Die Dichtung (La Poesia): Einführung in die Kritik und Geschichte der Dichtung und der Literatur 9783110966688, 9783484220003


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German Pages 168 [172] Year 1970

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Vorwort zur ersten Auflage
I. Die Dichtung und die Literatur
II. Das Leben der Dichtung
III. Die Kritik und die Geschichte der Dichtung
IV. Der Werdegang des Dichters und der Regelkanon
Anmerkungen
Namenregister
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Die Dichtung (La Poesia): Einführung in die Kritik und Geschichte der Dichtung und der Literatur
 9783110966688, 9783484220003

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft ι

Benedetto Croce

Die Dichtung Einführung in die Kritik und Geschichte der Dichtung und der Literatur

Ins Deutsche übertragen von W o l f g a n g Eitel Mit einem einführenden Vorwort von Johannes Hösle

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970

Die ι. Auflage der italienischen Originalausgabe erschien im Jahre 1936 unter dem Titel L a Poesia Introduzione alla critica e storia della poesia e della letteratura. Der deutschen Übersetzung liegt die 6. Auflage von 1963 zugrunde, erschienen im Verlag Gius. Laterza & Figli in Bari.

Redaktion der Reihe: Lothar Rotsch

I S B N 3 484 22000 7 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1970 Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany Herstellung: Bücherdruck Helms K G Tübingen Einband von Heinr. Koch Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Einführung von Johannes Hösle

VII

V o r b e m e r k u n g e n des Übersetzers

XVII

V o r w o r t z u r ersten A u f l a g e

3

I . D i e D i c h t u n g u n d die L i t e r a t u r

5

ι. Der emotionale oder unmittelbare Ausdruck

6

z. Der dichterische Ausdruck

10

3. Der prosaische Ausdruck

13

4. Der rhetorische Ausdruck

19

5. Der »ricorso«

25

6. Der literarische Ausdruck

28

7. Die Gebiete der Literatur

3$

8. »L'art pour l'art
poesie pure
Sturm und Drang< e altri saggi di letteratura italiana e tedesca con una premessa di S e r g i o L u p i , F l o r e n z

1 9 6 6 , 1 1 5 - 1 4 0 ) , A u g u s t B u c k ( C r o c e e la

G e r m a n i a , in: R i v i s t a di S t u d i crociani, 1 9 6 7 , I V , 1 2 9 - 1 4 0 ) .

Vili

Croce untersucht zunächst noch einmal das Verhältnis von Dichtung und Literatur. N u n räumt er im Gegensatz zu früher ein, er habe seinerzeit in seinem jugendlichen Radikalismus, in seiner Ungehaltenheit über jene, welche in der Schönheit nur einen Schmuck des »nackten« Ausdrucks sahen, noch nicht begriffen, daß der »literarische Ausdruck« auch seine Würde habe. »Schönheit« im Bereich der Literatur sei allerdings nicht mehr jene Göttin, welche ein gleichzeitig süßes und schmerzliches Gefühl einflöße, sondern vielmehr eine anmutige und vornehme Person, welche den Ansturm ihrer Umgebung mildere und mäßige. Unter »literarischem Ausdruck« subsumiert Croce nun alle nicht-dichterischen Ausdrucksformen, die Äußerungen der Leidenschaft, der Prosa, der Rhetorik und ihr harmonisches Miteinander. Wenn es von Croce auch nicht expressis verbis ausgesprochen wird, so wird hier der Exegese doch ein beträchtlicher Spielraum zugestanden. Die Trennung von Dichtung und Literatur wird zwar beibehalten, aber angesichts der bedeutenden Stellung, welche nun das literarisch Schöne neben dem dichterisch Schönen erhält, wird die Frage der Zugehörigkeit zum einen oder anderen nicht mehr so vordringlich. Der »heilige Wahnsinn« des Dichters und die »Inspiration« des Genies tangieren zwar nach wie vor nicht den Bereich der Literatur, aber nun wird auch dieser eine besondere Art der Inspiration eingeräumt: das ernste und drängende Bedürfnis, ihre Inhalte mit Wärme und Spontaneität mitzuteilen. Croce wies hier verantwortungsbewußter Gesinnung, die sich in literarischen Leistungen niederschlägt, einen bedeutenden Platz an, während er im »art pour l'art« französischer Dichterschulen und in der »poésie pure« französischer Dichtungstheoretiker nur ein unverbindliches Spiel mit Worten und Begriffen sah. In seinen Überlegungen hinsichtlich des Lebens der Dichtung erinnert Croce zunächst einmal daran, daß diese zwar wie Mörikes Lampe unabhängig von menschlicher Erkenntnis f ü r sich selbst existiere, daß es aber Aufgabe der Kritik sei, den Schöpfungsprozeß nachzuvollziehen. Kennzeichnend ist dabei für Croces Methode, daß er sich nicht an ein ästhetisches Jenseits verliert. Wichtig ist ihm die Tatsache, daß die Menschheit, die doch im großen und ganzen ihre Zeit nicht zu vertrödeln pflege, sich mit Fragen der Schönheit und der Dichtung von allem Anfang an beschäftigt hat. Entscheidend ist für diesen mitunter geradezu angelsächsisch humorig und trocken wirkenden Vertreter des gesunden Menschenverstandes, daß er sich bei seiner Beschäftigung mit Dichtung und Literatur auf die »auctoritas humani generis« berufen kann. Mit Leidenschaft wendet er sich gegen die historische Schule, bei der es sich in Wahrheit um eine »historizistische« Richtung gehandelt habe, und nicht weniger dezidiert polemisiert er gegen die ästhetische Richtung, die in WirklichIX

keit den Namen »ästhetizistisch« verdiene. Croce konnte mit Recht und nicht ohne ein Gran Selbstgefälligkeit darauf hinweisen, daß er - wenigstens was Italien anbetraf - das akademische Leben von diesen degenerierten Formen der Beschäftigung mit der Dichtung gereinigt habe. Befriedigt konnte er allerdings von dem Ergebnis seiner Tätigkeit nur sein, wenn er die Situation im eigenen Lande betrachtete. Hier allein war seiner Meinung nach die Literaturwissenschaft auf der Höhe der Zeit. Für Croce gab es keinen Zweifel, daß das Geschmacksurteil unfehlbar sei. Mit der Sicherheit eines Wünschelrutengängers glaubte er Dichtung und Literatur aufspüren und auseinanderhalten zu können. Als unerbittlicher Richter trennte er wie Schafe und Böcke die Poesie von der Unpoesie. Poesie war für ihn daher Poesie tout court. Leidenschaftlich wandte er sich gegen die Einteilung in klassische und romantische, in naive und sentimentalische Dichtung. Die Schönheit des Kunstwerkes bestand für ihn gerade darin, daß sich diese Schönheit nicht durch irgendeine adjektivische Bestimmung einschränken ließ. Nicht die Reformation sei das deutsche Schisma gewesen, sondern diese Aufsplitterung des einen und unteilbaren Schönen. Die Reformation habe eine Etappe menschlichen Fortschritts dargestellt, die erwähnte ästhetische Häresie hingegen sei für eine folgenschwere Verwirrung der Begriffe verantwortlich. Mit besonderer Leidenschaft wandte sich Croce daher gegen die deutschen Forschungen zum Barock: wenn man auf diesem Wege weiterschreite, werde man sich bald auch noch mit dem dichterisch und literarisch H ä ß lichen beschäftigen müssen. Croce lehnte jeden mechanistischen Entstehungsprozeß dichterischer Werke ab. Niemand werde im Ernst die Göttliche Komödie neben oder gar vor die Ilias stellen wollen, jedes Werk müsse in seinem geschichtlichen Kontext verstanden und aus diesem heraus interpretiert werden, denn jede Dichtung sei eine Art Fluchtpunkt, in dem die vorausgehende Entwicklung zusammentreffe, was jedoch nicht heißen solle, daß aus Dichtung Dichtung entstehe. Die Konsequenz aus diesen Überlegungen war die Ablehnung der Vergleichenden Literaturgeschichte, die sich allenfalls über Nebensächlichkeiten, über Allotria, zu verbreiten vermöge. Croce wandte sich dabei gegen jene Art von comparaison, die nach Étiemble nicht immer raison ist, und wie sie vor allem in Frankreich als später Ableger des Positivismus betrieben wurde und zum Teil noch heute betrieben wird. Wenn das Kunstwerk trotz aller Zugeständnisse an seine historische Bedingtheit letzten Endes in einem überzeitlichen N u angesiedelt wird, dann findet es auch immer in sich selbst seine Erfüllung, dann hat auch die Kategorie Fortschritt in seinem Umkreis nichts zu suchen. DarwiniX

stische Vorstellungen oder Vergleiche aus der Botanik können daher f ü r die Beschäftigung mit Dichtung nichts hergeben. Die Folge davon ist f ü r Croce, d a ß W e r k und Künstler monographisch darzustellen sind, ohne das auf Taine und die Scherer-Schule zurückgehende

Kausalitätsden-

ken von Ererbtem, Erlebtem, Erlerntem. Wichtig w a r es, daß dem Dichter die Intuition oder Rhythmisierung des Universums gelungen war, so w i e es dem Philosophen oblag, dieses durch Systematisierung in gedanklicher Form darzustellen. D e r Orlando

furioso Ariosts w a r und blieb für

C r o c e eines der höchsten Beispiele eines rhythmisch gestalteten dichterischen Kosmos. N i c h t in allen Werken der Dichtung w a r eine ähnlich schlackenlose Bewältigung eines »Stoffes« möglich. C r o c e löste die crux, die ein W e r k wie die scholastischem Denken verpflichtete Divina media

Com-

mit sich brachte, durch die Auffassung, daß unter Umständen

Strukturelemente Voraussetzung für die Rhythmisierung eines umfassenden Kosmos sein können. N i c h t um Vorschriften im Sinne Quintilians und anderer literarischer Rhetoriker ging es C r o c e , sondern um Fragen der Dichtungsästhetik. Die literarischen Gattungen e t w a gehörten f ü r C r o c e in den Umkreis der »praecepta«. Er verstand sie allenfalls als Abstrakta, unter die man post festum W e r k e der Literatur subsumieren könne. In den genera eine A r t ewiger Gesetze erblicken z u wollen, wie dies etwa W o l f g a n g K a y s e r in seiner Einführung in die Literaturwissenschaft Das sprachliche

Kunst-

werk tut, ist für die Croce-Schule undenkbar. 4 4

M a r i o Fubini sieht in seiner umfassenden Untersuchung über Genesi e storia dei generi letterari ( M . F . : Critica e poesia, Bari 1956, 1 4 3 - 2 7 4 ) in den Gattungsgeschichten lediglich ein M i t t e l z u r Orientierung, das jedoch über die dichterische B e d e u t u n g eines W e r k s nichts auszusagen v e r m ö g e . Ä u ß e r s t allergisch reagierte Fubini (wie e t w a auch V i t t o r e Pisani) auf K a y s e r s p l a t o nisierende G a t t u n g s v o r s t e l l u n g e n : d e m gelehrten deutschen Professor sei nicht nur alles entgangen, w a s die Literaturwissenschaft über den G a t t u n g s b e g r i f f in unseren T a g e n beigesteuert habe, sondern auch die in der V e r g a n genheit z u dem T h e m a angestellten Überlegungen. M a n denke bei der L e k türe v o n K a y s e r s B u c h mit W e h m u t an die bei aller Pedanterie so viel naiveren und g e w i n n b r i n g e n d e r e n Seiten der T h e o r e t i k e r des Cinquecento. D e m gegenüber stellt W e r n e r Krauss in seinem A u f s a t z : D i e literarischen G a t t u n gen (W. K . : Essays z u r französischen Literatur, Berlin und W e i m a r , 1968, 5-43) apodiktisch f e s t : » D i e literarischen G a t t u n g e n existieren«. Ergiebiger als der platonisierende G a t t u n g s b e g r i f f K a y s e r s ist der gesellschaftskritische v o n Krauss, der das Schicksal der G a t t u n g e n v o n den g r o ß e n Verschiebungen und U m w ä l z u n g e n im U n t e r b a u der G e s e l l s c h a f t abhängig macht. G e messen an den G a t t u n g s v o r s t e l l u n g e n der russischen Formalisten w i r k e n nun allerdings auch die Thesen C r o c e s und seiner Schüler veraltet. Im G e g e n satz z u den in einem ästhetischen N i r g e n d w o angesiedelten G e n e r a K a y s e r s und den rein praktisch verstandenen G a t t u n g e n der C r o c i a n e r steht e t w a die

XI

Es sollte hier nur auf einige zentrale und für die literaturwissenschaftliche Diskussion besonders ergiebige Gedanken Croces hingewiesen werden. Ein Blick in deutschsprachige methodische Untersuchungen der letzten Jahre zeigt, daß die Thesen von Croces La Poesia ihre Aktualität nicht verloren haben und daß man immer dafür bezahlen muß, wenn man glaubt, Croces Ästhetik aussparen zu können. Sie sicherte italienischer Literaturwissenschaft auch dank »einer glücklichen Verbindung von philosophischer Grundsätzlichkeit und empirischer Literaturkenntnis«5 in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ein außergewöhnliches Niveau. Wie mit Recht festgestellt werden konnte, ist hingegen hierzulande die Diskussion über die methodischen und grundsätzlichen Fragen der Literaturwissenschaft zwar höchst lebendig, sie führt jedoch in ihrer Unverbindlichkeit nur selten zu einer gemeinsamen Ausrichtung in entscheidenden Dingen, während bei der Mehrheit der italienischen Literarhistoriker und Literaturkritiker eine gewisse Einigkeit im Grundsätzlichen besteht, so daß Methoden, Ziele und Fragestellungen und sogar die Terminologie bei weitem einheitlicher sind als bei uns.* In Deutschland fand die Auseinandersetzung mit Croces Werk nur sporadisch statt. Seine Auswirkung war bei weitem nicht so nachhaltig, wie von optimistischen Interpreten deutsch-italienischer Wechselbeziehungen in Feierstunden behauptet wird. Die Ästhetik erschien zwar bereits 1905 in deutscher Übersetzung,7 aber vierunddreißig Jahre sind seit der Veröffentlichung der Originalfassung des hier vorliegenden Werks vergangen.8 Für die Studienausgabe wird jetzt noch auf die Pu-

5

auf einem ganz anderen Geschichtsbewußtsein beruhende dynamische A u f fassung B. Tomachevskis: »Revenant sur l'ensemble historiquement isolé des œuvres littéraires réuni par un système commun de procédés, dont certains dominent et unifient les autres, nous voyons qu'on ne peut établir aucune classification logique et ferme des genres. Leur distinction est toujours historique, c'est-à-dire justifiée uniquement pour un temps donné; de plus, cette distinction se formule simultanément en plusieurs traits, et les traits d'un genre peuvent être d'une nature tout à fait différente de la nature de ceux d'un autre genre. En même temps, ils restent logiquement compatibles entre eux, parce que leur distribution n'obéit qu'aux lois internes de la composition esthétique.« (B. Tomachevski, in: Théorie de la littérature - Textes des Formalistes russes réunis, présentés et traduits par Tzvetan Todorov, Préface de Roman Jakobson, Paris, 1965, 306). August Buck: Benedetto Croces Literaturkritik (Romanistisches Jahrbuch,

Í. 1953/54. 3 " - 3 3 $ ; 3 " ) · • Erwin Koppen: Benedetto Croce als Theoretiker der Dichtungskritik und Literaturgeschichte (Die Neueren Sprachen, 1963, 2 4 1 - 2 5 2 , 289-302; 241). 7 Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und allgemeine Linguistik (übersetzt von Karl Federn) Leipzig 1905. 8 Eine englische Ubersetzung von La Poesia erschien bereits 1942 unter dem XII

blikation der Postillen verzichtet, in denen Croce die massiven A n g r i f f e gegen seine Widersacher in lebhaften Scharmützeln und Nachhutgefechten fortsetzt. Es ist schwer, sich von deutscher Warte aus eine Vorstellung von der zentralen Stellung Croces im italienischen Geistesleben der ersten J a h r hunderthälfte zu machen. Bei uns wurden Croces Äußerungen zu Fragen der Literaturwissenschaft in der Regel nur sehr kursorisch erwähnt. Nicht ohne Ingrimm schrieb Croce, als Oskar Walzel versicherte, sein Buch Grenzen von Poesie und Unpoesie stehe in keinem Verhältnis mit der Aufsatzsammlung Poesia e non poesia, man merke dies dem Buch leider durchaus an. 9 Croce und seine Schüler hielten mit der Überzeugung nicht hinterm Berg, daß in Italien Dinge, die anderswo immer noch G e genstand weitschweifiger Untersuchungen bildeten, längst abgetan seien. Die angesehensten italienischen Kritiker beugten sich v o r diesem Souverän des Geisteslebens, und der militante Luigi Russo unternahm es, in einer dreibändigen Darstellung der zeitgenössischen italienischen K r i t i k Unbekehrbare wie Borgese und Papini mit scharfer Feder aufzuspießen und als Hekatomben zu Füßen des Meisters aufzutürmen. Wenigstens Italien schien von Irrlehren und Unglauben gereinigt. Es konnte nicht ausbleiben, daß auch die schwachen Stellen in Croces System entdeckt wurden. D i e Einheit des dichterischen Werks wird bei Croce durch die Einheit des dichterischen Ausdrucksakts gewährleistet. Die materiellen Schwierigkeiten, die den Schöpfungsprozeß eines >work in progress< hemmen und f ö r d e r n , schienen nicht hinreichend berücksichtigt. Dies wurde besonders deutlich aus der Perspektive der bildenden Kunst. Ein aus der strikten Observanz v o n Croces Ästhetik ausscherender K r i t i k e r , A l f r e d o Gargiulo, w a r f dem Verfasser der Ästhetik vor, ihre schwache Stelle sei das geringe Interesse an den Ausdrucksmitteln, an Wort und Farbe. D e r künstlerische Ausdracksakt falle ja nach Croces Darstellung v o r die »estrinsecazione«, das Nach-außen-kehren, so daß die G e f a h r bestehe, daß man von einem nicht-gemalten Bild spreche. 10 Ein weiterer A n g r i f f gegen Croces Ästhetik erfolgte von der Seite der Kunstgeschichte. Lionello Venturi gab bereits 1 9 3 4 zu bedenken, daß Croces K a m p f gegen die in der Kunstgeschichte so zentrale Diskussion um Epochen- und Individualstile und seine Vergötterung der »Klassik« mit ihrem einen und unteilbaren Schönen notwendigerweise die G e f a h r Titel T h e P o e t r y und eine französische Ü b e r s e t z u n g liegt seit 1 9 5 1 v o r : L a Poesie, I n t r o d u c t i o n à la critique de l'histoire et de la littérature. • Z i t i e r t v o n E r w i n K o p p e n , a. a. O . , 2 9 2 . 10

A l f r e d o G a r g i u l o : C r o c e e la critica f i g u r a t i v a ( A . G . : Scritti di estetica a cura di M a n l i o C a s t i g l i o n i , F l o r e n z 1 9 5 2 , 3 - 1 3 ) .

XIII

klassizistischer Einengung des Urteils in sich berge. Venturi sah sich in seinem Verdacht dadurch bestätigt, daß Croce nur in die Werke der Antike und der Renaissance volles Vertrauen hege, während er die Kunst des Mittelalters, des Seicento und des Impressionismus ablehne." In der T a t erinnert Croces Schönheitsbegriff vor allem an die Traktate der italienischen Renaissance. Das Ende von Croces Herrschaft auf dem Gebiet der Dichtungstheorie fällt etwa mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Die marxistische Literaturwissenschaft hielt ihren Einzug in Italien. Jetzt erst wurde Croce auch seitens seiner Landsleute zu den literatur- und sprachwissenschaftlichen Methoden des Marxismus in Beziehung gebracht. Lukács trat an die Stelle Croces. Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang Luigi Russos Apostasie, der in seiner seit 1946 erscheinenden Zeitschrift Belfagor dem Marxismus T ü r und T o r öffnete. Russo, der es 1933 begrüßt hatte, daß der ästhetische Polytheismus der Vocianer durch den unerbittlichen, wenn auch einseitigen Monotheismus der Crocianer abgelöst worden w a r , " rügte nun die angeblich doktrinäre Intoleranz des Neapolitaners, der es nicht wahrhaben wolle, daß der Zusammenbruch von Mussolinis und Gentiles Diktatur notwendigerweise auch zum Sturz seiner Anti-Diktatur habe führen müssen. 13 Diese Nachkriegsgeneration wollte Dichter und Werk wieder aus dem geschichtlichen Humus und Augenblick heraus interpretieren. Bei Croce, so argumentiert etwa Natalino Sapegno, werde der Künstler allzu statisch gesehen. Die Literaturwissenschaft orientierte sich nun in Italien an einem neu verstandenen, marxistisch interpretierten D e Sanctis. 14 Sie wollte nicht mehr auf Literatur-»Geschichte« zu Gunsten von Werk- und Dichtermonographien verzichten. Darauf lief in der T a t die Darstellung der italienischen Literatur bei Croce und seinen Schülern Momigliano und Flora hinaus. 15 11

Leonello Venturi: Croce e le arti figurative (L. V . : Saggi di critica, Rom

11

C f r . Luigi Russo in dem V o r w o r t zu seiner Pamphletsammlung Elogio della polemica, Bari 1 9 3 3 . Den A u f t a k t zur Polemik Croce-Russo gab eine Interpretation von Petrarcas Vecchierello-Sonett durch Russo (Belfagor, 4, 1949, 1 6 8 - 1 7 5 ) deren Thesen Croce in den Quaderni della Critica, 5, 1949, 125F. anfocht (Deliri di cattiva filosofia). Russo griff den Fehdehandschuh auf und antwortete mit einer umfangreichen Stellungnahme (La collera del V i c o e la stizza del Croce - Dalle Memorie di un vecchio crociano, Belfagor 4, 1949, 5 6 0 Í82). C f r . Natalino Sapegno: Prospettive della storiografia letteraria ( N . S.: Ritratto di Manzoni e altri saggi, Bari 1966, 2 4 7 - 2 6 2 ) . Weniger pauschal als die marxistischen Neophyten Russo und Sapegno setzte

1956, 177-19°)· IS

14

15

XIV

Der Fall Russo w a r lediglich das turbulenteste Beispiel dafür, daß Italien noch kurz vor dem Tod des neapolitanischen Gelehrten in eine nach-crocianische Ä r a eingetreten war. Gianfranco Contini erinnert daran, daß die Anstrengung jener Jahre dem Versuch galt, aus dem Bannkreis Croces herauszutreten, ohne Anticrocianer zu werden. In einem umfassenden, auf das J a h r 19 j i zurückgehenden, aber erstmals 1967 veröffentlichten Versuch, 14 den kulturellen Einfluß Benedetto Croces abzuwägen, würdigt er Croces enzyklopädischen Gedankenbau, der es verdient habe, das tägliche Brot unseres Jahrhunderts zu sein. Das heiße aber nicht, daß er auch dessen Sauerteig gewesen sei. Contini, ein Verfechter der Stilkritik, bedauert, daß Croce die italienischen Vertreter dieser Richtung, Cesare De Lollis und Domenico Petrini, nur mit distanzierter Höflichkeit betrachtet und etwa Spitzer in Italien nicht hinreichend bekanntgemacht habe. 17 Croces Sprachtheorie ist im Zeichen der modernen Linguistik besonders harter Kritik ausgesetzt worden. Seine Ästhetik ist mit d a f ü r verantwortlich, wenn die strukturalistische Sprachwissenschaft in Italien nur zögernd Fuß fassen konnte und die wissenschaftliche Annäherung an das Phänomen Sprache hinausgeschoben wurde. Dazu kamen »die strukturellen Schwächen des — im alten Humanismus noch grundsätzlich verankerten - italienischen Universitätswesen, das nicht dazu geeignet war, eine technisch-spezialistische Ausbildung zu fördern«. 1 8 Die Lebhaftigkeit, mit der auch heute noch Croces Thesen diskutiert werden, dürfte ein hinreichender Beweis dafür sein, daß sie ihre Aktualität nicht verloren haben. Mögen einzelne Punkte und Stellen unter dem

16

17

18

sich Antonio Gramsci in seinen Aufzeichnungen aus dem Kerker mit Croce auseinander: die Rolle Croces sei im Hinblick auf den Marxismus vergleichbar mit der Bedeutung Hegels f ü r die ersten Theoretiker der Philosophie der Praxis (Antonio Gramsci: Il materialismus storico e la filosofia di Benedetto Croce, Turin 1966a, 199). G i a n f r a n c o Contini: L'influenza culturale di Benedetto Croce, MailandNeapel, 1967. Vittorio Santoli unterstreicht in seinem A u f s a t z : De Lollis e la stilisitca letteraria (Tra Italia e Germania, op. cit., ¿64-270), daß De Lollis in seiner Tätigkeit als Literaturkritiker mit vergleichbaren Grundbegriffen arbeitete wie Heinrich W ö l f f l i n : »Ricca serie di polarità che forma un perfetto riscontro con i (posteriori) G r u n d b e g r i f f e figurativi di W ö l f f l i n . Con la differenza però, che De Lollis questi suoi schemi non li teorizzò e fece, anzi, di tutto per nasconderli dietro lo scintillìo della sua prosa. Così bene, che anche Croce pare non se ne accorgesse quando, nel 1922, si fece avvocato di una »poetica moderna< «. C f r . C a r l o de Simone in seinem vorzüglich informierenden Forschungsbericht: Die Sprachphilosophie von Benedetto Croce (Kratylos, 12, 1967, 1 - 3 2 ) .

XV

Aufgabe des Übersetzers ist es aber wohl, die verschiedenen Nuancen eines Stils mit hinüberzunehmen in die eigene Sprache, auch wenn die »Schönheit« dabei manchmal der Treue zum Original geopfert werden muß. D a ß eine geglättete und gleichsam eingeebnete Ubersetzung manchem Leser vielleicht lieber wäre, muß man freilich in Kauf nehmen. Regensburg Wolfgang Eitel

Die Dichtung

Dem Andenken FRANCESCO

von DE

SANCTIS

und GIOSUÈ

CARDUCCI

V o r w o r t z u r ersten A u f l a g e

Die Konzeption dieses Buches und sein Verhältnis zur Philosophie der Kunst oder Ästhetik werden am Ende des Buches klar definiert. 1 D a mir bei der Abfassung dieses Buches die Erkenntnisse immer v o r Augen standen, die ich schon in meiner Jugend aus den Büchern von Francesco de Sanctis und Giosuè Carducci schöpfte, zweier Meister, die beide auf verschiedenen Wegen und auf verschiedene A r t und Weise, bei den Italienern ein klareres und deutlicher artikuliertes Bewußtsein v o m Wesen der Dichtung heranbildeten, w a r es mir selbstverständlich, ihrem Andenken das Buch zu widmen. Während meiner Arbeit w a r es mir, als ob ich mich an sie wendete, ihnen Fragen stellte und ihr Einverständnis mit dem, was ich niederschrieb, erwartete; mir schien es, daß sie auch dort ihre Zustimmung gaben, w o ich Probleme behandelte, auf die sie nicht eingegangen waren oder w o ich v o n einigen ihrer Urteile und V o r stellungen abwich. Meana di Susa, September 193 j . B. C .

1

[Ein folgender k u r z e r A b s c h n i t t b e t r i f f t die »Postillen«, die f ü r die deutsche Studienausgabe nicht übersetzt w u r d e n . C r o c e charakterisiert sie als eine »Plauderei, die auf die angespannte theoretische D a r s t e l l u n g folgt.« A n m . d. Ubersetzers].

3

I. D i e D i c h t u n g u n d die L i t e r a t u r

Dem heutigen ästhetischen Bewußtsein hat sich der Unterschied zwischen >Dichtung< und >Literatur< immer tiefer eingeprägt, ein Unterschied, den schon die Romantik deutlich spürte, f ü r den hingegen die früheren Epochen, das griechisch-römische Altertum mit einbegriffen, wenig Sinn hatten, und der nur in einigen Randbemerkungen zur Sprache kam. Gewöhnlich stellt dieser Unterschied jetzt einen Gegensatz dar, nicht ohne einen verächtlichen Seitenhieb auf die >LiteraturAusdruckAusdruck< von Fieber seien, daß der bewölkte Himmel ein >Ausdruck< bevorstehenden Regens, das Steigen des Wechselkurses >Ausdruck< der geringeren K a u f k r a f t einer Währung, daß eine gewisse Röte im Antlitz Ausdruck von Scham, wieder eine andere Röte >Ausdruck< von Zorn sei. Wie in diesen Fällen die einzelnen Phänomene als Anzeichen für gewisse Fakten dienen, diese in Wirklichkeit aber gerade konstituieren und sich weder von ihnen trennen noch unterscheiden lassen, genauso ist für den Beobachter der Ausdruck des Gefühls und der Leidenschaft, der sich in einzelnen Lauten äußert, das Symptom eines Gefühls oder einer Leidenschaft; wer sie aber selbst erfährt, für den ist sie dieses Gefühl selbst, zu dem dieser sogenannte Ausdruck als ein wesentlicher Bestandteil gehört. Wenn man auch den emotionalen Ausdruck auf seine Urzelle oder seine einfachste und elementarste Form reduziert, tritt er in Form einer Interjektion auf, z . B . in >oh!ah!o weh!oh jemine!ach!< 6

usw. Aber es ist nicht etwa die Interjektion, welche in Gedichten aufklingt und welche die Grammatiker in ihren abstrakten Kategorien als einen >Satzteil< behandeln, die theoretischer Ausdruck oder Wort geworden ist, sondern diejenige, die man >natürlich< nennen sollte, und die aus der Brust und aus der Kehle dessen hervorbricht, der von Erstaunen, Freude, Schmerz, Ekel oder Schrecken erfaßt ist: Gefühle und Regungen, die ihn ganz durchwühlen und Sprache werden. Wenn man diese Äußerungen der Stimme infolge der Hemmung, welche die praktische Vorsicht und die gute Erziehung verursacht, unterdrückt, so gelingt es einem allenfalls, sie zurückzudrängen; das unterdrückte Gefühl erschließt sich andere Ausgänge oder verwandelt sich in mehr oder weniger verwandte Gefühlsnuancen, die in der Gestik, der Mimik, der Bewegung der Gesichtsmuskeln und in der hemmenden Verkrampfung selber in irgendeiner sichtbaren Form zum Ausdruck kommen. Und es können nicht nur jene abrupten Interjektionen, die ich angeführt habe, hervorbrechen, sondern ein Schwall von Worten, weit gewaltiger und heftiger als derjenige, der in einer Reihe glatter, Empörung vortäuschender Oktaven aus dem Mund der Donna Julia des Don Juan von Byron, hervorquoll, als ihr Ehemann sie im Bett ertappte, diese Ströme von Lauten können ins geschriebene Wort einmünden und sich über Bände und ganze Reihen von Bänden ausdehnen und dennoch, wenn sie keiner inneren Erschütterung entspringen, werden sie immer Interjektionen bleiben, damit also Gefühl und nicht etwa theoretischer Ausdruck des Gefühls, der einen neuen geistigen Akt und eine neue Form des Bewußtseins zur Folge hat. Charles Darwin, ein Naturforscher, zögerte nicht, die Verschiedenheit dieser beiden Phänomene zu betonen, die von der Homonymie verdeckt war. Als er die Ausdrucksformen bei Mensch und Tier zu untersuchen begann, hatte er gehofft, Anhaltspunkte bei den Malern und Bildhauern zu finden, aber er fand nichts, oder beinahe nichts, offensichtlich, schrieb er, weil »das Hauptziel der Kunstwerke die Schönheit ist, mit der sich das heftige Zusammenziehen der Gesichtsmuskeln nicht verträgt«. Die Verwechslung von emotionalem und natürlichem Ausdruck (dem Nicht-Ausdruck) und dichterischem Ausdruck unterlief vornehmlich den Romantikern in ihren Theorien, die zwar nicht immer ihren tatsächlichen Werken, aber doch ihren illusionären Vorstellungen entsprachen. Dieselbe Verwechslung unterlief von neuem einigen nachromantischen und gegenwärtigen Schulen, mit dem einzigen Unterschied, daß sie keine so edlen Zeugnisse von Leidenschaft und menschlicher Erschütterung liefern, wie sie doch sehr oft in den Schriften jener Dichter zu Tage traten. In Italien reagierte das echte dichterische Bewußtsein auf 7

solche Tendenzen der Romantik mit Giosuè Carducci, dessen Invektiven und Sarkasmen gegen den »elenden Muskel, der der großen reinen Kunst schadet« (»vii muscolo nocivo alla grand' arte pura«) allgemein bekannt sind als Zeichen der Ablehnung gegenüber der damals üblichen Verherrlichung des »Herzens« als dem Genius der Dichtung; in Frankreich mit Baudelaire und Flaubert, der die Verteidigung zu weit trieb und die paradoxe Lehre von der »Unpersönlichkeit« (»impersonnalité«) der Kunst aufstellte: dies nur als Hinweis auf einige Namen und auf einige Episoden der langen und heftigen Auseinandersetzung. Denkt man an ihn und an jene, die Partei für die Leidenschaft, das Gefühl und das Herz ergriffen und die gewiß keine gewöhnlichen Menschen waren, unter dem Ansturm ihrer hohen Gefühle entweder die bändigende Kraft der Kunst vergaßen oder dagegen rebellierten, fühlt man so etwas wie Scham und Widerstreben, wenn man den Blick auf dieselbe Lehre von der Dichtung als Gefühl richtet, die in erbärmlichen Sophismen von Akademikern und Professoren, die keinen Sinn für Kunst und keine Vorstellung von der historischen Entwicklung der Kunstlehren hatten, zusammengestümpert wurde. Aber man muß doch anmerken, daß ihr Argument, das Gefühl sei kein formloser Stoff, sondern habe Form und Ausdruck, offene Türen einrennt, denn es versteht sich von selbst und wurde schon oben dargelegt, daß das Gefühl wie jeder andere Akt und jedes andere Faktum (wie die dichterische Intuition selbst, die immer auch Ausdruck ist) nicht Geist ohne Körper ist, daß vielmehr Geist und Körper, Inneres und Äußeres, aufgespalten in der wissenschaftlichen Abstraktion, ein Ganzes bilden in der Realität, in der das Wort Fleisch wird. Aber es eröffnet ihnen nicht einen anderen Zugang, - er ist ihnen völlig versperrt, der Zugang zum dichterischen Ausdruck nämlich, der sich deutlich von dem Pseudoausdruck des Gefühls unterscheidet. Auch jener Große, der lange Zeit sozusagen als Symbol der entfesselten Leidenschaft in der Kunst galt, William Shakespeare, war in seinem Werk nicht nur das Gegenteil, sondern er hielt sich, wenn er etwas von seinen theoretischen Uberzeugungen durchblicken ließ, nicht bei Gefühl und Leidenschaft auf; er definierte die Dichtung als eine Art von Magie, bei der der Dichter seinen Blick vom Himmel zur Erde wendet und von der Erde empor zum Himmel und einem »Nichts aus Luft« Gestalt, Ort und Namen gibt, und empfahl den Künstlern nicht die Entladung der heftigen Leidenschaft, sondern auch mitten im Sturm und Wirbel der Gefühle »temperance« und »smoothness«. Nur in Bezug auf den dichterischen Ausdruck, der auf sie folgt, und im Akt selbst, der auf sie folgt, ist das Gefühl nicht mehr Form, sondern Stoff, kraft des geistigen Gesetzes, demzufolge in der lebendigen Dialek8

tik des Geistes das, was auf einer vorausgehenden Stufe F o r m war, zu S t o f f absinkt und auf der späteren Stufe eine andere F o r m erhält, wie die Leidenschaft, die im leidenschaftlichen Menschen F o r m ist, zu S t o f f absinkt, wenn sich bei ihm die Reflexion einschaltet, die aus der Leidenschaft ihr eigenes O b j e k t macht. Es braucht kaum gesagt zu werden, nicht einmal als praeteritio, daß die Beziehung von S t o f f und F o r m nicht die naturwissenschaftliche Beziehung von Ursache und W i r k u n g ist, es ist jedoch auch nicht die Beziehung zwischen Original und Kopie, wie die Metapher der Alltagssprache nahelegen könnte, in der man

vom

W o r t spricht, welches das Gefühl »wiedergibt» oder >darstellt< oder von der Kunst, die >BildMimesis< oder >Nachahmung< der N a t u r und der Wirklichkeit ist. Die naive Theorie des Erkennens als >AbbildKatharsis< bezeichnet worden ist.

2. Der dichterische Ausdruck Was ist also der d i c h t e r i s c h e A u s d r u c k , der das Gefühl dämpft und verwandelt? Es ist, wie gesagt, im Unterschied zum Gefühl ein theoretischer A k t , ein Erkenntnisvorgang, dort, w o das Gefühl am Einzelnen hängenbleibt, und - so erhaben und edel es auch in seinem io

Ursprung sei - sich notwendigerweise in der Einseitigkeit der Leidenschaft, in der Antinomie des Guten und des Bösen und in der Unrast des Genießens und Leidens bewegt, eben dort verbindet die Dichtung das Einzelne mit dem Universalen, nimmt Schmerz und Freude auf und überwindet sie; über den Widerstreit der einzelnen Teile stellt sie die Schau der Teile innerhalb des Ganzen, über den Kontrast stellt sie die Harmonie, über die Angst des Endlichen die Weite des Unendlichen. Dieser Stempel der Universalität und Totalität ist ihr Wesensmerkmal; und dort, wo zwar scheinbar Bilder vorhanden sind, aber dieses Wesensmerkmal schwach ausgeprägt und mangelhaft ist, fehle, so sagt man, die volle Rundung des Bildes, die höchste Einbildungskraft, die schöpferische Phantasie, die innerlich erfüllte Dichtung. Und da die Dichtung wie jedes andere Gebilde nicht zustande kommt ohne den Kampf des Geistes mit sich selbst und in diesem Fall mit dem Gefühl im Streit liegt, das ihr den Stoff gibt, ihr aber gleichzeitig das Gewicht und den Widerstand des Stoffes entgegenstellt, ist der Sieg, wo sich der widerstrebende Stoff in Bild verwandelt, ein Sieg der Heiterkeit, in der noch die Erregung zittert wie eine Träne in dem Lächeln, das sie wieder aufgeheitert hat, und geprägt von einem neuen und reinigenden Gefühl, der Freude an der Schönheit. Die Wirkung der Dichtung erschien den alten Griechen so merkwürdig und wunderbar, daß sie sie einem heiligen Atemhauch, einer Begeisterung, innerem Ungestüm und göttlicher Besessenheit zuschrieben; sie unterschieden die Aöden von den anderen Sterblichen und ehrten sie als göttlich Erleuchtete und Lieblingskinder der Muse, deren Gesang die Weite des Himmels erreicht; auch die Menschen der Neuzeit haben den Dichtern die schuldige Ehrerbietung nicht völlig verweigert, in der Tat umgeben sie sie gewöhnlich mit einmütiger Bewunderung und beinahe mit respektvoller Protektion; vor allem (wenn auch nicht ausschließlich) ihnen behalten sie das Privileg der Inspiration und die Gabe der >Genialität< vor. Streng genommen wohnen Inspiration und Genialität, und das >Quia divinum< jedem Menschen und jedem menschlichen Werk inne, sonst wären sie nicht wirklich menschlich. Aber die Bedeutung, die diese Wesenszüge im dichterischen Werk zu erhalten scheinen, beruht auf der Ausweitung des Individuellen ins Universale, des Endlichen ins Unendliche, welches in der Praxis und im Gefühlsleben nicht oder nicht in dieser Form existiert; dort vollzieht sich die umgekehrte Bewegung, die zwar das Denken und die Philosopie kennt, aber indirekt und durch die Dichtung vermittelt. Verglichen mit dem Erkennen der Philosophie schien dasjenige der Dichtung anders geartet und mehr als ein Erkennen zu sein, ein Hervorbringen, ein Gestalten, ein Formen, ein ποιεϊν, 11

daher der N a m e in unseren Sprachen; was die Dichtung betrifft, wurde zum ersten Mal der Begriff des Erkennens als eines rezeptiven Vorgangs aufgegeben und derjenige des Erkennens als eines Hervorbringens eingeführt. Aber damit die Universalität, die Göttlichkeit und das Kosmische, das ihr beigemessen wird, nicht mißverstanden und materialisiert werden, indem man sie ausschließlich auf eine bestimmte Tonlage der Dichtung beschränkt oder, schlimmer noch, daraus ein Programm einer erst zu verwirklichenden Dichtung und einer Schule macht, die damit betraut wäre (Bestrebungen, die es gab und die es heute noch gibt), ist es gut, diese Worte in andere zu übersetzen, die einem solchen Mißverständnis weniger ausgesetzt sind. Wir werden also sagen, daß jene Universalität und die vielfaltige Synonymie, die sie begleitet, einfach die umfassende, ungeteilt menschliche Wesensart ihres Schauens ist, und daß, wo auch immer eine solche Vision entstehe und welches auch ihr spezieller Inhalt sei, sich in diesem besonderen Inhalt die Universalität wiederfindet, ohne daß das Unendliche, der Kosmos und Gott unmittelbar in Bildern mit ins Spiel kämen, wie im coeli enarrarti oder den laudes creaturarum. Übrigens versucht man jetzt anscheinend glücklicherweise weder diese noch irgend eine andere Unterscheidung zwischen poetischen und nicht poetischen Stoffen zu treffen, worum sich die Traktatschreiber und Philosophen früherer Zeit vergeblich bemühten. Alle diese Unterscheidungen laufen nur darauf hinaus, d a ß sie im Stoff der Dichtung jenes Dichterische suchen, das sich ausschließlich und in jedem Fall in der Dichtung selbst findet. Dichterisch ist nicht nur H e k t o r , Ajax, Antigone und Dido, Francesca und Margherita, Macbeth und Lear, sondern auch Falstaff, Don Quijote und Sancho Pansa und nicht nur Cordelia, Desdemona und Andromache, sondern auch Manon Lescaut, Emma Bovary und die Gräfinnen und Cherubini aus der Welt Figaros; nicht nur das Gefühlsleben einer Foscolo, eines De Vigny oder eines Keats, sondern auch dasjenige eines Villon; und poetisch klingen nicht nur die virgilischen Hexameter, sondern auch die maccaronischen des Merlin Cocai, wo es wunderschöne Stellen voller lebendig-spontaner Menschlichkeit gibt, nicht nur die Sonette Petrarcas, sondern sogar die pedantesk-burlesken des Fidenzio Glottocrisio. Das schlichteste Volkslied ist Poesie, wenn ein Schimmer von Menschentum darin leuchtet, und kann sich mit jeder beliebigen hohen Dichtung messen. Besonders eine anmaßende und falsche Feierlichkeit erschwert eine solche Einsicht gegenüber Werken, in denen sich Fröhlichkeit und Lachen breit entfalten, während dieser Anschein von Würde den Leser f ü r andere Werke einnimmt, in denen sich das Feierliche, Schmerzliche, Tragische, Erschreckende verdichtet. 12

Es geschieht aber nicht selten, daß diese Tonarten verkrampft, roh, gewollt und unpoetisch erscheinen, vor allem dort, wo jene Fröhlichkeit und jenes Lachen dem, der genau hinschaut, den Untergrund des Schmerzes enthüllen und ein echtes menschliches Verstehen eröffnen. Will man den Eindruck wiedergeben, den Dichtung in der Seele zurückläßt, bietet sich ganz von selbst das Wort >Melancholie< an, und wirklich, die Versöhnung der Gegensätze, in deren Widerstreit allein das Leben pulsiert, das Abklingen der Leidenschaften, die zusammen mit dem Schmerz eine Art von sanfter Wollust hervorrufen, die Loslösung von den irdischen Gefilden, die uns zwar mit Ingrimm erfüllen, aber dennoch das Land sind, w o wir genießen, leiden und träumen, dieser Aufschwung der Poesie in den Himmel ist gleichzeitig ein Zurückbleiben, das zwar keine Tränen, aber doch Trauer in sich birgt. Man hat die Dichtung der Liebe zur Seite gestellt wie eine Schwester, man hat sie mit der Liebe verbunden und ein einziges Wesen daraus gemacht, das von beiden etwas an sich hat. Aber die Dichtung ist eher der Untergang der Liebe, während die Wirklichkeit sich ganz in der Liebesleidenschaft verzehrt: der Untergang der Liebe im sanften Tod der Erinnerung. Ein Schleier der Trauer scheint die Schönheit zu umhüllen, aber es ist kein Schleier, sondern das Antlitz der Schönheit selber.

3. Der prosaische Ausdruck Daß die Dichtung das Reich der Einbildungskraft, des Traumes, des Unwirklichen ist, ist die landläufige Auffassung, die aber revidiert und korrigiert werden muß, denn man muß sie genauer definieren als etwas, das jenseits der Unterscheidung steht und daher mit keiner der beiden einander entgegengesetzten Kategorien erfaßt werden kann. Sie ist ein Reich der reinen Qualität ohne das Prädikat der Existenz, das heißt, ohne das Denken und die Kritik, die durch ihre Unterscheidungen die Welt der Phantasie in eine Welt der Realitäten verwandeln. Die Sphäre des p r o s a i s c h e n A u s d r u c k s unterscheidet sich vom dichterischen Ausdruck nicht anders als die Phantasie vom Gedanken, das Dichten vom Philosophieren. Jede andere Unterscheidung, die auf der stofflichen Unterscheidung der einzelnen Laute und ihrer verschiedenartigen Anordnung, ihrer Reihenfolge, ihres Rhythmus und Metrums beruht, führt zu keinem Ergebnis und kann niemals zu einem Ergebnis führen; das gilt für diese wie f ü r jede andere Form des Ausdrucks, die wir untersuchen werden. Sie alle weisen, von außen gesehen, dieselbe Lautgestalt auf, dieselben Formen der Anordnung und Gruppierung oder nur labile und scheinbare Unterschiede. Was den Unterschied zwischen po-

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etischem und prosaischem Ausdruck betrifft, die Streitfrage, um die es hier geht, so kann man sagen, daß sie völlig geklärt ist, seit Aristoteles zeigte, daß sie gegenstandslos ist, mit der Begründung, daß es Philosophien in gebundener oder metrischer Rede gebe und Dichtungen in ungebundener Rede; auch in der Neuzeit w a r es nicht möglich, diese Streitfrage in der H o f f n u n g auf eine andere Schlußfolgerung wiederaufzugreifen. Betrachtet man die Beziehung zwischen Dichtung und Philosophie, so bemerkt man auf den ersten Blick und beinahe mit Verwunderung die große Verdrehtheit der Theorien, die, wenn sie nicht geradezu die Dichtung mit der Philosophie gleichsetzen, sie dieser unterordnen, da diese sie angeblich auf ein Ziel hin ausrichtet und für die vernunftgemäße Anordnung der Teile sorgt. Aber die Philosophie hat gar keine Macht über die Dichtung (»Sorbonae nullum ius in Parnasso«), die Dichtung, die ohne sie und vor ihr entsteht; wenn sie aber in ihre N ä h e rückt, so f ü h r t sie, abgesehen davon, daß sie die Dichtung weder ins Leben gerufen noch mit Energie gespeist hat, sogar ihren Tod herbei, denn die Welt der Dichtung wird zunichte, wenn sie in die Welt der Kritik und Wirklichkeit übergeht. N u r daß jene verkehrte Auffassung, wie alle Irrtümer (sofern sie nicht, wie bei den Akademikern und Professoren, erstarren und zu mechanischen Wiederholungen von Formeln werden) ein ganzes Stück Wahrheit enthält, etwa die Notwendigkeit, gegen den wilden Ausbruch der Leidenschaft und die Zersplitterung des Gefühlskults und des Sensualismus den idealen und theoretischen Charakter der Dichtung und ihre mühselige theoretische Arbeit zu unterstreichen. Eine richtige Beobachtung, aber eine falsche Schlußfolgerung enthält der Gedanke, daß die Kritik in der Dichtung wirksam werden m u ß und wirksam ist, d a ß ohne sie Vollendung und Schönheit nicht zustande kämen; man achtet nicht darauf, daß >Kritik< in diesem Falle eine einfache Metapher ist, die, wie in anderen, schon erwähnten oder noch zu behandelnden Fällen, sich in ein Wortspiel verkehrt, wenn sie mit dem Begriff, von dem die Metapher ausgeht, verwechselt wird, hier mit der echten und eigentlichen Kritik, die in der Unterscheidung von Realem und Irrealem besteht, und so die Dichtung verblassen läßt, und, wie gezeigt wurde, ihr Ende herbeiführt. Die andere, die Kritik im metaphorischen Sinn, ist nichts anderes als die Dichtung selbst, die ihr Werk nicht vollendet ohne Selbstzucht, ohne innere Bändigung, »sibi imperiosa« (um mit H o r a z zu reden), ohne aufzunehmen, zurückzuweisen und immer neue Anläufe zu machen; dabei geht sie mit einer gewissen Verschwiegenheit (»tacito quodam senso«) vor, bis sie mit dem lautlich ausgedrückten Bild zufrieden ist; darin gleicht sie jedem menschlichen Tun, das immer einen Sinn

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d a f ü r hat, was ihm frommt und was ihm schadet. Oder bezeichnen wir etwa als ökonomische Theorie und Kritik< die Bewegungen dessen, der auf einem Stuhl hin und her rückt, bis er die richtige Position findet, und, wenn er das Problem gelöst hat, es sich schließlich bequem macht? Oder nennen wir etwa die Anstrengungen und immer neuen Mühen der Gebärenden >Kritische Theorie der Geburtshilfe*? Wir greifen zu diesem zweiten Vergleich, da man gewöhnlich gerade von den >Geburtswehen des Genies< spricht. Sicher haben die wahren Dichter keine leichte Geburt, und die Leichtigkeit, mit der alles sogleich Versgestalt annimmt, und daß »es verdrießlich ist, zu verbessern und die Bürde langer Arbeit zu tragen« (»piget corrigere et longi ferre laboris unus«), wie Ovid, nicht zu seiner Ehre, von sich bekannte, ist kein gutes Zeichen. Das soll aber nicht heißen, daß nicht eigentliche Urteile mitwirken im Verlauf oder vielmehr in den Pausen und Intervallen der dichterischen Arbeit, aber wenn es Urteile und Überlegungen sind, so taugen sie zwar dazu, theoretische Vorurteile auszuräumen, für die Dichtung aber bleiben sie unfruchtbar, da schöpferische K r a f t einzig jenem gefühlsmäßigen H i n - und Herrücken und Zurechtrücken zukommt, das keineswegs instinktiv und unbewußt ist, wie einer es definieren wollte, sondern vielmehr aktiv und bewußt, wenn auch nicht seiner selbst bewußt, und das nicht wie das Urteil der Kritik logische Unterscheidungen betrifft. Deshalb weist man die von außen kommenden unwirksamen Eingriffe der Kritik in den dichterischen Schöpfungsprozeß zurück und erinnert daran, daß demjenigen, dem »die Natur« (»natura«) das Wort der Dichtung »nicht sagen wollte« (»non volle dire«), es auch »tausend Athens und Roms« (»mille Ateni e mille Rome«) nicht sagen werden, und deshalb verwirft man andererseits die widersprüchliche Konzeption eines Genies ohne Geschmack (es sei denn, man versteht darunter ein unausgewogenes und zeitweilig erschöpftes Genie); man betont dagegen die Einheit und Identität von Genie und Geschmack. Ein anderes Motiv trug dazu bei, der falschen Beziehung von Dichtung und Philosophie den Anschein von Wahrheit zu geben, nämlich die Konzeption der Philosophie als Betrachtung der r e i n e n I d e e n , welche, von der Abstraktion in die bildliche Vorstellung übergehend, sich als Gottheiten gebärdeten und eine Art von Mythologie bildeten, subtiler als die erste, populäre, aber im Grunde nicht weniger phantastisch. Phantastisch wie es war, bekam auch dieses überirdische Reich der idealen Essenz das Aussehen einer Welt menschlicher Geschöpfe mit menschlichen Verhaltensweisen und menschlichen Bewegungen, eines neuen Olymp, dem der homerischen Götter gleichend, und deshalb schien es sich der Dichtung, wie jede andere natürliche Realität oder vielmehr, 15

in den Augen derer, die es betrachteten und erschauten, als der würdigste und höchste Gegenstand anzubieten. Aber das ernstzunehmende Denken und Philosophieren, weit entfernt von jener abstrakten oder mythologischen Betrachtungsweise, ist ein U r t e i l e n , d . h . ebenfalls ein Denken von Ideen, Kategorien und Begriffen, aber einzig im Urteilen über Fakten. Urteilen heißt Realität und Irrealität voneinander trennen. Gerade das tut die Dichtung nicht, kann sie nicht tun und sie kümmert sich auch nicht darum, selig in sich selbst. Kennt jemand eine andere Definition von Denken und Philosophieren, so möge er doch so gut sein und sie uns mitteilen, um die Grenzlinien unseres Horizonts zu korrigieren und zu erweitern, unseres Horizontes, der von jenen f ü r uns unüberwindbaren Barrieren umschlossen ist. Denn wenn man keine solche Definition gefunden hat, so steht weiterhin fest, daß das Denken nur in Form von Urteilen existiert, und d a ß das Urteil nur durch die reale und historische Existenz determiniert ist. Auch wenn die reinen Ideen oder die reinen Kategorien des Urteils gedacht werden (real und irreal, sein und nicht sein, wahr und falsch, gut und böse und so immer fort im Unterscheiden und nochmaligen Unterscheiden), so können sie nur als in den Fakten verkörpert gedacht werden, indem man Probleme, die sich historisch darum gebildet haben, stellt und löst, die an sich nichts anderes sind als das Denken, das immer Subjekt und niemals Objekt des Erkennens ist. Wenn nun das Denken keine andere Funktion hat, als die Bilder des Realen von denen des Irrealen zu scheiden, und nicht selber die Bilder herstellt, die als solche der Stoff sind, den die Phantasie und die Dichtung ihm liefern, dann besteht der prosaische Ausdruck, anders als der dichterische, nicht im Ausdruck von seelischen Regungen und Gefühlen, sondern in gedanklichen Bestimmungen, nicht in Bildern also, sondern in Symbolen oder begrifflichen Z e i c h e n . Dieses sein Wesen tritt ganz offenkundig in der Prosa der abstrakten Wissenschaft zutage, am deutlichsten in der Mathematik, und fast genauso in der Physik, der Chemie und den Klassifizierungen der N a t u r wissenschaften und genauso in den Einzelabhandlungen der Philosophen, die aus didaktischer List von den Fakten, auf die sie sich gründen, isoliert sind. Aber diese seine Eigenart ist nicht weniger wirksam und greifbar in der Prosa der Geschichtsschreibung, die einen paradigmatischen Fall darstellt, da sie der ursprüngliche Akt des Urtcilens in seiner Konkretheit und Vollständigkeit ist und sich hier die Zeichen hinter der dichten Fülle von Bildern zu verbergen scheinen, so sehr, daß die antiken Rhetoren meinten, die Geschichtsschreibung unterscheide sich ebenso von den anderen Formen der Prosa wie von der Redekunst, da »sie den Dichtern 16

ganz nahe stehe, gewissermaßen eine Dichtung in ungebundener Rede« (»próxima poetis et quodammodo carmen solutum«) und »aus so etwas wie Dichterworten« (»verbis ferme poetarum«) bestehe. Nimmt man sich eine Seite aus einem Roman vor und stellt sie einer Seite aus der Geschichtsschreibung gegenüber, so t r i f f t man jedesmal die gleichen oder ähnliche Vokabeln, eine ähnliche Syntax, ähnliche Rhythmen und Bilder an; es gibt also anscheinend gar keinen nennenswerten Unterschied. Im ersten Fall aber stehen die Bilder f ü r sich da in der intuitiven Einheit, die einer besonderen Stimmung Gestalt verliehen hat, während im zweiten Fall sich durch die Bilder ein unsichtbarer roter Faden zieht, der nur gedacht und nur denkbar ist, und eben darauf, nicht auf Intuition und Phantasie, beruht ihre Kohärenz und Einheit. Sie sehen wie Bilder aus, aber sie sind realisierte Begriffe, Zeichen der angewandten Kategorien, die sich in den Gestalten und Taten der Geschichte verkörpern und differenzieren, sich einander entgegenstellen und sich dialektisch fortentwickeln. Im ersten Fall geht eine innere Wärme vom Mittelpunkt auf alle Teile über, im zweiten Fall ist es Kälte, die jede dichterische Flamme, die auflodern könnte, löschen oder niedrig halten will und das Gewebe der Gedanken bewahren oder retten möchte, das Gewebe, dessen Fäden die kalte Rationalität aufspannt, miteinander verbindet, löst und wieder zusammenknüpft, um ihnen den beabsichtigten Zusammenhang zu geben. Auch das ist auf seine Art und Weise ein Drama, ein D r a m a des Denkens, die Dialektik; und jene Kälte ist eine geheime Glut und erscheint nur deshalb so eisig, weil sie eine ihr fremde Gefühlswärme von sich abwehrt. Irgendein Ästhetiker alter Schule, einer von denen, die Rangordnungen und Systeme der verschiedenen Künste ausklügelten, konnte sich nicht entschließen, die Dialektik aus dem Reich der Schönheit, das er gerade beschrieb, völlig zu verbannen, und wie unser Tari siedelte er sie an der »Grenze« an, »so wie die untergegangene Sonne, die am H o r i z o n t eine tröstliche Nebensonne zurückläßt, wie fahl und unbelebt sie auch sein mag« (»alla guisa di un sole che, tramontato, lascia sull' orizzonte un parelio consolatore, quantunque pallido e inanimato«). W a h r ist, daß die Seele der Prosa sich von der Seele der Dichtung unterscheidet, sie verhält sich bei ihrer Entstehung wie deren Gegenteil; anders beschaffen, entgegengesetzt, ist das Ideal, das der Prosaist verfolgt, der nicht nach der sinnlichen Fülle des Bildes strebt, sondern nach der Keuschheit des Zeichens, so sehr, daß nicht nur einmal der Wunschtraum auftauchte, jeden Prosaausdruck auf ein mathematisches Symbolzeichen zu reduzieren, und daß nicht nur Spinoza und andere Philosophen auf geometrische Art und Weise schrieben oder Formen des Kalküls erprobten, son17

d e m manche Historiker, der gewiß nicht durchschnittliche Vincenzo Cuoco beispielsweise, f ü r den historischen Bericht den Austausch der Personennamen gegen Buchstaben des Alphabets herbeiwünschten. Wir haben das als Utopie bezeichnet, da es sich hier jedesmal um Zeichen handelt, um N a m e n , Zahlen und algebraische Buchstaben, und es sinnlos und unmöglich ist, die Zeichen, die auf eine Disziplin passen, auf eine andere zu übertragen. Als Symbol oder Zeichen ist der Prosaausdruck nicht W o r t , wie andererseits die natürliche Äußerung des Gefühls nicht Wort ist; Wort im eigentlichen Sinne ist nur der dichterische Ausdruck; diese Erkenntnis vermittelt der eigentliche Sinn des alten Satzes, daß die Dichtung die »Muttersprache des Menschengeschlechts« ist, und der Sinn jenes anderen, d a ß »die Dichter vor den Philosophen da waren«. Die Dichtung ist Sprache in ihrem ursprünglichen Zustand, und als man dem Problem der Beschaffenheit der Sprache auf den Grund gehen wollte (auch in der halbmythologischen Form, in der es als Problem des historischen Ursprungs der Sprache behandelt wird, als ob es feststünde, daß sie ihren Ursprung in der Zeit habe), mußte man die oberflächlichen Theorien eine nach der anderen ausschließen, diese Theorien, die das Problem bald mit der Interjektion erklärten (Leidenschaft oder Gefühl), bald mit der Lautmalerei (Kopie oder Imitation der Dinge), bald mit der sozialen Konvention (Festsetzung von Zeichen) oder mit der Tätigkeit des reflektierenden Denkens (logische Analyse), und schließlich griff man zu dem Erklärungsprinzip, das die Dichtung darbot. So zeigte Vico »den Ursprung der Sprachen in der Dichtung«, (»dentro della poesia le origini delle lingue«), andere, wie Herder, beschrieben den Prozeß des dichterischen Schaffens, um den ersten Menschen, der das erste Wort formt, dramatisch darzustellen. Dieses Wort w a r keine gewöhnliche Wörterbuchvokabel, sondern eine in sich geschlossene Ausdruckseinheit, knospenartig und keimhaft angelegt w a r es die erste Dichtung. Man glaubte, daß die ursprüngliche, dichterische Sprache sich auflöste und auf die Stufe einer praktischen, instrumentalen Sprache absank und von wenigen Auserwählten, durch die wunderbare Leistung des Genies, von Zeit zu Zeit wiederentdeckt wurde, von einigen wenigen Auserwählten, die das glänzende Rinnsal wieder zum Hervorsprudeln und Funkeln brachten. Aber die Sprache ist niemals verdorben und hat niemals ihre dichterische Beschaffenheit verloren (das hätte gegen die N a t u r verstoßen); diese imaginäre Gebrauchssprache ist nichts anders als der Komplex der unpoetischen Ausdrucksformen, d. h. der emotionalen und prosaischen und schließlich der rhetorischen, von der wir anschließend handeln werden. Auch bei den alltäglichen Formen des Ausdrucks kann ein aufmerksamer 18

Beobachter sehen, wie entlang des lebendigen Stromes die Wörter fortwährend phantasievoll erneuert und erfunden werden und wie eine vieltönige Poesie aufblüht, ernst und erhaben, zart, anmutig und leise lächelnd. 4. Der rhetorische Ausdruck Die normale Sprachpraxis bedient sich der einzelnen Laute, um bestimmte Gemütszustände hervorzurufen; dies ist der r h e t o r i s c h e Ausdruck. Um uns an die einfachsten Formen zu halten: so wie wir die Äußerungen des Gefühls durch die Ausrufe erläutert haben, können w i r die Rhetorik mit den Imperativen erläutern, »Auf!« »Schnell!« »Los!« »Hinunter!« und ähnlichen Imperative. Aber der rhetorische Ausdruck bedient sich ihrer als Laute, nicht als Wörter, auch nicht als begrifflicher Zeichen und unterwirft und >knechtet< Wörter und Bilder nicht f ü r seine Zwecke, wie man sagt und auch weiterhin sagen kann, allerdings nur als Redensart. Davon muß man Kenntnis nehmen, denn in der alten Ästhetik und Philosophie gab es die Klasse der »unfreien Künste«, die eben gerade fremden Zwecken dienstbar waren; dazu wurden, zusammen mit denen, die seltsamerweise als »unfreie Künste der Wahrnehmung« bezeichnet wurden, also mit Dingen und Gebrauchsgegenständen wie einem Haus, einem Garten, einem Becher, einer Halskette (die eine doppelte Funktion hätten, also praktischem Gebrauch und ästhetischem Genuß dienten), auch die »nicht freien Künste der Phantasie« gezählt, die des Wortes oder der Rhetorik, welche die dichterischen Bilder zu praktischen Zwecken einspannen. Aber ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, versündigte man sich damit gegen den Geist, indem man eine gewisse Knechtschaft der Phantasie und des Denkens einräumte und philosophisch legitimierte, die doch weder geknechtet werden können noch selbst das J o c h der Knechtschaft auf sich nehmen, noch jemals ihre Stimme, ihre innere Stimme, unterdrücken können; sie können höchstens eine andere Stimme erheben, die verstellt ist und daher die wahre Stimme umso deutlicher heraushören läßt und umso heftigere Gewissensbisse hervorruft. Der rhetorische Ausdruck, der seiner innersten N a t u r nach Praxis ist, unterscheidet sich von jeder anderen Form der Praxis nur empirisch und in keinem wesentlichen Zuge. Es ist beinahe komisch zu beobachten, in welche Verlegenheit Quintilian gerät, als er ein wirkliches Unterscheidungsmerkmal f ü r die Rhetorik ausfindig zu machen versucht. E r sieht es an erster Stelle in der Rolle des »Oberredens« (»persuadere«), aber eben dabei merkt er, daß das Überreden auch mit ganz anderen Mitteln als

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mit einzelnen Lauten bewerkstelligt werden k a n n : »verum et pecunia persuadet et gratia et auctoritas dicentis et dignitas, postremo aspectus etiam ipse sine voce, quo vel recordatio meritorum cuiusque vel facies aliqua miserabilis vel formae pulchritudo sententiam dictat«, w o f ü r Hypereides ein Beispiel gibt, der den schönen Busen von Phryne entblößt, und Antonius, der das Gewand des Aquilius zerreißt und dessen ruhmvolle Wunden aufdeckt. Aber auch das zusätzliche Attribut des Überredens »durch Worte« (»verbis«) stellt ihn nicht zufrieden, denn »persuadent dicendo . . . . , vel ducunt in id quod volunt, alii quoque, ut meretrices, adulatores, corruptores«: eine dem strengen und würdigen Rhetoriker wenig angenehme Gesellschaft. Und, um die Wahrheit zu sagen, es gelingt nicht einmal, aus inneren Gründen das Überreden mit Worten und Gesten von der Einwirkung auf den Willen anderer durch Fakten zu unterscheiden. Die beiden Göttinnen, die Themistokles, wie er sagte, um sich hatte, um zu erreichen, daß die Männer von Andros den Tribut bezahlten, Peitho und Anagkeia, die Überredung und die Notwendigkeit, waren im Grunde nur eine einzige, die mit Worten oder mit Taten darauf angewiesen war, den A n d r e m einen bestimmten Gemütszustand zu suggerieren und niemals ihre Überzeugung und ihren Willen gewaltsam zu ändern: ein A k t der Freiheit, den jeder in Freiheit vollzieht. Schließlich muß auch die Absicht selber, Willensakte vorzubereiten und auszulösen, geopfert werden, da sie das Gebiet der Rhetorik willkürlich einschränkt, deren Aufgabe es ist, bestimmte Gemütszustände hervorzurufen, wie sich in der folgenden und in späteren Betrachtungen erweisen wird. Denn die antiken Rhetoren machten außer dem Überreden auch das »docere« und »delectare« z u r Aufgabe des Redners, und obwohl dieses »docere« kein echtes, theoretisches »docere« w a r , sondern ein »persuadere« von gewissen Ansichten, und obwohl das »delectare« meistens in ähnlicher Weise untergeordnet wurde, wurde es manchmal auch als f ü r sich stehend und in seinen Zielen unabhängig betrachtet. So muß korrekterweise auch ein zweiter Bereich begriffen werden und als ein spezieller p r a k tischer Bereich neben den anderen, der ausschließlich Willensakte herbeiführen will, gestellt werden: ein praktischer Bereich der, genauer definiert, sich damit beschäftigt, z u r U n t e r h a l t u n g bestimmte G e f ü h l s r e g u n g e n z u w e c k e n , jederlei Gefühle, nicht nur die angenehmen, da das Vergnügen eben daher rührt, d a ß sie alle z u m Zweck der Unterhaltung hervorgerufen werden. Diese Praxis entspricht einem Bedürfnis des menschlichen Geistes, der niemals untätig gleiben kann; er, nicht die N a t u r , schreckt immer vor dem Vakuum zurück; wenn der Mensch also in einer Arbeit nicht fortfahren will oder f o r t f a h 20

ren kann, so stürzt er sich gleich auf eine andere Arbeit, die sich ihm anbietet oder ihm angenehmer vorkommt, oder er phantasiert herum, um sich sozusagen menschlich elastisch zu erhalten, und läßt die verschiedensten Situationen des Lebens an sich vorbeiziehen, die von entsprechenden Gefühlen begleitet werden; - auch sie sind Phantasieprodukte, da sie der Phantasie entspringen und nicht der Tat und der Realität. Da die Erregung als solche genossen wird und nicht wegen ihres besonderen Gegenstandes, unterscheidet sich der Vorgang der Unterhaltung vom Genuß der Einbildungskraft und anderenteils vom S p i e l , mit dem er o f t verwechselt wurde (Kunst und Dichtung sind dann freventlich mit dem Spiel verwechselt worden!), denn das Spiel ist ein allgemeiner Begriff und bezieht sich nicht auf ein besonderes Tun, sondern gerade auf den Übergang von einem Tun zum anderen und von einer Beschäftigung zur anderen, um den Überdruß loszuwerden, den die vorhergehende verursachte. Das merkt man daran, daß die arbeitsamen Menschen ihre Spiele immer so wählen, daß sie einen gewissen N u t z w e r t haben. Sie tun bis zu einem gewissen Grade das, was der fleißige Muratori in vollem U m f a n g tat, als er sich selber in einem Sonett die Vorschrift machte: »Non la quiete, ma il mutar fatica-alla fatica ristoro«*. Was man auch sagen mag, das Bedürfnis nach Unterhaltung, hedonistisch, utilitaristisch oder ökonomisch ausgerichtet, ist ein wirkliches Bedürfnis; das Gewissen hat nichts dagegen einzuwenden. Es macht seine Vorwürfe nur geltend, wenn die Unterhaltung, an sich eine notwendige Entspannung, zu einer Zeitvergeudung und zu der Angewohnheit wird, die Zeit totzuschlagen; was in anderer Weise geschehen kann, wenn man die mühsamere Arbeit mit der weniger mühsamen vertauscht und dieser Wechsel eine wichtige Pflicht verletzt. Die Erweiterung der Rhetorik - gewiß ist neben dem Ziel, zu überreden, auch das andere, zu unterhalten, miteinzubeziehen — bringt neben den Gerichts- und Volksrednern diejenigen auf den Plan, die zur Unterhaltung Gefühle wecken, angefangen mit den ernstesten und tragischsten bis zu den unbeschwertesten und heitersten, Gefühle aller Art, von den heiligsten bis zu den profansten, von den erhabensten bis zu den niedrigsten, von den gesunden bis zu den k r a n k h a f t e n oder geradezu ausschweifenden und wollüstigen: Dramaturgen, Romanschriftsteller, Schauspieler, Mimen, Filmdiven, Possenreißer, Spaßmacher, Seilspringer, Seiltänzer, Athleten, Stierkämpfer, eine ziemlich gemischte Gesellschaft, sicherlich nicht schlimmer einzuschätzen als die der Maitressen und der Kuppler, die der gute Quintilian sich mit logischen Argumenten nicht vom Halse schaffen konnte. Gesellschaft und Konkurrenz, weil nicht selten die Nicht-Schriftsteller unter diesen Demiurgen des Gefühls die 21

Schriftsteller besiegten, was Terenz am eigenen Leib erfahren mußte; dreimal - einmal wegen der Seiltänzer, das andere Mal wegen der Faustkämpfer, das dritte Mal wegen der Gladiatoren - sah er die Menge aus dem Theater strömen, wo seine schöne Komödie Hecyra rezitiert wurde. Das zeigt, daß der Sieg, den der allmächtige >Sport< in dem Wettstreit mit den bildenden Künsten und der Literatur davonträgt und der überall in der Welt diejenigen vergrämt, die an andere Formen der Hierarchie gewöhnt waren, sich mit den Erinnerungen an ähnliche Triumphe vergangener Jahrhunderte schmücken könnte (wenn er es verstünde, an seinen historischen Ruhm anzuknüpfen). Die beiden einander entgegengesetzten Einstellungen, Mißtrauen und Widerwillen einerseits, Faszination andererseits, die man bei Dichtern und Literaten dem Theater gegenüber beobachten kann, rühren von der Angst her, von einer unpoetischen, antiliterarischen, taschenspielerischen Macht überfahren zu werden, und sie rühren auch von dem Wunsch her, auch auf diesem Feld den Sieg davonzutragen, d. h. der Dichtung und der Literatur zum Sieg zu verhelfen. Billigerweise bestanden die Rhetoren der Antike darauf, daß man die rhetorische Kunst nicht »nach dem Erfolg« (»ab eventu«) bemessen dürfe, d. h. danach, ob sie im jeweiligen Fall das angestrebte Ziel, nämlich zu überzeugen, erreicht hatte, genauso wie Ärzte (so sagten sie) nach ihrer Geschicklichkeit beurteilt werden und nicht danach, ob der Kranke genest oder stirbt. Auch unterhaltende Werke werden ausschließlich nach der Art beurteilt, wie sie über die dementsprechenden Mittel verfügen, und nicht nach dem Erfolg; vorausgesetzt, daß das Werk richtig angelegt ist, liegt die Schuld nicht am Autor, wenn der Zuhörer ungerührt bleibt oder sich langweilt oder wenn er, statt sich einfach zu amüsieren, von diesen phantastischen Gefühlsregungen zu anderen, praktischen übergeht, z.B. einen Schauspieler, der eine widerliche Rolle verkörpert, mit Steinen bewirft, was gar nicht selten in Volkstheatern passiert ist und was übrigens auch Don Quijote tat und damit sein edles Ungestüm bewies. Aber die Kunst der Rhetorik ist auf der ganzen Linie praktischer, nicht etwa ästhetischer N a t u r ; sie richtet sich eben deshalb nach der Eigenart der Personen, auf die sie einwirken muß. Der Redner, der sich an die sogenannten >Massen< wendet (früher hießen sie >plebiVersenGewand< ist. Ein solches Gewand ist das ciceronianische »in ipsa oratione quasi quemdam numerum versumque conficere«, das »dicere explicate, abundanter, illuminate, id est ornate«, und als »ornatus« oder »κόσμος« wurde die literarische, die »elegante« Form definiert; letzteres Adjektiv ist eben30

so typisch f ü r sie, wie es der dichterischen Form fremd ist. Aber da der »ornatus« nur eines der Elemente war, aus denen sie sich zusammensetzte und selbständig seine Grenzen überschreiten und zum ausschließlichen Kennzeichen der Literatur werden konnte, damit den stillschweigenden Kompromiß verletzte und die Verteilung der Akzente änderte, stellte sich ihm mäßigend das Prinzip des >aptum< oder des >πρέπον< zur Seite, d. h. die Berücksichtigung des Inhalts. Ihn mußte man immer im Auge behalten und erforschen, was ihm angemessen war. Wenn das nicht beachtet wird, so verfällt der Ausdruck in eine der vielen anderen Künsteleien: Preziosität, Pedanterie, Schwulst, Affektiertheit, wie er anderenteils in eine primitive Rohheit verfällt, wenn er den O r n a t außer acht läßt. N u r wenn man diese beiden Klippen umschifft, bringt man es fertig, nicht-dichterischen oder realistischen Ausdrucksformen das Tor zu öffnen, ohne das ästhetische Bewußtsein zu verletzen, und ästhetisches Wohlgefallen zu erwecken. Ein bestimmter Autor widerlegte in seinen ersten Forschungen und Polemiken im Bereich der Ästhetik die Vorstellung von der Form als einer »Hülle« der Schönheit als »Ornat«, der zum »nackten« Ausdruck hinzutritt, und verbannte sie aus ihrem Umkreis; zum Beweis dieser Absurdität wies er auf die dualistische Notlösung des »Passenden« hin, eines Hilfsmittels, das nicht aus der Form selber stammt. Und sicher hatte er darin völlig recht, daß dieses Konzept einer praktischen Kombination, die zwei verschiedenen Erfordernissen Genüge tat, von den Verfassern von Rhetoriken und Poetiken, von Ästhetikern und Kritikern ungeschickterweise auf das Konzept der poetischen Form übertragen wurde und damit gegen ihre N a t u r verstieß und ihr Gewalt antat. Aber in seinem noch jugendlichen Radikalismus fragte er sich damals nicht, ob das, was sich in der Dichtung nicht miteinander vertrug, anderswo nicht durchaus zusammengehen könne: diesen O r t mußte es geben, sonst wäre der Irrtum selbst nicht entstanden, denn ein I r r t u m besteht ausschließlich aus der Übertragung einer Kategorie von Begriffen auf eine andere. Er korrigierte seinen jugendlichen Radikalismus, so wie er überhaupt in all seinen Studien und im Leben selbst glücklich zu Werke ging, und hat daher auch jenen O r t gefunden, keinen anderen als die literarische AusdrucksformSchönheit< modifiziert. Es ist nicht mehr die Göttin, von der eine sanft berückende und doch auch schmerzliche Wirkung ausgeht, gemäß der Definition, die Euripides von der Liebe gab, sondern vielmehr eine freundliche und würdevolle Gestalt, die das Ungestüm der anderen besänftigt, d ä m p f t und es mit ihrer ruhigen und harmonischen 31

Stimme interpretiert. Es ändert sich auch die Konzeption der Kunst, die nicht mehr mit der dichterischen Formung des Ausdrucks identisch ist, sondern sich als Formung des literarischen Ausdrucks von dieser unterscheidet, weshalb manchmal >Kunst< und >Dichtung< zueinander in Opposition stehen. Es ändert sich auch die Konzeption des Geschmacks: er ist nicht mehr das Bewußtsein von der Dichtung, das sich herausbildet und zu dem besser als zu anderen die f ü r die Praxis notwendigen Attribute >Vernunft< und >Vernünftigkeit< passen und das sich >Geschmack< nennt, aber auch, eng auf die Praxis bezogen, >Takt< heißen kann; übrigens tauchte der Begriff des Geschmacks mit diesem Schwanken zwischen dichterischer und praktischer Fähigkeit zum ersten M a l in Form einer Doktrin im 17. Jahrhundert auf, bei den italienischen Kritikern und dem Spanier Gracián. Der »genio« modifiziert sich und legt sich einen anderen Namen mit derselben Etymologie zu, »ingenium« oder »ingegno« (Talent), der auch direkter das praktische Hervorbringen suggeriert. Man fordert nicht mehr jene Selbstvergessenheit, die Hingabe an das Universale, die der Dichtung so lieb, ihr untrügliches Siegel war, man empfiehlt im Gegenteil, das aufgestellte Ziel immer klar im Auge zu behalten und niemals die Menschen zu vergessen, an die sich das Wort richtet, und niemals die jeweilige Zuhörerschaft außer acht zu lassen. Der >heilige Furorgöttliche Raserei< und >Inspiration< des Genies sind der Literatur fremd, sie würden ihr auch nicht zustatten kommen. Fremd ist ihr aber nicht jene andere Inspiration, nämlich die Sorge um die Dinge, die gesagt werden sollen, die Liebe zum Gedanken, zur Tat, zum Gefühl, das uns durchdringt; auch sie erfordert Wärme und Unmittelbarkeit, schriftstellerisches Talent. Wie sehr sie sich auch, im Gegensatz zur Dichtung, mit der Praxis verträgt, sie wird doch niemals zum Beruf, denn wenn ihr Uberzeugung und Aufrichtigkeit verlorengehen, dann wird sie zu schlechter Literatur; die gewerbsmäßigen Literaten werden mehr oder weniger gut bezahlt, aber immer verachtet. Diese Überzeugung von den Dingen, die man sagen will, die das Gemüt ergreift, schlägt sich im >Stil< nieder: ein eigentlich eher literarischer Begriff, denn in der Literatur gibt es ebensoviele Stilarten wie Individuen und Dinge (daher der Streit, ob der Stil der >Mensch< sei oder der G e genstand^. In der Dichtung, so vielfältig sie auch sei, gibt es nur einen Stil: den ewigen und unverkennbaren T o n f a l l der Dichtung, der in den verschiedensten Stoffen zu den verschiedensten Zeiten und an den verschiedensten Orten vernehmbar ist. Einen Schimmer von Begabung für Literatur oder Beredsamkeit hatte auch Kant, er sagte, daß sie »die Kunst« (ist), »ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben«, eine übrigens

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unzureichende Definition, verschlechtert noch durch die anschließende, analoge und antithetische Definition der Dichtung: »Spiel der Einbildungskraft, das als ein Geschäft des Verstandes ausgeführt wird«. Direkter hat Baumgarten die »repraesentationes oratoriae« als »imperfectae« bezeichnet, verglichen mit der Dichtung, welche die »repraesentatio perfecta« ist. Er entwickelte aber nicht die positiven Kriterien, die die negative Charakteristik der Unvollkommenheit in sich barg, noch die Grenzen, die den literarischen Ausdrucksformen mit dem realistischen Motiv gesetzt sind, welches sie begrenzt und damit auch selbst begrenzt wird. Eine gegenseitige Begrenzung und Untrennbarkeit der beiden Momente verhindert es, jemals die literarische Form herauszulösen und als Dichtung zu genießen, da diese Form in jedem Wort, in jeder Formulierung, in jedem Rhythmus, in jeder Betonung die Gegenwart des realistischen Motivs verrät und ihre Berechtigung in dieser Beziehung besteht. Man lese nur wieder einmal die Stelle bei Cicero (in der zweiten Verrina), wo er mit großer Gebärde darlegt, wieviel Gedanken, Gefühle, Erinnerungen und H o f f n u n g e n die Bürger des alten und ruhmreichen Segesta in die künstlerisch vollkommene Statue der Diana hineinlegten, die damals in der Stadt aufgestellt war. Die siegreichen Karthager hatten sie früher einmal nach Karthago gebracht, sie wurde ihnen aber dann, zu ihrer großen Freude, wieder zurückgegeben, dank des Sieges, den Scipio errungen hatte; sie wurde auf einen hohen Sockel gestellt, die jungfräuliche Göttin, die Pfeile über der Schulter, den Bogen in der Linken und in der Rechten eine Fackel. Man lese noch einmal die Schilderung des lauten Wehklagens und Weinens, als Verres sie ihnen raubte: das würde den Stoff f ü r eine schöne Ballade im Stil von Platen hergeben. Cicero aber schrieb diese Ballade nicht, und diese Stelle trägt völlig den Stempel des anklagenden Advokaten, der ihr Autor war. Man lese bei dem gleichen Cicero die andere berühmte Stelle (in Pro Archia), wo er mit bewegten Worten den unvergleichlichen Nutzen des Studiums und die Unterhaltung preist, die es uns stets verschafft: eine fast lyrisch bewegte Stelle, aber doch keine Lyrik. Wie sehr sich eine Sprache auch aufschwingen mag, sie gleicht doch dem Vögelchen der Goethischen Ode, das, nachdem der Faden abgerissen ist, über die Lande fliegt, aber es ist nicht das von früher, denn es trägt ein Stückchen Faden an seinem Fuß, ein Zeichen, daß es jemandem gehört. Von sehr schönen literarischen und philosophischen Büchern und von autobiographischen Konfessionen sagt man: »Das liest sich wie ein Roman«, »es ist wie ein Gedicht«, »ergreift wie ein Drama«, aber das sind emphatische Formulierungen, die durch den Zusatz »wie« und »als ob« abgeschwächt und auf das rechte Maß gebracht werden. 33

Wie die Rhetorik, so w u r d e und wird die Literatur noch heute von manchen abgelehnt; besonders von manchen Menschen der Praxis, die ihre Ziele ohne Umschweife verfolgen oder von jeder Rücksichtnahme auf ästhetische Erfordernisse oder von den »Stilblüten«, wie es verächtlich heißt, gering denken. Solche, die die Literatur ablehnen, gibt es auch bei den leiderfüllten Menschen, bei den Verliebten oder bei sonst von der Leidenschaft gepackten und umgetriebenen Menschen, die nicht aus dem Engpaß ihrer Leidenschaft herausfinden können und zuweilen glauben, sie entweihten ihre Aufrichtigkeit, wenn sie sich, um ihr Ausdruck zu geben, dabei aufhalten würden, nach schönen Worten zu suchen, und schließlich gehören zu den Verleugnern der Literatur die Denker und Wissenschaftler, jene rauhen und ungeselligen Feinde der Grazien. Andere Leser wieder ziehen außerliterarische Ausdrucksformen den literarischen vor, sie geben also der verkrampften Rhetorik, der ungeordneten Ausdrucksweise, dem wissenschaftlichen Entwurf und einem Werk ohne literarische Reize den Vorzug, denn hier finden sie leichter Zugang zur erlebten Wirklichkeit; aber sie gehören zu der G r u p p e derer, die auf der Suche nach dem historischen Dokument sind und f ü r die verständlicherweise die Hülle der literarischen Form nur ein klares Erkennen verhindert. Diese Freude am literarischen Dokument ist zuweilen so beschaffen, daß man sie mit ästhetischem Wohlgefallen verwechselt und in ihren Mischungen mit diesem kaum davon unterscheidet: man bewundert gewöhnlich die Autobiographie des Cellini, und schließlich bewundert man nicht nur die Genialität dieses künstlerischen Geistes in allen Phasen seines lebendigen Berichts, sondern auch die mißlungenen literarischen Perioden, in die er sich verwickelte und aus denen er sich befreit hätte, wenn er eine bessere literarische Ausbildung genossen hätte. Sicher tat Varchi sehr gut daran, wenn er an diese Schrift nicht H a n d anlegen wollte, aber einzig deshalb, weil bei einer Arbeit zu zweit, bei zwei so verschiedenen Köpfen, die Inkorrektheiten beseitigt worden wären und dem Mittelmäßigen und Farblosen Platz gemacht hätten und nicht etwa, weil eine feinere Ausarbeitung nicht wünschenswert gewesen wäre. Wie dem auch sei, die Literatur verteidigt sich aus eigener K r a f t , eben aufgrund der Tatsache, daß sie in der ziviliserten Welt weiterhin gepflegt w i r d ; in unserer europäischen Welt ist die Tradition, seitdem Korax, Teisias und Gorgias, die aus Großgriechenland stammten, literarische Schulen aufmachten und damit begannen, die Literatur in Vorschriften und Lehrsätze zu fassen, niemals abgebrochen, nicht einmal im Mittelalter, das sich in seinen wenigen Kulturzentren wesentlich mehr der Literatur und der Rhetorik als der Dichtung annahm. Bis dann schließlich der Humanismus der Renaissance und der Nach34

renaissance kam, die großen Epochen der Literatur und der Literaten. Auch in den letzten Jahrhunderten bleibt der Wert des literarischen Schmucks unangetastet und tut seine Wirkung, wenn auch nicht in sehr großem U m f a n g ; er trägt, so gut er eben kann, dazu bei, die Formen der Kultur zu erhalten - trotz Rationalismus und Aufklärung, die Dinge, nicht Worte forderten, trotz der Romantik, die Seufzer und Schreie und Raserei, keine gewählte und zuchtvolle Ausdrucksweise forderte und die deshalb die Bezeichnung >Rhetorik< selbst in Verruf brachte, und trotz der geringen Feinfühligkeit und Urbanität unserer näheren Vergangenheit hat der literarische Schmuck seine Wirksamkeit, wenn auch nicht in großem Umfang, und trägt, so gut er kann, seinen Teil dazu bei, die Formen der Kultur zu bewahren. Aber zu ihren Gegnern zählt nicht die Dichtung, der sie sich als Freundin von kleinerer Statur an die Seite stellte. Sie reicht ihr nicht einmal bis zum Kopf und versucht sich auch nicht zu strecken, denn wenn sie mit ihr wetteifern wollte, würde sie ihren eigenen Tod besiegeln. Welche andere Nachbarschaft paßt besser zu ihr als sie? G a n z von selbst hat man in denselben Büchern unter dem Namen »Kunst des Schreibens« oder »Literarischer Grundriß« die Theorie der Dichtung zusammen mit derjenigen der Literatur behandelt, unter dem Namen »Geschichte der Literatur« oder »Geschichte der Dichtung und Literatur« sie miteinander verknüpft und ihrer beider Geschichte erzählt. Aristoteles bemerkte das Fehlen einer gemeinsamen Bezeichnung f ü r beide; aber dieser N a m e kann niemals gefunden werden, da Dichtung und Literatur wohl einander berühren, aber doch zwei verschiedene Dinge bleiben.

7. Die Gebiete der Literatur Entsprechend ihrer Entstehung, die w i r erörtert haben, lassen sich die literarischen Werke in vier Klassen einteilen, deren erste die l i t e r a r i s c h e G e s t a l t u n g d e s G e f ü h l s ist. Diese vollzieht sich dank der Vermittlung der Reflexion, die ein bestimmtes G e f ü h l von der Phantasie ablöst, die es einst einhüllte und idealisierte und es in seiner Wirklichkeit wiederherstellt, einer Wirklichkeit, die in der Erinnerung weiterleben will, so wie sie sich in ihrer eigentlichen und individuellen Physiognomie darbietet, und daher ein realistisches Bild davon entwerfen will. Mit diesem Entschluß steht man außerhalb des unmittelbaren Gefühls, außerhalb der trunkenen Freude, der Wollust des Weinens und dem sanften Genuß des Seufzens, an denen den sensiblen und sentimentalen Gemütern so viel gelegen ist, denn der Übergang zur künstlerischen Arbeit des literarischen Ausdrucks ist vollzogen. Wenn nämlich ein wi3Í

derstrebender Rest unmittelbaren und ungebändigten Ausdrucks darin zurückbleibt oder wenn die Literatur irgendeine praktische Verbindung eingeht, um die eigene Wirkung zu erhöhen, dank den Heucheleien und der halb unbewußten Vorgaukelei, die man bei den offenen und mehr oder weniger öffentlichen Kundgebungen des Gefühls zu bemerken pflegt, so wird das vom Verstand sofort als unziemlich und häßlich angemerkt, wie ein Fleck oder ein bunter H a u f e n von Flecken, die man nachträglich aus dem Bereich des literarischen Ausdrucks entfernen muß. Es gibt berühmte Schriftsteller, wie Byron, Lamartine, De Musset (um nur an einige Namen zu erinnern), deren Werk großenteils zu dieser Ausdrucksform des literarischen Ergusses gehört, in der die Männer sich nicht so leicht tun wie die Frauen, die vielleicht nichts anderes haben, woran sie sich mit genialer K r a f t bewähren können; das gilt in einem solchen Maße, daß die einzige Frau, die im Altertum in den Olymp der Dichtung aufstieg, als männlich bezeichnet wurde: »mascula Sappho«. Wie Sainte-Beuve von der Desbordes-Valmore schrieb, können die Frauen »ihr Leid in Melodien kleiden« (»envelopper de mélodies leur souffrance«); auch eine Frau von scharfem und durchdringendem Verstand, wie Mme de Staël, beschäftigte sich nur mit dem Auf und Ab ihrer Gefühle und persönlichen Angelegenheiten. So ist ihrem Wesen nach die ganze äußerst reiche Literatur des Lyrismus (des >LyrismusLyrikmatière de France< und die >matière de Bretagne«, wie man sie bezeichnen könnte, die 38

als epische Gedichte, Novellen, Dramen, Melodramen, Siegeslieder, Sirventesen, Sonette, Canzonen, Madrigale, Eklogen, Idyllen, Oden, kleine anakreontische Oden und in anderen, noch kleineren Formen auftreten und Vers- und Prosabücher füllen, die den Druckereien täglich Arbeit liefern. In Form von Lektüre und von Rezitationen im Theater füllen sie die Freizeit der Leute aus, wie sie einst die Mußestunden der Bürger Griechenlands und Roms ausfüllten, die Mußestunden der ritterlichen und feudalen Gesellschaft, des einfachen Volks in den Stadtrepubliken, der Edelleute an den Höfen und der arbeitsamen Bürger, die Mußestunden der Damen und edlen Fräuleins und der willenlosen Schachfiguren, die es zu allen Zeiten der Geschichte gibt, die alle daran ihre Freude haben und denen es zu verdanken ist, daß sie den Namen >Unterhaltungsliteratur< bekommen hat. Neben den literarisch geschmacklosen Werken oder im Gegensatz zu ihnen stehen die wohlanständigen Werke (die geschmacklosen Werke sind allerdings als Unterhaltung für eine gewisse Leserschicht wirksam oder sogar äußerst wirksam, wie schon erwähnt wurde) - den Liebesromanen von Georges Ohnet stehen beispielsweise diejenigen von Jules Sandeau und Octave Feuillet gegenüber - und die gefälligen und rührenden Werke, die eine gewisse Grazie und stilistische K r a f t erreichen, was bei manchen Novellen Edgar Poes für die Kriminalgeschichten z u t r i f f t . Auch die ihrer Bestimmung nach vollkommenen Werke entfernen sich indessen von der Dichtung, denn anders als sie, die Individualität und Universalität in einem ist, tendieren sie zu der typischen Form der jeweiligen Gefühlsregung, so daß ihre Tragödien (aber nicht etwa die von Sophokles und Shakespeare) sich innerhalb von Typen der Tragik, ihre Romane innerhalb von »Romantypen«, ihre Komödien innerhalb von Typen der Komik oder geradezu im Rahmen der >Masken< der commedia dell'arte bewegen. In diesem Bereich, nicht in dem der Dichtung, haben gewisse Dispute Bedeutung, bei denen es um die Frage geht, ob man im D r a m a und im Roman so verfahren müsse, daß die Tugend über das Laster siege und von einem günstigen Geschick und der göttlichen Gerechtigkeit dafür belohnt werde, oder ob Drama und Roman nur dann gut ausgehen, wenn sie in die Fröhlichkeit des »guten Endes« einmünden. Diejenigen, welche die Erregung des Gefühls als solche lieben, als Erregung jeglicher Art und jeglicher Stärke, unterscheiden sich von jenen, die in diese Unterhaltung das andersgeartete, hedonistische und eudämonistische Bedürfnis eines vorgestellten Wohlgefallens einführen und das moralische und gute Ende wollen; um nicht, verstimmt durch den unharmonischen Ausgang, nach Hause zu gehen und Gefahr zu laufen, schlecht zu schlafen, machen oder machten sie es

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der Theaterpraxis zur Auflage, der Tragödie, die nur zum Weinen war, eine Farce folgen zu lassen, wo es nur zu lachen gab. All das kann man ziemlich leicht begreifen und begreiflich machen; etwas schwieriger hingegen ist der Prozeß, der sich in der letzten der vier Klassen literarischer Werke abspielt, der lehrhaften Literatur. Hier nämlich begleitet und beeinflußt die Literatur Denken und Wissenschaft, die, wie wir gezeigt haben, sich in Zeichen oder Bildzeichen ausdrücken. Wie kommt es nun, daß die strenge Wissenschaft nicht ganz für sich bleibt, um allein mit diesen Zeichen zu operieren, wie kommt sie dazu, mit der Literatur gemeinsame Sache zu machen? Es gibt in der Tat Wissenschaftler und Philosophen, die das nicht zulassen und sich dagegen mit aller Gewalt zur Wehr setzen; wenn sie dennoch etwas aus der Literatur übernehmen müssen, dann ist es so wenig wie möglich, kaum sichtbar und dem Anschein nach nichts: >mönchische< Philosophen, die je nach ihrer Situation und ihrem Temperament bald bewundert, bald bemitleidet oder verlacht werden. Aber es gibt andere, die sich in Richtung auf Literatur bewegen, und sie, nicht etwa die ersteren, finden sowohl in die Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft Eingang als auch in die Literaturgeschichte und spielen dort oft eine große Rolle. Wie können sie sie, wenn sie sich auch ihr annähern, denn erreichen mit ihren Bildzeichen, Ausdrucksformen, die dem Denken zukommen? Das wird einem klar, wenn man beachtet, daß der Denker nicht abstrakt denkt, sondern ein Mensch ist, der in die Mühsal des Denkens alles hineinlegt, mit seinem ganzen Gefühl dabei ist, denkt, h o f f t , verzweifelt, ermattet, sich wieder a u f r a f f t und einen Triumphschrei ausstößt, auch ohne wie Archimedes nachts durch die Straßen von Syrakus zu laufen; ein solches Drama eines Menschen, in dem sich das D r a m a seines Denkens abspielt, ist gewiß ein literarischer Stoff. Aber er empfindet nicht nur: da er mit sich selbst und mit anderen Menschen zusammenlebt, ist er darauf bedacht, auf sein eigenes Gemüt und auf dasjenige der anderen einzuwirken, um den Zugang zu seinem eigenen Denken zu eröffnen und offen zu halten. Daher bekämpft er Vorurteile, belebt die Erfindungsgabe, ermahnt, reißt mit und hält beißende Spottreden; all das ist auch Stoff der Literatur, soweit sie rhetorisch ausgerichtet ist. So erwächst aus dem Philosophen, Historiker und Wissenschaftler der S c h r i f t s t e l l e r : der Schriftsteller, der zu seiner Zeit und zu seinem Volk und auch zu denen spricht, für die diese Zeit längst vergangen sein wird, er spricht auch zu den Völkern verschiedener Zunge, die darauf bedacht sein müssen, sich die nötigen Mittel zu verschaffen, um seine Texte zu lesen, der Schriftsteller, der in der Antike Piaton und Cicero, Thukydides und Livius hieß; in neuerer Zeit Francesco Petrarca und Erasmus von 40

Rotterdam, die dem scholastischen Jargon ein Ende machten und in humanistischem Stil von Moral und Religion handelten, und Galilei, der seine großen Entdeckungen in vornehmer literarischer Prosa und in raffinierten dialogischen Streitgesprächen darstellte, Voltaire, der mit seinen geschmeidigen Perioden und seiner charmanten Boshaftigkeit abergläubischen Vorstellungen den Kampf ansagte und das Licht der Vernunft über die ganze Welt verbreitete. Jedermann weiß, mit welchem Recht Frankreichs literarische Prosa so gerühmt wird - Frankreich, das Land der mittelalterlichen Scholastik, in neuerer Zeit das Land des mathematischen Rationalismus: andere Völker, die lange darunter litten, daß ihnen eine literarische Prosa fehlte, die Deutschen beispielsweise, stießen einen lauten Seufzer der Genugtuung aus und klatschten Applaus, als Lessing in Erscheinung trat. Man kümmerte sich nicht um die Verachtung, welche die Denker weiterhin f ü r die >Literatur< bekunden, da sie darunter gewöhnlich die aufgeputzte und häßliche Literatur verstehen oder manchmal auch die traumhafte Dichtung. Jean Calvin konnte wohl ungerecht sein gegenüber der Literatur, wenn er sagte, die Sprache sei dem Menschen nicht gegeben »pour faire rêver les auditeurs et pour les laisser en tel état«; er setzte aber hinzu, er schreibe gerne »avec rondeur et naïveté«, was tatsächlich zutraf; und so wurde er wirklich einer der Schöpfer der literarischen Prosa in Frankreich. Wie die anderen Formen der Literatur ist die didaktische Literatur nicht nur in der sogenannten Prosa oder »oratio soluta« geschrieben; sie durchläuft alle ihre Abstufungen, von den Werken für die kleine elitäre Gruppe der Philosophen und Wissenschaftler bis zu den »populärwissenschaftlichem Werken, bis hin zur Literatur für Frauen und Knaben aus gutem Hause (da gab es Geometrie- und Physikbücher f ü r Damen, galante kleine Philosophiebüchlein und die verschiedensten Gianetti*), sie findet sich aber auch in den Romanen (historischen, sozialen, wissenschaftlichen, philosophischen), in Komödien und anderen Dramen, in Lehrfabeln und Epigrammen und in den gereimten Deskriptionen epischer Gedichte, die wirklich >lehrhaft< und nicht poetisch sind.

8. >L'art pour l'art< Die dichterische Ausdrucksform, die der literarischen Ausdrucksform Platz gemacht hat, die mit den außerdichterischen Formen eine besondere, praktische Verbindung einging, kann anderenteils unmittelbar zu einem Gegenstand der Liebe und des Liebeskultes werden und nicht mehr als Ausdruck behandelt werden, sondern als etwas, das man um seiner 41

selbst willen sucht und damit, wie man sagt, Γ a r t p o u r Γ a r t schafft. Wie jeder Liebe liegt auch ihr die Realität eines Bedürfnisses zugrunde, hier das Bedürfnis nach dichterischem Ausdruck; aber wie jede Liebe geht sie über die Befriedigung hinaus, auch ohne sie und ihr zuwiderlaufend. So liebt man Pferde, Hunde, Waffen und Bücher, ohne daß man Pferde reitet, zur Jagd geht, in der Schlacht zu den W a f f e n greift, Bücher liest — im Gegenteil, man will nichts davon tun - , so liebt der Habgierige das gleißende Gold, das zu allen Annehmlichkeiten Zugang verschafft, ohne auch nur daran zu denken, es in Vergnügen umzusetzen; so werden Frauen geliebt, die man keineswegs besitzen will, da man fühlt, daß damit das Beste der Liebe oder sogar die ganze Liebe verlorenginge und der Zauberbann gebrochen würde. Gewiß, auch die Liebe entspricht in ihrer Ausweitung einem Bedürfnis, dem Bedürfnis nach einer idealen Zuflucht, wo man die höchste Wonne erreicht und wunschlos glücklich ist, die ruhige Wonne der Glückseligkeit. Und da das Leben sich in Wünschen verzehrt, in Wünschen, die einander jagen, da es aus unaufhörlicher Arbeit und nicht aus Ruhe besteht und damit mit jeder Regung die Seligkeit negiert, ist dieses Gefühl wollüstiger Hingabe zugleich ein Gefühl der Auflösung und des Todes: daher die Verbindung von Liebe und Tod und die Verse eines Dichters, der, als die erste Liebe in ihm aufkeimt, »languido e stanco insiem con esso in petto - un desiderio di morir si sente«*. Und doch wird dieser Traum immer wieder geträumt; auch er ist ein Teil im Gewebe des Lebens, ein notwendiges Moment; die wahre Qual, die Höllenqual, ist der Tod der Liebe, die Dürre des Herzens, von der die Verse eines anderen, weitaus geringeren Dichters reden, die diesen trostlosen Zustand beklagen: »Ahi, grave, amanti, è la sventura mia: pietà di me, non amo!«* In scherzhaftem Ton, aber durchaus ernst gemeint, gestand Lawrence Sterne, er habe immer eine Dulcinea im K o p f , da er auf diese Weise »harmonisch werde«; er sei immer verliebt gewesen »bald in diese Prinzessin, bald in jene« und er hoffe, so zu leben, bis er seine Seele Gott anempfehlen werde. Aber wir wollen uns nicht weiter über die Theorie der Liebe auslassen und bei der Liebe zum dichterischen Ausdruck verweilen. Wie jede Liebe sucht sie die Gegenwart des geliebten Wesens und den Kontakt mit ihm und macht aus diesen Ausdrucksformen einen Kult und ein Exerzitium, ohne d a ß sie etwas Eigenes in Schönheit verwandeln könnte, aber auch ohne d a ß einer der außerdichterischen Inhalte den Anstoß dazu gegeben hätte, was, wie wir gesehen haben, f ü r die Literatur des Gefühlsergusses, die rhetorische, unterhaltsame und didaktische Literatur 4*

zutrifft. Etwas Ähnliches gibt es in der Sphäre des Denkens, das mit dem Denken als solchem oder mit der Logik als solcher spielt, wie im Falle der Denksportaufgaben, der Rätsel und zum Teil auch im Fall der subtilen Erörterungen, von denen man nicht genug bekommen kann, bei langen und überflüssigen Argumentationen, die man mit Vergnügen in allen einzelnen Phasen entwickelt und die eigene Virtuosität dabei genießt, dort wo ein kurzer Hinweis genügte. Lieben und dichterische Ausdrucksformen als Dinge oder (was hier dasselbe ist) als Personen suchen, das bedeutet, daß man die Bilder aus ihrem Zusammenhang herauslöst, isoliert und abstrahiert betrachtet und sie in den Lauten bewundert, zärtlich betrachtet und festhält und auf die Vollkommenheit eines jeden Bildes bedacht ist. Das sieht man in den Texten der L'art-pour-l'art-Virtuosen, die in jedem Detail so vollkommen sind, daß einen dichterischen Geist Ekel und Ungeduld ankommen und er bereit ist, sie alle daranzugeben, um sich >ohne Vollkommenh e i t (d. h. mit einer ganz anderen Vollkommenheit) auszudrücken. Vor allem nimmt er jedem Bild seine allzu scharfen Konturen und trägt Sorge dafür, daß es die Schwere der Bilder und Worte verliere, sich verflüssige und schwebe. Denn bei einem so klaren U m r i ß eines jeden Wortes fehlt dieser Kunstart der tragende Grund, der sie vereint und die Konturen verschwimmen läßt und der allein sie zu dichterischem Leben erwecken, ihnen M a ß und Verhältnis geben könnte. Es fehlt nicht nur die dichterische Grundlage, sondern auch diejenige, auf der die Literatur beruht, nämlich der vielgestalte außerdichterische Stoff, mit dem wir uns vertraut gemacht haben. Stattdessen stehen die einzelnen Bilder da wie Götzen, die der Künstler formt und anbetet. D a diese Bilder als Dinge geschaffen und genossen werden, so können auch die einzelnen Laute, die sie ausdrücken, isoliert werden und zu Dingen werden, um ihrer selbst willen geliebt und gesucht werden, ohne irgendeine unmittelbare Ausdrucksfunktion zu haben. Zu den Virtuosen der schönen Bilder kommen also die Virtuosen der schönen Töne, schön durch die assoziierten Bilder und Erinnerungen; sie sind schon in den großen Dichtungen aufgeklungen, man liebt sie wie einen Handschuh oder ein Band, das die geliebte Frau schmückte, die archaischen Töne, die Laute aus fremden Sprachen, Laute, die neuartig kombiniert sind, neuartig klingen und so fort. In ein und demselben Menschen ist der >Bilderreichtum< o f t mit einer Vorliebe f ü r das Wort und f ü r neue W o r t schöpfungen verbunden, wie man bei Victor H u g o und deutlicher noch bei d'Annunzio sieht. So versteht man auch, wie sich eine A r t von >L'art-pour-l'art-Theorie< herausbildet, von der diejenigen Kritiker Gebrauch machen, welche die Schönheit eines Verses, eine geistige Schön43

heit, in den Tönen an sich, in den Betonungen, Rhythmen, in der >MusikStilistenÄsthetizistenParnassianern