbsterhaltungsegoismus der Lebewesen geprägten Umwelt müßte Anpassung, wenn sie überleben wollen, gleichbedeutend mit der Entwicklung eines solchen Egoismus sein. Selbstloses Verhalten müßte sonst die überlebenschancen vermindern, und die Arten, die dies nicht vermocht hätten, müßten ausgestorben sein. Darwin hat diese Lücke in seiner Theorie, die lange Zeit nicht geschlossen werden konnte, selbst empfunden. Eine ganze Reihe von Biologen und Verhaltensforschern, darunter vornehmlich K. Lorenz und seine Schule, haben das Verhalten von Individuen der verschiedenen Arten als eine Funktion gedeutet, die der Erhaltung der Art als Gesamtheit dient, wozu auch altruistisches Verhalten einzelner beitragen würde. Der Tod einer gesamten Art wird als Gruppenselektion bezeichnet, welche nach K. Lorenz die natürliche Methode der Selektion ist. In ihrer Absolutheit hat diese Theorie wissenschaftlich nicht befriedigt. Neben der Gruppenselektion kam die Vorstellung der Familien- oder Verwandtschaftsselektion auf, die besagt, daß eine Familie oder ein Clan,deren Glieder durch Altruismus sich betätigen, als Gesamtheit der tödlichen Auslese unterliegen und aussterben kann. Die Wahrscheinlichkeit dieser Selektionsart ist größer als die der Gruppenselektion. Sie bildet gewissermaßen eine übergangsstufe zur Individualselektion, die nach der Dawkinschen These des egoistischen Gens nach heute weitgehend uneingeschränkter Zustimmung der Soziobiologen den Verhaltensweisen der Organismen entspricht. Die Individualselektion ist der die Evolution vorwärtstreibende Vorgang. Sie ist uns bereits beim Prozeß der Informationsentstehung begegnet und bewirkt, daß das in seiner Fortpflanzungsfähigkeit stärkere Individuum sich gegen das schwächere durchsetzt, eine Aussage, die rein biologisch zu verstehen ist. Denn das Maß des Durchsetzungsvermögens wird hiernach nur nach der Zahl der lebensfähigen Nachkommen bewertet. Kein Individuum könnte viel Nachkommen haben, wenn es nicht die Stärke hätte, sich gegen Rivalen zu behaupten. Darwin hat, was vielfach irrtümlich, aber auch geflissentlich übersehen wird, nur die biologische Evolution im Auge gehabt und wollte seine Lehre nicht auf den sozialen Bereich ausgedehnt wissen. Erst sein Zeitgenosse H. Spencer (1820-1903) hat Darwins Lehre zum sog. Sozialdarwinismus umgemünzt, wonach die Rangordnung der Individuen in der menschlichen Gesellschaft sich aus physischer, psychischer und geistiger überlegenheit ergibt und daraus rechtfertigt. Schließlich sei noch bemerkt, daß Gen-Egoismus und Selbstorganisation der Materie als
8. Die Soziobiologie der Gene
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gleichbedeutend für einen und denselben Vorgang angesehen werden können und daß das eine ohne das andere nicht denkbar wäre. Nach der Beweisführung von Dawkins für die These der Individualselektion anhand von Beispielen tierischer Verhaltensweisen hat man guten Grund anzunehmen, daß die Verhaltensforscher in deren Deutung vielleicht voreilig aus menschlicher Mentalität eine moralische Komponente hineininterpretiert haben, deren wahre Grundlage anfänglich nicht erkannt worden ist. Einer tiefer gehenden Kritik scheint diese Interpretation heute nicht mehr standzuhalten. Allein bei der Betrachtung der Spezies Mensch kann man wohl ohne weiteres und ohne wissenschaftliche Bedenken Dawkins' Behauptung zustimmen. Denn welcher Mensch von heute würde allen Ernstes behaupten wollen, daß die Angehörigen seiner Art auf deren Erhaltung auf der Erde kollektiv bedacht seien. Gegenüber den Fakten ließe sich diese extreme Auffassung nicht durchhalten. Aber auch das andere Extrem, die These des individuellen Egoismus, wird sich - auch wenn uns Tag für Tag und Jahr für Jahr unablässig das Schauspiel des Kampfes aller gegen alle geboten wird - nicht in ihrer Absolutheit aufrecht erhalten lassen. Auch hier dürfte wie bei dem häufigen Auftreten von Theorien sich scheinbar widersprechender "Ismen" die Gegensätzlichkeit der Anschauungen mehr dialektischer Art sein, dazu angetan, um letzten Endes tiefer in die Wirklichkeit einzudringen. Denn unter der ungeheuren Zahl lebender Arten kommen sicherlich die verschiedensten Selektionsweisen vor, deren Ursachen auf den von den Genen gesteuerten Egoismus zurückgehen.
8. Die Soziobiologie der Gene
a) Kampf aller gegen alle Die These des Gen-Egoismus als einer Grundkategorie des Lebens führt zwangsläufig zu der Frage, ob unter Bedingungen, unter denen es noch keine Normen in unserem Sinne zu geben scheint, überhaupt eine ungestörte Ausbreitung des Lebens und eine Entwicklung der Arten stattfinden konnte. Kann sich der Gen-Egoismus innerhalb der verschiedenen Spezies ungehemmt entwickeln oder sind ihm irgendwelche Schranken gesetzt? Wenn solche vorhanden sind, haben sie sich zufällig gebildet -- denn von Konvetion im Frühstadium der Evolution des Menschen oder im Tierreich kann doch kaum gesprochen werden - oder sind sie naturgesetzlich mit dem Auftreten der Gen-Oberlebensmaschinen gekoppelt? Wenn eine Gesetzmäßigkeit besteht, welcher Art ist diese? Diese Frage erscheint zunächst rein theoretischer, müßiger Natur zu sein, wo wir doch aus Erfahrung genügend wissen, daß sich dem Ausbreitungs-
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drang der Gene in Gestalt ihrer Organismen allerlei Widerstände entgegenstellen, von denen wir allerdings meistens den Eindruck der Willkürlichkeit haben. Die soziobiologische Wissenschaft gibt aber hierauf eine logisch begründete naturgesetzliche Antwort. Wenn man berücksichtigt, daß man in einer Untersuchung dieser Frage sich nicht auf das Verhalten von einzelnen Individuen beschränken kann, sondern eine ganze Gruppe betrachten muß, so kann eine zu erwartende Gesetzmäßigkeit nur statistischer Natur sein, die nicht konstant gleiche Verhaltensweisen von Individuen, sondern ein Durchschnittsverhalten mit Streuungen nach beiden Seiten beschreibt. Was bestimmt nun diesen Durchschnitt? Eine Gesetzlichkeit ließe sich mit großer Wahrscheinlichkeit durch langwierige experimentelle Untersuchungen finden. Viele kleine Mosaiksteinchen von Experimenten würden unter Zurhilfenahme von Hypothesen ein mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zutreffendes Bild der Wirklichkeit liefern. Es liegt hier eine Problematik vor, wie sie sich beim Fortschritt der Naturwissenschaften und ihrem Eindringen in zunehmend komplizierter werdende Fragestellungen immer mehr zeigt: Die Erarbeitung neuer Erkenntnisse erfordert einen immer größeren Aufwand an Experimenten, deren Ergebnisse sich vielfach nicht mehr mit einfachen theoretischen überlegungen zu einem widerspruchsfreien Modell der Wirklichkeit zusammenfügen, weil die zahlreichen funktionalen Zusammenhänge unüberschaubar geworden sind. Daher wird von der Denkökonomie mathematischer Methoden, insbesondere der mathematischen Statistik in den naturwissenschaftlichen Disziplinen (z. B. Chemie, Biologie, Soziologie) heute in großem Umfang Gebrauch gemacht. In einer berühmt gewordenen Abhandlung mit dem Titel "Die Logik tierischer Konflikte" haben J. Maynard-Smith und G. R. Price sich mit der Eigengesetzlichkeit der Verhaltensweisen animalischer Gruppen nach den Methoden der mathematischen Spieltheorie befaßt. In dieser haben sie den Begriff der evolutionsstabilen Strategie, abgekürzt (ESS), geschaffen. Unter Strategie verstehen sie eine in den Erbanlagen (Gene) vorprogrammierte Verhaltenstaktik. Um dem mathematisch weniger geschulten Leser den Inhalt dieser Theorie ohne Verwendung ihres mathematischen Formalismus verständlich zu machen, ist eine Veranschaulichung ihrer Voraussetzungen notwendig. Erinnern wir uns, daß nach Dawkins - obgleich eigentlich die Gene die treibenden Ursachen sind - es die von diesen gebildeten und gesteuerten "überlebensmaschinen", die Organismen, sind. Eine Tierart besteht aus vielen Einzelindividuen, die sich in ihren Verhaltensweisen, z. B. dem Erwerb von Nahrung, der Suche nach dem Geschlechtspartner, ihrer Aggressivität und überhaupt dem Artgenossen gegenüber mehr oder weniger unterscheiden. Es gibt keine sich völlig gleich verhaltende Individuen. Die Berücksich-
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tigung dieser starken Differenzierung würde die mathematische Behandlung des Problems wesentlich erschweren, ohne dadurch zum Verständnis mehr beizutragen. Analog zu den Verhältnissen in einem politischen Parlament, dessen Einzelmitglieder sich trotz unterschiedlicher Meinung zu einer Partei zusammenschließen und auf diese Weise durch das politische Gesamtverhalten in der Öffentlichkeit charakterisiert sind, gibt es unter den vielen Individuen von Tiergruppen solche, die sich in gewissen Situationen ähnlich verhalten und dadurch eine besondere Untergruppe ihrer ganzen Tierart darstellen. Von der letzteren existiert möglicherweise eine größere Zahl von Untergruppen mit jeweils ähnlicher, jedoch anders gearteter Verhaltensweise. Dawkins hat zur Erläuterung der Theorie von Maynard-Smith und Price speziell die Verhaltensweise der Aggressivität (s. u.) als Beispiel gewählt, das sich zunächst auf zwei sich unterschiedlich aggressiv verhaltende Untergruppen einer Spezies beschränkt. Dieses Beispiel ist auch deswegen von besonderem Interesse, weil es die oben aufgeworfene Frage beantwortet, ob sich der Gen-Egoismus im Kampf verschiedener Arten gegeneinander bis zur gegenseitigen Vernichtung bzw. dem überleben von nur einer Art auswirken kann. Denn dies kann ja nicht der Sinn der Evolution des Lebens sein, wenn man dieser einen Sinn überhaupt zuschreibt. Aus der unterschiedlichen Verhaltenstaktik oder Strategie der beiden Untergruppen sollte die evolutionsstabile Strategie ermittelt werden, auf welche sich das Verhalten der Untergruppen gegeneinander bei ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt und damit das Gesamtverhalten der Spezies einreguliert. Evolutionsstabil ist die Strategie, weil sie sich im Fortgang der Evolution - von statistischen Schwankungen abgesehen - als stabil erweist. Sie kann, wenn die Mehrzahl der Angehörigen einer Population 10 sie sich zu eigen macht, von keiner alternativen Strategie übertroffen werden. Anders ausgedrückt besagt dies, daß die zweckmäßigste Strategie für ein Individuum davon abhängt, was die Mehrheit der Bevölkerung tut. Da alle übrigen Mitglieder einer Population Individuen sind, deren jedes seinen eigenen (biologischen!) Erfolg zu maximieren versucht, wird eine solche Strategie fortbestehen, die, sobald sie sich einmal ausgebildet und stabilisiert hat, von keiner davon abweichenden Strategie übertroffen werden kann. Wenn die Umwelt sich in größerem Ausmaß verändert, kann für kurze Zeit eine evolutionäre Instabilität, bestehend aus einem Hin- und Herpendeln, in der Population auftreten. Bei Wiederherstellung des Gleichgewichts, d. h. der stabilen Strategie wird jedoch die Selektion jede Abweichung von ihr ausmerzen. Bei dem einfachsten Beispiel wird angenommen, daß in der Population einer bestimmten Art von Lebewesen zwei Kampfstrategien, zwei Strategien 10
Population
= Fortpflanzungsgemeinschaft einer Art.
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von egoistischem Verhalten, vorhanden sind, die Dawkins mit Falken und Tauben kennzeichnet. Von den Tauben hat der Mensch die Vorstellung, daß sie wenig aggressiv sind, daß sie einem Artgenossen gegenüber nur auf gewohnheitsmäßige Weise drohen und sich nur so lange in Kampfpositur stellen, bis einer von ihnen kampfmüde wird, beigibt und unverletzt den Platz verläßt. Wenn Falken aufeinanderstoßen, so beginnt ein ungezügelter und heftiger Kampf, der dadurch abgebrochen wird, daß sie ernstlich verletzt sind oder einer von ihnen tot. Treffen Falken und Tauben aufeinander und geraten in einen Kampf, so wird die Taube bald gewahr, daß sie es mit einem überlegenen Gegner zu tun hat, und zieht daraus die Konsequenz, möglichst schnell zu fliehen und unverletzt zu bleiben. Das Bild von Taube und Falke stellt nur ein Gleichnis dar; denn beide sind ja Angehörige derselben Population mit nur unterschiedlichen oder graduell abgestuften Verhaltensweisen. Da sie im Grunde gleich aussehen, wissen sie noch nicht einmal voneinander, weder in Erinnerung an frühere Kämpfe noch von einer neuen Begegnung, ob der ihnen entgegentretende Rivale Taube oder Falke ist. Außerdem sind Tauben und Falken als" Oberlebensmaschinen" der Gene d.h. Stellvertreter im Wettbewerb um die stärkere Lebenstüchtigkeit, gemessen an der stärkeren Fortpflanzungsfähigkeit, anzusehen. Gibt es nun eine verbindliche, allgemeingültige Antwort auf die Frage: Was passiert, wenn Angehörige der bei den verschiedenen Gruppen einander im Kampf begegnen? Nach ihrer obigen Charakterisierung werden einander begegnende Tauben sich nicht gegenseitig umbringen und somit ihren Bestand nicht dezimieren. Dadurch werden sie im Vorteil gegenüber den Falken sein, die sich bei einer Begegnung bis zu einer tödlich verlaufenden Verletzung bekämpfen und dadurch ihren eigenen Bestand schwächen. Was geschieht aber, wenn Falken und Tauben aufeinander treffen? Die naheliegende Antwort ist, daß die Falken auf dem Kampffeld Sieger sein werden und die Tauben tot, wenn sie sich nicht rechtzeitig durch Flucht in Sicherheit bringen konnten; und wenn es in dieser Weise weitergeht, so werden nach einem gefühlsmäßigen Urteil nur noch Falken übrig bleiben. Ein wissenschaftlich haltbares Urteil kann nur auf experimentellem oder logischem Weg erhalten werden. Die algebraische Form der mathematischen Aussage liefert ein Ergebnis von allgemeiner Gültigkeit, ist jedoch durch seine Abstraktheit schwerer verständlich als ein spezielles Zahlen beispiel. Ein solches hat auch Dawkins vorgezogen, so daß es hier wiedergegeben werden soll. Maynard-Smith und Price stellen in ihrer Analyse folgende Randbedingungen auf:
I. Jeder Kampf endet mit einer Entscheidung. 2. Wer aufgibt, ist Verlierer; das Streitobjekt fällt an den Sieger.
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3. Sofern ein Kampfteilnehmer nicht getötet wird, kann er sich immer wieder zu späteren Kämpfen stellen. Jeder Kampf ist sozusagen ein erster Kampf, als ob frühere Kämpfe nicht stattgefunden hätten. In das behandelte Modell werden nur die beiden schon beschriebenen Kampfesweisen von Tauben und Falken einbezogen, welche die drei Kampfkombinationen Taube gegen Taube, Falke gegen Falke und Taube gegen Falke ermöglichen. Die Kämpfe zwischen den Rivalen gehen um das biologische Weiterbestehen, m.a. W. vornehmlich um Futterquellen und Geschlechtspartner. Die Erfolgsaussichten, die hierbei für die Rivalen bestehen, sollen sich durch zahlenmäßig ausgedrückte Wahrscheinlichkeiten erkennen lassen. Daher müssen auch die Folgen der verschiedenen Kampfweisen durch eine Maßzahl gewichtet werden. In dem Zahlenbeispiel wurde festgesetzt: Ein Verlierer geht mit 0 Punkten aus dem Kampf hervor, ein Sieger mit 50 Punkten. Ein Schwerverwundeter (Tote scheiden aus dem Kampf ohnedies aus) ist mit minus 100 Punkten belastet und einer, der nur mühsam mit viel Aufwand an Zeit und Energie kämpft, mit minus 10 Punkten.
Natürlich könnte das Beispiel auch mit veränderten Gewichten durchgerechnet werden. Dann würde ein verändertes Zahlenergebnis erhalten, aber am Prinzip würde nichts geändert werden. Bei den verschiedenen Rivalenkämpfen ergibt sich nun folgendes: a) Taube (T) gegen Taube (T): Einer bleibt Sieger und gewinnt mit 50 Punkten; aber der Kampf der bei den war langwierig, so daß beide aus dem Kampf mit einer Belastung von -10 Punkten hervorgehen. Gesamtergebnis pro Kampf 50 - 2x 10 = 30 und pro Einzelkämpfer + 15 Punkte. b) Falke (F) gegen Falke (F): Nach kurzer Zeit gibt es einen eindeutigen Sieger mit +50 Punkten und einen ebenso eindeutigen Verlierer mit -100 Punkten. Gesamtergebnis pro Kampf 50 - 100 = -50 und pro Einzelkämpfer der Falkengruppe -25 Punkte. (Alle diese Zahlen sind nur Maße für die Fortpflanzungsaussichten und bedeuten noch keineswegs die Größe der Nachkommenschaft). Trotz ihrer größeren Kampfkraft haben demnach die Falken als Gesamtheit aus ihrem Verhalten mehr Nachteile als die Tauben. Das Ergebnis gilt aber nur für die Kämpfe innerhalb der reinen Gruppen, d. h. von Tauben oder Falken unter sicht. Für die Beantwortung der Frage nach den Kampfergebnissen beim Aufeinanderstoßen von Tauben und Falken können wir voraussetzen, daß die Tauben nicht geflissentlich die Falken aufsuchen, um sich mit ihnen in einen aussichtslosen Kampf einzulassen; und wenn die Falken die Tauben anzugreifen versuchten, würden letztere den ersteren sicher aus dem Weg gehen, um nicht tödlich verletzt zu werden. (In seinem Buch
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III. Die Evolution des Verhaltens
"Das sogenannte Böse" gibt Konrad Lorenz Beispiele für die maßvollen Kämpfe zwischen Tieren derselben Art untereinander, die nie für einen der Kampfpartner tödlich enden.) Es gibt aber auch die Möglichkeit des Auftretens von Falken innerhalb der Tauben durch Mutation und umgekehrt. Eine Mutante setzt sich, da sie wegen ihrer anfänglichen Seltenheit wenig auffällt und beachtet wird, rasch durch, ihre Anzahl nimmt zu, und die ursprünglichen Reinkulturen von Falken oder Tauben werden gemischte F-TGruppen. Die Tauben in der F-Gruppe treffen mit dem Anwachsen ihrer Zahl auf mehr Tauben, so daß sie beim Zusammenstoß und dem Kampf miteinander mit + 15 Punkten abschneiden statt wie beim Zusammenstoß mit Falken nur mit 0 Punkten. Die Punktsumme der gesamten Mischgruppe wird somit zunehmen. Umgekehrt wird es bei der infolge Mutation bewirkten Zunahme der Anzahl Falken in der Taubengruppe immer mehr Zusammenstöße und Kämpfe zwischen Falken geben, die mit der Punktebewertung von -25 pro Falkenkämpfer ausgehen. Während gleichzeitig die für die Falkenkämpfer immer 50 Pluspunkte einbringenden Zusammenstöße mit Tauben abnehmen werden, wird das Punktekonto der Falkengruppe sich vermindern. (I)
Anzahl Falken x (-25) + Anzahl Tauben x 50
und für die Tauben (2)
+ Anzahl Tauben x 15
Anzahl Falken x 0
ergeben. Die Mischpopulation bleibt nur stabil, wenn die Chancen für Falken und Tauben einander gleich sind, d. h. wenn (3) F x (-25) + T x 50 = F x 0 + T x 15 ist, woraus ein Verhältnis der Häufigkeit von Falken und Tauben von 7 : 5 resultiert. Dieses Zahlenverhältnis wäre anders ausgefallen, wenn eine andere Punktebewegung für die einzelnen Kampfergebnisse verwendet worden wäre, hätte aber an der Tatsache, daß sich zwischen beiden Gruppen ein Gleichgewicht einstellt, nichts geändert. Die Gleichgewichtseinstellung besagt, daß die Falken nicht bis zur völligen Ausrottung der Tauben zunehmen und daß sich ein gewisser, keineswegs unbeachtlicher Stand von Tauben hält. Weiterhin zeigt die Rechnung, daß alle Individuen der Mischpopulation, ob Falke oder Taube, die gleiche Erfolgschance haben. Denn für einen Falkenanteil von 7/12 ist die in Punkten ausgedrückte Erfolgschance der Falken unter Einsetzen des Ausdruckes (3) ( 4)
7 x (-25) + 5 x 50 12
= 6,25
und für den Taubenanteil von 5/12 unter Einsetzen des gleichen Ausdruckes
(5)
7xO+5x15 = 6.25 12
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In diesem Gleichgewichtszustand, zu dem die evolutionsstabile Strategie führt, kompensieren Vor- und Nachteile einander. Das gewählte Modellbeispiel ist natürlich sehr einfach und kommt in der Natur nicht wirklich vor. Zur Erläuterung des Prinzips der ESS wird es jedoch als geeignet erachtet. An der evolutionsstabilen Strategie sind in Wirklichkeit weit mehr Gruppen mit jeweils eigener Strategie beteiligt. Sie alle haben Anteil an der Gesamtstrategie. So hat auch Dawkins 3 weitere Gruppen erwähnt, die auf Maynard-Smith und Price zurückgehen. Ihre Einführung vergrößert die Komplexität der ESS, was zu einer besseren Annäherung an die Verhältnisse der realen Welt führt. Zu ihnen gehört der "Vergelter", dessen Strategie durch die Strategie des Gegners nach dem Prinzip "wie du mir so ich dir" bedingt ist; dann der "probierfreudige Vergelter", der sich ebenfalls einer bedingten Strategie bedient, die darin besteht, daß je nach Stärke des Gegners die Kampfweise gewechselt wird. Da dieser Vergelter die Strategie des Gegners nicht kennt, sucht er wie ein Falke den Gegner zu überrumpeln und zu erledigen, ohne natürlich bewußt zu handeln. Denn ein Bewußtsein - dies sei besonders betont - ist bei diesen Rivalitätskämpfen gar nicht im Spiel. Es stoßen hier lediglich Gensysteme aufeinander, die mit verschiedenem Durchsetzungs- oder Aushaltevermögen ausgestattet sind. Erfährt der probierfreudige Vergelter ein falkenartiges Gensystem, so ändert er seine Kampfesweise in die eines taubenartigen Gensystems, d. h. weicht dem Wettbewerb oder Kampf aus. Eine weitere Strategie ist die des "Angebers". Der Angeber verhält sich in täuschender Weise wie ein Falke, um, wenn er wirklich auf einen Falken stößt, sofort die Flucht zu ergreifen. In der allgemeinen mathematischen Behandlung der evolutionsstabilen Strategie lassen sich diese Typen gemeinsam erfassen, d. h. sie werden in einem durch Computer simulierten Modell aufeinander losgelassen. Das Ergebnis ist in jedem Fall ein Gleichgewichtsverhältnis, das evolutionsstabil ist. Es stellt sich heraus, daß die Strategie des Vergelters oder des probierfreudigen Vergelters nahezu stabil ist. Die evolutionsstabilste Strategie bestünde in einer Mischpopulation von Vergeltern und probierfreudigen Vergeltern. Dawkins betrachtet dieses theoretische Ergebnis in schon naher übereinstimmung mit dem, was bei den meisten freilebenden Tieren tatsächlich passiert. Es ist die "behandschuhte Faust" der tierischen Aggressivität innerhalb derselben Art. Eine weitere wichtige von Maynard-Smith betrachtet Strategie ist die der "Zermürbung", ein Prinzip, das - dies sei hier schon vorweggenommen bis in den Bereich des menschlichen Soziallebens reicht. Bei dieser Strategie finden keine Verletzungen statt; die Gegner stehen sich in konstanter Drohund KampfsteIlung gegenüber, die erst dann aufgegeben wird, wenn endlich
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einer der Rivalen ermüdet ist und aufgibt. Der Verlauf gleicht einer Versteigerung, wobei der gebotene Preis, mit dem der Erfolgreiche zahlt, die Zeit des Aushaltens, des längeren Atems ist. Die vorangegangene Beschreibung hat Fälle von "symmetrischen Auseinandersetzungen" geschildert. Sie beziehen sich auf Rivalen, die mit Ausnahme ihrer Kampfstrategie gleichartig sind. Ihre Auseinandersetzungen ließen sich an einem einfachen Modell relativ leicht behandeln. Schwieriger wird die mathematische Behandlung der sog. "asymmetrischen Auseinandersetzungen", mit denen sich Maynard-Smith und G. A. Parker in "the logic of asymmetric contests" befaßt haben. Asymmetrische Auseinandersetzungen finden statt, wenn die Individuen sich in ihrer Körpergröße und ihren Kampfwerkzeugen unterscheiden oder wenn beträchtliche Altersunterschiede bestehen, so daß das ältere nur mit einem geringeren Einsatz kämpfen kann, oder wenn die örtlichen oder zeitlichen Voraussetzungen, z. B. Ortsansässigkeit oder früheres Eintreffen auf dem Kampfplatz dem einen Individuum einen Vorteil vor dem andern geben. Der letzte Fall liegt bei dem Territorialverhalten mancher Tierarten vor, bei dem ein Artgenosse in den Lebensraum eines andern Artgenossen eindringt und dessen Nahrungsquellen und Paarungschancen bedroht. Asymmetrische Ausgangsbedingungen können bei Rivalenkämpfen innerhalb gleicher Tierarten auch dadurch gegeben sein, daß gewisse Individuen eine Erinnerung an den Ausgang früherer Kämpfe haben. Es wird solche geben, die sich ihrer siegreichen Kämpfe und solche, die sich ihrer ständigen Niederlage erinnern. Die Folge ist die Einstellung eines stabilen Zustandes durch Ausbildung einer Rangordnung oder Dominanzhierarchie, wie sie beispielsweise bei Hühnern beobachtet wird. Selbstverständlich gehören Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Tierarten ebenfalls in die Gruppe der Asymmetrien. Wenn in der Prärie Wildkatzen nach ihrer Beute jagen und die Beutetiere um ihr Leben laufen, dann sagen wir im landläufigen Sprachgebrauch, jedes Tier folgt seinem Selbsterhaltungstrieb. Wir denken nicht weiter darüber nach, welche biologische Ursache dahinter steht. Der Fortschritt der Genetik hat Kenntnisse über die Eigenart der Gene erbracht, die durch ihren "blinden" Drang zur Vermehrung, Aus breitung und Erhaltung des Erreichten gekennzeichnet ist. Dieser Drang gleicht einem sich in den Genmaschinen, den Organismen, kundtuenden Egoismus der Individuen, der sich in diesen fortsetzt. In einer sozialen Ansammlung unabhängiger Organismen findet der Egoismus der Individuen durch die Einstellung des evolutionsstabilen Gleichgewichts eine gegenseitige Begrenzung. Die Gesamtheit der Individuen bietet dann das Bild eines sozial funktionierenden Systems. Man kann das zufällige Zusammentreffen von Genen oder Genabschnitten bei der Zeugung eines Lebewesens, also die Erfahrungstatsache, daß jedes
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Lebewesen etwas Einmaliges ist, auch im Sinn von Dawkins deuten: "Es bildet sich, weil die Gengruppen einander ergänzen, eine Einheit, die stabiler ist und daher selektiert wird". Drückt man den Inhalt der Theorie der evolutionär stabilen Strategie in wenigen Sätzen zusammenfassend aus, so besagt er: aus der Evolution geht derjenige als Sieger hervor, der das richtige Maß an Aggression besitzt; durch zu wenig wird das Individuum von den Konkurrenten verdrängt; durch zuviel kann es im Kampf sterben, ohne sich fortgepflanzt zu haben, oder die Konkurrenten nehmen ihm, während es im Kampf Zeit und Energie verschwendet, die Nahrung oder den Partner weg. Die Aggression lohnt sich m.a. W. nur, wenn die Kosten-Nutzen-Rechnung stimmt. Wir können nun die auf Seite 77 aufgeworfene und vorerst provisorisch beantwortete Frage, welches die allmählich gewordene und vervollkommnete Umwelt der Gene ist, exakter beantworten: Die Umwelt ist der Genpool. Unter ihm wird die Gesamtheit aller Erbfaktoren eines lebenden Organismus verstanden. Er ist die langfristige Umwelt der Gene; und die stabilen Gene sind diejenigen, die durch Selektion ausgewählt werden und im Genpool überleben. Aber sie überleben nicht als Individuen, sondern eingebettet in ihre Träger. Der Genpool wird in den Trägern, den lebenden Organismen jeglicher Art zu einem evolutionär stabilen Satz von Genen, in den kein neues Gen eindringen kann. Nach Dawkins überzeugung ist die Einführung des Begriffes der evolutionär stabilen Strategie einer der bedeutendsten Fortschritte der Evolutionslehre seit Darwin. Einzuordnen in den Evolutionsvorgang ist sie als ein Entwicklungsgesetz, nach dem die Evolution eine Folge von Schritten von einem stabilen Zustand zu einem andern ist. Ein Vergleich des Prinzips der ESS mit dem von Eigen für die Theorie der Informationsentstehung herausgearbeiteten Extremalprinzip drängt sich unmittelbar auf. Letzteres wurde bei der mathematischen Behandlung des Aufbaus der Informationsträger in ihrer niedrigsten Organisationsstufe gefunden. Die natürliche Selektion wurde als eine durch die Eigenschaften der Materie bedingte Qualität dargestellt. Die Reaktivität der Nukleinsäuremoleküle ist relativ einfach und besteht nur in ihrem Bestreben zur Aggregation. Sie können sich allein über diese mit ihrer Umwelt, d. h. ihren Wettbewerbern auseinandersetzen oder höchstens auf dem Weg über die Mutation in Sicherheit bringen und vor dem Aussterben bewahren. Bei nahezu gleichen molekularen Eigenschaften machen sich gewisse Unterschiede in der Aggregation zu größeren Gebilden bemerkbar, die zwar geringfügig, jedoch noch ausreichend zur Entstehung verschiedener Sequenzen sind. Demgegenüber resultiert aus der Theorie der evolutionsstabilen Strategie innerhalb einer Ansammlung artgleicher Organismen mit gleichen, jedoch nach ihrer Stärke differenzierten Eigenschaften im Kampf miteinan-
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der keine Selektion einer bestimmten Gruppe, so daß die anderen zum Aussterben bestimmt wären. Wie erklärt sich dieser Unterschied? Als einen ersten, wenn auch wenig wahrscheinlichen Grund könnte man annehmen, daß in einer der beiden Theorien oder in beiden aus Gründen der Vereinfachung der mathematischen Behandlung des Problems gewisse, zusätzlich notwendige Randbedingungen außer acht gelassen wurden, deren Vernachlässigung das Ergebnis verzerrt haben könnte. Die Zahl der Randbedingungen ist in der Theorie der ESS, in der lebende Systeme als Träger der Gene und nicht relativ einfache Moleküle behandelt werden, größer als in der Theorie er Informationsentstehung. Die Reaktivität der Genträger oder Oberlebensmaschinen erschöpft sich nicht in einer einzigen Möglichkeit, vielmehr besitzen sie eine aus vielen Reaktionsmöglichkeiten zusammengesetzte Gesamtreaktivität, die eben ihr Verhalten ausmacht oder diesem gleich ist. Mit diesem ausgestattet können sie im Turnier des Wettbewerbs die Angriffe der Rivalen in wirksamerer Weise parieren. Als ein Beispiel dafür kann m?Tl die Flucht der Tauben beim Zusammentreffen von Falken und Tauben ansehen. Mit zunehmender Zahl der Reaktionsmöglichkeiten eines reaktionsfähigen Gebildes, durch weIche sich der Zwang zur Flucht auf den Ausweg der Mutation vermindert, wird sein Verhalten theoretisch schwerer überschaubar und damit weniger berechenbar. Die Erforschung des Verhaltens ist dann nur noch durch Experimente möglich, die in großer Zahl ausgeführt, eine mathematisch statistische Behandlung ermöglichen. Abschließend kann das Prinzip der evolutionär stabilen Strategie als ein Fundamentalgesetz des Soziallebens von Gruppen jeglicher Art bezeichnet werden, nach dem sich die Koexistenz selbständiger Organismen regelt.
h) Das Kosten-Nutzen-Prinzip in der Natur Solange Verhalten nichts als einfache Reaktivität ist, äußert es sich nach bekannten einfachen physikalischen und chemischen Gesetzen. Mit dem Aufstieg der Komplexität der Organisationsformen vom chemischen Molekül zum organisierten biologischen Gebilde geht Reaktivität in einen Komplex von Reaktionsmöglichkeiten, also Verhalten, über, das Gesetzen oder Prinzipien gehorcht, die naturgemäß vielfach statischen Charakter haben, wie z. B. solche der Wirtschaft. In dieser ist ein bekanntes Prinzip das Kosten-Nutzen-Prinzip, nach welchem sie bei ihrer Tätigkeit unter Maximierung des Nutzens eine Minimierung des Kostenaufwandes erstrebt. Die soziobiologische Wissenschaft hat gewichtige Argumente dafür erbracht, daß die Natur ebenfalls nach diesem Prinzip verfährt, so auch bei der Ausbreitung der Gene, d. h. der Fortpflanzung ihrer Träger, für welche die Bezeichnung Gene synonym verwendet wird. An der Fortpflanzung sind zwei Sexual partner, die Eltern, beteiligt, die in
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soziobiologischer Begriffsweise einen Elternaufwand für die Nachkommenschaft betreiben und ihre Gene in diese "investieren" (R. L. Trivers). Die Investition soll nach dem in der Natur herrschenden Ökonomieprinzip den größten Nutzen erbringen. Beim Menschen kann der männliche Partner durch seine oft bis ins hohe Alter noch andauernde Zeugungsfähigkeit weit mehr investieren als der weibliche, dessen "Investitionsvermögen" durch den Eintritt des Klimakteriums und die Zahl der überhaupt möglichen Schwangerschaften begrenzt ist. Die Partner streben als Werkzeuge der Natur und nicht bewußt einen größtmöglichen Nutzen an, der beim männlichen durch häufig wechselnden Geschlechtsverkehr wie bei der Promiskuität der Naturvölker am größten ist, beim weiblichen durch Pflege des Nachwuchses und Sicherung des Lebens, repräsentiert durch den Begriff "Nestbautrieb". Bei diesen beiden verschiedenen Verhaltensweisen der Geschlechter stellt sich ebenfalls ein evolutionär stabiles Gleichgewicht ein, das sich je nach Umweltsituation in verschiedener Weise zeigen kann. Z. B. beweist die soziobiologisc he Wissenschaft durch eine wahrscheinlichkeitstheoretische Untersuchung, daß ein Gleichgewicht besteht, wenn das zahlen mäßige Verhältnis zwischen den weiblichen Geschlechtspartnern, die "spröde" sind. zu den männlichen, die zum wei blichen Partner halten und damit "treu" sind. etwas größer als I ist, m.a. W. wenn ein geringer Frauenüberschuß besteht. Damit dürfte auch eine Erklärung auf die Frage gegeben sein, die immer interessiert hat, aber nie beantwortet werden konnte, weshalb das Verhältnis der Geschlechter in der menschlichen Population nahezu gleich I ist, wobei zugegeben werden muß, daß sich dieses unabhängig vom menschlichen Bewußtsein einstellt. Ein Verhältnis, bei welchem die männlichen Partner ihrer Promiskuität wie bei den Naturvölkern folgen könnten. würde sich wegen der dem weiblichen Partner allein verbleibenden Last der Aufzucht der Nachkommen nicht stabilisieren und wäre daher biologisch unmöglich. Bekanntlich wird nach großen Kriegen, in denen das Gleichgewicht zuungunsten des männlichen Geschlechts verschoben wurde, dieses durch eine steigende Zahl von Knabengeburten wieder hergestellt. bis das alte Verhältnis wieder erreicht ist. Auch hier bedeutet die "Gleichgewichtsstrategie" ein blindes, unbewußtes Verhaltensprogramm. Vielfach wird die Auffassung vertreten, daß das Aufkommen des Feminismus eine genetische Anpassung sei. Trivers stellt dieser entgegen, daß hierdurch gegen die evolutionärstabile Strategie verstoßen würde, die aus dem biologischen Geschehen nicht wegzudenken sei. Vielmehr werden die immer mehr Berufe ergreifenden Feministinnen weniger Kinder gebären. Das Kindergebären wird daher immer mehr den Nichtfeministinnen überlassen werden, so daß aus evolutionärer Sicht der Feminismus ein Opfer der natürlichen Auslese wird. Es dürfte wohl schwer zu widerlegen sein, daß der Gen-Egoismus sich bei der Sexualität in seiner höchsten Potenz zeigt. Geschlechtliche Aktivität ist Egoismus und Liebe zugleich. Aus beider Bestehen ergibt sich:
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I. Wie schon bei der Hyperzyklenbildung und der Erscheinung des Synergismus dargelegt, besteht auch hier ein Kofunktionszwang oder Kollaborationsdruck, dem die beteiligten Organisationsstufen nicht ausweichen können. 2. Die genetische Investition zwingt verschiedengeschlechtliche Partner in eine gleichzeitig sexuelle und soziale Gemeinschaft, welche die kleinste Gemeinschaft überhaupt ist und deren Verhalten so auf sich bezogen und innig ist, daß sie, wenn nötig, aggressiv gegen dritte wird. Diese Ambivalenz des Verhaltens setzt sich evolutionär in die höheren sozialen Gemeinschaften fort. 3. Verhaltensweisen wie Mütterlichkeit (Nestbautrieb, Pflege derNachkommenschaft u. ä.) sind genetisch bedingte Urelemente des sozialen Lebens, auf denen die Evolution das gesamte soziale und ethische Verhalten aufgebaut hat. Mit der Ausbreitung der Gene einer Genbahn oder -linie geht auch eine Ausbreitung des Sozialverhaltens parallel, wie im nächsten Abschnitt durch die von J. B. Hamilton entwickelte genetische Theorie des sozialen Verhaltens gezeigt wird.
c) Verwandtschaftsgrad und Sozialverhalten Man könnte die unbegrenzte, gleichermaßen parasitäre Ausbreitung der Gene als eine rein biologische Erscheinung hinnehmen wie etwa die der Pflanzen und Tiere, sofern diese nicht durch irgendwelche Vorgänge oder Maßnahmen zum Stillstand gebracht würde. Da aber Gene nicht als freie Wesen existieren, sondern ihre Wirkung in ihren Trägern, den Lebewesen, entfalten, müssen sie sich zu ihrer Ausbreitung dieser Träger bedienen und ihr Ausbreitungsstreben durch diese wirken lassen. Man würde dies wahrscheinlich nicht allzu sehr bewerten, wenn es uns so bedeutungslos erschiene wie die Ausbreitung von Unkräutern. Diese sind zwar für Gartenbau und Landwirtschaft lästig, der Mensch wird jedoch über sie mit geeigneten Mitteln Herr. Er nimmt sie als Naturgegebenheit hin, ohne das Verhalten der Unkräuter als unsozial oder egoistisch zu empfinden - auch wenn er bei ihrem Oberhandnehmen sich vielleicht ärgert und von "verdammtem Zeug" spricht. Pflanzen leben, von ihrer Ausbreitungssucht abgesehen, ortsfest, Tiere hingegen nicht. Letztere können in manchen Jahren zu einer regelrechten Plage, wie z. B. die von Mäusen oder Insekten werden und größere Wirkungen durch Verminderung oder Vernichtung von Ernten und Vorräten hervorrufen. Der Mensch erlebt sie nach einer Jahrtausende alten Gewohnheit als Naturkatastrophen. Er sucht die Verursacher zu bekämpfen, ohne daß er bisher auf den Gedanken gekommen wäre, ihr Verhalten mit
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einem aus dem moralischen Denken übernommenen Begriff, wie den des Egoismus, zu belegen. Die Ausbreitungssucht der Gene, das ständige Streben nach Wachstum ihrer Träger muß als biologische Tatsache hingenommen werden, die nicht zu der Auffassung verführen sollte, daß das Gen etwas bewußt Handelndes wäre. Als Großmolekül besitzt es eine Reaktivität, die sich in einer fortlaufenden Vermehrung äußert. Diese würde, wenn sie sich nicht in komplexere höhere Strukturen einbauen würde, allmählich zum Stillstand kommen. Durch die Verschiedenartigkeit der Organisationsformen in der ganzen lebenden Welt wird jede Gelegenheit, sei sie geographisch, klimatisch, ein festes, flüssiges oder gasförmiges Milieu oder symbiotisch unter Verwertung jeder Energiequelle genutzt. Daran sind unzählige Genarten beteiligt, wodurch die allgemeine Ausbreitung noch verstärkt wird. Zur Vermeidung des Makels einer eventuellen Unkorrektheit bei der Verwendung des Begriffes "egoistisches Gen" ist der Hinweis notwendig, daß Dawkins ihn als eine nützliche Metapher gewählt hat, durch welche die Gene wie aktive Handlungsträger behandelt werden, die bewußt auf ihr eigenes überleben hinarbeiten. Davon kann natürlich keine Rede sein. Man könnte - und dadurch würde die Vorstellung eines bewußten Verhaltens von selbst entfallen - von einem zählebigen Gen sprechen, das seine Zählebigkeit durch Zunahme seines zahlenmäßigen Bestandes im Genpool (= Gesamtheit aller Erbfaktoren einer Art) erweist. Weil es im Genpool festgelegt ist, kann sein Verhalten auch nur auf dem Niveau des gesamten Lebewesens verfolgt werden, auf dessen Körper jedes egoistische Gen seinen Einfluß verteilt und das für die kurze Zeit seines Lebens Träger für einen kleinen Anteil des Genpools ist. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung entstehen durch Mutation, crossing-over und Inversion immer wieder geänderte Kombinationen von Genen aus diesem Pool. Jeder Nachkomme eines Elternpaares besitzt eine andere Kombination von Genen. Solche Kombinationen sind im Genpool einer Spezies mit unterschiedlicher Häufigkeit vorhanden. Die Häufigkeitsverteilung ist es, in welcher sich eben das "zählebige Gen" hervortut und welche die Lebenseignung der Art ausmacht. Die Betrachtung des Gens als eines Gebildes mit einem an Egoismus grenzenden Durchsetzungs- oder Fortpflanzungsvermögens durch die Soziobiologie wurde durch eine ganze Reihe experimental- und theoretischbiologischer Forschungsarbeiten verschiedener Forscher ausgebaut. Eine wichtige Leitlinie hierzu wurde durch die im Jahre 1960von W. D. Hamilton aufgestellte "Genetische Theorie des sozialen Verhaltens" gefunden. Bis zu diesem Zeitpunkt hat die Darwinsche Auffassung gegolten, nach der die Eignung eines Gens im Fortgang der Evolution durch die Anzahl der Nachkommen eines Individuums zu bewerten ist. Man sprach von "individual fitness" (individueller Eignung). Nach HamiIton ist diese Bewertung nicht korrekt, weil bei der Feststellung der Zahl der
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JII. Die Evolution des Verhaltens
Nachkommen eines Erzeugers E I alle so behandelt werden, als ob sie allein sein Erbgut in sich tragen würden. In Wirklichkeit kommt in der Nachkommenschaft in der Reihenfolge der Generationen immer mehr Erbgut anderer Eltern hinzu. Der Anteil des an die Nachkommen weitergegebenen Erbgutes des Erzeugers E I vermindert sich und teilt sich in die Verzweigungen der Nachkommenschaft nach unterschiedlichem Verwandtschaftsgrad auf. Die genetisch wirkliche Stärke der Nachkommenschaft eines Individuums ergibt sich daher aus der Anzahl seiner Nachkommen multipliziert mit dem Verwandtschaftsgrad (= Bruchteil einer VoIlverwandtschaft, die das Individuum mit sich selbst besitzt und mit dem Wert I definiert ist) dieser Nachkommen mit ihrem Vorfahren. Die resultierende Größe ist die von Hamilton eingeführte "inclusive fitness" (= Gesamteignung). Hamilton, der auf Vorarbeiten von R. H. Fisher und J. B. S. Haldane fußt, ist der Ansicht, daß die Ausbreitung der eigenen Genart am stärksten ist, wenn diese nicht nur in den direkten Nachkommen, sondern auch in den Verwandten stattfindet und sich durch diese fortpflanzt. Dies ist aber nur durch gegenseitige Unterstützung der Verwandten gewährleistet. Durch die Berücksichtigung der Verwandtschaft bei der Ermittlung der Gesamteignung wird der Gedanke einer dritten Art von Selektion neben der Gruppenselektion und Individualselektion nahegelegt, den E. O. WiIson in seinem Werk "Sociobiology" aufgebracht hat: "die Familienselektion", die schon vorstehend erwähnt wurde. Hiergegen wird geltend gemacht, daß die Trennlinie zwischen Familie und Nichtfamilie schwer zu ziehen ist, weil diese mit der Änderung, d. h. Abnahme des Verwandtschaftsgrades verwaschen wird. Die Familienselektion ist vielmehr eine Folge der Selektion des "egoistischen Gens". Der Grad der Verwandtschaft (= der prozentuale Anteil des übertragenen Erbgutes) läßt sich aufgrund der Gültigkeit des Mendelschen Vererbungsgesetzes ohne weiteres exakt angeben. Nach diesem Gesetz erhält ein Nachkomme von seinem Vater und seiner Mutter je einen halben Chromosomensatz Erbgut. Nun kann man aber in kein Individuum hineinsehen und die erhaltenen Erbguthälften markieren, ebenso die, welche es auf seine Nachkommen vererben kann oder vererbt hat. Deswegen lassen sich schon bei den Nachkommen der ersten Generation, also Geschwistern, nur Wahrscheinlichkeitsgrößen für die Verwandtschaftsgrade angeben. Der Verwandtschaftsgrad beträgt 100 %, wenn 2 Geschwister von Vater und Mutter identisch gleiche Chromosomensätze erhalten haben, 50 %, wenn sie nur von einem Elternteil identisch gleiche Chromosomensätze besitzen, und 0, wenn ihre erhaltenen Chromosomensätze sich völlig unterscheiden. Der mittlere Verwandtschaftsgrad zwischen Geschwistern beträgt nach einer einfachen Rechnung 50 %. Bei Stiefgeschwistern, welche die gleiche Mutter, jedoch verschiedene Väter haben, sinkt der mittlere Ver-
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wandtschaftsgrad rechnungsmäßig auf 25 %. Geht man zur Berechnung des Verwandtschaftsgrades der verschiedenen Arten von Nachkommen, z. B. Enkeln, Urenkeln, Neffen, Großneffen usw. über, so ist auch der Generationsabstand zu berücksichtigen. Ist ein Verwandtschaftsverhältnis bekannt, so läßt sich auf jeden Fall nach Hamilton eine Zahlengröße für den Verwandtschaftsgrad angeben. Hierfür könnten beliebige Beispiele angegeben werden, worauf an dieser Stelle aber verzichtet werden kann. Der Sinn der Theorie von Hamilton und seiner Vorgänger ist zu zeigen, daß das soziale Verhalten innerhalb einer Gruppe von Individuen durch deren Verwandtschaftsgradgelenkt wird, nicht bloß von der Tatsache der Verwandtschaft. Nun wird mancher sagen, das sei nichts Neues und von alters her so gewesen, daß verwandtschaftliche Beziehungen Anlaß zu gegenseitiger Hilfe und Berücksichtigung von Interessen gewesen waren und heute noch sind; und daß normale Eltern für ihre Kinder sorgen und mit Liebe und Interesse das Heranwachsen der Enkel verfolgen und bisweilen helfend eingreifen und daß fernere Verwandte und gewöhnliche Bekannte weniger Hilfe erfahren. Was bedarf es zu dieser Erfahrung noch einer besonderen Theorie? Aber vielleicht würde er schon nicht mehr die Frage beantworten können, weshalb bisweilen schon unter Geschwistern eine lebenslange Abneigung, ja unter Brüdern ein tödlicher Haß bestand, wie es beispielsweise zum Mord von Abel durch Kain geführt hat. Hamiltons Theorie gibt hierauf eine Antwort; denn es ist genetisch denkbar, daß in solchen Fällen Geschwister von ihren Eltern verschiedene Chromosomensätze erhalten haben und ihr Verwandtschaftsgrad daher gleich Null ist. Die gleiche Theorie kann eine Reihe von typischen Fällen des sozialen Verhaltens erklären; und wenn sie unerklärbar erscheinen, dann deshalb, weil der Verwandtschaftsgrad allein zur Erklärung nicht ausreichend ist, sondern weitere Nebenbedingungen zu berücksichtigen sind. Ein Beispiel hierfür ist das Verhältnis zwischen Großeltern und Enkeln. Zwischen beiden besteht, weil sie noch durch eine Generation distanziert werden, der Verwandtschaftsgrad 1/2 x 1/2 = 1/4, da sie nur ein Viertel der Gene gemeinsam haben. Trotz gleichen gegenseitigen Verwandtschaftsgrades verhalten sich Großeltern gegenüber Enkeln selbstloser als umgekehrt diese gegen die Großeltern. Weil die Enkel noch eine größere Lebenserwartung besitzen, so verfügen die Gene für den Egoismus von Enkeln gegenüber den Großeltern einen größeren selektiven Vorteil als die Gene für den Egoismus der Großeltern gegenüber den Enkeln. (Da wir uns mit dem Gen-Egoismus befassen, wurde geflissentlich vermieden, die Beziehung Großeltern-Enkel mit dem Altruismusverhalten zu kennzeichnen, der ja nur invers zum Egoismus ist.) So wäre auch für eine Tierart, bei der die Lebenserwartung der Jungen größer ist als die der Alten, jedes Gen für ein altruistisches Verhalten der Jungen von Nachteil. Es würde eine altruistische Selbstaufopferung von
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Individuen herbeiführen zugunsten von Individuen, die dem Tod näher sind als der sich altruistisch Verhaltende. Derartige Sonderbedingungen, die durch die Richtung der möglichen Genausbreitung und -fortpflanzung bestimmt sind, müssen bei der Untersuchung von augenscheinlich altruistischen Verhaltensweisen jeweils zusammen mit dem Verwandtschaftsgrad berücksichtigt werden. Schon Darwin hatte unter den Tieren die sozialen Tugenden des Mutes und der Selbstaufopferung festgestellt, sie aber mit seiner Theorie noch nicht erklären können. Die soziobiologische Forschung hat dieses Problem mit der Theorie von Hamilton und seiner Vorläufer mit Erfolg in Angriff genommen. Welche experimentellen Ergebnisse der Verhaltensforschung konnten zur Erhärtung dieser Theorie herangezogen werden? Im Hinblick auf die Durchleuchtung des menschlichen Sozialverhaltens wäre es erwünscht, wenn sie am Menschen als Versuchsobjekt - abgesehen von den wenigen beschriebenen Beispielen -- hätte geprüft werden können, zumal bei diesem die Verwandtschaftsgrade immer eindeutig feststell bar sind. Andererseits würde der Mensch bei der Vorstellung, Objekt von Experimenten der Verhaltensforschung zu sein, sich höchstwahrscheinlich nicht mehr unbefangen verhalten können und damit die von ihm gewonnenen Beobachtungsergebnisse fragwürdig machen. Demgegenüber verhält sich das Tier wieder unbefangen, d. h. natürlich, aber sein Verwandtschaftsgrad zu anderen Artgenossen dürfte nur schwer feststellbar sein, wenn man nicht zur Umgehung dieser Schwierigkeit die zu beobachtenden Tiergruppen für die Forschungszwecke eigens züchtet und damit eine Skala von Verwandtschaftsgraden erzeugt. Glücklicherweise wurden in der Natur einige Tierarten gefunden, in denen mehr oder weniger verzweigte Verwandtschaftsgrade festgestellt werden konnten oder schon durch frühere genetische Untersuchungen bekannt waren. B. Bertram hat in langjährigen Beobachtungen das Sozial verhalten im Serengeti-Nationalpark lebenden Löwenrudeln untersucht. Von T. Struhsaker stammen Untersuchungen an in Uganda lebenden Meerkatzengruppen, von J. F. Oates ähnliche an den Berg-Guereza, einer anderen afrikanischen Affenart, von H. W. Bruce an Mäusen, von W. C. Rothenbühler an Bienen und von R. L. Trivers und H. Hare an Ameisen.
Es kann nicht Aufgabe der vorliegenden Abhandlung sein, auf alle Einzelheiten dieser Forschungsergebnisse ausführlich einzugehen. Hierzu sei auf die umfangreiche und eindrucksvolle Darstellung in dem Buch "Das Prinzip Eigennutz" von W. Wickler und Uta Sei bl hingewiesen. Um die weiteren Betrachtungen zu fundieren, sei der prinzipielle Gehalt der von den genannten Forschern erzielten Beobachtungsergebnisse kurz extrahiert:
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I. Löwen. Diese Tiere leben in Rudeln mit einigen wenigen Männchen und einem Oberschuß an Weibchen. Aus dem Zahlenverhältnis der beiden läßt sich der mittlere Verwandtschaftsgrad der Eltern zu den Jungtieren ermitteln. Wegen der Minderzahl der Männchen ist deren Vaterschaft für die Jungen häufiger als die Mutterschaft der Löwinnen. Hieraus ergibt sich ein höherer Verwandtschaftsgrad zwischen den Männchen und den Nachkommen als zwischen diesen und den Weibchen. Tatsächlich wird eine größere Fürsorge der Männchen für die Jungtiere beobachtet. Dringt ein fremdes Männchen in das Rudel ein und erobert die Herrschaft, so bringt es alle von anderen Vätern stammenden Babys, die es antrifft, um, ohne eines zu fressen. Die Babys der eigenen Zeugung wachsen unbehel\igt auf und werden vom Vater auch umsorgt. Babys von benachbarten Fremdrudeln werden nicht beachtet. Dem Verhalten der Löwen liegt offenbar das Prinzip zugrunde, möglichst das eigene Erbgut im Sinn des Gen-Egoismus fortzupflanzen. Das bei Löwen festgestellte Verhalten ist auch bei anderen Tierarten, die wie Löwenrudel in einer als Haremsstruktur bezeichneten Gemeinschaft leben, anzutreffen. Das soziale Problem, Junge andrer Väter anzutreffen, wird bei ihnen in gleicher Weise gelöst. 2. Affen. Von diesen Tieren wurden über viele Jahre hinweg eingehend entsprechende soziobiologische Daten gesammelt. Der Babymord nicht eigener Nachkommen ist hier ebenso angestammte Verhaltensweise. Die Babys werden in den verschiedenen Affenrassen, die in Harems leben, nach heftigem Kampf zwischen den Affenmüttern und eingedrungenen neuen Haremsherrschern von letzteren nicht nur getötet, sondern zum Unterschied von den Löwen auch verzehrt. 3. Mäuse. Hier hat H. Bruce den nach ihm benannten Effekt an Hausmäusen entdeckt. Er besteht darin, daß bei einem schon begatteten Mäuseweibchen, wenn es 2-3 Tage nach der Begattung mit einem anderen Männchen und nicht mehr mit dem, von dem es begattet wurde, zusammentrifft, die beginnende Schwangerschaft gestört und abgebrochen wird. Ursache hierfür ist ein Geruchsstoff aus dem Urin des neu aufgetauchten Männchens. der die homonalen Funktionen im Weibchen stört und so steuert, daß dieses gleich wieder brünstig wird. Das neue Männchen pflanzt sein eigenes Erbgut auf einfachere Weise fort. als dies bei Löwen und Affen geschieht. Es braucht keine Nachkommen von Rivalenmännchen des Mäuseharems zu töten. Es verhindert schon gleich, daß diese überhaupt geboren werden; ein eindrucksvolles Beispiel des Gen-Egoismus.
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4. Bienen. Von diesen Hautflüglern sind die Verwandtschaftsgrade zwischen den einzelnen Gruppen des Bienenstaates bekannt. Diese Tiere haben mit Hummeln, Wespen und Ameisen außer ihrem Leben in Staaten noch eine biologische Eigenart gemeinsam, durch welche sie sich von den meisten anderen Tieren, auch Insekten, unterscheiden: Die Weibchen stammen aus befruchteten Eiern und haben deshalb zwei Chromosomensätze, Männchen aus unbefruchteten Eiern mit nur einem Chromosomensatz. Deshalb haben erstere zwei Eltern, die Männchen aber nur eine Mutter und auch keine Söhne. Daraus resultieren für die Nachkommen, welche bei den Bienen die Arbeiterinnen und die Drohnen sind, verschiedene Verwandtschaftsgrade, die quantitativ angegeben werden können und bekannt sind. Sie betragen zwischen Mutter (Königin) und Töchtern 50 %, zwischen Schwestern unter sich 75 o/r, zwischen Vätern und Töchtern 100 % Die Schwestern sind unter sich mehr miteinander verwandt als mit der Mutter, da sie den ganzen väterlichen Chromosomensatz in gleicher Weise geerbt haben. Unter Verzicht auf ihre eigenen Nachkommen, sozusagen aus Altruismus gegenüber ihren nachgeborenen, mit ihnen verwandten Schwestern betreiben sie Brutpflege, wobei sie die Eier und Larven ihrer Mutter pflegen, aus denen wieder Schwestern schlüpfen. Die mit den Töchtern zu 100 % verwandten Väter sollten wegen des hohen Verwandtschaftsgrades eigentlich ihre Töchter pflegen, können dies aber nicht, da sie, solange sie nicht geschlechtsreif sind, keine solchen haben. Söhne können sie schon gar nicht pflegen und tun dies auch nicht, da diese aus unbefruchteten Eiern geschlüpft und mit keinem Vater verwandt sind. Auch bei den anderen genannten Insekten, bei denen die verschiedenen Verwandtschaftsgrade genetisch erforscht sind, konnte das Sozialverhalten, das sich am stärksten in der Brutpflege ausdrückt, in einen engen funktionalen Zusammenhang zu dem jeweiligen Verwandtschaftsgrad gebracht werden.
In den letzten Jahren sind auch überlegungen angestellt worden, welche die Auswirkungen der unterschiedlich genetischen Ausstattung der Geschlechter auf das soziale Verhalten betreffen. Bekanntlich unterscheidet sich im Bereich der Wirbeltiere, zu denen auch der Mensch gehört, das Weibchen vom Männchen in einem bestimmten Chromosomen paar. Beim Weibchen besteht das Paar aus zwei gleichgestalteten X-Chromosomen, beim Männchen aus einem X-Chromosom und einem Y-Chromosom. Es gehört heute zum Allgemeinwissen, daß das Geschlecht des Kindes durch die Y-Chromosomen der väterlichen Spermien bestimmt wird. Das führt dazu, daß Töchter innerhalb einer Familie nur mit X-Chromosomen ausgestattet sind und unter sich den höchsten Verwandtschaftsgrad und mit der Mutter einen sehr hohen Verwandtschaftsgrad besitzen. Auf der anderen Seite haben Söhne derselben Eltern, also Brüder, unter sich als auch mit dem
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Vater einen hohen Verwandtschaftsgrad und später, wenn sie selbst Vater geworden sind, mit ihren Söhnen. Indessen reicht das bisher vorliegende soziobiologische Untersuchungsmaterial noch nicht zu einer exakten Bestätigung eines eindeutig funktionalen Zusammenhangs zwischen den durch die unterschiedlichen Chromosomen bedingten Verwandtschaftsgraden und dem Sozialverhalten der Geschlechter aus. Außerdem ist zu bedenken, daß der Fortschritt der Kultur, der sich im heutigen gesellschaftlichen Leben zu einer immer stärkeren Emanzipation der Frauen und Nivellierung der sozialen Unterschiede der Geschlechter vollzieht, noch weiteres zuverlässiges Beweismaterial immer schwieriger wird erbringen lassen. In diesem Zusammenhang dürfte die Untersuchung der Frage von Interesse sein, wie weit eine Beziehung zwischen dem Mutterrecht, das in verschiedenen geschichtlichen Phasen früherer Zeit in zahlreichen Völkern gegolten hat, und dem stärkeren sozialen Band der Angehörigen des weiblichen Geschlechts besteht, das durch den höheren Verwandtschaftsgrad bedingt ist (vgl. "M ütter und Amazonen", die erste weibliche Kulturgeschichte; Sir Galahad, Non Stop-Bücherei, Berlin). Wenn nun bei einer ganzen Reihe von Tierarten ein klarer Zusammenhang zwischen Sozialverhalten der Individuen und ihrem Verwandtschaftsgrad gefunden werden konnte, weil der letztere wissenschaftlich objektiv festgestellt wurde, so wird der Skeptiker - und solche wird es außerhalb der naturwissenschaftlichen Mentalität genug geben - sicherlich fragen, woher z. B. Tiere das Wissen um ihren Verwandtschaftsgrad zu Artgenossen haben sollen, um sich diesem entsprechend sozial zu verhalten. Hierauf sei einmal geantwortet, daß Tierarten gefunden werden, die sich durch genetisch definierte, familienspezifische Düfte auszeichnen. Weiterhin wurde neuerdings unter gewissen Fischarten eine Art Ichbewußtsein entdeckt, das eine Andeutung dafür zuläßt, daß Tiere nicht nur allgemein ihre Artgenossen, sondern ganz spezielle unter diesen erkennen. Schließlich zeigt auch die menschliche Erfahrung, daß beim Zusammenleben von Individuen hohen Verwandtschaftsgrades mit solchen von niedrigerem oder einem nicht bestehenden die Gewohnheit des Zusammenlebens das Sozialverhalten prägt und es im Sinn gegenseitiger Hilfe verstärkt. Wenn der Mensch schon den verwandtschaftlichen Unterschied in solchen Fällen nur noch wenig beachtet oder empfindet, wird er sich innerhalb großer Tiergruppen kaum noch unterscheiden lassen. Und als letztes: Sozialverhalten kann eine Form annehmen, die nach menschlicher Denkweise zwar nicht als unmoralisch charakterisiert werden kann, aber einer sozialen Gleichgültigkeit gleichkommt. Sollte beim Leser zwar die Bereitschaft bestehen, die Genselektion als ein kategoriales Element des sozialen Verhaltens unter Verwandten anzuerkennen, aber nicht al1gemein als Ausgangsbasis der Entwicklung eines moralischen Bewußtseins, so würde er aber sicher umgekehrt ein Fehlen des
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gleichen Verhaltens unter der Spezies Mensch als unmoralisch verurteilen. Denn in seinen Augen wären z. B. "Rabeneltern", welche sich nicht um ihre Kinder kümmern oder sie mißhandeln, höchstwahrscheinlich unmoralische Naturen; und so wie die Familie die Urzelle des sozialen Zusammenlebens und der Ausgangspunkt der quasimoralischen Verhaltensweisen ist, dürfte sie es auch für ein durch die Gewohnheit gewordenes sozial geordnetes Zusammenleben größerer menschlicher Sozietäten sein.
d) Der hiologische Generationenkonflikt Hierunter soll nicht der häufig auftretende Gegensatz der Generationen verstanden werden, wie er sich beispielsweise im heutigen gesellschaftlichen und politischen Leben abspielt. Für den Soziobiologen dürfte wahrscheinlich der Nachweis nicht schwierig sein, daß der Konflikt, hier biologischer Natur, mit dem genannten Gegensatz eine gemeinsame Wurzel hat. Der Konflikt entspringt aus dem biologischen Verhältnis zwischen Eltern und Kind, wo es darum geht, wie groß der Einsatz der Eltern für die Nachkommenschaft im Interesse deren optimaler Aufzucht sein kann und sein darf oder umgekehrt, wieviel Einsatz die Nachkommen von den Eltern beanspruchen können. I n denjenigen sozialen Gemeinschaften oder Völkern, in denen die Kultur beim Durchschnitt der Bevölkerung das Verantwortungs bewußtsein zu einer entsprechenden Einstellung zu diesem Problem entwickelt hat, wird die Zahl der Nachkommen so bestimmt, daß ein gesundes Aufwachsen in einem harmonisch beschaffenen Familienmilieu und eine für das spätere Leben ausreichende Ausbildung gesichert sind. Für die Arten im allgemeinen gilt ein anderes Regulativ für den optimalen Elterneinsatz für die Nachkommen. Es wird bestimmt durch den vom Elterneinsatz abhängigen Nutzen der maximalen Genausbreitung. Hier, wo nur die Natur und Kultur wirkt, muß doch wohl auch ein naturgesetzliches Verhalten am Werk sein, und tatsächlich läßt sich ein solches mit der Theorie des egoistischen Gens charakterisieren. In seinem 1974 veröffentlichten Aufsatz "Parent-Offspring Conflict" hat R. L. Trivers die Untersuchung angestellt, ob Gene mit egoistischen Streben nach bevorzugter Behandlung einzelner Individuen unter den Kindern durch die Eltern im Genpool zahlreicher werden, als solche, die sich mit dem ihnen zustehenden Anteil begnügen. Er stellt die These auf, daß der Eltern-KindKonflikt biologisch unausweichlich sei. Nach Trivers legt das Kind ein eigennütziges, unbewußtes und vegetativ bedingtes Interesse an sich selbst an den Tag und verlangt von den Eltern an materiellen und emotionellen Zuwendungen mehr als ihm zusteht. Die Eltern bringen aber für jedes ihrer Kinder nur einen Teil ihres genetischen Interesses auf und erwarten deshalb vom Kind, daß es teilt. Trivers schafft den Begriff des "Elternaufwand", den
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der große Biologe Ronald Fisher schon 1930 mit dem Begriff "Parental Expenditure" vorweggenommen hatte. Der Elternaufwand ist definiert als ,jede beliebige Investition seitens der Eltern in einen einzelnen Nachkommen, welche die Oberlebenschancen und damit den Genausbreitungserfolg durch diesen Nachkommen auf Kosten der Fähigkeit des Elters, in andere Nachkommen zu investieren, vergrößert". Der Elternaufwand läßt sich im Säuglingsalter geradezu quantitativ charakterisieren, wenn man sich die Milchmenge vorstellt, den eine Mutter beispielsweise Zwillingen bieten kann und gleichmäßig auf diese verteilen muß. Den Elternaufwand pro Nachkomme setzt die materielle und psychische Zuwendung des Elters an schon geborene und noch geboren werdende Kinder herab. Genetisch betrachtet ist es rationell, wenn Eltern keine bevorzugten Kinder haben, sondern den Aufwand gleichmäßig, also gerecht verteilen. Das kann zu einem Konflikt führen, wofür die Entwöhnungszeit für den Säugling ein Beispiel ist. Diese läßt sich als eine Auseinandersetzung zwischen einem Individuum und allen seinen noch ungeborenen Geschwistern auffassen, in welchem die Mutter sich auf die Seite der letzteren stellt. Der Mutter drohen als Nachteile verminderte Milchproduktion und Gebärfähigkeit und Vernachlässigung anderer Nachkommen. Wenn diese das, was die Natur dem Kind an Nutzen gewähren kann, übersteigen, verweigert die Mutter dem Kind die Milch, obwohl das Kind sie weiter verlangt. Hier ist die Mutter nun im Vorteil. Denn das Kind kann die Mutter nicht physisch zwingen, ihm die Brust zu reichen. Aber die Evolution hat in diesem Fall dem Nachkommen eine andere Waffe gegeben sich durchzusetzen: es ist die psychische. Das Kind kann lächeln oder auch weinen und so das mütterliche Nachgeben erreichen oder die Mutter sonst irgendwie zu einem Verhalten bewegen, das ihm Vorteile bringt. Der verfügbare Elternaufwand ist beschränkt und erschöpft sich in der Aufzucht der Kinder - bei der Mutter mehr als beim Vater. Die Natur scheint dies - so würden wir uns in der durch die Kultur entwickelten Betrachtungsweise ausdrücken - bei der Frau durch den Eintritt des Klimakteriums zu berücksichtigen, der Tatsache, daß die Fortpflanzungsfähigkeit der Frau in den mittleren Lebensjahren ziemlich abrupt zu Ende geht. Es ist eine alte Erfahrung, daß die Lebenserwartung von Kindernjunger Mütter im allgemeinen größer ist als die der älteren entsprechend dem in jungen Jahren verfügbaren größeren Aufwand der Mutter. In entsprechender Weise ist wahrscheinlich der Grund, warum die Fruchtbarkeit der Männer nicht abrupt abnimmt, sondern allmählich abflaut der, daß von ihnen als Väter weit weniger Aufwand in die Nachkommen investiert worden ist. Die elterliche Investition wird genetisch von der zu erwartenden Erfolgschance bestimmt. Unter den Nachkommen gibt es solche mit geringem und vielleicht wenige oder nur einen Nachkommen mit großem Lebensrisiko. Er
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gedeiht schlechter als die übrigen Geschwister, obgleich er von den Eltern genau soviel Gene mitbekommen hat wie die anderen. Er würde, um die übrigen Geschwister einzuholen, wesentlich mehr Aufwand benötigen als den ihm gerechterweise zustehenden. Es kann daher für die ihn nährende Mutter naturgemäß zweck voll sein, das, was sie für ihn aufwenden muß, den übrigen Geschwistern zukommen zu lassen. Die daraus hervorgehende Konsequenz wird im Tierreich in der Tat angetroffen, indem das Junge entweder an die Geschwister verfüttert oder zur Erhöhung der Milchproduktion von der Mutter selbst verzehrt wird, was man beispielsweise bisweilen bei Schweinen beobachtet, wenn sie eine große Anzahl Junge geworfen haben. Bei gewissen Vogelarten wurde festgestellt, daß das Weibchen in instinktbedingter Erwartung eines futterreichen Jahres über die optimale Brutgröße hinaus auf Vorrat ein Ei mehr legt und auch ausbrütet. Das Junge wird ebenfalls großgezogen, wenn das Jahr futterreich ist; erweist es sich als futterknapp, so gibt die Mutter dem schwach geratenen Jungen den bei der Futterbeschaffung verbleibenden meist kleineren Rest, wodurch dieses zu kurz kommt und stirbt. Nach der großen Bedeutung, die der Verwandtschaftsgrad für die gegenseitige Zuneinung und Hilfe hat, muß das unter Selbsterhaltungsegoismus unbewußt handelnde junge Lebewesen, das mit seiner Mutter nur zu 50 % verwandt ist und mit seinen Geschwistern ebenfalls, mit sich selbst aber zu 100 %, sich unter den gegebenen Umständen ganz im Sinn des oft gehörten Ausspruchs "jeder ist sich selbst der Nächste" verhalten. Auch beim Säugling und Kleinkind ist dies der Fall. Dieses Verhalten tritt unter dem Einfluß der Erziehung zurück - vor allem dann, wenn es mit Geschwistern aufwächst, die ebenfalls ihren "gerechten" Anteil verlangen. Kleine Kinder veranstalten wie junge Tiere Hungergeschrei oder Schreien nach mehr Nahrung ohne Rücksicht oder Fähigkeit zu erkennen, ob ihnen mehr zusteht. Das Jammern kann ein unbewußtes Lügen sein, beim erwachsenen Menschen würde man ein Jammern, das nicht echt begründet ist, zumindest als Lüge betrachten. Wie die Erfahrung im menschlichen Bereich bisher gezeigt hat, pendelt sich das Verhältnis zwischen Elternaufwand pro Nachkomme und seine Verteilung auf mehrere Nachkommen einerseits und dem Zuwendungsanspruch der Nachkommen an die Eltern andererseits auf einen Kompromiß ein. Wir wissen auch, daß dieser Kompromiß, von Ausnahmen abgesehen, funktioniert hat.
e) Gen-Egoismus in der Erweiterung der Lebensgemeinschaften Beim Aufspüren des Entwicklungsweges, der vom Urelement des Verhaltens, dem Gen-Egoismus, bis zum moralischen Verhalten innerhalb der Gemeinschaften geführt hat, sollten wir, um diese Entwicklung verstehen
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und einsehen zu können, uns ständig ins Bewußtsein hämmern, daß das zu verschiedenen Zweigen entwickelte Leben des Evolutionsbaumes (Abb. 7) einmal von einer gemeinsamen Wurzel ausgegangen und zum andern daß hierfür eine unvorstellbar lange Zeit notwendig gewesen ist. Die alltägliche Erfahrung zeigt, daß vorerst noch ein relativ kleiner Bruchteil der menschliMilliarden Jahre
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Abb. 7: Der Evolutionsbaum (nach M. Eigen). C, H. N, 0, P und S stellen die chemischen Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Schwefel dar, von denen die chemische Evolution ihren Ausgang nahm.
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chen Gesellschaft, meistens nur wissenschaftlich oder sogar nur naturwisssenschaftlich Gebildete, dieses Faktum kennt und anerkennt. Ohne diese Anerkennung würde das Bild, das durch experimentelle Forschung und die sie ergänzende Theorie erarbeitet wurde, nicht überzeugen können und auf Ablehnung oder zumindest Skepsis stoßen, besonders wenn die Verhaltensweisen von Tieren und Mensch unter dem Aspekt betrachtet werden, daß sie einen gemeinsamen Ursprung haben. Wenn die Natur den Fortgang der Entwicklung durch geschlechtslose Vermehrung verlassen hat und zur Stabilisierung des Lebens und Verbreitung der Arten zur geschlechtlichen übergegangen ist, mußte sie logischerweise in ihrem weiteren Verlauf auch die inzestuöse geschlechtliche Vermehrung durch die exogame ersetzen. Das hatte zwangsläufig zu Folge, daß der Gen-Egoismus zwar eine weitere Ausbreitungsmöglichkeit erhielt, der das Gemeinschaftsleben zusammenhaltende Verwandtschaftsgrad sich aber "verdünnte". Zwei miteinander blutsmäßig in Verwandtschaft tretende Gen-Linien ergänzten sich unter Verminderung ihres eigenen Gen-pools zu einer neuen Genlinie und Bildung einer größeren sozialen Gruppe, in welcher der Gen-Egoismus weiter wirkte und auch das Verhalten der Individuen in der Gruppe bestimmte. Für deren Verhaltensweisen innerhalb der Gruppen und Arten erbringt die Soziobiologie zahlreiche Beispiele, die für die Egoismusthese beweiskräftig genug sind. Aus diesen ergibt sich der zwingende Schluß, daß das bei manchen Gelegenheiten zu beobachtende scheinbar altruistische Verhalten einzelner Gruppenmitglieder in Wirklichkeit nichts anderes als verkappter Egoismus ist. Die Soziobiologen sprechen deshalb von Eigennutz innerhalb der Masse. Wie ist dieser Eigennutz zu erkennen, und wie ist er innerhalb der Gruppe möglich? Nachstehend einige Beispiele unter vielen:
In Huftiergruppen in der Steppe, die von beutesuchenden Raubkatzen beschlichen werden, suchen gefährdete Einzeltiere, wenn sie die drohende Gefahr bemerkt haben, ihre Haut dadurch zu retten, daß sie die Flucht zu den in nächster Nähe befindlichen Artgenossen ergreifen. Sie vermindern dadurch vielleicht die eigene Gefährdung, erhöhen aber wieder die der Artgenossen. Diese werden dadurch aber gleichzeitig gewarnt. Die Tiere rücken alle näher zusammen, und die Gefahr wird für den einzelnen arithmetisch betrachtet - auf den durch die Zahl der Individuen gegebenen Bruchteil vermindert. Ob sie durch dieses Verhalten ganz beseitigt wird, hängt von der jeweiligen Situation ab. Auf jeden Fall mindert das Zusammenrücken der Tiere zu einer immer dichteren Gruppe die Gefahr schon beträchtlich, weil sich in ihrem Gedränge ein Feind kaum noch aufhalten wird. Eine noch größere Wirkung scheint der individuelle Eigennutz in Mischgruppen verschiedener Tierarten zu erreichen, wie an gemeinsam grasenden
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Gnu- und Zebragruppen beoachtet werden konnte. Offenbar muß das beutesuchende Tier mit unterschiedlichen Reaktionsweisen rechnen, die seine Konzentrationsfähigkeit mindern. Ähnliche Erscheinungen wurden an Vogelschwärmen festgestellt. Jeder Vogel, der zuerst einen Feind bemerkt, stößt einen Warnruf aus und tauscht für diese Tätigkeit den Vorteil ein, daß im Fall einer Gefahr auch die andern ihn warnen. Wenn er, um sich in Sicherheit zu bringen, wegfliegt, schlägt er die vom Feind abgewandte Richtung ein und wird gleichzeitig von den ihm folgenden Artgenossen nach hinten abgeschirmt. Auf weitere Beispiele, deren viele in den Veröffentlichungen der Verhaltensforscher beschrieben sind, soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Aus allen läßt sich die Folgerung ziehen, daß irgendeinen schwerwiegenden Vorteil das Leben im Schwarm haben muß, sonst würden die Vögel sich nicht zusammenschließen. Es gibt sogenannte Kumpaneien bei Affenarten, wo zwei Männchen aus nicht miteinander verwandten Gruppen deswegen, weil sie kein Weibchen finden konnten, sich zusammentun, um aus einem Affenharem das in diesem herrschende Männchen zu vertreiben, so daß wenigstens einer der Kumpane ein Weibchen des Vertriebenen erobert. Der Gewinner hilft bei nächster Gelegenheit in gleicher Weise dem helfenden Kumpan, der zunächst leer ausgegangen ist. Weiterhin tun sich beutejagende Tiere z. B. Wölfe, Hyänen u. a. zu Jagdgemeinschaften zusammen, um gemeinsam ein Tier zu erbeuten, das sie sich nachher teilen. Je nachdem von welcher Seite der Naturforscher an die Deutung dieser Verhaltensweisen herantritt, legt er sie verschieden aus. Verhaltensforscher, die bis noch vor wenigen Jahren überlieferungsgemäß mehr der anthropomorphen Betrachtungsweise verhaftet waren, haben viele der beobachteten Verhaltensweisen als moralanalog bezeichnet (siehe u. a. "Die Biologie der zehn Gebote" v. W. Wickler, München 197\). Heute gewinnt die soziobiologische Deutung dieses scheinbar moralischen Verhaltens als verkappter Gen-Egoismus die Oberhand, die entsprechend der Entwicklungsrichtung der Evolution vom Elementaren zum Komplexeren die zutreffendere und wahrscheinlich allein mögliche ist. Beide Deutungsweisen lassen sich unter dem soziologischen Aspekt zusammenfassen, daß in der Auseinandersetzung mit und in der Selbstbehauptung in der Umwelt die animalischen Individuen, zu denen der Mensch der Frühzeit ebenfalls zu rechnen ist, sich in gleicher Weise instinktiv oder unbewußt zu Gemeinschaften zum Schutz und zu gemeinsamer Verfolgung ihrer Lebensinteressen zusammengeschlossen haben. Durch den von der Umwelt erzeugten Druck sind sie zur Kollaboration in einem Kollektivorganismus ähnlich dem Prinzip der Hyperzyklusbildung gezwungen worden, in dem sich das soziale Zusammenfunktionieren der Einzelteile im Gesamtorganismus nach
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und nach einstellte, ein Vorgang, der einer Selbstorganisation der Materie auf einer höheren, d. h. sozialen Schicht gleichkommt. Die dabei entwickelten Verhaltensweisen nahmen mit der Zeit einen Charakter an, der sich, nachdem er sich bei den Tierarten einmal gebildet hatte, vielleicht nur noch wenig geändert hat, aber nach heutiger menschlicher Betrachtungsweise moralanalog erscheint. Die Gruppenbildung aus genegoistisch bedingtem Selbsterhaltungstrieb, geleitet vom Kosten-Nutzen-Prinzip, bildet einen Meilenstein im Aufbau eines sozialen Verhaltens, das für ein isoliert lebendes Individuum nicht notwendig und daher sinnlos gewesen wäre, wie auch die Vorstellung, daß eine Ethik etwa für einen mit keinem Menschen in Berührung kommenden Eremiten notwendig sei, jeglichen Sinnes entbehrt. Es ist daher unangebracht, wenn man an der philosophischen Ethik des Utilitarismus kritisiert hat, daß sie die ethischen Pflichten des Individuums gegen sich selbst völlig außer acht lasse. Denn worin in aller Welt würden diese Pflichten bestehen können, wenn das Individuum ohne jeglichen Kontakt mit anderen Menschen lebt, so daß es deren Leben nicht stört und sie in keiner Weise schädigt. Pflichten gegen sich selbst, beispielsweise die Erhaltung seiner Gesundheit durch entsprechende Lebensweise, hat dieses doch nur, wenn deren Mißachtung zu einer Last für die Gemeinschaft wird, wo also unvernünftiges und unmoralisches Verhalten identisch werden.
f) Biologische Symbiose Wie die schon früher (Abschnitt IIIc) besprochene biochemische Symbiose das Kollaborationsprinzip auf der niedrigeren Entwicklungsschicht des Biochemischen illustriert, stellt die biologische Symbiose die Verwirklichung dieses Prinzips auf der höheren Schicht des Biologischen dar. Sie reguliert das Zusammenleben von verschiedenen, meist zwei Arten zum Vorteil der Beteiligten und ist ein Fall der Gruppenbildung, bei dem das Kosten-Nutzen-Prinzip, oder sagen wir besser das Nützlichkeitsprinzip, der Natur in besonders sinnfälliger Weise verwirklicht ist. Schon auf den niedrigeren Organisationsstufen der Pflanzen, die mit Schling- und Schmarotzerpflanzen oder tierischen Organismen zusammenleben, und den noch nicht allzu hoch entwickelten tierischen arbeitet die Natur prinzipiell gleichartig wie die wirtschaftlich hoch entwickelten, in der sozialpolitischen Polemik als kapitalistisch bezeichneten Industrienationen im menschlichen Bereich, welche dieses Prinzip für den Aufbau ihrer Wirtschaft auf das Höchste entwickelt haben. Es entspricht der wissenschaftlich fundierten Erfahrung, daß jedes Energie verbrauchende System sich nur erhalten kann, wenn es seinen Energiebedarf (in der Wirtschaft die Kosten) unter die Energieaufnahme aus der Umgebung (den Nutzen) senken kann.
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Die Symbiose der Organismen verläuft zum beiderseitigen Nutzen. Aber die Kollaboration wird, wie auch hier beobachtet werden kann, .. nüchtern und ohne Rücksicht" abgebrochen, wenn sie einem der Beteiligten keinen Nutzen mehr bringt. Daß bei der Symbiose ganz allgemein vom Zusammenleben von Organismen gesprochen wird, bedeutet, daß die Beteiligten nicht ausschließlich aus dem tierischen oder nur pflanzlichen Bereich zu stammen brauchen; es gibt auch gemischte Symbiosen zwischen Tieren und Pflanzen. Da unsere Darstellung keine biologische Abhandlung sein soll, sondern nur die das biologische Zusammenleben beherrschenden Prinzipien kurz beleuchten will,sollen zu diesem Zweck nur einige markante Beispiele aus dem großen Erscheinungskomplex der Symbiose erwähnt werden. Sie sollen demonstrieren, daß das Zusammenleben von Organismen in einer von Reibungen freien Gemeinschaft durchaus vom Kosten-Nutzen-Prinzip und nicht von Altruismus gelenkt sein kann. Wie auch im menschlichen Wirtschaftsleben Zusammenschlüse mit unterschiedlichen Zielen, z. B. als Produktionsgemeinschaft oder Verkaufsgemeinschaft u. a. zustandekommen, können Symbiosen auf verschiedener Basis als Ernährungs-, Wohn- und Putzsymbiosen oder auf andere Weise organisiert sein. Das fast jedem Schulkind bekannte Beispiel einer Ernährungssymbiose ist die zwischen Ameisen und Blattläusen. In dieser Zweckgemeinschaft werden die Blattläuse im Volksmund als die Milchkühe der Ameisen bezeichnet. Die Läuse können nicht den ganzen Pflanzensaft, den sie aus den Blättern der Wirtspflanzen gesogen haben, verdauen und scheiden deshalb den unverdauten Teil an ihrem Hinterkörper aus, an dem sich ein regelrechter Tropfen bildet. Als zuckerreicher .. Honigtau" wird er von den Ameisen abgemolken, indem diese den Hinterleib der Läuse mit ihren Fühlern und Beinen bestreichen. Nicht nur die Ameisen profitieren hierbei, sondern auch die Blattläuse. Diese genießen den Schutz der Ameisen vor ihren Feinden wie das Hausrind den Schutz des Menschen; und wie dieses haben sie die Fähigkeit zur Selbstverteidigung völlig eingebüßt. In geschäftstüchtiger Weise transportieren die Ameisen die Blattlauseier in ihre unterirdischen Nester, pflegen dort die jungen Blattläuse und transportieren sie später nach beendetem Wachstum zurück auf die Bäume zu den Weideplätzen der Blattläuse. Ein ebenso bekanntes Beispiel - allerdings für eine gemischte Ernährungs- und Putzsymbiose - ist das Zusammenleben der sogenannten Krokodilswächter mit Krokodilen, auf deren Rücken die ersteren Nahrung suchen und in deren geöffneten Rachen sie sich wagen, um aus dem Gebiß Fleischreste als Nahrung für sich zu entfernen und damit dem Krokodil die Zähne zu putzen. Eine Wohnsymbiose bilden der Einsiedlerkrebs und die Seeanemone, die auf seinem Haus sitzt; jeder der beiden Partner pflanzt sich für sich fort und erzeugt nur artgleiche Nachkommen zum Unterschied von Symbiose-Organisationen, bei denen der Trägersymbiont sich mit dem Wirtsymbiont fortpflanzt.
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111. Die Evolution des Verhaltens
Diese kärglich wenigen Beispiele aus einem umfangreichen zoologischen Beobachtungs- und Erfahrungsmaterial geben nur ein oberflächliches Bild von der großen Bedeutung, welche die Symbiose beim evolutionären Aufbau der organischen Welt offenbar gehabt hat. Man kann sie, wie in der Evolutionstheorie meist argumentiert wird, als das Auffinden einer ökologischen Lücke durch eine oder zwei Arten auffassen oder als das Nachgeben gegenüber einem Kollaborationsdruck, was zu einer soziobiologischen Konfunktion führte. Es geschah aber gleichzeitig nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip, wobei die Nützlichkeit zu einer sozialen Gewohnheit wurde, welche schwache Züge eines Altruismus trägt, hinter dem letztlich wieder der GenEgoismus steckt. Das große Verbreitetsein der Symbiose als Ausdruck des Kosten-Nutzen-Prinzips in der Natur und ihre zentrale Stellung im sozialen Zusammenleben innerhalb der Arten als auch zwischen verschiedenen Arten ist im allgemeinen viel zu ungenügend bekannt, um ihre Bedeutung für die Entstehung sozialen Verhaltens zu ermessen, dessen Herkunft die menschliche Mentalität allzu gern metaphysisch zu ergründen sucht.
l() Zusammenfassunl( (1IId-h) In der Zusammenfassung des Abschnitts 11 Ia-c sind als Prinzipien, denen die Selbstorganisation der Materie im Aufbau des Lebens gefolgt ist, genannt worden: Aggregation, Mutation, Selektion und Kollaborationsdruck mit Kofunktionszwang. Die beiden letzteren, die schon im molekularen Bereich als Kräfte auftreten, welche die Aggregation oder Assoziation molekularer Gebilde zu größeren und höher organisierten antreiben, dürften die von der Umwelt herrührenden, äußeren Ursachen der Hyperzyklusbildung gewesen sein. Durch diese allein hätte sich der Hyperzyklus vielleicht nicht bilden können, wenn nicht auch innere, d. h. synergetische Faktoren in den sich zusammenschließenden Einheiten zum Zusammenschluß getrieben hätten. Die innere Bereitschaft muß vorhanden gewesen sein entsprechend den neuen Erkenntnissen der Evolutionstheorie, daß die Evolution nicht nur vom Druck der Umwelt, sondern von der in den Organismen innewohnenden Veränderlichkeit und Bereitschaft hierzu vorangetrieben wurde. Dabei wirkte sich der Synergismus im Aufbau eines höheren, komplexeren Ordnungszustandes unter Minimierung der Ordnungsparameter aus. Beim übergang von den großmolekularen Organisationsstufen zu den höheren, den Lebewesen, wird die Entwicklung weiterhin von den aufgezählten Prinzipien getragen. Hinzu kommt der durch die neuen Anschauungen bloßgelegte Gen-Egoismus, der in den "Gen-Maschinen" zur Ausbreitung, zur "Inbesitznahme" der Umwelt führt. Während vom molekularbiologischen Bereich bis zur Entstehung selbständig funktionierender Lebewesen noch rein physikalisch-chemische
8. Die Soziobiologie der Gene
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Kräfte den Aufbau der Organisation des Lebendigen vorangetrieben haben, treten für die Sicherung des Lebens der Genträger, der Gen-Maschinen, nun soziale Kräfte in Funktion. Im Anschluß an die Aggregationsvorgänge im präbiotischen und molekularbiologischen Bereich sollte man vorsichtigerweise Sozialisation noch mit Aggregation gleichsetzen. Denn bei der ersten Sozialisationsstufe des Lebens, der Fortpflanzungsgemeinschaft zweier Sexualpartner, handelt es sich zunächst um den von den Genen ausgeübten Kollaborationsdruck (Geschlechtstrieb), der zu einem Kofunktionszwang führt. Von dieser Phase ab sind Organisationsformen notwendig, welche die Genausbreitung fördern und schützen. Sie bestehen im Zusammenschluß der verwandten Gen-Träger zur Organisation der Familie und deren Vergrößerung zum Clan. Der Verwandtschaftsgrad wird zum Stützgerüst des Zusammenhalts der Gen-Träger und bestimmt ihr Verhalten untereinander. Die ersten Erscheinungen und Formen des Sozialverhaltens treten auf. Da aber die Ausbreitung der Gen-Träger und ihre Existenz in der Umwelt, von der sie ständig gefordert werden, durch Inzucht eher geschwächt wird, muß der Vermehrung der Genträger durch genhomologe Geschlechtspartner des Clans die exogame durch weiteren sozialen Zusammenschluß von Familien und Großfamilien zu größeren sozialen Einheiten erfolgen. In ihnen hört der Kollaborationsdruck nicht auf, sondern tritt in neuer und verstärkter Form auf und erzwingt die Entstehung neuer sozialer Verhaltensweisen. Gleichzeitig wächst jedoch eine Verhaltenskomponente hoch, die in den untersten Stufen der Sozialisation, vor allem in der Sexualgemeinschaft noch nicht vorhanden oder bemerkbar gewesen ist: die Aggressivität.
IV. Aggressivität und Aggressionen 1. Das Aggressionsproblem Die Veranlagung des Menschen zu aggressiven Verhaltensweisen stellte einen Komplex dar, von dem der bekannte Psychologe A. Mitscherlich in "Ein Leben für die Psychoanalyse" (Suhrkamp-Verlag) sagt: "Ein Großproblem ist zweifellos die Aggression". Sie ist es aus ihrer nach psychologischer Definition sozialen Gefährlichkeit, wonach sie "ein Verhalten ist, dem die Tendenz der Wertminderung eines Objektes oder Schädigung eines Sozialpartners zugrunde liegt, bis zu dessen Vernichtung". Weiterhin steckt sie in so vielen menschlichen Verhaltensweisen, daß sie Zweifel darüber aufkommen läßt, ob der Mensch überhaupt zu einem Wesen angelegt ist, das zu moralischem Verhalten in dem von Religion und philosophischer Ethik idealisierten Sinn fähig ist. Sigmund Freud, der als Begründer der Psychoanalyse in die Tiefen der menschlichen Natur hineingeleuchtet hat, bekennt sich deshalb resignierend zu der Auffassung, daß der Mensch von Grund auf aggressiv eingestellt sei. In seinem Buch "Das Unbehagen der Kultur" schreibt er: "Der Mensch ist des Menschen Wolf: Wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut diesen Satz zu bestreiten?" und "Die Aggression enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist".
Freuds Auffassung, daß die Aggressivität ein Trieb sei, dem der Mensch unentrinnbar verfallen sei, stieß auf großen Widerspruch. Weder war der religiöse Mensch seiner Zeit noch die wissenschaftliche Forschung in der nachfolgenden Zeit bereit, sich mit der Freudschen Auffassung zufrieden zu geben. Letztere glaubte in der Aggression doch mindestens einen biologisch gewordenen funktionellen Sinn sehen zu müssen. Während die Psychoanalyse die Aggressivität vorwiegend in ihrem engen Zusammenhang mit dem Fragenkomplex der Sittlichkeit behandelte und aufzuklären versuchte, befaßte sich die Biologie, d. h. die vergleichende Verhaltensforschung mit der soziobiologischen Bedeutung der Aggressionen - in erster Linie im Tierbereich. Die Psychologie ging gewissermaßen in einer zur Evolution entgegengesetzten Richtung vor, indem sie von deren obersten Schicht, der des eigentlichen Menschseins, in seine tieferen Schichten, dem Unterbewußtsein, dem "Es" nach Freud, hinunterzusteigen versuchte. Die Verhaltensforschung folgte hingegen im Gange des weiteren
I. Das Aggressionsproblem
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Ausbaus der Evolutionslehre in den letzten Jahrzehnten durch die verschiedenen Naturwissenschaften direkt der Richtung der Evolution, um durch Sammeln von Aggressivitätsbeobachtungen an vielen Organismenarten der niedrigsten bis zu den höchsten Entwicklungsstufen Erkenntnisse über Ursachen und Sinn der Aggressivität zu gewinnen. Sie mußte es deshalb ertragen, daß sie zeitweise von der Humanpsychologie scharf angegriffen und ihr Vorgehen als überflüssig bezeichnet wurde, obgleich ihre sichtbaren Erfolge dies widerlegen können. Die bis heute vorliegenden Forschungsergebnisse lassen es indessen, wie noch dargelegt werden soll, zu, für beide Disziplinen einen gemeinsamen Nenner aufzustellen. über Aggression ist schon viel geschrieben worden, und die Flut der Literatur hierüber ist sehr groß. Um den für unser Thema wichtigen, schon angedeuteten gemeinsamen Nenner der psychologischen und biologischen Wissenschaft zu erhalten und auswerten zu können, ist ein kurzer überblick über die typischen Aggressionsformen, welche die Soziobiologie zusammengestellt hat, notwendig. Nach der Betrachtungsweise dieser Wissenschaft, die bei den aus Untersuchungen gezogenen Folgerungen konsequent auf den evolutionären Standpunkt der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen von einer Urzelle stellt, ist eine Klassifizierung der aggressiven Verhaltensweisen, in solche, die im Tierreich beobachtet wurden und vielleicht auch typisch animalisch sein mögen, und in solche, die vornehmlich vom Menschen bekannt sind, nicht nötig. Indessen bietet die Vielzahl der tierischen Arten eine ungleich größere Mannigfaltigkeit von Verhaltensweisen als beim Menschen, so daß sich aus der Menge und dem Vergleich der Versuchsergebnisse auf sichere Weise Prinzipien auffinden lassen, die das Verhalten vieler Arten grundlegend und gleichartig bestimmen. Darüber hinaus ist aus der Tierbeobachtung ein psychologisch unbeeinflußtes und daher objektives Versuchsmaterial leichter zu gewinnen als beim Menschen. Eine Grenzziehung zwischen typisch tierischen und menschlichen Verhaltensweisen ist sinnvoll, wo es die letzteren wirklich gibt.
a) Formen von Aggression im Tierreich
Territorialaggression. Unter ihr versteht man die Verteidigung des Lebensraumes eines Tieres gegen Eindringlinge, weil diese die Populationsdichte erhöhen und die Nahrungsmittelversorgung vermindern können. Oft gelingt ihm dies allein schwieriger als in Gemeinschaft mit einer Gruppe. Dabei besteht ein Unterschied, ob der Eindringling gleichgeschlechtlich oder andersgeschlechtiich ist. Dominanz- (Herrschafts-)aggression. Sie gleicht in mancher Beziehung der Territorialaggression, indem die Verteidigung eines Territoriums mit seiner Beherrschung identisch wird. Aber sie tritt noch in anderen Erscheinungsformen auf, die uns nicht unbedingt als lebensnotwendig oder för-
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IV. Aggressivität und Aggressionen
dernd für eine biologische oder soziale Funktion erscheinen. Darunter fällt u.a. die Bildung von Gruppen, in denen einer herrscht und die übrigen sich unterordnen, z. B. Affengruppen, die einen Harem darstellen, Löwen- und Elefantengruppen; oder Drohverhalten und Imponiergehabe gegenüber anderen Artgenossen (klassisches Beispiel das Zur-Schau-Stellen des prächtigen Schwanzfederkleides bei Pfauen); Sexuelle Aggression. Als solche wird die Bedrohung weiblicher Lebewesen oder der Angriff auf diese durch männliche zum Zweck der Paarung oder der auf sie ausgeübte Zwang, in eine längere sexuelle Gemeinschaft einzutreten, verstanden. Die vielleicht äußerste Entwicklungsform der sexuellen Aggression unter den Vertebraten (= den mit Rückgrat ausgestatteten Tierarten) ist das Verhalten der Hamadyraden-Paviane, welche junge Weibchen zur Bildung eines Harems zusammentreiben und diese Gruppen durch ihr ganzes Leben hindurch beherrschen und plagen, um sie am Umherstreifen oder Davonlaufen zu hindern. Entwöhnungsaggressivität. Sie wurde bereits im Abschnitt III. d kurz beschrieben, wobei das Prinzip der optimalen Investition der Natur behandelt wurde, und betraf die Bedeutung des Entwöhnens von Säuglingen von ihrer Mutter. Diese Aggressionsart steht im Dienst der Gleichgewichtseinstellung zwischen der optimalen Lebenstüchtigkeit des größer werdenden Säuglings und der noch zu erhaltenden Lebenstüchtigkeit der Mutter, die unter dem Zwang des Ausbreitungsdrangs der Gene (als "Genüberlebensmaschinen" s.o.) steht. Räuberische (Beute-)Aggression. Sie dient der Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen. Deshalb sind bisweilen Zweifel aufgetaucht, ob sie als besondere Aggressionsart gelten kann, selbst wenn man berücksichtigt, daß Kannibalismus von manchen Tierarten ausgeübt und dabei von Territoriaaggression oder einer anderen Aggressionsform begleitet wird. Abwehr-Aggression. Ein zunächst reines Verteidigungsverhalten kann in einen voll ausgeprägten Angriff auf einen Räuber ausarten, wie er bei der Schutzverteidigung der Brut vorkommen kann. Das mögliche Beutetier sucht durch überlautes Geschrei den Angriff auf den Räuber zu lanzieren, bevor dieser seine Bewegung ausführen kann. Aber diese Abwehr durch überlautes Geschrei endet dennoch oft tödlich und bringt dem Räuber nur in seltenen Fällen Verletzung oder gar Tod.
h) Menschliches Aggressionsverhalten Es dürfte wohl schwerlich zu bestreiten sein, daß die vorstehend aufgeführten Aggressionsweisen in gleicher oder wenig abgewandelter Weise in der menschlichen Spezies vorkommen. So hat der Mensch von jeher seinen
I. Das Aggressionsproblem
119
Territorialbesitz für sich beansprucht und im Zusammenhang hiermit Rechtsstreitigkeiten großen Ausmaßes in Kauf genommen. Menschliche Gruppen oder ganze Völker haben bis in die Gegenwart nicht nur ihr Territorium stets verteidigt, sondern sich auf Kosten anderer Völker noch zusätzlich Territorium angeeignet. In gemilderter Form tritt die Territorialaggression in der räumlichen Abgrenzung gegen Nachbarn (z. 8. durch Einfriedigungen), Besetzung von Plätzen in Verkehrsmitteln, Gasthäusern u.dgl. oder der Distanzierung gegenüber Fremden und Unbekannten in Erscheinung. Sie gipfelt in durchaus friedlicher Weise im Besitz eines kleinen Eigentums nach dem bekannten populären Sprüchlein: "Der Mensch brauch ein Plätzchen, und sei's noch so klein, von dem er kann sagen, sieh her, das ist mein!" In diesem Fall kann man kaum noch von Aggression sprechen, sondern höchstens noch von einem gesunden, sozial berechtigten Egoismus. Auch das Dominanzverhalten zeigt beim Menschen analoge Erscheinungsformen, auf die besonders hinzuweisen sich erübrigt, weil sie durch unzählige Beispiele aus der Geschichte der Völker und dem Leben einzelner zur Genüge bekannt sind. Natürlich bestehen auch hier die unterschiedlichsten Grade der Dominanzaggression, z. 8. Unterjochung und Versklavung einzelner, von Gruppen oder Völkern durch ebenfalls einzelne oder Völker bis hin zum einfachen Imponiergehabe, das sich beispielsweise im Zur-Schau-Stellen von Besitz (Kleidung, Lebensweise, Autos u. dgl.) äußert. Sexuelle Aggression ist als Vergewaltigungen, Mädchenhandel und andere Erscheinungsformen, räuberische Aggression aus der Kriminalität zur Genüge bekannt. Darüber hinaus wurden noch Aggressionsarten aufgeführt, von denen es zweifelhaft sein dürfte, ob sie im Sinn der psychologischen Definition echte Aggressionen sind. Beispiele sind: Moralische Aggression. Die Evolution der Formen des gegenseitigen Altruismus (angelsächsich: reziproker Altruismus) trägt mit hoher Wahrscheinlichkeit das gleichzeitige Entstehen eines Systems moralischer Sanktionen in sich, um einen gegenseitigen Altruismus zu erzwingen (s. u.). Die moralische Aggression im menschlichen Bereich manifestiert sich in zahllosen Formen religiöser und ideologischer Heilslehren, erzwungener übereinstimmung über Gruppennormen und Sammlungen von Strafgesetzen. Elterliche (Erziehungs-)Aggression. Die Elterntiere vieler Säugetierarten wenden milde Formen der Aggression gegen ihre Sprößlinge an, um sie unter Aufsicht zu halten, sie zur körperlichen Bewegung zu bringen, sie vom Streit abzuhalten, unerwünschtes Säugen zu beenden u. a. mehr. In den meisten Fällen, wenn auch nicht in allen, dient die elterliche Verhaltensweise der Erhöhung der Lebenstauglichkeit der Nachkommen. Zu diesen von der Soziobiologie aufgestellten Aggressionsarten hat die Humanpsychologie noch eine Reihe weiterer hinzugerechnet, wie z. B. die furchtinduzierte, die durch Gereiztheit, Neid oder Rache hervorgerufene
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IV. Aggressivität und Aggressionen
Aggression u. a., wobei die Leistungsaggression im Wettbewerb nicht zu vergessen ist. Die pathologisch bedingte soll hier ausgeschlossen werden. 2. Der Schichtenaufbau der Aggressivität Unter den genannten Aggressionsarten, deren Zahl sich beim Menschen noch durch weitere Abarten ergänzen ließe, befinden sich manche, wie z. B. die "elterliche" und die "moralische" Aggression, die man schwerlich als solche im Sinne der durch die Humanpsychologie aufgestellten Defintion als Schädigung eines Sozialpartners wird anerkennen können. Oberhaupt klaffen die Meinungen dieser Wissenschaft und der aus der Zoologie hervorgegangenen Soziobiologie über Ursache und Sinn der Aggression noch auseinander. Erstere befaßt sich mit Aggressionserscheinungen speziell der menschlichen Art, also innerhalb einer artgleichen Gruppe (Innergruppenaggression), wobei die Verschiedenheit menschlicher Rassen und die Trennung der Völker durch Sprachen und Sitten zunächst im Hintergrund stehen und als irrelevant betrachtet werden. Die Tierpsychologie erstreckt ihre Untersuchungen allgemein auf die Aggression sowohl innerhalb der Arten als auch zwischen ihnen (Intergruppenaggression), was beispielsweise durch die oben erwähnte Beuteaggression angedeutet wird. Weil das Tier weniger lernfähig, d. h. weniger anpassungsfähig als der Mensch ist, konzentriert diese Wissenschaft sich auf die Frage, wie das Verhalten genetisch entstanden und zu erklären ist, während die Humanpsychologie ihre Untersuchungen des menschlichen Verhaltens hauptsächlich auf die Umwelteinflüsse richtet. Dabei hat sie die besondere Stellung des Menschen nie aus dem Auge verloren, während die Soziobiologie die Entwicklungslücke zwischen Tier und Mensch offenbar etwas zu unterschätzen geneigt ist. Eine große Schwierigkeit hat die von Freud aufgestellte Lehre bereitet, nach der Aggressivität die Folge eines angeborenen Triebes ist. Da der Mensch ständig getrieben werde, ihm aber eigentlich nur ein Trieb, nämlich der Geschlechtstrieb bekannt sei, müsse eben der Geschlechtstrieb der Antreiber seiner Aggressivität sein. In psychologischer Sicht sind alle Aggressionen sozial schädlich; damit wäre schon der Geschlechtstrieb als solcher sozial schädlich und gefährlich - ganz im Sinne lebensverneinender Weltanschauungen (Buddhismus, Philosophie Schopenhauers, Christentum teilweise). Es ist schwer einzusehen, daß der aggressive Befall von Bakterien durch Viren (Bakteriophagen), die Aggression einer blutsaugenden Stechfliege, diejenige intoleranter religiöser Fanatiker oder das aggressive Spiel eines Fußballspielers auf den gleichen Trieb, nach Freud den Geschlechtstrieb zurückgehen sollen. Sie stammen offenbar aus verschiedenen Schichten der Natur der Lebewesen. Nach psychologischer Terminologie ist der Geschlechtstrieb ein Ur- oder Primärtrieb. Biologisch kommt ihm die Auf-
2. Der Schichtenaufbau der Aggressivität
121
gabe der Fortpflanzung der Keimbahn des Lebens (nach A. Weismann) zu, auf der er in den Genträgern lokalisiert und konzentriert ist - vergleichbar mit einem von S. Butler beschriebenen Bild, nach welchem auf der Keimbahn "das Huhn der Weg des Eis zum nächsten Ei" ist. Wohl ist der Geschlechtstrieb diejenige genetische Anlage, die das gesamte Leben weitergeben kann. Er gibt sich aber auch selbst als ein Teil der gesamten Erbanlagen mit den übrigen Anlagen, also auch der Aggressivität, weiter, die insgesamt die Vitalität des Genträgers oder der Gen-Maschinen ausmachen. Freuds Theorie wurde für den humanen Bereich angegriffen und teilweise abgelehnt, weil der damals an sich noch anthropozentrisch eingestellte Mensch damit die Menschenwürde verletzt sah und fürchtete, Aggressivität werde entschuldbar und das Gebäude der Ethik nach dem Satz: "alles verstehen heißt alles verzeihen" noch mehr unterhöhlt. Hiervon abgesehen wäre auch der Mensch, je nachdem in welcher Rolle er sich befindet, bisweilen in der Zwangslage, aggressive Handlungen begehen zu müssen. Denn -so muß gefragt werden - ist die Tätigkeit eines Chirurgen, der einen Patienten operiert, oder die eines Schlächters, der im Dienst der menschlichen Ernährung Tiere tötet, nicht auch aggressiv? Weiterhin kann die Rolle eines aggressiven Individuums manchmal sozial oder situationsbedingt sein, wie z. B. bei einer Notwehrhandlung. Aus den Beispielen wird ersichtlich, daß die Humanpsychologie bei der Betrachtung von Aggressionen, das rolleninkonforme Verhalten des scheinbaren Aggressors zu berücksichtigen hat, während die Tierpsychologie diese auf rollenkonformes Verhalten erstreckt. So hat sie bei höheren Tieren, z. B. bei Pavianen beobachtet, daß der Rolle eines Gruppenmitgliedes beim Verhalten von der Gruppe eine Bedeutung beigelegt wurde: das Leittier, das in einer Gefahrensituation versagt hatte, wurde von der Gruppe durch seine Tötung sozusagen zur Rechenschaft gezogen. Im Dilemma der Triebtheorie befangen, die zur allgemeinen Erklärung aller Aggressionserscheinungen nicht ausreicht, hat die psychologische Wissenschaft in den letzten Jahren eine andere Definition der Aggressivität vorgeschlagen (W. Michaelis), die unabhängig von den Normen der Zivilisation und Kultur brauchbar zu sein scheint. Danach ist "Aggression ein Verhalten zur Erhaltung oder Herstellung einer Homöostase (= Gleichgewicht der gesamten physischen, psychischen und geistigen Funktionen) auf Kosten und gegen den Widerstand eines anderen Organismus". Aggressiv ist demnach derjenige, der deutlich häufiger und intensiver Aggressionen begeht als andere unter vergleichbaren Umständen. Diese Definition basiert auf der Vorstellung, daß die Homöostase ein konstanter vitaler Zustand eines Individuums oder einer Gruppe, die nach den Erfahrungen der Geschichte kollektiv aggressiv sein kann, ist. Die Möglichkeit, daß die Homöostase sich ändern, d. h. verschieben kann, weil sie selbst der Evolu-
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IV. Aggre,sivität und Aggressionen
tion ausgesetzt ist, ist dabei noch nicht berücksichtigt. Durch die Definition der Aggression als ein Verhalten zur Erhaltung oder Herstellung der Homöostase wird eine weitere das Verhalten bestimmende Schicht eingeführt und erfaßt, die über der primären Triebschicht liegt und die Reaktivitätsschicht erweitert. Die fundamentalen Triebe der Fortpflanzung, des Hungers, Schlafes und des Suchens nach schützender Behausung, die ja regelmäßig und periodisch auftreten, werden durch Mindestbedürfnisse des Organismus geweckt, auf deren Befriedigung er zu seinem Funktionieren, Weiterexistieren und zur Fortsetzung der Keimbahn angewiesen ist. Hierbei geht es in erster Linie um die Gewinnung von Energie aus dem für den Lebensvorgang notwendigen Stoffwechsel und deren günstigste Ausnützung. Die Triebe werden, wie man weiß, nicht autonom und einseitig wach, sonde~nsind ihrerseits wieder Reaktionen auf auslösende Faktoren, die in den Organen des lebenden Systems (z. B. in Hormondrüsen, durch biologische Uhren u. dgl.) periodisch auftreten oder aus der Umwelt (Witterung, Jahreszeit, Artgenossen u. a. mehr) kommen. Letztere können so wirken, daß die Triebe auf normale Weise funktionieren oder an Intensität so schwanken, daß Störungen eintreten, die sich als Aggressionen entladen. Wohl die bedeutendste Störung wird durch die Einengung des Lebensraumes und den damit verbundenen Wettbewerb mit Artgenossen hervorgerufen. Diese wirkt sich bei Lebewesen, die im Gegensatz zum Menschen raumgebunden leben und sich nicht wie dieser durch Verkehr und Transport mit Nahrung versorgen können, in Nahrungsverminderung aus, was wiederum aggressionssteigernd wirkt. Dabei ist bemerkenswert, daß bei Konzentrierung der gleichen Nahrungsmittelmenge auf einem einzigen Platz die Aggressionen zunehmen, während deren Aufteilung auf eine größere Fläche sie mindert. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß bei der Entwicklung des Menschen vom primitiven Hominiden zum heutigen homo sapiens die genetische Anlage der Aggressivität nicht ebenfalls eine Entwicklung durchlaufen hat. Dies wird durch nichts deutlicher als durch den Vergleich des Entwicklungszustandes des Menschen, wie ihn eh. Darwin während seiner fünfjährigen Weltreise (1831-36) in Feuerland angetroffen hat, mit dem durchschnittlichen heutigen. Er schreibt in seinem Buch "Die Abstammung des Menschen": .. Das bedeutungsvollste Resultat dieses Buches, daß der Mensch von einer niedrig organisierten Form abstammt, wird für viele ein großes Ärgernis sein. Ich bedaure das. Aber es kann schwerlich ein Zweifel darüber bestehen, daß wir von Barbaren abstammen. Mein Erstaunen beim ersten Anblick einer Herde Feuerländer an einer wilden und zerklüfteten Küste werde ich nie vergessen; denn ganz plötzlich fuhr es mir durch den Kopf: So waren unsere Vorfahren. Diese Menschen waren absolut nackt und mit Farbe
2. Der Schichtenaufbau der Aggressivität
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beschmiert. Ihre langen Haare waren durcheinander gewirrt, ihr Mund schäumte in der Erregung, und ihr Ausdruck war wild, erschreckt und mißtrauisch. Sie kannten kaum irgendeine Kunst, und gleich wilden Tieren lebten sie von dem, was sie gerade erlangen konnten. Sie hatten keine Regierung und waren erbarmungslos gegenüber allen, die nicht ihrem eigenen kleinen Stamm angehörten. Wer einen Wilden in seiner Heimat gesehen hat, wird sich nicht mehr schämen, anzuerkennen, daß in seinen Adern das Blut noch niedrigerer Kreaturen fließt. Ich für meinen Teil möchte lieber von jenem heroischen kleinen Affen abstammen, der seinen schrecklichen Feind angriff, um das Leben seines Wärters zu retten, oder von jenem alten Pavian, der, von den Höhen herabsteigend, seinen jungen Kameraden im Triumph aus der Mitte der Hundemeute hinwegtrug, als von einem Wilden, der sich an den Qualen seiner Feinde weidet, blutige Opfer darbringt, ohne Gewissensregung seine Kinder tötet, sein Weib als Sklavin behandelt, keinen Anstand kennt und von dem gräßlichsten Aberglauben gejagt wird." Die Aggressivität ist, wie wir immer wieder feststellen, durch die kulturelle Entwicklung keineswegs verschwunden. Die Zahl der verschiedenen Aggressionsweisen hat im Gegenteil zugenommen. Sie sind jedoch von subtilerer Art geworden, verursacht durch eine evolutionäre Erweiterung der Aggressionsstrtuktur auf den psychischen und intellektuellen Bereich und deren Sensibilisierung. Die neurologische Wissenschaft hat die Geographie des menschlichen Gehirns so weit erschlossen, daß die Regulationszentren, die das menschliche Handeln, Fühlen und Denken bestimmen, lokalisiert werden können. Außerdem hat sie ein Bild über die Stufenfolge der Entwicklung dieser Zentren vom Stammhirn bis zum Großhirn entwerfen können, aus dem sich eine Vorstellung gewinnen läßt, wie der Bereich der motorischen, psychischen und intellektuellen Reaktivität sich erweitert und die Gesamtvitalität, von der die Aggressivität ein konstitutiver Bestandteil ist, sich vergrößert hat. Aggressionsarten, wie die schon genannte elterliche und moralische Aggression, Erlebnisaggression (beim Menschen entstanden durch falsche Behandlung und Erziehung in der Jugend, z. B. unter fehlender Nestwärme), Frustrationsaggression und andere durch seelische und geistige Ursachen entstandenen Aggressionsarten sind ohne einen Schichtenaufbau der Aggressivität nicht denkbar und bedürfen zu ihrer Erklärung keines Zurückgreifens auf einen Urtrieb wie den Geschlechtstrieb. Daß bei allen Aggressionen allein physiologische Ursachen, d. h. das Zusammenspiel der Hormondrüsen in den verschiedenen Zentren des menschlichen Körpers (Gehirn, Geschlechtsorganen, Schilddrüse, Nebenniere) wirken, sei nur nebenbei erwähnt. Es leuchtet ein, daß diese Zentren sich nicht phasengleich entwickelt haben können oder daß dies zumindest für ihre Wirkungsintensität zutrifft - entsprechend einem schichtenartigen Aufbau der Aggressivitätsstruktur.
124
IV. Aggressivität und Aggressionen
Hinter der animalischen Aggression steckt der Trieb der Sicherung der elementaren Lebensbedürfnisse, und wenn es um diese allein geht, hinter der menschlichen nicht minder. Die menschliche Aggressivität erstreckt sich jedoch weiter, weil ihre Trieb- und vor allem Antriebsstruktur, welche die gesamte Vitalität ausmachen, als offenbares Ergebnis der menschlichen Evolution viel größer als die animalische ist, was sich schon in der Tatsache zeigt, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier ein handelndes Wesen ist. Stets zum Handeln gedrängt, stößt der Mensch immer wieder auf Widerstände, die er u. a. aggressiv zu überwinden versucht. Es ist auch die vielfältige Aggressivität, die den Menschen vom Tier abhebt oder ihn auch auszeichnet, insbesondere wenn darunter eine ihm nützende Anlage verstanden wird. So sagt denn auch Kant: "Dank sei der Natur für die Unvertragsamkeit, für die mißgünstige, wetteifernde Eitelkeit, für die nicht zu befriedigende Begierde zum Haben oder auch zum Herrschen. Ohne sie würden alle vortrefflichen Naturanlagen im Menschen ewig unentwickelt schlummern. Der Mensch will Eintracht, aber die Natur weiß besser, was für seine Zwecke gut ist: Sie will Zwietracht. Er will gemächlich und vergnügt leben; die Natur will aber, er soll aus der Lässigkeit und untätigen Genügsamkeit hinaus, sich in Arbeit und Mühseligkeit stürzen, um dagegen auch Mittel aufzufinden, sich klüglich wiederum aus den letzteren herauszuziehen. Die natürlichen Triebfedern dazu, die Quellen der Ungeselligkeit und des durchgängigen Widerstandes, woraus so viele übel entspringen, die aber doch auch wieder zur neuen Anspannung der Kräfte, mithin zu vermehrter Entwicklung der Naturanlagen antreiben, verraten also wohl die Anordnung eines weisen Schöpfers und nicht die Hand eines bösartigen Geistes, der in seine herrliche Anstalt gepfuscht oder sie in neidischer Weise verderbt habe". Mit dieser Auffassung Kants inhaltlich wesensgleich ist die Aussage von K. Lorenz rund 150 Jahre später, die fußend auf den Erfahrungen der Verhaltensforschung die Aggressivität als eine biologische Anlage bezeichnet, welche der Erhaltung der Art dient (wovon die menschliche keine Ausnahme macht). Zunächst wird hier an die rein biologische Erhaltung der Art gedacht, innerhalb welcher die Aggressivität eine ständige gegenseitige Herausforderung zwischen den Artgenossen bildet, durch welche diese zur Anstrengung, Anpassung und damit auch zur Verträglichkeit gezwungen werden. Hierdurch wird eine "erzieherische" Wirkung ausgeübt. Denn Aggressionsverhalten ist jedes Verhalten, das dem Artgenossen Widerstand, auch gegen dessen Aggressionsverhalten, entgegensetzt, ihm hemmend zu begegnen versucht. Auch das Einanderausweichen ist nach H. Markl gleichsam eine Selbstbeschränkung und kann als verinnerlichte Aggressionswirkung begriffen werden. Aggression, verstanden als die mildere Form der Abstoßung und Hemmung anstelle der "harten" beschädigenden Aggression stehen zueinan-
2. Der Schichten aufbau der Aggressivität
125
der etwa im selben Verhältnis wie der naturbedingte und naturnotwendige, schon in den Genen festgelegte Selbsterhaltungsegoismus zum übertriebenen rücksichtslosen und sozialschädlichen Egoismus. Das Aggressionsverhalten zwischen Gruppen erfüllt die Aufgabe, durch den Gegensatz die soziale Innenstruktur der Gruppe aufzubauen und zu stärken, wie es uns schon aus der Geschichte geläufig ist, wenn Nationen untereinander in Konflikt geraten, wobei der menschliche Zusammenhalt innerhalb der Gruppe gefördert wird und manchmal wahre Wunder an Opferbereitschaft und gegenseitiger Hilfe vollbracht werden. Ähnliches kann bei der Bildung anderer Gemeinschaften, z. B. religiöser Sekten beobachtet werden, die sich von bestehenden großen religiösen Gemeinschaften, vornehmlich Kirchen, abspalten, um aus der auf diese Weise betonten Ablehnung und Abstoßung eine Gruppe mit stärkerem Gemeinschaftsleben zu bilden.
In übereinstimmung mit Kant und der Verhaltensforschung (K. Lorenz, F. A. Montagu, C. und W. M. S. RusselI, R. A. Stamm und A. Stohr) kommt der Aggressivität nicht nur eine vitale, sondern auch das soziale Verhalten fördernde Bedeutung zu. Durch die Evolution dieser Anlage, an weIcher der Mensch zu tragen hat und mit der er leben muß, ist er unter einen Kollaborationsdruck gesetzt, zum sozialen Verhalten gezwungen und damit an das letztere gewöhnt worden. Aus nicht mehr bewußt gewordener Gewohnheit und in der Annehmlichkeit ihres Nutzens hat sich eine Einsicht für ihre Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit und daraus wieder der Wunsch und das Bedürfnis entwickelt, das Funktionieren des sozialen Zusammenlebens durch Einführung und Einhaltung konventioneller Normen mehr und mehr zu verbessern und auszubauen und schließlich in einem fortgeschrittenen Entwicklungsstand durch eine idealistisch erdachte Ethik zu vervollkommnen. Beim Frühmenschen wurde dabei wohl kaum ein "Contract social" abgeschlossen. Auch hier könnte nur ein instinktiv erfaßtes Kosten-NutzenPrinzip Anlaß zu sozialen Verhaltensweisen gewesen sein, von der Annehmlichkeit eines geselligen Zusammenlebens ganz abgesehen.
Soziobiologisch hat die Aggressivität somit zwei Funktionen: Sie dient einmal der Arterhaltung und -entwicklung und zum andern der Organisation des Zusammenlebens in Gemeinschaften, wo sie der Eindämmung des Egoismus entgegenwirkt und diesen abgrenzt - beim Menschen in dem Zeitpunkt, wo er ein zur sozialen Organisation fähiges Wesen geworden war, durch Gewöhnung an soziale Verhaltensweisen und Einrichtung von Normen (vgl. hierzu Tabelle I).
vegetative, instinktive Vernünftigkeit (oder Zweckmäßigkeit)
stärkste soziale Zuneigung und Bindung
sexuelle Partnerschaft als kleinste soziale Einheit
sozialer Grundzustand --)-
Großfamilie --)-
Clan (Träger von Genen aus verschiedenen Genlinien) --)-
-+
--)-+
praktische Vernunft
Anstieg der Organisation der Vernunft (nach der Logik des Lebenden)
Vernünftigkeit
-+ biologische
entsprechender Bildung von Verhaltensnormen
-+ steigender Kollaborationsdruck unter
-+ zunehmende Gesamtvitalität und Aggressivität
--)- abnehmende genetische Verbundenheit }
-+
-+
Volksgruppe, Stamm
höchste Vernunftstufe als geistige und reine Vernunft
durch Normen geregelte soziale Verbundenheit
--)- Zunahme der Größe der sozialen Gruppe verbunden mit Abnahme --)des Verwandtschaftsgrades (= genetische Verdünnung)
--)- Familiengemeinschaft
- - Richtung der Evolution des Verhaltens--)-
Tabelle 1
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3. Das Problem des menschlichen Antriebsüberschusses
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3. Das Problem des menschlichen Antriebsüberschusses Mit dem vielfach benützten Begriff der menschlichen Vitalität fassen wir mehr oder weniger klar oder vielleicht nur verschwommen die Vielfalt der Verhaltensweisen eines Menschen in abschätzender oder abmessender Weise zusammen. Sie reicht von den nicht nach außen in Erscheinung tretenden unbewußten, triebhaften, aggressiven über die das aktive Handeln bestimmenden und organisierenden bis zu den sozial, geistig und künstlerisch schöpferischen und gestaltenden. Sie sind Ausdruck eines Lebenstriebes oder, soziobiologisch betrachtet, eines Selbstbehauptungstriebes, der sich bis zur Aggressivität steigern kann, die in milder, stärkerer oder sozialschädlicher Intensität auftritt. In der Entfaltung dieser Vitalität können die verschiedenen Instrumente des Antriebsorchesters als Soloinstrumente oder in schwächerem oder stärkerem Chor zum Einsatz kommen. Dieses Bild soll verdeutlichen, daß die Trieb- und Antriebsstruktur nicht aus einer einzigen Anlage besteht, sondern daß in ihr verschiedene zusammenwirken, die nicht apriorisch gleichzeitig vorhanden waren. Der Antriebskomplex hat sich in einer Aufeinanderfolge von Anlagen nach einer in der Philosophie aufgekommenen Metapher (N. Hartmann) in Schichten entwickelt. Damit soll nicht etwa behauptet werden, daß die unteren Schichten, wenn von den das Leben erhaltenden des Hunger- und Fortpflanzungstriebes abgesehen wird, mit entsprechenden Triebschichten der tierischen Arten identisch seien und die menschliche Art nicht eine spezielle Entwicklung durchlaufen hätte. In seiner Entwicklung unterscheidet sich der Mensch von den Tierarten, daß er mit keinen der biologischen Spezialfunktionen, wie Fliegen, Klettern, Schwimmen, Unter-Wasser- oder in der Erde-Leben ausgestattet wurde. Nach der antiken Mythologie hat er sich nach seiner und der Tierarten Erschaffung deshalb vor den Schöpfergott Zeus gestellt und sich beklagt, daß er benachteiligt worden sei. Nach der Auffassung A. Gehlens und vor ihm J. G. Herders ist er ein biologisches Mängelwesen, das nach der Mythe in seiner Klage von Zeus mit dem Hinweis beruhigt wurde, daß es die höchste göttliche Gabe, den Geist, erhalten habe. Dieser als Kompensation der biologischen Mangelstruktur ist der Kern der menschlichen Antriebsstruktur, die im Unterschied zur tierischen einen beträchtlichen Oberschuß aufweist. Schon das Kleinkind zeigt in seiner beim Heranwachsen täglich zunehmenden Neugier, mit der es durch orales und manuelles Erfassen aller möglichen durch Kriechen, Krabbeln und Sichaufrichten erreichbaren Gegenstände untersucht, diesem vom Jungtier sich ganz besonders unterscheidenden Antriebsüberschuß, der sich im Lauf seines Lebens immer mehr hervortut. Dies bedeutet eine Erweiterung des menschlichen Verhaltens mit den damit verbundenen Problemen des Sozialen und Ethischen.
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IV. Aggressivität und Aggressionen
Nach Gehlen ist der konstitutive Antriebsüberschuß schon chronisch und - diese Feststellung ist für die Sonderstellung des Menschen innerhalb der Arten und seine Verhaltensweisen wesentlich - wohl als "Innenseite" eines nicht spezialisierten Lebewesens von organischer Mittellosigkeit zu begreifen, das einem chronischen Druck von inneren und äußeren Aufgaben ausgesetzt ist. Auch Max Scheler hat (in "die Stellung des Menschen im Kosmos") vom Menschen als einem Wesen gesprochen, "dessen Triebüberschuß stets überschüssig über seine Befriedigung ist". Die Antriebskräfte, unter deren pausenlosem Druck der Mensch lebt, die ihn tagsüber bei vollem Bewußtsein und nachts noch in Träumen beherrschen, gehen in der Regel weit über das hinaus, was er zur unmittelbaren Befriedigung physischer Bedürfnisse überhaupt aufzuwenden hätte. Sie verteilen sich in die verschiedensten Richtungen und werden durch Sitten, Normen und Gesetze gebunden. Sie können als unbändige Lebensgier und planlose Vitalität in Erscheinung treten und zur Desintegration werden und die Institutionen des sozialen Lebens zersetzen. Der Mensch tritt als biologisches Mängelwesen ins Leben und ist dazu noch unfertig. Er muß sich daher erst orientieren durch Bewegungsfähigkeit, Sprache, Denken, Handfertigkeit und sonstige Geschicklichkeit. Erst wenn er diese erworben hat, beginnt die Pubertät, erwacht die Sexualität. Erst dann ist er fertig, seine Existenz selbst zu unterhalten. Nach Gehlen ist der Antriebsüberschuß ein "apriori" und stellt den Menschen von vornherein unter einen Arbeitszwang, zumal sein eigener Antriebsüberschuß in den Wettbewerb mit den Antriebsüberschüssen vieler Individuen treten muß.
In Kompensation seiner Mängel mußte sich beim Menschen das Gehirn entwickeln, das ihn zum Handeln und zum Arbeiten befähigt. Kant sagt dazu: "Indem die Natur dem Menschen Vernunft und Freiheit des Willens gab, verweigerte sie ihm Instinkte und Versorgung durch anerschaffene Erkenntnis. Er sollte vielmehr alles aus sich selbst hervorbringen". Dementsprechend äußert sich Gehlen: "Die Befreiung zur umsichtigen und vorausschauenden Tätigkeit, die Entlastung aus dem Druck der unmittelbaren Gegenwart sind also die elementaren Aufgaben, und sie werden vom Menschen in schwierigen Leistungen bewältigt, in mühsamer und Jahre ausfüllender Auseinandersetzung mit der Welt und mit sich selbst. Er muß erkennen, um tätig zu sein, und er muß tätig sein, um morgen leben zu könne. Das Tier lebt mit der Zeit. Der Mensch, "den schon der künftige Hunger hungrig macht" (Hobbes, de horn. X, 3) "hat keine Zeit". Hieraus hat sich ein Bedürfnis- und Antriebsleben entwickelt, und dieses Antriebsleben muß nach Gehlen eine besondere Struktur haben. Es ist orientierbar, und die oft bemängelte Instinktlosigkeit des Menschen hat eine positive Kehrseite. Es ist die gleiche Instinktverminderung, die einerseits den
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direkten Automatismus abbaut, der bei genügend großem inneren Reizspiegel, wenn der entsprechende Auslöser auftritt, die angeborene Reaktion enthemmt, und auf der anderen Seite wieder ein neues von Instinktdruck entlastetes System von Verhaltensweisen in Freiheit setzt. Es besteht dadurch eine weitgehende Unabhängigkeit der Handlungen sowie des wahrnehmenden und denkenden Bewußtseins von den elementaren Bedürfnissen und Antrieben oder die Fähigkeit, beide Seiten sozusagen "abzuhalftern" oder, wie Gehlen sich ausdrückt, eine Kluft freizulegen. Gehlen hält es für unabdingbar, daß die menschlichen Antriebe von ihren Aufgaben im Zusammenhang der Handlung gesehen werden. Dann ergeben sich Merkmale, die in einsehbarer Weise zusammenhängen. Sie lassen die allgemeine Struktur des Antriebslebens umreißen. In dieser werden etwa folgende Gesetzlichkeiten gefunden, die er im weiteren Verlauf seiner Ausführungen eingehender untersucht: I. Die Antriebe sind hemm bar und können "zurückbehalten" werden. Dadurch öffnet sich die Kluft (hiatus) zwischen ihnen und der Handlung. 2. Sie werden erst im Aufbau der Erfahrung entfaltet. Aus der Erfahrung entwickelt sich das Ziel bewußtsein. 3. Die Antriebe sind besetzbar mit Bildern, Phantasien, mit inhaltlichen "Erinnerungen". Werden sie zurückgehalten, dann werden sie mit diesen Bildern als ganz bestimmte Bedürfnisse und Interessen bewußt. 4. Sie sind plastisch und variabel, können den Veränderungen der Erfahrung und Umstände folgen, den Handlungen nachwachsen. 5. Aus diesem Grunde gibt es auch keine scharfe Grenze zwischen elementaren Bedürfnissen und bedingten Interessen. 6. Auf gehemmten Bedürfnissen können höhere wachsen (etwa entsprechend der Sublimierung der Triebe nach Freud), welche als Dauerinteressen sich für die Zukunft latent halten und gegenüber den wechselnden Bedürfnissen der Gegenwart "innen bleiben". 7. Alle Bedürfnisse und Interessen sind, sobald sie im Umgang mit der Umwelt und der Erfahrung mit dieser erwacht und mit Bildern, Phantasien und dgl. besetzt worden sind, als solche Gegenstand der Stellungnahme anderer möglicher Interessen. Damit werden sie verwerfbar oder auch zulassungsfähig. Ein durch seine Organmängel so exponiertes Wesen wie der Mensch muß Veränderungen der Welt herbeiführen, um sich in dieser halten zu können. auch wenn sie noch so bedingt und kompliziert sein mögen, so sind sie eben gerade dadurch antriebswichtig. Alle "Hilfstätigkeiten", von denen dies geleistet wird, werden notwendigerweise zu Bedürfnissen:
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IV. Aggressivität und Aggressionen
Wahrnehmung, Sprache, Bewegungsvariationen und Mithandeln. Die Aufgabe des Menschen ist nach Gehlen, das Antriebssystem gut zu organisieren, was vielleicht seine am schwersten zu lösende Aufgabe sei. Deshalb verwirft er auch die am Tier ausgebildete Betrachtungsweise, weIche das menschliche Verhalten direkt auf ein System von Instinkten zurückzuführen versucht (die biologische Methode), die ebenso wenig dem Sonderstatus des Menschen entspreche wie die abstrakte Innenschau, die das menschliche Innenleben ohne Beziehung zur Handlung in seinem rein inneren Reflex betrachtet (die psychologische Methode). Mit seinen Anlagen des Bewußtseins, des Verstandes und der Vernunft macht der Mensch sich mit fast unbeschränkter subjektiver Freiheit auf den Weg des Suchens und Erprobens. Antriebskraft und subjektive Freiheit werden hierbei zu einer Einheit, und diese zeigt ihre abschätzbare Stärke in der individuellen menschlichen Vitalität. Mit dem Ausgebreitetsein der Antriebe, deren Stärke eine Funktion der Erbanlagen, aber auch geographischer und klimatischer Bedingungen ist, stoßen wir auf sämtliche Schichten des menschlicen Wesens und mit der damit verbundenen subjektiven Freiheit auf den Kern des von den Philosophen noch immer und schon bald bis zum Oberdruß behandelten Problems der Willensfreiheit. Die Aufteilung der Urtriebe, weIche die physische Existenz von Mensch und Tier bestimmen, und Antriebe, die beim Menschen zu einem großen Teil aus der psychisch-geistigen Schicht kommen, ihn dadurch dem Tier überlegen machen und in eine Vorzugsstellung des Seins erhöhen, läßt die fließende Grenze erahnen, an weIcher - ethisch betrachtet Unzurechnungsfähigkeit in Verantwortlichkeit übergeht, worauf noch später zurückzukommen sein wird. Der sich bestätigende Antriebsüberschuß führt in gleicher Weise wie Triebe und Antriebe zwangsläufig über den Paß des Wettbewerbs, auf dem er ins Feld des sozialen Verhaltens und seiner Problematik gelangt. Die Mannigfaltigkeit der Antriebe entspricht zwar einem höheren Entwicklungsniveau, und die menschliche Kultur wäre ohne sie nicht denkbar, ist aber dem Gesetz des Wettbewerbs als einer Grundkategorie des Seins unterworfen. Außer dieser für das Zusammenleben der Menschen vorhandenen Schwierigkeit scheint eine weitere darin zu bestehen, daß die Antriebsstruktur während der kulturellen Entwicklung noch autokatalytisch verstärkt und erweitert worden ist. Mit der rapiden Zunahme der Erdbevölkerung im heutigen Zeitalter ist der kollektive Antrieb schon innerhalb einer Generation geradezu potenziert worden und wird durch antriebsfördernde Mittel, die sich der Mensch mit Hilfe seines Geistes verschafft hat, sich weiter verstärken, vielleicht in einem Maße, daß der Menschheit noch mehr als dem Zauberlehrling droht, nämlich der Verlust der Herrschaft über sich selbst; dies zu einer Zeit, in der die Technik und ihre Energien die große
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Zahl unbezahlter und geschundener Sklaven der geschichtlichen Vergangenheit multiplikativ oder sogar potenziert ersetzt und menschliche Arbeitskraft immer überflüssiger macht, so daß zwischen dem zivilisatorisch gesteigerten Antriebsüberschuß und der Langeweile eines zur Untätigkeit verurteilten zunehmenden Millionenheeres von Menschen sich ein Spannungszustand aufbaut, der zur Explosion führen kann. Für das Zusammenleben der Menschen tut sich hier ein Problem äußersten Ausmaßes auf. Denn die Naturanlage des Antriebsüberschusses drängt unaufhaltsam zum Handeln, zum Erfolg im Beruf, zu Besitz und Ansehen. Dazu ist Freiheit notwendig, ohne die diese menschliche Kraft brachliegen würde. Gleichzeitig mit Egoismus vereinigt führt sie je nach Stärke zu unterschiedlichen sozialen Positionen an Besitz, Macht und Ansehen innerhalb der Gesellschaft. Nach dem Gesetz der evolutionär stabilen Strategie werden Gegenkräfte geweckt, deren harmloseste die auch im Tierreich verbreitete Nachahmungssucht, deren weit gefährlichere aber der Neid ist, der in der biologischen Schicht als Futterneid und in der präbiotischen als die größere Reaktionsenthalpie beim" Wechsel der Stoffe" der chemischen Reaktanten, auftritt. Neid treibt zum Ausgleich mit Hilfe des ihn antreibenden Antriebsüberschusses, der vielleicht ohne Neid nicht geweckt worden wäre. Wenn der Neid einzelner Individuen nicht ausreicht, schließt er sich zum kollektiven Neid vieler Individuen zusammen. In Gruppen oder Parteien wird um einen Ausgleich, um die Herstellung eines Gleichgewichts gekämpft. Die einfachste Maßnahme besteht in einer Verminderung oder Beseitigung der Machtposition, welche die beneidete Gruppe durch ihren Antriebsüberschuß erreicht hatte (Enteignung, Vertreibung, Revolution oder dgl.) oder in der Einschränkung des Betätigungsraumes, der Freiheit, durch Zwang, Diktatur und Tyrannei, wenn sie nicht durch freiwillige Einschränkung gelingt. Der Antriebsüberschuß kannje nach Charakter und Intensität zu einem moralischen und sozialen Problem, zum Problem der Freiheit schlechthin werden.
V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens 1. Die Schichtenstruktur Die Entwicklungslinie von der zweigeschlechtlichen Partnerschaft als kleinste soziale Einheit zur genetisch zusammengehörigen Familiengemeinschaft (Verwandtschaft), bis zur durch Umweltdruck erzwungenen Kollaborationsgemeinschaft mit ihrem durch das evolutionär stabile Gleichgewicht eingestellten gegenseitigen (lntergruppen-)Aggressionsverhalten stellt zwar eine nicht anfechtbare, naturwissenschaftlich begründete Erklärung für das Aufkommen sozialer Verhaltensweisen dar, aber von sittlichen wird man dabei nicht sprechen können. Bei dieser Entwicklung hat auf den Zustand der genetischen Verwandtheit zunächst die Umwelt mit ihren Zwängen eingewirkt, ohne daß anscheinend die davon betroffenen Individuen der einzelnen Arten aktiv oder gar bewußt etwas dazu beigetragen hätten. In der Tat ist nach dem in den letzten 30 Jahren an zahlreichen Tierarten gesammelten Beobachtungsmaterial die Auffassung, die besonders K. Lorenz ("Das sogenannte Böse") vertrat und nach der im Tierreich innerhalb der gleichen Art zwischen Artgenossen keine tödlichen Aggressionen vorkommen sollen, gründlich widerlegt worden. Ein scheinbarer Unterschied besteht offensichtlich nur dadurch, daß dem Tier im Gegensatz zum Menschen die mit Sicherheit den Tod herbeiführenden technischen Mittel fehlen und es sich nur seiner angeborenen Kampforgane bedienen kann. Im Tierreich kommen innerartliche Aggressionen weit häufiger vor als beim Menschen. Die evolutionäre Bildung von Lebensgemeinschaften ist zwar als Vorausetzung zur Entwicklung sozialer Verhaltensweisen unbedingt notwendig, jedoch sicher nicht hinreichend gewesen. Die dabei einsetzende Erziehungsaggression war der erste Schritt dazu, und ihre Funktion bestand darin, den oder die Artgenossen, die aus den zur Gewohnheit gewordenen Normen des ungestörten Zusammenlebens auszuscheren trachteten, zurückzuweisen oder zu hemmen. Nachdem wir heute wissen, daß die Evolution nicht bloß von äußeren Faktoren bewirkt wird, sondern auch von einer dem Organismus inhärenten Variabilität, einer Disponiertheit zur Änderung seiner Struktur und Reaktivität, ist es offensichtlich, daß eine "Mutation" oder Adaptation der Verhaltensweisen auch vom Organismus selbst induziert worden sein muß. Ob wir nun annehmen, daß die Evolution stetig oder nach zeitweiligen StiIIständen wie in der sozialen Evolution eruptiv (z. B. die
I. Die Schichtenstruktur
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französische Revolution) verlaufen ist, ist für ihre Wirkung, die sich in einer Ausbildung von Schichten niedergeschlagen hat, bedeutungslos. Die Schichtenstruktur, die kennzeichnend für gewisse Haltezustände der Evolution und damit eine Phase konservierter Reaktivitätsintensitäten oder Verhaltensweisen ist, erlaubt deren Hervorhebung und Typisierung. Die Schichten lassen sich zwar nicht direkt erkennen, doch läßt sich von ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß sie sich in gewissen Arten niedriger und höherer Organismen so stabilisiert und konserviert haben, daß sich daraus eine Entwicklungsgeschichte der Reaktivität und des Verhaltens ablesen läßt. Dies dünkt nach der Feststellung, daß sich viele Organismen, vorwiegend niedrige, in vielen Millionen Jahren nicht verändert haben, berechtigt. Gegen die schon auf Aristoteles zurückgehende Theorie des Aufbaus in Schichten, wie sie von M. Scheler vertreten wurde, hat A. Gehlen Einwände erhoben, wahrscheinlich aus dem Mißverständnis, daß die aufeinander folgenden Schichten, soweit sie von den einzelnen Arten erreicht werden konnten, bei Mensch und Tier den gleichen Charakter haben. Wenn dies schon auf der biologischen Stufe nicht möglich ist -- ein Adler kann nicht schwimmen, und ein Hase kann nicht fliegen -- dann noch viel weniger für die höheren Stufen des Psychischen oder Geistigen. Vielmehr ist für jede Art, sobald sie am Evolutionsbaum einen eigenen Zweig gebildet hat, ein eigenes Stufen- oder Schichtenschema anzunehmen, das besonders für den Menschen spezifisch geworden ist, nachdem er sich von der Anthropoidenlinie abgelöst hatte. Gehlen spricht von einem im Menschen durchlaufenden Strukturgesetz, das ihn zu einem vom Tier grundsätzlich verschiedenen Lebewesen mache. Dagegen ist sicherlich nichts einzuwenden, es verbietet aber nicht, Begriffe wie Instinkt, praktische und theoretische Intelligenz auf Mensch und Tier, soweit bei letzterem vorhanden, gleichzeitig anzuwenden. Im Formalismus der Philosophie wurden und werden z. T. diese Begriffe gebraucht, als würden sie etwas ganz eindeutig definieren, ein Instinktorgan, ein Organ der praktischen Vernunft oder der Seele, wie z. B. die körperlichen Organe Herz oder Lunge. Werden diese Anlagen im Menschen zu sehr konkretisiert und läßt man außer acht, daß sie im zentralen Nervensystem ihren Sitz -- sogar dicht beieinander -- haben, wird die Hemmung begreiflich, bei Mensch und Tier eine gemeinsame Stufe, z. B. der praktischen Intelligenz anzunehmen. In Wirklichkeit unterscheiden sich entsprechende Stufen bei Mensch und Tier in ihrer Entwicklungshöhe und Ausprägung. Vom Standpunkt der Evolution ist eine anders verlaufende Entwicklung als in Stufen überhaupt nicht denkbar, wobei in der Anwendung dieses Begriffes allzu leicht die unzulässige Schematisierung begünstigt wird, als handle es sich hier um diskrete, scharf voneinander getrennte Schichten. Die Ausbildung solcher Grenzen ist naturwissenschaftlich undenkbar. Sie sind nach
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
aller Erfahrung verwaschen, oder es bestehen fließende übergänge. Selbst innerhalb der Spezies Mensch unterscheiden sich die Ausdehnungsbereiche dieser Schichten; umso mehr muß dies zwischen Mensch und Tier der Fall sein. Im Grunde können wir allenfalls von einer kontinuierlichen Steigerung des Komplexitätsgrades der organisierten Lebensformen sprechen, die, wenn man von Schichten sprechen will, der Folge präbiotisch ~ vegetativ~ instinktiv ~ physisch vernünftig ----+ Verstand ~ theoretische (reine) Vernunft entsprechen. Dabei muß nach heutiger Auffassung angenommen werden, daß schon in den untersten Schichten Keime oder schwache Ansätze von Verhaltensweisen vorhanden gewesen sind, die sich erst in den obersten ausgeformt haben. So spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür, daß die als physische Vernunft, von Nietzsche als die "große körperliche Vernunft", von Franr;ois Jacob als "Logik des Lebenden" bezeichnete Schicht, sich über den gesamten zeitlichen Entwicklungsbereich des Lebenden erstreckt, d. h. von Anbeginn der Evolution vorhanden gewesen ist ("Denn vernünftig handelt die ganze Natur" (F. Schiller in "die ästhetische Erziehung des Menschen"). Hält man an der aufgestellten Folge fest, so ist in allen Schichten den Ursprüngen von Verhaltensweisen nachzuspüren, von denen angenommen werden muß, daß sie sich im Verlauf der Evolution zu solchen entwickelt oder mutiert haben, die beim heutigen Menschen den Verhaltenskomplex Sittlichkeit bilden.
2. Die präbiotische Schicht In der Zusammenfassung der Prinzipien der Selbstorganisation der Materie (1II.4.) waren solche genannt worden, deren Wirkung der Ausbildung von Sozialverhalten entgegensteht und dafür negativ zu bewerten sind, und andere, die eine solche begünstigen. Zu den ersteren wären die den GenEgoismus repräsentierende Ausbreitungssucht und der damit verbundene Wettbewerb der Gene um die Ressourcen für den Aufbau ihrer Ketten zu rechnen. Als ein den Wettbewerb verschärfendes Prinzip trat die als "Erfindergeist" der Evolution wirkende Mutation mit ihrer Folge der Selektion auf. In die Gruppe der Prinzipien, welche die Entstehung sozialer Verhaltensweisen begünstigten, sind der von der Umwelt - in der präbiotischen Schicht vom Reaktionsmilieu -- ausgehende Kollaborationsdruck zum Zusammenschluß der Molekülgruppen zu funktionsfähigeren Gebilden (Hyperzyklen), die chemische Symbiose und der Synergismus zu rechnen; der letztere als ein materieinhärentes Potential für die Ausbildung von Materiezuständen höherer Ordnung und Harmonie l , als bestimmender Fak-
3. Die biologische Schicht
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tor der Morphogenese von Organismen und als ein Prinzip, dessen schöpferische Funktion und Bedeutung zu erfassen, wahrscheinlich noch ganz in den Anfängen steckt.
3. Die biologische Schicht Wir verstehen darunter den Bereich von Lebensvorgängen, die sich von den vegetativen über die instinktiven bis zu denjenigen erstrecken, die insofern noch animalisch sind, als sie -- auch beim Menschen -- nur das biologische Dasein betreffen, über die sich die höhere Seinsschicht des Seelisch-Geistigen erhebt. In dieser Schicht stellen Instinkt und instinktives Verhalten eine Schwelle dar, die für die Evolution sicher nicht bestanden hat, für die wissenschaftliche Erforschung bisher aber beachtlich war. Vor der Schwelle liegen noch die reine Reaktivität der stofflichen Gebilde, wie wir sie aus dem Bereich der Chemie kennen, und die vegetativen physiologischen Kreisläufe in den Organismen, die automatisch ablaufen. Hinter der Schwelle beginnt der Bereich des Verhaltens. Vor der Schwelle herrscht Auslösungsautomatismus, indem die sich anscheinend automatisch abspielenden Vorgänge zu ihrem Ablauf einer Auslösung bedürfen. Chemische Moleküle reagieren nicht beliebig, sondern aufgrund von plötzlich aufgetretenen oder geschaffenen Bedingungen, die eine Reaktionsbereitschaft erzeugen, d. h. auslösend wirken. Hinter der Schwelle setzt das nicht mehr unter allen Umständen determinierbare Reagieren ein. Die Reaktivität wird zum Verhalten. Geht man noch einen Schritt weiter, so läßt sich sagen, daß die Schwelle den Bereich der Determination von dem der Freiheit trennt. Vor der Instinktschwelle gleichen die Organismen aufgezogenen Uhren, die nach Aufnahme oder Speicherung von Energie automatisch ablaufen mit einprogrammierten periodischen Abläufen der ZeigersteIlung, der akustischen Zeitansage u. a. Die Uhren der lebenden Organismen enthalten ebenfalls Programme, nach denen das Herz periodisch schlägt, die Atmung nach einer bestimmten Frequenz verläuft, ebenso das Schlafen und Wachsein. Der Fortpflanzungstrieb wird als Brunst zu einer bestimmten Jahreszeit wach. Der Hunger stellt sich periodisch ein. Ein Teil dieser Vorgänge verläuft völlig automatisch, so lange der Organismus lebt, ein anderer nach "inneren Uhren" (E. Bünning; Ritchie E. Ward), die wie Zeitschaltwerke zu einem bestimmten Zeitpunkt den Ablauf des Mechanismus frei geben, die aber von dem hormonalen Gesamtsystem des Organismus gebildet werden, der auf den Tag- und Nachtrhythmus (beim Schlaf, bei der Jagd nach Beute I In diesem Zusammenhang sei Albert Einstein erwähnt, der auf die Frage, ob er an Gott glaube. geantwortet hat: "Ich glaube an den Gott Spinozas, der sich in der Harmonie allen Seins erweist, nicht an einen Gott, der sich mit den Schicksalen und Handlungen von Menschen befaßt."
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
usw.), auf den Mondwechsel (bei der Menstruation), die Jahreszeit (beim Erwachen der Brunst, dem Flug der Zugvögel u. a.) ansprechen. Im hinter der Schwelle beginnenden Verhaltens bereich, in welchem die vegetativen Vorgänge nicht ausgeschaltet sind, weil Leben sonst nicht möglich wäre, und in dem ein scheinbar oder wirklich freies Verhalten herrscht, so frei, daß beim Menschen von Instinktverkümmerung oder in besonderen Fällen von Instinktlosigkeit gesprochen wird.
Diese Feststellungen zwingen zu einer Antwort auf die Frage, was diese Schwelle Instinkt ist und welche Rolle sie -- wenn überhaupt -- in der Entwicklung moralanaloger oder moralischer Verhaltensweisen spielt. Geschichtlich betrachtet ist der Instinktbegriff nicht neu. Man sprach schon immer von einer geheimen Kraft, welche die Tiere antreibe. Diese instinktiven Leistungen setzten den Menschen immer wieder in Erstaunen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hierfür war von jeher das Verhalten der Zugvögel. Schon im Mittelalter war die Erscheinung des Instinkts bekannt. Erwähnt sei Thomas von Aquin (1225-1274), der von einer determinatio naturae, einem Zwang im Tier, das Richtige zu tun, sprach. Albertus Magnus (1193-1280), der als einer der wenigen Gelehrten des Mittelalters die Bedeutung der Erfahrung für die Wissenschaften betonte, äußerte sich dahingehend, daß "Tiere durch die natürlichen Instinkte geleitet werden". Von einer Deutung des Instinktverhaltens war man noch weit entfernt, so daß auch Kant nur sagen konnte: "Der Instinkt, diese Stimme Gottes, muß den Menschen, noch ehe er sprach, allein leiten". David Hume (1711-1776) gab als erster eine Definition. Für ihn ist instinktiv, was nicht erlernt ist und weder durch Lernen noch übung beeinflußt wird. In einem heute allgemeingültigen Konsensus der Verhaltensforscher werden Verhaltensweisen von Tier und Mensch, die bisher als angeboren und nicht erlernbar betrachtet wurden, als Instinkthandlungen bezeichnet und die Fähigkeit zur Ausführung solcher Handlungen als Instinkt. Viele animalische Verhaltensweisen wurden unter dem Begriff Instinkt zusammengefaßt. Die typisch instinktiven liegen jedoch hauptsächlich im motorischen Bereich -- in ihrer elementarsten Form in der Fortbewegung zwecks Ortswechsel, der in erster Linie durch den Selbsterhaltungs- und Fortpflanzungstrieb (Hunger, Suche nach Unterschlupf zum Schutz vor Feinden oder zum Nestbau) bedingt wird. Man hat den Begriff des Instinkts nach und nach zu präzisieren versucht. So sind nach einer Definition von A. Gehlen echte Instinkte Bewegungen oder sehr prägnante Bewegungsfiguren spezieller Art, die aufgrund eines angeborenen Automatismus ablaufen und die von inneren Reizungsvorgängen (s. u.) abhängig sind. Nach H. Tinbergen sind Instinkthandlungen oder Verhaltensweisen alle Bewegungen des gesunden, unverletzten Tieres. Der Begriff der Instinkthandlung wurde von K. Lorenz anstelle des etwas vagen
3. Die biologische Schicht
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Instinkt begriffes eingeführt. Die motorischen Instinkthandlungen sind nach ihm ererbte Verhaltensweisen. Das Erbgut enthält, physiologisch-chemisch betrachtet, ein Potential von Reaktionsweisen oder, biologisch, ein Programm von Anweisungen, nach dem die einander folgenden Bewegungen eines gesamten Bewegungsablaufes aufeinander abgestimmt sind und gemeinsam funktionieren. Lorenz hat sie deshalb "Erbkoordinationen" genannt, die als Begriff in die Zoologie eingegangen sind. Nun sind die unwillkürlichen Bewegungsabläufe beim Menschen ebenfalls miteinander koordiniert, jedoch mit dem Unterschied, daß die Tiere ihr Erbgut motorischer Verhaltensweisen beim Eintritt ins Leben bereits gebrauchsfertig mitbringen, so daß sie es sofort oder nur kurze Zeit danach einsetzen, d. h. stehen, laufen, schwimmen, fliegen u. dgl. können, während der Mensch seine Bewegungsformen erst erlernen muß. Trotz unseres Erstaunens hierüber hat die Evolution offenbar für das Lebewesen Tier, das bald nach dem Beginn seines Lebens aus der elterlichen oder mütterlichen Obhut entlassen wird oder eine solche oft gar nicht genießt und außerdem nicht lernfähig ist, den einzig möglichen Weg gewählt, indem sie dieses mit einem minimalen Satz von Reaktions- oder Verhaltensweisen, den motorischen Instinkthandlungen, genetisch versehen hat, daß es mit ganz eindeutigen und bestimmten Reaktionen auf irgend welche für seine Existenz bedeutsame Situationen ansprechen kann. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das von J. v. Uexküll (1864-1944) eingehend beschriebene Leben der Zecke. Diese ist ein zwei Millimeter großes Insekt. Sie ernährt sich von Warmblütlerblut. Nach seiner Begattung klettert das Weibchen aufgrund eines von oben kommenden Lichtreizes auf die Bäume. Es reagiert noch auf drei weitere Reize. Der erste ist der von Säugetieren ausgehende Buttersäuregeruch, nach dessen Wahrnehmung es sich vom Baum auf das Säugetier fallen läßt. Fällt es daneben, steigt es wieder hoch, bis es auf ein Tier fällt. Dort hilft ihm der Tastreiz, die Haut des Tieres zu finden. Von der Temperatur des Warmblütlers gereizt, beginnt es, das Blut des Tieres zu trinken, bis sein Körper Erbsengröße erreicht hat. Auch andere Flüssigkeiten, die Bluttemperaturen haben, trinkt es. Die Welt, in der dieses Insekt lebt, besteht nur aus vier Reizen, kaum mehr als die Anzahl der Reize, die das Leben von Pflanzen bestimmen. Aber weil sich das Insekt bewegen und seinen Aufenthaltsort wechseln kann, besteht Neigung, von Instinkt zu sprechen, wo es sich um Reaktivität oder objektgerichtete vegetative Vorgänge handelt. Wir vergewaltigen die Erfahrungstatsachen in keiner Weise, wenn wir anstelle von Instinkthandlungen von vegetativen Vorgängen sprechen, zu denen wir im menschlichen Bereich die uns nicht bewußten und lebensnotwendigen des Herzschlags, der Atmung und dgl. rechnen. Ohne Instinktmotorik wäre das Lebewesen nicht lebensfähig. Diese vegetative Motorik findet sich auf der niedrigeren Organisationsstufe des Lebens, z. B. in sehr sinnfälliger Weise bei den Pflanzen, wo sie eine Reihe von Stufen umfaßt:
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
I. Mechanische Vorgänge. Hier gibt es sinnvolle Bewegungen, die sich an völlig toten Pflanzenteilen abspielen können, aber dadurch sehr aufschlußreich sind, so z. B. die Quellung oder Schrumpfung. Sie bestehen darin, daß z. B. Holz quillt oder verholzte Pflanzenteile mit ihrer dem Wasser zugekehrten Seite, etwa am Boden, quellen, mit der trockenen Seite dagegen nicht und sich hierdurch auf der gequollenen Seite dehnen und eine Krümmung nach der trockenen Seite erleiden. Diese Quellung ist ein physikalisch-chemischer Vorgang, dessen sich die Pflanzen, z. B. beim Ausbreiten von Samen bedienen. Den gleichen Zweck erfüllen auch die Schleuderbewegungen, welche gewisse Pflanzen (Beispiel Springkraut) ausführen, nachdem mit zunehmender Reife des Samens das Pflanzengewebe einen gewissen Spannungszustand erreicht hat, so daß die Fruchtwand platzt, um den Samen zu zerstreuen.
2. Die Reizkrümmung von Pflanzen. Als Reizkrümmung im weitesten Sinn werden alle "Auslösemechanismen" bei Pflanzen, bei denen sich Vorgänge im Plasma lebender Zellen abspielen, bezeichnet. Zwischen Reiz und Reaktion liegt auch hier wie bei den motorischen Instinkthandlungen der Tiere eine Reizkette. Die Reizkrümmung erfolgt beim Wachstum der Pflanzen in gesetzmäßiger Weise aufgrund äußerer Einwirkungen, von denen die Lichteinwirkung die stärkste ist. Diese verursacht einseitiges Wachstum und damit Krümmung. Die Pflanzen reagieren hierbei selbständig. Während die Reizkrümmungen, die Tropismen, durch die Reizrichtung bestimmt werden, wird in den als Nastien bezeichneten Bewegungen von Organen festgewachsener Pflanzen, bei denen die Krümmungsrichtung schon in den Pflanzen festgelegt ist, die Krümmung durch den Reiz nur noch ausgelöst. 3. Tropismen und Taxien. Tropismen sind Krümmungsmöglichkeiten der ortsfesten Pflanzen nach verschiedenen Richtungen, Taxien die Bewegungsmöglichkeiten frei beweglicher Lebewesen unter der Einwirkung gleicher äußerer Ursachen, vornehmlich des Lichts. Zwischen den Tropismen und Taxien werden schon übergänge sichtbar, die wie auch die sogenannten Reflexe im Pflanzen- wie im Tierreich, vornehmlich bei den niedrigen Organismen vorkommen. Durch Beschreibung vieler Beobachtungsbeispiele in beiden Bereichen könnten sie selbstverständlich weit ausführlicher und für den Nichtbiologen überzeugender dargestellt werden. Es sei auf die umfangreiche dieses Gebiet behandelnde Literatur (s. u. a. W. Haupt) hier nur hingewiesen. Das Reaktivitätserbgut der Pflanzen ist ihrem standortfesten Leben angepaßt 2• Das VerhaItenserbgut der Tiere, wie es zu einem großen Teil in den , Auch bei zahlreichen Pflanzenarten besteht die Standortfestigkeit nicht allgemein. Es gibt wandernde Arten. die der Nährstofferschöpfung des Bodens (Bodenmüdigkeit) durch
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Instinkthandlungen sichtbar wird, erscheint dem Menschen, der sein Lebensmilieu ändern kann, als rätselhaft, weil dieser vermöge seines Bewußtseins und seiner Fähigkeit zu überleben sich einer durch seine Mobilität und durch die Zivilisation veränderten Umwelt jederzeit anpassen kann, was dem Tier nicht ohne weiteres möglich ist. Es sucht seine Umwelt nicht freiwillig aufzugeben. Für seine örtlich und zeitlich konstante Umwelt muß es mit einem fix und fertig ausgebildeten, starren Verhaltensschema ausgestattet sein, das man· bereits als Bestandteil des vegetativen Systems ansehen kann. Nach seinem Eintritt ins Leben kann es zum Unterschied vom Menschen keine Lehrzeit mehr durchmachen. Es muß für seinen Schutz gegen Feinde, seine Suche nach Nahrung und geeigneten Plätzen für die Aufzucht seiner Nachkommenschaft, für seine Paarung und die Brutpflege, kurz zu seiner Erhaltung und der seiner Art schon im embryonalen Zustand gewissermaßen eine Lehre durchlaufen haben und mit der Fähigkeit der notwendigen Lokomotion ausgestattet worden sein. Diese Fähigkeit gleicht der eines Autofahrers, der in einer Situation der Gefahr "instinktiv" die richtigen Schaltvorgänge ausführt. Wir wissen, daß bei den domestizierten Tieren, die nicht den Lebenskampf der frei lebenden Tiere zu bestehen haben, das instinktive Verhalten schon sehr verkümmert ist. Nicht ohne Grund wird immer auf den Unterschied zwischen der langen Entwicklungszeit des Menschen als Embryo und seiner langen Lehrzeit bis zum Erwachsensein und der entsprechend kurzen der Tiere hingewiesen. Die Instinkt- und Verhaltensforschung hat noch eine Reihe weiterer tierischer Verhaltensweisen beobachtet, deren Erklärung Schwierigkeiten bereitete, die aber verständlich werden, wenn man den Instinkt als eine Obergangsschicht zwischen automatischer vegetativer Reaktivität und gezieltern, fast schon bewußt erscheinendem Verhalten betrachtet. Hierunter fällt die Erscheinung, daß ein Tier erst reagiert, wenn eine Anzahl bestimmter Reize auftritt ("Reizsummenregel"). Auch das Tier besitzt in seinem Nervensystem gewisse "Empfänger", die für bestimmte Verhaltensweisen insgesamt notwendig und spezifisch sind. Die Zahl und jeweilige Zusammensetzung der Reizkomponenten bestimmen den spezifischen Reiz. Dieser, auch "Schlüsselreiz" oder "auslösendes Schema" genannt, wirkt auf einen dem Tier angeborenen "Auslösemechanismus" oder eine Struktur, die, wie Lorenz sagt, wie der Schlüssel zum Schloß paßt. Der angeborene Mechanismus löst dann das Verhalten aus. Ob es sich hier um etwas von anderen Erscheinungen grundsätzlich Verschiedenes, z. B. Reaktionen im chemischen Bereich oder Willensentscheidungen, die im menschlichen Bereich auf Motive ansprechen, handelt, mag dahingestellt bleiben. Im ersten Fall besteht der "angeborene Auslösemechanismus" aus verschiedenen physikalischen und chemischen Faktoren (Temperatur, Druck, Konzentrationen, langsames Wegwandern zu entgehen streben (Beispiele: Himbeeren, Maiglöckchen und viele andere mehr).
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
Molekülstruktur), die völlig determinierte, eindeutig gerichtete Reaktionen auslösen; im zweiten Fall ist das Auslösungsschema so vielfältig und verzweigt, daß eine Vielzahl dem Wahrscheinlichkeitsgesetz oder dem Zufall unterworfener Verhaltensweisen möglich ist. Auch das Appetenzverhalten läßt sich als Erscheinung einer Übergangsschicht deuten. Unter diesem wird die bislang nicht erklärbare rätselhafte Erscheinung verstanden, daß das Tier unter gewissen Bedingungen eine Handlung erstrebt oder zu einer solchen getrieben wird, die durch hartnäckige Zielstrebigkeit gekennzeichnet ist. Es kommt erst zur Ruhe, wenn das Verhaltensprogramm durch Erreichung des Zieles abgelaufen ist oder sich nur ein Leerlauf abspielt. Beispiele solcher Leerlaufhandlungen sind u.a. bei Vögeln das Zusammentragen von Nestbaumaterial, ohne daß schon eine Brutzeit bevorsteht, oder Verhaltensweisen, die mit der Brutpflege zusammenhängen oder dgl. Auf der Suche nach den den gesamten Verhaltensaufbau bestimmenden durchgängigen Prinzipien stößt man zwangsläufig auf die Deutung, daß Appetenzverhalten beim Tier nichts anderes ist als der Antriebsüberschuß beim Menschen. In beiden Fällen sucht das Lebewesen sich in der ihm seiner körperlichen und geistigen Konstitution angemessenen Weise über das zur Befriedigung seiner Bedürfnisse notwendige Maß hinaus zu betätigen, mit dem Unterschied, daß dem Menschen eine Vielzahl beliebiger Verhaltensweisen möglich ist, dem Tier aber aufgrund seines bescheidenen Erbgutes nur eine kleine Zahl ganz bestimmter motorischer Handlungen. Schließlich ist in diesem Zusammenhang noch die von K. Lorenz entdeckte Erscheinung der Prägung zu nennen. Unter Prägung versteht man seit O. Heinroth (1911) und K. Lorenz (1931) einen bei gewissen Tierarten in frühester Jugend stattfindenden schnell ablaufenden Lernprozeß, der in der Regel kurz nach dem Eintritt ins Leben stattfindet und nur innerhalb einer oft auf wenige Stunden beschränkten Zeitspanne der Sensibilität möglich ist. Nach einem vom jungen Tier ungenutzten Verstreichen der sensitiven Periode kann dieses nach den Beobachtungen von Lorenz für immer unfähig werden, Beute zu schlagen. Es handelt sich also um ein Lernen, das, verglichen mit der Begabung des Menschen zu lernen und hierzu fast sein ganzes Leben fähig zu sein, beschränkt ist und sich auf die Aneignung nur weniger Fähigkeiten oder sogar nur einer erstreckt. Die Fähigkeit zu selbständigem, nicht durch Dressur erreichtem Lernen findet sich im Tierreich höchstens bei den Anthropoiden. Doch gibt es auch in der Lernfähigkeit Übergänge zwischen Tier und Mensch, indem von letzterem viele Fähigkeiten nur durch ständiges Üben, einer milderen Form der Dressur durch Lehrende, oder durch sich selbst, erworben werden. Wie steht es nun aber mit Instinkthandlungen, die nicht zu den motorischen zählen, sondern von allgemeiner Natur, z. B. durch äußere Reize,
3. Die biologische Schicht
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bedingt sind? Nach überlieferter anthropozentrischer Einstellung neigte der Mensch bis in die jüngste Gegenwart zu der Annahme, daß nur er sich bewußt und mit überlegung >verhalte, während er dies beim Tier für völlig unmöglich hielt. Wir stellen uns auch jetzt noch vor, daß das Tier ein Erbgut von Verhaltensweisen besitzt, das gewissermaßen wie im Datenspeicher eines Computers gespeichert ist; von diesem würden nach dieser Vorstellung durch äußere Reize die entsprechenden Verhaltensweisen abgerufen. Unter der elementaren Voraussetzung, daß bei einer und derselben Art das Erbgut ihrer Individuen gleich ist, müßte in bestimmten Situationen das Erbgut aller gleich sein. Die Verhaltensforschung hat jedoch -- soweit die Literatur sich übersehen läßt -- eindeutiges Beweismaterial dafür geliefert, daß das Verhalten von Artgenossen, die gemeinsam miteinander aufwuchsen, und das von solchen, die in einem sog. "Kaspar-Hauser-Versuch", d. h. völlig isoliert aufgewachsen waren, gleich war. Man konnte andererseits auch wieder nachweisen, daß gleiches Verhalten von Artgenossen in der freien Natur (z. B. bei Cichliden-Fischen) nicht auf das Angeborensein des Verhaltens zurückgeführt werden kann. Nun ist bis heute auch noch nicht der Nachweis gelungen, daß das Tier für seine relativ, d. h. im Vergleich zum Menschen geringe Anzahl verschiedener, ihm möglicher Verhaltensweisen, die es in seinem Leben benötigt, kein Bewußtsein besitzen soll. Bereits im Jahre 1920 hat der Psychiater S. J. Szimanski, der sich mit vielen verschiedenen Tierarten beschäftigt hat, die überzeugung ausgesprochen, daß die Streitfrage über das Vorkommen eines außermenschlichen Bewußtseins eines Tages "zugunsten der Verteidiger des tierischen Bewußtseins entschieden werden wird". Der bekannte Schweizer Zoologe H. Hediger ist der Auffassung, daß die heutige Situation Szymanski recht zu geben scheint. Nach seiner Auffassung muß es verschiedene Vorformen des Bewußtseins geben. Eine der einfachsten oder vielleicht die einfachste ist das Wissen um den eigenen Körper und seine Anhänge (z. B. Schwanz) oder Fortsätze, wenn diese öfters oder stark wechseln können (z. B. das Geweih). Das Körperbewußtsein ist eine Grundform des Selbstbewußtseins, welche der Mensch sich wohl auch in der Ontogenese erworben haben muß. In seinem gehaltreichen Werk macht W. H. Thorpe auf die grundsätzliche Schwierigkeit aufmerksam, die jedem begegnet, der ein gewisses Bewußtsein im Tierreich nicht von vornherein ablehnt. Denn die Annahme eines Bewußtseins im Tierreich wird dann fragwürdig, wenn wir im zoologischen System tiefer absteigen. Daher stellt er die Frage, ob wir auch schon von Viren und Bakterien aufwärts Keime einer Art Selbstbewußtsein annehmen müssen. Parallel dazu nimmt Hediger an, daß auch auf dem Gebiet des Verhaltens sich eine mit abnehmender organisatorischer Komplexheit schwächer werdende Ähnlichkeit findet. So schließt er z. B. aufgrund von Nachahmungsleistungen gewisser Vogelarten beim Singen, deren Ablauf nicht durch Erbkoordination im Nervensystem gesichert ist, auf ein
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V. Die Vrsprungsschichten des Verhaltens
Bewußtsein. Thorpe stellt in seinem Werk über Lernen und Instinkt bei Tieren fest, daß echte Imitation bei Tieren ohne Selbstbewußtsein nicht möglich ist. K. Lorenz ist überzeugt, daß höhere Tiere, so besonders Hunde, dem Menschen gegenüber sicher einen völlig bewußten Ausdruck für ihre Gefühle und Wünsche haben, wofür er zahlreiche Beispiele anführt. H. B. Cott hat bei der Bearbeitung der Frage, wie sich Tiere zu ihrer Tarnung verhalten, eine Fülle von Beobachtungsmaterial von Anpassung durch Form, Farbe und Verhalten gesammelt. Er kritisiert, daß die erstaunlichsten Verhaltensweisen einfach als "instinktiv" bezeichnet werden und daß die objektive Verhaltensforschung sich mit dieser Charakterisierung in der Regel zufrieden gäbe. In Wirklichkeit sei damit nichts geklärt, da wir immer noch nicht wüßten, was Instinkt genau bedeutet. Nun ist auch bei zahlreichen Tierarten festgestellt worden, daß Tiere sich gegenseitig erkennen (H. Hediger). Freilich sind die Weisen des gegenseitigen Erkennens anders als beim Menschen. Die einfachen von den Tieren aufgenommenen Reize werden beispielsweise von Duftstoffen der Artgenossen oder durch elektrische Signale bei Fischen oder andere physiologische Vorgänge hervorgerufen. Sie lösen im Wirkungsgefüge des Nervensystems Prozesse aus, die eine gestaltete Wahrnehmung bewirken. (Beim Menschen kommen -- und hier ist er dem Tier weit voraus -- zu den sinnlichen Reizen noch die sprachlichen hinzu). Jeder weiß, daß es auch beim Menschen ganz individuelle Schweißgerüche gibt. Das Erkennen eines speziellen Artgenossen setzt auch ein Bewußtsein voraus. Der Artgenosse besitzt für das Tier einen Eigennamen, und dieser ist Bestandteil seiner (tierischen) "Persönlichkeit". Damit wird zwischen Nicht-Ich und dem Ich unterschieden. Diese Unterscheidung kommt z. B. beim Imitieren oder Verspotten von Artgenossen zum Ausdruck. Hediger ist der Ansicht, daß das Imitieren im Grunde die übernahme von Leistungen des Nicht-Ich in das eigene Ich bedeutet, was ohne ein einfaches Wissen um das Ich, d. h. ohne ein gewisses (Selbst-)Bewußtsein nicht möglich sei. Die Zoologen sind überzeugt, daß noch zweifellos weitere Wege zur Erforschung des tierischen Bewußtseins gefunden werden, wenn endlich das Dogma aufgehoben wird, es sei grundSätzlich unerforschbar. Sicherlich kann gesagt werden, daß die Verhaltensweisen, die heute mit der Bezeichnung instinktiv abgetan werden, bei tieferer Kenntnis des tierischen Bewußtseins eine Erklärung finden werden. Dabei kann natürlich schon von vornherein die Einschränkung angenommen werden, daß das tierische Bewußtsein von wesentlich kleinerer Dimension und die Zahl seiner Inhalte bedeutend kleiner als bei den am höchsten organisierten Lebewesen, z. B. beim Menschen, ist.
4. Mensch und Instinkt
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4. Mensch und Instinkt Vom menschlichen Instinkt wird heute allgemein behauptet, daß er verkümmert sei. Diese Behauptung kann sich wahrscheinlich deswegen so zäh am Leben erhalten, weil die Fülle der durch Psyche und Geist geprägten Verhaltensweisen im Verlauf der Evolution so zugenommen hat, daß diese überwiegen und die typisch instinktiven überdecken. Daß der Instinkt während der Evolution des Menschen einmal eine ebenso bedeutende Rolle wie beim Tier gespielt hat, wird schon durch die auf S. 122 zitierte Beschreibung der Lebensweise der Feuerland-Menschen illustriert, die Darwin auf seiner Expeditionsreise angetroffen und beobachtet hat. Diese haben noch vor 150 Jahren so gelebt, wie der nur instinkt- un.d triebbeherrschte Vorzeitmensch einmal gelebt haben muß. Die Spuren des schon von den Anthropoiden sich deutlich unterscheidenden ersten Menschen reichen in die jüngere Tertiärzeit (Pleistozän), d. h. ca. mehr als 100 000 Jahre zurück. Sein Leben war eingebettet in die Natur und war von dieser ein Bestandteil wie das der übrigen Lebewesen. Es verlief instinkthaft unbewußt. Und weil der Mensch unbelastet von Gedanken an die Vergangenheit war und die Fähigkeit, sich Gedanken über die Zukunft zu machen, noch nicht entwickelt und nur an das Jetzt zu denken hatte, entstand der Glaube, daß er in paradiesischer Unbeschwertheit gelebt habe. Das Paradiesische an diesem Zustand kann nur das Hineinleben in den Tag wie das jedes anderen Lebewesens ohne Gedanken an oder Sorgen für die Zukunft gewesen sein, weil das Bewußtsein hierfür noch gar nicht entwickelt war. In diesem Zustand konnte ihm die Tragweite einer Handlung, nämlich das Essen des Apfels vom Baum der Erkenntnis, was nach der biblischen Parabel (I. Buch Mose 3) gegen ein göttliches Gebot verstieß und erst darauf zum Erwachen des Bewußtseins und zur Erkenntnis führte, nicht vorstellbar sein; es sei denn er wäre vorher auf die Einhaltung des Gebotes wie etwa ein gelehriger Hund dressiert gewesen. Die Dressur konnte indessen nur in seinem Instinkt oder im Erbprogramm bestanden haben. Der Mensch hat sich über den primitiven Zustand des Vorzeitmenschen hinaus entwickelt. Es gibt bei ihm nur instinktiv-motorisches Verhalten, wo nach seiner Geburt die Organe erwartungsgemäß arbeiten, beim kleinen Kind nur das Sä ugen, Greif- und Umarmungsbewegungen; alles in allem eine dürftige Ausstattung, mit der allein es ohne mütterliche Pflege in kürzester Zeit nicht mehr am Leben bleiben könnte. Da er zu einem biologischen Mängelwesen angelegt war, mußte in ihm ein Antrieb zu seiner Selbsterhaltung entstehen, der über die einfachen Anlagen Urtrieb und Instinkt hinausging. Als einem morphologisch schon fertigen Lebewesen und als einem biologischen Nichtspezialisten stand ihm nur die Entwicklung des Gehirns offen. Der in der Bibel beschriebene Sündenfall des Essens des Apfels vom Baum der Erkenntnis mußte notwendigerweise und unausweichlich für den
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
Menschen stattfinden. Als Partner der Anpassungs-Interaktion zwischen ihm als Lebewesen und seiner Umwelt hat ihm symbolisch für die zu gewinnende Klugheit die Schlange gegenübergestanden. Das in ihm langsam entstehende Erkenntnisvermögen, eine Folge der Neugier der Lebewesen, die sich in ihrer Umwelt zurechtfinden müssen, ist ambivalent. Mit ihm entstehen die ersten Gedanken der Sorge. Der Mensch wird sich bewußt, daß er nackt, d. h. hilflos ist. War dieses Bewußtwerden die erste Spur eines Schamgefühls oder nur der Angst, den Unbilden des Daseins ungeschützt ausgeliefert zu sein? Oder war es beides zugleich? Der erste, durch Adam verkörperte Mensch war sich bewußt geworden, was nach der Beschreibung der Genesis von seinem Schöpfer symbolisch ausgesprochen wird: "Dieweil du hast gegessen vom Baum der Erkenntnis, davon ich dir gebot und sprach: du sollst nicht davon essen -- verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er' dir tragen, lind du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du gekommen bist". Mit diesem letzten Satz wird das Bewußtwerden des unausweichlichen Todes ausgedrückt, das bei mancherlei bildlichen Darstellungen in archäologischen Funden aus der Frühzeit und später in künstlerischen A usdrucksformen entdeckt worden ist. Nach der Genesis hat der Mensch das Todesbewußtsein schon vor der Vertreibung aus dem "Paradies des instinktiven Lebens" besessen. Denn er wird zusätzlich "vorsorglicherweise" vertrieben, damit er nicht auch vom Baum des Lebens esse, um womöglich wie dieser ewig zu leben. Adam und Eva sind die Symbolfiguren für eine Erdperiode, in welcher der Mensch in übereinstimmung mit der Natur lebt, aber als Mängelwesen von dieser gefährdet ist. Das Denken über "Gut" und "Böse" ist noch nicht erwacht. Gut ist, was noch als wohltuend, nützlich und dem eigenen Egoismus entgegenkommend empfunden wird, böse, was sich diesem entgegenstellt, was Schmerz und Unbehagen erzeugt. Mit dem evolutionsproportionalen Erwachen des Geistes eröffnet sich ein neuer Bereich der Antriebe, um den derjenige der Urtriebe und des Instinktes erweitert wird. Aus dem erweiterten Bereich können ungehemmt die triebhaft-instinkthaften, die psychisch-emotionellen oder schließlich auch die bewußt überlegten Antriebe des Verstandes und der Vernunft kommen. Ohne Prüfung, aus welcher Schicht die Antriebe stammen, wurde im Lauf der Zeit auch von der Wissenschaft eine große Zahl von Trieb- und Antriebsarten wie Sexualität, Egoismus, Geltungstrieb, Nachahmungstrieb, Durchsetzungstrieb, Zerstörungstrieb und Todestrieb -- um nur einige zu nennen -- aufgestellt und so betrachtet, als ob sie aus einer speziellen Welt der Triebe kämen. Sie werden in populärer Sprache so bezeichnet, weil sie oft Handlungen oder Affekten
4. Mensch und Instinkt
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entsprechen, die ungehemmt und "übertrieben" ablaufen und nicht durch intelligente, sachgemäße überlegung gegangen sind und daher als triebhaft erscheinen. Auch ohne Aufschub sofort in Gang gesetzte Handlungen werden im Unterschied von solchen, die auf Dauerinteressen gerichtet sind, als triebhaft charakterisiert. Die Frage, welche Verhaltensweisen aus der vorstehend charakterisierten biologischen Schicht entsprungen sein könnten, welche die ausschließliche Natur der tierischen Arten ist und auch diejenige des Menschen bis zu seiner Entwicklung zum homo sapiens allein ausmachte und seine heutige Natur noch zu einem großen Teil bestimmt, läßt sich durch folgende Verhaltensprinzipien zusammenfassend kennzeichnen: I. Bildung von Fortpflanzungsgemeinschaften auf monogamer oder polygamer Basis, wobei die Partner sich gegenseitig helfen und schützen. 2. Pflege der Nachkommenschaft, wobei der Intensitätsgrad der Pflege vom Verwandtschaftsgrad bestimmt und bei der direkten Eltern-Kind-Beziehung am stärksten ist -- wie beim Menschen ebenfalls. 3. Zusammenschluß einzelner oder mehrerer Individuen zu größeren Lebensgemeinschaften (Schwärmen, Rudeln, Herden) zum Zweck gemeinsamer Jagd und gegenseitigen Schutzes, wobei der Egoismus des einzelnen nicht ausgeschaltet, sondern höchstens durch die Artgenossen eingedämmt ist. (Prinzip Aggression -- Gegenaggression). 4. Regulation der Populationsdichte durch verschiedene Verhaltensweisen, worauf noch später (Abschn. VIII) eingegangen wird. Alle diese Verhaltensweisen werden weiterhin durch ein den biologischen Individuen unbewußtes "Kosten-Nutzen-Prinzip" reguliert. Der Trieb des Egoismus sucht den größten Vorteil für die Erhaltung des Individuums und damit der Art nach Ausrichtung auf ein Minimalverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag. Dieser Trieb kann sich nicht beliebig auswirken. Er wird eingeschränkt durch das Gesetz des evolutionär stabilen Gleichgewichts (s. III.h.I). Nach diesem besteht eine gewisse Vormachtstellung des Stärkeren, der den Schwächeren allein schon deswegen nicht aus dem Wettbewerb und dem Leben ausschalten kann und konnte, weil er ihn immer wieder als Gehilfen, als Sklaven oder Mitarbeiter benötigte. Der Schwächere konnte sich dagegen unter Verlust von Gesundheit oder Leben auflehnen, oder er konnte sich in sein Los fügen. In dieser Auseinandersetzung mit der Umwelt entwickelten sich die Eigenschaften der Anpassung, der List und Schlauheit, um in der Gemeinschaft mit den Stärkeren leben zu können. Es entstand ein Zustand des ,,00, ut des", was auch schon in der präbiotischen Phase andeutungsweise zu erkennen ist. Die Kollaboration im Kollektiv, erzwungen durch den Selbstbehauptungstrieb innerhalb einer unwirtlichen Umwelt, ermöglichte einen größeren Schutz des Individuums. Ein durch Gewohnheit
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
geprägter "contract social" entstand, dessen Charakter jedoch keineswegs dem entsprach, was der Kulturmensch als moralisch erkennen würde. Er zeigt sich vielfach in Verhaltensweisen, weIche die Verhaltensforschung als "moralanalog" bezeichnet hat. Das Leben unter der biologischen "Moral" ist in den Augen des Kulturmenschen brutal. Der Tod von Artgenossen spielte und spielt bei ihr nie eine Rolle; denn jeder Verlust durch Tod konnte jederzeit durch Neugeburt und Vermehrung ausgeglichen werden. Bestimmend war nur immer das Weiterleben der Art in einem evolutionär stabilen Gleichgewicht. Die zahlreichen paläoanthropologischen Entdeckungen, die in den letzten Jahrzehnten vor allem in Asien und Afrika gemacht wurden, zeigen, daß die ersten Gerätehersteller mit anthropoidem Knochenbau schon vor etwa I Million Jahren gelebt haben müssen, der erste aufrecht gehende Anthropoide (homo heidelbergiensis) vor etwa 500000 Jahren, während die wahrscheinlich den ersten wahren homo sapiens verkörpernde, in Europa heimisch gewesene Neandertaler Rasse vor etwa 35-40 000 Jahren (WürmEiszeit) gelebt hat. Wir können uns schwer oder kaum vorstellen, daß sich die Vorfahren des Menschen in jener Zeit sozial wesentlich anders als entsprechend einer biologischen Moral verhalten haben könnten und daß sie sich ihrer biologisch bedingten Verhaltensweise irgendwie bewußt gewesen sein sollten. Ein moralisches Empfinden, wie es durch das Auftreten der ersten Moralisten in der menschlichen Gesellschaft erwacht ist, dürften sie noch kaum gehabt haben. Ihre Verhaltensweisen waren ererbt instinktiv und somit nur von den Naturprinzipien bestimmt, die sie zur Fristung ihres Lebens und zur Zeugung und Sicherung ihrer Nachkommenschaft antrieben. Die ererbten auf Egoismus und Kollaborationsdruck beruhenden Verhaltensweisen wurden von Generation zu Generation weiter vererbt und haben sich bis auf den heutigen Tag in den verschiedensten Erscheinungsformen manifestiert. Sie sind die Bedingungen der biologischen Existenzfähigkeit des Menschen wie jedes Lebewesens, von denen es sich naturbedingt nicht befreien kann. Unter den Philosophen hat keiner mit einem so wenig täusch baren Blick für die Wirklichkeit und so nüchterner Klarheit wie Schopenhauer den Egoismus des Menschen als dessen wahre Natur bezeichnet. In seiner berühmten über die Grundlagen der Moral verfaßten Schrift gibt es eine ganze Heerschau antimoralischer Potenzen des Menschen; Gier, Völlerei, Wollust, Geiz, Habsucht, Ungerechtigkeit, Hartherzigkeit, Stolz, Hoffart u.s. w., deren Wurzeln er im Egoismus sieht. Verhaltensweisen wie Mißgunst, Neid, Obelwollen, Bosheit, Schadenfreude, Verleumdung, Intoleranz, Haß, Zorn, Verrat, Grausamkeit u. a. führt er auf die durch den Intellekt entwickelte Eigenschaft der Gehässigkeit zurück. Es sind Eigenschaften, die ohne das evolutionäre Werden des Intellekts sich nie hätten ausbilden können. Schopenhauer kommt zu dem radikalen Schluß, daß die Verderbnis der Welt genugsam beweise, daß die Triebfeder zum Guten im
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Menschen nicht sehr mächtig sei - im Gegensatz zur Lehre des Marxismus, daß der Mensch von Natur aus gut sei. Ohne Anhänger seiner als pessimistisch apostrophierten Lehre sein zu müssen, können wir uns wohl schwerlich der Wucht seiner Argumente und seiner Ansicht, daß der Mensch kein "angeborenes" Verhalten zum Sittlichen erkennen lasse, entziehen. Die vielen Arten des unmoralischen Verhaltens des Menschen mögen wohl kaum noch Primärformen des Egoismus der Gene sein, sondern haben sich aus diesem als der Urform bei der Ausbildung der psychischen und geistigen Schicht entwickelt. Bildung und Aufbau der Informationsträger haben sich schon nach dem Prinzip des Wettbewerbs, der sich in der Selektion auswirkt, vollzogen. Ohne Wettbewerb keine Weiter- und Höherentwicklung. Die Formen des Wettbewerbs in der menschlichen Gesellschaft sind durch Kultur getarnte und gemilderte Weisen des Egoismus, der sich sowohl in großen Rivalitäten und Gegensätzen äußern als auch höchste Leistungen auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet hervorbringen kann. Im Wirtschaftsleben sind seine Auswüchse als ungezügelter oder "ruinöser" Wettbewerb bekannt, wo er durch "Schleuderpreise" und Unterbietung das Preisgefüge unterhöhlen und volkswirtschaftlich durchaus wertvolle Existenzen vernichten kann. Im Wettbewerb wird in übereinstimmung mit S. Freud der Mensch oft zum Wolf des Menschen, was wiederum der Schopenhauerischen Charakterisierung des Menschen als eines durch und durch egoistischen Wesens entspricht. Von der Lehre Schopenhauers vom Ethischen, über die man sich in seiner Abhandlung besser direkt informiert, kann festgehalten werden, daß seine Auffassung über den menschlichen Egoismus mit der von der Soziobiologie gewonnenen Erkenntnis vom Gen-Egoismus als einem Naturprinzip in bestem Einklang steht. Dieses Prinzip durchzieht den evolutionären Aufbau der Kreatur und ihr Leben von Anfang an bis zum Menschen und der menschlichen Gesellschaft.
5. Die Psyche Man kann heute nicht mehr, wie früher vielfach angenommen wurde, dem Seelischen eine ausschließlich mit dem Geistigen gemeinsame Schicht einräumen, wobei bekanntermaßen die Vorstellung vom Seelischen als einer Substanz oder einer Vitalseele vorherrschte. Seele läßt sich noch weniger abgrenzen und konkretisieren als Instinkt und Vernunft. Wenn Kant sagte, daß Seele eine Idee sei, die besage: "du sollst alle psychischen Erscheinungen so verknüpfen, als ob ihnen eine Einheit, die Seele, zugrundeläge", so denkt in einer Zeit, als der Evolutionsgedanke auch in der Wissenschaft noch nicht ein allgemeines Gedankengut geworden war (1905), der Psychologe C. Stumpf durch seine Ansicht: "psychisches Leben ist nicht ein für alle Mal vor
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undenklichen Zeiten entstanden, sondern es entsteht fortwährend; wo und wann die Entwicklung einer Zellgruppe bestimmte Formen erreicht, da muß Psychisches, und zwar ebenfalls von bestimmter Art entstehen" modern evolutionär. Psychisches erstreckt sich als die sensible Komponente der gleichen Struktur, der die Aggressivität als eine aktive Komponente angehört und zu der sie gewissermaßen komplementär ist, auf alle Entwicklungsschichten des Lebens, wo sie in der präbiotischen Schicht mit der einfachsten, noch chemischen Reaktivität beginnt und in der höchsten, der geistigen, mit hoher Empfindungsintensität endet. In jeder Schicht entspricht der Grad der Aggressivität einer bestimmten Sensibilität, und zwischen beiden besteht ein hormonales Wirkungsgefüge des vom Hirn gesteuerten Gesamtsystems endokriner Drüsen. Hirnanatomie und -physiologie haben den Sitz der Psyche ausmachen können. Da~ach ist die überlieferte Anschauung, unter dem Begriff .. psychisch" alle jene Erscheinungen zusammenzufassen, die man nicht als rein biologisch oder rein geistig ansehen konnte, nicht mehr haltbar. Oberlieferungsgemäß wurden alle emotionellen Vorgänge, sowohl die aggressiven als auch die, welche aus der menschlichen Gefühls- und Glaubenswelt stammen, wie z. B. Freude, Trauer, Aufgeregtheit, Angst, Begeisterung, Mitleid, Liebe, Hingabe und sonstige der menschlichen Mitwelt keineswegs lästigen Affekte zum Bereich des Psychischen gerechnet. Nur wird der Sitz des die Aggressionen auslösenden Zentrums in das Mittelhirn, d. h. in die Hypophyse verlegt, während das Steuerzentrum der eigentlichen von Aggressionen freien, die Kultur belebenden und bereichernden Psyche sich im Großhirn befindet, wo auch das Bewußtsein, die Lern- und Denkfähigkeit, Sprache und die übrigen das geistige Leben ausmachenden Hirnregionen lokalisiert sind. Der primitive Vorzeitmensch dürfte im wesentlichen nur physisch empfindlich gewesen sein. Seine Sensibilität (Hunger-, Durst- und Schmerzempfindung, Angst vor Feinden, Unwettern, Naturkatastrophen) diente zusammen mit der komplementären Form der aggressiven Gegenwehr der Aufrechterhaltung und Weitergabe des Lebens. Was auf dieser biologischen Ebene an Verhaltensweisen auftrat, war an den Zweck der Arterhaltung gebunden und zwischen den Artgenossen in ererbter Gewohnheit im allgemeinen neutral, wobei manches wie bei den Tieren heute schon moralanaloge Züge trug. Es war keine aktive Moral, wie sie sich der Kulturmensch immer erträumt, sondern glich mehr einer passiven im Sinn von .. leben und leben lassen". Aus der physischen Sensibilität hat sich langsam eine psycho-physische und später eine durch die Entwicklung des Intellektes ergänzte Sensibilität mit der ihr gemäßen größeren, differenzierteren Vielfalt von Aggressionsweisen ausgebildet, in welcher sich das Gewicht zugunsten der psychischgeistigen verschoben hat. Zur Aggressivität als Reaktion auf das von den
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Umweltreizen angeregte und zum Schwingen gebrachte Empfindungssystem nach außen tritt nun die Reaktion nach innen. Durch die Steigerung der Sensibilität und die Entwicklung von Gedächtnis wird schließlich eine Phase erreicht, von der ab das Erlebnis erlittener physischer Schmerzen und Leiden nicht mehr in der Vergessenheit verschwindet, sondern sich im Gedächtnis festsetzt, nachdem dieses einen gewissen Entwicklungsstand erreicht hat. Mit dem evolutionären Fortschritt hatte sich auch eine Gefühls- und Glaubenswelt entwickelt, aus der neue Arten von verhaltensbestimmenden Empfindungen hervorgingen. Es entstand eine Welt verstärkter Affekte und Aggressionen mit beginnender Reflex·ion. Diese Entwicklung läßt sich verständlicherweise historisch nicht mehr direkt verfolgen, sondern nur aus dem heutigen zeitlichen, jedoch isolierten, organisch nicht mehr verbundenen Nebeneinander der in den verschiedenen Tierarten und im Menschen verkörperten Psyche ableiten. Dies entspricht einer Situation, welcher bekanntlich die geologische Wissenschaft bei ihren geschichtlichen Untersuchungen ebenfalls gegenübersteht. Schließt man aus den Erfahrungen unseres Zeitalters, nach welchen allein schon in den letzten zwei Generationen eine ungemein starke Steigerung der Sensibilisierung der menschlichen Psyche stattgefunden hat, was z. B. Medizin und Psychologie schon am Kleinkind glauben feststellen zu können, so erweckt diese den Eindruck eines autokatalytischen Prozesses, der durch die von der Technik hervorgerufene Zunahme der Umwelteinflüsse (Erhöhung der Erlebnisintensität durch die angewachsene Erdbevölkerung und das Nachrichtenwesen, Intensivierung der akustischen und optischen Sinnesreize) eine fast exponentielle Steigerung erfährt. Das vom Gedächtnis aufgenommene Schmerzerlebnis konnte von nun an mehr und mehr im Bewußtsein reproduziert werden. Es entsteht das Vorstellungsvermögen, daß der andere solches ebenfalls erleben und erleiden könnte. Der Mensch beginnt mit dem Nebenmenschen zu leiden. Freilich bleibt das Mitempfinden zunächst an der nie abreißenden Kandare des Gen-Egoismus auf die blutmäßig stark Verbundenen, auf Geschlechtspartner, die Eltern, Nachkommen, Geschwister, die Partner von Gruppen, die schon lange zusammengelebt und sich schon lange aneinander gewöhnt hatten, beschränkt. In ihrer Nähe werden plötzlich aufgetretene physische Insuffizienz, z. B. Verletzungen, Erkrankungen, Lähmungen, Tod und dgl. erlebt, so daß das Mitleiden zu einer Verhaltensgewohnheit wird. Es entwickelt sich das Mitleid, von dem Schopenhauer sagt, daß es überhaupt der Ausgangspunkt der menschlichen Moral sei. Er sagt darüber: "Denn die unmittelbare Teilnahme am andern ist auf sein Leiden beschränkt und wird nicht, wenigstens nicht direkt, auch durch sein Wohlsein erregt, sondern dieses an und für sich, läßt uns gleichgültig". Der Grund hierzu sei, daß der Schmerz, das Leiden, wozu auch Mangel, Entbehrung, Bedürfnis, Kränkungen, Versagungen, ja jeder Wunsch gehört, das Positive, das unmittelbar am Leben Empfundene sei.
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Die Symptome einer evolutionsgeschichtlich wahrscheinlich ersten, aus der untersten, der emotionell aggressiven Stufe der Psyche entspringenden aktiven Moral sind an Verhaltensweisen zu erkennen, die zwar bei den einzelnen Individuen der heute lebenden Spezies Mensch seltener, dagegen öfters bei Gruppen oder Massen auftreten. Es ist die vorausgehend schon genannte moralische Aggression oder eine aggressive Moral. Sie zeigt sich in Vorgängen wie persönlicher Vergeltung für eine erlittene oder empfundene Unbill (berühmtes Beispiel in der deutschen Literatur: Michael Kohlhaas), in Lynchjustiz, Blutrache oder religiöser Intoleranz und Verfolgung. Allen diesen Verhaltensweisen ist ein dunkles und unklar empfundenes moralisches Motiv gemeinsam. Man ist von der ernsten Überzeugung durchdrungen, ein Unrecht beseitigen und seine Wiederholung verhindern, eine Untat, die von der staatlichen Justiz nach subjektiver Auffassung nicht genügend geahndet wird; sühnen oder im religiösen Feld den von der wahren Lehre Abtrünnigen oder seinen Verstoß gegen diese büßen lassen zu müssen. Sie entspringen einem noch archaischen oder sehr subjektiven Rechtsempfinden, das z. T. auch Grundlage der sogenannten Sühnejustiz ist, die in manchen, auch zivilisierten Nationen noch üblich ist. Die aggressive Moral, die im Leben der Völker sicherlich weit in die Vergangenheit zurückgeht, ist ein eindrucksvolles Beispiel für den großen Zeitmaßstab der Evolution, nach dem ein Zeitraum von 10-20000 Jahren, welche vielleicht die Änderung einer Erscheinungsform des Lebens benötigt, bedeutungslos ist, dem Menschen aber den Eindruck vermittelt, daß früher alles so gewesen sei und deswegen auch so bleiben müsse. In der Entstehung eines moralischen Bewußtseins stellt das Aufkommen der Mitempfindsamkeit mit Sicherheit eine bedeutsame Phase der kulturellen Evolution dar, ein Prozeß, entstanden aus der biologisch bedingten Zweckgemeinschaft der Individuen. Die evolutionäre Entstehung des Mitleids und seine Auswirkung auf die sittliche Kultivierung des Menschen verlief auf einem Weg, den ein chinesischer Weiser mit den Worten beschreibt: "Schmerz erzeugt Leiden, Leiden erzwingt Nachdenken, Nachdenken macht weise, Weisheit lehrt und läßt das Leben ertragen"; man kann wohl sagen: das eigene Leben und das Zusammenleben mit den andern. Versteht man unter Schmerz den von der natürlichen Umwelt und den durch die Aggressivität der Artgenossen erzeugten, dann ist die Weisheit ebenfalls ein durch Evolution in die Welt gesetztes Kind, so wie die Verhaltensforschung behauptet, daß die Liebe ein Kind der Aggressivität sei. Beide Deutungen überspringen dabei eine lange Reihe von Entwicklungsgenerationen, die erst einmal durchlaufen sein mußten, bis der Entwicklungsstand der Liebe und Weisheit im menschlichen Verhalten erreicht war. Es ist trotz des gewaltigen Fortschritts zum Mitleid als Vorstufe eines sittlichen Bewußtseins zweifelhaft, ob die Evolution, falls sie überhaupt auch
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zum Innehalten angelegt wäre, auf dieser Stufe hätte verharren können. Selbst wenn es die erste Wurzel des Sittlichen gewesen sein wird, ist es fraglich, ob es auf die Dauer überhaupt eine tragfähige Grundlage für das moralische Zusammenleben der Menschen abgeben konnte. Bekanntlich hat Nietzsche, dessen Philosophie von vielen als Rückfall in den Biologismus ausgelegt wird, Mitleid als ethisches Prinzip verworfen. Im Einklang mit seinem Denken ist es gegen das dem Leben inhärente Prinzip der Auslese und des überlebens der Tauglichsten gerichtet und dadurch mit der den Lebewesen angeborenen biotischen Moral, deren Herrschaft auch der Mensch immer wieder verfällt, unverträglich. Zum andern würde, selbst wenn die das sittliche Verhalten des Menschen oft hindernde Hürde der zwingenden biologischen Naturprinzipien überstiegen werden könnte, das Mitleid, das der von der christlichen Religion zum Gipfelpunkt des sittlichen Verhaltens erhobenen Nächstenliebe am nächsten kommt, kaum zu einer allgemeinen Maxime "des sittlichen Sollens" werden können, weil die Anlage zu seinem Empfinden immer nur bei einem Bruchteil vorhanden ist und seine Auswirkungen auf das Leben der Gemeinschaft daher sehr begrenzt sind. Hiervon abgesehen kann es schon gar nicht erzwungen werden. Wir können es ohne Widerspruch zu Schopenhauer als die evolutionäre Wurzel des Sittlichen anerkennen, ohne in seiner Entstehung eine Verletzung des Naturprinzips des Gen-Egoismus sehen zu müssen. Es ist aus einem im biologischen Zusammenleben unter der Entwicklung der Psyche und ihrer Sensibilisierung zur Gewohnheit gewordenen sozialen Verträglichkeit, nicht einem Sozial vertrag (contract social) hervorgegangen. Schopenhauer selbst hat mit mehr Gespür für die biologische Gebundenheit des Menschen als alle Philosophen vor ihm und die meisten nach ihm klar erkannt, daß das Mitleid als Grundlage des sittlichen Verhaltens unzureichend ist. Vom Gemeinschaftsleben hat er vielmehr gesagt, daß es äußerlich betrachtet den Eindruck der Rechtlichkeit mache; doch, so schränkt er ein, sei es falsch anzunehmen, daß diese Rechtlichkeit von moralischen Antrieben des Menschen ausgehe. Vielmehr würden hier zwei Wächter der menschlichen Ordnung wachen: einmal die vom Staat erlassenen und gesicherten Gesetze, besonders die Strafgesetze, und weiterhin die öffentliche Meinung, durch welche die Einhaltung der gemeinsamen Konventionen der Gesellschaft überwacht werde. In Übereinstimmung mit der christlichen Erbsündelehre und im Gegensatz zur Behauptung des Marxismus ist der Mensch nach Schopenhauer von Natur böse. Diese Auffassung ist wahrscheinlich zu einseitig. Immerhin leben unter der Herrschaft dieser beiden Wächter doch die unterschiedlichsten Naturen, die durch die Entwicklung der ihnen vorangegangenen Generationen ein verschieden hohes Niveau an Anlagen zu sittlichem Verhalten besitzen.
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
6. Die Vernunft Die wissenschaftliche Philosophie definiert Vernunft als eine geistige Begabung bzw. Tätigkeit des Menschen, die auf Werterkenntnis, auf den universellen Zusammenhang der Dinge und allen Geschehens und auf zweckvolle Betätigung innerhalb dieses Zusammenhangs gerichtet ist. Nach Kant ist sie das ganze "obere" Erkenntnisvermögen. Die Philosophie hat in dieser obersten Schicht des menschlichen Seins mit großem Aufwand an Logik und Denkschärfe den Urgrund des sittlichen Bewußtseins aufzuspüren und zu beweisen versucht, daß aus ihr das hervorgeht, was fast triebhaft zwingend oder durch göttliches Gesetz verordnet den Menschen zu ethischem Verhalten und Handeln bewegen kann und soll. So gilt heute in dieser Wissenschaft der Satz: "Kant hat die Moral auf ein Gesetz der Vernunft gegründet". Soweit feststell bar hat man seither mit der Vernunft als einer allgemeinen, als apriorisch anerkannten Gegebenheit operiert. Dabei wurde außer acht gelassen, daß
I. sie nichts Statisches, von der Geschichte Unabhängiges, sondern etwas evolutionär Gewordenes ist; (J. Piaget spricht von einem geradezu evolutionsfeindlichen Vernunftverständnis. Es ist daher nicht verwunderlich, daß aus der Unerklärbarkeit der Tatsache, daß der Mensch, sobald er denkfähig geworden ist, schon ein moralisches Empfinden besitzt, eine metaphysische Einstellung zur Vernunft entstehen konnte); 2. sie nicht bei allen Menschen mit anscheinend gleichem Entwicklungsgrad in gleicher Stärke vorhanden und ausgebildet ist; 3. sie so schwierig konkretisierbar und abgrenzbar wie Instinkt und Psyche ist, was bei diesen der sinnlichen Wahrnehmung sich weit unmittelbarer darbietenden Schichten viel einfacher möglich wäre; 4. hinsichtlich ihrer Herkunft und Entwicklung von philosophischer Seite kaum Vorstellungen zustandegekommen noch Forschungen angestellt worden sind und man sich seit Kant mit einer Einteilung in reine und praktische Vernunft begnügt hat. Erst die biologischen Wissenschaften haben sich in den letzten Jahren der Erforschung der stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft zugewendet (s. R. Ried!) und können mit beachtenswerten Einsichten aufwarten. Den yerstand aus dieser Unterteilung ausnehmen sieht nach Willkür aus, wo einerseits Vernunftverhalten von der Verstandestätigkeit abhängt und andererseits einer derartigen Klassifikation etwas Schematisches anhaftet. Körperliche Vernunft, Verstand und geistige Vernunft, die insgesamt die Struktur des Geistigen bilden, werden sich wohl kaum zeitlich exakt nacheinander entwickelt haben, sondern etwa in gleicher Weise, wie eine komplizierte technische Apparatur entsteht, wo der weiter vervollkommneten und leistungsfähigeren Konstruktion die einfache vorausgegangen ist, die aber
6. Die Vernunft
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selbst schon die Grundkonzeption der höher entwickelten enthält. Wir sollten zugestehen, daß eine Klassifizierung ein erster Schritt zu einem besseren Verständnis der Erscheinungen ist und das erkenntnistheoretische Eindringen in diese erleichtert. So ist z. B. der Aufstellung der Lehre von der biologischen Evolution der Arten erst eine Klassifikation der Pflanzen und Tiere vorausgegangen (1. Ray) (1628-1705); C. v. Linne (1707-78); Lamarck (1744-1829». Ebenso wurde der Fortschritt der chemischen Wissenschaft nach der klassifizierenden Aufstellung des periodischen Systems der chemischen Elemente durch L. Meyer (1846-1895) und D. Mendelejew (1834-1907) beträchtlich beschleunigt. Es existiert eine Reihe von mehr intuitiv geäußerten als wissenschaftlich begründeten Ansichten über das Wesen der Vernunft. Wenn, wie oben schon erwähnt, Schiller von der Vernunft der Natur und Einstein von ihrer Harmonie sowie F. lacob von der Logik des Lebenden sprach, drücken sie damit mehr oder weniger dasselbe, d. h. dasjenige aus, was man in der Philosophie als das Apriorische der Vernunft bezeichnet hat, also ihr Verfügen über Kriterien, die unabhängig von der Existenz der menschlichen Gattung Gültigkeit besitzen. WeIche Berechtigung und weIchen Sinn hat die Unterscheidung zwischen einer praktischen und einer reinen Vernunft? Kant hat denjenigen Teil der Vernunft, der zur Bestimmung des menschlichen Willens für die Ausführung sittlicher Verhaltens- oder Handlungsweisen wirksam wird, als praktische Vernunft bezeichnet. Als sensibler, in der menschlichen Psyche bohrender Psychologe ist F. Nietzsche viel tiefer in das Wesen der Vernunft eingedrungen und hat diese in eine "große" Vernunft des Leibes und eine "kleine" Vernunft des Geistes aufgeteilt, von denen die letztere nur das Werkzeug der ersteren sei. Eine vielfach gemachte allgemeine medizinische Erfahrung unbewußt bestätigend hat er den Ausspruch getan, daß im Leib oft mehr Vernunft stecke als im Geist, z. B. wenn durch den letzteren dem ersteren biologisch unvernünftige Verhaltensweisen zugemutet würden. Seine aphoristisch geäußerte, jedoch gravierende Ansicht, daß aus der Vernunft des Leibes das vollkommene Tun unbewußt und nicht gewollt hervorgehe, was z. B. beim wirklich "begnadeten" Künstler der Fall ist, könnte nach dem früher Gesagten ohne weiteres so gedeutet werden, daß es aus einer fertig entwickelten leiblichen Vernunft stammt und daß es deswegen "instinktiv sicher" wie eine motorische Instinkthandlung ist, von der selbst nun wieder umgekehrt gesagt werden kann, daß in ihr schon die körperliche Vernunft wirkt. Der von Nietzsche nur intuitiv geahnte Zusammenhang findet durch die von der evolutionären Erkenntnistheorie begründete Auffassung, daß in der lebenden Materie sog. ratiomorphe Erkenntnisstrukturen bestehen (E. Brunswick) seine wissenschaftliche Bestätigung. Was ist nun aber die apriorische Vernunft der Materie, die Nietzsche im Menschen als dessen große leibliche Vernunft vermutet und die er als größer
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
als die geistige Vernunft betrachtet hat, deren Idee sicher nicht hätte aufkommen können, wenn sie sich nicht irgend wie durch die Erfahrung aufgedrängt hätte? Als Erscheinung der leiblichen Vernunft ist sie offenbar die Harmonie des Wirkungsgefüges des lebenden Organismus, das sich gegen Einwirkungen von außen, welche diese Harmonie stören, zur Wehr setzen kann. Ihrem Wesen dürfte Albert Einstein mit seiner Vorstellung von einer in der Natur herrschenden Harmonie sehr nahe gekommen sein. Sie offenbart sich in ihr als ein Ordnungsprinzip der sich selbst zu Strukturen der verschiedensten Art organisierenden "Substanz" (Spinoza) Geist-Materie, deren gesamte evolutionäre Reaktivität oder deren Verhalten durch die zahlreichen erwähnten Naturprinzipien bestimmt wird. Der Begriff einer solchen Substanz drängt sich zwangsläufig auf, wenn das Prinzip der Selbstorganisation der Materie vorbehaltlos akzeptiert werden soll, weil diese einen schöpferischen Akt mit sich selbst erbringt, was gleichbedeutend mit einer geistigen Leistung oder nach Auffassung der "evolutionären Erkenntnistheorie" ein fortlaufender Lernprozeß der organischen Strukturen (K. Lorenz) ist. Erinnern wir uns der eingangs erwähnten wissenschaftlichen Definition oder besser Erklärung der Vernunft allgemein, nach der diese eine Fähigkeit des Menschen ist, die auf die Erkenntnis des universalen Zusammenhangs der Dinge und allen Geschehens und auf die zweckvolle Betätigung innerhalb dieses Zusammenhangs gerichtet ist, so kann in formaler Analogie hierzu die leibliche Vernunft oder die Vernunft der Materie allgemein als die Fähigkeit des Physischen zum zweckvollen Zusammenhang und zur zweckvollen Kofunktion der Teile ihrer organisierten Systeme oder ihrer Gesamtorganisation gelten. Im Bewußtsein des Menschen, der nur ein geringfügiger Teil des ganzen Seins ist, subjektiviert sie sich zum Begriff einer "göttlichen Ordnung" oder einer physischen, großen Vernunft und deren Wirken in seiner physischen Existenz. Für die letztere wurde der aus der großen physischen Vernunft hervorgegangene Zweckaltruismus innerhalb der Arten, auch der menschlichen, zu einer Notwendigkeit -- umso drängender, je mehr der Mensch mit zunehmender Populationsdichte auf der Erde 'von der Jagd als Lebensunterhalt über das Nomadenturn zum Ackerbau übergehen mußte. Wir müssen ihn in der Zeit, von der die Geschichte noch nichts zu berichten weiß und in der er allein ein Verhalten gemäß der physischen Vernunft zutage gelegt hat, als ein noch rein biologisches Wesen vermuten; und wir wissen nicht, vo_n welchem Abschnitt der Evolution an er als ein werdender oder' schon einigermaßen entwickelter homo sapiens auftritt. Wir werden annehmen dürfen, daß dies schon zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt als dem der Fall war, an welchem ein "Alphabet" erfunden wurde, also vor etwa 7000 Jahren, aus welcher Zeit das älteste Schriftdokument stammt. Doch hieße es sicher die Wirklichkeit vergewaltigen, wenn wir einen derartigen Zeitpunkt fixieren wollten, weil die freie Entwicklung des Geistes und eines moralischen Emp-
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findens durch historische Daten nicht determinierbar ist und das letztere bis in die Gegenwart - bildlich gesprochen -- im Kannibalismus stecken geblieben ist. Wenn zur Zeit nach den prähistorischen Funden für die Entwicklung des Menschen von seinen anthropoiden Vorfahren bis zu seiner heutigen Beschaffenheit ein Zeitraum von mehrerenM illionen Jahren als sicher angenommen wird, ist nicht zu erwarten, daß die Verstandes- und Vernunftkomponente seines Verhaltens sich innerhalb einer Zeit von wenigen Jahrtausenden entwickelt hat; und da es keine schriftlichen überlieferungen der Ereignisse und Taten gibt, die den Menschen der geschichtlichen Frühzeit wahrscheinlich als ein rein triebhaftes und seinen biologischen Bedürfnissen unterworfenes, also auch zur Tötung seiner Artgenossen allzu bereites Wesen kennzeichnen würden, können wir nicht beurteilen, wie weit diese; Komponente bis zu seinem ersten Auftreten in der Geschichte entwickelt gewesen ist. Offenbar noch nicht sehr weit. Die Dokumente der menschlichen Frühgeschichte sind nach dem Maßstab der Evolution beurteilt äußerst jung und dazu noch dürftig und reichen etwa ins 4. Jahrtausend v. Chr. zurück. Das älteste aufgefundene Dokument eines Gesetzes aus dem ausgehenden 3. Jahrtausend v. Chr., vom babylonischen König Harnrnurabi (2123-2081 v. Chr. erlassen), ist ein auf einer Basaltstele eingemeißelter Text, der die rechtliche Behandlung von Diebstählen betrifft. Ein aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. stammender Text eines assyrischen Gesetzes wurde auf einer Tontafel gefunden, die im Orientmuseum in Berlin aufbewahrt wird. Gesetze· regeln die Mindestansprüche, die an das Verhalten der Mitglieder einer menschlichen Gesellschaft gestellt werden müssen, wenn das Leben in ihr sicher und erträglich sein soll. Sie brauchen nicht ein Zeichen schon weit entwickelter Sittlichkeit zu sein. Bis in unsere Zeit hinein wurden sie u. a. mit dem Ziel erlassen, eine Dominanzhierarchie, auch wenn sie demokratischer Natur ist, zu festigen, und Dominanzhierarchien begegnet man schon im Tierreich, wo sie Bestandteil einer "biologischen Moral" sind, weil sie auch dort ein bestimmtes Ordnungsgefüge sichern. Die ausschließlich durch absolute Herrscher der vorgeschichtlichen Zeit mit ihren meistens harten Gesetzen repräsentierte Dominanzhierarchie hat neben den biologisch bedingten Verhaltensweisen das soziale Leben der menschlichen Gemeinschaften bestimmt. Die dem Volke Israel nach seinem Auszug aus Ägypten am Berg Sinai etwa im 14. Jahrhundert vor Christus von Moses übergebenen Gesetzestafeln (Dekalog) bilden das erste geschichtlich überlieferte Unternehmen, die Menschen über ihr biologisches Verhaltensniveau hinaus durch die Furcht vor einem Gott Jahwe zur Respektierung seiner Gesetze zu bringen. Von diesen sollen die ersten drei zunächst die Autorität Gottes festigen. Das 5. bis 10. Gebot sollen der Eindämmung und Ausschaltung eines naturbe-
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
dingten, aber entarteten Egoismus dienen. Nur das vierte: "du sollst Vater und Mutter ehren" scheint in Richtung einer kulturellen Höherentwicklung zu weisen. Denn tierische Nachkommen vergessen nach ihrer Aufzucht ihre Eltern, wenigstens scheint die Verhaltensforschung noch nichts Gegenteiliges festgestellt zu haben. Aber dennoch schreibt die Bibel (I. Mose 2,23): "darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen", was im Grunde bedeutet, daß er der Ausbreitungssucht der Gene zu dienen hat und zur Fortsetzung der Keimbahn des Lebens bestimmt ist. Die biologische Bedingtheit der Gebote des Dekalogs hat W. Wickler in "die Biologie der zehn Gebote" eindrucksvoll dargestellt. Die meisten moralischen Frühentwickler der Evolution treten, wie es scheint, erst im I. Jahrtausend v. ehr. auf, wo sie als Volkserzieher, als Weise und Propheten inmitten ihrer Lebensgemeinschaften und Völker zu einer moralischen Verhaltensweise aufrufen. Es ist die Zeit, die K. Jaspers die Achsenzeit nennt und in der in verschiedenen Ländern des Orients in auffallend geringem zeitlichen Abstand die "goldenen Regeln" entstehen: Konfuzianismus Was ihr nicht wollt, daß man euch zufügt, fügt es andern nicht zu. (VI. Jahrhundert vor Christus) Buddhismus Füge den andern nicht Leid durch Taten zu, die dir selber Leid zufügen. (V. Jahrhundert vor Christus) Djinismus Im Glück und im Leiden, in Freude und Schmerz müssen wir allen Geschöpfen mitfühlend begegnen und uns hüten, ihnen ein Leid anzutun, dem wir selber entgehen (V. Jahrhundert vor Christus) möchten. Zarathustra Fügt den andern nichts zu, was nicht gut für euch selbst ist. (V. Jahrhundert vor Christus) Antike Götterreligion Soll ich mich andern gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, daß sie sich mir gegenüber verhielten? (Plato, IV. Jahrhundert vor Christus) Hinduismus Füge andern nichts zu, das, geschähe es dir, dich schmerzen würde. (Mahabharata, 111. Jahrhundert vor Christus) Judaismus Fügt nicht euren Nächsten zu, was ihr selber verabscheut. (Rabbi Hillei, I. Jahrhundert vor Christus) Christentum Liebet eure Feinde, tuet wohl denen, die euch hassen. (aus der Bergpredigt, Matthäus 6.) An diesen goldenen Regeln fällt auf, daß sie in einem -- evolutionsgeschichtlich gemessen -- äußerst kurzen Zeitraum entstanden sind. Wie eine
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Blumenart in einer ganz bestimmten Zeit des Jahres erblüht, hat sich die zum Blühen herangereifte Knospe der Evolution des sittlichen Empfindens plötzlich in vielen Ländern des Altertums fast gleichzeitig zur Blüte entfaltet; und was erstaunlich ist, die verkündeten Regeln haben überall praktisch den gleichen Inhalt, als wenn sie naturgesetzlich gleich beschaffen wie Blumen in der gleichen Jahreszeit in klimabedingten geringen Zeitabständen hätten entstehen müssen. "Die Zeit war reif dafür", wie in solchen Fällen gesagt zu werden pflegt. Der Inhalt der goldenen Regeln macht wiederum das von der Natur angewandte Kosten-Nutzen-Prinzip deutlich, nach welchem das eigene moralische (eigentlich soziale) Verhalten gegen den andern sich lohnt, weil dieser es erwidern wird und beide Seiten sich damit gegenseitig das Leben erträglich machen werden, und weiterhin, daß die große biologische Ver~ nunft den moralischen Aufwand im Interesse der Selbsterhaltung gebietet. In ihnen steckt auch schon die psychische Verhaltenskomponente des Mitfühlens mit dem Schmerz und Leid des Mitmenschen und eine geistigvernünftige des Hineindenkens in dessen Zustand. Durch die letztere wird ausgedrückt, daß das reibungslose Zusammenleben der Menschen ohne Angst um ihre persönliche physische und psychische Unversehrtheit ständig ein Eingedenksein der Möglichkeit erfordert, es könne jedem das gleiche widerfahren und daß er dies so wenig möchte wie der andere auch. Indessen scheinen die goldenen Regeln doch schon etwas mehr als das zu enthalten, was nur einem Zwecktaltruismus dient und dazu aufrufen soll, beim Verhalten gegenüber dem Artgenossen in eigentlich ängstlich egoistischer Weise das vielleicht einmal auftretende eigene Schmerzempfinden zu bedenken. Sie appellieren im Grunde an Einsicht und Verstand und sprechen damit Komponenten des menschlichen Wesens an, die bereits das Vorhandensein einer gewissen geistigen Struktur, etwa einer noch nicht allzu sehr entwickelten Vernunft voraussetzen. Eine Resonanz aus dieser Struktur ist wohl durch diese Regeln erwartet worden, weil der durch die physische Vernunft zur Lebensgewohnheit gewordene Zweckaltruismus dem Menschen bewußt und seine Auswirkungen einsehbar geworden waren. Der Logik des Lebenden folgend hat sich bei der Weiterentwicklung des Gehirns -- oder sagen wir hier noch des zentralen Nervensystems -- aus der leiblichen Vernunft eine geistige oder theoretische Vernunft zu bilden begonnen, die als eine evolutionäre Fortsetzung der ersteren anzusehen ist. Wenn man die leibliche als eine an die physische Entwicklung und an die leiblichen Vorgänge "gebundene Vernunft" bezeichnet, kann man die geistige gewissermaßen eine .freie Vernunft" nennen 3, indem diese, obwohl an das KörperliJ Dem Physiker und Chemiker wird eine solche Unterscheidung nach einer auf Erfahrung beruhenden Begriffsbildung in der chemischen Thermodynamik leicht einleuchten. Dort ist bei der mit chemischen Umsetzungen verbundenen Energieerzeugung, z. B. der
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
che gebunden, frei und ohne Fesseln als Sitz der Denkkategorien realisierbare und nicht realisierbare Ideen, Wertvorstellungen und Phantasien erzeugen und ins Reich der geistigen Freiheit und des durch Erfahrung nicht erschließbaren Metaphysischen schweifen kann. In diesem Reich kann sie "Vernünftiges" und "Unvernünftiges" erzeugen, weil sie der Strategie des "Versuchs" und "Irrtums" der Evolution folgen muß, und das noch weit mehr als die gebundene Vernunft, deren Reaktivitätskapazität beschränkt und dem Kausalgesetz völlig unterworfen ist. Die physiologischen Vorgänge der agierenden theoretischen Vernunft im Gehirn sind dies zwar auch, aber die geistigen Akte sind nicht mehr im Sinne strenger Kausalität, sondern nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit determiniert. Als Fortsetzung der Logik des. Lebenden oder Körperlichen, nach der sich dieses aufbaut und funktioniert, bilden in analoger Weise die formalen logischen Denkgesetze die Logik des Geistigen in seinem Aufbau und in seiner Denkfunktion. Unabhängig von der Meinung des Verfassers stehen namhafte Logiker von heute (I. M. Bochenski, A. Menne u. a.) auf dem Standpunkt, daß "die Strukturen des Seienden die Prinzipien der Logik selber sind". Mit ihnen allein kann das wissenschaftliche Denken operieren und ist ihm die Möglichkeit gegeben, seine Aussagen und deren Gültigkeit, ihren" Wahrheitswert" in eine exakte, von psychologischen, menschlichen Einflüssen freie Form zu bringen und aus den Erkenntnissen allgemeine Prinzipien zu abstrahieren. Nun sei in diesem Zusammenhang auch das Auftreten der Sprache im Gang der Evolution nicht vergessen, ohne welche die Weiterentwicklung der biologischen zur geistigen Vernunft nicht denkbar gewesen wäre -- wird doch heute vielfach schon angenommen, daß die Entwicklung der Sprache derjenigen der Vernunft vorausgegangen sei. Zumindest dürfte sie mit ihr parallel verlaufen sein. Beide Entwicklungen müssen sich gegenseitig katalysiert haben. Erst das gegenseitige sich Verständlichmachen der Individuen einer Gemeinschaft konnte eine Grundlage für die gemeinsame Abgrenzung ihrer individuellen physischen und sozialen Bedürfnisse abgeben und diese auf einen gemeinsamen Nenner bringen, d. h. zur Ausbildung und Verbesserung sozialer Verhaltensweisen und schließlich Normen beitragen. Die Bedeutung der Sprache als Grundlage der Ethik hat vor allem K. O. Apel und an ihn anknüpfend J. Habermas herausgestellt, wobei die Basis der Sprachethik das "Apriori der Kommunikationsgemeinschaft" ist, ein Apriori, das allerdings in eine schon weit fortgeschrittene Phase der Evolution zu verlegen ist. Die Bedeutung der Sprache als Verständigungsmittel einer Kommunikationsgemeinschaft und für deren Verhaltensweisen wird dem Alltagsmenschen in besonders sinnfälliger Weise demonstriert, wenn in ÖI- oder Kohleverbrennung in Kraftwerken zur Gewinnung von elektrischer Energie. ein Teil der im Brennstoff enthaltenen Energie naturgesetzlich (d. h. durch die Entropievermehrung) nicht verfügbar oder gebunden. sondern nur der als freie Energie bezeichnete Anteil.
6. Die Vernunft
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der internationalen Politik gesagt wird "solange verhandelt wird, findet kein Krieg statt" oder auch beispielsweise durch den schon vor Jahren zwischen Washington und Moskau eingerichteten sogenannten heißen Draht. Seit der Achsenzeit waren, wie wir aus der Geschichte annehmen müssen, die Sittenkodizes in den verschiedenen Religionen durch die goldenen Regeln bestimmt. Sie haben anscheinend das soziale Leben im großen und ganzen erträglich gemacht, wobei dieses indessen durch die naturbedingten auf Selbsterhaltungsegoismus beruhenden Verhaltensweisen fortlaufend gestört und erschwert wurde. Befriedigt hat dieser Zustand wohl nicht, sonst hätte das Auftreten von Christus mit seiner Lehre der Nächstenliebe nicht wie ein ungewöhnliches Naturereignis gewirkt und die damaligen Menschen nicht wie eine Erlösung erfaßt. Diese Lehre war ganz gegen das naturbedingte, auch von physischer Vernunft bestimmte Verhalten gerichtet. Sie verlangte eine Nächstenliebe, die über das nach Hamilton durch den Verwandtschaftsgrad bedingte Sozialverhalten weit hinausgeht (vgl. S. 98 u. S. 126); und die Forderungen der Bergpredigt "so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dann biete den andern auch dar; und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel; liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen" sind der menschlichen Natur noch mehr kontrovers. Sucht man diese Lehre aus der Entwicklungsgeschichte und rational zu erklären, was die Theologen vielleicht entrüstet zurückweisen werden, so ist festzustellen, daß ihr zumindest ein aus der Schicht des Psychischen stammender Charakterzug anhaftet. Soziales Leben ist ja in weitem Maß von psychischen Faktoren abhängig. Den Charakterzug des Vernünftigen erhält sie mit der Erfahrung, daß Nachgiebigkeit und Ergebenheit die sozialen Gegensätze mindert oder beseitigt (der Vernünftige gibt nach), wie wir es aus der Tierwelt kennen, wo bei Rivalenkämpfen der Vernichtungswille aufhört, wenn der eine von zwei Rivalen sich dem anderen devot ergibt. Das ist aber das einzige Rationale an den Forderungen der Bergpredigt. An diesen läßt sich auch weiterhin ein aus dem erotischen Bereich stammender Wesenszug nicht leugnen, der in einer von Karl Marx in seiner Jugend, d. h. nach Durchschreiten seiner Pubertätszeit getanen Äußerung, daß er sich in einer Stimmung befinde, in der er jeden ihm begegnenden Menschen am liebsten umarmen würde, seinen beispielhaften Ausdruck findet. Nach der geschichtlichen Erfahrung hat die christliche Lehre zur Begründung eines Sittengesetzes mit dem Charakter der unbedingten Verpflichtung zum sittlichen Handeln insofern nicht ausgereicht, als der Mensch durch diese mehr zur Unterdrückung seiner Natur als zum freiwilligen und einsichtigen Handeln aus Vernunft aufgerufen wurde. Sehen wir die geistige oder theoretische Vernunft als die logishe Fortentwicklung der großen leiblichen Vernunft an und berücksichtigen dabei, daß
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens
die letztere in den tierischen Arten einschließlich der menschlichen ein Schema von zweckmäßigen oder vernünftigen, die physische Existenz sichernden und das soziale Leben ermöglichenden Verhaltensweisen ausgebildet hat, so ist die Annahme zwingend, daß dieses Verhaltensschema aus der ratiomorphen Mutterstruktur, der leiblichen Vernunft, sich in der geistigen Vernunft zu einem Stand weiterentwickelt hat, der eben für diese kennzeichnend ist. Durch den Lernprozeß des Lebens, durch den Informationsgewinn der dem Evolutionsprozeß unterworfenen organischen Struktur, dem Menschen, hat sich in der geistigen Vernunft ein Verhaltensschema stabilisiert, das ihm, dem reflektierenden Wesen, als sittliches Empfinden bewußt wird. Aus diesem Bewußtsein hat Kant offenbar die Idee des Sittengesetzes als eine apriorische Gegebenheit abstrahiert; und diese Abstraktion ist seine fundamentale Leistung für eine aIIgemeine Sittenlehre gewesen, die er rein intuitiv und ohne Kenntnis einer Evolutionslehre erbracht hat. Das Imperativische seiner MoraIIehre liegt nicht etwa, wie Schopenhauer mißverständlicherweise angenommen hat, in dieser Lehre als solcher, sondern in der von ihm als Moralgrundlage herangezogenen Vernunft. Nur so weit wie diese entwickelt ist, ist auch der kategorische Imperativ vorhanden. In der Vernunft ist von Kant der Urgrund des Sittlichen gefunden; und dies wird durch eine zunehmende Kenntnis des Evolutionsgeschehens bestätigt (v gl. R. Riedl, Biologie der Erkenntnis; die stammesgeschichtlichen Grundlagen der Vernunft, Berlin 198\). Das Kantsche Sittengesetz, dem in der Moralwissenschaft immer ein absoluter und verpflichtender Charakter zuzuschreiben versucht wurde, ist indessen eine Idee; als solche verhält sie sich zu der Realisierbarkeit ihres Inhalts in der sozialen Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft ganz im Sinn einer platonischen Idee wie der ideale Kreis der Geometrie zu den in der Natur vorgefundenen Kreisen (Sonne, Mond u. a.) oder den von Menschen konstruierten Kreisgebilden. Mit dieser grundsätzlichen Erkenntnis muß sich auch der alte Gegensatz der philosophischen Anschauungen verwischen, von welcher Art die Autorität der sittlichen Prinzipien sei. Bei der einen wird sie absolutistischapriorisch, bei der andern genetisch-historisch-relativistisch betrachtet. Wenn beim Wandel der Sitten, Normen und Werte die Befürchtung eines Zusammenbruchs unseres ganzen Sittengebäudes bisweilen aufkommt, weil diesem das Fundament zerstört werde, so sei dem entgegengehalten, daß der apriorische Grund unserer Sittlichkeit in der naturgegebenen Vernunft liegt und daß dieser absolut ist. Aus ihr ergibt sich die Einsicht und das Verständnis für evolutionsbedingte Situationen, in die Zwänge des menschlichen Zusammenlebens und die Notwendigkeit der Anpassung und Verfeinerung von Sitten und Normen. Die Erscheinung dieser Vernunft in einem sich ständig ändernden verschiedenen Gewand als Normen, Moralgesetze und
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Werte hingegen ist genetisch-relativistisch-historisch, wobei an diesem Gewand wiederum die Evolution webt. Die Gegensätze in der Frage, welcher Art die Autorität der sittlichen Prinzipien sei, rührt offenbar daher, daß der philosophierende Mensch sich von der Vorstellung verleiten ließ, daß schon die in Wirklichkeit aus der materie-imanenten Vernunft sekundär hervorgegangenen, ebenfalls evolutionär wandelbaren Werte absolut seien. Andererseits sind neue, höhere vom menschlichen Intellekt erdachte und erstrebte Werte, die nicht aus der Vernunft der Natur und aus Umweltdruck entstehen, der ständigen Gefahr ausgesetzt, zu einer in Konservativismus erstarrenden "Sittlichkeit der Sitten" (Nietzsche) zu degenerieren. Kant hat das Leistungsvermögen der Vernunft einer Kritik unterzogen, sie dabei aber als ein fertiges Gebilde behandelt. Eine wissenschaftlich anerkannte Evolutionslehre existierte noch nicht. Würde der derzeitige Vernunftstatus bestehen bleiben, so wäre für die Zukunft der ständig wachsenden Menschheit wenig zu erhoffen. Diese aufhellen zu wollen durch ständige Versuche der Begründung neuer ethischer Systeme, wie sie manchen Philosophen auch heute noch vorschweben und die dem jahrhundertelangen Streben nach einem Perpetuum mobile gleichen, ist weder sinnvoll noch aussichtsreich. Vordringlich ist die Klärung einiger Fragen, welche die Vernunft selbst betreffen, wie schon einige am Eingang dieses Abschnitts gestellt wurden:
I. Wird die menschliche Vernunft sich weiter-, d. h. zu größerer Vollkommenheit entwickeln? Diese Frage kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit bejahend beantwortet werden. Nach den durch die Tabelle 2 dargestellten paläoanthropologischen Befunden hat sich das Gehirnvolumen der Hominiden ("Menschenartigen") in einem Zeitraum von 3 Millionen Jahren verdreifacht. Würde man dieses Wachstum graphisch darstellen, so würde man den typischen Verlauf einer Wachstumskurve mit anfänglich langsamem dann exponentiellem Anstieg und schließlich mit gegen Ende verflachendem Verlauf erhalten. Der Schluß liegt nahe, daß das Gehirnvolumen zwar langsam, aber doch weiter zunehmen wird. Bezogen auf die roh geschätzte Evolutionszeit der eigentlichen Hominiden von rund I Million Jahre (gesamte Pleistozän-Epoche) macht die Zeit von etwa 5-6000 Jahren, die nach den spärlichen überlieferungen für das Alter eines durch Sitten und Gesetze dokumentierten moralischen Bewußtseins nur einen Anteil von etwa 0,5 % der roh geschätzten Entwicklungszeit aus, so daß die Annahme einer weiteren Entwicklung des "moralischen Gehirns" nicht abwegig erscheinen sollte. Daß diese noch mit einer Vergrößerung des Schädelvolumens verbunden sein könnte, ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil die Anatomie des weiblichen Beckens, für welches die Kopfgröße des menschlichen Säuglings schon heute eine Geburtser-
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V. Die Ursprungsschichten des Verhaltens Tabelle 2
Entwicklung des menschlichen Gehirnvolumens während der Pleistozän-Epoche (Quartärzeit der Erde) geologiegeschichtliches Stadium nacheiszeitlich
Beginn vor Jahrtausenden 10
Menschentyp
Gehirnvolumen cm 3
Menschen des 20. Jahrhunderts
1500
Würmeiszeit
120
homo sapiens sapiens homo neanderthalensis
1350
3. Zwischeneiszeit; RißEiszeit
240
homo sapiens praesapiens
1200
2. Zwischeneiszeit; MindelEiszeit
430
homo erectus pekinsensis
1. Zwischeneiszeit; GünzEiszeit
600
homo erectus heidelbergensis
800
1000
homo australopithecus
500
Villafranchium
Schädelform
~
~
6. Die Vernunft
163
schwernis ist, dem entgegenstehen würde, abgesehen von dem Erfahrungsgesetz des nicht unbegrenzten Wachstums. Deshalb vermutet z.Zt. die Wissenschaft, daß das Gehirnvolumen nicht mehr weiter wachsen wird. Dies erscheint auch nicht unmittelbar notwendig, da die geistige Funktionsfähigkeit des Gehirns nicht von der Größe des Gehirnvolumens, sondern in erster Linie von der Höhe seines physiologischen Organisationsgrades abhängig ist, wie etwa die heutigen Rechenautomaten trotz abnehmender Größe immer leistungsfähiger geworden sind. Darüber hinaus spricht die Erfahrung und die hinter uns liegende Menschheitsgeschichte für ein Wachstum der geistigen Leistung des Gehirns, einer Zunahme seines Urteilsvermögens und Steigerung seines moralischen Bewußtseins. 2. Welches sind die Faktoren, welche die Weiterentwicklung fördern werden? Diese sind endogener und exogener Art: Endogen, soweit durch eine innere Bereitschaft des Menschen sein Verständnis für vernunftgemäßes -- den logischen Prinzipien des Seienden entsprechendes -- Verhalten wächst; exogen als Erziehung, persönliche und geschichtliche Erfahrung und Druck der sozialen Umwelt, der die Anpassung an die Logik des Seienden erzwingt, wie bisher in der Evolution geschehen. 3. Können aus einer zukünftig vielleicht einmal vermehrten Kenntnis der Struktur des Gehirns und seiner Funktionen seine Weiterentwicklung beeinflußt und seine Vernunftstruktur verbessert werden, wie dies -- das Beispiel sei erlaubt -- bei Geisteskranken und psychisch Kranken heute - allerdings mit noch geringen Erfolgen -- mit den verschiedensten therapeutischen Maßnahmen versucht wird? Hierzu liegen verschiedene wissenschaftliche Meinungen vor: Es erscheint fraglich, ob die Struktur des Geistigen sich jemals wird aufklären lassen. Dieser Zweifel wird beispielsweise durch ein von K. Gödel für den Bereich der Mathematik bewiesenes Prinzip genährt, welches besagt, daß ein sonst für die Erfüllung seiner Bedürfnisse genügend reich ausgestattetes System (z. B. in der elementaren Arithmetik) nicht in der Lage ist, seine Widerspruchsfreiheit mit eigenen oder schwächeren Mitteln zu beweisen. Der Beweis verlangt, hierzu über die Grenzen des Systems hinauszugehen und es in ein stärkeres zu integrieren. Auf das Problem Geist übertragen würde dies bedeuten, daß die Kategorien des Geistes nicht mehr ausreichen, seine Struktur und Wirkungsgefüge aufzuklären, sofern die geistigen Funktionen über neurophysiologische Vorgänge hinausgehen, deren Aufklärung allenfalls nach hinreichend langer Zeit den Erfahrungswissenschaften noch gelingen müßte. Die Reaktivität des Gehirns steht auf der obersten Stufe der Reaktivitäten-Skala (Tab. 3). Natürlich entstehen bei Reizen auf die Sinne (Auge, Ohr, Geruch- und Tastsinn) motorische Reaktionen wie bei
elementare chemische
chemische Reaktionsenthalpie als Funktion von Temperatur, Druck u. Konzentrationen
Antriebe
Atome, Moleküle
Reaktionen
Organisationsstufe
wie I
4
primitive Mehrzeller, Bakterien, Pflanzen
5
niedrige tierische Organismen
physiol.chemische Reaktionsenthalpie, Temperatur, Licht, Stoffwechsel Stoffwechsel, rythmische Einflüsse (Wechsel von Tag u. Nacht, Mondwechsel. Jahreszeiten), Fortpflanzungsaktivität
wie 4, Lebenserhaltungsund Fortpflanzungsaktivität
physiophysiologische, physiologische, logischrythmische instinktive u. chemische rythmische
3
2
wie I, Aggregationen
Einzeller
Makromoleküle
Tabelle 3
Lebenserhaltungsund Fortpflanzungsaktivität
biologische, instinktive, freie Verhalten
6
Tiere
biologische ZWänge wie bei 6, Erlebnisse, Wertvorstellungen, schöpferische Kräfte
biologische, freie (motorische, psychische, geistige) = Verhalten
7
Mensch
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